Adeligkeit, Katholizismus, Mythos: Neue Perspektiven auf die Adelsgeschichte der Moderne 9783110363913, 9783110363838

What role did religion and myth play in the aristocracy’s oft-cited struggle to “stay on top?” How did they influence pr

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Adeligkeit, Katholizismus, Mythos: Neue Perspektiven auf die Adelsgeschichte der Moderne
 9783110363913, 9783110363838

Table of contents :
Einleitung
Was ist Adel? Bemerkungen eines Althistorikers zu einer angeblichen historischen Konstante
I Aufbrüche
Adelige und bürgerliche Standes- und Leistungseliten im 18. Jahrhundert
Metternich, Humboldt und die „Sattelzeit“. Adels- als Wahrnehmungsgeschichte
Adel und Industriekapitalismus. Das Beispiel katholischer Unternehmer im 19. Jahrhundert
II Genderkonzeptionen
Verbürgerlichung des Adels? Die Lebenswelten katholisch-adeliger Mütter im 19. Jahrhundert
„Ich habe in Seinem Schlafzimmer oft Seine Hände geküsst“. Adel und Männlichkeit am Beispiel des Katholizismus
„Ein glänzendes Elend“? Adelige Hofdamen im 19. Jahrhundert
III Politisch-gesellschaftliches Handel
Adel in der Zeit des politischen Umbruchs. Gottlieb von Thon-Dittmer und Otto von Bray-Steinburg im bayerischen ‚Märzministerium‘ von 1848
Wider den Nationalsozialismus. Sozio-strukturelle Betrachtungen zu katholischen Adeligen
Adeligkeit und Widerstand. Das Beispiel des Katholiken Claus Schenk Graf von Stauffenberg
„Eine Klasse, die von Rechts wegen keine mehr sein sollte. Der Adel in der frühen Bundesrepublik
IV Mythen
Der Sisi-Mythos und die deutsche Gesellschaft der Zwischenkriegszeit
Der Mythos der Elisabeth von Österreich. Das Beispiel der Romy-Schneider-Filme
Der Kini und das Kino. Ludwig II. im Film
Abbildungsverzeichnis
Namensregister
Die Autoren

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Markus Raasch (Hrsg.) Adeligkeit, Katholizismus, Mythos

Elitenwandel in der Moderne

Herausgegeben von Heinz Reif

Band 15

Adeligkeit, Katholizismus, Mythos Neue Perspektiven auf die Adelsgeschichte der Moderne Herausgegeben von Markus Raasch Unter Mitarbeit von Julia Lang, Janett Metzger und Laura Spies

ISBN 978-3-11-036383-8 e-ISBN 978-3-11-036391-3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. © Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 143, 81671 München, Deutschland www.degruyter.com Ein Unternehmen von De Gruyter Abbildung auf dem Einband: Kaiserin Elisabeth; retouchierte Fotografie von Carl Pietzner nach Fotografie von Viktor Angerer (Signatur der Österreichischen Nationalbibliothek: P: Pf: E (70,1); Pf: E (70,2). N: NB 536.546 – B). Satz: Michael Peschke, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Gedruckt in Deutschland Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.

Inhalt Markus Raasch Einleitung   1 Andreas Hartmann Was ist Adel? Bemerkungen eines Althistorikers zu einer angeblichen historischen Konstante   12

I Aufbrüche Alexander Denzler Adelige und bürgerliche Standes- und Leistungseliten im 18. Jahrhundert  Christiane Hoth Metternich, Humboldt und die „Sattelzeit“ Adels- als Wahrnehmungsgeschichte   58 Tina Eberlein Adel und Industriekapitalismus Das Beispiel katholischer Unternehmer im 19. Jahrhundert 

 78

II Genderkonzeptionen Ricarda Stobernack Verbürgerlichung des Adels? Die Lebenswelten katholisch-adeliger Mütter im 19. Jahrhundert  Markus Raasch „Ich habe in Seinem Schlafzimmer oft Seine Hände geküsst“ Adel und Männlichkeit am Beispiel des Katholizismus   134 Nadine Hüttinger „Ein glänzendes Elend“? Adelige Hofdamen im 19. Jahrhundert 

 153

 111

 35

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 Inhalt

III Politisch-gesellschaftliches Handeln Sabine Thielitz Adel in der Zeit des politischen Umbruchs Gottlieb von Thon-Dittmer und Otto von Bray-Steinburg im bayerischen ‚Märzministerium‘ von 1848   171 Christiane Schwarz Wider den Nationalsozialismus Sozio-strukturelle Betrachtungen zu katholischen Adeligen 

 208

Nico Raab Adeligkeit und Widerstand Das Beispiel des Katholiken Claus Schenk Graf von Stauffenberg 

 235

Barbara Jahn „Eine Klasse, die von Rechts wegen keine mehr sein sollte“ Der Adel in der frühen Bundesrepublik   262

IV Mythen Vanessa Rafaela Koller Der Sisi-Mythos und die deutsche Gesellschaft der Zwischenkriegszeit  Annemarie Hackl Der Mythos der Elisabeth von Österreich Das Beispiel der Romy-Schneider-Filme  Susanne Barbara Schmid Der Kini und das Kino Ludwig II. im Film   357 Abbildungsverzeichnis  Namensregister  Die Autoren 

 396

 403

 395

 336

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Markus Raasch

Einleitung I

Zum Adel ist in den letzten Jahren viel geschrieben worden. Das einstige Stiefkind der Historiografie erlebt im Zuge des „Cultural Turn“ und angesichts ihres wachsenden Bemühens, nationalstaatliche Ordnungskategorien hinter sich zu lassen,1 eine frappierende Konjunktur. Was vor allem von Heinz Reif mit seiner bis heute instruktiven Dissertation2, seinem Großprojekt „Elitenwandel in der Moderne“ und seinem Appell an die Forschung, mit „Adeligkeit“ ein spezifisches Kulturmodell in den Fokus zu nehmen,3 gesät wurde, hat reiche Früchte getragen. Mittlerweile liegen zum Adel des 19. und 20. Jahrhunderts zahlreiche Monografien vor,4 dazu Sammelbände, die 1 Heinz Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, 2., um einen Nachtrag erweiterte Auflage, München 2012, S. 120ff. 2 Heinz Reif, Westfälischer Adel 1770–1860, Göttingen 1979. 3 Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert (wie Anm. 1), S. 119f. 4 Zum Beispiel: Eckart Conze, Von Deutschem Adel. Die Grafen von Bernstorff im zwanzigsten Jahrhundert, Stuttgart/München 2000; Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003; René Schiller, Vom Rittergut zum Großgrundbesitz. Ökonomische und soziale Transformationsprozesse der ländlichen Eliten in Brandenburg im 19. Jahrhundert, Berlin 2003; Wolfram G. Theilemann, Adel im Grünen Rock. Adeliges Jägertum, Großprivatwaldbesitz und die preußische Forstbeamtenschaft, Berlin 2004; William D. Jr. Godsey, Nobles and Nation in Central Europe. Free Imperial Knights in the Age of Revolution 1750–1850, Cambridge 2004; Patrick Wagner, Bauern, Junker und Beamte. Lokale Herrschaft und Partizipation im Ostelbien des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2005; Martin Kohlrausch, Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie, Berlin 2005; Josef Matzerath, Adelsprobe an der Moderne. Sächsischer Adel 1763–1866. Entkonkretisierung einer traditionalen Sozialinformation, Stuttgart 2006; Angelika Halama, Rittergüter in Mecklenburg-Schwerin. Kulturgeographischer Wandel vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006; Marko Kreutzmann, Zwischen ständischer und bürgerlicher Lebenswelt. Adel in Sachsen-Weimar-Eisenach 1770 bis 1830, Köln u.a. 2008; Silke Marburg, Europäischer Hochadel. König Johann von Sachsen (1801–1873) und die Binnenkommunikation einer Sozialformation, Berlin 2008; Silke Marburg, Europäischer Hochadel. König Johann von Sachsen (1801–1873) und die Binnenkommunikation einer Sozialformation, Berlin 2008; Mathias Mesenhöller, Ständische Modernisierung. Der kurländische Ritterschaftsadel 1760–1830, Berlin 2009; Anne von Kamp, Adelsleben im bürgerlichen Zeitalter. Die Freiherren von Erffa im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Würzburg 2010; Rainer Pomp, Bauern und Grossgrundbesitzer auf ihrem Weg ins Dritte Reich. Der Brandenburgische Landbund 1919–1933, Berlin 2011; Monika Kubrova, Vom guten Leben. Adelige Frauen im 19. Jahrhundert, Berlin 2011; Dirk H. Müller, Adeliges Eigentumsrecht und Landesverfassung. Die Auseinandersetzung um die eigentumsrechtlichen Privilegien des Adels im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel Brandenburgs und Pommerns, Berlin 2011; Rudolf Kučera, Staat, Adel und Elitenwandel. Die Adelsverleihungen in Schlesien und Böhmen 1806–1871 im Vergleich, Göttingen 2012; Tatjana Tönsmeyer, Adelige Moderne. Großgrundbesitz und ländliche Gesellschaft in England und Böhmen (1848–1918),

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 Markus Raasch

im Regelfall regionale Tiefenschürfung betreiben oder die europäische Perspektive suchen5, und erste Handbücher und Überblicksdarstellungen6. Zuletzt häuften sich Versuche, Adelsdiskurse interdisziplinär und jenseits der konkreten sozialen Formation in Blickfeld zu nehmen.7 Aus Perspektive einer kulturalistisch erweiterten Sozialgeschichte bleiben gleichwohl einige wichtige Themen zur Adelsgeschichte der Moderne unterbelichtet: Sie betreffen zum Beispiel die mentalen Folgen, die der Untergang der vormodernen Welt in der „Sattelzeit“ nach sich zog, beziehen sich auf die Jahre des „Dritten Reiches“8 und noch eklatanter auf die Zeit nach 1945, berühren Genderaspekte, politisch-gesellschaftliches Handeln und das erinnerungskultu-

Wien u.a. 2012; Jörg Ganzenmüller, Russische Staatsgewalt und polnischer Adel. Elitenintegration und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772–1850), Köln u.a. 2013; Florian Kühnel, Kranke Ehre? Adlige Selbsttötung im Übergang zur Moderne, München 2013. 5 Silke Marburg und Josef Matzerath (Hrsg.), Der Schritt in die Moderne. Sächsischer Adel zwischen 1763 und 1918, Köln u.a. 2001; Eckart Conze und Monika Wienfort (Hrsg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln u.a. 2004; Günther Schulz und Markus A. Denzel (Hrsg.), Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2002 und 2003, St. Katharinen 2004; Werner Frese (Red.), Zwischen Revolution und Reform. Der westfälische Adel um 1800, Münster 2005; Mark Hengerer und Elmar L. Kuhn (Hrsg.), Adel im Wandel. Oberschwaben von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, 2 Bände, Ostfildern 2006; Eva Labouvie (Hrsg.), Adel in Sachsen-Anhalt. Höfische Kultur zwischen Repräsentation, Unternehmertum und Familie, Köln u.a. 2007; Wolfgang Jahn u.a. (Hrsg.), Adel in Bayern. Ritter, Grafen, Industriebarone, Augsburg 2008, S. 224ff; Walter Demel und Ferdinand Kramer (Hrsg.), Adel und Adelskultur in Bayern, München 2008; Karsten Holste u.a. (Hrsg.), Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Akteure, Arenen, Aushandlungsprozesse, Berlin 2009; Eckart Conze u.a. (Hrsg.), Adel in Hessen. Herrschaft, Selbstverständnis und Lebensführung vom 15. bis ins 20. Jahrhundert, Marburg 2010; Eckart Conze und Sönke Lorenz (Hrsg.), Die Herausforderung der Moderne. Adel in Südwestdeutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Ostfildern 2010; Maarten van Driel u.a. (Hrsg.), Adel verbindet – Adel verbindt. Elitenbildung und Standeskultur in Nordwestdeutschland und den Niederlanden vom 15. bis 20. Jahrhundert, Paderborn 2010; Gabriele B. Clemens (Hrsg.), Hochkultur als Herrschaftselement. Italienischer und deutscher Adel im langen 19. Jahrhundert, Berlin u.a. 2011; Tatjana Tönsmeyer, Adel und Politik in der Habsburgermonarchie und den Nachbarländern zwischen Absolutismus und Demokratie, München 2011; Jörn Leonhard und Christian Wieland (Hrsg.), What Makes the Nobility Noble? Comparative Perspectives from the Sixteenth to the Twentieth Century, Göttingen 2011; Gisela Drossbach u.a. (Hrsg.), Adelssitze, Adelsherrschaft, Adelsrepräsentation in Altbayern, Franken und Schwaben. Beiträge der interdisziplinären Tagung vom 8. bis 10. September 2011 auf Schloss Sinning und in der Residenz Neuburg an der Donau, Augsburg 2012; Ronald G. Asch (Hrsg.), Adel in Südwestdeutschland und Böhmen 1450–1850, Stuttgart 2013. 6 Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert (wie Anm. 1); Monika Wienfort, Der Adel in der Moderne, Göttingen 2006. 7 Zum Beispiel: Alexandra Gerstner, Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008; Eckart Conze (Hrsg.), Aristokratismus und Moderne. Adel als politisches und kulturelles Konzept, 1890–1945, Köln u.a. 2013. 8 Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 4), interessiert sich in erster Linie für die Wege des Adels in das „Dritte Reich“, eine umfassende Studie zum Adel im „Dritten Reich“ existiert nicht.

Einleitung 

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relle Potential des Adels, also den Zusammenhang von Adeligkeit und Mythos9. Nicht zuletzt berücksichtigt die heutige Adelsforschung zwar „durchweg […] die Differenzierung nach verschiedenen Adelsgruppen, Ländern und Regionen“10, den konfessionellen Blick hat sie jedoch bisher weitgehend gescheut. Der Zusammenhang von Religion/Konfession und sozio-kulturellen Prägungen hat bisher lediglich implizit Beachtung gefunden. Bezeichnenderweise findet sich in Handbüchern kein (Unter-) Kapitel zu „Adel und Religion/Konfession“. In Eckart Conzes Adelslexikon werden zwar unter dem Rubrum „Kirche“ für die beiden großen Konfessionen die unterschiedlichen Ausprägungen von Religiosität ins Blickfeld gerückt,11 lebensweltliche Auswirkungen12 spielen jedoch keine Rolle13; Stichwörter zu „katholisch“, „evangelisch“, „Katholizismus“, „Protestantismus“ et cetera existieren nicht. Die lebensweltliche Signifikanz der Konfession hat die Geschichtswissenschaft gerade mit Blick auf die Zeit zwischen 1830 und 1970 in den letzten Jahren immer wieder empirisch fundieren können.14 Man muss Olaf Blaschke und seiner These vom „Zweiten Konfessio9 Mythos wird dabei verstanden als identitätsstiftendes Narrativ und Medium des kulturellen Gedächtnisses. Ohne die Spannungen zwischen den Assmannschen Vorstellungen von Erinnerungskultur und dem Konzept der Geschichtskultur zu verneinen, werden seine Reproduktionen zudem als „praktische Artikulation von Geschichstsbewusstsein im Leben einer Gesellschaft“ (Jörn Rüsen) betrachtet. Hierzu: Markus Raasch, Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Die deutsche Gesellschaft und der konservative Heroe. Der Bismarckmythos im Wandel der Zeit, Aachen 2010, S. 5–15, vor allem S. 9f. 10 Elisabeth Fehrenbach, Einführung, in: Dies. (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770– 1848, München 1994, S. VII–XV, hier S. VII. 11 Eckart Conze, Kirche, in: Ders. (Hrsg.), Kleines Lexikon des Adels. Titel, Throne, Traditionen, München 2005, S. 136–139. 12 Lebenswelt soll im soziologischen Sinne verstanden werden einerseits als Handlungsraum alltäglicher Lebenspraxis, andererseits als Bewusstseinsmatrix, mithin als der Vorrat an praktischem Wissen, der die aktive Teilnahme am Alltag ermöglicht (prägnant dazu zum Beispiel: www.ztg.tu-berlin. de/download/legewie/Dokumente/Vorlesung_3.pdf [25.10.2013]). 13 Eckart Conze, Kirche, in: Ders. (Hrsg.), Kleines Lexikon des Adels. Titel, Throne, Traditionen, München 2005, S. 136–139. 14 Zum Thema Weiblichkeitskonstruktionen zum Beispiel: Irmtraud Götz von Olenhusen (Hrsg.), Wunderbare Erscheinungen. Frauen und katholische Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 1995; Dies. (Hrsg.), Frauen unter dem Patriarchat der Kirchen. Katholikinnen und Protestantinnen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1995; Birgit Sack, Zwischen religiöser Bindung und moderner Gesellschaft. Katholische Frauenbewegung und politische Kultur in der Weimarer Republik (1918–1933), Münster u.a. 1997; Irmtraud Götz von Olenhusen, Die Feminisierung von Religion und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert, in: Ingrid Lukatis u.a. (Hrsg.), Religion und Geschlechterverhältnis, Opladen 2000, S. 37–47; Manuel Borutta, Das Andere der Moderne. Geschlecht, Sexualität und Krankheit in antikatholischen Diskursen Deutschlands und Italiens (1850–1900), in: Werner Rammert (Hrsg.), Kollektive Identitäten und kulturelle Innovationen. Ethnologische, soziologische und historische Studien, Leipzig 2001, S. 59–75; zur Frömmigkeitskultur: Josef Mooser, Katholische Volksreligion. Klerus und Bürgertum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Thesen, in: Wolfgang Schieder (Hrsg.), Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1993, S. 144–156; Norbert Busch, Katholische Frömmigkeit und Moderne. Die Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Herz-JesuKultes in Deutschland zwischen Kulturkampf und Erstem Weltkrieg, Gütersloh 1997; Barbara Stam-

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 Markus Raasch

nellen Zeitalter“15 nicht zustimmen, um ein komplexes Gegen- und Ineinanderwirken von Säkularisierung und(Re-)Konfessionalisierung als wesentliches gesellschaftsprägendes Signum der Epoche auszumachen. Auch in adelshistoriografischen Arbeiten wurde die Relevanz der Konfession immer wieder deutlich, wenn etwa Heiratskreise16, Erziehungsstrategien17, die speziellen Prägungen katholischer Adelspolitiker18 oder die geistige Annäherung des Adels an den Nationalsozialismus19 thematisiert werden. Selbst zum Gegenstand der Betrachtung wird sie aber nicht. „Religion in der Lebenswelt der Moderne“20 bildet schlechterdings für die boomende Adelshistoriografie ein gravierendes Forschungsdesiderat. Gleiches gilt im Übrigen umgekehrt für die Katholizismusforschung. So intensiv dort etwa der Begriff des Milieus diskutiert wurde,21 so wenig hat man nach der diesbezüglichen Rolle des Adels gefragt22. bolis, Religiöse Festkultur. Tradition und Neuformierung katholischer Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert. Das Liborifest in Paderborn und das Kilianifest in Würzburg im Vergleich, Paderborn u.a. 2000; zum Verhältnis der Konfessionen: Olaf Blaschke, Katholizismus und Antisemitismus im deutschen Kaiserreich, Göttingen 1997; Olaf Blaschke und Adam Mattioli (Hrsg.), Katholischer Antisemitismus im 19. Jahrhundert. Ursachen und Traditionen im internationalen Vergleich, Zürich 2000; Helmut Walser Smith (Hrsg.), Protestants, Catholics and Jews in Germany, 1800–1914, Oxford/New York 2001; Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2010. 15 Olaf Blaschke, Das 19. Jahrhundert. Ein zweites konfessionelles Zeitalter?, in: Geschichte und Gesellschaft 26, Heft 1, 2000, S. 38–75. Auch Olaf Blaschke, Abschied von der Säkularisierungslegende. Daten zur Karrierekurve der Religion (1800–1970) im zweiten konfessionellen Zeitalter: eine Parabel, in: Zeitenblicke 5, Nr. 1, 2006, [04.04.2006], URL: www.zeitenblicke.de/2006/1/Blaschke/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-2691 [25.10.2013]. 16 Wienfort, Der Adel in der Moderne (wie Anm. 6), S. 12f, 111ff; Conze, Von deutschem Adel (wie Anm. 4), S. 329ff. 17 Wienfort, Der Adel in der Moderne (wie Anm. 6), S. 126ff; Conze, Von deutschem Adel (wie Anm. 4), S. 287ff; Reif, Westfälischer Adel (wie Anm. 2), S. 122ff, 315ff. 18 Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert (wie Anm. 1), S. 111f. 19 Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 4), S. 358ff. 20 So der Titel eines theologischen Bandes: Kristian Fechtner (Hrsg.), Religion in der Lebenswelt der Moderne, Stuttgart 1998. 21 Wilfried Loth, Integration und Erosion. Wandlungen des katholischen Milieus, in: Ders. (Hrsg.), Deutscher Katholizismus im Umbruch zur Moderne, Stuttgart u.a. 1991, S. 266–281; Michael Klöcker, Das katholische Milieu. Grundüberlegungen – in besonderer Hinsicht auf das Deutsche Kaiserreich, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 44, 1992, S. 241–262; Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte Münster, Katholiken zwischen Tradition und Moderne. Das katholische Milieu als Forschungsaufgabe, in: Westfälische Forschungen 43, 1993, S. 588–654; Antonius Liedhegener, Marktgesellschaft und Milieu. Katholiken und katholische Region in der wirtschaftlichen Entwicklung des Deutschen Reiches 1895–1914, in: Historische Zeitschrift 113, 1993, S. 283–354; Siegfried Weichlein, Katholisches Sozialmilieu und kirchliche Bindung in Osthessen 1918–1933, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 45, 1993, S. 367–389. Zuletzt: Joachim Kuropka (Hrsg.), Grenzen des katholischen Milieus. Stabilität und Gefährdung katholischer Milieus in der Endphase der Weimarer Republik und der NS-Zeit, Münster 2013. 22 Bezeichnenderweise ist Eleonore Föhles eine der wenigen, die diesen Aspekt in ihrer Dissertationsschrift zum Kulturkampf am Niederrhein explizit behandelt. Sie tut dies aber auf wenigen Seiten:

Einleitung 

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So bleiben wichtige Fragen für den Adel weitgehend unbeantwortet: Inwieweit fungierte die Konfession als Wegbereiter spezifischer Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen? Wie beeinflusste sie private Lebensführung und öffentliches (politisches) Handeln, wie prägte sie wirtschaftliches Denken und Agieren, Frauen- und Männerbilder, Vorstellungen von Erziehung und Liebe sowie das Verhältnis zu anderen sozialen Schichten, namentlich dem Bürgertum? Was erzählen uns die um adelige Herrscher kreisenden Mythen über die moderne Gesellschaft? Welche Rolle spielen eigentlich Religion und Mythos im inflationär zitierten adeligen Kampf ums „Obenbleiben“?

II Um hier gegenzusteuern, hat sich an der katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt vor knapp drei Jahren eine Forschergruppe unter dem Leitthema „Adeligkeit, Katholizismus, Mythos. Neue Perspektiven auf die Adelsgeschichte der Moderne“ gebildet. Die Gruppe hat Podiumsdiskussionen, Workshops und Tagungen veranstaltet, dabei großen Wert auf Verfremdung und Profilierung des eigenen Untersuchungsgegenstandes durch viel zu selten durchgeführte epochenübergreifende Vergleiche gelegt,23 und auf dieser Grundlage diverse Studien zum modernen Adel in Angriff genommen. Das Besondere an ihr: Sie besteht in erster Linie aus Nachwuchswissenschaftlern, die im Kontext ihrer akademischen Qualifikationsarbeiten mit dem Adel des 19. und 20. Jahrhunderts in Berührung gekommen sind, aber auch aus solchen, die jenseits von äußeren Zwängen Gefallen an der Thematik gefunden haben. Dieser Band versammelt nunmehr erste, in Zukunft noch zu vertiefende Arbeitsergebnisse der Eichstätter Forschergruppe. In einem einführenden essayistischen Kommentar wird der Althistoriker Andreas Hartmann die in Eichstätt geleistete Vergleichsarbeit umreißen und luzide deutlich machen, wie schwierig der Begriff „Adel“ zu fassen ist. Er sucht dabei vor allem die Abgrenzung seiner Epoche zur Moderne, regt aber auch die Neuzeithistoriker eindrücklich zur kritischen Reflexion ihrer terminologischen wie analytischen Kategorien an. Die folgenden Beiträge fokussieren dann Lücken der Adelsgeschichte Eleonore Föhles, Kulturkampf und katholisches Milieu 1866–1890 in den niederrheinischen Kreisen Kempen und Geldern und der Stadt Viersen, Viersen 1995, S. 237ff. 23 www.ku.de/ggf/geschichte/neuegesch/forschung/projekte/adel-und-gesellschaft/[01.10.2013]. Eine gleichsam singuläre Erscheinung bildet der von Hans Beck herausgegebene Band: Die Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und „edler“ Lebensstil in Antike und Früher Neuzeit, München 2008. Allerdings dienen die frühneuzeitlichen Beiträge mehr als Anhängsel denn als substantielle Vergleichsbasis der dominierenden althistorischen Aufsätze. In einem neueren kunsthistorischen Band bleibt die Perspektive der Historiografie doch arg beschränkt: Peter Scholz (Hrsg.), Adelsbilder von der Antike bis zur Gegenwart, München 2013.

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 Markus Raasch

der Moderne, fragen in der Tradition von Heinz Reif nach den „vielfältigen sozialen Mischungslagen von adeligen und bürgerlichen Teilgruppen in diversen Berufs- und Gesellschaftskreisen“,24 erweitern den Blickwinkel im Sinne von Eckart Conze25 um kultur- beziehungsweise filmwissenschaftliche Zugänge und suchen dabei immer wieder die katholische Perspektive. In der Folge sind sie vier Sektionen zuzuordnen. Denn es geht um 1. soziokulturelle Aufbrüche in die Moderne 2. die Mannigfaltigkeit von Genderkonzeptionen 3. politisch-gesellschaftliches Handeln jenseits der für die Adelshandbücher und Überblicksdarstellungen in diesem Kontext typischen Statistikverliebtheit und 4. die um adelige Herrscher bestehenden Mythen als gesellschaftshistorische Quelle. Alle Studien betrachten Geschichte als Re-Konstruktion von Vergangenheit, wissen also um ihre Gegenwarts- und Personengebundenheit sowie ihren narrativen Charakter. Um dennoch wissenschaftliche „Objektivität“ zu erreichen, folgen sie Jörn Rüsen, der die Sicherung von Begründungsobjektivität durch empirische Forschung und Konstruktionsobjektivität mittels Theoretisierung verlangt. Jedoch wird darauf geachtet, dass diese stets zielführend im Hinblick auf die Operationalisierung der Fragestellung erfolgt. Die Theorie soll dabei helfen, den Gegenstand zu erhellen und den Horizont zu erweitern, nicht dazu beitragen, ihn zu verdunkeln und geistige Schranken zu installlieren. So gehen die verschiedenen Beiträge im Sinne eines konservativ-gemäßigten Kulturalismus zwar alle davon aus, dass Welt durch intentionales Handeln, soziale Verhältnisse und symbolische Repräsentation, also kommunikatives Handeln, geprägt wird.26 Ihre konkreten theoretisch-methodischen Ansätze können jedoch gar nicht einheitlich sein. Es wird mit Bourdieus Feld- oder Kapitalsortentheorie ebenso gearbeitet wie mit den Mitteln der historischen Diskursanalyse. Die filmanalytischen Beiträge stützen sich auf ein innovatives Konzept, das mythentheoretische Überlegungen des Ehepaars Assmann und Hans Blumenbergs verbindet mit der Methode der Dekonstruktion, wie sie von der Gruppe „FUER Geschichtsbewusstsein“27 vorgeschlagen worden ist.

24 Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert (wie Anm. 1), S. 125. 25 Eckart Conze u.a., Aristokratismus und Moderne, 1890–1945, in: Ders. u.a. (Hrsg.), Aristokratismus und Moderne, S. 9–29 (wie Anm. 7), hier vor allem S. 15ff. 26 Wo im Ausnahmefall davon abgewichen wird, wird dies ausdrücklich kenntlich gemacht. 27 FUER-Geschichtsbewusstein meint: „Förderung und Entwicklung von reflektiertem Geschichts­ bewusstsein“: www1.ku-eichstaett.de/GGF/Didaktik/Projekt/FUER.html [01.10.2013].

Einleitung 

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III Die adeligen Aufbrüche in die Moderne sind mit Blick auf die „Sattelzeit“ vielfach Gegenstand der Betrachtung gewesen. Oft ist die etwa um 1770 einsetzende Adelskrise thematisiert worden, „die nicht nur eine Krise des Adels in der Gesellschaft in Folge der Infragestellung des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Führungsanspruchs des Adels war, sondern auch eine Krise innerhalb des Adels in Folge massiver Einbußen an familialer und ständischer Kontroll- und Sanktionsgewalt, die nun nicht mehr staatlich abgesichert, ja garantiert waren“28. Der Bedarf an kulturalistischen Tiefenbohrungen ist indes noch nicht gedeckt, für die besondere Sicherungsfunktion der katholischen Religion in der „entsicherte[n] Ständegesellschaft“29 wird immer noch auf Reifs Dissertation verwiesen30. Alexander Denzler führt in die Sektion „Aufbrüche“ ein, in dem er aus Perspektive «eine[r] kulturhistorisch sensible[n] politische[n] Sozialgeschichte»31 die Elementarfrage nach dem adeligen „ObenbIeiben“ stellt, freilich ausdrücklich schon für die letzte Phase des Alten Reiches. Am Beispiel der „Visitation“ des Reichskammergerichts von 1767 bis 1776 kann er eindrucksvoll die Komplexität spät vormoderner Elitenbildung, mithin der „adeligen Suchbewegungen, kommunikativen Brückenschläge und standes- wie klassenübergreifenden Lebensentwürfe“32, vor Augen führen: Der Adel vermochte sich selbst zu behaupten, indem er einerseits zum Träger der bürgerlichen Leistungsgesellschaft und andererseits durch Perpetuierung distinktiver (Selbst-)Inszenierungsmuster – als Vorbild wie ex negativo – zum wesentlichen Bezugspunkt des Nicht-Adels avancierte. Christiane Hoth fundiert in ihrem Beitrag das theoretisch-methodische Konzept einer adeligen Wahrnehmungsgeschichte und exemplifiziert dieses an zwei herausragenden Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts: Klemens Wenzel Fürst von Metternich und Wilhelm von Humboldt. Sie kann beifolgend zwei wichtige, aus ähnlichem Impetus, doch mit höchst unterschiedlichen Mitteln operierende Adelsreformansätze mit Inhalt füllen und die boomende Forschung zum „Neuadel“33 bereichern. Ausgehend 28 Eckart Conze, Adel und Moderne in Ostmitteleuropa. Überlegungen zur Systematisierung eines adelshistorischen Feldes zwischen Region, Nation und Europa, in: Jan Harasimowicz und Matthias Weber (Hrsg.), Adel in Schlesien. Herrschaft – Kultur – Selbstdarstellung, München 2010, S. 305–320, hier S. 315. 29 Ewald Frie, Adelige Lebensweise in entsicherter Ständegesellschaft. Erfahrungen der Brüder Alexander und Ludwig v. d. Marwitz, in: Conze und Wienfort (Hrsg.), Adel und Moderne (wie Anm. 5), S. 273–288. 30 Conze, Adel und Moderne in Ostmitteleuropa (wie Anm. 28), S. 315. 31 Eckart Conze und Monika Wienfort, Einleitung. Themen und Perspektiven historischer Adelsforschung zum 19. und 20. Jahrhundert, in: Conze und Wienfort (Hrsg.), Adel und Moderne (wie Anm. 5) , S. 1–18, hier S. 15. 32 Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert (wie Anm. 1), S. 125. 33 Zum Beispiel: Heinz Reif, Adelserneuerung und Adelsreform in Deutschland 1815–1874, in: Fehrenbach (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland, S. 203–230; Eckart Conze, Neuer Adel, in: Ders. (Hrsg.), Kleines Lexikon des Adels (wie Anm. 11), S. 183–186.

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von neueren Arbeiten zum adeligen Unternehmertum34 stellt Tina Eberlein dann ausdrücklich die K(atholizismus)-Frage. Da die Forschung die konfessionellen Prägungen adeliger Industrieunternehmer bisher außen vor gelassen hat, nimmt sie drei bedeutende katholische und einen evangelischen Industrieunternehmer ins Blickfeld: Ignaz Graf von Landsberg-Velen und Gemen (1788–1863), Franz Graf von Ballestrem (1834–1910), Hugo Graf Henckel von Donnersmarck (1811–1890) sowie dessen evangelischen Verwandten Guido Graf Henckel von Donnersmarck (1830–1916). Das industrielle Wirken der Vier wird auf der Folie des Bourdieuschen Feldbegriffs, durch eine intensive Literaturschau und mit Hilfe von bisher unbekanntem Quellenmaterial einer eingehenden Betrachtung unterzogen. Tina Eberlein kann so die immer wieder versuchte Differenzierung von adeligem und bürgerlichem Unternehmertum relativieren und findet zumindest Hinweise für konfessionelle Eigentümlichkeiten. Genderhistorische Arbeiten hat die Adelshistoriografie durchaus hervorgebracht, wobei vor allem zwei Monografien als einschlägig zu betrachten sind.35 Männlichkeitskonzepte gerieten lediglich vereinzelt ins Blickfeld,36 die konfessionelle Perspektive ist bisher nicht eingenommen worden. Vor diesem Hintergrund möchte Ricarda Stobernack das Großthema Nivellierung von Adel und Bürgertum im 19. Jahrhundert an einem bisher unbeachtet gebliebenem Gegenstand untersuchen: Den Lebenswelten adeliger Mütter. Es werden in konsequenter Auseinandersetzung mit der Bürgertumsforschung und auf Basis einschlägiger Quelleneditionen drei Mütter verschiedener Generationen in Augenschein genommen: Sophia Gräfin zu Stolberg-Stolberg (1765–1842), Bertha Gräfin von Ballestrem (1803–1874) und Marie von Savigny (1831–1905). Alle waren katholisch und hatten entweder einen Ehemann oder einen Sohn, der sich für den Katholizismus auch parteipolitisch engagiert hat. Kapitalien, Alltagsumstände und den Bereich Kindererziehung fokussierend, kann der Beitrag gängige Stereotype der Adelsforschung konterkarieren und ebenfalls – vor allem im Hinblick auf die Ehemänner der Protagonistinnen – Spuren konfessioneller Spezifika finden. Markus Raasch ergänzt diese Erkenntnisse. Er untersucht auf Basis eines breiten Quellenfundaments, das zahlreiche entlegene Archivalien umfasst, die Männlichkeitskonzeptionen adeliger Katholiken. Er akzentuiert in Anlehnung an die bisherige Forschung deren Holistik, konturiert aber auch das Spezifikum einer konsequenten, auf verschiedene Art und Weise evident werdenden Leidenschaftlichkeit. Nadine Hüttinger vernachlässigt demgegenüber die konfessionelle Brille und argumentiert stattdessen mit Blick auf drei bekannte Hofdamen (Eveline Baronin von 34 Zum Beispiel: Manfred Rasch (Hrsg.), Adel als Unternehmer im bürgerlichen Zeitalter, Münster 2006; Ivo Cerman und Lubos Velek (Hrsg.), Adel und Wirtschaft. Lebensunterhalt der Adeligen in der Moderne, München 2009. 35 Christa Diemel, Adelige Frauen im bürgerlichen Jahrhundert. Hofdamen, Stiftsdamen, Salondamen 1800–1870, Frankfurt am Main 1998; Kubrova, Vom guten Leben (wie Anm. 4). 36 Etwa Marcus Funck, Vom Höfling zum soldatischen Mann. Varianten und Umwandlungen adeliger Männlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, in: Conze und Wienfort (Hrsg.), Adel und Moderne (wie Anm. 5), S. 205–236.

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Massenbach, Marie Freiin von Redwitz, Mathilde Gräfin von Keller) vor allem wider die gängige Vorstellung vom „glänzenden Elend“, das sie angeblich umgab. Das Feld Adel und Politik ist reich bestellt. Immerhin hat sich die Adelshistoriografie lange Zeit „ausschließlich mit dem Regierungshandeln von Monarchen und adeligen Ministern oder Diplomaten beschäftigt“37. Die kulturelle Praxis adeligen politischen Handelns ist jedoch bislang lediglich ansatzweise ins Blickfeld genommen,38 die Frage nach dem „Eigensinn im adeligen Politisieren“39 nicht befriedigend beantwortet, die Prägekraft der Konfession weitgehend ignoriert worden. Hier versucht Sabine Thielitz40 anzusetzen – mit einer politischen Sozialgeschichte, die freilich „die materielle Seite“ von Politik nicht außen vor lassen möchte41. Sie vermag – durch einen beleggesättigten Blick auf einen protestantischen und einen katholischen Vertreter des bayerischen „Märzministeriums“ von 1848 (Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer und Otto Graf von Bray-Steinburg) – die besondere Fähigkeit des Adels im Kampf ums „Obenbleiben“ eindrücklich zu exemplifizieren. Sie zeigt auf, dass seine politischen Einflussmöglichkeiten auf den bürgerlichen Leistungskriterien zu gründen hatten, aber auch wesentlich von ihn bevorteilenden sozialen und symbolischen Kapitalien abhängig waren. Die beiden folgenden Beiträge widmen sich dann auf Grundlage des Bourdieuschen Kapitalbegriffs dem bisher nicht beachteten Zusammenhang von Adel-Sein und Konfession im Widerstand gegen den Nationalsozialismus.42 Christiane Schwarz fragt mit Blick auf vier einschlägige Personen (Clemens Augustinus Graf von Galen, Johann Konrad Graf von Preysing, Erwein Karl Freiherr von Aretin, Maria Erich Reichserbtruchsess Fürst von Waldburg-Zeil und Trauchburg) nach den soziostrukturellen Spezifika und mentalen Dispositionen späterer katholischer Oppositioneller. Nico Raab geht einen Schritt weiter und analysiert am Beispiel des Katholiken Claus Schenk Graf von Stauffenberg die konkrete Nutzbarmachung von adeligem Kapital im Widerstandskampf gegen den Nationalsozialismus. Dabei kann er nicht zuletzt die Relevanz seiner religiös determinierten Prädispo37 Conze und Wienfort, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Adel und Moderne (wie Anm. 5), S. 2. 38 Dazu demnächst ausführlich: Markus Raasch, Der Adel auf dem Feld der Politik. Das Beispiel der Zentrumspartei in der Bismarckära (1871–1890), [Düsseldorf 2014]. 39 Ewald Frie, Kommmentar. Eigensinn im adeligen Politisieren, in: Jörn Leonhard und Christian Wieland (Hrsg.), What Makes the Nobility Noble? Comparative Perspectives from the Sixteenth to the Twentieth Century, Göttingen 2011, S. 218–226. 40 Vgl. zu ihrem DFG-geförderten Dissertationsvorhaben: www.ku.de/ggf/dfg-projekte/edition-derakten-der-provisorischen-zentralgewalt-der-revolution-1848–49/mitarbeiter/sabine-thileitz/expose/ [07.10.2013]. 41 Karsten Ruppert, Rezension zu Mergel, Thomas, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 1992, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 121, 2004. 42 Selbst die Kohärenz von Adeligkeit und Widerstand ist bisher wenig erforscht: Eckart Conze, Adel und Adeligkeit im Widerstand des 20. Juli 1944, in: Heinz Reif (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert, Bd. 2, Berlin 2001, S. 269– 296; Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 4), S. 585ff.

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sitionen deutlich machen. Barbara Jahn setzt sich schließlich mit dem Adel nach 1945 auseinander und fragt in Erweiterung der Vorarbeiten von Eckard Conze43 danach, wie es dem Adel in der frühen Bundesrepublik Deutschland trotz aller Abstiegs- und Verlusterfahrung gelang, den scheinbar sicheren Niedergang abzuwenden. Dazu hat sie die Jahrgänge 1950 bis 1961 der Zeitschrift „Deutsches Adelsarchiv“ systematisch ausgewertet und die einschlägigen, indes bisher von der Forschung kaum wahrgenommenen Bestände adeliger Verbands- und Familienarchive im Bayerischen Hauptstaatsarchiv herangezogen. Sie kann triftige Gründe für das „Einhausen“ des Adels in der Bundesrepublik aufzeigen und gerade im Hinblick auf Kontinuität und Wandel adeliger Lebensformen nach 1945 bisherige, rein spekulative Annahmen erstmals mit Zahlen untermauern. Sodann vermag Barbara Jahn die Relativität des Standesfaktors ebenso deutlich zu machen wie abermals die Signifikanz der Konfession. Klassische historiografische Perspektiven transzendierend, fundiert die abschließende erinnerungskulturelle Sektion die interdisziplinäre Ausrichtung der Eichstätter Forschungsgruppe. Die literatur- beziehungsweise filmwissenschaftlichen Beiträge bezeugen durch Blick auf drei katholische Hochadelige die besondere Relevanz der Mythenforschung für eine Gesellschaftsgeschichte der Moderne. Vanessa Rafaela Koller widmet sich einem Großthema der Populärkultur und betritt dennoch wissenschaftliches Neuland: Erstmals beschäftigt sich eine historiografische Studie systematisch mit dem Mythos der Elisabeth von Österreich. Sie betrachtet relevante „Artikulationen“ (Jörn Rüsen) des Sisi-Mythos, deutet diese als kulturelle Texte und kann so (Dis-)Kontinuitäten zwischen „Weimarer Republik“ und „Drittem Reich“, beispielsweise im Hinblick auf den Verlust von weiblicher Emanzipation und die Persistenz von Mütterlichkeits- und nicht zuletzt (katholischen) Frömmigkeitsvorstellungen, manifest machen. Annemarie Hackl und Susanne Barbara Schmid vermögen im Spiegel der Sisi-Verfilmungen mit Romy Schneider beziehungsweise einschlägiger König-Ludwig-Filme gleiches für die Zeit der Adenauer-Ära und die beginnenden 1970er Jahre zu leisten. Beide zeigen den Antimilitarismus und überbordenden Konservativismus der 1950er Jahre auf, dekonstruieren in Bezug auf „68“ aber auch den Forschungstopos von der „Zeitenwende“44. Die Erträge der Eichstätter Forschergruppe sind letzthin begrenzt, weil – auch aus finanziellen Gründen – häufig nur sehr eingeschränkte Schritte auf kaum bearbeiteten Feldern getan werden konnten. Es steht außer Frage, dass weitere Studien zu den behandelten Themen unabdingbar sind.45 Gleichwohl liefert die Gruppe sub43 Eckart Conze, Der Edelmann als Bürger?, Standesbewußtsein und Wertewandel im Adel der frühen Bundesrepublik, in: Manfred Hettling und Bernd Ulrich (Hrsg.), Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005, S. 347–371. 44 Klaus Hildebrandt, Die totalitäre Erfahrung, München 1987, S. 445. 45 In Eichstätt sind daher allein zwei Promotionsvorhaben in Bearbeitung: eine Biografie des Zentrumspolitikers und bayerischen Innenministers Maximilian Freiherr von Soden-Fraunhofen (1844– 1922) und eine Studie, die sich mit den soziokulturellen Auswirkungen von „68“ in Bezug auf den katholischen Adel beschäftigt.

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stantielle Studien, die gängige Befunde korrigieren helfen können beziehungsweise zu deren Überprüfung anregen. Nachdrücklich machen sie vor allem darauf aufmerksam, dass das Forschungspotential zum Mythos „Adeligkeit“ beträchtlich und die Vernachlässigung des konfessionellen Faktors in der Adelsforschung fahrlässig ist. Zuletzt bezeugen sie – wie ich meine, auf eindrucksvolle Weise – zu welchen Leistungen trotz eingeschränktester Mittel Nachwuchswissenschaftler, von denen lediglich drei bereits ihr viertes Lebensjahrzehnt erreicht haben, in der Lage sind. Der Dank des Herausgebers für die Anstrengungen der Beiträger sowie der unermüdlichen Julia Lang, Janett Metzger und Laura Spies könnte kaum größer sein. Mainz, Oktober 2013 Markus Raasch

Andreas Hartmann

Was ist Adel? Bemerkungen eines Althistorikers zu einer angeblichen historischen Konstante Was kann ein Althistoriker zu einem neuhistorischen Sammelband beitragen? Nicht viel, was die Erhellung konkreter Detailprobleme angeht. Vielleicht lassen sich aber aus dem Blickwinkel des Außenstehenden doch einige nützliche Gedanken formulieren. Zwar gilt der methodische Grundsatz exempla illustrant, non demonstrant, aber im epochen- und kulturübergreifenden Vergleich lassen sich die beobachteten Phänomene doch aus ihrer historischen Vereinzelung befreien und es öffnen sich Perspektiven auf grundlegendere Fragen (vgl. die Skizze eines transkulturellen Vergleiches bei Demel 2005). Die folgenden Überlegungen wollen demnach weder ein systematischer Bericht über den althistorischen Forschungsstand zum Thema „Adel“ sein, noch gar ein eigenständiger Beitrag zu dieser Forschung. Vielmehr will ich einige Gedanken formulieren, die im Rahmen eines gemeinsamen Lehrforschungsprojektes der Universitäten Eichstätt und Augsburg im Sommersemester 2012 entwickelt wurden. Dieses Projekt war der Frage „Was ist Adel?“ gewidmet und führte alt- und neuhistorische Ansätze und Themenstellungen zusammen. Ein solches Vorgehen setzt methodisch voraus, dass man die Vergleichsgegenstände klar benennen kann. Das ist im vorliegenden Fall jedoch keineswegs so einfach, wie es zunächst scheinen mag: Während für den Neuhistoriker recht klar ist, wer als adelig zu gelten hat, erscheinen die Kategorien für den Althistoriker sehr viel unbestimmter. Zwar gibt es in der Sprache der antiken Quellen durchaus Begriffe, die unserem Wortfeld „Adel“ in etwa entsprechen, doch handelt es sich fast durchweg um subjektive Selbstzuschreibungen, die keiner formalisierten Ständeordnung entsprechen. Es hilft auch nicht weiter, dass der Begriff der „Aristokratie“ dem Sprachgebrauch der politischen Theorie der Antike entstammt. Diese kannte zwar die Regierungsform der „Aristokratie“, nicht aber eine klar abgegrenzte soziale Gruppe von „Aristokraten“. Zur Bezeichnung des „Adels“ wurden stattdessen ethische Begriffe wie „die Guten“ (agathoi/boni), „die Besten“ (aristoi/optimi/optimates), „die Tüchtigen“ (chrestoi/chresimoi), „die aus guten Familien stammenden“ (eupatridai) usw. gebraucht. Eine den Adelsrollen oder dem Gothaischen Hofkalender vergleichbare Matrikel, welche die Verifizierung solcher Ansprüche erlaubt hätte, gab es jedenfalls nicht. Objektivierbar waren diese nur dort, wo sich Behauptungen von „Adel“ mit der Bekleidung öffentlicher Ämter und Würden überschnitten. Dabei hing jedoch mit wenigen Ausnahmen der Status am Amt und nicht umgekehrt. Dennoch kann man, zumal in der älteren althistorischen Forschung, vielfach ganz selbstverständlich von „Adel“ und „Adeligen“ lesen – um von den „Junkern“ in Mommsens Römischer Geschichte einmal zu schweigen. Ohne Zweifel wird man



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zugestehen müssen, dass diese Verwendung des Adelsbegriffes vielfach relativ unreflektiert erfolgte beziehungsweise erfolgt und vorrangig der axiomatischen Annahme geschuldet ist, dass es Adel eben in allen vormodernen Gesellschaften gegeben habe. Dieses (Vor-?)Urteil ist auch der neuhistorischen Adelsforschung nicht fremd: So behauptet etwa Monika Wienfort ganz selbstverständlich, der Adel sei „ein universalgeschichtliches Phänomen, das sich bereits in den frühen Hochkulturen findet“ (Wienfort 2006, 8). Eine verbreitete Meistererzählung setzt den Übergang in die Moderne geradezu mit der Überwindung der Ständegesellschaft und damit des Adels in eins. Wenn aber die Abwesenheit von Adel beziehungsweise seine Reduktion auf einen bloßen sozialen Atavismus ein Proprium der Moderne ist, dann liegt es nahe, Adel als ein Kennzeichen vormoderner Gesellschaften zu sehen. Aber ist dieser Umkehrschluss wirklich stichhaltig? Ein Blick auf die Verhältnisse in Rom mag das Problem illustrieren: Wenn man vom Charakteristikum des Geburtsprivilegs ausgeht, müsste man den Adelsbegriff eigentlich auf die Patrizier beschränken. Zwar konnten Familien seit Caesar als Patrizier kreiert werden, doch im Prinzip handelte es sich um einen erblichen Status, der einer Familie nicht zu nehmen war. Wählt man hingegen begriffsgeschichtlich den Ausgangspunkt vom Terminus nobilis, dann käme nur eine herausgehobene Untergruppe der Senatoren in den Blick – in der Hohen und Späten Republik wohl diejenigen, deren Vorfahren mindestens den Konsulat oder die Prätur erreicht hatten. Rechtlich formalisiert war der Status eines nobilis nicht. Tatsächlich wird aber in der Forschung vielfach von einem „Senatsadel“ gesprochen, der alle Angehörigen des Senates inkludiert. Das hat bestenfalls für die Kaiserzeit eine Berechtigung, in der alle Senatoren mit ihren Frauen und Nachkommen bis in die dritte Generation den ordo senatorius bildeten. Aber in dieser Beschränkung liegt doch ein erhebliches Problem, denn ganz offensichtlich war die Zugehörigkeit zu dieser privilegierten Gruppe Folge der Bekleidung eines politischen Amtes, auch wenn sie ihrerseits den Zugang zu solchen Ämtern und damit die Perpetuierung des Status erleichterte. Eine unverlierbare erbliche Qualität war die Zugehörigkeit zum Senatorenstand nicht. Es ist bezeichnend, dass die formelle Bezeichnung des „Standes“ gerade nicht die „adelige“ Terminologie des Edlen und Guten aufnahm, sondern von Amt und Funktion ausging: Es gab einen Senatorenstand, der mit Blick auf seine relative Würde auch als „erhabenster Stand“ (amplissimus ordo) angesprochen werden konnte, aber niemals einen ordo nobilium. Haben wir es dann aber überhaupt mit „Adel“ zu tun? Sollte man nicht lieber von einer „Oberschicht“, einer „Führungsschicht“ oder gar einer „Elite“ sprechen? Ich will auf diese Frage am Ende meines Beitrages zurückkommen. Zunächst aber ist eine knappe Skizze über den „Adel“ in der Antike angezeigt. Die Betrachtung soll dabei entlang einiger auch in den Beiträgen dieses Bandes behandelter Fragestellungen strukturiert werden. Dabei werden die Verhältnisse in Rom stärker in das Blickfeld geraten als diejenigen in der griechischen Welt. Die Ursache ist darin zu sehen, dass gerade in dem griechischen Staat, über den wir weitaus am

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besten informiert sind, nämlich das Athen des 5. und 4. Jh. v. Chr., die demokratische Ordnung die Herausbildung einer stabilen Führungsschicht verhinderte. In Rom hingegen bieten die republikanische Nobilität sowie der kaiserzeitliche ordo senatorius zumindest einen naheliegenden und gut fassbaren Ansatzpunkt für einen Vergleich.

I Zugang zum „Adel“ Wie bereits gesagt, existierten Adelsmatrikel in der Antike nicht. Scheinbare Ausnahmen erweisen sich bei näherer Betrachtung als trügerisch: Die Rede von „Rittern“ in Athen und Rom ruft beim zeitgenössischen Hörer falsche Assoziationen auf, denn es handelte sich nicht um erbliche Adelsgruppen, sondern um Zensusklassen, die man wohl besser als „Reiter“ übersetzen sollte. Die Bezeichnungen rührten ursprünglich daher, dass diese Klassen Personen zusammenfassten, die zum Unterhalt eines Pferdes und damit zu entsprechendem Militärdienst im Bürgeraufgebot in der Lage waren. Die politische Ordnung antiker Gemeinwesen besaß oft eine starke timokratische Komponente. Dergleichen wurde sie in der politischen Theorie der Antike als antidemokratisch angesehen. Wie auch die Zensuswahlrechte des 19.  Jh. sicherten solche Regelungen in der Tat das Übergewicht der ökonomischen Oberschicht. Sie begründeten jedoch keine Adelsherrschaft und schon gar keinen Adelsstand, insofern der Zugang zu politischer Macht gerade nach überpersönlichen Kriterien bemessen und prinzipiell von Tradition und Geburt unabhängig gemacht wurde. Ratsversammlungen wie der Areiopag in Athen oder der Senat in Rom werden in ihren Anfängen in der Tat „Adelsräte“ gewesen sein, was wohl faktisch eine Versammlung der Großbauern und/oder Familienoberhäupter bedeutete. In späterer Zeit war die Mitgliedschaft aber von der vorherigen Bekleidung bestimmter Magistraturen abhängig. Das politische Gewicht lag dann jedenfalls bei Ratsgremien, die direkt oder indirekt durch Wahl- beziehungsweise Losungsprozesse bestellt wurden. Wenn eine solche Ratsversammlung in der griechischen Polis Chios als „Volksrat“ bezeichnet wird, bedeutet dies zunächst einmal nur, dass die Besetzung vom „Volk“ vorgenommen wurde und durch Quotierungen einigermaßen repräsentativ war. Ein Gegensatz zu einem älteren „Adelsrat“ bleibt hypothetisch sowohl was die Existenz als auch was die Zuschreibung von „Adeligkeit“ an ein solches Gremium angeht. Die römischen Ritter bildeten zu Zeiten der Republik die höchste Zensusklasse, der auch die Senatoren angehörten. Erst in der Späten Republik entwickelten sich Ritter- und Senatorenstand zu getrennten ordines. Den Zugang zum Ritterstand eröffnete der Nachweis freier Abstammung über drei Generationen sowie eines Vermögens von mindestens 400.000  Sesterzen. Die Aufnahme in den eigentlichen ordo setzte aber eine kaiserliche Ernennung voraus. Während der Senatorenstand auch die weiblichen Angehörigen der Senatoren umfasste, war der Ritterstand allein auf Männer



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beschränkt. Auch war er (zumindest formal) nicht einmal in der beschränkten Form erblich, wie sie beim ordo senatorius bestand. Dieser entwickelte sich nach den Umbrüchen der Bürgerkriegszeit, die nicht nur das Ende der Republik, sondern auch die physische Auslöschung eines großen Teiles der Nobilität brachten. Von nun an kontrollierte der Kaiser den Zugang zum ordo senatorius und die Vergabe der Magistraturen. Es konnte gar nicht in seinem Interesse sein, eine abgeschlossene und daher unverzichtbare Schicht von „Adeligen“ zu fördern. Die römischen Kaiser brachten folglich ihre Anhänger in den Senat, dessen Zusammensetzung sich im Laufe des 1.  Jh. n.  Chr. fundamental veränderte und zunehmend auch Provinziale inkludierte. Die einflussreichen Hofämter, die die kaiserliche Verwaltung kontrollierten, wurden überdies nicht an Senatoren – denen eine solche Dienststellung vom Status her gar nicht zuzumuten gewesen wäre – vergeben, sondern zunächst an Freigelassene, später dann an Ritter. Konubialschranken sind für den antiken „Adel“ nur in ganz wenigen Fällen bezeugt, was allerdings auch daran liegen kann, dass faktische Endogamie innerhalb einer sozialen Gruppe durchaus nicht mit einer Verrechtlichung entsprechender Normen einhergehen muss. Eine solche wird etwa für die Frühzeit Roms berichtet, wo in einem Zusatz zum Zwölftafelgesetz Ehen zwischen Patriziern und Plebejern verboten worden sein sollen. Diese Regelung wurde aber in jedem Fall schon Mitte des 5. Jh. v. Chr. aufgehoben. Für die historisch helle Zeit spielte sie keine Rolle. Zwar wurden in der Frühen Kaiserzeit bestimmte Eheverbote für Angehörige des ordo senatorius definiert, doch bezogen sich diese auf infamierte Personen – es ging also nicht darum, einen senatorischen „Adel“ von einem „ritterlichen“ oder gar „Normalbürgern“ abzusondern. Vielmehr sollte verhindert werden, dass als Straftäter verurteilte Personen oder solche, die bestimmten entehrenden Tätigkeiten nachgingen, durch Heirat Aufnahme in den ordo fanden und dessen Ansehen beschädigten. Dynastisches Prinzip und Leistungsethik standen in der Antike stets in einer Spannung. Zwar gab es zweifellos die Vorstellung, dass tüchtige Eltern auch tüchtige Kinder hervorbrächten, Tugend mithin vererbbar sei und gute Menschen wie gute Pferde gezüchtet werden könnten. Dieses Denken wurde aber durch gegenläufige Tendenzen austariert: Geschichte wurde oft als Dekadenzprozess aufgefasst. Schon in den homerischen Epen erscheinen die Protagonisten als Helden minderer Statur von der Vorgeneration abgesetzt, genauso wie die Gegenwart ihrerseits hinter der „homerischen“ Vorzeit zurücksteht. Die Generationenfolge impliziert in einem solchen Modell keine Bewahrung, sondern einen fortlaufenden Verfall. In Rom führte eine ausgeprägte Leistungsethik dazu, dass der Prinzipat sich nie als Erbmonarchie verrechtlichen konnte, weil dies der Fiktion einer „Herrschaft des Besten“ widersprochen hätte. Stattdessen wurden zufällige dynastische Adoptionen ideologisch als „Auswahl des Besten“ überhöht. Dass dies der tatsächlichen Tendenz zur Verfestigung dynastischer Strukturen nicht entsprach, liegt auf der Hand. Es zeigt sich darin aber doch ein erhebliches Misstrauen in die Vererbbarkeit herausragender Fähigkeiten.

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Die Suche nach einer scharfen Abgrenzung von „Adel“ bleibt für die Antike also letztlich erfolglos. Sofern der Adelsbegriff nicht einfach auf bestimmte Funktionsinhaber oder Zensusgruppen übertragen wird, hat sich die neuere Forschung daher stark dem Phänomen der „Adelskultur“ zugewandt (z.  B. Stein-Hölkeskamp 1989). Unabhängig von der Frage der genauen Abgrenzung werden dabei Leitbilder rekonstruiert, die „adelige“ Werte und „adeligen“ Habitus normierten. Man kann allerdings fragen, ob schon die Existenz einer distinktiven Oberschichtenkultur dazu berechtigt, von „Adel“ zu sprechen.

II „Adel“ und Bürgertum Aus dem Fehlen beziehungsweise der leichten Überwindbarkeit und der Unschärfe ständischer Schranken erklärt sich, warum es in der Antike keinen Klassengegensatz zwischen Bürgertum und „Adel“ geben konnte. Viel bestimmender als die Zugehörigkeit zum „Adel“ waren generell die Unterscheidungen zwischen Bürgern und Nicht-Bürgern sowie Freien und Unfreien: Die griechischen Poleis gingen mit der Verleihung des Bürgerrechtes an Fremde äußerst restriktiv um; in Rom war dies zwar anders – jeder rechtsförmlich freigelassene Sklave erhielt das Bürgerrecht –, doch die Masse der Provinzialen im Reich erhielt erst durch die constitutio Antoniniana 212 n. Chr. Zugang zur civitas Romana. Die Sklaverei wurde bekanntlich niemals grundsätzlich in Frage gestellt, auch in der christlichen Spätantike nicht. Der Bürgerbegriff der Antike blieb daher immer auf die Gesamtgruppe der freien und (zumindest theoretisch) an politischen Entscheidungsprozessen in irgendeiner Form beteiligten Personen bezogen und nahm nie die Bedeutung des Untertanen an. Oligarchische Regime strebten daher meist nicht danach, die „Bürger“ ihrer politischen Rechte zugunsten von „Aristokraten“ zu berauben, sondern das „Volk“ beziehungsweise die „Vielen“ zugunsten der Reichen und „Guten“ aus dem Bürgerrecht auszuschließen. Versuche, nicht-adelige, gewissermaßen „bürgerliche“, Lebenswelten und Anschauungen zu rekonstruieren, stoßen zudem im Feld der Alten Geschichte schnell auf große Schwierigkeiten, da es an Quellen fehlt. Man hat etwa versucht, in der frühgriechischen Lyrik eine middling ideology nachzuweisen, die einen Gegenentwurf zur Adelskultur geliefert habe und konstitutiv für die Entstehung der griechischen Polis gewesen sei (Morris 1996). Es ist allerdings die Frage, ob es sich hierbei nicht eher um einen Diskurs innerhalb der „adligen“ Oberschichten handelte. Gleichheit war in der Antike zunächst nicht ein antiaristokratisches Argument, sondern ein Anliegen der „Aristokraten“ selbst, die in einem intensiven Wettbewerb untereinander standen und eine Monopolisierung wichtiger Positionen durch Angehörige ihrer Schicht verhindern wollten. In Sparta, wo dem Gleichheitsideal wie nirgends sonst gehuldigt wurde, waren die Vollbürger – die explizit die „Gleichen“ genannt wurden – eine kleine (und stetig schrumpfende) Minderheit der Gesamtbevölkerung.



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Aristoteles wies dem mittleren Element eine wichtige Bedeutung für die Stabilität einer Polisordnung zu, und die Problematik ungleicher Besitzverhältnisse beziehungsweise einer Verarmung größerer Bevölkerungsschichten wurde auch von anderen politischen Denkern reflektiert. Damit war aber nicht an eine „bürgerliche“ Schicht im Gegensatz zu einem „Adel“ gedacht, sondern ein Mittelpol zwischen „Reichen“ und „Armen“ gesucht. Überlegungen, wie man eine Besitzkonzentration verhindern könne, begegnen bezeichnenderweise bereits ganz zu Beginn der Entwicklung der politischen Theorie im 5. Jh. v. Chr. und wurden davon ausgehend in der radikalisierten Form egalitärer Gütergemeinschaft ein fester Bestandteil des utopischen Denkens. In der römischen Welt könnte man eventuell auf die zu Reichtum gekommenen Freigelassenen verweisen, die von der Bekleidung politischer Ämter und von der Teilhabe an zentralen sozialen Repräsentationsorten ausgeschlossen waren. Ihre tatsächliche ökonomische Potenz konnte eine angemessene soziale Repräsentation nur in Nischen wie dem Kaiserkult und dem Vereinswesen entfalten. Statt über Denkmäler im Stadtzentrum konnten sie ihre Selbstdarstellung nur in ihren Grabmälern in den außerstädtischen Nekropolen entwickeln. Hier lassen sich zwar in der Tat milieuspezifische Wertkonstruktionen erkennen, doch führte dies nicht zu einem dauerhaften politischen Klassengegensatz. Die Nachkommen der Freigelassenen besaßen das volle Bürgerrecht und konnten durchaus in den Stadtrat, den ordo decurionum, oder auch den Ritterstand einrücken. Der antike „Adel“ war größtenteils mit den städtischen Oberschichten identisch. Ein Gegensatz zwischen „bürgerlichen“ Oberschichten in den Städten und einem auf dem Land residierenden „Adel“ konnte daher ebenfalls nicht entstehen. Die neuzeitliche Aufnahme des antiken Patrizierbegriffes zur Bezeichnung eines Stadtadels ist nur mit Blick auf die Zeit der Frühen Republik sinnvoll, als in den Ständekämpfen um die Regimentsfähigkeit der nicht-patrizischen Oberschicht gestritten wurde. Mit dem Beginn des 3.  Jh. v.  Chr. war dieser Konflikt jedoch erledigt und an die Stelle des patrizischen Geburtsadels trat der Amtsadel der Nobilität. Dieser war prinzipiell für Außenstehende offen, auch wenn er sich faktisch überwiegend aus sich selbst ergänzte. Besondere Insignien des Adels gab es in Griechenland überhaupt nicht. In Rom standen Patriziern spezielle Stiefel, den Senatoren (mit der Entstehung des ordo senatorius in der Kaiserzeit auch ihren männlichen Nachkommen) als Amtsabzeichen ein senkrechter breiter Purpurstreifen auf der Tunika zu. Die Ritter trugen entsprechend einen schmalen Purpurstreifen. Hinzu kamen ein goldener Ring und das Recht auf Ehrenplätze in den öffentlichen Theatern. In der Kaiserzeit wurden auch standesbezogene Rangtitel entwickelt: vir clarissimus/clarissima femina für die Angehörigen des ordo senatorius, vir egregius, perfectissimus und eminentissimus für die Ritter. Bei den letzteren Bezeichnungen handelte es sich jedoch um persönliche Titel, die nicht vererbt werden konnten. In der Spätantike wurden weitere, höhere Rangklassen auch für Senatoren eingeführt (spectabilis, illustris), die aber nicht erblich und mit der

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Bekleidung bestimmter Ämter verbunden waren. Da der Ritterstand nur einen persönlichen Status darstellte, existierten keine Rangtitel für die Ehefrauen oder Nachkommen von Rittern.

III „Adel“ und Militär Neben dem Staats- und Kirchendienst galt dem modernen „Adel“ vor allem die militärische Laufbahn als statusadäquat. Die Wurzeln dieser Auffassung sind darin zu suchen, dass der Krieg bis in die Neuzeit eine der wesentlichen, wenn nicht die zentrale Aufgabe des Staates überhaupt war. Auch in antiken Gemeinwesen spielten Fragen der Wirtschafts- und Innenpolitik nur eine untergeordnete Rolle, wie etwa an der Tagesordnung der regulären Volksversammlungen in Athen abzulesen ist. Außenpolitik war oft und selbstverständlich Kriegspolitik. Politische und militärische Tätigkeit sowie die Bekleidung von Priesterämtern stellen daher lediglich verschiedene Seiten eines Phänomens dar, nämlich der öffentlichen Tätigkeit, die den „Adeligen“ als Führer beziehungsweise Stellvertreter der Gemeinschaft erscheinen ließ. Hinzu kommt, dass in antiken Gemeinwesen bis in das 3. Jh. n. Chr. keine professionalisierte Laufbahn für höhere Offiziere existierte. In Athen wurden die zehn Strategen von der Volksversammlung gewählt. In Rom wurden die Heere von den Magistraten mit imperium, den Konsuln und Prätoren, befehligt. Zwar konnten diese durch Privatpersonen ersetzt werden, die mit einem außerordentlichen imperium ausgestattet worden waren, doch entstammten diese Privatpersonen in der Regel, wie die regulären Konsuln und Prätoren, wiederum dem Kreis der Senatoren. Es galt der nur selten durchbrochene Grundsatz, dass Bürgertruppen (im Gegensatz zu den aus Nichtbürgern rekrutierten Hilfstruppen) nur von einem senatorischen Befehlshaber zu kommandieren waren. Zwar gab es natürlich Senatoren, denen besondere militärische Kompetenzen zugeschrieben wurden und die dann im Krisenfall besonders bedeutende Kommanden übertragen bekamen, doch zur generellen Ausbildung spezialisierter Laufbahnen führte dies zunächst nicht. Ein römischer Senator wechselte normalerweise zwischen zivilen und militärischen Ämtern. Ähnliches galt lange Zeit auch für die ritterliche Laufbahn. Erst im 3. Jh. n. Chr. wurden die Senatoren aus den militärischen Kommanden verdrängt und durch Ritter abgelöst. Es entstand nun eine echte Offiziersklasse, der auch der gemeinsame Bildungshintergrund mit dem senatorischen „Adel“ verlorenging. Diese Spaltung verstärkte sich im 4. Jh. n. Chr. mit der zunehmenden Germanisierung des Heeres. Während bis in die Hohe Kaiserzeit „adeliger“ Status immer mit der Fähigkeit und Bereitschaft zu militärischem Dienst einherging, löste sich dieses Band in der Spätantike. Parallel ist zu beobachten, dass „adeliger“ Status generell unabhängiger vom Staatsdienst wurde. Zwar begründete sich die Zugehörigkeit zum Senat und zu den spezifischen Rangklassen innerhalb des Senatorenstandes noch



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immer aus der Bekleidung bestimmter Funktionen, doch die Vorstellung, dass der Lebensinhalt eines Senators im ständigen Dienst für den Staat zu bestehen habe, verblasste. Der einmal erworbene Status konnte auch außerhalb der politischen Laufbahn, sogar außerhalb Roms erhalten bleiben. In dieser spätantiken Gruppe der honorati könnte man einen Vorläufer des eigentlichen Adels sehen.

IV „Adel“ und Wirtschaft Da der antike „Adel“ im Regelfall auch der ökonomischen Oberschicht zugehörte und die Wirtschaft der antiken Welt agrarisch geprägt war, versteht sich, dass der „Adel“ meist über eine Basis in ausgedehntem Landbesitz verfügte. Dass im Rom der Hohen Republik der Besitz von Überseeschiffen durch Senatoren gesetzlich eingeschränkt wurde, hat die ältere Forschung als Zeichen eines antimerkantilistischen Reflexes gedeutet. In der Tat war in der Antike nie umstritten, dass die Bewirtschaftung eines Landgutes die einem „Adligen“ am meisten zukommende Beschäftigungsform wäre. Gleichzeitig wird jedoch schon in der Schrift des älteren Cato über den Landbau deutlich, dass diese Gutswirtschaft Gewinnmöglichkeiten auf den städtischen Märkten durchaus einkalkulierte und auf eine Steigerung der Profite abzielte. Angehörige des senatorischen Nobilitätsadels beteiligten sich gegebenenfalls über Mittelsmänner am Fernhandel und waren Immobilienspekulationen in Rom selbst nicht abgeneigt. M. Licinius Crassus soll zum reichsten Mann Roms aufgestiegen sein, indem er brennende Häuser aufkaufte und dann von seiner Privatfeuerwehr löschen ließ. Man muss demnach deutlich zwischen einem konservativ-bäuerlichen Ideal und einer wesentlichen komplexeren Realität unterscheiden. Freilich war der antike „Adel“ nie mit der Herausforderung einer Industrialisierung konfrontiert. Gleichwohl wäre es völlig verfehlt, das Wirtschaftsleben der Antike unter dem Siegel der „Vormoderne“ als ein statisches Kontinuum zu betrachten. Im Rahmen einer insgesamt geringeren Bevölkerungsdichte hatte die Bildung größerer urbaner Zentren erhebliche Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben. Der Schiffsverkehr auf dem Mittelmeer erreichte nach Ausweis der gefundenen Wracks in den zwei Jahrhunderten um die Zeitenwende eine Dichte, die erst in der Frühen Neuzeit wieder erreicht werden sollte. „Adelige“ partizipierten am Wachstum von Handwerk und Dienstleistungsangeboten über Freigelassene. Die Gewinnmöglichkeiten durch marktorientierte Gutswirtschaft, Handel und Finanzwirtschaft bewirkten – neben anderen Faktoren – eine innere Differenzierung des „Adels“, die in Rom letztlich das republikanische System destabilisierte. Wer sich diesem Wettbewerb verschloss, riskierte den eigenen sozialen Abstieg. Die Identität von sozio-politischer und ökonomischer Elite war in Rom seit der Kaiserzeit durch Zensusschranken normiert, die von Rittern und Senatoren ein erhebliches Mindestvermögen forderten (400.000 beziehungsweise 1 Million Sesterzen). Dieses konnte zwar gegebenenfalls durch kaiserli-

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che Schenkungen ergänzt werden, doch die Vorstellung eines verarmten Adels war der Antike weitgehend fremd. Auch die timokratischen Ordnungen in Griechenland fixierten die Identität von ökonomischer Oberschicht und politischer Führungsschicht. Der spartanische „Bürgeradel“ der „Gleichen“ setzte die ökonomische Potenz voraus, von zuhause abkömmlich zu sein und zu den Speisegemeinschaften der Vollbürger seinen Beitrag leisten zu können. Wer diese Voraussetzungen nicht mehr erfüllte, schied aus der Gruppe der Vollbürger aus – was durchaus häufig vorgekommen zu sein scheint. Selbst im radikaldemokratischen Athen blieben die Angehörigen der niedrigsten Steuerklasse wohl formal von der Bekleidung des Archontats ausgeschlossen; allerdings wurden die entsprechenden Selbsterklärungen der Kandidaten anscheinend kaum geprüft. Etliche Zensusschranken sind allerdings auch unter einem ganz anderen Aspekt zu betrachten: Antike Gemeinwesen legten großen Wert auf die persönliche Haftbarkeit von Amtsträgern, insbesondere dort, wo diesen öffentliche Gelder anvertraut waren. Haftbar aber konnte faktisch nur derjenige gemacht werden, der über ein entsprechend hohes Privatvermögen verfügte. An diesem Prinzip hielt man selbst in Athen immer fest – ein besonderes „Adelsprivileg“ wird man darin kaum sehen können. Spezielle Steuerprivilegien gab es für den antiken „Adel“ übrigens nicht. Im Gegenteil: Zwar waren die Angehörigen des Senatorenstandes von Einquartierungen befreit. Faktisch aber war die Bekleidung öffentlicher Ämter oft mit der (teilweise auch rechtlich fixierten!) Erwartung verbunden, erhebliche Eigenmittel zu investieren. Der Eintritt in einen Stadtrat erforderte die Zahlung einer summa honoraria, die dem Stadtsäckel zufloss. Privilegiert waren hingegen wiederum die römischen Bürger, d.  h. aus steuerpragmatischen Gründen die italischen „Altbürger“ und die derjenigen Gemeinden, die das ius Italicum besaßen: Sie zahlten bis zu den Reformen Diokletians keine direkten Steuern (wohl aber Zölle, Gebühren, Erbschafts-, Freilassungs- und Auktionssteuer). In griechischen Poleis galt ebenfalls das Prinzip, dass direkte Einkommenssteuern oder Kopfsteuern für Bürger verpönt waren und normalerweise nur von Einwohnern ohne Bürgerrecht erhoben wurden. Städtische Ausgaben wurden stattdessen direkt an entsprechend leistungsfähige Bürger übertragen, die sich dadurch öffentlich profilieren konnten. Die finanzielle Belastung war erheblich, so dass keinesfalls von einer Besserstellung des „Adels“ die Rede sein kann. Auch auf diesem Feld lässt sich demnach erkennen, dass die Unterscheidung zwischen Bürger und Nicht-Bürger viel fundamentaler war als die zwischen Angehörigen des „Adels“ und „Normalbürgern“.



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V „Adel“, Land und Herrschaft Als ein Charakteristikum des neuzeitlichen Adels wird oftmals die Landsässigkeit angesehen. Allerdings bleibt dadurch der Stadtadel implizit unberücksichtigt und in Italien waren die Verhältnisse ohnehin anders. Der antike „Adel“ war stets und ausschließlich ein stadtsässiger, obwohl seine ökonomische Basis der Landbesitz darstellte. Sowohl Griechenland als auch Rom waren in dem Sinn durch und durch urbane Gesellschaften als die Stadt das Zentrum politischer Herrschaft und sozialer Gruppendefinitionen darstellte. „Adel“ ließ sich vor diesem Hintergrund nur in der Stadt, vor den eigenen Gruppengenossen und dem „Volk“ darstellen und begründen. In der römischen Kaiserzeit war dieses Prinzip auch rechtlich festgeschrieben: Für die Senatoren galt während der Sitzungsperiode Residenzpflicht in Rom, ein bestimmter Anteil des Besitzes musste in Italien investiert sein und Reisen außerhalb Italiens und der Kernprovinzen bedurften der Genehmigung des Kaisers. Das Land stellte gegenüber der Stadt Rom einen Rückzugsraum dar, der nicht eigentlich statusrelevant wirkte – auch wenn man von einem Senator erwartete, dass er über Villen verfügte, auf denen er dem otium frönen und Standesgenossen angemessen empfangen konnte. Der antike „Adel“ besaß im Allgemeinen auch keine Rechte, die mit dem Konzept der Grundherrschaft vergleichbar wären. Zwar spielten „Adelige“ vielfach die bestimmende Rolle in Gerichtsverfahren und politischen Entscheidungsprozessen, doch resultierte dies aus ihrem Status als städtische Oberschicht, nicht aus autonomen Herrschaftsrechten, die denen der städtischen Institutionen entgegengesetzt gewesen wären. Darin liegt ein fundamentaler Unterschied zum mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Adel: Auch dieser konnte durch Übernahme von Dienstfunktionen delegierte Herrschaft ausüben, aber die Rechte im Zusammenhang mit seinem Eigenbesitz bestanden davon unabhängig. Entsprechend gab es in der Antike auch keine auf einen bestimmten Ort bezogene Adelsnamen. Die Gewalt über die jeweiligen Familienverbände und Haushalte inklusive der Dienerschaft war davon selbstverständlich nicht berührt. Es macht aber kaum Sinn, in der Sklavenhaltung eine Parallele zu den Herrschaftsrechten des neuzeitlichen Adels zu sehen, denn Sklavenhaltung war in der Antike allgemein verbreitet und wurde auch in sicherlich nicht als „adelig“ zu bezeichnenden Schichten, wie etwa bei den Freigelassenen, praktiziert. Die städtischen Institutionen gewannen zudem ein zunehmendes Übergewicht gegenüber diesen „adelig“-gentilizischen Verbänden. Die Hausgerichtsbarkeit des Familienvaters wurde durch das klassische römische Recht immer weiter eingeschränkt. Erst in der Spätantike änderte sich dieser Zustand: Die Kleinpächter wurden nun rechtlich auf den Status von coloni gedrückt, die an die Scholle gebunden und in gewissen Aspekten ihrem jeweiligen Grundbesitzer rechtlich untergeordnet waren. Auch wenn die neuere Forschung hierin nicht mehr ohne weiteres den Beginn des mittelalterlichen Feudalsystems sehen will, ist doch unverkennbar, dass sich ein

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struktureller Wandel vollzog. Es ist dabei ganz unerheblich, ob und wie dieses System in der Praxis funktionierte. Bedeutsam ist allein schon die Tatsache, dass ein solches juristisches Konstrukt überhaupt gefunden wurde. Das Prinzip der bürgerlichen Gleichheit wurde damit endgültig zerstört. Das war freilich keine ganz neue Entwicklung: Das römische Recht der Kaiserzeit differenzierte zunehmend zwischen honestiores und humiliores, wobei ersteren erhebliche Strafprivilegien zustanden, insofern Geldbußen an die Stelle von Körperstrafen und das Exil an die Stelle von Kapitalstrafen traten. Wachsende Bedeutung gewann diese Unterscheidung mit der Ausweitung des römischen Bürgerrechtes auf alle freien Reichsbewohner durch Caracalla im Jahr 212 n. Chr. Zuvor waren vor allem die Eliten in den Genuss von Bürgerrechtsverleihungen gekommen. Die alte Abstufung zwischen Bürgern und Nicht-Bürgern wurde nun in gewisser Weise durch diejenige zwischen honestiores und humiliores ersetzt. In Rom selbst hatte sich bereits in der Frühen Kaiserzeit der Anspruch der Senatoren durchgesetzt, nur von ihresgleichen gerichtet zu werden. Der Senat wurde daher zu einer Art Standesgericht. Diese Strafprivilegien der honestiores mögen zwar auf den ersten Blick wie Standesprivilegien aussehen, doch wurden auch Veteranen zu den honestiores gerechnet und der Richter hatte einen weiten Spielraum in der Zuweisung der Angeklagten zur einen oder anderen Kategorie. Erblich war die Statuszugehörigkeit wiederum nur indirekt über den Besitz.

VI „Adel“ und Religion Adelskirche, Konfessionalisierung und religiöser Traditionalismus sind wichtige Themen der neuhistorischen Adelsforschung. Auch in der Antike bestand ein enger Konnex zwischen „Adel“ und Religion: Manche Kulte wurden erblich von bestimmten Geschlechtern versorgt. Besonders im Frühen Rom lässt sich beobachten, dass aus solchen religiösen Privilegien auch eine politische Machtstellung erwachsen konnte, da die Magistrate die Gemeinschaft immer auch in kultischen Handlungen zu vertreten hatten. Die römischen Patrizier sind daher in der Tat als ein Erbadel anzusprechen, der religiöse und politische Führungsaufgaben monopolisierte. Auch nachdem der Patriziat als politisch bestimmende Schicht von der Nobilität abgelöst worden war, blieben Priesterämter höchst bedeutend. Anders als politische Ämter wurden sie nämlich meist auf Lebenszeit vergeben. Sie boten daher dauerhafte Prominenzrollen, die die Zugehörigkeit zum „Adel“ auch in Perioden sicherten, in denen man keine politischen Ämter bekleiden konnte. Vergeben wurden solche Stellungen durch Verkauf (häufig im griechischen Kulturraum) beziehungsweise durch Wahl oder Kooptation (Rom). Auf die eine wie die andere Weise war das Ergebnis die Reproduktion einer relativ stabilen Oberschicht.



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Anders als die klerikale Laufbahn in christlichen Gesellschaften eröffneten Priesterämter in der paganen Antike kaum Aufstiegsmöglichkeiten für Nicht-Adelige. Zwar gab es durchaus Priesterämter, die etwa von Freigelassenen besetzt wurden, doch existierte aufgrund der Fragmentierung der religiösen Praxis in verschiedenste lokale Einzelkulte und des daraus folgenden Fehlens einer universalen Kirchenstruktur keine übergreifende hierarchische Laufbahn, die einen Aufstieg von niedrigeren in angesehenere Ämter ermöglicht hätte – es handelte sich folglich um Nischenämter mit Surrogatfunktion. Ein weiterer deutlicher Unterschied zwischen Antike und Neuzeit ergibt sich daraus, dass das weitgehende Fehlen eines religiösen Spezialistentums und damit einer exklusiv klerikalen Laufbahn verhinderte, dass Priesterämter als Ersatzkarriere für nachgeborene Söhne genutzt wurden. Eine solche war auch nicht notwendig, da sowohl das griechische als auch das römische Erbrecht auf dem Prinzip der Realteilung abstellten. Trotz des antiken Namens ist das Institut des Fideikomisses im Wesentlichen eine neuzeitliche Rechtsschöpfung. Zudem gab es im politischen Bereich keine Erbämter zu besetzen (selbst der römische Kaiser war rein rechtlich gesehen kein Erbmonarch, sondern ein Amtsträger der res publica). Auch von dieser Seite gab es folglich keinen Druck zur Entwicklung von Primogeniturregeln. Schließlich konnten im antiken „Adel“ auch keine „konfessionellen“ Spaltungen entstehen, da die antiken Staatskulte primär auf den Kultvollzug ausgerichtet waren und kaum Glaubensinhalte abgesehen von einem grundlegenden Vertrauen in Existenz und Wirkmächtigkeit der verehrten Gottheit implizierten. Selbst agnostische Überzeugungen waren kein Problem, solange sie nicht zu offensiv vertreten wurden oder gar zu einer Beeinträchtigung der kultischen Funktionen führten. Die Situation änderte sich in der Spätantike, als der römische „Adel“ mit dem Phänomen der Christianisierung konfrontiert wurde. Diese bedeutete gerade für die Aristokratie im bis dahin noch relativ wenig christianisierten Westen des Reiches eine enorme Herausforderung. Die enge Verbindung von „Adel“ und Staatskulten lässt es wenig überraschend erscheinen, dass das Christentum bis Konstantin im ordo senatorius kaum Fuß fassen konnte und auch im 4. Jh. n. Chr. der stadtrömische Senat das Zentrum der Altgläubigen blieb. Da die Kaiser kaum noch in Rom residierten, ergab sich daraus ein mehr oder weniger spannungsreiches Nebeneinander von christlichem Kaiserhof und noch weitgehend pagan geprägter Hauptstadt.

VII „Adel“, Sozialisierung und Bildung Wie jede soziale Gruppe verfügt auch der „Adel“ über einen bestimmten Habitus, der wesentlich durch einen gemeinsamen Sozialisierungshintergrund geprägt wird. In Griechenland implizierte das Idealbild des „Schönen und Guten“ eine enge Verbindung von körperlicher und geistiger Ausbildung, die im Gymnasium ihren Rahmen

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fand. Dieses war auch der Ort, an dem die Päderastie geübt wurde, die zumindest in Athen vor allem eine soziale Praxis des „Adels“ gewesen zu sein scheint: Der ältere Liebhaber umwarb seinen potentiellen Geliebten dabei öffentlich mit Geschenken. Es ging mithin nicht ausschließlich um das Ausleben sexueller Bedürfnisse, sondern um eine kompetitive Zurschaustellung ökonomischer Leistungsfähigkeit und persönlicher Attraktivität von Seiten des Liebhabers. Der jugendliche Geliebte erhielt durch die Beziehung neben dem Vater eine zweite Bezugsperson, die seine Integration in den Kreis der „adeligen“ Oberschicht sicherstellte. Außerhalb dieses Milieus wurde die Päderastie offenbar nicht ohne weiteres akzeptiert. In hellenistischer Zeit entwickelte sich in Athen die Ephebie, ursprünglich eine Art „Grundwehrdienst“, zu einem sozial exklusiven Instrument der Sozialisierung, das nun allerdings auch Nicht-Bürgern offenstand. In Rom sammelten junge „Adelige“ erste Erfahrungen im politischen und militärischen Bereich, indem sie ältere Amtsträger (meist Verwandte oder Freunde der Familie) im sogenannten contubernium begleiteten. Dadurch erhielten sie eine selbstverständliche Vertrautheit mit Personen, Problemen und Institutionen (der ungeschriebenen Verfassung des mos maiorum), die sozialen Aufsteigern notwendig abging. So war etwa Pompeius einer der mächtigsten Politiker seiner Zeit und machte sich bei der etablierten Nobilität doch lächerlich, weil er sich von dem Antiquar Varro als Anleitung für seine öffentlichen Funktionen als Konsul ein Amtshandbuch schreiben lassen musste. Spezifische Bildungsinhalte und Vermittlungwege prägten zudem ein „adeliges“ Gruppenbewusstsein. In Zeiten, in denen das Bildungswesen fast völlig privater Initiative überlassen blieb, war schon der Zugang zu Bildung überhaupt ein exklusives Charakteristikum. Die Angehörigen der römischen Aristokratie verfügten in der Regel über gute Griechischkenntnisse, denn Griechisch war die eigentliche Bildungssprache der Antike. Die Privatbriefe Ciceros sind durchsetzt von griechischen Einsprengseln, die einen sozialen Code generieren, der auf einen gemeinsamen Bildungshintergrund rekurrierte und Außenseiter ausschloss. Man mag hier durchaus Parallelen zur Bedeutung des Lateinischen und Französischen für die Ausbildung des neuzeitlichen Adels sehen. Die Einheit von „Adel“ und Bildung zerbrach im 3. Jh. n. Chr., als zunehmend Aufsteiger aus der ritterlich-militärischen Laufbahn die Senatoren aus wichtigen Entscheidungspositionen verdrängten.

VIII „Adel“, Mobilität und überregionale Kontakte Kennzeichnend für den „Adel“ waren in Antike wie Neuzeit überregionale Bezüge, die dem Nicht-Adeligen für gewöhnlich verschlossen waren. Der griechische „Adel“ heiratete überregional und begründete dadurch Netzwerke, die in politischen Auseinandersetzungen hilfreich sein konnten. Gerade gegen solche Verbindungen rich-



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tete sich im demokratischen Athen das Bürgerrechtsgesetz des Perikles, das exogame Ehen faktisch verhinderte, indem den Nachkommen das Bürgerrecht verwehrt wurde. Gefestigt wurden die internationalen Bezüge des „Adels“ durch die Teilnahme an den panhellenischen Spielen sowie die Übernahme konsularischer Funktionen als proxenos für auswärtige Gemeinden. Für viele Angehörige des römischen „Adels“ in der Späten Republik sind Studienaufenthalte bei besonders renommierten Lehrern im griechischen Osten bezeugt und auch im späteren Leben blieb der römische „Adelige“ in höchstem Maße mobil: In verschiedenen Ämtern hatte er quer durch das Reich zu reisen. Dabei konnte er wiederum Kontakte mit dem lokalen „Adel“ knüpfen, der seit der Frühen Kaiserzeit zunehmend, aber regional sehr unterschiedlich, auch selbst in den römischen ordo senatorius einrückte. Solche persönlichen Verbindungen wurden durch Besuche und Briefe gepflegt. Wenn Angehörige der Aristokratie reisten, war es selbstverständlich, dass sie bei anderen „Adligen“ unterkamen und nicht etwa die (meist übel beleumundeten) Gasthäuser aufsuchten. Umgekehrt übernahmen sie Patronatsfunktionen für Städte in den Provinzen und dienten als Anlaufstelle, wenn diese Gesandtschaften nach Rom schickten. Generell war Netzwerkbildung von höchster Bedeutung, denn das entscheidende Kriterium von „Adeligkeit“ war letztlich immer die Anerkennung dieses Status durch Andere – zum einen die Nicht-Adeligen, noch viel stärker aber andere „Adelige“. Die Mitgliedschaft im adeligen Netzwerk war somit mit „Adel“ selbst weitgehend gleichbedeutend. Auf einer weiteren Ebene konstituierten sich natürlich innerhalb des Adels weitere Netzwerke und Gruppen spezifischerer Prägung. Diese beruhten auf persönlichen Kontakten, vor allem aber auf Verwandtschaft. Verwandtschaftsbeziehungen waren freilich in der Antike weitaus flexibler als in der Neuzeit, da die Verstoßung einer Ehefrau nicht durch christliches Eherecht eingeschränkt war.

IX Adelsethos Antiker „Adel“ zeichnete sich durch ein besonderes Leistungsethos aus. In Griechenland bezog sich dies auf den Lebensstil insgesamt – also beispielsweise auch sportliche Aktivitäten –, in Rom exklusiv auf die Bekleidung einer politisch-militärischen Führungsrolle. Der daraus resultierende Leistungsdruck auf Angehörige der „adeligen“ Häuser war enorm, da die Zugehörigkeit der Familie zur Nobilität bei andauernder Erfolglosigkeit ihrer Mitglieder nicht gesichert war. Nicht erfolgreiche Angehörige der Familie wurden aus dem Familiengedächtnis ausgeschieden: Bei den großen Leichenbegängnissen der römischen gentes wurden nur die Familienmitglieder erinnert, die ein politisches Amt bekleidet hatten. Nicht die Vorfahren an sich legitimierten also die Stellung des „Adels“, sondern deren echte oder angebliche Leistungen für die res publica.

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Eine besondere Verantwortungsethik, die über paternalistische Beziehungen zu einzelnen Untergebenen hinausginge, lässt sich allerdings nicht erkennen. Zwar war die Beziehung von Patron und Klient in Rom bereits durch das Zwölftafelgesetz unter Schutz gestellt, doch konkrete Sanktionen wurden nicht festgeschrieben. Anders als im jüdisch-christlichen Kontext waren Ehrgeiz und Eigennutz in paganen antiken Gesellschaften völlig akzeptierte Werte. Als Caesar seine Truppen in den Bürgerkrieg führte, tat er das unter Verweis auf die Verletzung seiner Würde (dignitas). Das war im Kontext der Zeit ein nachvollziehbares und ausreichendes Argument. Der antike „Adel“ begründete seine Stellung nicht transzendental (wenn man einmal von den schon in der Antike kritisch gesehenen mythologischen Genealogien absieht) und das Gemeinwohl spielte besonders in Rom nur insofern eine Rolle, als auf militärische Erfolge, Gebietsgewinne und Beute verwiesen wurde. Immerhin erwartete man aber von einem „Adeligen“, dass er seine Mittel in erheblichem Rahmen zur Finanzierung von Gemeinschaftsanliegen aufwandte. Im demokratischen Athen waren diese Unternehmungen im System der Liturgien regularisiert, in hellenistischer Zeit traten Euergeten auf, die derlei auf freiwilliger Basis leisteten und somit materielles in soziales Kapital umwandelten. Ähnliches gilt für die Verhältnisse in Rom. Diese Stiftungen waren eine wesentliche Grundlage der Finanzen antiker Städte, sie folgten aber nie einem primär sozialen oder karitativen Impetus. Selbst dort, wo es um die Speisung größerer Personenmengen oder die Versorgung von Waisen ging, war die Bezugsberechtigung in aller Regel an Vorbedingungen hinsichtlich des personenrechtlichen Status gebunden. Die am meisten bedürftigen und sozial am niedrigsten stehenden Gruppen blieben meist ausgeschlossen. Auch stand in der öffentlichen Darstellung dieser Einrichtungen nicht die Linderung persönlicher Not, sondern der Nutzaspekt für den Staat im Vordergrund. Dies änderte sich erst in der Spätantike, als die traditionelle philotimia (Ehrgeiz) der christlichen caritas als wichtigste Motivation für derlei Stiftungen wich.

X „Adel“ und Privatleben Weite Teile der privaten Lebenswirklichkeit antiker „Adeliger“ bleiben uns aufgrund fehlender Quellen verschlossen. Insbesondere fehlt es an Ego-Dokumenten wie Privatkorrespondenz, Tagebüchern etc. Einzig das ciceronische Briefcorpus stellt eine gewisse Ausnahme dar, doch auch dieses war Gegenstand einer selektierenden und offensichtlich purgierenden editorischen Selektion. Andere Briefcorpora, wie dasjenige des jüngeren Plinius, wurden vom Autor als literarisches Werk veröffentlicht und liefern daher nur bedingt einen Einblick in die Realitäten des täglichen Lebens. Vieles muss folglich aus Anekdoten und verstreuten Einzelnachrichten geschlossen werden: Wenn etwa Pompeius wegen seiner Anhänglichkeit an seine junge Frau Iulia lächerlich gemacht wurde, zeigt sich, dass in der allgemeinen Auffassung eine Ehe eben



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eine Zweckverbindung war, die Zuneigung zwar nicht auszuschließen brauchte, die aber keinesfalls die Erfüllung öffentlicher Pflichten behindern durfte. Viele „Adelige“ waren auch als Schriftsteller aktiv oder gingen künstlerischen Aktivitäten nach. Dies war schon eine Folge dessen, dass die Zugehörigkeit zum „Adel“ sich wesentlich aus der Teilhabe an einem bestimmten Bildungskanon ergab. Dass Nero gern sang und schauspielerte, war an sich kein Problem, nur dass er dies öffentlich tat, führte zum Skandal. Denn Bühnenauftritte führten in Rom zur infamia, d.  h. zum Verlust eines Teils der Bürgerrechte. Angehörigen des Senatorenstandes waren daher infamierende Tätigkeiten verboten und auch die Eheverbindung mit infamierten Personen war ihnen untersagt.

XI Schluss Dieser notwendig generalisierende Überblick zeigt, dass sich für die meisten Charakteristika des neuzeitlichen „Adels“ durchaus antike Parallelen beibringen lassen (z. B. spezifische „Adelskultur“ und ostentativer Konsum, Strafprivilegien, Standesabzeichen, repräsentative Wohnsitze, Sitzprivilegien bei öffentlichen Zeremonien, Memorialkultur, Mobilität), dass aber andererseits auch gravierende Unterschiede bestehen. Vor allem konstituierte sich antike „Adeligkeit“ in einem gänzlich anderen sozio-politischen Kontext. Das wirft uns zurück auf die eingangs formulierte Frage, was denn „Adel“ eigentlich ist. Versucht man, den Begriff „Adel“ zu definieren, kommt zunächst die Erblichkeit des Status in den Blick. Das ist natürlich richtig, doch darf nicht übersehen werden, dass Oberschichten aller Art dazu tendieren, sich generationenübergreifend zu verfestigen. Das ist schon eine Folge der Besitzverteilung: In Gesellschaften, die auf Privateigentum basieren, wird dieses eben zumeist innerhalb der Familie vererbt – sofern nicht politische Umstürze, Bürger- oder sonstige Kriege zu einer Umverteilung führen. Zudem lässt sich auch soziales Kapital in gewissem Umfang an Nachkommen weitergeben, was schon mit dem Zugang zu Bildung beginnt. Dies alles aber schafft soziale Chancen, die anderen verschlossen bleiben. Absolute Chancengleichheit ließe sich daher – was die politische Philosophie der Antike übrigens sehr klar gesehen hat – nur durch eine völlige Zerstörung der Familie und die weitgehende Abschaffung des Privateigentums erreichen. Andererseits ist es aber auch kaum hilfreich, im Umkehrschluss alle ökonomischen Oberschichten als „adelig“ zu definieren, selbst wenn sie in ihrer familiären Zusammensetzung weitgehend stabil bleiben. Man könnte zweitens auf das Kriterium der Herrschaft verweisen. Hier entstehen allerdings neue Probleme dadurch, dass der Herrschaftsbegriff in der Geschichtswissenschaft vielfach allein auf die politische Sphäre verengt wird. Das wird freilich dem Phänomen der Grundherrschaft nicht gerecht und lässt außer Acht, dass schon Max Weber Herrschaftsverhältnisse auch in arbeitsteiligen Unternehmen am Werk

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sah. Unter dem Schlagwort governance werden seit geraumer Zeit wieder sowohl politische als auch ökonomische Lenkungsstrukturen erforscht. Die „Gewohnheit zu befehlen“ ist letztlich nicht auf den „Adel“ beschränkt, sondern allen Schichten eigen, die andere durch politische oder ökonomische Strukturen in Abhängigkeit bringen beziehungsweise halten können. Es bliebe also höchstens der Ausweg, als Proprium des „Adels“ die Verbindung politischer und ökonomischer Herrschaft zu definieren. „Adel“ als multifunktionale Führungsschicht vornehmlich vormoderner Gesellschaften würde dann von sektoralen Eliten moderner Gesellschaften abgegrenzt. Damit ist jedoch den gravierenden Unterschieden in der Ausgestaltung dieses umfassenden „Obenseins“ noch nicht Rechnung getragen. Außerdem fragt sich, wie die engen Verbindungen von ökonomischen und politischen Eliten, die auch heute – zumal in angelsächsischen Ländern, zunehmend aber auch in Deutschland – zu beobachten sind, in dieses System einzuordnen sind. Wenn Spitzenpolitiker häufig in Spitzenpositionen in der Wirtschaft wechseln und umgekehrt, wenn einzelne Superreiche Parteien gründen und finanzieren – kann man dann überhaupt noch von sektoralen Eliten sprechen? Ein „adeliges“ Spezifikum könnte man schließlich im Streben nach Visibilität erblicken. Schon der Begriff „Adel“ (und seine antiken Äquivalente) implizieren einen Qualitätsanspruch. Qualität aber ist immer abhängig von einem Maßstab und von der Anerkennung durch Andere. Gerade der antike „Adel“ zeichnete sich zweifellos durch ein starkes Leistungsethos aus und auch dem neuzeitlichen Adel ist ein solches nicht fremd, zumal in der Zeit nach der Abschaffung der Standesprivilegien. Eine Analogie könnte man zu zeitgenössischen Ansprüchen gewisser Gesellschaftsgruppen herstellen, die sich selbst als „Leistungsträger“ zu definieren versuchen. Wie im Falle des „Adels“ bleibt auch hier meist unklar, wie sich die zugrunde gelegten Leistungen zu anderen Lebensbereichen verhalten. Stattdessen wird von Leistung als einem Absolutum gesprochen. Tatsächlich jedoch setzt die Gewichtung von „Leistung“ immer einen Maßstab voraus, der verschiedene Tätigkeiten und Aufgaben in eine Rangordnung bringt. Durch allgemeine Leistungsbehauptungen wird aus einer sektoralen Führungsstellung eine allgemeine intrinsische Qualität abgeleitet. Das ist im Grunde genau dasselbe Prinzip, auf dem die ethisierenden Selbstbezeichnungen des antiken „Adels“ basieren, die eine allgemeine Überlegenheit postulieren. All diese Überlegungen führen also letztlich in eine gewisse Aporie. Und in der Tat: Wo in der althistorischen Forschung früher ohne weiteres von „Adel“ gesprochen wurde, ist heute oft von „Eliten“ die Rede (übrigens auch in manchen Beiträgen des der „Aristokratie“ in Antike und Früher Neuzeit gewidmetem HZ-Sonderheftes Beck/ Scholz/Walter 2008) – was nun freilich die Verfechter eines soziologisch präziser gefassten Elitebegriffes nicht unbedingt befriedigt. Klar ist aber, dass heute niemand mehr auf die Idee käme, wie Mommsen die Optimaten der Späten Republik als „Junker“ zu bezeichnen. Implizit ist damit auch die Vorstellung in Frage gestellt, dass es „Adel“ in allen vormodernen Gesellschaften gegeben habe. In letzter Konsequenz hieße das, „Adel“ nicht mehr selbstverständlich als eine überzeitliche Konstante auf-



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zufassen, sondern als Sonderfall einer sich durch ständische Abschließung und den Wegfall spezifischer Rahmenbedingungen (der Feudalgesellschaft) allmählich fossilierenden Oberschicht. In der Tat erscheint es lohnend, „Adel“ einmal als spezifische Form einer Oberschicht zu denken: Wir können dabei zunächst von der offensichtlichen Beobachtung ausgehen, dass es in allen entwickelten Gesellschaften soziale Ungleichheiten gibt. Politische Macht und ökonomische Ressourcen sind nicht egalitär verteilt. Diese Unterschiede müssen – sofern sie nicht durch blanke Gewaltanwendung gesichert werden sollen – legitimiert werden. Im günstigsten Fall akzeptieren die Schlechtergestellten dabei, dass sie mit Recht schlechter gestellt sind. Grundsätzlich eröffnen sich verschiedene Möglichkeiten einer solchen Legitimation, die sich nicht gegenseitig ausschließen: 1. Verweis auf transzendentale Normen, 2. Begründung durch Geburt und den damit verbundenen Übergang ökonomischer Ressourcen und personaler Gefolgschaftsverbände, 3. Teilhabe an einem gruppenspezifischen Habitus („Adelskultur“), der alle Lebensbereiche umfasst und aufgrund der vorausgesetzten ökonomischen Ressourcen exklusiv ist, sowie 4. Ethisierung des eigenen Status durch positive Selbstzuschreibungen. Die Strategien (2) und (3) können durch Verrechtlichung zur Entstehung eines abgeschlossenen Standes aus einer faktisch bereits mehr oder minder exklusiven sozialen Klasse führen. Der Unterschied in der Realität muss aber nicht unbedingt groß sein, denn Mechanismen der Kooptation beziehungsweise der Ergänzung durch eine übergeordnete Stelle sorgen auch hier für einen gewissen Austausch, der nicht notwendig geringer ausfallen muss als im Falle einer sich „nur“ ökonomisch und sozial abgrenzenden Oberschicht. Der Althistoriker Ronald Syme formulierte in seinem Werk Roman revolution, dass hinter jedem Regierungssystem eine Oligarchie lauere (Syme 1939, 7). Ähnlich hatte das zuvor der Soziologe Robert Michels in seinem „ehernen Gesetz“ formuliert (1911). Wie Monarchien oder Demokratien faktisch oligarchische Machtverhältnisse zu verschleiern vermögen, kann auch – wie im Falle der römischen Republik – ein ausgeprägtes Leistungsethos eine faktische Exklusivität der Führungsschicht maskieren. Eine Oligarchie kann man darin wie fast überall am Werke sehen, aber einen „Adel“? Die Übertragung des modernen Adelsbegriffes auf die Antike stößt besonders da an Grenzen, wo eine fast exklusive Schicht imaginiert wird, die im Spannungsverhältnis zu einem mehr oder weniger untertänig gedachten „Bürgertum“, den „Bauern“ oder gar zum „Volk“ steht. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass die Exklusivität des Adels heute erst ein Ergebnis des Endes der alteuropäischen Monarchien ist, der zum Wegfall der Nobilitierungsbevollmächtigten führte und damit der Entstehung eines Neuadels ein Ende machte. Zudem dürfte deutlich geworden sein, dass die Oberschichten antiker Gesellschaften ganz ähnliche Distinktionsmechanismen einsetzten wie ihre neuzeit-

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lichen Entsprechungen. Abstammungs- und Leistungsdiskurse stehen dabei nicht – wie man in der Tradition aufklärerischer Polemik meinen könnte – generell in einem Widerspruch, denn die Abstammungserzählungen des „Adels“ waren in der Antike noch mehr als später durchaus leistungsbezogen. Hinzu kommt die Bedeutung eines Habitus, der alle Lebensbereiche umfasst und durch Bildungshorizont, Freizeitbeschäftigungen, Mobilität, Netzwerkbildung usw. Aufsteiger ausgrenzt, denen die entsprechende Sozialisierung und/oder die ökonomische Basis fehlen. Selbstverständlich wurde dabei die eigene Charakter- und Körperbildung immer als die besonders gute begriffen, man muss nur auf das griechische Adelsideal des „Guten und Schönen“ verweisen. Diese Definitionsmacht schlägt gerade in der Alten Geschichte über die meist in „adeligen“ Kontexten entstandenen Quellen bis heute auf den Historiker durch. Dass „Adel“ vorrangig nicht als Teil einer umfassenden Untersuchung historischer Oberschichten behandelt wird, dass der Neuadel, die Durchlässigkeit und Fluktuation meist weniger Beachtung finden als die Kontinuität, dass „Adel“ ungeachtet aller epochenspezifischen Ausprägungen weithin noch immer als eine historische Konstante postuliert wird, ist ein deutliches Indiz für die nachhaltige Wirksamkeit „adeliger“ Gruppenkonstrukte. Wir sind so gefangen in Begriffen, Normen und Selbstzuschreibungen unserer Quellen, dass wir geneigt sind, diese als gegebene Fakten hinzunehmen. Gewiss – auch Konstrukte sind historische Fakten und beeinflussen historische Prozesse –, doch sollte sich der Historiker ihres Konstruktcharakters immer bewusst bleiben. Antiker und moderner „Adel“ sind letztlich Teil eines Diskursfeldes zur Legitimation gesellschaftlicher Ungleichheiten. Adelsähnliche Oberschichten sind kein spezifisches Phänomen feudaler Gesellschaften, sondern können sich durchaus auch in einem kapitalistisch-postfeudalen Ambiente herausbilden. Insofern wäre eine erste Schlussfolgerung aus einer vergleichenden Betrachtung „adeliger“ Gruppen, Leistungsbehauptungen jedweder Ober- und Führungsschichten generell sehr skeptisch zu betrachten. Das wäre jedoch ein eher politisches Ergebnis, das den quellenkritisch geschulten Historiker kaum überraschen wird. Mit Blick auf die historische Forschung ist zu fordern, dass zwei Dinge scharf auseinanderzuhalten sind: Man kann auf einer begriffsgeschichtlichen Ebene nach antikem und modernem „Adel“ beziehungsweise Adelsidealen fragen. In diesem Fall muss dann aber auch genau auf die Begriffe der Quellen geachtet werden und es geht nicht an, alle möglichen Führungsschichten in die Betrachtung mit einzubeziehen, auch wenn diese weder einen geschlossenen Stand bildeten noch sich selbst als „adelig“ bezeichneten. Zu akzentuieren wären bei einer solchen Betrachtung die jeweils spezifischen gesellschaftlichen Kontexte von und Realitäten hinter Adelsbehauptungen. Sofern man hingegen einen eher soziologischen Zugriff wählt und nach der Konstituierung von gesellschaftlichen Ober- und Führungsschichten fragt, ist die nivellierende Übertragung des Adelsbegriffs wenig hilfreich, weil sie falsche Analogien suggeriert. Aussagen, die dem „Adel“ zuschreiben, „schon immer“ dagewesen zu sein,



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führen jedenfalls in die Irre, weil sie die Kontinuität ethisierender Selbstzuschreibungen mit konkreten sozialen Realitäten vermischen. Multifunktionale Oberschichten, die eine religiöse, politische, militärische und ökonomische Führungsrolle für sich in Anspruch nahmen, hat es in der Antike zweifellos gegeben. Wie zu allen Zeiten wiesen auch die Gemeinwesen der Antike eine starke Tendenz zur Bildung faktisch oligarchischer Machtstrukturen auf. Ebenfalls als eine transepochale Konstante kann man das Bestreben der genannten Oberschichten ansehen, sich durch soziale und teilweise auch rechtliche Mechanismen abzugrenzen und Aufsteiger abzuwehren. Zu einer wirklichen ständischen Abschließung eines Geburtsadels ist es aber in der Antike nicht gekommen und eine autonome Grundherrschaft existierte ebenfalls nicht. Die Vorgeschichte des Adels im heute gebräuchlichen Sinne sollte man daher wohl eher mit den honorati und der rechtlichen Abstufung der coloni in der Spätantike beginnen lassen. Die Aufgabe des Historikers liegt immer in der Beschreibung historischer Phänomene mit einem Vokabular, das seiner Zeit verständlich ist. Eine gewisse Spannung zwischen den Konzepten und Begriffen der Quellen und denen des Historikers ergibt sich daraus zwangsläufig. „Adel“ indes verbindet sich für die meisten Menschen heute nicht mehr mit einer erfahrbaren sozialen Realität, wenn man von den Projektionen der Klatschpresse einmal absieht. Das Verdeutlichungspotential des Begriffes, das zu Mommsens Zeiten fraglos noch gegeben war, schwindet daher. Andere Kategorien treten an seine Stelle. Wo „Adel“ nicht tatsächlich als Quellenbegriff belegt ist, erscheint seine Verwendung zur Bezeichnung von historischen Führungsschichten immer problematischer. Der historische Vergleich von Konstruktionsmechanismen und Repräsentationen sozialer Ungleichheit wird dadurch nicht uninteressanter, zumal aktuelle Relevanzperspektiven durch eine Übersetzung in zeitgenössische Kategorien nur umso deutlicher hervortreten.

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Griechenland Walter Donlan, The aristocratic ideal in ancient Greece. Attitudes of superiority from Homer to the end of the fifth century B.C., Lawrence 1980. Ian Morris, The strong principle of equality and the archaic origins of Greek democracy, in: Josiah Ober/Charles Hedrick (Hg.), Dēmokratia. A conversation on democracies, ancient and modern, Princeton 1996, S. 19–48. Michael Stahl, Aristokraten und Tyrannen im archaischen Athen. Untersuchungen zur Überlieferung, zur Sozialstruktur und zur Entstehung des Staates, Stuttgart 1987. Elke Stein-Hölkeskamp, Adelskultur und Polisgesellschaft. Studien zum griechischen Adel in archaischer und klassischer Zeit, Stuttgart 1989.

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 I Aufbrüche

Alexander Denzler

Adelige und bürgerliche Standes- und Leistungseliten im 18. Jahrhundert War das 18. Jahrhundert eine „Epoche ohne Adel“?1 Diese Frage wurde jüngst in einer Studie zum frühneuzeitlichen Hochadel gestellt. Sie irritiert und provoziert zugleich, da hinlänglich bekannt ist, dass die Gesellschaft der Vormoderne eine ständisch geprägte war, in der der Adel eine fast unumstößliche Vorrangstellung einnahm; ein Jahrhundert ohne Adel ist also gerade für die Zeit vor 1800 unvorstellbar. Und dennoch hat die Frage nach einem adellosen Jahrhundert ihre Berechtigung. Denn in dieser Zeit durchlief der Adel einen tiefgreifenden Wandel, der dazu führte, dass der traditionelle Herrschaftsstand „Funktion, Gestalt und Gesicht“ verlor.2 Entscheidend war hierbei zunächst, dass sich „der“ – in dieser Pauschalität nie existierende – Adel zunehmend differenzierte. 83 Adelsformen beziehungsweise Adelsgruppen zählte etwa in Frankreich die Enzyklopädie Diderots.3 Oder aber im römisch-deutschen Reich: Auch hier büßte der Adel seine innere Kohärenz ein, wenn etwa der hannoversche Geheimrat August Wilhelm Rehberg im Jahr 1803 beklagte, dass man hierzu nicht etwa blos die Lehns- und Gutsherrn, nicht blos den Stand der Krieger, nicht allein die alten Geschlechter [rechnet]. Es giebt ganze altadliche Familien, die weder Lehne [sic] noch andere Rittergüter besitzen; viele Personen von adlicher Herkunft, denen kein Fußbreit Landes zugehört; und dagegen manche unadliche Gutsherrn; der Militairstand steht in gar keiner gesetzlichen Verbindung mehr mit dem Adel, und unzählige Adliche sind nicht Krieger; eine große Zahl

1 Martin Wrede, Ohne Furcht und Tadel – für König und Vaterland. Frühneuzeitlicher Hochadel zwischen Familienehre, Ritterideal und Fürstendienst (Beihefte der Francia 75), Ostfildern 2012, S. 372. Siehe hierzu bereits derselbe, Vom Hochadel zum Halbadel. Formen adeliger Existenz in Deutschland und Europa im 18. Jahrhundert zwischen Ehre und Ökonomie, Fürstenstaat und Revolution, in: Historisches Jahrbuch 129, 2009, S. 351–385, und insgesamt zum frühneuzeitlichen Adel folgende Studien: Ronald G. Asch (Hrsg.), Der europäische Adel im Ancien Régime. Von der Krise der ständischen Monarchien bis zur Revolution (1600–1789), Köln u.a. 2001; Ronald G. Asch, Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit. Eine Einführung (UTB 3086), Köln u.a. 2008; Ronald G. Asch, Nobilities in Transition 1550–1700. Courtiers and Rebels in Britain and Europe (Reconstructions in early modern history), London 2003; Walter Demel, Der europäische Adel. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart (C. H. Beck Wissen), München 2005; Jonathan Dewald, The European Nobility, 1400–1800 (New Approaches to European History, Bd. 9), Cambridge 1996; Gudrun Gersmann, Art. Adel, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2005, Sp. 39–54; Rudolf Endres, Adel in der Frühen Neuzeit (EDG 18), München 1993; Hamish M. Scott (Hrsg.), The European Nobilities in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, 2 Bände, London 1995; Michael Sikora, Der Adel in der Frühen Neuzeit (Geschichte Kompakt), Darmstadt 2009. 2 Wrede, Ohne Furcht und Tadel (wie Anm. 1), S. 372. 3 Wrede, Ohne Furcht und Tadel (wie Anm. 1), S. 380.

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von adlichen Geschlechtern würde vergeblich aufgefordert werden, die Verdienste ihrer Ahnherrn zu erzählen.4

Diese inneradelige Heterogenität, die im 18. Jahrhundert ihren Zenit erlebte,5 war das Ergebnis einer monarchischen oder fürstlichen Nobilitierungspraxis, die „durch zum Teil geradezu inflationäre Standeserhöhungen für bereits etablierte Familien neue Hierarchien schuf sowie ältere Statusansprüche entwertete und andererseits Aufsteigern den Weg in den Adel überhaupt erst öffnete“.6 Neben dieser nach oben gerichteten sozialen Mobilität gab es zudem das Phänomen der Adelsverarmung. Es entstand ein regelrechtes Adelsproletariat,7 das sich eine standesgemäße Lebensführung nicht (mehr) leisten konnte – und auch nicht mehr leisten musste, da sich der adelige Status zunehmend auf einen juristisch gültigen Nachweis und weniger auf den Lebensstil sowie der „informellen sozialen Anerkennung […] durch Standesgleiche und Standeshöhere“ gründete.8 Das Adelsproletariat, aber nicht nur dieses, besaß zudem – darauf weist auch Rehberg hin – meist kein Land. Adelige Macht basierte jedoch in der Vormoderne gerade „auf Besitz und Herrschaft über ‚Land und Leute‘“.9 Der besitzlose Adel verschärfte damit jene Adelskrise, die das vermeintlich adellose 18. Jahrhundert prägte. Hinzu kam, dass die wachsende Inhomogenität des Adels inner- und außerhalb des Standes stärker wahrgenommen wurde, wobei höfische und bürgerliche Werte miteinander konkurrierten.10 Diese Wahrnehmungskonkurrenz verweist wiederum auf die Tatsache, dass im räsonierfreudigen Zeitalter der Aufklärung die Werte des Adels eine breite Delegitimierung erfuhren. So trat an die Stelle von „Mut, Tapferkeit und militärische Großtaten […] die Tugend des ehrbaren Bürgers – eine Mischung aus ausgedehnten Kenntnissen, maßvoller Weisheit und Vernunftvermögen“ – oder aber an die Stelle „der Achtung von Tradition und historisch gewachsener Ordnung […] der Wille zur Reform und die Etablierung einer natürlichen Gleichheit aller Menschen“.11 Überdies – und dies führt zu einem zentralen Aspekt der folgenden Ausführungen – gründete zwar die ständisch geprägte Gesellschaft auf dem Prinzip der sozialen und politischen Ungleichheit, die vielfach 4 Rehberg, Ueber den deutschen Adel (1803), S. 157. Das Zitat führt auch mit weiterführenden Hinweisen Ronald G. Asch, Staatsbildung und adelige Führungsschichten in der Frühen Neuzeit. Auf dem Weg zur Auflösung der ständischen Identität des Adels?, in: Geschichte und Gesellschaft 33, 2007, S. 375–397, hier S. 393. 5 Walter Demel, Der europäische Adel vor der Revolution. Sieben Thesen, in: Ronald G. Asch (Hrsg.), Der europäische Adel im Ancien Régime. Von der Krise der ständischen Monarchien bis zur Revolution (1600–1789), Köln u.a. 2001, S. 409–433, hier S. 412–414. 6 Asch, Staatsbildung und adelige Führungsschichten (wie Anm. 4), S. 393. 7 Wrede, Ohne Furcht und Tadel (wie Anm. 1), S. 389f. 8 Asch, Staatsbildung und adelige Führungsschichten (wie Anm. 4), S. 393f. 9 Gersmann, Adel (wie Anm. 1), Sp. 40. 10 Wrede, Ohne Furcht und Tadel (wie Anm. 1), S. 401. 11 Pierre Serna, Der Adelige, in: Michel Vovelle (Hrsg.), Der Mensch der Aufklärung, Frankfurt am Main 1996/Essen 2004 (Lizenzausgabe), S. 42–97, hier S. 71.



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von Geburt an vorgegeben war. Die geburtsständischen Zwänge lösten sich jedoch mit der Formierung der bürgerlichen Gesellschaft verstärkt auf. So trat auch und gerade an die Stelle der Geburt „das Verdienst, eine Eigenschaft, die man in aller Bescheidenheit durch einen langen Lernprozeß erwirbt und die durch beruflichen Aufstieg symbolisiert und durch einen gewissen Reichtum belohnt wird“.12 Der durch Arbeit und Leistung erworbene Aufstieg lässt sich als eine verbürgerlichte Arbeitstugend begreifen,13 der allen voran jene nichtadelige Elite folgte, die im vormodernen Staatsapparat und damit in jenem Bereich Karriere machte, der die adelige Existenz der Vormoderne nachhaltig prägte. Darum soll es im Folgenden gehen. Es soll erörtert werden, wie der werdende Staat das adelige Leben in der Frühen Neuzeit und insbesondere im krisenhaften 18. Jahrhundert beeinflusste. Im Kern geht es dabei um die Möglichkeiten und Grenzen des Adels, sich mit, neben und gegen den vormodernen Staat zu behaupten. Besonders interessieren hierbei jene nicht- und vielfach dann neuadeligen Amtsträger, die in Ergänzung und Konkurrenz zum Altadel im Umfeld des Monarchen und dessen expandierendem Verwaltungsapparat agierten. Darauf aufbauend soll exemplarisch die sogenannte Visitation des Reichskammergerichts von 1767 bis 1776 betrachtet werden. Diese Überprüfung (lat. visitare) eines der beiden Höchstgerichte des römisch-deutschen Reiches lässt sich als eine der bedeutendsten Reformen der ausgehenden Reichsgeschichte begreifen, die es einerseits ermöglicht, strukturelle Rahmenbedingungen adeliger Existenz im Reich zu behandeln; mit diesem räumlichen Schwerpunkt angesprochen ist zugleich, dass hier nur ein kleiner Teil der teils sehr unterschiedlichen „europäische[n] Adelskulturen“14 betrachtet wird. Andererseits kann die Visitation des Reichskammergerichts deutlich machen, wie sehr der Adel einen – nicht nur im römisch-deutschen Reich zu beobachtenden – Prozess der Verbürgerlichung durchlief, während sich umgekehrt die bürgerliche Leistungselite an den Werten der traditionellen adeligen Standeselite orientierte. Es geht also um das Obenbleiben15 und Nachobenkämpfen einer adelig-bürgerlichen Elite in einem Jahrhundert, in dem sich der Adel zwar derart stark wandelte, dass die Frage nach der Adelsabstinenz ihre Berechtigung hat. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass „Europa am Ende des Ancien Régime mehr denn je durch eine aristokratische Gesellschaftsordnung geprägt“ war.16 12 Serna, Der Adelige (wie Anm. 11), S. 71. 13 Michael Maurer, Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815) (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 127), Göttingen 1996, S. 433–435. Siehe hierzu auch Ewald Frie, Adel und bürgerliche Werte, in: Hans Werner Hahn/Dieter Hein (Hrsg.), Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption, Köln u.a. 2005, S. 393–414. 14 Gersmann (wie Anm. 1), Adel, Sp. 40. 15 Ewald Frie, Adel um 1800. Oben bleiben?, in: Zeitenblicke 4, 2005, Nr. 3, www.zeitenblicke. de/2005/3/Frie [17. Sept. 2013]. 16 Ronald G. Asch, Zwischen defensiver Legitimation und kultureller Hegemonie: Strategien adeliger Selbstbehauptung in der frühen Neuzeit, in: Zeitenblicke 4, 2005, Nr. 2, www.zeitenblicke.de/2005/2/

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I Adel und vormoderne Staatlichkeit Die Existenz des Adels hing in der Vormoderne entscheidend vom Staatsbildungsprozess ab. Gemeint ist damit jener „folgenreichste Institutionalisierungsprozess der Neuzeit“,17 an dessen Ende der moderne Staat mit einer „strikte[n] Einheitlichkeit von Gebiet, Volk und Gewalt“ stand.18 Dieser europäische Fundamentalvorgang, welcher zwischen 1500 und 1800 seine entscheidende Phase erreichte,19 beeinflusste nachhaltig Möglichkeiten und Grenzen adeligen Lebens. Denn die „Formierung und Verdichtung von Herrschaft, die wir frühmoderne Staatsbildung nennen, […] lief auf Integration und Konzentration aller politischen, sozialen, wirtschaftlichen und sonstigen Kräfte unter der Oberhoheit des Herrschers hinaus.“20 Der Adel als die poltischsoziale Standeselite schlechthin war Verlierer, aber auch Gewinner dieser Entwicklung. Deutlich ist zunächst, dass die Schaffung eines einheitlichen Staatsgebietes und einer souveränen Staatsgewalt zwangsläufig zu Lasten adeliger Besitz- und Herrschaftsrechte ging. So wurden gerade in größeren Territorien des römisch-deutschen Reiches „die politischen, militärischen und staatsrechtlichen Privilegien des ‚Feudaladels‘ durch die monarchische Souveränität […] zurückgedrängt“.21 Diese Zurückdrängung der regionalen und lokalen Adelsmacht verlief allerdings keineswegs geradlinig und blieb vielfach auch unvollständig, selbst in Frankreich, wo der König mitnichten so absolut herrschen konnte, wie es die Forschung lange Zeit annahm.22 Zu bedenken ist vielmehr, dass „die wirtschaftlichen und sozialen Rechte des alten Grundadels erhalten blieben“23, indem die grundherrlichen Rechte von der fürstlichen Herrschaft „eher integriert als reglementiert, eher überwölbt als ausgehöhlt“ wurden.24 Daneben war der Adel fester Bestandteil der Landstände, also jener im Land angesessenen Herrschaftsträger, die die landesfürstliche Herrschaftsausübung eher kooperativ ergänzten als konfrontativ beschränkten.25 Gegen die Vorstellung einer absoluten Herrschaftsverdichtung zu Lasten adeliger Autonomie spricht überAsch [17. Sept. 2013], Abschnitt 18. 17 Johannes Burkhardt, Frühe Neuzeit, in: Richard von Dülmen (Hrsg.), Das Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt am Main 2003, S. 438–465, hier S. 447. 18 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3. durchgesehene Auflage, München 2002, S. 16. 19 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt (wie Anm. 18), S. 26. 20 So Heinz Schilling, Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1559–1660 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen 3), Paderborn 2007, der hier (S. 21–33, Zitat S. 21) eindringlich über den Staatsbildungsprozess reflektiert. 21 Endres, Adel in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 1), S. 47. 22 Dagmar Freist, Absolutismus (Kontroversen um die Geschichte), Darmstadt 2008, S. 25–28. 23 Freist, Absolutismus (wie Anm. 22), S. 25–28. 24 Sikora, Adel in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 1), S. 28. 25 Entwicklungslinien und Kontroversen um die politische Macht der Stände resümiert Freist, Absolutismus (wie Anm. 22), S. 36–43.



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dies, dass zwar Teile des Adels in den Fürstenhof eingebunden waren. Die unmittelbare Nähe zum Landesherren respektive Monarchen darf jedoch nicht dergestalt missverstanden werden, dass hier ein absolutistischer Herrscher den „rebellischen“ Adel einseitig kontrollierte. Der Hof war vielmehr ein Ort, den „Herrscher wie Adel […] als verbalen wie symbolischen Kommunikationsraum“ benötigten und nutzten.26 So büßten etwa am Wiener Kaiserhof „die Angehörigen des Hochadels nicht ihre soziale und politische Führungsposition ein, sie konnten sie im Gegenteil noch weiter ausbauen,“27 und zwar auch in Abgrenzung zu jenem verarmenden Adel, der sich die demonstrative Prachtentfaltung der Hofgesellschaft nicht leisten konnte.28 Daneben darf nicht übersehen werden, dass es gerade in der Habsburgmonarchie auch jenseits des Hofes möglich war, „den eigenen Anspruch auf Rang, Ehre und Prestige […] zu demonstrieren, etwa durch prachtvolle Schlösser und Stadtpalais, durch Grabmonumente oder mit den Mitteln der Patronage.“29 Davon unberührt blieb „der“ – in dieser Pauschalität gleichfalls nie existierende – frühneuzeitliche Hof30 ein politisches und kulturelles Zentrum, welches die Verhaltensideale des Adels nachhaltig prägte. Damit gemeint ist zwar nicht jener Zwang zur Selbstkontrolle der Affekte, wie ihn vor über 40 Jahren der Soziologe Norbert Elias mit großem Einfluss beschrieben hat.31 Unbestreitbar ist jedoch, dass das höfische Leben Verhaltensweisen und Fähigkeiten erforderte, „die sich von den traditionellen Idealen der Ritterlichkeit und der adeligen Autonomie entfernten“.32 Gefragt war also nicht mehr ein Adeliger „mit deutlich sichtbarem Gewalthabitus, der bereit ist, den eigenen Status mit der Waffe in der Hand und durch persönlichen Mut zu legitimieren“,33 sondern vielmehr ein Höfling, der sich durch „Selbstkontrolle, Men-

26 Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648–1763 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 10. völlig neu bearbeitete Auflage, Bd. 11), Stuttgart 2006, S. 222. 27 Andreas Pečar, Die Ökonomie der Ehre. Höfischer Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711–1740) (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Darmstadt 2003, S. 297. 28 Freist, Absolutismus (wie Anm. 22), S. 59. 29 Freist, Absolutismus (wie Anm. 22), S. 55. 30 Siehe etwa Volker Bauer, Die höfische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Versuch einer Typologie (Frühe Neuzeit 12), Tübingen 1993 und den Überblick von Rainer A. Müller, Der Fürstenhof in der Frühen Neuzeit (EDG 33), 2. Auflage, München 2004. 31 Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 423), Baden-Baden [2003] (Orig. 1969). Eine kritische Auseinandersetzung findet sich etwa bei Freist, Absolutismus (wie Anm. 22), S. 46–53. 32 Sikora, Adel in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 1), S. 103. 33 Asch, Europäischer Adel (wie Anm. 1), S. 218. Wrede, Ohne Furcht und Tadel (wie Anm. 1), S. 369 stellt allerdings fest, dass das „Turnier als signifikantestes Moment der Praxis des Rittertums“ in der Frühen Neuzeit „langsamer und nuancenreicher [veraltete] als gemeinhin angenommen“.

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schenkenntnis und Berechnung“ auszeichnete.34 Diese Zivilisierung des Verhaltens lässt sich als eine Anpassungsleistung des Adels begreifen in einer Zeit, die oftmals als eine Krisenzeit beschrieben wurde. Von einem Machtverfall im 16. und 17. Jahrhundert und damit einer Krise der Aristokratie, die der vermeintlichen „finalen Adelskrise“ des 18. Jahrhunderts vorgelagert war,35 kann jedoch nicht mehr die Rede sein. Neuere Forschungen betonen vielmehr die Selbstbehauptung des Adels, sprechen sogar von einer Rearistokratisierung, die unmittelbar mit dem Staatsbildungsprozess zusammenhing. Denn die Stellung eines Adeligen definierte sich immer stärker „über seinen Zugang zu den Zentren der Macht, etwa dem Hof, seine Position als Gläubiger des Fürsten, seinen Zugriff auf die fiskalische Ressourcen des Staates und seine Chancen Ämter zu erhalten, als über seine Stellung als Inhaber autonomer lokaler Herrschaftsrechte“.36 Es kann also festgehalten werden, dass sich Adel und vormoderner Staat gegenseitig benötigten und stärkten. Die traditionelle Deutung, nach der der Adel nur ein Gegner des Staatsbildungsprozesses gewesen sei, greift damit zu kurz.37 Adelige waren vielmehr Objekt, manchmal Gegner, „in jedem Fall aber auch […] Mitarbeiter“ der Staatswerdung.38 Und für die bereits angesprochene Verhaltensanpassung des einstigen Kriegeradels lässt sich sogar sagen, dass dieser Vorgang von „zentraler Bedeutung für die Zurückdrängung gewaltsamer Konflikte war und gewissermaßen die kulturelle Grundlage für das Gewaltmonopol des modernen Staates darstellte.“39 Ohne Adel war also kein Staat zu machen,40 während umgekehrt ohne den Staat auch kaum mehr Adel zu machen war. Denn, so das einschlägige Urteil des Adelsforschers Ronald G. Asch, im Laufe der Frühen Neuzeit wandelte sich der Adel „nicht ohne erhebliche Widerstände von einer sozialen Gruppe, die wesentlich durch ihr eigenes Standesbewusstsein und durch ihre Kohärenz als ‚Erinnerungsgemeinschaft‘ konstituiert wurde, zu einer durch den Monarchen privilegierten, aber letztlich auch durch den Souverän in ihrer Identität definierten Führungsschicht.“41 Der Führungs34 Sikora, Adel in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 1), S. 103. 35 Asch, Selbstbehauptung (wie Anm. 16), Abschnitt 4. 36 So Ronald G. Asch, Rearistokratisierung statt Krise der Aristokratie? Neuere Forschungen zur Geschichte des Adels im 16. und 17. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 30, 2004, S. 144–154. S. 147 in Auseinandersetzung mit der Studie von Hillay Zmora, Monarchy, Aristocracy and the State in Europe 1300–1800 (Historical Connections), London/New York 2001, „die mit intellektueller Brillanz in knapper Form eine Neubewertung der komplexen Beziehungen zwischen adeligen Eliten und monarchischem Staat in Europa im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit vornimmt“ [ebenda, S. 146]. Ein kritisches Kurzresümee zur Krise des Adels bietet Sikora, Adel in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 1), S. 29–31. 37 Asch, Europäischer Adel (wie Anm. 1), S. 235. 38 Sikora, Adel in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 1), S. 28. 39 Freist, Absolutismus (wie Anm. 22), S. 58. 40 Freist, Absolutismus (wie Anm. 22), S. 48 mit Verweis auf Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt (wie Anm. 18), S. 211–235. 41 Asch, Staatsbildung und adelige Führungsschichten (wie Anm. 4), S. 397.



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anspruch des Adels musste dabei im Umfeld der Monarchie als die „ausschlaggebende Triebkraft für das Wachstum der Staatsgewalt“42 behauptet werden, und zwar entweder am Hof, im Militär oder in der Verwaltung.43 Letzterer Bereich, der expandierende Verwaltungsapparat des werdenden Staates, blieb freilich keine Domäne des Adels, sondern bot gerade dem Nichtadel ungeahnte Aufstiegsmöglichkeiten. So lässt sich zwar pauschalieren, dass nach dem Dreißigjährigen Krieg bis weit ins 18. Jahrhundert hinein in den meisten Territorien des römisch-deutschen Reiches „wenigstens ein Drittel der Räte in den obersten Gremien altadeliger Herkunft war, mit großer Schwankungsbreite bis zu über 90 %.“44 Umgekehrt bedeutet dies aber auch, dass zwei Drittel bürgerlicher oder neuadeliger Herkunft waren. Der soziale Aufstieg des Nichtadels in Konkurrenz zur traditionellen Standeselite beruhte auf dem sich ständig steigenden Personalbedarf des expandierenden Staatsapparates. Der werdende Staat bedurfte hierbei in erster Linie und in immer größerem Ausmaß juristisch geschulter Fachleute.45 Mit den sogenannten Gelehrten Räten entstand sogar eine akademisch und vornehmlich juristisch gebildete Amtsträgerschaft,46 die mit dem Gemeinen Recht über das „zur Beratung qualifizierende Herrschaftswissen“ verfügte.47 Recht avancierte somit zu einem „herrschaftlichen Expertenwissen, dessen Kenntnis zu einem Macht- oder besser: Machtbeteiligungsmonopol ausgebaut“ wurde.48 Der Adel folgte dieser Entwicklung, in dem er sich seit dem zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts und befördert durch die Bildungsideale des Humanismus49 vermehrt der höheren Bildung an einer Universität widmete, um sich „gegenüber der Konkurrenz bürgerlicher Akademiker behaupten zu können“.50 Das Studium, das oftmals im Rahmen der Kavalierstour absolviert wurde,51 hatte sich so zwar zu einem festen Bestandteil des adeligen Bildungswegs entwickelt. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass „der Aufstieg der gelehrten Juristen von vielen Adligen noch 42 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt (wie Anm. 18), S. 26. 43 Asch, Europäischer Adel (wie Anm. 1), S. 237. 44 Sikora, Adel in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 1), S. 54. 45 Stefan Brakensiek, Juristen in frühneuzeitlichen Territorialstaaten. Familiale Strategien sozialen Aufstiegs und Statuserhalts, in: Günther Schulz (Hrsg.), Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 25/Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2000 und 2001), München 2002, S. 269–289, hier S. 270. 46 Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.), Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts (ZHF Beihefte 18), Berlin 1996. 47 Christian Wieland, Art. Gelehrte Räte, in: Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit (wie Anm. 1), Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 380–384, hier Sp. 381. 48 Wolfgang E.J. Weber, Dienst und Partizipation. Bemerkungen zur Rolle der hohen Beamtenschaft in der frühneuzeitlichen Staatsbildung, in: Derselbe/Antoni Maczak (Hrsg.), Der frühmoderne Staat in Ostzentraleuropa I (Documenta Augustana 1), Augsburg 1999, S. 103–115, hier S. 109. 49 Simone Giese, Art. Adelsstudium, in: Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit (wie Anm. 1), Sp. 73. 50 Sikora, Adel in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 1), S. 110. 51 Sikora, Adel in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 1), S. 112f.

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im 16. Jahrhundert als Bedrohung“ empfunden wurde.52 In diesem Sinne kam es auch im 17. Jahrhundert in- und außerhalb des Reiches zur Gründung zahlreicher Ritterakademien, die in Konkurrenz zu den Universitäten einen „exklusiven Raum […] mit standesspezifischen Lernzielen“ schufen.53 Solche Abgrenzungsbemühen auf Seiten des Adels liegen auch mit den Adelsproben vor, die als „Instrument zur sozialen Selektion und ständische[n] Grenzziehung“ immer konsequenter eingesetzt wurden.54 Die nichtadeligen Eliten wiederum, denen im Umfeld des werdenden Staates der Aufstieg gelang, versuchten ihren Erfolg durch den Erwerb eines Adelstitels, „Kauf eines adligen Landguts, Pflege eines aristokratischen Lebensstils und schließlich das Connubium mit dem alten Adel oder wenigsten dem älteren Neuadel früherer Amtsträger“ zu besiegeln.55 Die Existenz der adeligen Standes- und bürgerlichen Amtselite war also im Laufe der Frühen Neuzeit nicht nur von einem natürlichen Gegeneinander geprägt – natürlich deshalb, weil dem geburtsständischen Vorrang ein durch Bildung und Leistung erworbener Vorrang gegenüberstand. Beide Elitengruppen führten immer auch ein Neben- und Miteinander und bildeten schließlich im Verwaltungsapparat des werdenden Staates eine gemeinsame Amts- respektive Leistungselite. Sie waren damit Teil jener „Elitensymbiose“, die das Verhältnis von Adel und Bildungsbürgertum auch noch im 19. Jahrhundert zumindest partiell prägte.56

II Adelige und bürgerliche Eliten in Aktion: Die Visitation des Reichskammergerichts von 1767 bis 1776 1 Eine Schlittenfahrt und das Profil einer alt-, neu- und ‚quasiadeligen‘ Leistungselite Mit der Staatswerdung ist also zwangsläufig, wie oftmals geschehen, zu fragen „nach adlig-bürgerlichen Elitenkompromissen, -bündnissen und -fusionen sowie danach, ob und in welcher Hinsicht eine Aristokratisierung des Bürgertums und/oder eine Verbürgerlichung des Adels festzustellen ist“.57 Eine scheinbar unbedeutende Schlittenfahrt des Jahres 1772 erlaubt es, sich dieser Frage zu nähern. Schauplatz ist die 52 Asch, Staatsbildung und adelige Führungsschichten (wie Anm. 4), S. 377. 53 Sikora, Adel in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 1), S. 111. 54 Elizabeth Harding, Art. Adelsprobe, in: Historisches Lexikon Bayerns, www.historisches-lexikonbayerns.de/artikel/artikel _45028 [17. Sept. 2013], Abschnitt „Allgemeine Bedeutung“. 55 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt (wie Anm. 18), S. 195. 56 Elisabeth Fehrenbach, Einführung, in: Dieselbe (Hg), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770– 1848 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien Bd. 31), München 1994, S. VI–XV, hier S. XI. 57 Fehrenbach, Einführung (wie Anm. 56), S. VIII.



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Reichsstadt Wetzlar. Hier fand am 23. Januar „unter dem Klang von Musik durch die schneebedeckten Straßen der Stadt und zum Tor hinaus“ eine große Schlittenfahrt statt. Den Schlittenzug eröffnete, in kostbarem Pelz gehüllt, Graf von Waldbott zu Bassenheim. Er hatte zur Veranstaltung geladen und war Präsident des Reichskammergerichts, welches seit 1693 seinen Sitz in Wetzlar hatte. Neben dem Präsidenten des höchsten ständischen Gerichts saß die Fürstin von Solms-Braunfels. „Im 2. Schlitten“, so heißt es weiter in einem zeitgenössischen Bericht, der indirekt überliefert ist, „sitzt der Kammerrichter mit der Gräfin Isabella v. Bassenheim, geb. Gräfin v. Nesselrode, im 3. der kurmainzische Gesandte Joh. Chrysostomus v. Keller mit der Gräfin Zech, im 4. Freiherr v. Gemmingen mit der Frau Assessor v. L´Eau. Dann folgen zwei junge Kanoniker aus Würzburg, die Herren v. Münster und v. Redtwitz, die sich als Praktikanten in Wetzlar aufhalten, mit Fräulein Charlotte v. Grün und Fräulein v. Dürckheim, Hofdame der Fürstin v. Braunfels. Die Mitte des Zuges bildet der Schlitten mit den Musikanten. Den 8. Schlitten nimmt der junge Graf Jos. Spaur mit Fräulein v. Habermann ein, den 9. der Praktikant Baron Franz v. Stockhammer aus Wien mit Frau v. Gebler, den 10. der Baron Creß v. Cressenstein aus Nürnberg mit Fräulein v. Clausbruch. Daran schließen sich noch drei Schlitten mit anderen Nürnberger Edelleuten“ an.58 Diese Schlittenfahrt, die in den Wetzlarer Wintermonaten des Öfteren stattfand,59 verweist auf ein Zweifaches. Zum einen ist es die Vielfalt des Adels. Neben dem Nürnberger Stadtadel60 war der alte Niederadel etwa mit dem Kammerrichter Graf Franz Joseph von Spaur, Pflaum und Valör,61 der alte Hochadel mit Sophie Christine Wilhelm von Solms-Braunfels, geborene Gräfin von Solms-Laubach,62 aber auch und gerade der Neuadel vertreten. So entstammten die Männer der Frauen von Gebler und von Zech jeweils bürgerlichen Familien, die 1729 in den Reichsfreiherren- beziehungsweise 1745 in den Reichsgrafenstand (Zech)63 und 1769 in den Ritterstand erhoben wurden (Gebler)64. Der Mainzer Gesandte von Keller war vermutlich gleichfalls neuadelig. Gesichert neuadelig war hingegen der durch ein Fräulein indirekt anwesende 58 Heinrich Gloël, Goethes Wetzlarer Zeit. Bilder aus der Reichskammergerichts- und Wertherstadt, Berlin 1911 (ND Wetzlar 1999), S. 107f. 59 Stadtarchiv Hannover, Nachlass Kestner I.B.1, Bl. 107 r. 60 Monika Gussone, Art. Stadtadel, in: Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit (wie Anm. 1), Bd. 12, Stuttgart/Weimar 2010, Sp. 711–715. 61 Maria von Loewenich, Amt und Prestige. Die Kammerrichter in der ständischen Gesellschaft (1711– 1806), Phil. Diss. Münster 2011 [im Druck], S. 164–169 (Abschnitt „Die Kammerrichter“). 62 Gloël, Goethes Wetzlarer Zeit (wie Anm. 58), S. 258 und Sigrid Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich, Teil I: Darstellung (QFHG 26/1), Köln u.a. 2011; Teil II: Biographien, 2 Bde. (QFHG 26/2), u.a. 2003 (Darstellung), S. 679, die auf den evangelischen Präsidenten Friedrich Ernst Graf von Solms-Laubach (1699–1723) verweist, der aus einer jener Adelsfamilien entstammte, „die reichsständischen Häusern angehörten und in der Regel eine Territorialbezeichnung als Namen trugen“ [ebenda, S. 676, FN 1]. 63 Paul Haake, „Zech, Bernhard“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 44, 1898, S. 734–737. 64 Jahns, Richter Biographien (wie Anm. 62), Biogr. 55, S. 535.

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Assessor Arnold Heinrich Cramer von Clausbruch.65 Assessor Theodor Karl von L’Eau wiederum, dessen Frau an der Schlittenfahrt teilnahm, entstammte einer Familie, die 1731 in den Reichsritterstand erhoben wurde, 66 Damit angesprochen ist eine Adelsvielfalt, die das römisch-deutsche Reich und somit eines der komplexesten „Staatsgebilde“ der Vormoderne nachhaltig prägte.67 Grundlegend zu unterscheiden ist hierbei nicht nur zwischen hohem und niederem Adel, einer Zweiteilung, die sich „durch alle europäischen Adelsgesellschaften“ zog,68 oder aber zwischen Altadeligen und Neuadeligen, also jener in der Frühen Neuzeit wachsende Zahl von Menschen, die „nicht durch Geburt, sondern durch Standeserhebung in den Adel zu gelangen versuchte[n].“69 Der Adel differenzierte sich gerade auch über die doppelstaatliche Struktur des Reiches.70 So gab es einerseits einen reichsunmittelbaren Adel, der auf dem Reichstag des römisch-deutschen Reiches vertreten war und/oder – Letzteres im Falle der Reichsritter – nur dem Kaiser unterstand, und andererseits einen mittelbaren Land- und Stadtadel.71 Mit den Würzburgern Kanonikern angedeutet ist zudem das Phänomen der Reichskirche.72 Diese Adelskirche umfasste die Bischöfe, Erzbischöfe und Äbte, die zugleich weltliche Herrscher waren, aber auch die rund 720 Domherrenstellen, für die grundsätzlich nur adelige Bewerber mit zumindest vier edlen Ahnen in Frage kamen.73 Entsprechend der bereits angesprochenen konsequenteren Anwendung der Ahnenprobe waren für die Aufnahme in das Würzburger Domkapitel schließlich sogar 16 reichsunmittelbare Ahnen nachzuweisen.74 Zum anderen wohnten der Schlittenfahrt vor allem studierte Juristen und damit potentielle Profiteure der Staatswerdung bei. Zu nennen sind der Kammerrichter, der Präsident und die Praktikanten des Gerichts sowie die Visitatoren aus Kurmainz (Johann Chrysostomus von Keller) und Sachsen-Gotha (Philipp Freiherr von Gemmingen auf Guttenberg). Es kann auch von einer ungleichen juristischen Funktionselite 65 Jahns, Richter Biographien (wie Anm. 62), Biogr. 16, S. 141–143. 66 Jahns, Richter Biographien (wie Anm. 62), Biogr. 51, S. 497–499. 67 Die Frage nach der Staatlichkeit des Alten Reiches ist in der Forschung breit diskutiert. Einen weitergehenden, enzyklopädischen Überblick bietet Joachim Bahlcke, Landesherrschaft, Territorien und Staat in der Frühen Neuzeit (EDG 91), München 2012. 68 Sikora, Adel in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 1), S. 12. 69 Sikora, Adel in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 1), S. 10. 70 Von Doppelstaatlichkeit spricht Johannes Burkhardt etwa in Vollendung und Neuorientierung, S. 26–31. 71 Siehe hierzu etwa Endres, Adel in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 1), S. 4. 72 Die Herren von Münster und von Redwitz entstammten Adelsgeschlechtern, die seit der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts Reichsritter waren [Cord Ulrichs, Der Lehnhof zur Reichsritterschaft. Strukturen des fränkischen Niederadels am Übergang vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 134), Stuttgart 1997, Anhang 1]. 73 Michael Maurer, Kirche, Staat und Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert (EDG 51), München 1999, S. 5. 74 Maurer, Kirche (wie Anm. 73).



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gesprochen werden. Ungleich deshalb, weil zunächst von dem Reichskammergericht nicht nur der Kammerrichter und der katholische Präsident anwesend waren, denen, ebenso wie dem evangelischen Präsidenten, „die Geschäftsleitung und die Repräsentation nach außen“ oblag.75 Anwesend waren auch mittelbar über die Assessorenfrau von L’Eau, über das Fräulein des Assessors Clausbruch sowie über den späteren Assessor und Sohn des Kammerrichters Joseph Philipp von Spaur, Pflaum und Valör76 die Assessoren. Hierbei handelt es sich um die dem Kammerrichter und den Präsidenten nachgeordneten Funktionsträger des Gerichts, die für die eigentliche Urteilsfindung zuständig waren.77 An der Seite dieser in funktionaler Hinsicht ungleichen Gerichtsangehörigen fuhren wiederum die Praktikanten. Sie erlernten in Wetzlar die Praxis der kameralen Rechtssprechung, und zwar oftmals im Rahmen einer reichsrechtlichen Bildungsreise, die auch nach Regensburg an den Reichstag und nach Wien an die Stätte des Kaiserhofes und des Reichshofrates, dem zweiten Reichsgericht neben dem Reichskammergericht, führte. Eine solche Bildungsreise war der „Höhepunkt und Abschluss eines Elitestudiums“.78 Für Wetzlar lassen sich dabei über 1700 Praktikanten nachweisen, darunter kein geringerer als Johann Wolfgang Goethe.79 Schließlich waren bei der Schlittenfahrt mit den Visitatoren von Keller und von Gemmingen auf Guttenberg sowie mittelbar über die Frau des ehemaligen Visitators von Gebler80 und den beiden Fräuleins der Visitatoren von Grün und von Zech jene Gesandte vertreten, die das Reichskammergericht von 1767 bis 1776 visitierten. Aufgabe der Visitatoren war es entsprechend der Gerichtsordnung von 1555, „das keiserlich cammergericht an personen, vom obristen biß zum undertsen, und sonst in allen andern mengeln und gebrechen zu visitiren und zum besten ihres gutbedünckens zu corrigiren und reformiren“.81 Eine solche Reform eines der beiden höchsten Gerichte 75 Jahns, Reichskammergericht und Richter (wie Anm. 62) (Darstellung), S. 104. Siehe insgesamt zum Reichskammergericht immer noch Rudolf Smend, Das Reichskammergericht. Geschichte und Verfassung, Weimar 1911 (ND Aalen 1965). 76 Jahns, Richter Biographien (wie Anm. 62), Biogr. 85. Er ist am 29. Mai 1757 geboren und war damit zum Zeitpunkt der Schlittenfahrt 15 Jahre alt. 77 Jahns, Reichskammergericht und Richter (wie Anm. 62) (Darstellung), S. 105. 78 Wolfgang Burgdorf, Die reichsrechtliche Peregrinatio academica im 18. Jahrhundert, in: Ders. u.a. (Hrsg.), Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich (QFHG 46), Köln u.a. 2003, S. 21–57, hier S. 56. 79 Siehe grundsätzlich zur Praktikantenmatrikel Werner Schmidt-Scharff, Die Matrikel der Praktikanten am Reichskammergericht in Wetzlar 1693–1806, in: Archiv für Sippenforschung und alle verwandten Gebiete 11, 1934, S. 297–317, sowie zu Goethes Aufenthalt in Wetzlar Wilhelm Herbst, Goethe in Wetzlar 1772. Vier Monate aus des Dichters Jugendleben, Gotha 1881, Gloël, Goethes Wetzlarer Zeit (wie Anm. 58) und Hartmut Schmidt, Der Rechtspraktikant Goethe (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung 15), Wetzlar 1993. 80 Er visitierte bis ca. Ende 1770 [Jahns, Richter Biographien (wie Anm. 62), Biogr. 55, S. 539]. 81 Adolf Laufs (Hrsg.), Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 (QFHG 3), Köln/Wien 1976, Teil I Tit. 50 §2.

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des Reiches setzte kompetente Reformer voraus. Aus diesem Grund waren alle an der Schlittenfahrt unmittelbar und mittelbar beteiligten Visitatoren studierte Juristen. Dies lässt sich zweifelsfrei für die Visitatoren von Zech, von Gebler und 20 weitere Visitatoren sagen, die zwar nicht an der Schlittenfahrt teilgenommen hatten, aber gleichfalls mit der Überprüfung des Wetzlarer Gerichts beauftragt waren und nachweislich an einer Universität, allen voran in Göttingen und Leipzig, studiert hatten.82 Für sämtliche 56 Visitatoren, die zwischen 1767 und 1776 das Reichskammergericht visitierten, lässt sich ferner sagen, dass sie langjährige und mit dem Gericht bereits bestens vertraute Funktionsträger ihrer Obrigkeiten waren. Visitatoren wie die Schlittenfahrer von Keller und von Gemmingen auf Guttenberg zählten also zur juristischen Funktionselite jener Reichsstände respektive „Staatsträger“ des Reiches, die das Recht und die Pflicht hatten, einen Visitator nach Wetzlar zu entsenden, um erstmals seit über 50 Jahren wieder das Reichskammergericht zu visitieren. Entscheidend im Hinblick auf die Schlittenfahrt ist nun, dass sich hier sicht- und hörbar Visitatoren und Gerichtsangehörige zusammen mit den Praktikanten, die oftmals vor einer steilen Karriere standen,83 als eine gemeinsame Funktionselite alt- oder neuadeliger Herkunft vergnügten und inszenierten, und zwar obgleich hier sehr unterschiedliche und teils konkurrierende Funktionsträger zusammentrafen. Dies betrifft neben den bereits genannten gerichtsinternen Hierarchien (Kammerrichter, Präsidenten, Assessoren) einerseits die Praktikanten, die durch die Anwälte des Gerichts oder gar durch einen Assessor ausgebildet wurden; bei der Schlittenfahrt trafen also Auszubildende und potentielle Ausbilder aufeinander. Andererseits und entscheidender ist, dass sich Gerichtsangehörige und Visitatoren vergnügten, obgleich beide Gruppen im Rahmen der Visitation unvereinbare Verfahrensrollen einnahmen. Die Visitatoren nämlich hatten das Personal des Gerichts zu überprüfen; bei der Schlittenfahrt trafen also insbesondere Visitatoren und zu visitie82 Zu Gebler Jahns, Richter Biographien (wie Anm. 62), Biogr. 55, S. 538, und zu Zech Friedrich August Weitz, Das gelehrte Sachsen, oder Verzeichniß derer in den Churfürstl. Sächs. und incorporirten Ländern jetztlebenden Schriftsteller und ihrer Schriften, Leipzig 1780, S. 284. Die weiteren Belege sind der Promotionsschrift des Autors zu entnehmen. Diese wurde eingereicht (Dez. 2012) und verteidigt (Juni 2013) an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt unter dem Titel „Über den Schriftalltag im 18. Jahrhundert. Die Visitation des Reichskammergerichts von 1767 bis 1776“. Die Drucklegung ist in Arbeit. Auch die folgenden Ausführungen stützen sich vorwiegend auf die im Kapitel C „Reformakteure“ dargelegten und nachgewiesenen Befunde. Auf diese hier im Einzelnen nicht mehr angeführten Belegstellen sei an dieser Stelle pauschal verwiesen. Ein Kurzüberblick über die Visitation liegt bereits vor mit Alexander Denzler, Die Reichskammergerichtsvisitation, in: Anette Baumann/ Anja Eichler (Hrsg.), Die Affäre Papius. Korruption am Reichskammergericht (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Reichskammergerichtsmuseum Wetzlar 2. Juni bis 30. Sept. 2012), Petersberg 2012, S. 16–26. 83 Ein Praktikum war „eine besondere Referenz für Aspiranten auf eine reichsständische Ratsstelle“ [Jahns, Reichskammergericht und Richter (Darstellung), S. 531]. Und auch die Karriere am Reichskammergericht konnte durch ein Praktikum befördert werden: Von den 92 Assessoren, die dort zwischen 1740 bis 1806 tätig waren, hatten 45 ein Praktikum absolviert [ebenda, S. 533].



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rende Gerichtsangehörige aufeinander. Dies führte jenseits der Schlittenfahrt konkret dazu, dass sich gerade die hohen Funktionsträger des Gerichts (Kammerrichter, Präsidenten, Assessoren) einem intensiven, schriftlichen und mündlichen Examen unterziehen mussten – ein Examen, welches von den Visitatoren durchgeführt wurde und nicht zuletzt darin mündete, dass drei Assessoren der Korruption wegen entlassen wurden.84 Interessant ist aber auch, wer bei der Schlittenfahrt nicht teilgenommen hatte. Dies waren zunächst die Anwälte des Gerichts. Deren Nichtteilnahme kann nicht verwundern, da sich im 18. Jahrhundert gerade die Prokuratoren und Assessoren „sowohl in gesellschaftlicher als auch in beruflicher Hinsicht immer mehr voneinander abgrenzten“.85 Solche Abgrenzungstendenzen gab es allerdings nicht immer. Als das Reichskammergericht noch in Speyer untergebracht war (1527–1689), gab es einen „regen gesellschaftlichen Verkehr zwischen Assessoren und Prokuratoren […]. Man heiratete untereinander und beide Berufe kamen in den Familien vor.“86 Ganz anders hingegen in der Zeit danach. Wie stark die Hierarchien des Gerichtspersonals in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgeprägt waren, verdeutlicht der ehemalige Praktikant Johann Nikolaus Becker in einer 1798 erschienenen Briefsammlung an einen fiktiven Freund. Dort heißt es, dass der Kammerrichter, die Präsidenten und Assessoren des Gerichts sogar einen eigenen Adelsstand bildeten: denn du musst wissen, daß jeder Assessor, sobald er sein Amt antritt, […] sich einen Herrn von nennt und ein gnädiger Herr wird, wenn er auch nur ein Bürgerlicher ist […]. Sie geben an Sonntagen abwechselnd Gesellschaft, die aber kein Bürgerlicher, wenn er nicht besonders empfohlen und aufgeführt wird, betreten darf. Selbst die Advokaten und Prokuratoren des Gerichts, wenn sie auch von Adel sind, werden davon ausgeschlossen. Eine Ausnahm machen nur die Practikanten, wenn sie Ahnen haben.87

Solche Trennlinien bestanden also einerseits sowohl wegen (adelige Praktikanten) als auch trotz der adeligen Herkunft (adelige Anwälte), und andererseits ungeachtet der nichtadeligen Herkunft mancher Assessoren. Wenn sich unter den am Reichskammergericht tätigen beziehungsweise präsentierten Richtern der Sohn eines Maurers

84 Anette Baumann/Anja Eichler, Die Affäre Papius (wie Anm. 82). 85 Anette Baumann, Die Prokuratoren am Reichskammergericht in Speyer und Wetzlar – Stand der Forschungen und Forschungsdesiderate, in: Dieselbe u.a. (Hrsg.), Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich (QFHG 46), Köln u.a. 2003, S. 179–197, hier S. 194. 86 Anette Baumann, Advokaten und Prokuratoren. Anwälte am Reichskammergericht in Wetzlar (1690–1806) (QFHG 51), Köln u.a. 2006, S. 137 87 [Johann Nikolaus Becker], Fragmente aus dem Tagebuche eines reisenden Neu-Franken, hg. von seinem Freunde B., Frankfurt am Main/Leipzig 1798. Nach der Erstausgabe von 1798 neu hg. und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Griep, Bremen 1985, S. 13. Aus diesem Werk zitiert auch Baumann, Advokaten und Prokuratoren in Wetzlar, S. 127f.

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und einer Hebamme,88 der Enkel eines Wagenmeisters89 oder der Sohn eines Bierbrauers90 finden lassen, dann war dies jedoch die Ausnahme. Weit häufiger hatten die (angehenden) Assessoren ein „generationendickes Polster von juristisch qualifizierten Vorfahren“ und waren neuadelig.91 Demgegenüber rekrutierten sich im 18. Jahrhundert Einviertel der am Reichskammergericht tätigen oder präsentierten Beisitzer aus altadeligen Familien.92 Dies entspricht einem Anteil, „der sehr viel höher lag als noch im 16. und 17. Jahrhundert.“93 Zu bedenken sowohl für die innere Struktur des Reichskammergerichts als auch für das Verhältnis von nichtadeligen und adeligen Rechtsexperten in der Vormoderne ist hierbei, dass seit dem 16. Jahrhundert die Assessoren danach unterschieden wurden, ob sie vier adelige Ahnen väterlicher- und mütterlicherseits nachweisen konnten und damit ritterbürtig waren oder nicht. Die nichtritterbürtigen, neuadeligen und bürgerlichen Assessoren mussten demgegenüber den ritterbürtigen Kollegen einen juristischen Doktor- oder Lizentiatengrad nachweisen können. Allerdings lassen sich hier mit Sigrid Jahns entscheidende Veränderungen beobachten. Der Widerstand des Geburtsadels sowie die „steigende Zahl promovierter Rechtsgelehrter, gefolgt von sinkender Exklusivität“, führte nämlich dazu, dass der „juristische Grad […] immer weniger und schließlich gar nicht mehr als Äquivalent für altadlige Herkunft akzeptiert“ wurde.94 Diese Abwertung des juristischen Grades kompensierten die bürgerlichen Juristen in- und außerhalb des Reichskammergerichts zunächst dadurch, dass sie zusätzlich zum juristischen Grad ein Adelsdiplom erwarben. Seit Ende des 17. Jahrhunderts stieg dann „die Zahl derer, die eine noch radikalere Konsequenz aus der Wertminderung des juristischen Grades zogen: Sie verzichteten nach Abschluß ihres Studiums von vornherein auf die juristische Promotion und richteten dafür ihre Mobilitätsanstrengungen im Zuge ihrer (Vor-)Karriere […] nunmehr ausschließlich auf die Nobilitierung.“95 Die Aufwertung des Adelstitels erklärt auch, warum die neuadeligen Anwärter auf ein Richteramt des Reichskammergerichts versuchten, sich eine altadelige Vergangenheit zu konstruieren, etwa durch Vertuschung ihrer bürgerlichen Herkunft oder sogar durch Urkundenfälschung.96 Ein solcher Adelsanspruch blieb bis zum Ende des Reichs 1806 bestehen, obgleich in der Regel und ungeachtet der 88 Jahns, Richter Biographien (wie Anm. 62), Biogr. 78 für den bayerischen Kreispräsentatus (1747– 1754) Johann Adam Freiherr von Schroff. 89 Jahns, Richter Biographien (wie Anm. 62), Biogr. 19 für den kurböhmischen Assessor (1758–1766) Franz Georg Freiherr von Leykam. 90 Jahns, Richter Biographien (wie Anm. 62), Biogr. 19 für den kurmainzischen Assessor (1729–1753) Johann Franz Aegidius Freiherr von Borié. 91 Jahns, Reichskammergericht und Richter (wie Anm. 62) (Darstellung), S. 555 (Zitat) u. 655. 92 Jahns, Reichskammergericht und Richter (wie Anm. 62), S. 648. 93 Jahns, Reichskammergericht und Richter (wie Anm. 62), S. 476. 94 Jahns, Reichskammergericht und Richter (wie Anm. 62), S. 584. 95 Jahns, Reichskammergericht und Richter (wie Anm. 62), S. 586 96 Jahns, Reichskammergericht und Richter (wie Anm. 62), S. 592f.



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internen Differenzen von den nicht- oder „scheinritterbürtigen“ Assessorenanwärtern die nachträgliche Annahme eines Doktor- oder Lizentiatengrads verlangt wurde und es für diesen Personenkreis nach einer Verordnung der Visitation aus dem Jahr 1773 wieder üblich war, vor der Aufnahme als Assessor einen juristischen Grad zu erwerben.97 Die Graduierungspflicht für nichtritterbürtige Urteiler war eine gerichtsinterne Regelung, die allerdings nach außen hin nur eingeschränkt eine Rolle spielte. Zumindest wird in den Personalverzeichnissen des 18. Jahrhunderts anders als in den beiden vorangegangenen Jahrhunderten der Juristengrad als Zeichen der nichtritterbürtigen Herkunft verschwiegen und stattdessen nur der alt- oder neuadelige Adelstitel angeführt. Der Anspruch auf ständische „Undurchlässigkeit, Homogenität und Exklusivität“ wurde in den letzten Jahrzehnten des Wetzlarer Reichsgerichts schließlich auch dadurch erhoben, dass – wie von Becker kritisiert – sogar „den wenigen bürgerlich-graduierten Assessoren, die sich niemals nobilitieren ließen, […] der Titel ‚von‘ beigelegt“ wurde.98 Das Verlangen nach exklusiver Geltung in Anlehnung an den Adel lässt sich als ein Krisensymptom der ständischen Gesellschaft begreifen. Daneben wurden „die den bürgerlichen Juristen zugänglichen höheren Positionen“, wie sie dies- und jenseits des Reichskammergerichts bestanden, „als Ämter bewertet, aus denen der betreffende bürgerliche geborene Amtsträger für sich einen personaladligen oder richtiger quasi-adligen Status ableitete“,99 und zwar ungeachtet der finanziellen Einkünfte. So gab es nach dem Praktikanten Becker einige Anwälte beim Reichskammergericht, „die in ihrer Einnahme noch einmahl, auch zwey und dreymahl so hoch als ein Assessor stehen“.100 Für die Differenzierung der Gesellschaft auf Grundlage der eingenommenen Funktionen innerhalb der expandierenden Verwaltungs- und Gerichtsinstanzen des werdenden Staates respektive der doppelstaatlichen Struktur des Reiches stehen auch die Visitatoren. Im Hinblick auf die Schlittenfahrt fällt dabei auf, dass neben den Anwälten des Gerichts auch jene 13 Visitatoren nicht vertreten waren, die nachweislich bürgerlicher Herkunft waren. Dies darf jedoch nicht überbewertet werden. Bei anderen gesellschaftlichen Anlässen waren alt- und neuadelige sowie bürgerliche Visitatoren vereint. Deren Anteil an der Gesamtzahl von 56 Visitatoren lässt sich zwar nicht exakt ermitteln, da nur zu 29 Visitatoren genauere Angaben vorliegen. Von diesen jedoch waren nachweislich 4 altadeliger, 12 neuadeliger und 13 bürgerlicher Herkunft. Wenn man zudem jene sieben Visitatoren berücksichtigt, die einen Adelstitel führten und aller Wahrscheinlichkeit nach nicht altadeliger, sondern neuadeliger Herkunft waren, dann ergibt sich sogar ein Anteil von 53 % neuadeligen, 36 % bürgerlichen und 11 % altadeligen Visitatoren. Dies entspricht auch dem hohen Anteil Neuadeliger beim Reichskammergericht. Zu berücksichtigen 97 Jahns, Reichskammergericht und Richter (wie Anm. 62), S. 596f. 98 Jahns, Reichskammergericht und Richter (wie Anm. 62), S. 598f. 99 Jahns, Reichskammergericht und Richter (wie Anm. 62), S. 588. 100 [Becker], Fragmente aus dem Tagebuche eines reisenden Neu-Franken (wie Anm. 87), S. 16.

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ist ferner, dass nachweislich drei bürgerliche Visitatoren nach der Visitation nobilitiert wurden. Von den 12 Neuadeligen sind wiederum vier in Familien hineingeboren, die seit einer oder zwei Generation nobilitiert waren. Drei Visitatoren wurden wenige Jahre vor und fünf der Visitatoren während der Visitation in den Adelsstand erhoben.101 Diese Vielzahl an Nobilitierungen unter den Visitatoren, aber auch unter den Assessoren, kann als ein Vorgang begriffen werden, der unmittelbar mit der Ausbildung einer Funktionselite zusammenhing. Denn adelige „Wertvorstellungen und Lebensmuster prägten auch lange Zeit das Erscheinungsbild von anderen politischen E[liten]“.102 In diesem Sinne standen auch die elitäre Trägerschaft der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft und damit die 13 bürgerlichen Visitatoren vor zwei Möglichkeiten: Entweder verfiel man der Titelsucht und legte „auch im bürgerlichen Bereich großen Wert auf Rangabstufung“, oder man konnte sich „Titulaturen überhaupt verbitten“.103 Wenn nun Michael Maurer feststellt, dass man sich seit „der Mitte des 18. Jahrhunderts […] eher der zweiten Möglichkeit“ zuwandte und man „von exklusiven Rangzuweisungen […] nichts mehr wissen“ wollte,104 dann beschreibt dies genau jene Bruchstelle, in der sich die Visitation befand. Denn auf der einen Seite gab es den Drang, mit dem Adel und wie dieser in der Gesellschaft zu agieren. Darauf verweisen nicht nur die Nobilitierungen der Visitatoren vor, während und nach der Visitation, sondern auch die Tatsache, dass sich die nichtadeligen Visitatoren, aber auch die nichtadeligen Assessoren, Sollicitanten und Praktikanten mit einem Scheintitel anredeten.105 Entsprechend dieses Verlangens, sich als eine Leistungs- und eben nicht Standeselite in Anlehnung an den Altadel zu inszenieren, heißt es auch bei Sabine Holtz: „Die soziale Abgrenzung der bürgerlichen Fürstendiener ist Anzeichen der Ausbildung eines Elitebewußtseins, in dem sich traditionelle (Herkunft und Patronage) und moderne Kriterien (Wissen und Leistung) verbinden.“106 Auf der anderen Seite war es ja gerade ein Kennzeichen des entstehenden Bürgertums, sich von den „alten“ adeligen Standeseliten mit ihrem geburtsständischen Prinzip abzugrenzen. Aus genau diesem Grund erhoben sich im Umfeld der Reichskammergerichtsvisitation auch Stimmen, die das adelige „Gebaren“ der Visitations- und Reichskammergerichtsangehörigen kritisierten. Bekanntermaßen gab es in Wetzlar eine Mittagstafel, bei der sich vor allem die Praktikanten des Gerichts sowie die Sekretäre der Visita101 Siehe zu den Belegen die Angaben unter FN 82. 102 Katrin Keller, Art. Eliten, in: Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit (wie Anm. 1), Bd. 3, Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 218–222, hier Sp. 220. 103 Maurer, Biographie des Bürgers (wie Anm. 13), S. 592. 104 Maurer, Biographie des Bürgers (wie Anm. 13), S. 592. 105 Zu den Assessoren Jahns, Reichskammergericht und Richter (Darstellung), S. 588, zu den Visitatoren, Sollicitanten und Praktikanten Gloël, Goethes Wetzlarer Zeit (wie Anm. 58), S. 98. 106 Sabine Holtz, Bildung und Herrschaft. Zur Verwissenschaftlichung politischer Führungsschichten im 17. Jahrhundert (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 32), Leinfelden-Echterdingen 2002, S. 388.



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tion zusammenfanden, um sich durch die „romantische Fiktion“ einer Ritterwelt zu „erheiter[…][n]“.107 Diese Rittertafel, an der auch Goethe als Praktikant teilnahm, lässt sich als eine Kritik an der Wetzlarer „Rang- und Titelsucht“ begreifen.108 Oder aber der Sekretär Johann Christian Kestner. Er beklagte sich darüber, dass der Visitator Friedrich Mauchard zwar ein „schmal, modern frisiret und gekleidet[er]“ Mann sei, der sich aber „nur hier adlich, so wie alle Subdelegirte“, ausgebe.109 Bezeichnend ist auch, dass Kestner – er soll fortan im Mittelpunkt stehen – an anderer Stelle darüber klagte, wie schwer es sei, „mit Vornehmen von Geburt einen vertraute[n] Umgang“ zu pflegen, und er zugleich von „Freundschaft“ oder eben von adeliger Nichtfreundschaft spricht.110 Denn Freundschaft nahm im Zeitalter der Aufklärung einen besonderen Stellenwert ein. Ausgehend von einem neuen Bewusstsein der Individualität entwickelte sich sogar ein bislang ungekannter Freundschaftskult.111 Die zumeist in den Schul- und Universitätsjahren erworbenen Freundschaften erreichten dabei oftmals einen derart hohen Grad an Emotionalität und Sentimentalität, dass sie manchen mehr galten als die Familie oder „die Liebe zwischen Mann und Frau“.112 Kestner stieß jedoch in weiten Kreisen der Wetzlarer Gesellschaft, die sich – so lässt sich resümieren – als eine durch Leistung legitimierte alt-, neu- und ‚quasi-adelige‘ Elite inszenierte, auf eine als unnatürlich empfundene Distanz, die es erschwerte, freundschaftliche Umgangsformen zu entwickeln. Zu bedenken ist hierbei, dass der 1741 geborene Kestner für eine Generation steht, die sich auch altersbedingt von den Visitatoren und Assessoren unterschied. Demgegenüber waren gerade Sekretäre und Visitatoren darin vereint, dass sie im Rahmen der Reichskammergerichtsvisitation sehr viel arbeiten mussten. So sprach ein Visitator einmal davon, dass er sich habe „todt gearbeitet“.113 Oder aber Kestner, der sich als eine Arbeitsmaschine begriff, „welche sich bewegt, wenn es andere wollen“.114 Diese klagenden Worte verdeutlichen, dass die funktionale Stellung von Sekretären wie Visitatoren auf Leistung gründete. Wie sehr dabei Leistung als eine bürgerliche Arbeitstugend zu begreifen ist, die auch und gerade eine nichtgeburtsständische Elite in Abgrenzung zu der alt-, neuund ‚quasi-adelige‘ Elite schuf, soll abschließend die Biographie Kestners verdeutlichen.

107 Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (Weltbild Klassiker der Deutschen Literatur), Augsburg 2003 (Original 1808–1831), S. 528. 108 Von Rang- und Titelsucht spricht Gloël, Goethes Wetzlarer Zeit (wie Anm. 58), S. 98, allerdings nicht im Zusammenhang mit der Rittertafel. 109 Stadtarchiv Hannover, Nachlass Kestner I.B.1, Bl. 50 v. 110 Stadtarchiv Hannover, Nachlass Kestner, Bl. 94 u. 94v. 111 Maurer, Biographie des Bürgers (wie Anm. 13), S. 305f. 112 Paul Münch, Lebensformen in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main/Berlin 1992, S. 311. 113 Stadtarchiv Hannover, Nachlass Kestner I.B.1, Bl. 22. 114 Zitiert nach Alfred Schröcker, Johann Christian Kestner. Der Eigendenker. Eine Jugend in der Mitte des 18. Jahrhunderts, 2 Teilbände, Großburgwedel 2011, S. 601f (FN 297).

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2 Die Sekretäre der Visitation und das Profil einer bürgerlichen Leistungselite Kestner, der wie die anderen Sekretäre an der Schlittenfahrt nicht teilgenommen hatte, entstammte einer Familie, die seit drei Generationen zur juristischen Funktionselite ihrer Zeit zählte. Ursprünglich aus der Oberlausitz kommend, ging Johann Hermann Kestner (1700–1772), der Vater von Johann Christian Kestner und Sohn eines gräflich-lippischen Vogtes, vermutlich um 1728 nach Hannover, um dort eine Stelle als Geheimer Kanzlist anzutreten. Als solcher gehörte er zur bürgerlichen Amtselite und seine Familie zum sogenannten Staatspatriziat, was womöglich Johann Christians Bewerbung für die Sekretariatsstelle bei der Visitation zugute kam.115 Mit Staatspatriziat gemeint ist die neu- und nichtadelige Beamtenschaft der kurbraunschweigischen Zentralbehörden, die untereinander verwandtschaftlich stark vernetzt war und die „oberste Schicht im Staat nächst der Aristokratie“ bildete.116 Martin Wrede spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Halbadel. Mit diesem zeitgenössischen Begriff sind „Gruppen einander verbundener Familien [gemeint], die im Dienste des Landesherren aufgestiegen waren, wichtige Ämter versahen, gesellschaftliche Achtung erfuhren, denen jedoch der letzte Schritt zur Inkorporation in den Adelsstand versagt blieb, weil der Adel sich verweigerte oder, wichtiger noch, der Landesherr an solchen Inkorporationen nicht sehr nachdrücklich interessiert war und nur sparsam nobilitierte – beziehungsweise durch den Kaiser nobilitieren ließ“.117 Bei dem Halbadel handelt es sich also um neu- und nichtadelige soziale Aufsteiger wie die Kestners. Als Sekretär der Visitation konnte Johann Christian Kestner an der halbadeligen Familientradition anknüpfen und diese auch fortsetzen, indem er im Juni 1773 eine feste Anstellung im Calenberger Archiv und 1775 eine Stelle als Archivsekretär antrat, bevor er 1785 zum Archivrat und 1795 zum Hof- und Kanzleirat und Vizearchivar ernannt wurde.118 Zudem entsprangen der „denkbar glücklichsten Ehe“ mit Charlotte Buff (seit April 1773) 12 Kinder, die allesamt bis auf eine mit 12 Jahren verstorbene Tochter „zu tüchtigen Menschen“ heranwuchsen.119 Fünf Söhne konnten dabei als Leistungsträger des Kurfürstentums den generationenlangen Aufstieg der Familie weiter fortführen.120 115 Schröcker, Kestner. Der Eigendenker (wie Anm. 114), S. 31f. 116 Joachim Lampe, Aristokratie, Hofadel und Staatspatriziat in Kurhannover. Die Lebenskreise der höheren Beamten an den kurhannoverschen Zentral- und Hofbehörden 1714–1760 (Untersuchungen zur Ständegeschichte Niedersachsens 2), Bd. 1: Darstellung; Bd. 2: Beamtenlisten und Ahnentafel, Göttingen 1963, hier Bd. 1, S. 241. 117 Wrede, Ohne Furcht und Tadel (wie Anm. 1), S. 383. 118 Hugo Thielen, Art. Kestner, Johann Christian, in: Klaus Mlynek und Waldemar R. Röhrbein (Hrsg.), Stadtlexikon Hannover, 2009, S. 345. 119 Gloël, Goethes Wetzlarer Zeit (wie Anm. 58), S. 145 u. 147f. 120 Schröcker, Kestner. Der Eigendenker (wie Anm. 114), S. 32.



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Kestners Herkunft sowie seine Nachkarriere lassen vermuten, dass es sich hier um ein typisches Sozialisierungs-, Ausbildungs- und Karriereprofil handelt, welches eine nichtgeburtsständische bürgerliche beziehungsweise – im Falle der Anlehnung an den Geburtsadel121 – halbadelige Elite begründete. Dank der Arbeiten von Alfred Schröcker lässt sich jedoch festhalten, dass der angehende Visitationssekretär Kestner großen Zweifel hatte, „gemäß der Familientradition Jura [zu] studieren und eine Stelle in der hannoverschen Verwaltung an[zu]streben“.122 Stattdessen war er vielmehr der Dichtung und der Geschichte zugeneigt. Angetrieben von einer Entdeckungs- und Reiselust träumte Kestner gar, Hofmeister und Erzieher zu sein – ein Beruf, der weitaus mehr Bewegungs- und geistige Entfaltungsmöglichkeiten geboten hätte als der Fürstendienst.123 Umso schwerer fiel es Kestner, als er im Oktober 1762 anfing, die Jurisprudenz zu studieren, die für ihn lediglich eine „Brotwissenschaft“ war, wie er selber sagte.124 Die „soziale[…] Notwendigkeit“125 erzwang es jedoch, sich mit der, so ebenfalls Kestner, „Trockenheit der Rechtsgelehrsamkeit“ auseinanderzusetzen.126 Das Bemühen, sich mit dem juristischen ‚Brotstudium‘ zu arrangieren, konnte allerdings über den Zweifel an den eingeschlagenen Ausbildungsweg nicht hinwegtäuschen. Im Januar 1765 schrieb er: „O du verwirrtes, dunkles, trockenes Geschmiere der Juristerei […]!“127 Sehr vielsagend sind auch die antiken Lebensweisheiten, die sich Kestner im Mai 1766 und damit genau ein Jahr vor Beginn der Visitation notierte. Sie lauten in Übersetzung nach Schröcker „Halte durch und sei hart! Dieser Schmerz wird dir einst nützen“ sowie „Durch Schweres, nicht durch Leichtes magst du sanfter fortkommen.“128 Diese Aussprüche können als Arbeits- und Lernmaximen begriffen werden, denen Kestner auch und gerade in den Jahren der Visitation folgte. Denn neben der Tätigkeit als Sekretär, die allen voran aus Abschreibarbeiten bestand, legte er ein Quasipraktikum beim Reichskammergericht ab. Dazu gehörte auch, dass Kestner einen sehr engen Kontakt zu Assessor Bürgel jun. pflegte. Der kurbraunschweigische Beisitzer stammte väterlicherseits aus einem alten hessischen Adelsgeschlecht und war über seine 1757 geheiratete Frau Henriette Friederike Sophie von Gemmingen-Guttenberg-Bonfeld bestens vernetzt mit der regierenden Aristokratie von Kurbraunschweig. Zudem war Bürgel jun. – sein Vater war gleichfalls Assessor 121 Dieses Kriterium ist meines Erachtens entscheidend, um die Leistungselite nicht pauschal als halbadelig zu beschreiben. Aus diesem Grund ist Kestner, der sich von dem adeligen ‚Gebaren“ in Wetzlar deutlich abgrenzte und dort auch ein sehr bürgerliches Leben führte, als ein Träger der bürgerlichen, eben nicht(halb)adeligen Leistungselite zu begreifen. 122 Schröcker, Kestner. Der Eigendenker (wie Anm. 114), S. 94. 123 Schröcker, Kestner. Der Eigendenker (wie Anm. 114), S. 109f. 124 Zitiert nach Schröcker, Kestner. Der Eigendenker (wie Anm. 114), S. 113. 125 Schröcker, Kestner. Der Eigendenker (wie Anm. 114), S. 442. 126 Zitiert nach Schröcker, Kestner. Der Eigendenker (wie Anm. 114), S. 427. 127 Schröcker, Kestner. Der Eigendenker (wie Anm. 114), S. 429. 128 Schröcker, Kestner. Der Eigendenker (wie Anm. 114), S. 601 (FN 290).

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von 1738 bis 1781129– Mitglied des Familienverbandes Frantz/Fleckenbügel (genannt Bürgel)/Gemmingen, „aus dem innerhalb von drei Generationen besonders viele RKG-Assessoren hervorgingen“.130 In eben diese Kreise hatte Kestner einen exklusiven Zugang. Die Familie Bürgel jun. erwies ihm sogar ein „besonderes Vertrauen. Warum und wie ich [Kestner; A.D.] dazugekommen, das weiß ich selbst nicht“.131 Kestner konnte also seinen Wetzlarer Aufenthalt dazu nutzen, sich unter den höchsten Richtern des Reiches zu vernetzen. Darüber hinaus nutzte er die Gelegenheit, sich durch die praktische Erlernung des Reichsprozesses weiterzubilden. Es ging also darum, jenen Weg zu bestreiten, den viele territoriale oder reichsstädtische Funktionsträger und damit auch einige Visitatoren bereits gegangen waren, indem sie nach dem Studium der Jurisprudenz ein Praktikum am RKG absolvierten, um ihr Qualifikationsprofil zu schärfen und ihre Karriere zu befördern. Bei Kestner ist zudem gesondert in Rechnung zu stellen, dass er das Jurastudium nicht abgeschlossen hatte. Das Quasipraktikum ermöglichte es ihm jedoch, das Ausbildungsdefizit zumindest ein Stück weit zu kompensieren. Zudem befand sich Kestner und mit ihm das Gros der Sekretäre in einer beruflichen Orientierungsphase, die zwangsläufig von Unsicherheiten geprägt war. Denn mit Beginn der Visitation durfte den meisten Sekretären klar gewesen sein, dass ihre Stelle zeitlich begrenzt war. Wie ungewiss die berufliche Zukunft war, verdeutlicht gleichfalls Kestner, dem bei seiner Einstellung mitgeteilt wurde, dass er „weder jetzo noch künftig ein Recht zu einem Secretariate“ habe.132 Die berufliche Ungewissheit bestand, obgleich die Visitation Lebens- und Berufsperspektiven eröffnete; die Nachkarriere Kestners, aber auch vieler Visitatoren belegen dies. Zu bedenken ist dabei, dass die Entscheidung des Sekretärs für einen perspektivreichen, aber eben ungeliebten juristisch geprägten Ausbildungs- und Berufsweg in erster Linie eine Entscheidung für die Existenzsicherung war – eine Sicherung, die in der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft vor allem über Leistung zu erarbeiten war. So begriff Kestner die visitationsbedingte Arbeit als eine Pflichtaufgabe, die er zu erfüllen hatte, um seinen „wirklichen Unterhalt“ zu verdienen.133 Es ging also darum, sich ein finanzielles Auskommen zu erarbeiten, um (standesgemäß) Leben zu können. Dies schloss das Ehe- und Familienleben mit ein, welches in der Regel von dem Ein- und Auskommen abhing. Kestner konnte dementsprechend die innig geliebte Charlotte Buff „erst mit der festen Anstellung 1773“ heiraten.134 Die Bezahlung und die damit verbundene Lebenssicherheit war also der entscheidende Grund, warum Kestner die Sekretärsaufgaben pflichtschuldigst erledigte. Damit angesprochen ist nicht weniger als die Entwicklung vom Fürsten- zum Staats129 Jahns, Richter Biographien (wie Anm. 62), Biogr. 99. 130 Jahns, Richter Biographien (wie Anm. 62), Biogr. 43, S. 430. Zu dessen Vernetzung in Kurbraunschweig S. 432f. 131 Stadtarchiv Hannover, Nachlass Kestner I.B.1, Bl. 141. 132 Hauptstaatsarchiv Hannover Cal. Br. 11 4195. 133 Stadtarchiv Hannover, Nachlass Kestner I.B.2, Mappe 3 Bl. 23 (undatiert). 134 Schröcker, Kestner. Der Eigendenker (wie Anm. 114), S. 26.



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diener. Denn eine ordentliche Besoldung war neben der Versachlichung und Verrechtlichung des Dienstverhältnisses ein wichtiger Schritt hin zum modernen Beamtentum, der nicht nur aus „übergeordnete[n], staatsräsonal-sachliche[n], sondern, wahrscheinlich sogar primär, [aus] beamtenspezifisch soziale[n] Gründe[n]“ angestrebt wurde.135 Genau dies, eine gerechte Entlohnung, die das standesgemäße Leben mit, aber auch neben der Arbeit ermöglichte, vermisste jedoch Kestner. Er beklagte vielmehr, dass der Unterhalt „nicht die Waage“ hielt mit der „unaufhörlichen Arbeit“, ja er schrieb sogar von „Sclaverey“.136 Diese klagenden Worte sind ernst zu nehmen, wenn man bedenkt, dass – dies sei nur angedeutet – ein Sekretärskollege, Karl Wilhelm Jerusalem, sich zwar keineswegs nur, aber doch auch wegen der sinnentleerten Schreibarbeit selbst tötete.137 Der von Goethe mit dem Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774) verewigte Jerusalem war dabei auf dem besten Wege, sich einen festen Platz innerhalb einer Leistungselite zu erarbeiten, die sich entweder neben, gegen oder aber mit der alten adeligen Standeselite inszenierte. In diesem Sinne wog auch das kurz vor oder kurz nach dem Selbstmord in Umlauf gebrachte Gerücht schwer, nach dem Jerusalem in den vornehmen Wetzlarer Gesellschaftskreisen unerwünscht gewesen sei. Namentlich der Präsident des Reichskammergerichts Graf von Bassenheim, der wenige Monate vor dem Selbstmord Jerusalems (30. Okt. 1772) die Funktionselite alt- oder neuadeliger Herkunft zur Schlittenfahrt geladen hatte, soll den Sekretär in kompromittierender Art und Weise von seiner Gesellschaft verstoßen haben: „Man erzählte, der Graf habe ihm den Rücken gekehrt, als jener ihn anreden wollte“.138 Der durch Leistung erarbeitete Aufstieg hatte also seine Grenzen, dies verdeutlicht das Gerücht ungeachtet des Wahrheitsgehaltes. Jerusalem, Kestner und die anderen Sekretäre müssen somit als eine Leistungselite begriffen werden, die sich generationsbedingt, aber auch aufgrund der zumeist nichtadeligen Herkunft sowie aufgrund der angeführten ablehnenden Haltung gegenüber dem adeligen ‚Gebaren‘ seitens einiger Sekretäre mehr gegen als neben und nur sehr eingeschränkt mit der alt-, neu- und ‚quasi-adeligen‘ Leistungselite der Visitations- und höher stehenden Gerichtsangehörigen etablierte beziehungsweise – durch die ablehnende Haltung der alt-, neu und ‚quasi-adeligen‘ Leistungselite – etablieren konnte. Wie sehr dabei nicht nur die Visitatoren, sondern auch die Gerichtsangehörigen zunehmend einer Leistungsmaxime folgen mussten, bestätigt ein abschließender Blick auf die Kammerrichter und Präsidenten. Hier nämlich lassen sich mit Sigrid Jahns „drei Wandlungsprozesse“ beobachten, die im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einem „in dieselbe Richtung strebenden Trend zusammen[liefen]: relatives Absinken des durchschnittlichen Standesniveaus der Kammerrichter und Präsidenten, zunehmende Professionalisierung der betref135 Weber, Dienst und Partizipation (wie Anm. 48), S. 111. 136 Stadtarchiv Hannover, Nachlass Kestner I.B.2, Mappe 3 Bl. 23 (undatiert). 137 Gloël, Goethes Wetzlarer Zeit (wie Anm. 58), S. 215–244. 138 Gloël, Goethes Wetzlarer Zeit (wie Anm. 58), S. 223.

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fenden Amtsträger und Überlagerung beziehungsweise Verdrängung älterer Rekrutierungsmethoden durch eine von rationaleren, vor allem stärker leistungsbezogenen Auswahlkriterien bestimmte Ernennungspolitik.“139

III Schluss Bei der Reichskammergerichtsvisitation agierte eine Vielzahl an juristisch hochqualifizierten Funktionsträgern des Reiches, die dem Leistungsprinzip und damit einer verbürgerlichten Arbeitstugend verpflichtet war, die das geburtsständische Prinzip der Ständegesellschaft zwar durchbrach. Der Adel konnte sich jedoch mit und neben dem Leistungsprinzip behaupten, indem er einerseits selbst zum leistungsbringenden Funktionsträger des werdenden Staates wurde. Andererseits prägten adelige Wertvorstellungen und Lebensmuster das Erscheinungsbild der nichtadeligen Funktionsträger, die ihren Aufstieg mit einer Nobilitierung oftmals sanktionierten. Diese „doppelte[…] Aristokratisierung“140 spiegelt die Visitation dergestalt wider, dass hier alt-, neu- und halbadelige Funktionsträger wirkten, die sich ungeachtet der teils konkurrierenden Verfahrensrollen (Visitatoren und Visitierte) als eine gemeinsame Leistungselite in Anlehnung an die adelige Standeselite begriff und inszenierte. Demgegenüber gab es gerade mit den jüngeren Visitationssekretären eine bürgerliche Funktionsträgerschaft, die das adelige ‚Gebaren‘ der alt-, neu- und halbadeligen Leistungsträger ablehnte. Kritisiert wurde dabei genau jener Inszenierungszwang, dem selbst eine einfache Schlittenfahrt unterlag. Denn die Abfolge der Schlitten war keineswegs zufällig, sondern wohl geordnet. Dies verdeutlicht der Sekretär Kestner, der festhielt, dass große Schlittenfahrten meist nicht zustande kamen, „weil der Rang Hinderniß verursachte“.141 Ein solcher nichtbürgerlicher Zwang zur Ranginszenierung bestand, da zum einen die zunehmende „Oligarchisierung, Exklusivität und Selbstrekrutierung der juristischen Spitzenberufe“142 das Verlangen nach sichtbarer Abgrenzung verstärkte. Zum anderen lebte die Ständegesellschaft davon, Ungleichheiten sichtbar zu machen. Dementsprechend erlaubte eine kurbayerische Kleiderverordnung aus dem Jahr 1749 Adel, Räten, „vornehme[n] Beamte[n], dann Doktoren, Licentiaten“ gleichermaßen, den gleichen Kleideraufwand zu betreiben.143 Daneben spielte eine wichtige Rolle, dass nicht nur die Gesellschaft, sondern mit ihr auch die politische Ordnung der 139 Jahns, Reichskammergericht und Richter (wie Anm. 62) (Darstellung), S. 141. 140 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt (wie Anm. 18), S. 188. 141 Stadtarchiv Hannover, Nachlass Kestner I.B.1, Bl. 107. 142 Jahns, Reichskammergericht und Richter (wie Anm. 62) (Darstellung), S. 533. 143 Zitiert nach Walter Demel, Struktur und Entwicklung des bayerischen Adels von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Reichsgründung, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 61, 1998, S. 295–345, hier S. 337.



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Inszenierung bedurfte. Dies galt gerade für das römisch-deutsche Reich mit seiner komplexen hierarchischen Ordnung, die überdies konfessionell zwischen Katholiken und Protestanten segmentiert war. Darüber hinaus ist deutlich, dass die beschriebene Schlittenfahrt kein bürgerliches Freizeitvergnügen gelöst von Rangzwängen sein konnte, da die Repräsentation einen „zentralen Bestand adeliger Existenz“144 und damit einen zentralen Bestandteil der alt-, neu- und halbadeligen Leistungselite ausmachte. Dem Drang, mit dem Adel und wie dieser in der Gesellschaft zu agieren, folgten jedoch nicht bürgerliche Leistungsträger wie Kestner. Durch ihre ablehnende Haltung gegenüber dem adeligen ‚Gebaren‘ der alt-, neu- und halbadeligen Leistungsträger machen sie jedoch deutlich, dass auch hier der Adel ein Bezugspunkt war, von dem man sich abgrenzen wollte. Die bürgerlichen, alt-, neu- und halbadeligen Amtsträger des werdenden Staates definierten sich also entweder mit und durch oder gegen eine Standeselite, die sich immer weiter von ihrem „traditionellen Habitus als selbstbestimmter Herrschaftsstand“ entfernte und stattdessen in weiten Teilen die Züge einer Funktions- und damit Leistungselite annahm.145 Mit dieser (un)gewollten Anpassung war wohl die entscheidende Grundlage dafür geschaffen, das vermeintlich adellose 18. Jahrhundert zu überstehen. All dies bedarf freilich einer nicht unerheblichen Einschränkung. Denn die hier im Mittelpunkt stehenden Akteure nur als bürgerliche oder alt-, neu- und halbadelige Leistungsträger zu begreifen, greift zu kurz: So waren „Adelige durchaus dazu in der Lage […], je nach Kontext und Zeitpunkt unterschiedliche politische und soziale Rollen zu spielen.“146 Eine Gegebenheit, die diese Kontexte und Zeitpunkte verdeutlicht, lässt sich etwa bei Assessor Bürgel jun. finden, welcher nicht nur Leistungsträger des Reichskammergerichts war und sich als solcher inszenierte, sondern der, gekleidet mit einem „schlechten abgetragenen Rock“ und geschmückt mit einem „dreyfachgeflochtenem [Haar]Zopf“, auch ganz Privatmann sein konnte, der sich vor allem dem Haushalt, ja sogar selbst der „Anordnung der Speisen“ widmete.147 Ebenso lässt sich für Kestner festhalten, dass er zwar auch ein der Leistungselite verpflichteter arbeitsamer Sekretär und Quasipraktikant war, in erster Linie jedoch ein liebender Mensch, dessen „Verlangen […] Lottgen [Charlotte Buff; A. D.] zu sehn“, seine schreibende Hand beflügelte.148

144 Gudrun Gersmann, Art. Adelsleben, in: Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit (wie Anm. 1), Sp. 69. 145 Sikora, Adel in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 1), S. 51. 146 Asch, Selbstbehauptung (wie Anm. 16), Abschnitt Resümee. 147 Stadtarchiv Hannover, Nachlass Kestner I.B.1, Bl. 140 v. 148 Stadtarchiv Hannover, Nachlass Kestner I.B.2 Tagebuch Teil 2, Mappe 1 Bl. 5v, Notizen zum 19. u. 20. Aug. 1772.

Christiane Hoth

Metternich, Humboldt und die „Sattelzeit“ Adels- als Wahrnehmungsgeschichte [Es] bedarf vor allem eines wahrhaft aufrichtigen Verständnisses unter denen, die allein noch Hilfe bieten können. Diese sind die Obenstehenden. Alles Übel ist von oben ausgegangen; von dorther kann demnach die Hilfe allein noch kommen.1 Nur sehr wenige, und am seltensten die, welche an der Staatsverwaltung teilnehmen, fühlen recht lebendig, wie notwendig es ist, eine so enge Verbindung als möglich zwischen dem Volk und den höheren Ständen anzuknüpfen […].2

I Einführung Am Beginn des 19. Jahrhunderts befand sich der europäische „Adel“3 in einer krisenhaften Phase des Umbruchs. Dieser Wandel war selbstverständlich kein Kind von 1789,4 aber – sowohl aus politikhistorischer wie kulturalistischer Perspektive – durch die Ereignisse im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts und den damit nach Handlungswirklichkeit strebenden Vorstellungen und Zielen einer aufgeklärt modernen Gesellschaft entscheidend dynamisiert: Vor allem die Beseitigung der ständischen Privilegien markieren einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg in ein anderes Europa. Obwohl die französischen Geschehnisse in den deutschen Staaten keine vergleichbar großen revolutionären Ausbrüche auslösten, wurden diese in den Folgejahren dennoch in mannigfaltiger Hinsicht stark von den Ereignissen in Frankreich beeinflusst. Die Friedensschlüsse mit dem ab 1799 napoleonischen Frankreich sowie der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 führten immerhin zur endgültigen Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nationen, dem Wegfall des 1 Geheimes Schreiben Metternichs an Fürst Wrede, Wien, 24. Oktober 1831, zit. nach Elisabeth Dross (Hrsg.), Quellen zur Ära Metternich, Darmstadt 1999, S. 160. 2 Brief Humboldts an seine Frau Karoline, Wien, 20. August 1814, zit. nach Anna von Sydow (Hrsg.), Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, 7 Bde., Berlin 1906-1916, hier Bd. 4, S. 380. 3 Eingedenk der Mannigfaltigkeit von „Adel-Sein“ am Beginn der gesellschaftlichen Moderne wird allein aus heuristischen Gründen ein Sammelbegriff verwendet. 4 Siehe den Aufsatz von Alexander Denzler in diesem Band.



Metternich, Humboldt und die Sattelzeit 

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Kaisers als adelige Bezugssäule und der Destruktion des Systems Reichskirche, das zumindest für den katholischen Adel einen wesentlichen materiellen und identifikatorischen Fliehpunkt bedeutete. Nach dem Sturz Napoleons kamen im Herbst 1814 in Wien die europäischen Monarchen und Staatsmänner zwar zusammen, um die Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress im restaurativen Geiste zu regeln. Der Umbruch adeliger Lebenswelten schritt gleichwohl weiter voran. In sozialgeschichtlicher Hinsicht ist für die „Sattelzeit“ (Koselleck) sodann der Wandel von einer ständischen zu einer zunehmend bürgerlichen Gesellschaft zu betonen. Die hierarchische Schichtung nach Ständen löste sich allmählich zugunsten einer gesellschaftlichen Neustrukturierung auf, in der sich auch der Stand des Adels neu zu positionieren suchte. Der „Kampf ums Obenbleiben“5 und die damit verbundenen Aushandlungsprozesse mit anderen sozialen Gruppen wie dem aufkommenden Bürgertum sollten die adelige Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts entscheidend prägen – ja sogar dominieren. Bevor die in diesen Ausführungen, die in bewusster Zuspitzung einem konstruktivistischen Geschichtsverständnis folgen möchten, intendierten theoretisch-methodischen Zugriffe und Erkenntnisinteressen vorgestellt werden, scheint ein kurzer Blick auf die Forschung sinnvoll: Während die ältere Literatur in erster Linie das politische Handeln der Herrscherhäuser und Höfe fokussierte und häufig einen eher personalisierenden Zugang wählte6, sehen sich neuere Forschungen vermehrt einer kulturalistisch erweiterten Sozialgeschichte verpflichtet. Anders als ältere Ansätze, die den „Untergang der Adelswelt“7 mit Beginn der Moderne erkannt haben wollen, negieren neuere Forschungen die Annahme eines plötzlichen ‚Verschwindens‘ des Adels und fragen gezielt nach Bemühungen des ‚Obenbleibens‘, nach seinen Weltdeutungen und Handlungsmöglichkeiten im kommunikativen Konstruktionsprozess. Zumal nach dem Fall des ‚Eisernen Vorhangs‘ und dem wachsenden Interesse ‚europäisch‘ beziehungsweise global zu denken, entstanden einige Arbeiten, die gezielt nach Identitätskonstruktionen und -erfahrungen des Adels im 19. und 20. Jahrhundert fragten.8 5 Rudolf Braun, Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben. Adel im 19. Jahrhundert, in: HansUlrich Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel 1750–1950, Göttingen 1990, S. 87–96. 6 ‚Personalisierung‘ meint die „Deutung und Darstellung historischer Sachverhalte an großen Persönlichkeiten aus der Sicht großer Persönlichkeiten“, wohingegen ‚Personifizierung‘ „die Darstellung von Geschichte an ‚namenlosen‘ handelnden und leidenden Personen und aus der Sicht dieser Personen, die immer gesellschaftliche Gruppierungen vertreten“, meint. Zur Unterscheidung von „Personifizierung“ und „Personalisierung“: Klaus Bergmann, Personalisierung, Personifizierung, in: Klaus Bergmann et. al. (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, Seelze-Velber 19975, S. 298f. 7 Hanns Hubert Hofmann, Adelige Herrschaft und souveräner Staat. Studien über Staat und Gesellschaft in Franken und Bayern im 18. und 19. Jahrhundert, München 1962, S. 521. 8 Ein kompletter Überblick über die außerdeutschen Forschungen kann an dieser Stelle nicht gegeben werden. Für die deutsche Forschung wären zum Beispiel zu nennen: Hansjoachim Henning, Die unentschiedene Konkurrenz. Beobachtungen zum sozialen Verhalten des norddeutschen Adels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Mainz 1994; Josef Matzerath, Adelsprobe an der Moderne. Sächsischer Adel 1763–1866. Entkonkretisierung einer traditionalen Sozialinformation, Stuttgart 2006.

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 Christiane Hoth

Die „Sattelzeit“ bildete dabei durchaus einen Schwerpunkt, die Möglichkeiten des „Cultural Turn“ sind in diesem Kontext freilich noch nicht annähernd ausgeschöpft. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Zeit um den Wiener Kongress, wobei sie nicht nach adeligem Handeln auf dem Feld der Politik fragen. „Vielmehr gilt es, die Art und Weise zu betonen, wie diese Welt wahrgenommen wird, indem Grenzlinien etabliert und Wirklichkeiten konstruiert werden“.9 Dieser Aufsatz möchte anhand eines Vergleichs zweier Adeliger – Fürst von Metternich und Wilhelm von Humboldt – die Wahrnehmung der politisch-gesellschaftlichen Veränderungen der „Sattelzeit“ untersuchen. Die Auswahl der beiden Personen liegt nahe: Metternich als Vertreter einer hochadeligen rheinischen Familie und Humboldt als Repräsentant einer nobilitierten preußischen Familie gelten als besonders einflussreiche Akteure in Zeiten des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs. Zudem waren sie einander persönlich bekannt und befanden sich in einem Aushandlungsprozess um die politische und gesellschaftliche Ordnung Europas. Ihr persönliches Verhältnis blieb trotz der unterschiedlichen Interessen Preußens und Österreichs, die 1813 aufbrachen, „weitgehend ungetrübt“.10

II Zugriffe Der Aufsatz versteht sich als versuchte Rekonstruktion von Vergangenheit und ist sich ihrer Verhaftung in der Gegenwart und ihrem personengebundenen Standpunkt bewusst. Um sich mit Rüsen einer wissenschaftlichen „Objektivität“ annähern zu können, seien im Folgenden kurz theoretische Zugriffe skizziert und konstruktivistische Ansätze dechiffriert11: Neue Kulturgeschichte geht davon aus, dass das Sein konstruiert ist und auf der Wahrnehmung unterschiedlicher Akteure basiert. Sie fragt nach der kommunikativen Konstruktion des Seins, nach den Beziehungen zwischen Menschen und ihrer Umwelt, sowie nach der Interdependenz zu politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen. Geschichte wird von Menschen gemacht, die Handlungsspielräume haben und die für ihr Handeln verantwortlich sind. Die Konzentration auf Sprache als maßgebliches Element der Konstruktion von Wirklichkeit kann zwischen „‚wirklicher Geschichte‘ und ideologischer Produktion“ vermitteln beziehungsweise ihre Trennung verschwinden lassen.12 9 Achim Landwehr, Geschichte des Sagbaren. Einführung in die historische Diskursanalyse, Tübingen 2001, S. 19. 10 Lothar Gall, Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt, Berlin 2011, S. 233. 11 Jörn Rüsen, Objektivität, in: Bergmann et. al. (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik (wie Anm. 6), S. 160ff. 12 Thomas Mergel, Kulturgeschichte – die neue „große Erzählung“? in: Wolfgang Hardtwig/HansUlrich Wehler (Hrsg.), Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996, S. 76.



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Der Begriff der Realitätskonstruktion findet in der Sprachphilosophie Wittgensteins bereits konkrete Ausführungen. Der Begriff der Grenze, der Begriff des Paradigmas oder Musters meint mit Wittgenstein die Abgrenzung, die Unterscheidung, vor allem aber die Ordnung der Welt. All diese Begriffe kulminieren in der Vorstellung des Weltbildes, welches als Produkt sprachlicher Handlungen und Grenzziehungen zu verstehen ist.13 Dass Geschichte die Verbindung von Mensch und Idee, aber vor allem von Mensch und Begriff, von Mensch und Umwelt, ins Blickfeld zu nehmen habe, hat im Besonderen die ‚Annales-Schule‘ und ihr Begründer Lucien Febvre deutlich gemacht.14 Die Annales intendierten vor allem eine Annäherung an die Alltagsund Mentalitätsgeschichte. Mentalität meint mit Kuhlemann „Gewißheiten unserer Stellung zur Welt“15, die gegebene, aber vor allem auch vermittelte Geflechte und Strukturen sein können, aus welchen der Mensch Sinn stiftet und innerhalb derer er sich orientiert. Mentalitäten prägen das Weltbild des Einzelnen oder einer Gruppe. Doch soll an dieser Stelle der Diskursbegriff nicht außer Acht gelassen werden, dient er doch als Hilfe zum Verständnis des Konstruktionscharakters dieser Ausführungen: auch wenn das „Allerweltswort“16 Diskurs gegenwärtig in vielen Bereichen und Publikationen der Geisteswissenschaften auftaucht, ist es im Gegensatz zum englischen discourse, dem französischen discours oder dem spanischen discurso kein Alltagsbegriff, sondern denkt im Deutschen meist eine dahinter stehende philosophische Konzeption mit.17 Auch wenn man Michel Foucaults Diskursbegriff und die von ihm entwickelte Analyse der Diskurse sicherlich als sein Hauptwerk mit der wohl größten Strahlkraft in die gegenwärtigen Geisteswissenschaften bezeichnen kann, so hat der Philosoph in keiner seiner Arbeiten den Diskurs wirklich definiert. Ausgehend von seinen Werken Archäologie des Wissens und im Besonderen seiner am Collège de France gehaltenen Antrittsvorlesung 1970, die als Die Ordnung des Diskurses publiziert wurde, kann jedoch paraphrasierend zusammengefasst werden, dass Foucault mit Diskurs all das meint, was zu einer bestimmten Zeit gesagt werden kann. Im Diskurs werden Aussagen über die Wirklichkeit gemacht und Wahrheiten produziert. Diese Wahrheiten werden sprachlich vermittelt. Die foucaultsche Diskurstheorie geht davon aus, dass, obwohl eine unendliche Menge von Aussagen zu einem gegebenen Zeitpunkt besteht, nur eine begrenzte Menge von Aussagen wirklich gesagt wird.18 Mit Siegfried Jäger formiert der Diskurs subjektives und kollektives Bewusstsein und übt 13 Landwehr, Geschichte des Sagbaren (wie Anm. 9), S. 19. 14 Lucien Febvre, Das Gewissen des Historikers, Berlin 1988, S. 17f. 15 Franz-Michael Kuhlemann, Mentalitätsgeschichte. Theoretische und methodische Überlegungen am Beispiel der Religion im 19. und 20. Jahrhundert, in: Hardtwig/Wehler (Hrsg.), Kulturgeschichte Heute (wie Anm. 12), S. 210. 16 Landwehr, Geschichte des Sagbaren (wie Anm. 9), S. 65. 17 Der hier herangezogene Diskursbegriff bezieht sich auf den Diskursbegriff Foucaults, der Diskursbegriff im Sinne der Linguistik oder Habermas‘ findet hier keine Beachtung. 18 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1981; Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main 201212.

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insofern Macht aus. Denn subjektives und kollektives Bewusstsein bilden die Grundlage für jede Auseinandersetzung mit und die Neuformierung/Weiterentwicklung/ Veränderung von Gesellschaft“.19 Um das Sagbare untersuchen zu können, bedarf es in der historischen Diskursanalyse einer intensiven Beschäftigung mit der Sprache. Für den Historiker bedeutet diese Erkenntnis in erster Linie die Beschäftigung mit einem großen Korpus an Textquellen, da in diesen sprachliche Äußerungen aus der Vergangenheit konserviert sind. Die hier aufgeführten theoretischen Betrachtungen zeigen, dass die zunächst sehr schwer fassbaren Begriffe Mentalität, Weltbild und Diskurs keine voneinander unabhängigen Abstrakta darstellen, sondern ein Zusammendenken erlauben, ja dieses sogar wünschen. Mentalitäten, Weltbilder und Diskurse sind nicht statisch, sie befinden sich im Fluss und können sich im Laufe der Zeit durch Aushandlungsprozesse bestärken, adaptieren oder verändern.20 Diese Aushandlungen finden zwischen verschiedenen, sich gegenseitig beeinflussenden und Einfluss sichernden Akteuren statt, die den Diskurs tragen. In Die Ordnung des Diskurses stellt Foucault die These auf, dass dennoch „in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren“21, wie der Ausschließung oder der Verknappung der sprechenden Subjekte. Die Ausgrenzung bestimmter Akteure aus den Diskursen kann mit Foucault durch deren fehlende Qualifikation, durch das Spiel von Geheimhaltung und Verbreitung, durch Doktrinen als Zeichen einer Zugehörigkeit und durch gesellschaftliche Aneignung erfolgen.22 Doch welchen Beitrag können diese theoretischen Zugriffe für den historischen Vergleich zweier adeliger Akteure, wie er in dieser Arbeit intendiert ist, leisten? Die philosophischen Annahmen, auf die sich die Neue Kulturgeschichte bezieht, können helfen, nach den Wahrnehmungen der politischen, sozialen und kulturellen 19 Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse in der Praxis, in: Marvin Chlada/Gerd Dembowski (Hrsg.), Das Foucaultsche Labyrinth, Aschaffenburg 2002, S. 114. 20 Wittgenstein bediente sich der Metapher des Flusses, um die Bewegung des Weltbildes zu verdeutlichen. Er differenziert zwischen noch flüssigen Erfahrungssätzen und solchen, die bereits erstarrt sind und aus denen das Weltbild besteht. Jene Sätze oder Säulen dienen den Erfahrungssätzen als Orientierungspunkte. Sie sind jedoch nicht für alle Zeiten erstarrt, sondern erhalten eine geschichtliche Dimension, da sie sich stets in Bewegung befinden: Das fließende Wasser, als auch das Flussbett unterliegen Veränderungen. Vgl. Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe, Bd. 8: Über Gewißheit, Frankfurt am Main 1984, S. 140. 21 Foucault, Die Ordnung des Diskurses (wie Anm. 18), S. 11. 22 Foucault, Die Ordnung des Diskurses (wie Anm. 18), S. 26–29. All diese Prozeduren zur Kontrolle und Einschränkung des Diskurses resultieren mit Foucault aus einer „Angst vor jenen Ereignissen, vor jener Masse von gesagten Dingen, vor dem Auftauchen all jener Aussagen […], vor jenem großen unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses.“ Um diese Angst zu analysieren, müsse der Wille zur Wahrheit in Frage gestellt werden, der Diskurs seinen Eigencharakter zurückerlangen und die Souveränität des Signifikanten aufgehoben werden: Foucault, Die Ordnung des Diskurses (wie Anm. 18), S. 33.



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Veränderungen der Zeit um den Wiener Kongress und der Folgejahre zu fragen. Wenn die Wirkungsmacht mancher Diskurse um adelige Identität und das adelige Selbstverständnis, aber auch um Fragen der Mentalität einer sozialen Gruppe in der longue durée nachgewiesen werden kann, so dienen diese Erkenntnisse der Deutung des historischen Vergleichs. Mit Jäger wurde zudem gezeigt, dass subjektives und kollektives Bewusstsein Voraussetzung für Veränderungen innerhalb der Gesellschaft ist. Die folgenden Ausführungen gehen mit der jüngeren Forschung davon aus, dass die „Sattelzeit“ als Zeit des tiefgreifenden Wandels enorme mentale Verwerfungen zumal für den als Herrschaftsstand abtretenden Adel zeitigte. Der einzelne Adelige – ob Vertreter des hohen, des niederen, des alten oder des jüngst nobilitierten Adels – hatte sich „zwischen der ständischen und der funktional differenzierten Gesellschaft“23 zu positionieren. Die Reaktionen reichten sodann von Anpassung an die bürgerliche Leistungsgesellschaft bis zu Versuchen, beispielsweise durch neu entfachte Diskurse über den adeligen „Vorzug an Gesinnung und Kultur“24, die Zukunftsträchtigkeit eines antibürgerlichen Lebensstils zu postulieren. Vor diesem Hintergrund soll anhand einschlägiger Textquellen nach Metternichs und Humboldts Wahrnehmungen ihrer von Kontinuität und Wandel, Tradition und Moderne, von Revolution und Restauration geprägten Gegenwart gefragt werden. Mithilfe von Briefen wird ihre Sicht der politischen Handlungs- und Wandlungsprozesse sowie die Positionierung im Diskurs um adelige Identität rekonstruiert. Die Bewertung der politischen Handlungen und die Haltung zweier Repräsentanten des Adels gegenüber diesen sollen im Fokus der Betrachtungen stehen. Es geht um den historischen Vergleich des überliefert Sagbaren zweier Adeliger, wobei ausgewählte historische Kategorien25 als Vergleichsparadigmen fungieren: 23 Ewald Frie, Adelige Lebensweise in entsicherter Ständegesellschaft. Erfahrungen der Brüder Alexander und Ludwig v. d. Marwitz, in: Eckart Conze/ Monika Wienfort (Hrsg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2004, S. 273-288, hier S. 287. 24 Heinz Reif, Adelserneuerung und Adelsreform in Deutschland 1815-1874, in: Elisabeth Fehrenbach (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770-1848, München 1994 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 31), S. 203-230, hier S. 208. 25 Wie schon bei dem Begriff ‚Diskurs‘ steht der Historiker bei dem Begriff ‚Kategorie‘ vor ähnlichen Herausforderungen, diesen zu definieren und ihn zu operationalisieren. Zwar wurden in der Philosophie, aus welcher der Begriff ‚Kategorie‘ entstammt, Konzepte entworfen, für die Geschichtswissenschaften scheint jedoch eine Präzisierung des Begriffs der ‚historischen Kategorie‘ angemessen. So bietet beispielsweise Joachim Rohlfes mit der „Zeit“ lediglich eine sogenannte Fundamentalkategorie und mit Kategorien wie „Ereignisse“ oder „Strukturen“ keine typologische Einordnung des Begriffs, die seine Beispiele begründen ließen (Joachim Rohlfes, Geschichte und ihre Didaktik, Göttingen 20053, S. 54). Auch im ‚Wörterbuch Geschichtsdidaktik‘ ist mit Ulrich Mayer nur von dem „Spezifische[n] des Historischen“ die Rede, ungeahnt dessen, was sich dahinter verbirgt (Ulrich Mayer, Kategorien, in: Ulrich Mayer, Wörterbuch Geschichtsdidaktik, Schwalbach 20092, S. 114). Mit Jörn Rüsen meint Kategorie „fundamentale Denkformen, die die erfahrene Wirklichkeit der menschlichen Erkenntnis erschließen. Mit ihnen ordnet das Denken die Welt“ (Jörn Rüsen, Historische Kategorien, in: Bergmann (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik (wie Anm. 6), S. 147). Rüsen unterscheidet in dreierlei Hinsicht Kategorien historischen Denkens: Er trennt inhaltliche Kategorien wie Fortschritt, Entwicklung,

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Welche Ansichten vertraten Metternich und Humboldt in Hinblick auf die Geschehnisse während des Wiener Kongresses? Was bedeutete für sie ‚adelige Repräsentation‘ und wie nahmen sie ihr adeliges Umfeld und die Verfügung über symbolisches Kapital wahr? Welche Aussagen waren im Diskurs um adelige Identität sagbar und welche Aussagen mussten geheim mitgeteilt werden? Es ist nicht Anliegen dieses Beitrages, eine systematische historische Diskursanalyse, die einen weitaus größeren Quellenkorpus und eine intensive Auseinandersetzung mit dem Macht- und Wahrheitsbegriff Foucaults voraussetzen würde, durchzuführen, noch eine umfassende empirische Untersuchung zu mentalen Veränderungen zu leisten. Die im Vorfeld dargelegten theoretischen Zugriffe möchten vielmehr wieder einmal dazu einladen, vor dem Hintergrund eines konstruktivistischen Geschichtsverständnisses eine andere ‚Lesart‘ von Geschichte in Betracht zu ziehen – die Lesart einer Wahrnehmungsgeschichte.

III „Adel“ und „Adel“ Klemens Wenzel Nepomuk Lothar Graf von Metternich-Winneburg zu Beilstein26 und ab 1813 auch Fürst, wurde am 15. Mai 1773 in Koblenz geboren. Als Sohn des Diplomaten und Staatsministers des Kurfürstentums Trier Franz Georg Karl Graf Metternich-Winneburg zu Beilstein gehörte er der Linie Winneburg-Beilstein des alten Adelsgeschlechts Metternich aus dem Rheinland an, aus dem mehrere Bischöfe und Evolution und Revolution von formalen und funktionalen Kategorien, die allesamt die Sinnhaftigkeit der Beschäftigung mit Geschichte bedingen (Jörn Rüsen, Historische Kategorien, S. 148f). Anknüpfend an Rüsen definiert Alexander Schöner den Begriff der Kategorie als „zusammenfassende, weitest mögliche generalisierende und generalisierte Begriffe“ (Alexander Schöner, Kompetenzbereich historische Sachkompetenzen, in: Andreas Körber u.a. (Hrsg.), Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik, Neuried 2007, S. 290). Die von Schöner als eher inhaltliche Klassifikationselemente verstandenen Kategorien historischen Denkens sollen auch dieser Untersuchung zugrunde liegen. Auf Grundlage der Kategorien politische und gesellschaftliche Ordnung, Bildung und adelige Repräsentation soll der historische Vergleich adeliger Wahrnehmungen von Fürst von Metternich und Wilhelm von Humboldt erfolgen. 26 Darstellungen über Metternich erschöpfen sich größtenteils im Feld klassisch historistischer Betrachtungen und sind meist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden: Vgl. Viktor Bibl, Metternich. Der Dämon Österreichs, Leipzig 1938³; Heinrich von Srbik, Metternich, der Staatsmann und der Mensch, München 1925, Bd. 1–3; Walther Tritsch, Metternich. Glanz und Versagen, Berlin 1934. Jüngere Biographien liefern u. a.: Guillaume de Bertier de Sauvigny, Metternich. Staatsmann und Diplomat für Österreich und den Frieden, Gernsbach 1988; Robert Billinger, Metternich and the German question. states‘ rights and federal duties, 1820–1834, London 1991; Franz Herre, Metternich. Staatsmann des Friedens, Köln 1983; Desmond Seward, Metternich, der erste Europäer. Eine Biographie, Zürich 1993; Henry Vallotton, Metternich. Napoleons großer Gegenspieler. Biographie, München 1976². Wolfram Siemann schrieb 2010 die bis heute aktuellste Darstellung: Wolfram Siemann, Metternich. Staatsmann zwischen Restauration und Moderne, München 2010.



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Erzbischöfe hervorgingen. Zusammen mit seinem Bruder Joseph wurde er von einem Hofmeister unterrichtet, der sich der Geisteswelt der französischen Aufklärer verpflichtet sah. 1788 ging er zum Studium der Staatswissenschaften an die Universität Straßburg, welches er bis 1794 an der Universität Mainz fortsetzte. Bereits in dieser Zeit bekannte sich Metternich als Gegner der Revolution. Er wirkte als Gesandter des Westfälischen Reichsgrafenkollegiums auf dem Kongress von Rastatt 1797-1799, als österreichischer Gesandter in Dresden 1801 und als Gesandter in Berlin 1803.27 Im Jahr 1806, in dem Kaiser Franz II. die Krone des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation niederlegte und es zur Gründung des Rheinbunds kam, wurde Metternich von Napoleon zum Gesandten Österreichs in Paris ernannt. Im Oktober 1809 wurde er nach der Niederlage Österreichs gegen Napoleon österreichischer Außenminister, nachdem sein Vorgänger Graf Johann Philipp von Stadion mit seiner auf eine nationale Erhebung hinzielenden Politik gescheitert war. Metternich leitete eine „Politik des diplomatischen Realismus“ gegenüber Frankreich ein, vermittelte die Ehe der österreichischen Kaisertocher Marie-Luise mit Napoleon und trat in Verhandlungen mit dem russischen Zaren Alexander.28 Nach Napoleons Niederlage in Russland 1813 bemühte sich Metternich um ein europäisches Gleichgewicht. Er intendierte die territorialen Verluste Frankreichs möglichst gering zu halten, um eine Übermacht Russlands in Europa zu verhindern. Auf dem Wiener Kongress stand Metternich für eine Rückkehr Frankreichs in das europäische Mächtesystem und plädierte für die „Rekonstruktion des Reiches“, um die Stabilität des österreichischen Vielvölkerstaats nicht zu gefährden und um einen deutschen Nationalismus zu verhindern.29 Als „Kutscher Europas“30 galt Metternichs Einsatz der Restauration der vornapoleonischen politischen und sozialen Ordnung in Europa. Zur Umsetzung seiner Ziele leitete er 1819 die sogenannten ‚Karlsbader Beschlüsse‘ ein, verstand sich als wichtiger Akteur bei der Gründung der Heiligen Allianz und begann eine internationale Interventionspolitik, um seine Interessen durchzusetzen. Jedoch verhinderten revolutionäre Tendenzen sowie das Erstarken des Bürgertums die Umsetzung vieler Ziele des ‚Metternichschen Systems‘. Im Zuge der österreichischen Märzrevolution wurde Metternich am 13. März 1848 zum Rücktritt gezwungen und ging ins Exil.31 Wilhelm Freiherr von Humboldt32 wurde am 22. Juni 1767 in Potsdam geboren. Aus der Familie des Vaters, die aus Pommern stammt, gingen viele Beamte und Offi27 Vgl. Gerhard Taddey (Hrsg.), Lexikon der deutschen Geschichte. Ereignisse, Institutionen, Personen. Von den Anfängen bis zur Kapitulation 1945, Stuttgart 1998³, S. 839; Wolfram Siemann, Metternich. Staatsmann zwischen Restauration und Moderne, S. 21–34. 28 Taddey, Lexikon der deutschen Geschichte (wie Anm. 27), S. 839. 29 Siemann, Metternich (wie Anm. 26), S. 54; Taddey, Lexikon der deutschen Geschichte (wie Anm. 27), S. 839. 30 Peter Berglar, Metternich: Kutscher Europas. Arzt der Revolutionen, Göttingen 1973. 31 Siemann, Metternich (wie Anm. 26), S. 62–110. 32 Wichtige Darstellungen über Wilhelm von Humboldt bieten u.a. Siegfried Kähler, Wilhelm von Humboldt und der Staat. Ein Beitrag zur Geschichte deutscher Lebensgestaltung um 1800, Göttingen

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ziere für den Dienst der brandenburgischen Kurfürsten und der preußischen Könige hervor. Wilhelm von Humboldts Großvater Johann Paul, ein Offizier, bat 1738 in einem Immediatgesuch an König Friedrich Wilhelm I. um Verleihung eines Adelstitels, welchen die Familie Humboldt seither trägt.33 Nach seiner Erziehung durch Hauslehrer studierte er ab 1787 Jura in Frankfurt an der Oder und in Göttingen. In dieser Zeit beschäftigte er sich auch mit der Philosophie Kants, was ihn zu nachfolgenden sprachwissenschaftlichen und philosophisch-ästhetischen Studien motivierte. 1791 heiratet Humboldt Caroline Friederice von Dachroeden, mit der er acht Kinder hatte. Die Jahrhundertwende war von längeren Aufenthalten in Paris, Spanien und Rom geprägt.34 1809 wurde Wilhelm von Humboldt Geheimer Staatsrat und Leiter der Sektion für Kultus und Unterricht im preußischen Innenministerium, wo er das deutsche Bildungswesen reformierte und Anstoß zur Gründung der späteren Humboldt-Universität gab. Als Staatsminister und preußischer Gesandter in Wien lernte er Metternich kennen und vertrat mit Karl August Fürst von Hardenberg Preußen auf dem Wiener Kongress.35 Auf dem Aachener Kongress 1818 gehörte er der preußischen Delegation an und erhielt das Ministerium für ständische und kommunale Angelegenheiten. Seine ablehnende Haltung gegenüber den ‚Karlsbader Beschlüssen‘ und Diskrepanzen mit Hardenberg führten jedoch zu Humboldts Entlassung. Er widmete sich bis zu seinem Tod 1835 vor allem Sprachforschungen.36 Beide, Metternich als auch Humboldt, positionierten sich in Diskursen um die Neuordnung Europas als Repräsentanten Österreichs beziehungsweise Preußens und vertraten zweifelsfrei die Interessen ihrer Monarchen, dem österreichischen Kaiser Franz I. und dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. Jedoch nahmen sie die Geschehnisse auch als Individuen wahr und argumentierten ebenso aus der Perspektive eines Adeligen, was anhand vieler Briefe an Vertraute deutlich wird. In einem Brief vom 21. Januar 1806 an seinen Berater Friedrich von Gentz, in dem er auf die Dreikaiserschlacht bei Austerlitz von 1805 Bezug nimmt, äußert sich Metternich in Hinblick auf die Zukunft Europas äußerst besorgt. Aus seinen Worten spricht Endzeitstimmung: Die Welt ist verloren: Europa brennt nun ab, und aus der Asche erst wird eine neue Ordnung der Dinge entstehen, oder vielmehr wird alte Ordnung neue Reiche beglücken. Wir erleben sie

1963²; Eberhard Kessler, Wilhelm von Humboldt. Idee und Wirklichkeit, Stuttgart 1967. Bei den neueren Darstellungen seien vor allem genannt: Tilman Borsche, Wilhelm von Humboldt, München 1990; Lothar Gall, Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt, Berlin 2011. 33 Vgl. Tilman Borsche, Wilhelm von Humboldt, München 1990, S. 19. 34 Borsche (wie Anm. 33), Wilhelm von Humboldt, S. 25f. 35 Taddey (wie Anm. 27), Lexikon der deutschen Geschichte, S. 587. 36 Taddey (wie Anm. 27), Lexikon der deutschen Geschichte, S. 587.



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nicht mehr, die Epoche, wo Gesetze gegen blinde Herrschsucht ihre ewigen Rechte behaupten werden […].37

Obwohl der Wiener Kongress erst neun Jahre später stattfinden sollte, zeichnet sich bereits hier Metternichs Befürwortung der „alten Ordnung“ ab. In einem Brief an den bayerischen Diplomaten Carl Philipp Fürst von Wrede bewertet Metternich 1831 alle Gegner der „alten Ordnung“ und Befürworter einer Revolution als diejenigen, die „sich in liberalen Hirngespinsten verlieren“.38 Ihnen gegenüber stehen mit Metternich die „Vernünftigen, d. h. diejenigen, die nicht mit Blindheit geschlagen sind“39, deren Aufgabe es sei „das bestehende, rechtskräftige und monarchische Prinzip […] gegen das Prinzip der Volks-Souverainetät zu vertheidigen“.40 Er konstruiert eine Differenz zwischen dem Volk und den legitim „Obenstehenden“, d.h. den durch Geburt Privilegierten. Jedoch ist Metternich durchaus die politische Heterogenität des (regierenden) Adels bewusst: Glauben Sie mir, lieber Fürst, daß wir den Stand der Dinge in Deutschland wie im übrigen Europa sehr genau kennen und uns über selben weder in der schwarzen noch in der lichten Nuance keinen Illusionen hingeben. Das, was wir nicht kennen, sind die Ansichten mehrerer Fürsten, ihre Entschlossenheit im Handeln und manche ihnen und ihren treuen Rathgebern beßer als uns bekannten Mittel, welche ihnen noch zu Gebote stehen. Alles dieses wird in dem IdeenAustausche, den wir herbeizuführen wünschen, bald deutlich werden, und so allein kann die Grundlage der möglichen, aber auch unumgänglichen nöthigen Hülfe gelegt werden.41

Auch wenn Metternich am monarchischen Prinzip festhält und für eine Restauration der „alten Ordnung“ steht, nimmt er den Adel seiner Gegenwart, zumal den regierenden, nicht unkritisch wahr. Es ist vor allem seine Skepsis gegenüber „mehreren Fürsten“, deren Interessen und Absichten Metternich nicht einzuschätzen weiß. Dieser Auszug eines Briefs an Wrede konturiert die Deutung einer Zeit zwischen Tradition und Moderne, des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs, und bezeugt auch Metternichs Wahrnehmung eines neuen Bewusstseins von Individualität. In einem geheimen Brief an Wrede erläuterte Metternich: [Es] bedarf vor allem eines wahrhaft aufrichtigen Verständnisses unter denen, die allein noch Hilfe bieten können. Diese sind die Obenstehenden. Alles Übel ist von oben ausgegangen; von

37 Brief Metternichs an Gentz, Berlin, 21. Januar 1806, in: Friedrich Carl Wittichen/Ernst Salzer (Hrsg.), Briefe von und an Friedrich von Gentz, Hildesheim u.a. 2002, Bd. XI.3, S. 44. 38 Brief Metternichs an Wrede, Wien, 10. Oktober 1831, zit. nach Viktor Bibl, Metternich in neuer Beleuchtung. Sein geheimer Briefwechsel mit dem bayerischen Staatsminister Wrede, Wien 1928, S. 248. 39 Brief Metternichs an Wrede, Wien, 10. Oktober 1831, zit. nach Bibl (wie Anm. 38), S. 248. 40 Brief Metternichs an Wrede, Wien, 10. Oktober 1831, zit. nach Bibl (wie Anm. 38), S. 249. 41 Geheimes Schreiben Metternichs an Fürst Wrede, Schönbrunn, 24. Oktober 1831, zit. nach Bibl (wie Anm. 38), S. 255.

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dort her kann demnach die Hilfe allein noch kommen. Die wahre Lage der Dinge ist eigentlich die folgende: schwache oder schief sehende Fürsten; eine ganz verdorbene Beamten- und MittelClasse; gute Völker. Es genügt dieser Wahrheit, um zu erkennen, daß die Kur nicht auf die Völker angewendet werden muß. Bei ihnen ist nichts zu heilen, denn Sie sind nur gedrückt durch diejenigen, welche zwischen ihnen und den Fürsten stehen. Jedes Volk hat vor allem das Bedürfniß regiert zu werden; dieß fühlen sie und sie sind demnach stets bereit sich gut, und faute de mieux, sich sogar schlecht regieren zu lassen. Das Einzige, wozu die Massen nie bereit sind, ist, Niemand an ihrer Spitze zu wissen. Nun haben viele Fürsten das Regieren ganz aufgegeben, und an ihrer Stelle hat sich die Mittel-Classe eingeschlichen. In diesem kurzen Abrisse steht das Bild der heutigen Welt!42

Metternich teilt die Gesellschaft in drei maßgebliche Akteure: den Adel respektive die Fürsten, eine „Beamten- und Mittel-Classe“ sowie die Völker. Seine Kritik gilt in erster Linie der „Beamten- und Mittel-Classe“, die hier als entstehendes Bürgertum interpretiert werden darf, sowie den Fürsten. Er postuliert eine Art Regierungsbedürfnis seitens der Völker, das nur durch den Adel erfüllt werden könne. Dieser habe mit Metternich jedoch „das Regieren ganz aufgegeben“, was zu einem Erstarken des Bürgertums beigetragen habe. Folglich will er, dass sich der Adel seiner ursprünglichen Aufgaben wieder bewusst wird. In seiner Wahrheit muss die Hilfe – die Rückkehr zu den alten Verhältnissen – durch die geläuterten „Obenstehenden“ erfolgen. Nur durch den Adel kann mit Metternich das Regierungsbedürfnis der Völker erfüllt werden. Ebenfalls besorgt erscheint Wilhelm von Humboldt, der aus der Perspektive eines nobilitierten preußischen Gelehrten die Ereignisse in Wien in einem Brief an seine Frau Karoline vom 20. August 1814 festhält und ebenso wie Metternich den gesellschaftlichen Umbruch seiner Zeit erkannte: Nur sehr wenige, und am seltensten die, welche an der Staatsverwaltung teilnehmen, fühlen recht lebendig, wie notwendig es ist, eine so enge Verbindung als möglich zwischen dem Volk und den höheren Ständen anzuknüpfen, wie aber in dieser Verbindung gerade jeder in seiner eigentümlichen Lage bleiben und sie keine Verwechslung der Stellung sein muss. [...] Die niederen Stände bedürfen zu ihrer Bildung der höheren viel weniger, sie sind eigentlich selbstständig [...]. In die höheren Stände bringt man aber das Volksmäßige nicht, wenn man nicht den Volksunterricht so anordnet, daß er eine allgemeine Grundlage wird […].43

Auch Humboldt nahm die gesellschaftliche Hierarchie nach Ständen gegliedert wahr und betonte die Diskrepanz „zwischen dem Volk und den höheren Ständen“. Doch anders als Metternich plädierte er nicht für einen Adel, der von oben Macht über das Volk ausüben und über dieses regieren solle, sondern für eine „enge Verbindung“ der Stände und für das Einbringen des „Volksmäßige[n]“ in den Stand des Adels. Dieser Auszug nimmt bereits Bezug auf Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie einer ganz42 Geheimes Schreiben Metternichs an Fürst Wrede, Schönbrunn, 24. Oktober 1831, zit. nach Bibl (wie Anm. 38), S. 256f. 43 Brief Humboldts an seine Frau Karoline, Wien, 20. August 1814, zit. nach Sydow (wie Anm. 2), S. 380.



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heitlichen Bildung, die über den „Volksunterricht“ erzielt werden solle. Der Begriff des Volksunterrichts impliziert den Reformcharakter des Humboldtschen Bildungsideals, der Bildung des Volkes und damit der niederen Stände. Er betont jedoch auch, dass „keine Verwechslung der Stellung sein muss“ und spricht sich damit nicht für eine Durchmischung der Stände aus. Deutlich wird dieser zuletzt genannte Aspekt an einer anderen Stelle des Briefs, wo es heißt: Aber da man nie den Menschen abrichten darf, und ein bloß abgerichteter auch immer ein unnützer und gefährlicher wäre, sondern immer bilden muß, so muß auch zwischen diesen beiden Ständen der Weg derselbe sein, und nur ein Punkt eintreten, wo die einen stehen bleiben, die anderen weitergehen.44

Humboldt sieht die Bildung aller Stände als Voraussetzung für das Hervorbringen mündiger Individuen. Er macht jedoch deutlich, dass es ihm lediglich um eine ganzheitliche Grundbildung gehe und dass eine höhere Bildung nur Wenigen vorbehalten sei. Seinen Reformideen und dem Plädoyer für eine Grundbildung vorausgehend, knüpft Humboldt zunächst an alte Traditionen an: die hierarchisch aufgebauten gesellschaftlichen Strukturen und die dem Adel vorbehaltene höhere Bildung führten vor dem 19. Jahrhundert zur Verknappung der sprechenden Subjekte – der niederen Stände – in den Diskursen um Bildung und Selbstverwirklichung. Die Ausgrenzung dieser Akteure aus den Diskursen durch deren fehlende Qualifikation45 ist ein Moment, welches Humboldt in seiner Gegenwart wahrgenommen hat und zu verändern suchte. Er sieht in der Unwissenheit des Volkes eine Gefahr, die als Gefahr revolutionärer Bestrebungen gedeutet werden kann. Seinem Credo einer ganzheitlichen Bildung und einer Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse entgegen steht Metternichs ablehnende Haltung gegenüber einem bürgerlich geprägten Bildungsstand und einer Verwissenschaftlichung der Gesellschaft: Daß [...] die Revolution auf den Universitäten erzeugt werden dürfte, habe ich nie gefürchtet; daß sich aber auf selben eine ganze Generation von Revolutionärs bilden müsse, – wenn dem Übel nicht Schranken gesetzt würden, – scheint mir sicher. Ich hoffe, daß dem Universitätsübel in seinen ärgsten Symptomen vorgebeugt werden wird, und hierzu werden vielleicht weniger die Maßregeln der Regierungen ausgiebig beitragen, als die Ermüdung der Studenten, die Verblödung der Professoren und die verschiedene Richtung, welche das Studium annehmen wird, und dies zwar aus eigener Quelle. Dieses Gefühl wird mich jedoch nie in meinem Vorschreiten von oben herab aufhalten, und die einzigen, mir möglich scheinenden Maßregeln hierzu sind ergriffen.46

44 Brief Humboldts an seine Frau Karoline, Wien, 20. August 1814, zit. nach Sydow (wie Anm. 2), S. 381. 45 Foucault, Die Ordnung des Diskurses (wie Anm. 18), S. 26–29. 46 Brief Metternichs an Gentz. Perugia, 17. Juni 1819, in: Wittichen/Salzer (Hrsg.), Briefe von und an Friedrich von Gentz (wie Anm. 37), S. 465.

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Metternich akzentuiert seine Antipathie gegenüber neu entstandenen Universitäten, prophezeit jedoch gleichzeitig deren Ende „aus eigener Quelle“ durch „Ermüdung der Studenten“ und die „Verblödung der Professoren“. Ketten von Isotopien wie „Universitätsunfug“, „Universitätsübel“, „Studentenschwindel“, „Puppenspiel“ oder „Revolutionärs“47 unterstreichen Metternichs Intention, das Universitäre als Denkund Handlungsfeld des Bürgerlichen zu degradieren und „von oben herab“ aufzuhalten. Humboldt hingegen sucht Verbindungslinien zwischen der Bildung und dem Adel und sieht „Bildung als allgemeine Grundlage für alle Stände; darauf aufbauende höhere Bildung [jedoch] nur für die Geringsten und Vornehmsten“.48 Während Humboldt eine engere Verbindung zwischen den Ständen durch ganzheitliche Bildung erhofft, die Position der „Geringsten“ allerdings nicht anfechtet, machen die Äußerungen Metternichs dessen Bemühen um Restauration des monarchischen Prinzips nach „alte[r] Ordnung“ deutlich. Was den Aspekt der internen Geschlossenheit des Adels angeht, plädiert Metternich in mehreren Briefen aus dem Jahr 1831 für gegenseitiges Vertrauen zwischen den deutschen Höfen und für einen wechselseitigen Austausch. Unerlässlich scheint ihm „eine vollkommen geheime, freimüthige und formlose Rücksprache zwischen den einflussreichsten deutschen Höfen [...]“49, um eine Wiederherstellung der alten Zustände zu erzielen. Dieses Prinzip der Geschlossenheit versuchte Metternich auch auf dem Wiener Kongress durchzusetzen. Sehnsuchtsort war als Kontrastbild zur wahrgenommenen Wirklichkeit ein Zustand der Ruhe: Das erste Ziel der Bemühungen unserer Regierung […] ist die Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung, die das glückliche Ergebnis dieser Wiederherstellung ist; eines Zustandes der Ruhe […].50

Humboldt erkannte bereits im Vorfeld des Kongresses, im Oktober 1813, Metternichs Drang nach Ruhe und Geschlossenheit in einer zunehmend unruhigen und sich öffnenden Welt, bemerkte aber auch, dass Preußen dadurch von den Diskussionen ausgeschlossen werde: So sehr gute Seiten Metternich hat, so ist es schlimm, daß er gewissermaßen die Diskussion scheut, und da er sie mehr von uns fürchtet und erwartet als von Nesselrode51, mit dem er sehr

47 Brief Metternichs an Gentz. Perugia, 17. Juni 1819, S. 465; Brief Metternichs an Fürst Wittgenstein, Aachen, 14. November 1818, zit. nach Richard Metternich-Winneburg (Hrsg.), Aus Metternich’s nachgelassenen Papieren, Wien 1881, Bd. 3, S. 180. 48 Brief Humboldts an seine Frau Karoline. Wien, 20. August 1814, zit. nach Sydow (wie Anm. 2), Bd. 4, S. 381. 49 Geheimes Schreiben Metternichs an Fürst Wrede, Schönbrunn, 24. Oktober 1831, zit. nach Bibl (wie Anm. 38), S. 254. 50 Brief Metternichs an Baron von Binder, 09. September 1826, in: Günter Schönbrunn/Wolfgang Lautemann, Geschichte in Quellen: Das bürgerliche Zeitalter, München 1980, Bd. 5, S. 36. 51 Gemeint ist hier Karl Robert von Nesselrode, russischer Diplomat und Leiter der russischen Delegation während des Wiener Kongresses.



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leicht fertig wird, so ist oft zwischen Rußland und Österreich die Initiative genommen, ehe Preußen mitreden kann, das überhaupt nicht eines dem überwiegenden Verdienste, das es für die gemeinschaftliche Sache hat, angemessenen politischen Einflusses genießt. Ob ich gleich weder vom Kanzler noch von Metternich von nichts ausgeschlossen werde, so kann ich das doch nur wenig ändern. Es liegt leider in tieferen und höheren Ursachen, die fast oder unmöglich zu heben sind.52

Dieser Auszug aus einem Brief an seine Frau Karoline offenbart Humboldts Wahrnehmung der Machtstrukturen im Europa des frühen 19. Jahrhunderts. Dass Metternich die Diskussion mit Humboldt als Gesandtem Preußens meidet, nimmt Humboldt als Scheu wahr. Eine Prozedur der Aussschließung ist wirksam. Der Diskurs um die Neuordnung Europas wird von Metternich so organisiert und kanalisiert, dass Aushandlungsprozesse vorerst nur zwischen Russland und Österreich stattfinden konnten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Preußen keinen Akteur mehr in diesem Diskurs darstellen sollte. Es bedeutet vielmehr eine Ausschließung der ‚sprechenden‘ Subjekte aus dem Diskurs.53 In einem Brief schreibt Humboldt seiner Frau, dass Metternich all ihre Briefe lese, um über ihn und damit über die preußischen Positionen informiert zu sein.54 Durch diese Prozedur versucht Metternich, sich der Macht des Diskurses zu bedienen, um diesen als Akteur bestimmen zu können. Dass Metternich gerade im Kontext des Wiener Kongresses versuchte, Macht an sich zu reißen, bemerkte auch sein Zeitgenosse Wilhelm von Humboldt, der insgesamt ein sehr ambivalentes Verhältnis zu Metternich beschreibt.55 Aus der Retrospektive, im Januar 1816, schreibt Humboldt, dass Metternich „der närrischte Mensch von der Welt“ sei. „Du weißt, daß er gar nicht sonderlich gut seit dem Prager Kongreß mit mir war, und plötzlich schreibt er mir ohne alle Veranlassung einen freundlichen Brief von vier Seiten“.56 Auch wenn Humboldt davon überzeugt ist, dass Metternich ihn „doch [...] am liebsten [...] als Gesandten behalten hätte“57, so kritisiert er dennoch stark dessen „absolute Gemütlosigkeit, die auch nicht des Hasses fähig ist. Denn ich weiß, daß es ihm ordentlich zur Gewohnheit geworden ist, alles, war ihm in Geschäften übel geht, auf

52 Brief Humboldts an seine Frau Karoline, Teplitz, 02. Oktober 1813, zit. nach Sydow (wie Anm. 2), Bd. 4, S. 128f. 53 Brief Humboldts an seine Frau Karoline, Freiburg, 12. Januar 1814, zit. nach Sydow (wie Anm. 2), Bd. 4, S. 220f. 54 Brief Humboldts an seine Frau Karoline, Freiburg, 12. Januar 1814, zit. nach Sydow (wie Anm. 2), S. 219f. 55 In den Briefen zwischen Wilhelm von Humboldt und seiner Frau findet Metternich oftmals Erwähnung. Hingegen erfährt man in den Briefen Metternichs wenig über Humboldt. 56 Brief Humboldts an seine Frau Karoline. Freiburg, 26. Januar 1816, zit. nach Sydow (wie Anm. 2), Bd. 5, S. 178f. 57 Brief Humboldts an seine Frau Karoline. Freiburg, 12. März 1816, zit. nach Sydow (wie Anm. 2), Bd. 5, S. 205.

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mich zu schieben und immer auf mich zu schimpfen“.58 Humboldt war sich seiner Ausschließung aus bestimmten Diskursen während des Wiener Kongresses bewusst. Besonders in der ersten Jahreshälfte des Jahres 1815, also gen Abschluss des Kongresses, äußert Humboldt seine Unzufriedenheit mit Metternich, der Geschlossenheit und Elitarismus nicht nur postulierte, sondern auch lebte: Bei einer großen Sitzung von 20 Abgeordneten neulich [...] ging es so weit, daß man sich als Deutscher schämen mußte. Er hatte die Arbeit des Schweizer Komitees fünf Wochen für sich behalten, brachte sie nun, [...] mit plötzlichen und bedeutenden Abänderungen [...] vor und konnte schlechterdings nicht einmal Rede und Antwort geben, worin die Änderungen beständen [...]. Man hat keinen Begriff davon, welchen Effekt solche Dinge machen.59

Humboldt kritisiert den Repräsentationsanspruch Metternichs unverhohlen: Metternich allein merkt davon nichts oder will es nicht. Allein wirklich verläßt ihn die Verblendung nicht, und ich bin fest überzeugt, daß er sich für den Geschicktesten und Gewandtesten, ja für den einzigen, mit dem keiner verglichen werden kann, hält.60

Dem „Kutscher Europas“ gelang es auf dem Wiener Kongress, den Diskurs um die Neuordnung Europas zu seinen Gunsten und Interessen zu kontrollieren, zu organisieren und zu kanalisieren. Als machthabender Akteur konnte er die Zukunft Europas auf der Bühne des Wiener Kongresses maßgeblich gestalten und lenken. Dies gelang ihm nicht zuletzt durch sein Verfügen über soziales, kulturelles und symbolisches Kapital und durch das Mobilisieren eines Netzes von Beziehungen zu anderen Akteuren.61 Humboldt, der als Repräsentant Preußens einen wichtigen Akteur auf dem Wiener Kongress darstellte, äußerte sich gegenüber seiner Frau in Hinblick auf Metternichs Regieführung und die Aushandlungsprozesse zwischen den Akteuren ablehnend und mit großer Skepsis: […] der Kongress nachher, und die Ursache des einen oder anderen Verderbens war, daß das, was der Krieg schön und groß gemacht hatte, einzeln da stand, daß es sich nicht eigentlich durch alle Klassen und Stände […] gleich verbreitete; […]. Jetzt […] ist überall Mißverständnis.62 58 Brief Humboldts an seine Frau Karoline. Wien, 12. Februar 1815, zit. nach Sydow (wie Anm. 2), S. 472. 59 Brief Humboldts an seine Frau Karoline. Wien, 12. Februar 1815, zit. nach Sydow (wie Anm. 2), S. 471f. 60 Brief Humboldts an seine Frau Karoline. Wien, 12. Februar 1815, zit. nach Sydow (wie Anm. 2), S. 472. 61 „Der Umfang des Sozialkapitals, das der einzelne besitzt, hängt demnach sowohl von der Ausdehnung des Netzes von Beziehungen ab, die er tatsächlich mobilisieren kann, als auch von dem Umfang des (ökonomischen, kulturellen oder symbolischen) Kapitals, das diejenigen besitzen, mit denen er in Beziehung steht“. Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital, in: Pierre Bourdieu, Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg 1997, S. 64. 62 Brief Humboldts an seine Frau Karoline, Wien, 09. Juni. 1815, zit. nach Theodor Kappstein (Hrsg.), Wilhelm von Humboldt im Verkehr mit seinen Freunden, Berlin 1999, S. 303.



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Mit ihm habe der Kongress das Nationale, „was der Krieg schön und groß gemacht hatte“, nicht verbreiten können und habe stattdessen vermehrt für Missverständnisse zwischen den einzelnen Akteuren gesorgt, obwohl diese allesamt aus den höheren Ständen kommen. Im April 1815, zwei Monate vor Ende des Wiener Kongresses, bewertete Humboldt diesen wie folgt: „Es ist eines der Unglücke, die der Kongreß über mich bringt, der mir in jeder Hinsicht ungünstig ist, und vor dem ich mich auch recht instinktmäßig geekelt habe“.63 Die Differenzen, die unterschiedlichen Ansichten und Interessen zwischen Metternich und Humboldt – zwischen Adel und Adel – werden nicht nur anhand unterschiedlicher Wahrnehmungen der politischen und gesellschaftlichen Ordnung und unterschiedlicher Bildungsideale deutlich, sondern auch mit Blick auf adelige Repräsentation und das Selbstverständnis adeliger Akteure: Wenn es auf materielle Hülfe ankommt, um der Fürsten unveräußerliches Recht, das Recht des Bundes, das monarchische Legitimitätsprinzip zu sichern, so stehen uns, und so Gott will, noch manch’ andere solche Mittel noch zu Gebote.64

Diese Zeilen aus einem geheimen Brief Metternichs an Fürst Wrede geben Einblick in das Selbstverständnis und die Wahrnehmung eines Repräsentanten des Hochadels. Mit dem österreichischen Staatsmann sei es das Recht der Fürsten, durch materielle Hilfe „das monarchische Legitimitätsprinzip“ zu sichern. Dieses wiederum ist mit Metternich von Gott gegeben und bedarf keiner weiteren Rechtfertigkeit. Den Habitus des Hochadels, der mit seinem ökonomischen, sozialen, kulturellen und symbolischen Kapital in Wechselbeziehung steht, gilt es mit allen Mitteln wie auch mit „materieller Hülfe“ zu verteidigen. Indes äußert sich Humboldt zu Beginn des Wiener Kongresses in Hinblick auf die adelige Gesellschaft ablehnend und distanziert sich in einem Brief an seine Frau von dieser: Die Gesellschaft ist nichtiger, leerer und einförmiger als je. Der ewige Zwist der beiden nordischen Damen65, bei deren einer sich drei Prätendenten in das Reich teilen, und der nicht zu entwirrende Klatsch, der damit zusammenhängt, ist der große und würdige Gegenstand, um den sich alle Gedanken und Unterredungen herumdrehen. [...] Unter allen diesen Umständen glaubst du nicht, wie sehr es mich freut, daß ich nur noch kurz in diesen Verhältnissen bleibe.66

63 Brief Humboldts an seine Frau Karoline. Wien, 18. April 1815, zit. nach Kappstein (wie Anm. 62), S. 291. 64 Geheimes Schreiben Metternichs an Fürst Wrede. Schönbrunn, 24. Oktober 1831, zit. nach Bibl (wie Anm. 38), S. 255. 65 Die Herausgeberin nennt hier in einer Fußnote die Herzogin von Sagan und Fürstin Bagration. Vgl. Brief Humboldts an seine Frau Karoline, Wien, 10. August 1814, zit. nach Sydow (wie Anm. 2), Bd. 4, S. 375. 66 Brief Humboldts an seine Frau Karoline, Wien, 10. August 1814, zit. nach Sydow (wie Anm. 2), S. 375.

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Konkreter wird Humboldt in einem Brief vom November 1814, in dem es heißt: „Es war gestern abend ein großer Maskenball bei Metternich, der sehr schön gewesen sein soll. […] Diese Gesellschaften sind mir in den Tod verhaßt, und man hat jetzt wichtigere Dinge zu tun“.67 Auch wenn Humboldt ebenso wie alle anderen Delegierten des Wiener Kongresses über ähnlich ausgeprägtes ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital verfügte, konnte er sich nicht mit „diesen Gesellschaften“ identifizieren und nahm diese als etwas ‚anderes‘ wahr. Jene adeligen Gesellschaften intendierten durch Feste und Rituale respektive durch Repräsentation ihr Prestige und ihr Ansehen im sozialen Raum zu steigern. Der Wiener Kongress bot vielen Akteuren einen Rahmen, diese Absichten zu verwirklichen. Wilhelm von Humboldt stellte jedoch „wichtigere Dinge“ über die Anliegen der Gesellschaften und meinte damit in erster Linie das Politische. Dass die Entscheidungen über diese politischen Dinge für Humboldt nach Beendigung des Kongresses enttäuschend ausfallen sollten, zeigt ein Auszug aus einem Brief von 1816: Ich halte auf den Adel politisch gar nicht viel [...], allein gesellschaftlich behaupte ich ewig fort, daß, wer nicht adelig geboren ist, beim größten Talent, entschlossensten und liebenswürdigsten Charakter immer in gewissen Gelegenheiten gewisse Inkonvenients behält, und daß seine Klugheit, die meist Einfachheit sein kann, nur darin bestehen kann, diese Gelegenheit zu vermeiden.68

Ebenso wie die zuvor aufgeführten Auszüge aus Briefen Humboldts, verdeutlicht auch dieses Zitat eine gewisse Kontinuität in Bezug auf dessen Ansichten: Für Humboldt stand das kulturelle Kapital, die Bildung des Individuums, an vorderster Stelle und weniger das Prestige des Adeligen. Humboldt kritisierte den Adel und dessen Repräsentation und äußerte diese Kritik in Briefen an seine Frau, die anscheinend von Metternich gelesen wurden. Metternich kritisierte zwar auch den Adel in einem geheimen Brief an Fürst Wrede, postulierte aber, dass nur dieser – in geläuterter Form – die Zukunft gestalten könne. Seine Hauptkritik galt denjenigen, welche zwischen dem Volk und den Fürsten standen – dem bürgerlichen Beamtentum. Als Verfechter der alten Ordnung und des monarchischen Prinzips plädierte Fürst von Metternich für eine gewisse Kontinuität in Bezug auf eine gesellschaftliche Ordnung. Auch Wilhelm von Humboldt sprach sich für eine Beibehaltung der vorhandenen Ordnung aus – die gesellschaftlichen Stände dürften nicht ‚verwechselt‘ werden. Allerdings ging Humboldt einen Schritt weiter und hoffte auf eine engere Verbindung der unterschiedlichen Stände. Die Analyse der Briefe ergab, dass sich fast schon ähnliche Einstellungen der beiden doch scheinbar so unterschiedlichen adeligen Akteure abzeichnen. Konkret wird die Verteidigung der alten Ordnung anhand Metternichs Äußerung zum 67 Brief Humboldts an seine Frau Karoline, Wien, 09. November 1814, zit. nach Sydow (wie Anm. 2), Bd. 4, S. 411. 68 Brief Humboldts an seine Frau Karoline. Frankfurt, 10. Mai 1816, zit. nach Sydow (wie Anm. 2), Bd. 5, S. 243.



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Wiener Kongress. Die ‚Wiederherstellung‘ und die Bewahrung der Ruhe sind für ihn wichtige Prinzipien, die es zu erreichen gilt. Gerade der geheime Brief an Wrede ist für die Untersuchung der Wahrnehmungen adeliger Akteure in seinem Quellenwert hervorzuheben, da dieser zeigt, dass auch Metternich als Repräsentant des Hochadels und des österreichischen Staates gegenüber dem Adel nicht unkritisch blieb. Es ist allerdings zu bemerken, dass diese Aussagen von einer Person wie Metternich in einem öffentlichen Diskurs in seinem damaligen Umfeld nicht sagbar waren und lediglich den engsten Vertrauten und geheim geäußert wurden. Im öffentlichen Diskurs verteidigte er ausnahmslos die alte Ordnung und die Position des Adels. Bezieht man diese Feststellungen auf die eingangs geschilderten Ausführungen zu Mentalitäten, dem Weltbild und den Diskursen, erschließt sich die Entstehung von Hybriden im Zuge der „Sattelzeit“, einer Zeit der Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Hybridität tritt in Situationen kultureller Überschneidung auf und setzt neue Handlungs- und Denkmuster zusammen. Der Literaturtheoretiker Homi Bhabha, der als erster den Begriff der Hybridität benutzte, entwickelte in seinem Werk Die Verortung der Kultur69 die Denkfigur eines dritten Raums, einer Semantik, die das Politische als Vermittlung betrachtet und von einer Differenz zwischen zwei Polen ausgeht. Zwar sind diese Semantiken konzeptionell aufeinander bezogen, allerdings vermischen sie sich nicht zu einer neuen Entität. Die Quellenanalysen lassen an verschiedenen Stellen diese Hybride erkennen: So erschließt sich ein entschieden heterogenes Ensemble, eine Pluralität sagbarer Elemente im Netz der Aushandlungsprozesse. Beide – alter und nobilitierter Adel – transformieren ihre Identitäten und begeben sich in der Gestaltung eines neuen Europas auf fremdes Terrain. Es etablieren sich hybride Netzwerke, in welchen sich nicht nur neue Relationen gestalten, sondern in denen fortwährende Aushandlungen Wissen und Wahrheiten produzieren. So möchte Metternich als Repräsentant des alten Adels das von Gott gegebene Recht auf Fortbestand der alten Ordnung und der Machtausübung des Adels von oben herab geltend machen. Durch Restauration der vornapoleonischen politischen Verhältnisse, die mit einer Reform, einer Renaturierung des Adels einhergeht, möchte er dieses Recht festigen. Eine vollständige Rekonstruktion der alten Ordnung ist nach der Französischen Revolution, den napoleonischen Kriegen und im Zuge einer fortschreitenden gesellschaftlichen Modernisierung kaum möglich. So möchte Humboldt als Nobilitierter und Repräsentant Preußens auf dem Wiener Kongress einem neuen Bildungsideal folgen, welches eine engere Verbindung zwischen den Ständen intendiert. Er bedauert, dass die Verhandlungen nur in elitären, adeligen Kreisen stattfinden und sich daraus nur Missverständnisse ergeben. Es tut sich ein neuer Denk- und Handlungsraum auf, der als hybride bezeichnet werden kann, ebenso wie die in diesem Raum agierenden Akteure, befinden sich Metternich und Humboldt doch in einer Ambivalenz zwischen Verteidigung des ständischen Systems und Kritik an diesem. In den

69 Vgl. Homi Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000.

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diskursiven Verflechtungen und Netzen treffen unterschiedliche Semantiken ‚des‘ Adels aufeinander, die wiederum neue Semantiken hervorbringen. Sowohl der Bildungsreformer Humboldt als auch der vermeintlich konservative Politiker Metternich sind letzthin im Kontext der Debatten um eine Reform des Adels, mithin die Schaffung eines „Neuadels“, einzuordnen70: Sie sehen eine Zukunft nur durch eine „moralische Reformazion“ des Adels,71 der sich seiner Führungsaufgaben wieder würdig erweist. Beide gehen demnach von gleichen Prämissen aus. Ihre sprachlichen Äußerungen und daraus resultierend auch ihr Handeln, werden zu Gunsten eines reformierten, nach neuer Identität bedürftigen Adels konstruiert, der seine Führungskraft vor allem gegenüber dem bürgerlichen Beamtentum neu behaupten muss. Mit Bourdieu wird die gesellschaftliche Welt vornehmlich als symbolische Welt wahrgenommen, in welcher über die Verfügung von symbolischer Macht gekämpft wird. Die Aussage eines Textes oder Bildes geht also immer mit dem Anspruch auf diese symbolische Autorität einher.72 Es ist demnach nicht allein der Text, sondern ein Diskurs um ihn herum, der im Interesse einer Wahrnehmungsgeschichte stehen sollte. Der Diskurs um die Identität des Adels wird nicht allein hinter verschlossenen Türen geführt, sondern ebenso im „sprachlich konstituierten öffentlichen Raum“, auf Maskenbällen, auf Bühnen und in Foren.73 Die praktischen Handlungen zur Repräsentation des Adels, die Gründung einer Universität in Berlin durch Humboldt oder die Beschlüsse der Acte final auf dem Wiener Kongress sind Elemente eines heterogenen Ensembles, eines Dispositivs, das davon ausgeht, dass die Gegenstände erst durch den Diskurs hergestellt „– d.h.: >wirk-lich< im Sinne von >(für) wahr-nehmbar< gemacht – werden“.74 Das Dispositiv ist die Gesamtheit von Praktiken und Mechanismen sprachlicher wie nicht-sprachlicher Art.75 Es sind gerade die Diskontinuitäten, die Hybriditäten und wechselseitigen Interferenzen mehrerer in sich verwobener Diskurse und Dispositive und die Fragen nach ihnen, die die Arbeit des Historikers so interessant und auch erforderlich machen. Dieser kurzen Studie ging es um Gegenwartswahrnehmungen zweier adeliger 70 Reif, Adelserneuerung (wie Anm. 24); Heinz Reif, Adelskritik und Adelsreform in Deutschland 1770–1848, in: Mieczyslaw Jaroszewicz/Wlodzimierz Stepinski (Hrsg.), Szlachta, spoleczenstwo, panstwo miedzy Warmia a Rugia w XVIII–XX wieku, Szczecin 1998, S. 13–21; Alexandra Gerstner, Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008. 71 Zit. nach Reif, Adelserneuerung (wie Anm. 24), S. 208. 72 Pierre Bourdieu, Soziologische Fragen, Frankfurt am Main S. 51f. Vgl. Landwehr, Geschichte des Sagbaren (wie Anm. 9), S. 94f. 73 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt am Main 1992, S. 437. 74 Andrea Bührmann/Werner Schneider, Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008, S. 84f. 75 Vgl. Giorgio Agamben, Was ist ein Dispositiv? Berlin/Zürich 2008, S. 17.



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Akteure. Es existieren vor allem hinsichtlich der Interferenzen von nobilitiertem, niederem Alt- und Hochadel, von Protestantismus und Katholizismus sowie von lokalem, gesamtstaatlichem und transnationalem Auftreten – also von Mikro- und Makroanalyse – noch offene Fragen. Durch die Auflösung von Dichotomien im Zuge eines sogenannten Epochenumbruchs hin zum „langen 19. Jahrhundert“ entwickelten sich innerhalb des Adels differenziertere Sichtweisen hinsichtlich des Eigenen und des Fremden. Abschließend kann festgehalten werden, dass zwei Akteure des Adels wie Klemens Fürst von Metternich und Wilhelm von Humboldt ihre Gegenwart nicht nur als adeliges Sein, sondern auch als adeliges Werden und Neupositionieren im Diskurs um adelige Identität wahrgenommen haben. Mit einem Appell an die Wissenschaften und dem Wunsch nach weiteren Forschungen über ‚den‘ Adel zu Beginn des 19. Jahrhunderts möchte dieser kurze Beitrag schließen.

Tina Eberlein

Adel und Industriekapitalismus Das Beispiel katholischer Unternehmer im 19. Jahrhundert

I Einleitung Trotz des Booms der neuzeitlichen Adelshistoriografie ist die Geschichte adeliger Industrieller bisher lediglich rudimentär erforscht.1 Es erscheint naheliegend, dass die Industrie als neues, „bürgerliches“ Tätigkeitsfeld für den Großteil des Adels nicht in Frage kam. Zu stark war er historisch mit der Agrargesellschaft verwachsen. Als umso bemerkenswerter muss daher das Wirken adeliger Industrieunternehmer im „bürgerlichen Zeitalter“ gelten, wobei die wenigen Untersuchungen deren Bemühen um Distinktion ausdrücklich herausstellen: Adelige haben in der Summe zurückhaltender und weniger innovativ gewirtschaftet. Kennzeichnend sind eine ausgeprägte Schollenbindung, weniger Risikofreude, geringe Investitionsbereitschaft und eine ausgeprägte lebensweltliche Distanz.2 Völlig außen vor hat die Forschung bisher die konfessionellen Prägungen adeliger Industrieunternehmer gelassen. Die Frage, inwieweit die Religion als Wegbereiter spezifischer Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen auf dem Feld des Industriekapitalismus fungiert, hat die neuzeitliche Adelsliteratur bisher nicht gestellt. Das Spezifische des beispielsweise für das 19. Jahrhundert so wichtigen Katholizismus blieb unberücksichtigt. Hier versucht dieser Aufsatz anzusetzen und nimmt daher drei katholische und einen evangelischen Industrieunternehmer ins Blickfeld: Die vier Adeligen, Ignaz Graf von Landsberg-Velen und Gemen (1788–1863), Franz Graf von Ballestrem (1834– 1910), Hugo Graf Henckel von Donnersmarck (1811–1890) sowie dessen evangelischer Verwandter Guido Graf Henckel von Donnersmarck (1830–1916), wurden anhand verschiedener Kriterien ausgewählt. Zentral waren die Anbindung an die Religion, der Schwerpunkt des Wirtschaftens und eine ausreichende Literatur- und Quellenbasis. Ihr industrielles Wirken soll auf der Folie des komplexen Bourdieuschen Feldbegriffs3 1 Die Einschätzung des Forschungsstandes bei Manfred Rasch, Adelige als Unternehmer im bürgerlichen Zeitalter. Fragen nach Spezifika unternehmerischen Handelns, in: Ders. (Hrsg.), Adel als Unternehmer im bürgerlichen Zeitalter. Vorträge des wissenschaftlichen Kolloquiums der Vereinigten Westfälischen Adelsarchive e.V. vom 28. bis 30. Juli 2004 in Bad Driburg, Münster 2006, S. 13–48, hier S. 13. 2 Hartmut Berghoff, Adel und Industriekapitalismus im Deutschen Kaiserreich. Abstoßungskräfte und Annäherungstendenzen zweier Lebenswelten, in: Heinz Reif (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland, Bd. 1: Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 233– 271, hier S. 255. 3 Zur Operationalisierung der Bordieuschen Feldtheorie für die Adelsforschung demnächst ausführlich: Markus Raasch, Der Adel auf dem Feld der Politik. Das Beispiel der Zentrumspartei in der Bismarckära (1871–1890), [Düsseldorf 2014].



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und damit aus der Perspektive einer erweiterten Sozialgeschichte einer eingehenden Betrachtung unterzogen werden. So wird in drei Schritten vorzugehen sein: Zunächst stehen ihre Ausgangskapitalien für ein industrielles Engagement, mithin ihr Portfolio in ökonomischer, sozialer und kultureller Hinsicht, im Fokus. Dann sollen ihre mentalen Prägungen in Bezug auf industriekapitalistisches Handeln thematisiert werden. Schließlich geht es auf die Ebene der kulturellen Praxis: Wie sahen ihre unternehmerischen Strategien und Handlungen im Konkreten aus? Grundlage der Untersuchung sind neben der einschlägigen Literatur Nachlassmaterialen im Kontext des Vereins katholischer Edelleute4 sowie eine bisher nicht veröffentlichte Quellensammlung zu Franz Graf von Ballestrem mit Briefen, Aufzeichnungen und Redeprotokollen des Grafen, erstellt vom Leiter des Ballestrem‘schen Familienarchivs, Ernst Laslowski5. Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass sich dieser Beitrag seiner begrenzten Aussagekraft bewusst ist. Er muss beispielhaft bleiben und kann nur Ausgangspunkt für weitere Forschungen sein.

II Portfolio 1 Das ökonomische Kapital Das ökonomische Ausgangskapitel der vier untersuchten Adeligen muss als beachtlich gelten: Der Landbesitz galt traditionell als die Kapitalgrundlage des Adels. Trotz der zunehmend industrialisierten Welt verlor dieser auch im 19. Jahrhundert nicht an Bedeutung; vielmehr war dessen Sicherung entscheidend für die Selbstbehauptung des Adels im neuen Zeitalter.6 Alle hier untersuchten Familien verfügten über ausgedehnte Ländereien und ihr industrielles Engagement beruhte stets auf diesem Landbesitz. Auf ihrem Grund waren jeweils Bodenschätze wie Kohle und Erz gefunden worden. Diese nahmen die Familien zum Anlass, Gruben zur Ausbeutung zu errichten. Möglich wurde dies durch adelige Privilegien in Form von jeweils eigenen Bergregalitäten und besonderen Abbaurechten. Carl Wolfgang, der Vater von Franz von Ballestrem, erschloss beziehungsweise erwarb 33 Gruben.7 Zu den Gruben kamen die weiterverarbeitenden Betriebe; Eisenhütten waren hierbei besonders beliebt.

4 Hauptstaatsarchiv München, Familienarchiv Aretin, Peter Carl Freiherr von (HstaM FA Aretin, Peter Carl); Westfälisches Archivamt Münster, Archiv Herringhausen (WAA, Archiv Herrringhausen). 5 Ernst Laslowski (Hrsg.), Graf Franz von Ballestrem 1834–1910. Aus den Briefen, Tagebüchern und Reden zusammengestellt und mit einer Einleitung versehen von Ernst Laslowski, Eichstätt 1991. 6 Heinz Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999 (=Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 55), S. 9. 7 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 232.

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Lazarus III., dessen Enkel Hugo von Donnersmarck war, verfügte über die Eisenhütten Halemba, Przelaika und Piasetzna sowie die 1806 errichtete Antonienhütte.8 Die Familien Ballestrem und Donnermarck profitierten wesentlich vom wirtschaftlichen Aufschwung der oberschlesischen Montanindustrie. Denn diese Region stellte im 19. Jahrhundert das „unangefochtene Wachstumszentrum adeligen Reichtums“9 dar. Carl Wolfgang von Ballestrem (1801–1879) baute seine Kohlengruben, Erzbergwerke, Hüttenwerke und darüber hinaus reichenden kleineren Unternehmungen derart aus, dass Franz von Ballestrem in eine der reichsten Magnatenfamilien10 Oberschlesiens eingeboren wurde.11 Im Alter von 18 Jahren wurde er zum Alleinerben eines Imperiums. Ebenfalls erfolgreich, wenn auch weniger im industriellen Bereich, war die protestantische Linie Tarnowitz-Neudeck der Henckel von Donnersmarck. Denn Karl Lazarus (1813–1848) betrieb seine Gruben unregelmäßig, scheute Investitionen und hatte kaum Interesse an technischen Neuerungen. Große Teile seines Besitzes waren zudem verpachtet.12 Sein Reichtum – er machte Guido mit Übertragung der Besitzrechte im Jahr 1848 „zu einem der reichsten Männer Europas“13 – basierte auf der Land- und Forstwirtschaft, ergänzt durch Einnahmen aus der Verpachtung seiner Gruben und Hütten. Der katholische Teil der Donnersmarcks, die Beuthener Linie, war zu diesem Zeitpunkt bereits stärker in das industrielle Geschäft eingebunden; die Anfänge ihres Industriebesitzes lagen in der Zeit Friedrichs des Großen.14 Der Vater des hier untersuchten Hugo, Carl Joseph (1784–1813), verstarb früh; sein Sohn trat 1829, gerade volljährig, ein reiches Erbe in Form von Land- und Bergwerksbesitz an. Zu den Familien, welchen die Bewältigung der neuen Herausforderungen Anfang des 19. Jahrhunderts deutlich schwerer fiel, zählten die Landsbergs. Der Vater des jungen Ignaz erlag früh seinen Leiden. Frau wie Kindern hatte der Freiherr eine „große Ansammlung von Schulden bei verschiedenen Kreditoren“15 hinterlassen. Gründe hierfür sind nicht bekannt. Fünf Jahre nach dem Tod des Vaters verstarb auch die Mutter und Ignaz wurde alleiniger Erbe des unteilbaren Vermögens. Angesichts 8 Klemens Skibicki, Industrie im Fürstentum Pless im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2002 (= Regionale Industrialisierung, Bd. 2), S. 197; Konrad Fuchs, Guido Friedrich Graf Henckel v. Donnersmarck 1830–1916, in: Ulrich Haustein (Hrsg.), Ostmitteleuropa. Berichte und Forschungen, Stuttgart 1981, S. 237–251, hier S. 237. 9 Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert (wie Anm. 6), S. 12. 10 Zum Begriff: Skibicki, Industrie im Fürstentum Pless (wie Anm. 8), S. 22f. 11 Helmut Neubach, Franz Graf von Ballestrem. Ein Reichstagspräsident aus Oberschlesien, Dülmen 1984 (= Oberschlesische Schriftreihe, Heft 12), S. 5. 12 Skibicki, Industrie im Fürstentum Pless (wie Anm. 8), S. 210–212. 13 Jürgen Laubner, Bismarck-Freund und Kanzlervertrauter. Guido Henckel von Donnersmarck und die Politik, in: Jost Dülffer/Hans Hübner (Hrsg.), Otto von Bismarck. Person, Politik, Mythos, Berlin 1993, S. 159–174, hier S. 160. 14 Alfons Perlick, Oberschlesische Berg- und Hüttenleute. Lebensbilder aus dem oberschlesischen Industrierevier, Kitzingen am Main 1953, S. 40. 15 Gitta Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen 1788–1863. Ein adeliger Unternehmer im bürgerlichen Zeitalter, Münster u.a. 2009, S. 27.



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der hohen Belastungen verordneten die eingesetzten Vormünder einen rigorosen Sparkurs, weshalb die gesamte Studienzeit des jungen Freiherren von Geldsorgen geplagt war.16 Mit 21 Jahren übernahm er die Verwaltung der Liegenschaften sowie der industriellen Anlagen. Der Abbau der hierauf lastenden Schulden bestimmte die ersten Geschäftsjahre und war, wie eine Zahlung aus dem Nachlass der Mutter an seine Schwester belegt, auch im Jahr 1828 noch nicht völlig abgeschlossen.17

2 Das kulturelle Kapital Das kulturelle Ausgangskapital der vier Adeligen steht zwischen Fortschritt und Tradition: Im 19. Jahrhundert trat die Pädagogik ihren Siegeszug an und Überlegungen zur Kindheit und Erziehung nahmen immer mehr Raum ein. Auch Adelige machten sich vielfach Gedanken über Ziele und Wege ihrer Erziehung. Letzteres zeigt sich u.a. bei Paul Joseph von Landsberg-Velen, welcher die Erziehung seiner Kinder „eine meiner heiligsten Pflichten“18 nannte. Ähnliches kann für die Familie Ballestrem konstatiert werden, denn diese verwendete vor allem in der Person der Mutter sehr viel Energie auf Erziehungs- und Ausbildungsfragen. Der Tagesablauf folgte einem strengen Stundenplan, welchen die Mutter in einem Brief an ihren Mann detailliert erläutert. So beschäftigte sich der junge Graf im Alter von sieben Jahren am Vormittag mit einer Klavierstunde (10–11 Uhr) und Lektionen zum Katechismus. Am Nachmittag folgten Rechnen sowie lateinische und französische Ausarbeitungen. Der Stundenplan umfasste klassische Fächer; naturwissenschaftliche wie praktische Fähigkeiten und Fertigkeiten wurden in diesem Alter nicht gefördert.19 Ballestrem wie auch Landsberg machten Abitur und schlossen daran ein Studium an. Landsberg wählte Jura und entsprach damit den „traditionellen adeligen Amtspräferenzen“20. Ballestrem ging einen anderen Weg, denn er absolvierte ein bergwissenschaftliches Studium. Dieses kann – für den Adel durchaus untypisch – klar als Vorbereitung auf seine spätere Tätigkeit im elterlichen Unternehmen gesehen werden. Bei Landsberg schloss sich an das Studium 1809 eine einjährige Grand Tour an. Sie war ein traditionelles Element der Ausbildung männlicher Adeliger und trug in der Frühen Neuzeit wesentlich zu deren

16 Hofmeister Roers an einen unbekannten Empfänger in Wocklum, o.D., zit. nach Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 34. 17 Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 55. 18 Arbeitsvertrag zwischen Paul Joseph von Landsberg-Velen und dem Erzieher Bernard Gotfried Buren, 6. Januar 1793, zit. nach Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 22. 19 Gräfin Bertha von Ballestrem an ihren Mann Carl Wolfgang, 7. Juli 1842, zit. nach Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 6. 20 Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 28.

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Bildung, Welt- und Menschenkenntnis wie auch weltmännischem Auftreten bei. Im 19. Jahrhundert verlor sie jedoch zunehmend an Bedeutung.21 Der Aspekt der (katholischen) Religion spielte bei der Erziehung eine zentrale Rolle. Dies manifestiert sich beispielsweise in der Auswahl des Erziehers; dieser begleitete den jungen Ignaz ab dem siebten Lebensjahr. Denn der Caplan Niessert, natürlich ein Geistlicher, wurde dem Vater in einem Brief als „konservativer Gelehrter“22 beschrieben, der dem Knaben die klassische Ausbildung eines adeligen Jungen zukommen ließ. Nach dem häuslichen Privatunterricht setzte Franz von Ballestrem seine Ausbildung am von Jesuiten geführten adeligen Convicte zu Lemberg fort und schloss seine Schullaufbahn mit dem Abitur an einem katholischen Gymnasium ab. Religion als Träger von Erziehungsinhalten war ein allgemeines Kennzeichen der Zeit, denn auch der Großteil der bürgerlichen Kinder wuchs in gläubigen Familien auf und wurde dementsprechend erzogen. In vielen bürgerlichen Familien unterwarf man die religiösen Lehren jedoch einer kritischen Betrachtung und schenkte auch naturwissenschaftlichen Erkenntnissen Beachtung.23 Hierauf finden sich in den untersuchten adeligen Familien keine Hinweise; vielmehr lässt beispielsweise das auswendige Aufsagen des Katechismus auf einen wenig reflexiven Umgang mit der kirchlichen Lehre schließen. Auch die im Bürgertum zunehmend praktizierte Abkehr von konfessionellen Glaubensinhalten und Hinwendung zur christlichen Moral- und Tugendlehre ist beim Adel kaum erkennbar. Ballestrem und Landsberg besuchten mehrfach Rom und bekundeten den emotionalen Ausnahmecharakter ihrer Visiten: Ballestrems erste Romfahrt im Jahre 1873 führte ihn zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten, den Höhepunkt der Reise stellte allerdings der Petersdom dar. Sein dortiger Besuch wie die Privataudienz beim Papst – ein großes Privileg – schildert er in mehreren Briefen an seine Frau äußerst eindrucksvoll. Allein die Kleidung des Pontifex ist ihm über acht Zeilen wert. Die Begrüßung beschreibt er wie folgt: Ich trat nun ganz nah an ihn heran, fiel auf meine Knie und bedeckte seine Hände […] mit Küssen und Tränen der Freude, indem ich dem Hl. Vater versicherte, wie glücklich ich wäre, diesen Tag erlebt zu haben, nach dem ich mich schon so lange gesehnt.24

21 Manfred Rasch, Kohle – Stahl – Chemie – Dienstleistungen. Westfälische Adelige als Unternehmer im 18. und 19. Jahrhundert, in: Maarten van Driel u.a. (Hrsg.), Adel verbindet. Elitenbildung und Standeskultur in Nordwestdeutschland und den Niederlanden vom 15. bis 20. Jahrhundert, Paderborn 2010, S. 179–216, hier S. 182. 22 Fürstin Gallitzien und Bernhard Heinrich Overberg an Paul Joseph von Landsberg-Velen, o.D., zit. nach Rasch, Westfälische Adelige (wie Anm. 21),S. 24. 23 Andreas Schulz, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005 (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 75), S. 7f. 24 Franz Graf von Ballestrem an seine Frau Hedwig, 18. Januar 1873, zit. nach Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 100.



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Nicht minder begeistert zeigte sich Ignaz von Landsberg-Velen von Rom, Petersdom und Papst.25 Hugo von Donnersmarck kann, wenn auch im Erwachsenenalter, mit dem Versprechen „ein wahrer, frommer Katholik zu bleiben und alles zu thun, um unseren Glauben zu mehren“26 zitiert werden. Da über Erziehung und Jugend des Guido von Donnersmarck wenig bekannt ist, kann nur vermutet werden, dass vernunftbasierte Elemente in die protestantische Erziehung eher Einzug gehalten haben. Über Guidos schulische Bildung ist kaum etwas überliefert. Bekannt ist, dass auch er in jungen Jahren einige Zeit im Ausland, hauptsächlich in der Metropole Paris, verbrachte. Seinen dortigen Aufenthalt gestaltete er konträr zu seinen katholischen Standesgenossen nicht als Bildungs- und Erfahrungsreise, sondern genoss vor allem das gesellschaftliche Leben. Und dies auf durchaus „moderne“ Weise, denn die „Liebesund Lebensallüren“ des „Playboys aus Oberschlesien“27 waren vielfach bekannt. Sein Leben genoss er in verschwenderischen Zügen und war wohl auch Spielcasinos, Rennplätzen und Luxusbordellen gegenüber nicht abgeneigt.28 Mit religiösen Vorgaben zur Lebensführung und auch mit den moralischen Ansprüchen der anderen, hier untersuchten Adeligen, ist dies kaum vereinbar; vorehelichen Geschlechtsverkehr verurteilten diese aufs Schärfste.29

3 Das soziale Kapital Das soziale Portfolio der vier Adeligen basierte vor allem auf ihren Familienverbänden. Große verwandtschaftliche Netzwerke ermöglichten Unterstützung bei der Ausbildung der Kinder oder schnelle finanzielle Hilfe in Notsituationen. Aufrechterhalten wurden diese Bande durch eine oft aufwendig gestaltete Familiengeschichte sowie zahlreiche Briefwechsel und gegenseitige Besuche.30 Die besondere Relevanz der Familie zeigt sich bei Franz von Ballestrem bereits anhand seiner Taufpaten, denn diese zählten alle zum Geschlecht der Ballestrems. Zudem verfasste bereits der junge

25 Ignaz von Landsberg-Velen an Assessor Retenbacher, 4. Januar oder 7. März 1810, zit. nach Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 43. 26 Hugo von Donnersmarck an Bischof Förster, 8. Dezember 1878, zit. nach Raasch, Der Adel auf dem Feld der Politik (wie Anm. 3), Manuskriptseite 58. 27 Jürgen Laubner, Guido Henckel v. Donnersmarck. Aristokrat durch Geburt und Geld, in: Ders. (Hrsg.), Adel und Junkertum im 19. und 20. Jahrhundert. Biographische Studien zu ihrer politischen, ökonomischen und sozialen Entwicklung, Halle 1990 (= Wissenschaftliche Beiträge 1990/17), S. 27– 40, hier S. 2. 28 Laubner, Bismarck-Freund (wie Anm. 13), S. 160. 29 Die Heiratsgenehmigung für Wilhelm Krüger und Helena Fricke, ausgestellt von Ignaz von Landsberg-Velen, o.D., eventuell 1819, zit. nach Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 244. 30 Monika Wienfort, Der Adel in der Moderne, Göttingen 2006, S. 120f.

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Graf Briefe an Verwandte, wie an sein „liebes Tantel“,31 die Gräfin Elisabeth von Ballestrem. Briefe des jungen Grafen an Personen aus gewerblichen oder bürgerlichen Kreisen finden sich bei Laslowski nicht. Dies könnte darauf schließen lassen, dass derartige Kontakte weniger im Interesse der Eltern standen. Dass das nicht für alle Adeligen zählte, beweist einer der wenigen überlieferten Briefe von Ignaz von Landsberg. Der schrieb im Jahre 1799 an den Wocklumer Rentmeister, berichtete von der Anlage einer Mineralien- und Fossiliensammlung32 und zeigte damit sowohl seine Wertschätzung für den Beamten als auch sein naturwissenschaftliches Interesse. In klammen Studienzeiten wandte sich Ignaz an Rentmeister Essing um finanzielle Unterstützung. Letzterer verwehrte diese nie, und auch in späteren Jahren stand er dem jungen Unternehmer immer stützend zur Seite.33 Die Eheschließungen der vier Adeligen festigten das soziale Kapital weitgehend: Alle drei schlossen den Bund der Ehe mit ebenfalls adeligen Damen. Ballestrem heiratete im Jahr 1857 die Schlesin Hedwig Maria Anna Gräfin von Saurma-Jeltsch, Landsberg ehelichte im Jahr 1813 die zu diesem Zeitpunkt erst 16-jährige Ludowika (Louise) Reichsgräfin von Westerholt und Gysenberg zu Berge. Hugo von Donnersmarck nahm die spätere Namensgeberin der Laurahütte, Gräfin Laura, geborene von Hardenberg, zur Frau. Die einzige Ausnahme bildete Guido von Donnersmarck, welcher in erster Ehe Mademoiselle Lachmann, besser bekannt als Marquise Païva, heiratete. Sowohl Ballestrem als auch Landsberg machten mit ihrer Braut im Verwandtschaftskreis Bekanntschaft, was dessen große Bedeutung nochmals untermauert. Für Hugo von Donnersmarck liegen diesbezüglich keine Informationen vor, jedoch kann ähnliches wie bei den anderen katholischen Vertretern angenommen werden. Guido stellt wiederum die Ausnahme dar: Er lernte seine Braut nicht nur in Paris kennen, sondern ihr eilte auch ein zweifelhafter Ruf aufgrund „mannigfachen Abenteuern“ voraus. Guido musste sich durch diese unstandesgemäße, beinahe anrüchige Heirat der Gefahr eines zumindest bedingten moralischen wie gesellschaftlichen Niedergangs stellen. Zudem übernahm die Marquise große Teile seiner in Paris angehäuften Wechselschulden.34 Im Falle Guidos kann somit von einer arrangierten Ehe keine Rede sein; allein ökonomische Überlegungen könnten eine Rolle gespielt haben. Letzteres ist bei den anderen Vertretern nicht mehr rekonstruierbar, jedoch scheinen keine reinen Zweckgemeinschaften vorgelegen zu haben. Denn sowohl Landsberg als auch Ballestrem beteuern in zahllosen Briefen ihre Liebe zu ihrer jeweiligen Frau. Landsberg schrieb im November 1812 und damit vor der Ehe an sein „Gutes, liebes, unendlich

31 Graf Franz von Ballestrem an Elisabeth Gräfin von Ballestrem, 11. September 1845, zit. nach Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 10. 32 Ignaz von Landsberg-Velen an D. Domino Essing, 10. April 1799, zit. nach Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 24f. 33 Frank-Lothar Hinz, Die Geschichte der Wocklumer Eisenhütte 1758–1864 als Beispiel westfälischen adeligen Unternehmertums, Altena 1977 (=Altenaer Beiträge, Bd. 12), S. 57. 34 Felix Pinner, Deutsche Wirtschaftsführer, Charlottenburg 1925, S. 106.



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geliebtes Mädchen!“35. Bereits als Verlobte trafen sich die Beiden regelmäßig, auch wenn Louisa zu dieser Zeit noch nicht völlig von der Verbindung überzeugt war.36 Im Falle Ballestrems finden sich zahllose Briefe mit Liebesbekundungen; in jungen Jahren schlossen er und seine Frau zudem ein Übereinkommen, keine Geheimnisse voreinander zu haben und sich alles anzuvertrauen.37 Ergänzung fand das soziale Portfolio durch das politische Engagement der Adeligen: Bei den hier untersuchten Adeligen treten besonders Ballestrem wie auch Guido von Donnersmarck hervor. Ersterer gehörte dem konservativen Flügel der Zentrumspartei an und trug maßgeblich zu dessen Profil bei. Die Spitze seiner politischen Laufbahn erreichte er als Reichstagspräsident der Jahre 1898 bis 1906. Guido Donnersmarck zählte zum engen Vertrautenkreis Bismarcks und begrüßte auch Kaiser Wilhelm II. regelmäßig als Jagdgast auf seinem Schloss in Neudeck.38 Allerdings scheinen alle Adeligen auch in ihrer politischen Arbeit bevorzugt mit Standesgenossen verkehrt zu haben.39 Zentral für das soziale Kapital waren die Kontakte zu Geistlichen: Unter anderem sprach Berta von Ballestrem in Bezug auf die geistlichen Lehrer in Lemberg von unseren „hochverehrten geistlichen Freunde[n]“40. Franz erzählt wenig später von seinem guten, liebevollen Pater Regens, welcher ihn über aufkommendes Heimweh hinwegtröstete.41 Landsberg hielt „regen Kontakt“42 zu Geistlichen und begrüßte ihre Vertreter regelmäßig auf seinem Schloss. Bei Ballestrem waren die Kontakte noch inniger und gingen über den privaten Bereich hinaus. So erhielt er nicht nur Privataudienz beim Papst, sondern war u.a. Mitglied im Verein katholischer Edelleute und präsidierte im Jahr 1887 der Generalversammlung der Katholiken Deutschlands.43 Besondere Bedeutung muss dem Einsatz des Grafen für den im Kulturkampf verfolgten Fürstbischof von Breslau, Heinrich Förster, zugedacht werden. Denn indem er diesem zu einer heimlichen Flucht auf Schloss Johannesberg 35 Ignaz von Landsberg-Velen an seine Verlobte Ludowika, 11. November 1812, zit. nach Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 58. 36 Ignaz von Landsberg-Velen an seine Verlobte Ludowika, 11. November 1812, zit. nach Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 58–59. 37 Franz Graf von Ballestrem an seine Verlobte Hedwig, 23 November 1857, zit. nach Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 19. 38 Laubner, Guido Henckel v. Donnersmarck (wie Anm. 27), S. 28; Laubner, Bismarck-Freund (wie Anm. 13), S. 162. 39 Laubner, Guido Henckel v. Donnersmarck (wie Anm. 27), S. 8; Ignaz von Landsberg-Velen an seinen Sohn Friedrich, Mai 1847, zit. nach Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 154. 40 Gräfin Bertha von Ballestrem an ihren Mann Carl Wolfgang, 23. Mai 1843, zit. nach Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 8. 41 Graf Franz von Ballestrem an seine Eltern, 8. Oktober 1853, zit. nach Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 9. 42 Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 119. 43 U.a. Franz Graf von Ballestrem an Fürst Karl Löwenstein, 3. Juni 1887, zit. nach Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 232.

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verhalf,44 begab er sich selbst in höchste Gefahr. Lediglich für Guido von Donnersmarck scheinen Geistliche keine tragende Rolle gespielt zu haben, was wiederum auf dessen Sonderstellung verweist.

III Mentalität Mit dem Schwerte sei dem Feind gewehrt, mit dem Pflug der Erde Frucht gemehrt, Schlichte Ehre wohn‘ in treuer Brust, Frei im Walde grüne seine Lust, Das Geschwätz der Städte soll er fliehn, Ohne Noth von seinem Heerd nicht ziehn: So gedeiht sein wachsendes Geschlecht, Das ist Adels alte Sitt’ und Recht.45

Dieser Spruch, ursprünglich von Friedrich Schlegel (1772–1801) stammend, wurde dem Vorwort der ersten Auflage der Zeitung für den deutschen Adel des Jahres 1887 beigefügt. Mit Militär und Landwirtschaft werden klassisch adelige Betätigungsfelder angesprochen. Vor allem weniger wohlhabende Familien versorgten hier ihre zweit- und drittgeborenen Söhne; in Preußen finden sich wenige Familien, denen keine berufliche Verbindung zum Militär nachgewiesen werden kann. In Sachen Landwirtschaft konnte der Adel auf eine jahrhundertealte Tradition als Grundbesitzer vorweisen. Die Gutswirtschaft mit ihren Bodenschätzen erschien demgemäß in konservativer Lesart als „ökonomisches Rückgrat der meisten adeligen Familien in Deutschland“46. Sie war „die Bedingung sozusagen die Signatur des Adels“.47 Akzeptabel waren lediglich weiterverarbeitende Betriebe. Der schlesische Fürst Hugo von Hohenlohe-Öhringen unterscheidet im Jahre 1855 paradigmatisch klar zwischen „reinen Fabriketablissements […], welche das Rohprodukt erkaufen müssen“ und „gewerblichen und industriellen Unternehmungen“, die „in näherer Verbindung mit den Erzeugnissen und Produkten“ des eigenen „Grund und Bodens und deren Verarbeitung stehen“. Letztere erfahren bei ihm eine bevorzugte Behandlung; Berghoff spricht von einer „ökonomisch und mentalitätsgeschichtlich ungemein wichtige[n] 44 Neubach, Franz Graf von Ballestrem (wie Anm. 11), S. 11f. 45 Zeitung für den deutschen Adel, 1. Aufl. 1887, S. 546, zit. nach Neubach, Franz Graf von Ballestrem (wie Anm. 11),S. 12. 46 Sombart Werner, 1927, hier zit. nach Manfred Rasch, Adelige als Unternehmer zwischen Industrialisierung und Ende des deutschen Kaiserreichs. Beispiele aus Württemberg und Baden, in: Eckart Conze/Sönke Lorenz (Hrsg.), Die Herausforderung der Moderne. Adel in Südwestdeutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Ostfildern 2010, S. 83–110, hier S. 85. 47 Der katholische Adel Westfalens. Gedanken über Gegenwart und Zukunft desselben (Schorlemer, 1866), in: WAA, Archiv Herrringhausen, C 323.



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Trennlinie“48. Weiterverarbeitende Betriebe standen in enger Verbindung mit der Scholle, also dem Landbesitz des Adeligen. Dieser sollte nicht nur Ausgangspunkt allen Wirtschaftens sein, sondern – so etwa Schlegel – ohne Not nicht verlassen werden. Das Geschwätz der Städte sollte der Adelige traditionell ebenso meiden wie das industrielle Engagement. Vor allem die mentalen Strukturen der untersuchten katholischen Adeligen sind von solchen Vorstellung stark geprägt. Zählte beispielsweise Ballestrem die für einen Mann wesentlichen Tätigkeiten auf, kommt das Unternehmertum nicht vor.49 Berufliche Karrieren betrachtet er als bloße Beschäftigung. Sie waren für ihn ein Teil der Erwartungen, welche an den adeligen Mann gestellt werden, und dienten zum Ausbau der eigenen Reputation. Die Arbeit als Broterwerb war nebensächlich.50 Ein Punkt, der ganz wesentlich zur Distanz zwischen (katholischem) Adel und Industriekapitalismus beitrug, ist dabei sein organisches Verständnis von Welt. Einfach ausgedrückt ist die Familie der Kern des Staates. An ihrer Spitze steht der Vater, der sie leitet und für sie sorgt. Gleiches gilt für die Gesellschaft, an deren Spitze Gott als Oberhaupt und Fürsorger steht. Der Staat ist innerhalb dieses Verständnisses die Summe der so beschriebenen Familien und Gott sein Zentrum. Ein Staat ohne Gott ist nicht existent. Der Adel nimmt innerhalb dieser ständisch organisierten Gesellschaft eine von Gott gegebene Sonderrolle als oberster Diener ein. Diese bürdet ihm besondere Verantwortung und Sorge für die übrigen Mitglieder, also das Summum Bonum (Gemeinwohl), auf; Cerman spricht vom Adel als Beschützer seiner Untertanen.51 Raasch bezeichnet katholische Adelige in ihrem Selbstverständnis als „Antiegoisten“.52 Anhand dieses Modells lassen sich zahlreiche Spezifika für das Handeln unserer Protagonisten erklären. So der Einsatz der Katholiken im konservativen Flügel des Zentrums und im Verein katholischer Edelleute53. Es war offenbar ihr Bestreben, die Grundsätze [des] Glaubens […] auch im öffentlichen Leben zu bekräftigen und

48 Hugo von Hohenlohe-Öhringen 1855, zit. nach Berghoff, Adel und Industriekapitalismus (wie Anm. 2), S. 253. 49 Franz Graf von Ballestrem an seine Verlobte Hedwig, 25. November 1857, zit. nach Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 20. 50 Hierzu auch Sombart, Werner, 1927: „Der Junker von echtem Schrot und Korn wird den Erwerb hassen […]. Die Idee, um des Erwerbes willen tätig zu sein, muß ihn abstoßen. Er hat das, was er braucht, das versteht sich von selbst.“, zit. nach Rasch, Westfälische Adelige (wie Anm. 21), S. 180. 51 Ivo Cerman, Jenseits des Marxismus. Der Adel in der modernen Wirtschaftsgeschichte, in: Derselbe/Lubõs Velek (Hrsg.), Adel und Wirtschaft. Lebensunterhalt der Adeligen in der Moderne, München 2009 (= Studien zum Mitteleuropäischen Adel, Bd. 2), S. 9–19, hier S. 11. 52 Markus Raasch, Die politische Ideenwelt des Adels, in: Ders. und Tobias Hirschmüller (Hrsg.), Von Freiheit, Solidarität und Subsidiarität. Staat und Gesellschaft der Moderne in Theorie und Praxis, Berlin 2013, S. 357–382, hier S. 359. 53 Verzeichniß der Mitglieder des Vereins katholischer Edelleute, 27. Juli 1875, in: HstaM FA Aretin, Peter Carl 49/31.

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zu vertreten“.54 Dies betraf auch die Einstellung zu Besitz und Vermögen, womit alle Bevölkerungsteile sozusagen auf göttlichen Willen hin mehr oder weniger reichlich ausgestattet waren. Der Adel war hierbei aus ihrer Sicht in einer bevorzugten Stellung, aber es war nicht Ziel adeligen Handelns, dieses gottgegebene Vermögen bis ins Unermessliche hin auszubauen.55 Vielmehr standen in tiefem Gottvertrauen Beständigkeit wie der Einsatz von Ressourcen für schwächere Mitglieder der Gesellschaft im Fokus. Geschäfte, die nur der Selbstbereicherung dienten, galten lange als „unsauber“ und wenig ehrbar.56 Für den katholischen Adel ging es darum, „seine Existenz, seine Rechte, seine Aufgabe und Thätigkeit in der Erfüllung der Pflichten gegen Gott und für das Wohl seiner Mitmenschen [zu] finden“.57 Ideologisches Feindbild war demgemäß für einen katholisch-konservativen Adeligen wie Ballestrem das liberale Bürgertum. Denn dieses vertrat ein Staatsverständnis, welches den Staat und damit angeblich den Egoismus an die Spitze der Gesellschaft stellte. Gott war nicht mehr ausschlaggebend, ja die Trennung von Staat und Religion wurde begrüßt. Zwischengewalten, allen voran der Adel, waren eher störend, bevorzugte man doch eine nivellierte Untertanengesellschaft mit jeweils direkter Anbindung an den Staat.58 Aus adeliger Perspektive schien daher die Sorge um das Gemeinwohl, um wirtschaftlichen Ausgleich und soziale Stabilität, abhanden gekommen zu sein und damit auch die Beschützerfunktion des Adels. Zudem befremdete ihn die im Bürgertum und auch in Teilen des evangelischen Adels verbreitete Vorstellung, Gläubigkeit auf den Einzelnen hin auszurichten: Schulz spricht in diesem Zusammenhang von einer „aufgeklärten Bürgerreligion“, die das Verhältnis zur „Autorität Kirche“59 zunehmend liberalisierte und individualisierte. Dieses Verständnis, wie auch das aufgeklärte Staatsbild, stellten keinen Widerspruch zur kapitalistischen Wirtschaftsweise dar. Vielmehr wurde Reputation vom beruflichen Status und vom wirtschaftlichen Erfolg abhängig gemacht. Daraus ergab sich eine spezifisch bürgerliche Leistungsorientierung, die das Streben nach Gewinnmaximierung und sozialen Aufstieg mit einschloss.60 Gönnerhaftigkeit in Form von gegründeten Wohlfahrtsvereinen und Armenanstalten fand sich auch in der bürgerlichen Klasse. Man berief sich dabei auf eine religiös verwurzelte Moral, trug durch das praktizierte Mäzenatentum aber auch den eigenen Wohlstand nach außen. 54 Der katholische Adel Westfalens. Gedanken über Gegenwart und Zukunft desselben (Schorlemer, 1866), in: WAA, Archiv Herringhausen C 323. 55 Berghoff, Adel und Industriekapitalismus (wie Anm. 2), S. 265. 56 Cerman, Jenseits des Marxismus (wie Anm. 51), S. 11. 57 Der katholische Adel Westfalens. Gedanken über Gegenwart und Zukunft desselben (Schorlemer, 1866), in: WAA, Archiv Herringhausen C 323. 58 Heinz Reif, Der katholische Adel Westfalens und die Spaltung des Adelskonservatismus in Preußen während des 19. Jahrhunderts, in: Karl Teppe/Michael Epkenhans (Hrsg.), Westfalen und Preußen. Integration und Regionalismus, Paderborn 1991, S. 107–124, hier S. 114. 59 Schulz, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums (wie Anm. 23), S. 9. 60 Schulz, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums (wie Anm. 23), S. 19.



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IV Kulturelle Praxis 1 Schollenbindung Im Kampf ums Obenbleiben setzte der Adel auf die Bewahrung seines Landbesitzes. Hinzu kam die „Sicherung seiner Verbindung zum Land“61, die auch industriell tätigen Adeligen verbot, ihren Lebensschwerpunkt in die städtischen Zentren zu verlegen. Die Verbundenheit zum ländlichen Leben kommt auch in den Schriften der untersuchten Adeligen immer wieder zum Tragen. So zum Beispiel, wenn Laslowski das oberschlesische Dorf Plawniowitz, in dem Ballestrem seine ersten Lebensjahre verbracht hat, beschreibt. Denn das väterliche Schloss habe sich als „bescheidener Fachwerkbau […] kaum merklich über die niedrigen Strohdächer“62 des Dorfes erhoben. Ein ähnliches Bild wird von Schloss Velen, dem Hauptsitz Landsbergs nach seiner Eheschließung auf einer Lithografie von Theodor Albert aus den Jahren 1861/186263 vermittelt: Das zweistöckige Gebäude steht inmitten von gut bestellten, wogenden Feldern, ist umgeben von Büschen sowie einzelnen Häusern und Scheunen. Die Straße zum Schloss ähnelt einem Feldweg; an dessen Rand steht, mittig und für den Betrachter nicht zu übersehen, eine Bäuerin mitsamt Kuh. Die Idylle ländlichen Lebens könnte nicht eindrucksvoller dargestellt werden. Der Gegensatz zu Schmutz und Unstetigkeit der Großstadt wurde treffend karikiert und das Land als traditioneller Lebensraum des Adels herausgestellt. Und tatsächlich fanden sich auch die Unternehmen aller hier analysierten Adeligen nicht in Industriezentren, sondern auf dem platten Land in unmittelbarer Nähe eines Familiensitzes. In allen Fällen waren dort gefundene Bodenschätze Ausgangspunkt für das jeweilige Unternehmen. Wichtige Anlagen von Hugo von Donnersmarck wie die Laurahütte inklusive Hochöfen, Puddlings- und Schweißöfen wie Walzwerke waren ebenfalls im Kreisgebiet angesiedelt. Ballestrem blieb seiner Heimat stets treu, von Investitionen außerhalb Schlesiens ist nichts bekannt. Ähnliches gilt für Landsberg. Dessen wirtschaftliche Basis war, wie bei den Magnaten auch, der Bergbau auf dem eigenen Land. Die Chemische Fabrik, der sein eigentliches Augenmerk galt, errichtete er ebenfalls auf eigenem Grund in Wocklum und damit in direkter Nachbarschaft zu seinem Schloss. Räume des letzteren wurden in vielfältiger Weise für die Fabrik funktionalisiert, u.a. als Wohn- und Büroräume.64 Den gesundheitsschädlichen Rauch der Firma wie auch den Geruch nahm er in Kauf. Entscheidend ist, dass er auch in wirtschaftlich schlechten Zeiten nie eine Verlegung der Firma in Aussicht nahm. Strukturelle Standortnachteile in Form schlechter Transportwege versuchte er anderweitig zu kompensieren. 61 Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert (wie Anm. 6), S. 9. 62 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 4. 63 Im Besitz des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte in Münster, abgebildet bei Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 65. 64 Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 243.

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Zudem legte er Wert auf die Erhaltung seines Besitzes und behandelte beispielsweise die Wocklumer Wälder, trotz des sehr holzintensiven Betriebs verschiedener Hammerwerke, schonend.65 Investitionen im Ausland scheute er ebenso wie Ballestrem. Von bürgerlicher Mobilität kann keine Rede sein. Als Begründung lässt sich u.a. die Vielfältigkeit der Unternehmen nennen. Die Chemiefabrik war bei Landsberg nur für einen Teil seiner Einnahmen verantwortlich – deren Aufgabe konnte somit in Kauf genommen werden. Seine Existenz, wie im Falle bürgerlicher Unternehmer, war nicht allein an die Fabrik gebunden. Ebenso speiste sich das adelige Prestige stark aus immateriellen Werten; Bürgerliche hingegen mussten im Falle eines wirtschaftlichen Niedergangs um Ruf und soziale Zugehörigkeit fürchten. Aufgrund dessen waren sie zu mehr Entschlussfreude und Mobilität vielfach schlicht gezwungen.66 Aus dem Raster fallen freilich die beiden Donnersmarcks. Sie waren auch außerhalb der eigenen Scholle wirtschaftlich aktiv. Der katholische Hugo betätigte sich etwa in Österreich in der Eisenindustrie in einem solchen Umfang, dass er seit den 1840er Jahren zu den größten Industriellen Österreichs zählte.67 Außerdem erwarb er verschiedene Ländereien im Ausland, wiederum hauptsächlich in Österreich und Ungarn. Ähnlich verfuhr auch Guido von Donnersmarck. Dessen Hauptaugenmerk lag auf der Region Oberschlesien, jedoch schreckte auch er nicht vor Erwerbungen in Russland, Ungarn, Kärnten, Südfrankreich, Sardinien und Schweden zurück.68 Beispielhaft für seine ausländischen Investitionen sind mehrere in den 1880er Jahren in Russisch-Polen errichtete Hüttenwerke.69 Zudem beschränkte sich sein Geschäftsfeld nicht auf Europa, vielmehr war der Graf und spätere Fürst auch an den deutschen Kolonien interessiert. So gehörte er zu den Gründungsmitgliedern eines Deutschen Kolonialvereins und hielt Aktien an der Neuguinea-Kompanie. Laubner vermerkt, dass er „wie viele andere Magnaten“ am „afrikanischen Geschäft“70 beteiligt war. Wie sich diese Beteiligung konkret geäußert hat, bleibt unklar. Es bleibt zu vermuten, dass seine „ökonomische Expansion“71 vor allem auf die Gewinnung günstiger Rohstoffe und neuer Absatzmärkte ausgerichtet war.

2 Unternehmensformen Die Brauerei der Familie von Fürstenberg bewarb ihr Bier bereits unter Max Egon II. (1863–1941) mit dem Aufdruck Tafelgetränk  Seiner Majestät des Kaisers und zeigte damit, wie der Adel seinen Namen gewinnbringend auch im industriellen Bereich 65 Hinz, Die Geschichte der Wocklumer Eisenhütte (wie Anm. 33), S. 63. 66 Hinz, Die Geschichte der Wocklumer Eisenhütte (wie Anm. 33), S. 68. 67 Hinz, Die Geschichte der Wocklumer Eisenhütte (wie Anm. 33), S. 207. 68 Laubner, Guido Henckel v. Donnersmarck (wie Anm. 27), S. 29f. 69 Laubner, Bismarck-Freund (wie Anm. 13), S. 168. 70 Laubner, Guido Henckel v. Donnersmarck (wie Anm. 27), S. 35. 71 Laubner, Guido Henckel v. Donnersmarck (wie Anm. 27), S. 34.



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einbringen konnte.72 Und das besonders, da letzterer es lange Zeit bevorzugte, seine Beteiligungen an gewerblichen Geschäften geheim zu halten und als stiller Teilhaber nach außen hin unsichtbar zu bleiben.73 So auch bei Landsberg, dessen chemische Fabrik zunächst unter dem Namen Dr. Herold & Co. betrieben wurde. Und das, obwohl Landsberg rund 6.000 Reichstaler mehr Startkapital als sein Partner Herold sowie Räumlichkeiten und Rohstoffe bereitgestellt hatte.74 Erst im Jahr 1836, rund 14 Jahre nach der Gründung, wurde sie in Freyherrlich v. Landsberg Velensche Chemische Fabrik umbenannt. Das Ausscheiden des Apothekers Herold auf eigenen Wunsch machte dies nötig. Hinz nennt als Grund für die Namensänderung zusätzlich das „gewisse[s] Maß an Reputation“75, das die Firma mittlerweile erreicht hatte. Hugo von Donnersmarck gab demgegenüber seiner größten Hütte in Anlehnung an seine Frau den Namen Laurahütte. Später brachte er seinen Besitz in die Vereinigte Königs- und Laurahütte AG ein. Er stellte so ganz bewusst Verbindungen zu sich und seiner Familie her – Probleme, seinen Namen nach außen zu tragen, hatte er nicht. Ähnlich Guido von Donnersmarck, welcher seiner wichtigsten AG den Namen Donnersmarckhütte, Oberschlesische Eisen- und Kohlewerke, Aktiengesellschaft gab. Die Adeligen standen demgemäß spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch nach außen hinter ihren Unternehmungen. Gezieltes Werben mit dem eigenen Namen wie bei Fürstenberg trat allerdings bei keinem der Untersuchten auf. Bereits anhand der Unternehmensbezeichnungen wird die dahinter stehende Geschäftsform offenbar. Alle vier Protogonisten begannen ihre Karrieren mit Unternehmen, die sich ausschließlich im Familienbesitz befanden. Das Familienoberhaupt stellte in diesen Fällen zugleich das Oberhaupt der jeweiligen Anlagen dar und erhielt alle Einnahmen, haftete jedoch auch im Falle des Verlustes allein. Von diesem System rückte als Erster Hugo von Donnersmarck ab, indem er anno 1871 die größten Teile seines Industriebesitzes in die Aktiengesellschaft Vereinigte Königs- und Laurahütte AG einbrachte. Die erste war zugleich die größte oberschlesische AG, die auch Werke in Russisch-Polen, Galizien und Ungarn umfasste. Hugo war Vorreiter, was den Übergang zum „modernen kapitalistisch-marktlich, von Angestellten geführten Industriekonzern“76 anging. Rund ein Jahr später, im November 1872, folgte ihm Guido von Donnersmarck mit der Gründung der Donnersmarckhütte, Oberschlesische Eisen- und Kohlewerke, Aktiengesellschaft. Er begründete im Folgenden noch weitere Gesellschaften und veräußerte sie teils wieder. Bemerkenswert ist, dass Guido die Donnersmarck AG auf dem Höhepunkt seiner industriellen Bedeutung errichtete. Inwieweit er die Krise der Eisenindustrie nach 1873 tatsächlich geahnt hat, ist nicht

72 Rasch, Adelige als Unternehmer im bürgerlichen Zeitalter (wie Anm. 1), S. 15. 73 Rasch, Adelige als Unternehmer im bürgerlichen Zeitalter (wie Anm. 1), S. 91. 74 Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 192. 75 Hinz, Die Geschichte der Wocklumer Eisenhütte (wie Anm. 33), S. 228. 76 Skibicki, Industrie im Fürstentum Pless (wie Anm. 8), S. 193.

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mehr belegbar.77 Mit dem Verkauf seiner Besitzungen erzielte er Erlöse von circa 18 Millionen Mark und vollzog zugleich den Übergang vom gräflichen Patriarchen zum eher stillen Kapitaleigner.78 Fuchs nennt für die Jahre von 1870 bis 1889 in Oberschlesien insgesamt sieben Umwandlungen bedeutender Unternehmen. Hierzu zählten auch weitere Magnaten, u.a. folgten dem Trend die Familien Thiele-Winkler, sowie, etwas verspätet zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Hohenlohe.79 Die Umwandlungen waren von besonderer Wichtigkeit, um das Revier konkurrenzfähig zu halten. Die Vorteile dieser neuen Unternehmensform lagen auf der Hand, auch oder besonders für den Adel. Letzterer hatte oft wenig liquide Mittel zur Verfügung, da diese im Grundbesitz gebunden waren. Dieser Mangel konnte durch finanzkräftige Gesellschafter ausgeglichen werden. Guido von Donnersmarck beispielsweise kooperierte beim Ausbau des größten schlesischen Zinkhütten-Unternehmens, der Schlesischen Aktien-Gesellschaft für Bergbau und Zinkhüttenbetriebe in Lipine, mit dem Pariser Bankhaus Neuflize.80 Zudem verteilt sich das Geschäftsrisiko bei einer AG auf mehrere Schultern, was im Grunde genau das Interesse risikobewusster Gruppen trifft. Ebenfalls vorteilhaft ist die allein auf das Geschäftsvermögen beschränkte Haftung; das hohe private Vermögen vieler Adeliger blieb so auch im Verlustfall unangetastet. Letzteres spielte bei vielen späteren Umwandlungen des Guido von Donnersmarck wohl die ausschlaggebende Rolle, denn dieser hielt vielfach alle Anteile selbst.81 Ebenso trat er als Anteilseigner bei fremden Firmen auf, beispielsweise bei der Neuguinea-Kompanie.82 Er engagierte sich in einem weit gestreuten Feld und veräußerte immer wieder Anteile an Unternehmen, sobald er aus ihnen Gewinn gezogen hatte. Zudem versuchte er sich an der Börse an „z.T. spekulativen Geschäften […] mit Erfolg“83. Fehlendes Verständnis für die aufkommende Finanzwelt kann dem Grafen hier ebenso wenig attestiert werden wie Angst vor Risiken. Letztere ging er vielmehr bewusst ein; der An- und Verkauf von Unternehmensteilen erscheint fast wie ein Spiel. Und auch Hugo von Donnersmarck beteiligte sich, wenn auch weniger extensiv, an der neuen Finanzwelt. Dabei war der Großteil des Adels nach dem Gründerkrach eher zurückhaltend, was Aktienkäufe anging. Rasch gibt an, dass sich insgesamt nur rund 10 % der frühen BergbauAktiengesellschaften in adeligem Besitz befanden. Genaue Daten fehlen, jedoch war der Adel angesichts seiner wirtschaftlichen Leistungskraft unterrepräsentiert.84 Auch 77 Skibicki, Industrie im Fürstentum Pless (wie Anm. 8), S. 193. 78 Skibicki, Industrie im Fürstentum Pless (wie Anm. 8), S. 207. 79 Konrad Fuchs, Vom Dirigismus zum Liberalismus. Die Entwicklung Oberschlesiens als preußisches Berg- und Hüttenreviert. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 18. und 19. Jahrhundert, Wiesbaden 1970, S. 257f. 80 Pinner, Deutsche Wirtschaftsführer (wie Anm. 34), S. 107. 81 Skibicki, Industrie im Fürstentum Pless (wie Anm. 8), S. 216. 82 Laubner, Guido Henckel v. Donnersmarck (wie Anm. 27), S. 35. 83 Laubner, Guido Henckel v. Donnersmarck (wie Anm. 27), S. 30. 84 Rasch, Adelige als Unternehmer im bürgerlichen Zeitalter (wie Anm. 1), S. 26.



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für Landsberg und Ballestrem finden sich keine Belege über Aktienkäufe. Zudem blieben beide bis zu ihrem Tod Alleineigentümer. Vorteile dieser Unternehmensform waren sowohl die uneingeschränkte Führungsgewalt wie auch der vollständig im Unternehmen verbleibende Gewinn. Letzteres war bei geringen Gewinnspannen und umkämpften Märkten sicherlich von Interesse.85 Trotz alledem ist auffällig, dass gerade zwei katholische Vertreter dieser Wirtschaftsform treu blieben, während Protestanten wie Guido von Donnersmarck, Tiele-Winckler oder auch Hohenlohe Aktiengesellschaften gründeten.

3 Persönlicher Einsatz Bürgerliche Geschäftsführer und Beamte spielen im Kontext der untersuchten adeligen Unternehmungen eine große Rolle – jedoch weniger aus dem Grund, dass die untersuchten Adeligen ihre Zeit ausschließlich mit Jagden und Gesellschaften verbracht oder sich bewusst von den Geschäften fern gehalten hätten. Vielmehr fanden sich Hinweise auf Konflikte angesichts weit gestreuter Betätigungsfelder. Die Bewirtschaftung und Verwaltung aller landwirtschaftlichen Güter und der verschiedenen Sitze musste geregelt werden. Rasch beziffert den Landbesitz der Landsbergs vor dem Ersten Weltkrieg auf immerhin 805 Hektar Land.86 Das Engagement in Politik, Gesellschaften und Vereinen kostete zusätzlich Zeit. Landtagsmandate, wie im Falle Landsbergs, machten mehrwöchige Aufenthalte in Berlin nötig. Ballestrem beklagte in seinen Briefen über mit politischer Arbeit vollgestopfte Tage, die sehr früh beginnen und erst spät am Abend ihr Ende finden.87 Der konkrete Alltag der Adeligen war vielschichtig und nicht nur freizeitorientiert. Ballestrem setzte Schwerpunkte in der Politik und wurde zu einer der führenden Figuren der Zentrumspartei bis hin zum Reichstagsvorsitzenden. Die Unternehmensführung überließ er zu großen Teilen seinen angestellten Beamten; Neubach verweist auf den „tüchtigen Generaldirektor[s] Franz Pieler“, dank dessen er sich „nur wenig um seinen großen Industriebesitz zu kümmern brauchte“88. Der Graf selbst nahm vor allem repräsentative Pflichten wahr, indem er an zahlreichen Grubenfahrten und Besichtigungen teilnahm. So kam er morgens mit dem Zug in Ruda an, besichtigte mit Pieler die Neuanlagen der ChamotteFabrik, dann die Brandenburg-Grube und inspiziert abends die neue, elektrische

85 Absatzprobleme aufgrund von billigen Importwaren in der Eisenindustrie beschreibt Ballestrem: Franz Graf von Ballestrem an seinen Vater Carl Wolfgang, 10. Februar 1877, zit. nach Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 137–140. 86 Rasch, Westfälische Adelige (wie Anm. 21), S. 209. 87 Tagebucheintrag des Franz Graf von Ballestrem, 31. August 1886, zit. nach Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 230. 88 Neubach, Franz Graf von Ballestrem (wie Anm. 11), S. 7.

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Beleuchtung eben dieser und befand sie für „sehr hübsch“.89 Mangelndes Interesse kann ihm nicht vorgeworfen werden. Er machte sich beispielsweise in mehrseitigen Briefen Gedanken über die allgemeine Wirtschaftslage und wollte Entlassungen mit allen Mitteln verhindern.90 Eine bewusste Distanz zum Unternehmen ist nicht feststellbar, auch wenn er Planung und Ausführung konkreter Bauvorhaben wie den Betriebsalltag seinen Delegierten überließ. Über den Alltag von Hugo von Donnersmarck ist kaum etwas bekannt, doch stützte auch er sich auf Kooperationspartner, die ihm zahlreiche Aufgaben abnahmen. Beim Bau der Laurahütte hatte er „in bedeutendem Maße Know-how eingekauft“91. Er überließ sowohl die Planung als auch die Ausführung des Baus den englischen Hütteningenieuren Wedding und Talbot. Wie Ballestrem war er auf das Wissen anderer, oft bürgerlicher Kräfte, angewiesen. Und auch Landsberg kaufte, in Form des Apothekers Dr. Ferdinand Herold, Kompetenzen ein. Zunächst hielt er sich als stiller Teilhaber im Hintergrund und überließ die eigentlichen Geschäfte dem Medizinalrat Herold. Auch von außen wurde letzterer als federführender Leiter wahrgenommen.92 Dies änderte sich erst nach dem freiwilligen Ausscheiden Herolds. Von nun an zeigte Landsberg, im Gegensatz zu Ballestrem und wohl auch Hugo von Donnersmarck, großes naturwissenschaftliches Interesse. Er sammelte relevante Fachliteratur und arbeitete sich weitgehend selbstständig vor allem in die chemische Materie ein.93 Rasch berichtet, dass er sich so ausgiebig mit dem Sammeln und Auswerten entsprechender Zeitschriften und Lehr- und Handbücher befasste, dass er im Stande war, die chemische Forschung selbst zu leiten.94 Dieser Einsatz ist bemerkenswert, da er weder eine Ausbildung noch ein Studium im chemischen Bereich absolvierte. Hilfe holte er sich vor allem in den Anfangsjahren bei dem bereits erwähnten Rentmeister Essing. Darüber hinaus korrespondierte er häufig mit verschiedenen Beamten.95 Einen Geschäftsführer engagierte Landsberg mit dem Freiherren Theodor von Dücker für den kaufmännischen Bereich. Die endgültige Entscheidung behielt er sich jedoch in allen Fällen vor.96 Parallel hielt er sich häufig in Wocklum auf, unternahm Grubenfahrten und ließ sich über alle wichtigen Vorgänge berichten.

89 Tagebucheintrag des Franz Graf von Ballestrem, 21. Dezember 1889, zit. nach Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 211. 90 Franz Graf von Ballestrem an seinen Vater Carl Wolfgang, 10. Februar 1877, zit. nach Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 137–140. 91 Skibicki, Industrie im Fürstentum Pless (wie Anm. 8), S. 198. 92 Einen Handelsbericht an die Regierung zu Arnsberg über die Bemühungen um die Chemische Fabrik, hier zit. nach Anja Kuhn, Vom stillen Teilhaber zum Chemieunternehmer. Johann Ignaz Franz Reichsfreiherr von Landsberg-Velen und die Chemische Fabrik zu Wocklum 1822–1860, in: Rasch, Adel als Unternehmer im bürgerlichen Zeitalter (wie Anm. 1), S. 157–176, hier S. 165. 93 Hinz, Die Geschichte der Wocklumer Eisenhütte (wie Anm. 33), S. 59f. 94 Rasch, Westfälische Adelige (wie Anm. 21), S. 192. 95 Hinz, Die Geschichte der Wocklumer Eisenhütte (wie Anm. 33), S. 58. 96 Hinz, Die Geschichte der Wocklumer Eisenhütte (wie Anm. 33), S. 59.



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Noch einen Schritt weiter ging Guido von Donnersmarck. Dieser koordinierte trotz seines politischen wie gesellschaftlichen Engagements alle Bereiche seines Unternehmens selbst. Alle eingesetzten Generaldirektoren unterstanden seiner Person. Er ließ sich regelmäßig Bericht erstatten: alle zehn Tage hatten die Abteilungsdirektoren auf einer Betriebskonferenz Rede und Antwort zu stehen. Insgesamt verfolgte er einen sehr autoritären Führungsstil, der auf seine Person ausgerichtet war. Neuerungen setzte er trotz Bedenken seiner Beamten durch.97 Sein persönliches Engagement kann demnach nicht überbewertet werden. Insgesamt scheint ihm die kompromisslose Anpassung an die bürgerlich-leistungsorientierte Geschäftswelt am leichtesten gefallen zu sein: Je mehr die Götterwelt in das Getriebe des alltäglichen Lebens herniedersteigt, je mehr Dampf und Elektrizität Traumwelt und ideale Gedanken verdrängen, desto mehr gelangen wir zur Erkenntnis, daß das Individuum im modernen Staat nur die Exißtenzberechtigung hat, welche es ßich durch Arbeit und Leistung zu erwerben und zu erhalten weiß.98

Das Zitat des Grafen und späteren Fürsten gibt viel Preis. Zum einen erkannte er den Wandel der Zeit als solchen. Er sah, wie die Industrialisierung, sichtbar durch äußere Veränderungen der Welt, mythische Weltdeutungen immer weiter verdrängte und das Leben des Menschen prägte. Der Einzelne hatte sich seinem Verständnis nach dieser Entwicklung anzupassen, indem er arbeitete und Leistung erbrachte. Nur so konnte er nützlich sein und Ansehen erwerben; adelige Vorstellungen, denen gemäß natürliche, gottgewollte Unterschiede zwischen den Menschen bestanden und es eine Pflicht zum Einsatz für das Gemeinwohl gab, finden sich nicht wieder. Vielmehr scheint der Graf die bürgerliche Sichtweise verinnerlicht zu haben, ausgehend von einer generellen Gleichheit, auf Basis derer sich der Einzelne durch Fleiß und Arbeit auszeichnen kann.

4 Risikobereitschaft und Investitionsfreude Der risikofreudige Investitionsgeist war ein zentrales Kennzeichen des „bürgerlichen“ Zeitalters. Gall nennt diesen neben der gewerblichen Begabung und der asketischen Lebensführung des Wirtschaftsbürgertums als einen ihrer zentralen Erfolgsfaktoren.99 Im Adel galt Risikobereitschaft jedoch lange Zeit als nicht standesgemäß. Der Gedanke an die Nachkommenschaft und damit die Kontinuität des eigenen Geschlech-

97 Skibicki, Industrie im Fürstentum Pless (wie Anm. 8), S. 215. 98 Guido Henckel von Donnersmarck, ohne weitere Angaben, zit. nach Joseph Bitta, Art. Guido Graf Henckel Fürst von Donnersmarck, in: Friedrich Andreae u.a. (Hrsg.), Schlesische Lebensbilder, Bd. 1: Schlesier des 19. Jahrhunderts, Sigmaringen 1985, S. 119–126, hier S. 125f. 99 Lothar Gall, Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989, S. 8.

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tes spielte dabei eine wichtige Rolle.100 Press verweist auf zahlreiche Beispiele aus der Literatur, in denen Adelige aus individueller Gewinnsucht ganze Familienbesitze verspielten und daraufhin mit einem klaren Verdikt belegt wurden.101 Vorsicht als adeliges Kennzeichen findet sich auch bei Rasch, bezogen auf den Bergbau, wieder. Denn letzterer berichtet, dass der westfälische Adel seine Vorreiterrolle auf eben diesem Gebiet Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund von „Kapitalmangel, fehlender Risikobereitschaft gepaart mit fehlender Bereitschaft, neue Wege bei der Kapitalbeschaffung zu gehen“,102 verloren habe. Dem entspricht nicht völlig, aber doch zumindest in Teilen, das Wirtschaften des einzigen hier untersuchten Westfalen, Ignaz von Landsberg-Velen. Denn der führte im Bergwerks- und Hüttensektor keine Neuerungen durch, die nicht bereits andernorts erprobt waren. Ebenso überzeugte er sich von deren Wirksamkeit stets durch gleich mehrere Gutachten und schickte Beamte für eine genaue Bestandsaufnahme zu den Standpunkten, an denen die fraglichen Anlagen bereits in Betrieb waren.103 Ähnliches lässt sich für Ballestrem konstatieren. Er berichtete im Jahr 1908 in seinem Tagebuch über einen Vorschlag Pielers, welcher den hohen Holzbedarf der Rudaer Gruben auf lange Sicht hin decken sollte. Der Generaldirektor schlug vor, 50.000 Morgen Wald für neun Millionen Mark in Ungarn zu erwerben; dafür sprachen bereits mehrere angefertigte Gutachten, die allesamt positiv ausgefallen waren. Der Graf schreibt, er habe über diesen Vorschlag lange nachdenken müssen, letztlich lehne er ihn jedoch ab. Bezeichnend sind die Gründe hierfür, denn er will im Alter von 74 Jahren kein so großes Kapital mehr binden. Er befürchtete, dass es seinen Nachfolgern fehlen könnte: „Diese Risiken waren mir zu groß, um das Vermögen meiner nachgeborenen Kinder zu riskieren.“104 Zudem hatte er Bedenken wegen Ungarn, ein Land welches er als schlecht regiert und zudem äußert korrupt einschätzte. Nachdem er auch Pieler von der Idee des Erwerbs abgebracht hatte, beendet er seine Aufzeichnung mit den Worten: „Ich war sehr froh; die Sache beunruhigte mich schon lange“.105 Es zeigt sich hier, dass sowohl Landsberg als auch Ballestrem adeligem Sicherheitsdenken verhaftet waren. Allerdings sollte das Urteil nicht voreilig gefällt werden, denn zumindest Landsberg agierte außerhalb des Bergewerkssektors äußerst fortschrittlich. In Bezug auf

100 Rasch, Adelige als Unternehmer im bürgerlichen Zeitalter (wie Anm. 1), S. 26. 101 Volker Press, Adel im 19. Jahrhundert. Die Führungsschichten Alteuropas im bürgerlich-bürokratischen Zeitalter, in: Armgard Reden-Dohna/Ralph Melville (Hrsg.), Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters 1780–1860, Wiesbaden 1988, S. 1–19, hier S. 17. 102 Rasch, Adelige als Unternehmer im bürgerlichen Zeitalter (wie Anm. 1), S. 26. 103 Hinz, Die Geschichte der Wocklumer Eisenhütte (wie Anm. 33), S. 59. 104 Tagebucheintrag des Franz Graf von Ballestrem, 17. August 1908, zit. nach Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 493. 105 Tagebucheintrag des Franz Graf von Ballestrem, 17. August 1908, zit. nach Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 493.



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die Chemische Fabrik bezeichnet ihn Hinz als „Echte[n] Innovator“106. Die Idee seines Geschäftspartners, des Apothekers Dr. Ferdinand Herold, Holzkohle in geschlossenen Öfen als chemisches Produkt zu produzieren, war bisher unerprobt und eine völlige Neuheit. Sie versprach rund ein Drittel billigere Holzkohle und weniger Raubbau in den eigenen Wäldern.107 In der bürgerlich-adeligen Kooperation wurde sie erstmals – und äußerst erfolgreich, wie sich später zeigte – umgesetzt. Risikoaversion kann dem Freiherrn keinesfalls nachgesagt werden. Ebenfalls wenig „adelig“ bezüglich risikoreicher Investitionen zeigte sich Hugo von Donnersmarck. Er erbaute in den 1830er Jahren die Laurahütte als Prunkstück seines industriellen Besitzes. Zum Zeitpunkt ihrer Inbetriebnahme war sie die erste und zugleich größte Hochofenanlage in Ostdeutschland. Sie zählte zu den „technisch vollkommensten“108 Hüttenbetrieben in Schlesien. Die Finanzierung erfolgte über Gelder der Gebrüder Georg-Moritz und CarlDaniel Oppenfeld, denn dem Grafen fehlten, wie vielen Adeligen, ausreichend liquide Mittel. Den Vertrag, versehen mit sehr hohen Sicherheiten für die bürgerlichen Kapitalgeber, konnte er später durch Gelder der Königlichen Seehandlungs-Gesellschaft zur Förderung der Industrie ablösen.109 Eine gewisse Vorreiterrolle kann Hugo von Donnersmarck hier nicht abgesprochen werden und auch in Bezug auf seine anderen Besitzungen blieb er nicht hinter der Zeit zurück. So findet sich bei Skibicki eine schier unendliche Liste an Um- und Neubauten; als Beispiel seien der aufwendige Ausbau und die gleichzeitige Modernisierung der Antonienhütte genannt.110 Ähnlich gestaltete sich die Situation bei Guido. Dessen Vater galt noch als klassisch-traditioneller Großgrundbesitzer, der Bodenschätze nur verwertete, wenn ohne großen Aufwand Aussicht auf Ertrag bestand. Skibicki charakterisiert ihn gar als investitionsfeindlich und risikoaversiv.111 Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass Guido im Grunde das genaue Gegenteil seines Vaters darstellte. Denn er scheute nicht davor zurück, große Summen aufzunehmen, um sie in seinen Industriebesitz oder in die Infrastruktur, vor allem Straßen zu seinen Fabriken, zu investieren. Auf die Standortnachteile Schlesiens reagierte er so aktiv. Dabei nahm er nicht nur Hypotheken auf seine Besitztümer auf, sondern veräußerte letztere bei Kapitalknappheit auch. Im Jahr 1857 verkaufte er eigene Anlagen an die Schlesische AG für Bergbau und Zinkhüttenbetriebe, 1864/65 folgten zwei Hüttenwerke und das Breslauer Palais, um an flüssige Mittel zu gelangen.112 Bei Investitionen scheute er nicht vor neuen Industriezweigen zurück, denn seine Kapitalexpansion reichte weit über den Bergbau hinaus. Er war unter anderem an der Eisenfabrikation in Rheinland-Westfalen und an

106 Hinz, Die Geschichte der Wocklumer Eisenhütte (wie Anm. 33), S. 59. 107 Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 193. 108 Fuchs, Vom Dirigismus zum Liberalismus (wie Anm. 79), S. 139. 109 Fuchs, Vom Dirigismus zum Liberalismus (wie Anm. 79), S. 139. 110 Skibicki, Industrie im Fürstentum Pless (wie Anm. 8), S. 199. 111 Skibicki, Industrie im Fürstentum Pless (wie Anm. 8), S. 210. 112 Skibicki, Industrie im Fürstentum Pless (wie Anm. 8), S. 213f.

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der Ostseeküste, an der chemischen Industrie, an der Cellulose- und Kunstseidenfabrik wie auch am städtischen Immobiliengeschäft in Berlin beteiligt.113

5 Soziales Wohltätigkeit fand im 19. Jahrhundert primär in Vereinen statt und war die Domäne adeliger Frauen.114 Die hier untersuchten männlichen Adeligen engagierten sich ebenfalls allesamt, wenn auch mehr durch Geldaufwendungen als durch Arbeitseinsatz wie zahlreiche Damen in den Vereinen. Alle vier Adeligen kennzeichnete eine enorme Spendenfreude. Heimatnahe Projekte waren hierbei besonders beliebt, wie das Beispiel Ballestrems zeigt. Er ließ in Schlesien ein Krankenhaus, ein Witwenhaus, ein Kinderheim, und ein Bergmannsheim errichten.115 Hugo von Donnersmarck förderte vor allem das Vereinswesen. Sowohl Kriegervereine, Turnvereine als auch Jugendspielvereine kamen in den Genuss seiner Gelder. Zudem erwies er sich als Mäzen der Bildung. Während Ballestrem ein Realgymnasium errichtete, finanzierte Hugo von Donnersmarck eine Kleinkinderschule sowie eine Haushaltungsschule, die jeweils kostenlos besucht werden konnten, sowie insgesamt 17 neue Schulhäuser.116 Vielfach unterstützt wurde die Kirche. Ballestrem unterstützte Geistliche, Missionare, die katholische Presse sowie verschiedene katholische Vereine. Auch der Protestant Guido von Donnersmarck gab reichlich für den Neubau mehrerer katholischer Kirchen und den Umbau der evangelischen Kirche in Tarnowitz. Überhaupt war sein soziales Engagement äußerst bekannt.117 Die Liste der von ihm geförderten Projekte ist schier endlos: Er errichtete Krankenhäuser, Kinderheime, ein Kriegslazarett, mehrere Schulen und gewerbliche Unterstützungskassen. Zudem gab er für Wohlfahrtseinrichtungen und förderte besonders die Wissenschaft und die Medizin.118 Im Jahr 1898 errichtete er die besonders bedeutsame, nach ihm benannte, Guido-Stiftung in Höhe von 1,5 Millionen Mark.119 113 Pinner, Deutsche Wirtschaftsführer (wie Anm. 34), S. 105. 114 Monika Wienfort, Gesellschaftsdamen, Gutsfrauen und Rebellinnen. Adelige Frauen in Deutschland 1890–1939, in: Eckart Conze (Hrsg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2004, S. 181–204, hier S. 183. 115 Neubach, Franz Graf von Ballestrem (wie Anm. 11), S. 12f. 116 Margarete Czaja, Der industrielle Aufstieg der Beuthen-Siemianowitzer und Tarnowitz-Neudecker Linie der Henckel v. Donnersmarck bis zum Weltkrieg, München 1936, S. 57. 117 U.a. Fuchs, Guido Friedrich Graf Henckel v. Donnersmarck (wie Anm. 8), S. 251. 118 Laubner, Guido Henckel v. Donnersmarck (wie Anm. 27), S. 31. 119 Bitta, Guido Graf Henckel Fürst von Donnersmarck, S. 125. Dabei ist zu bedenken: Guido von Donnersmarck verfügte im Jahr 1908 über ein Vermögen von 177 Millionen Mark und ein jährliches Einkommen von 10,5 bis 12 Millionen Mark. Auf der Liste der reichsten Personen Preußens musste er sich nur Bertha Krupp von Bohlen geschlagen geben: Laubner, Guido Henckel v. Donnersmarck (wie Anm. 27), S. 28. Zudem war Wohltätigkeit nicht die alleinige Domäne des Adels. Auch bürgerliche Unternehmer wie die Krupps konnten auf uneigennützige Einsätze verweisen, u.a. Berthas Mann, Gustav



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Recherchen über die genauen Arbeitsbedingungen in den Hütten und Fabriken der untersuchten Adeligen sind schwierig. So verweist Böth im Falle Landsbergs auf nur sehr wenige überlieferte Dokumente, die kein klares Bild der Situation erlauben.120 Jedoch ist davon auszugehen, dass sowohl Arbeitszeiten als auch Vergütung den im Kaiserreich üblichen Verhältnissen entsprachen. 13 oder 14 Stunden Anwesenheit in der Fabrik sowie ein Lohn, der keine gesicherte Existenz erlaubte, waren in den Werken Landsbergs Alltag.121 Ähnliches gilt auch für die anderen hier analysierten Personen. Czaja schreibt, dass es über Hugo von Donnersmarck bezüglich der Arbeitszeiten „nichts Besonderes zu berichten“ gibt. Seinen Arbeitern zahlte er Akkordlohn; für die Höhe waren „die Kosten der Lebenshaltung in den einzelnen Revieren maßgebend“.122 Letztere wurden allein vom Arbeitgeber ermittelt. Genaue Angaben über die gezahlten Löhne liegen, wie bei den anderen Magnaten und Landsberg, nicht vor. Es finden sich keine Hinweise auf eine bessere Bezahlung als in den bürgerlichen Betrieben. Das betriebliche Strafregime war wohl in den adeligen Unternehmen recht ausgeprägt. Zu den wahrscheinlich geringen Löhnen kamen hohe Strafen bei Verstößen gegen die Fabrikordnung. Betrunken angetroffene Arbeiter wurden in Landsbergs Fabriken für acht Tage von der Arbeit ausgeschlossen und zu einer Einmalzahlung von fünf Silbergroschen verpflichtet. Eine morgendliche Verspätung um fünf Minuten wurde ebenfalls mit fünf Silbergroschen bestraft.123 Dass die Arbeitsplatzsituation für die Beschäftigten bei Ballestrem kein zufriedenstellendes Maß erreichte, zeigen mehrere Streiks in seinen Gruben. Unter anderem fuhren im Jahr 1889 60 Schlepper aus und forderten kürzere Arbeitszeiten sowie eine bessere Bezahlung. 42 der Bergleute, die auch nach einer Ermahnung nicht wieder einfuhren, wurden der Grube verwiesen.124 Drei Tage später weigerte sich die gesamte Belegschaft einer weiteren Grube, der Brandenburggrube, ihre Arbeit aufzunehmen. Wenig zimperlich ließ Ballestrem Militär hinzuziehen und den Protest auflösen. Die „Rädelsführer“125 wurden verhaftet. Nach weiteren Arbeitsverweigerungen lehnte Ballestrem das von Pieler favorisierte Einlenken ab und ordnet an, dass „auf keinen Fall weiter nachgegeben und einmal die Kraftprobe gemacht werden“126 solle. Nichts Krupp, der sich in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, der heutigen Max-Planck-Gesellschaft, betätigte: www.thyssenkrupp.com/de/konzern/geschichte_grfam_k4.html [15.01.2013]. 120 Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 243. 121 Fabrikordnung der chemischen Fabrik zu Wocklum, 20. Dezember 1837, zit. nach Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 249. 122 Czaja, Der industrielle Aufstieg (wie Anm. 116), S. 53. 123 Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 246. 124 Tagebucheintrag des Franz Graf von Ballestrem, 21. Mai 1889, zit. nach Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 210. 125 Tagebucheintrag des Franz Graf von Ballestrem, 24. Mai 1889, zit. nach Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 211. 126 Tagebucheintrag des Franz Graf von Ballestrem, 5. Januar 1890, zit. nach Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 212.

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desto trotz führte er kurz darauf als erster Unternehmer im Alleingang die achtstündige Schicht und damit eine deutliche Arbeitszeitverkürzung für alle Arbeiter ein.127 Von Ballestrem stammt ein Beispiel, das von den Gefahren und mangelnden Sicherheitsvorkehrungen in den Gruben und Hütten des 19. Jahrhunderts berichtet. Der Graf besuchte im Jahr 1890 einen neu eingerichteten Schacht und wurde dabei Zeuge, wie ein 16-jähriges Kohlenmädchen an seinem Arbeitsplatz verunglückte. Sie verstarb kurz darauf, noch in seiner Gegenwart. Das Mädchen, erst seit kurzem in dem Unternehmen beschäftigt, sei, wie er in seinem Tagebuch berichtet, „aus Unvorsichtigkeit zwischen die Puffer von rangierenden Kohlenwagen“128 geraten. Ballestrem schreibt den Vorfall zwar in sein Tagebuch nieder, geht danach allerdings sofort zu weiteren Berichten über. Dies deutet darauf hin, dass solche Unglücksfälle auch in adeligen Betrieben keine Ausnahme waren. Für Guido von Donnersmarcks Unternehmen sind besonders menschenunwürdige Arbeitsverhältnisse anzunehmen; sie werden als „berüchtigt“ und „besonders gesundheitsschädlich“129 beschrieben. Laubner verweist auf den massenhaften Einsatz weiblicher wie jugendlicher Kräfte zur Lohndrückung.130 Die Missstände wurden auch von seinen Zeitgenossen wahrgenommen, wie ein Artikel der Neuen Zeit von 1897 über die preußischen Steinkohlenbergleute belegt: Das ‚adelige‘ Kapital ist also noch nicht zufrieden mit der schon erreichten Verelendung seiner Arbeiter, es muß noch schlechter für den Proletarier werden. […] Noth, Elend und Kummer verfolgt den preußischen Kohlengräber … Die reichen Früchte … fließen in die Taschen derer, die sich zum guten Theil zu den Edelsten und Besten der Nation zählen. Dabei sehen die `Patrioten` ruhig zu, wie ein zahlreicher Arbeiterstand in Folge schwerer Arbeit bei unzulänglicher Befriedigung seiner Bedürfnisse körperlich und geistig degeneriert.131

Der Artikel bezieht sich nach Laubner vor allem auf Guido von Donnersmarck. Diesem wurden Bereicherung auf Kosten der Armen und eine schier unerschöpfliche Gier vorgeworfen. Da der Artikel im Plural verfasst wurde, werden zumindest indirekt auch die anderen im Bergbau tätigen Adeligen angesprochen. Soziale Probleme betrafen demgemäß auch Gruben unter adeliger Leitung. Kapitalismus im Sinne von Ausbeutung der Arbeiter war also kein rein bürgerliches Phänomen. Vielmehr passte sich der

127 Zuvor war sein Vorschlag diesbezüglich auf einer Konferenz sämtlicher Direktoren der oberschlesischen Kohlenwerke in Kattowitz einstimmig abgelehnt worden: Tagebucheinträge des Franz Graf von Ballestrem, 5./6. Januar 1890, zit. nach Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 212. 128 Tagebucheintrag des Franz Graf von Ballestrem, 24. Juli 1890, zit. nach Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 213. 129 Helga Nussbaum, Art. Henckel von Donnersmarck, Graf Guido, in: Karl Obermann u.a. (Hrsg.), Biographisches Lexikon zur Deutschen Geschichte. Von den Anfängen bis 1917, Berlin 1967, S. 205f. 130 Laubner, Guido Henckel v. Donnersmarck (wie Anm. 27), S. 31. 131 Die Neue Zeit, 15. Jahrgang, Bd. 1, 1887, S. 461, 491, zit. nach Guido Henckel v. Donnersmarck (wie Anm. 27), S. 31.



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Adel den negativen Gepflogenheiten seiner Zeit an oder übertraf sie, in Person des Protestanten Guido Henckel von Donnersmarck, sogar. Allerdings kann den Adeligen nicht vorgeworfenen werden, der sozialen Frage gegenüber die Augen verschlossen zu haben. So plädierte Landsberg in einem Brief an seinen Sohn gegen Spenden an den katholischen Bettelorden der Trappisten, da „den Armen und Proletariern die Armut nicht erträglicher wird, weil die Mönche sie freiwillig wählen“. Die Mönche entzögen den tatsächlich Armen Gaben, „die sie leichter sammeln“.132 Das Proletariat setzte Landsberg hier mit „Armen“ gleich. Indirekt deutet er an, dass auch die Fabrikarbeiter auf Spenden und Unterstützung angewiesen sind. Die Notwendigkeit, etwas an der Situation des Proletariats zu ändern, erkannten auch Ballestrem und Hugo wie Guido von Donnersmarck. Alle drei nahmen den Wohnungsmangel als Anlass, Arbeitersiedlungen zu errichten. Hugo von Donnersmarck baute ca. 230 Wohnungen aus eigenen Mitteln und überließ sie seinen Arbeitern zu 30 bis 50 % niedrigeren Mieten als im jeweiligen Ort üblich. Für ledige Arbeiter baute er Schlafhäuser. Die Neubauten waren nicht nur eine Reaktion auf fehlende Wohnungen, sondern auch auf die primitive und besonders in hygienischer Sicht unzulängliche Bauweise vieler bestehender Unterkünfte.133 Gleiches gilt für die von Ballestrem errichteten Kolonien, die einen Ruf als besonders modern und gut eingerichtet weit über die Region hinaus genossen.134 Guido errichtete zwar Siedlungen,135 über ihre Ausstattung finden sich jedoch keine Informationen. Landsberg baute keine Unterkünfte, sondern reagierte auf das Problem, indem er Teile seiner Belegschaft in der Rentei in Wocklum unterbrachte.136 Außerdem ließ er die erhobenen Strafbeträge zumindest teilweise in die Armen- und Krankenkasse der Fabrik fließen.137 Ein kostenloser Arzt wurde durch gleichbleibende, kleine Abzüge vom Lohn der Arbeiter finanziert.138 Überdies betätigte er sich, wie Hugo und von Donnersmarck, im frühen Sparkassenwesen. Beide ermöglichten ihren Arbeitern kleine Sparkonten und verbilligte Darlehen.139 Vorreiter waren sie allerdings nicht; Reininghaus beispielsweise berichtet von Unterstützungskassen, die in Teilen des Rheinlands bereits in den 1840er Jahren üblich waren.140 Bei Hugo, aber auch bei Guido von Donners-

132 Ignaz von Landsberg-Velen an seinen Sohn Friedrich, o.D., zit. nach Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen, S. 251. 133 Czaja, Der industrielle Aufstieg (wie Anm. 116), S. 55f. 134 Neubach, Franz Graf von Ballestrem (wie Anm. 11), S. 12. 135 Laubner, Guido Henckel v. Donnersmarck (wie Anm. 27), S. 31. 136 Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 243. 137 Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 246. 138 Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 252. 139 Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 252; Czaja, Der industrielle Aufstieg (wie Anm. 116), S. 55. 140 Wilfried Reininghaus, Staat, Handwerker und Arbeiter in der Provinz Westfalen 1815–1870, in: Karl Teppe/Michael Epkenhans, Westfalen und Preußen. Integration und Regionalismus, Paderborn 1991, S. 197–206, hier S. 203.

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marck sind sogenannte Konsumvereine zu finden.141 Diese ermöglichten den Arbeitern günstige Einkäufe von Lebensmitteln. Bei Hugo von Donnersmarck gab es zudem eine Kantine, welche die Arbeiter zu Selbstkostenpreisen mit warmen Mahlzeiten versorgte. Alkohol wurde nicht ausgegeben.142 Guido von Donnersmarck veranstaltete mehrfach Arbeiterfeste.143 Ballestrem engagierte sich als einziger über den eigenen Betrieb hinaus, indem er seine politische Macht für das Proletariat einsetzte. Zu seinen politischen Steckenpferden zählten sozialpolitische Themen und insbesondere der Arbeiterschutz.144 Sein Engagement blieb nach außen hin nicht unbemerkt; Laslowski berichtet, dass er in Teilen des Volkes wie unter seinen Arbeitern „unser[n] Franzek“145 genannt wurde.

6 Erbe Press verweist auf viele adelige Geschlechter, die im ökonomischen Bereich innovativ waren, aber in fast allen Fällen Fideikommisse aufrecht erhielten. Der Historiker wertet dies als klares Kennzeichen der Distanzierung vom risikobewussten Unternehmertum.146 Und auch die hier untersuchten Adeligen hielten weitgehend an Primogenitur und Fideikommiss fest und vererbten, im Falle von Landsberg und Ballestrem, jeweils den gesamten Besitz an ihren erstgeborenen Sohn. Bei Hugo von Donnersmarck führten die drei Söhne Hugo, Lazarus (Lazy) und Arthur den Besitz „in gleichberechtigter Weise“147 weiter. Friedrich von Landsberg erhielt nach dem Tod des Vaters im Jahr 1863 die beiden Fideikommisse Landsberg und Velen; bei Ballestrem erhielt der Älteste, Valentin, den Familienfideikommiss Plawniowitz und damit alle industriellen Anlagen. Geschwister hatten bei diesem Modell keine größeren Ansprüche – seinen Schwestern musste Friedrich von Landsberg jeweils 6000 Reichstaler Aussteuer sowie 4000 Reichstaler aus den „Acquisiten“ des verstorbenen Vaters zahlen; darüber hinaus hatten sie selbst für ihr Auskommen zu sorgen.148 Friedrich war zumindest in Teilen, zum Beispiel durch einen Aufenthalt bei deutschen Chemikern in England149, auf seine 141 Alfons Perlick, Art. Henckel von Donnersmarck, Hugo Karl Anton Lazarus Graf, in: Neue Deutsche Biographie 8, Berlin 1969, S. 517. 142 Czaja, Der industrielle Aufstieg (wie Anm. 116), S. 56. 143 Laubner, Guido Henckel v. Donnersmarck (wie Anm. 27), S. 31. 144 Neubach, Franz Graf von Ballestrem (wie Anm. 11), S. 10. 145 Ernst Laslowski, „Unsern Franzek“ nannten ihn die Kumpels. Franz Graf von Ballestrem, in: Alfons Hayduk (Hrsg.), Große Schlesier. Geistestaten – Lebensfahrten – Abenteuer, München 1971, S. 144–146, hier S. 144. 146 Press, Adel im 19. Jahrhundert (wie Anm. 101), S. 17. 147 Rasch, Adelige als Unternehmer im bürgerlichen Zeitalter (wie Anm. 1), S. 32. 148 Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 259. 149 Hinz, Die Geschichte der Wocklumer Eisenhütte (wie Anm. 33), S. 67.



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zukünftige Rolle als Unternehmer vorbereitet worden. Er erwies sich in geschäftlichen Dingen als äußerst geschickt. Die Jahresproduktion der chemischen Fabrik steigerte er in den Jahren 1866/1867 gegenüber dem Produktionshöhepunkt seines Vaters 1852/1853 um rund ein Drittel auf 75.000 Zentner Holzkohle. Ebenso löste er sich von der alleinigen Produktion in Wocklum und errichtete eine weitere Chemische Fabrik in Grevenbrück im Kreis Olpe.150 Der Standort Wocklum bestand nichts desto trotz bis zur Weltwirtschaftskrise 1930 fort.151 Heute produziert die „Chemische Fabrik Wocklum Gebr. Hertin GmbH & Co. KG“ als bürgerliches Unternehmen mit 115 Mitarbeitern und bewirbt ihre Dienste u.a. mit einer eigenen Internetseite.152 Valentin von Ballestrem trat in zweifacher Hinsicht in die Fußstapfen seines Vaters; er übernahm nicht nur den Industriebesitz und erweiterte diesen, sondern war auch aktives Mitglied im Zentrum.153 Die katholische Linie der Donnersmarcks konnte mit ihrem Modell der Teilung ebenfalls Erfolge erzielen. Der Schwerpunkt des Erbes lag hier jedoch auf den landwirtschaftlichen Gütern, denn Hugo von Donnersmarck gab große Teile des Industriebesitzes bereits zu Lebzeiten ab. Er verkaufte etwa die Brzezowitz-Zinkgrube, die Heinitzgrube wie auch die Siemianowitzer Gruben. „Der industrielle Niedergang der damaligen Zeit“154 kann als Grund angenommen werden. Wert legte der Graf auf den Erhalt des Grundbesitzes „in der fideikommissarischen Bindung der Familie“. Dies gelang ihm auch, denn seinen Söhnen vererbte er insgesamt 14540 Hektar Land.155 Auf lange Sicht maß Hugo von Donnermarck dem Grundbesitz wesentlich mehr Bedeutung zu als seinen Industrieanlagen; vermutlich, da er ihn in ungewissen Tagen als krisenfester ansah. Trotz der geschmälerten industriellen Basis erzielten die Söhne im Rahmen der offenen Handelsgesellschaft Generaldirektion der Grafen Henckel von Donnersmarck-Beuthen große Erfolge. Fuchs gibt an, dass die drei Erben in ihrer Bedeutung an der Jahrhundertwende Guido von Donnersmarck überholt hätten.156 Auch in späteren Jahren, besonders unter Graf Edgar, konnte sich die Linie behaupten. Unter anderem folgten anno 1921 die Gründung der The Henckel von Donnersmarck-Beuthen Estates Limited sowie 1928 der Bau der Beuthengrube.157 Am wenigsten erfolgreich waren die Erben des Guido von Donnersmarck. Der Patron behielt seine alleinige Position an der Spitze des Unternehmens bis zu seinem Ableben mit über 80 Jahren bei. Aufgaben frühzeitig an seine Söhne zu delegieren hatte er versäumt – letztere erweisen sich nach seinem Tod als überfordert angesichts der zahlreichen Herausforderungen. Das Unternehmen schrumpfte in Folge stetig, 150 Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen (wie Anm. 15), S. 185. 151 Rasch, Westfälische Adelige (wie Anm. 21), S. 191–193. 152 www.wocklum.de [10.12.2012]. 153 www.ballestrem.de/Valentin.html [22.12.2012]. 154 Perlick, Oberschlesische Berg- und Hüttenleute (wie Anm. 14), S. 42. 155 Skibicki, Industrie im Fürstentum Pless (wie Anm. 8), S. 208. 156 Fuchs, Vom Dirigismus zum Liberalismus (wie Anm. 79), S. 254. 157 Perlick, Henckel von Donnersmarck (wie Anm. 141), S. 517.

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beispielsweise ging das Eisenwerk Kraft an eine holländische Gruppe über und die Aktiengesellschaft für Bergbau und Hüttenbetriebe geriet unter französischen Einfluss. Letztlich blieben nur die oberschlesischen Montanwerke sowie die Grundstücke der Familie. Die Tätigkeit der Söhne konzentrierte sich fortan hierauf.158 Das Überleben des Familienunternehmens trotz Fehlentscheidungen und weniger begabter Sprösslingen an der Spitze – nach Rasch das primäre Ziel adeliger Wirtschaftspolitik159 – konnten somit nur die katholischen Unternehmer erreichen.160 Die Unternehmung Guido von Donnersmarcks hingegen überdauerte dessen Person nicht. Ein Zusammenhang zwischen vom Katholizismus beeinflusster, zurückhaltender Wirtschaftsweise und langfristigem Bestehen der Unternehmungen kann angenommen werden.161

V Fazit Beim Ausgangsportfolio fällt neben dem großen ökonomischen Kapital auf, dass keiner der vier Protagonisten selbst als Unternehmensgründer auftrat; bei allen waren die Gruben oder Werke im Familienbesitz zumindest angelegt. Stets basierte das industrielle Engagement auf Bodenschätzen, gefunden auf dem eigenen Grund, und es existierten zusätzliche Einnahmen aus der Land- beziehungsweise Forstwirtschaft.162 Jacob sagt über den sächsischen Adel und dessen Braunkohle- und Kaligruben, dass deren Zweck weniger ein industrielles Imperium als vielmehr die Unterstützung der Gutsherrschaft darstellte.163 Dies trifft zum Übernahmezeitpunkt zumindest teilweise auf Landsberg und auf die protestantische Linie der Donnersmarcks zu. Weniger auf Ballestrem und Hugo von Donnersmarck, denn hier hatten die Vorgänger die industriellen Anlagen bereits vielfach ausgebaut. Die Ausbildung der vier Adeligen changiert zwischen Tradition und Fortschritt. Landsberg wie Ballestrem durchliefen die typisch adelige Jungenausbildung, ergänzt um „bürgerliche“ Elemente wie Gymnasium und Abitur. Nur Ballestrem besuchte anschließend eine Bergbauakade158 Pinner, Deutsche Wirtschaftsführer (wie Anm. 34), S. 108f. 159 Rasch, Adelige als Unternehmer im bürgerlichen Zeitalter (wie Anm. 1), S. 26. 160 Über Ballestrem und die Söhne des Hugo von Donnersmarck hinaus konnten von den Magnaten nur die Herzöge von Pless ihren Montanbesitz langfristig erhalten: Fuchs, Guido Friedrich Graf Henckel v. Donnersmarck (wie Anm. 8), S. 239. 161 Inwiefern evangelische Betriebe tatsächlich quantitativ häufiger von Schließungen betroffen waren, bleibt zu erforschen. 162 Grund und Boden als Ausgangspunkt und zusätzliches Standbein kennzeichnet zahlreiche adelige Unternehmer und insbesondere die Magnaten: Skibicki, Industrie im Fürstentum Pless (wie Anm. 8), S. 24; Hinz, Die Geschichte der Wocklumer Eisenhütte (wie Anm. 33), S. 230. 163 Thierry Jacob, Das Engagement des Adels der preußischen Provinz Sachsen in der kapitalistischen Wirtschaft 1860–1914/18, in: Reif (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland, Bd. 1, S. 273–330, hier S. 292.



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mie, die ihn auf die Übernahme der Gruben vorbereiten sollte. Landsberg hingegen studierte Jura. Vom „adeligen ‚Dillentalismus‘164 zu sprechen, erscheint nicht ungerechtfertigt. Gewichtiger Teil des adeligen Portfolios ist die Nähe zu Standesgenossen und vor allem die Bindung an Kirche und Religion. Dies betraf ihre Netzwerke, den Bereich Erziehung und ihre praktische Frömmigkeit. Eine besonders auffällige Nähe zum Katholizismus in allen Bereichen war für Ballestrem zu konstatieren. „Katholisch vor allem“,165 ein Ausspruch von Constantin von Waldburg-Zeil (1807–1862), kann insbesondere für sein Leben geltend gemacht werden. Aus dem Rahmen fällt Guido von Donnersmarck. Es sei hier nur auf seine Zeit in Paris und seine erste Ehefrau verwiesen.166 Standesgemäßes Verhalten spielte bei ihm eine wesentlich geringere Rolle. Auffällig ist zudem, dass sich keinerlei Hinweise auf eine besondere Nähe zur Religion fanden. Weder er selbst äußerste sich demgemäß noch sind entsprechende Einschätzungen anderer Personen überliefert. So deutlich die Forschung die ideelle Distanz vom Unternehmertum und der kapitalistischen Wirtschaftsweise herausgestellt hat,167 so bleibt doch der große Einfluss neuthomistischer Vorstellungen auf das Weltbild der Katholiken frappierend. In der kulturellen Praxis des industriellen Engagements nimmt der Protestant Guido von Donnersmarck abermals eine Sonderstellung ein. Er konnte in allen Bereichen als „modern“ ausgemacht werden. Er investierte im Ausland, zeigte hohen persönlichen Einsatz und schlug neue Wege bei der Kapitalbeschaffung ein. Von Schollenbindung oder Risikovermeidung kann bei ihm keine Rede sein. Das bürgerliche Unternehmerideal168 verkörperte er uneingeschränkt. Zugleich erzielte er die größten Erfolge unter den Magnaten – sein Vermögen wurde vor dem Ersten Weltkrieg auf 250 Millionen Goldmark geschätzt,169 auf der Liste der preußischen Millionäre belegte er den zweiten Platz. Sinnfälligerweise ergaben sich für seine Fabriken sehr harte Arbeitsbedingungen. Bei den katholischen Adeligen erwies sich die Charakterisierung als schwieriger und die Ergebnisse fielen weniger eindeutig aus. Hugo von Donnersmarck 164 Wienfort, Der Adel in der Moderne (wie Anm. 30), S. 161. 165 Walter- Siegfried Kircher, Ein fürstlicher Revolutionär aus dem Allgäu. Fürst Constantin von Waldburg-Zeil 1807–1862, Kempten 1980, S. 144. 166 Die soziale Öffnung bzw. Abschottung des Adels durch sein Heiratsverhalten wurde in der Forschung mehrfach aufgegriffen; für den wohlhabenden Hochadel ergab sich ein relativ geschlossener Heiratskreis: Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert (wie Anm. 6), S. 60f. Inwiefern der protestantische Adel solche Konventionen öfter durchbrach als seine katholischen Pendants, ist der Literatur nicht zu entnehmen; Allerdings forcierte zum Beispiel das ebenfalls evangelische Magnatengeschlecht TieleWinkler die zweite Heirat von Maria Freifrau von Aresin mit Franz Winkler (1803–1851). Letzterer war der bürgerliche Bergwerksleiter ihres zuvor verstorbenen Ehemannes. 167 Zu nennen für einen evangelischen Adeligen ist zum Beispiel Hugo von Hohenlohe-Öhringen. 168 Unternehmungsgeist, Risikofreude, Erfolgsstreben und Leistungsbewusstsein (u.a.): Johanna Schultze, Die Auseinandersetzung zwischen Adel und Bürgertum in den deutschen Zeitschriften der letzten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts (1773–1806), Berlin 1965 (= Historische Studien; Heft 163), S. 21f. 169 Fuchs, Guido Friedrich Graf Henckel v. Donnersmarck (wie Anm. 8), S. 250.

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war in vielen Bereichen seinem protestantischen Verwandten ähnlich. Auch er investierte im Ausland und war zudem der erste Magnat, der seine Besitzungen in eine Aktiengesellschaft einbrachte. Eine lebensweltliche Distanz konnte für ihn ebenso wenig ausgemacht werden wie für die anderen Unternehmer. Nichts desto trotz hielt er Grundbesitz auf Dauer für die sicherste Kapitalanlage.170 Insgesamt fanden sich über ihn und seine Wirtschaftsweise die wenigsten Informationen, weshalb in seiner Charakterisierung Stellen offen bleiben. Landsberg durchlief eine Entwicklung vom wenig präsenten Gesellschafter hin zum engagierten Chemiefabrikanten, der sich für alle chemischen Publikationen interessierte und selbst experimentierte. Bürgerlichen gegenüber zeigte er sich insofern aufgeschlossen, als er deren steigende Bedeutung erkannte und zu nutzen versuchte. Seine Arbeiter unterlagen einer äußerst strengen Fabrikordnung und wurden mit großer Wahrscheinlichkeit ähnlich entlohnt wie in bürgerlichen Betrieben. Eingeschränkt werden muss das Bild des letztlich „industriellen Unternehmer[s]“171 durch die deutlich erkennbare Schollenbindung und sein vorsichtiges Verhalten im Bereich der Eisenerzeugung. Ballestrem, der für seinen Glauben auch im öffentlichen Bereich eintrat, zeigte am ehesten die in der Forschung angenommene Wirtschaftsweise. Er blieb Oberschlesien stets verbunden, scheute zumindest im Alter Investitionen und versuchte, wie Hugo von Donnersmarck, den Familienbesitz zu sichern. Er repräsentierte seinen Besitz vornehmlich nach außen hin, investierte seine knappen Zeitreserven aber beispielsweise durchaus in Grubenfahrten. Jacobs Einschätzung, der gemäß der Adel „nicht alle Möglichkeiten [...] der Bereicherung“172 nutzte, trifft auf ihn am ehesten zu. Er spendete vielfach und war zu sozialen Zugeständnissen bereit. Die „Sicherung des Familienstatus[es]“173 als wichtiges Ziel konnte bei allen katholischen Vertretern ausgemacht werden.174 Fideikommisse wurden stets aufrechterhalten und der Gedanke an die Nachfolger prägte das Wirtschaften erheblich. Die Ablehnung einer kostspieligen Neuinvestition kann bei Ballestrem konkret hierauf zurückgeführt werden. Die Sorge um die Nachfolge scheint einer der maßgeblichen Gründe für das vorsichtige Wirtschaften vieler Ade170 Skibicki, Industrie im Fürstentum Pless (wie Anm. 8), S. 208. Er vertritt eine im Adel nicht seltene Meinung, wie u.a. ein Ausspruch des Hugo Fürst zu Hohenlohe-Oehringen (1816–1897) im Jahr 1854 zeigt: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß sich das in gewerbliche Unternehmungen verwendete Kapital höher verzinst als der Besitz von Grund Boden, aber ebenso anerkannt ist auch, daß jede Kapitalien umso unsicherer stehen. Ich glaube daher, daß wir an dem Grundsatz, die flüssig gewordenen Fideikommißgelder stets wieder in Grundeingentum anzulegen, als an einer Lebensbedingung des Adels im Wesentlichen jederzeit festhalten müssen…“, zit. nach Rasch, Adelige als Unternehmer (wie Anm. 1), S. 89. 171 Gitta Böth, zit. nach Klaudia Sluka, Adel verpflichtet. Ignaz von Landsberg-Velen und die chemische Fabrik Wocklum, in: Westfalenspiegel 6/2004, S. 54. 172 Jacob, Das Engagement des Adels (wie Anm. 163), S. 330. 173 Jacob, Das Engagement des Adels (wie Anm. 163), S. 327. 174 Manche Adelige halten bis heute unter Verweis auf die Langfristigkeit und das Denken in Generationen als Spezifikum des Adels am Fideikommissrecht fest: Wienfort, Der Adel in der Moderne (wie Anm. 30), S. 163.



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liger zu sein.175 Bei Guido von Donnersmarck fanden sich keine dementsprechenden Hinweise. Der Befund über die Ausnahmestellung des Protestanten wirkt eindeutig, zu beachten aber bleibt, dass die Gründe für das Handeln der Personen aus heutiger Sicht nicht mehr fehlerfrei rekonstruierbar sind – Aussagen über ihre Religiosität sind lediglich begründete Annahmen. Ebenso wurde hier nur ein evangelischer Adeliger untersucht, der zusätzlich sehr erfolgreich gewirtschaftet hat176. Sein Verhalten kann keinesfalls auf alle protestantischen adeligen Unternehmer übertragen werden. Der Vergleich mit „dem Bürgertum“ ist insofern nur eingeschränkt gültig, als auch dieses eine inhomogene Schicht darstellt, innerhalb derer sich auch weniger risikoreiche Wirtschaftsweisen fanden. Es bleibt zu fragen, ob auch kleinere Unternehmer konfessionell unterschiedlich gewirtschaftet haben.177 Die Tendenzlinie für weitere Forschungen soll freilich in jedem Fall klargezogen werden: Der These, dass der katholische Adel noch investitionsfeindlicher und risikointensiver als seine evangelischen Standesgenossen gewirtschaftet hat, ist zumindest partiell zuzustimmen.

175  Vgl. u.a. das Beispiel der Fürstenbergs, die bei der Führung ihres Hammer- und Eisenwerks auf den „Grundsatz der Nachhaltigkeit“ (zit. nach Berghoff, Adel und Industriekapitalismus (wie Anm. 2), S. 255) setzen. 176 Es ergeben sich Hinweise, dass kleinere Unternehmer zurückhaltender als die hier untersuchten erfolgreichen Unternehmer gewirtschaftet haben (vgl. Rasch, Westfälische Adelige (wie Anm. 21), S. 196). 177 Es ergeben sich Hinweise, dass diese insgesamt zurückhaltender als die hier untersuchten erfolgreichen Unternehmer waren (vgl. Rasch, Westfälische Adelige (wie Anm. 21), S. 196).

 II Genderkonzeptionen

Ricarda Stobernack

Verbürgerlichung des Adels? Die Lebenswelten katholisch-adeliger Mütter im 19. Jahrhundert

I Einleitung Die Vorstellung vom Adel „als Träger des retardierenden, des konservativen Prinzips schlechthin“1 hat die Forschung längst ad acta gelegt. Ebenso unstrittig erscheint gleichwohl die lebensweltliche Distanz zwischen Adel und Bürgertum auch nach den Umbrüchen der „Sattelzeit“. Den wenigen verbliebenen Anhängern der Sonderwegsthese haben vor allem kulturgeschichtlich ausgerichtete Arbeiten immer wieder entgegengehalten, dass sich für die Moderne weder eine Feudalisierung des Bürgertums noch eine Verbürgerlichung des Adels konstatieren lässt. Es habe Nivellierungstendenzen, aber „weder eine soziale noch eine habituelle Annäherung“ gegeben.2 Aus elitentheoretischer Perspektive formuliert Silke Marburg: „Die Formierung der gesellschaftlichen Elite stellt sich als ein teils kohäsives, teils adhäsives Wechselspiel zweier gesellschaftlicher Großgruppen dar, dessen irritierende [...] Eigenschaft es aber im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts blieb, dass es die Gruppenidentitäten niemals gänzlich nivellierte.“3 Besonders groß scheint das Bemühen um Distinktion im katholischen Adel zu sein.4 Es fällt allerdings auf, dass der Dialog zwischen Adels- und der zumeist ungleich fortgeschrittenen Bürgertumsforschung nicht immer besonders intensiv ausfiel. Ein markantes Beispiel liefert ein Aufsatz von Stephan Malinowski und Marcus Funck, der die Spezifika adeliger Erziehung nur durch kursorischen Blick auf entsprechende Arbeiten zum Bürgertum zu illustrieren versucht.5 Vor diesem Hintergrund möchte dieser Beitrag die Nivellierung von Adel und Bürgertum im 19. Jahrhundert ins Blickfeld nehmen und wählt dazu einen Gegenstand, der bisher, trotz des Adelsbooms in der neuzeitlichen Forschung,6 nahezu unbeachtet 1 Marko Kreutzmann, Zwischen ständischer und bürgerlicher Lebenswelt. Adel in Sachsen-WeimarEisenach 1770 bis 1830, Köln u.a. 2008, S. 2. 2 Alexandra Gerstner, Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008, S. 15. 3 Silke Marburg, Europäischer Hochadel. König Johann von Sachsen (1801–1873) und die Binnenkommunikation einer Sozialformation, Berlin 2008, S. 24f. 4 Vgl. zum Beispiel die Ausführungen Wienforts zur Eheschließung: Monika Wienfort, Der Adel in der Moderne, Göttingen 2006, S. 114f oder Heinz Reifs Betrachtungen zur „Bindekraft des katholischen Milieus“: Heinz Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 104. 5 Marcus Funck/Stephan Malinowski, „Charakter ist alles!“. Erziehungsideale und Erziehungspraktiken in deutschen Adelsfamilien des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 6, 2000, S. 71–91. 6 Siehe die in der Einleitung dieses Bandes genannten Monografien.

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blieb: Die Lebenswelten adeliger Mütter.7 Es werden drei Mütter verschiedener Generationen in Augenschein genommen, zu denen die Quellensituation als relativ solide angesehen werden kann: Sophia Gräfin zu Stolberg-Stolberg (1765–1842), Bertha Gräfin von Ballestrem (1803–1874) und Marie von Savigny (1831–1905). Alle sind katholisch und haben entweder einen Ehemann oder einen Sohn, der sich für den Katholizismus auch parteipolitisch engagiert hat.8 Vorgegangen werden soll in drei Schritten: Zunächst wird auf der Folie der Bordieuschen Kapitalsorten-Theorie9 das Sozialprofil der drei Mütter erhellt. Dann sollen in Abgleich mit der Forschung zum Bürgertum, die vor allem auf das höhere Bürgertum rekurriert,10 der Bereich Alltag und schließlich das Thema Kindererziehung Gegenstand der Betrachtung sein. Dieser Aufsatz ist sich seiner Grenzen klar bewusst. Die Betrachtung von drei adeligen Müttern kann allenfalls Anhaltspunkte liefern. Es ist vollkommen klar, dass hier erste Schritte auf einem brach liegenden Feld gemacht werden. Die Schritte sind notwendigerweise klein, aber – so meine Überzeugung – von einiger Relevanz.

II Die Protagonistinnen Alle drei Frauen lebten in mehr als auskömmlichen Verhältnissen. Die 1765 geborene Sophia von Redern hatte mit 25 Jahren den verwitweten Dichter Friedrich Leopold Graf zu Stolberg geehelicht, der seit 1789 dänischer Gesandter in Berlin war, von 1791 bis 1800 als Präsident der fürstbischöflichen Kollegien in Eutin fungierte und über ausgedehnten Landbesitz, u.a. in Sachsen, verfügte. Die Kinder des Paares wurden sinnfälligerweise mit dem gleichen Impfstoff behandelt wie jene des Königs.11 Ihnen standen ein Hausmädchen, vier Diener, vier Bedienstete und eine von Zeit zu Zeit 7 Auffälligerweise geht Monika Kubrova in ihrer wichtigen Monografie zur adeligen Frau im 19. Jahrhundert nur auf die sogenannte elitäre Mütterlichkeit von Kronprinzessinnen ein: Monika Kubrova, Vom guten Leben. Adelige Frauen im 19. Jahrhundert, Berlin 2011. 8 Der Sohn von Sophia, Cajus, saß in der Reichstagsfraktion des Zentrums. Der Ehemann von Marie, Karl Friedrich, stand ihr von 1871 bis zu seinem Tod im Jahre 1875 vor. Der Sohn von Bertha, Franz, war von 1872–1893 sowie von 1898–1907 Mitglied des Reichstagszentrums. Von 1896–1906 amtierte er als Reichstagspräsident. 9 Dazu: zum Beispiel Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Rainhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183–198. 10 In Anlehnung an das preußische Landrecht von 1794 sollen darunter verstanden werden: „alle öffentlichen Beamte[n] […], … Gelehrte, Künstler, Kaufleute, Unternehmer erheblicher (!) Fabriken und diejenigen, welche gleiche Achtung mit diesen in der bürgerlichen Gesellschaft genießen“: Heidi Rosenbaum, Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1982, S. 255f. 11 Horst Conrad/Sabine Blickensdorf (Bearb.), Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe an seine Ehefrauen Agnes von Witzleben und Sophia von Redern, Münster 2010, Brief Nr. 77 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia am 9.11.1789).



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wechselnde Amme zur Verfügung.12 Friedrich Leopold konnte Sophie stets versichern, dass sie, selbst wenn sie einen Teil ihres Vermögens verlieren sollten, „eine reiche Sophia“ wäre.13 Bertha von Leithold hatte im Jahre 1827, knapp 24-jährig, den Montanindustriellen Carl Franz Wolfgang Graf von Ballestrem geheiratet. Sie war damit Teil einer der reichsten Familien in Preußen.14 Carl Wolfgang war seit 1833 Majoratsherr von Plawniowitz, Ruda und Biskupitz im Landkreis Gleiwitz. Er reüssierte in der oberschlesischen Zinkindustrie, besaß etliche Steinkohlengruben und vergrößerte seinen Landbesitz im Laufe der Jahre auf mehr als 10.000 Hektar. Bertha und Carl Wolfgang war es ein Leichtes, ihrem Sohn Franz den Besuch eines renommierten kirchlichen Internats zu finanzieren.15 Die 1831 geborene Marie von Arnim-Boitzenburg hatte den Diplomaten Karl Friedrich von Savigny geheiratet, 1855 war ihr erstes Kind zur Welt gekommen. Karl Friedrich war seit den 1840er Jahren im diplomatischen Dienst Preußens tätig. Er stieg zum Wirklichen Geheimen Rat mit dem Prädikat „Exzellenz“ auf und besaß damit den höchsten Titel, den ein Beschäftigter des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten erreichen konnte. Er war unter anderem langjähriger Gesandter in Karlsruhe, außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister in Dresden, den sächsischen Herzogtümern sowie in Brüssel. Als Letzterer erhielt er ein Diensteinkommen von 13.000 und ein persönliches Gehalt von 6.000 Talern. Er verdiente damit mehr als dreißigmal so viel wie der durchschnittliche Steuerzahler in Preußen.16 Marie von Savigny besaß einen Erbteil von 60.000 Talern.17 Des Weiteren standen ihr eine Allodiensumme von 50.000 und nach dem Tod ihres Vaters eine Lehensabfindung von 10.000 Talern in Aussicht.18 Ergänzt wurden diese Zahlungen durch eine jährliche Rente über 2.400 Taler.19 Die Savignys hatten mehrere Wohnun12 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 150, 170, 207, 226, 229, 230, 258, 266, 274, 327, 304 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). 13 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 78 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). 14 Zur Entwicklung des Ballestremschen Industriebesitzes zum Beispiel: Ernst Laslowski, Die Grafen von Ballestrem als oberschlesische Bergherren, in: Schlesien 10/2 1965, S. 106–112. 15 Aus den Vierteljahreszeugnissen des Adeligen Convicts in Lemberg für Franz Graf von Ballestrem am 28.3.1848, in: Ernst Laslowski (Hrsg.), Graf Franz von Ballestrem 1834–1910. Aus den Briefen, Tagebüchern und Reden zusammengestellt und mit einer Einleitung versehen von Ernst Laslowski, Eichstätt 1991, S. 11. 16 Ausführlich zum ökonomischen Kapital der Savignys demnächst: Markus Raasch, Der Adel auf dem Feld der Politik. Das Beispiel der Zentrumspartei in der Bismarckära (1871–1890), Düsseldorf [2014]. 17 Willy Real (Hrsg.), Karl Friedrich von Savigny 1814–1875. Briefe, Akten, Aufzeichnungen aus dem Nachlass eines preußischen Diplomaten der Reichsgründungszeit. Teil 1 und 2, Boppard am Rhein 1981, Brief Nr. 502 (Graf von Arnim-Boitzenburg, Aufzeichnungen die Eheschließung seiner Tochter Marie betreffend). 18 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 502 (Graf von Arnim-Boitzenburg, Aufzeichnungen die Eheschließung seiner Tochter Marie betreffend). 19 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 502 (Graf von Arnim-Boitzenburg, Aufzeichnungen die Eheschließung seiner Tochter Marie betreffend). Monika Wienfort nennt ein Bei-

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gen, Marie führte Aufsicht über eine beträchtliche Zahl von Angestellten,20 sie reiste mit Kammerjungfer und Diener21. Das soziale Kapital aller drei Frauen nahm sich beträchtlich aus: Sie entstammten durchweg hochadeligen Familien. Sophia zu Stolberg etwa war Tochter des hochadeligen Grafen Sigismund Ehrenreich von Redern, einem Oberhofmarschall und Kurator an der Akademie der Wissenschaften, und dessen Frau, Marie Johanne de Horguelin, einer französischen Adeligen.22 Bertha von Ballestrems Vater fungierte als Berliner Oberstleutnant und Festungsbrigadier. Alle Frauen hatten Kontakte zu Herrscherhäusern sowie zu herausgehobenen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. In Sophias Korrespondenz tauchen etwa der dänische Konsul Heigelin, der Herzog aus Plön sowie Prinzessin Beoneforte auf. Sogar der preußische König sprach von ihr. Dies schrieb Friedrich Leopold ihr am 1. Februar 1790 und freute sich, dass der Herrscher Maries Charakter, ihr Denken, ihren Verdienst und Geisteswitz lobte.23 Marie von Savigny verkehrte mit den Goethes (der Schwiegertochter Johann Wolfgang von Goethes Ottilie und deren Sohn Maximilian Wolfgang)24. Regelmäßig traf sie die preußische Herrscherfamilie.25 Die engen Bande zeigten sich darin, dass der Prinz selbst ob der Geburt ihres ältesten Sohnes Karl nach dem Wohl Maries fragte. Entsprechend freudig übernahm er die von Karl Friedrich Savigny angetragene Patenschaft über den Erben der Familie.26 Bekannte und Freude waren in erster Linie Standesgenossen. Für Bertha von Ballestrem wären beispielsweise zu nennen: Erzherzog Ferdinand27 und die Familien Montpellier und Robiano – Letztere waren ihr aus dem elterlichen Haus bekannt.28 Bei Sophia waren es etwa: Amalie von Gallitzin, Franz von Fürstenberg und ihre Kreise, die rheinisch-westfälischen Familien Droste zu Vischering, von

spiel, bei dem sie eine Tochter mit 1.000 Talern Rente jährlich schon als wohlhabend bezeichnet. Die Jahresrente Marie von Savignys ist beinahe eineinhalbmal so hoch: Wienfort, Adel in der Moderne, S. 115. 20 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 629 (Marie von Savigny an ihren Vater). 21 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 514 (Marie von Savigny an ihre Mutter). 22 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), S. 12. 23 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 102 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). 24 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 655 (Ottilie von Goethe an Marie von Savigny), 656 (Ottilie von Goethe an Marie von Savigny), 657 (Ottilie von Goethe an Marie von Savigny), 660 (Goethe an Marie von Savigny). 25 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 512 (Marie von Savigny an ihre Mutter), 527 (Karl Friedrich von Savigny an den Prinzen von Preußen), 540 (Marie von Savigny an ihre Mutter), 551 (Der Prinz von Preußen an Karl Friedrich Savigny). 26 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 527 (Karl Friedrich von Sagivny an den Prinzen von Preußen), 551 (Der Prinz von Preußen an Karl Friedrich Savigny). 27 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 15), S. 11 (Erzherzog Ferdinand an Graf Wolfgang von Ballestrem). 28 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 15), S. 12 (Graf Carl Wolfgang von Ballestrem an seine Frau).



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Merveldt, von Korff genannt Schmising-Kerssenbrock, von Nagel und von Spee.29 Es gab allerdings auch engere Bande zu Bürgerlichen: Sophia verkehrte etwa mit dem Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock30, zu den Bekannten von Marie zählte der katholische Politiker August Reichensperger31. Alle drei Frauen waren ausgesprochen gut gebildet: Sophia wurde von dem Mathematiker und Astronom Joseph Louis Lagrange mit viel Herz und Muße erzogen. Des Weiteren förderte sie der Geognostiklehrer Johann Friedrich Wilhelm von Charpentier und legte so das Fundament ihres Interesses an Gesteins- und Mineralienkunde. Sie hegte ein leidenschaftliches Interesse für Botanik und Literatur: „In meiner frühen Jugend [habe ich] sehr viel ohne Wahl gelesen. Niemand leitete, entwickelte mich.“32 Mit 15 Jahren begann sie sich für Geschichte und moralische Bücher zu interessieren. Später las sie philosophische Werke und Gedichte. Ihre Romanlektüre fand mit dem Tod der Mutter 1778 aber ein plötzliches Ende, da sie dem in der Literatur vertretenen Liebesbegriff nicht mehr zustimmen konnte. Besonderen Gefallen hegte sie an dem englischen Roman Clarissa Harlow. Ein ebenfalls prägendes Werk stellte Klopstocks Messias dar, den sie las, als sie ihren zukünftigen Ehemann kennenlernte und der zugleich das erste von ihr gelesene Buch seit dem Tod ihrer Mutter war. Durch sie wuchs Sophia mit der französischen Sprache auf und bezeichnete diese sogar als ihre eigentliche Muttersprache.33 Doch nicht nur ihr Deutsch und Französisch waren auf hohem Niveau, auch ihr Englisch und Italienisch, vor allem aber ihre Fähigkeiten des Griechischen stachen hervor.34 Gerne unterhielt sie sich mit Friedrich Leopold auch über griechische Mythologie35 Neben diesen kulturellen Fähigkeiten wies sie auch künstlerische Fertigkeiten auf, indem sie beispielsweise Bilder malte36 und von Musik angetan war. So spielte sie Klavier, jedoch nach ihren eigenen Angaben „nicht einmal mittelmäßig“37. Ihr Gatte beschrieb Sophia mit den Vorzügen eines „reichen Gemüthes, kindlichen Sinnes und ungewöhnlichen Geistes“.38 Bertha von Ballestrem verbrachte ihre Kindheit in Berlin und reifte zu einer Frau, welche sich durch 29 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), S. 17f. 30 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 89, 136, 127 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). 31 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 923 (Karl von der Goltz an Marie von Savigny), 924 (August Reichensperger an Marie von Savigny). 32 Johannes Janssen (Hrsg.), Friedrich Leopold zu Stolberg. Stolberg bis zu seiner Rückkehr zur katholischen Kirche. 1750–1800, Bd. 1, München 1970, S. 235. 33 Janssen, Friedrich Leopold zu Stolberg (wie Anm. 32) , S. 236. 34 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 93 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). 35 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 80, 85 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). 36 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 99 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). 37 Janssen, Friedrich Leopold zu Stolberg (wie Anm. 32), S. 236. 38 Janssen, Friedrich Leopold zu Stolberg (wie Anm. 32), S. 234.

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„geistige Aufgeschlossenheit und Regsamkeit, praktische Tüchtigkeit und Umsicht“39 auszeichnete. Herauszuheben ist ihr „feine[r] Sinn für Humor und eine kluge und tapfere Art, den Schwierigkeiten des Lebens zu begegnen.“40 Aus Briefen – an sie gerichtet und von ihr verfasst – wird deutlich, dass sie die Mathematik beherrschte und des Französischen und Lateinischen auf hohem Niveau mächtig war.41 Sie sprach besser Französisch als ihr Mann.42 Marie von Savigny erfreute sich an „literarische[n] […] Reminiszenzen, erschienen unter dem Namen ‚Liebe Schatten‘, eine Sammlung von noch nicht gedruckten Briefen von Goethe, Wieland, Herder, Schiller usw. mit ihren Portraits und dem der Sophie Laroche, Günderode usw. nebst biographischen Notizen“.43 Sie las Werke von Dante oder Molière.44 Sie liebte die Kunst, freute sich, den Eltern ihre neuen Bildeinkäufe zeigen zu können,45 und mitunter beschwerte sie sich, dass Karl Friedrich sich nichts aus Theateraufführungen mache und sie deshalb diesen fernblieben46. Die Frömmigkeit der drei Frauen, namentlich ihre Nähe zur katholischen Kirche, war offenkundig: Zahlreiche Briefe Berthas enthalten die Schlussformel „Gelobt sei Jesus Christus!“47 Sie besaß exzellente Katechismuskenntnisse.48 Ihre vom Glauben geprägte Erziehung kommt in Marie von Savignys Bedauern zum Ausdruck, wonach die Altäre der Kirchen in Karlsruhe um die Weihnachtszeit herum nicht so schön geschmückt seien wie in Berlin.49 Außerdem vertiefte sie sich auf Anraten ihres Schwiegervaters, der immerhin die evangelische Konfession besaß, in die Friedrich Thierschen Studien über protestantische und nicht zuletzt katholische Glaubensfragen.50 Sophia zu Stolberg konvertierte gemeinsam mit ihrem Mann im Jahre 1800.51 39 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 15), S. 3. 40 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 15), S. 3. 41 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 15), S. 4f (Gräfin Bertha von Ballestrem an ihren Mann). 42 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 15), S. 8 (Gräfin Bertha von Ballestrem an ihren Mann). 43 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 590 (Karl Friedrich von Savigny an seine Eltern). 44 Willy Real, Karl Friedrich von Savigny. 1814–1875. Ein preussisches Diplomatenleben im Jahrhundert der Reichsgründung (= Historische Forschungen, Bd. 43), Berlin 1990, S. 169. 45 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 650 (Marie von Savigny an ihre Mutter). 46 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 607 (Marie von Savigny an ihre Schwiegereltern). 47 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm.15), S. 8 (Gräfin Bertha von Ballestrem an ihren Sohn Franz). 48 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 15), S. 4f (Gräfin Bertha von Ballestrem an ihren Mann). 49 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 594 (Marie von Savigny an ihre Mutter). 50 Real, Karl Friedrich von Savigny. Ein preussisches Diplomatenleben (wie Anm. 44), S. 161. 51 Hierzu zum Beispiel: Jenny Lagaude, Die Konversion des Friedrich Graf zu Stolberg. Motive und Reaktionen, Leipzig/München 2006, 55ff; Ludwig Stockinger, Friedrich Leopold Stolbergs Konversion als „Zeitzeugnis“, in: Frank Baudach u.a. (Hrsg.), Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750–1819).



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III Alltag 1 Bürgertum Die bürgerliche Frau, als deren Grundeigenschaften Passivität und Emotionalität galten, hatte vor allem drei Rollen zu erfüllen: die der Gattin, der Mutter und der Hausfrau/Haushälterin. Ihre Tagesstruktur wurde durch zwei wesentliche Komponenten bestimmt. Erstens den Tagesablauf ihres Ehemannes und zweitens die Mahlzeiten in der Familie.52 So wurde beispielsweise am Morgen nach dem Anrichten des Frühstücks das Haus in Ordnung gebracht, die Frau flickte Kleider oder erwartete Besuche. Bis zur Mittagszeit musste dann das rechtzeitige Servieren des Mittagessens sichergestellt werden.53 Bei Tisch erlebten die Kinder ihre Mutter in der Rolle der Organisatorin, die für den geregelten Ablauf sorgte, indem sie den Dienstmädchen Anweisungen gab und dabei die Küche sowie den Essensverlauf zu Tisch im Blick hatte.54 Am Nachmittag erfolgten Visiten oder die Teilnahme an Lesekreisen. Der Abend hingegen stellte die Zeit des Tages dar, welcher der Frau zur Erholung dienen sollte. Nach dem Tee beziehungsweise Abendessen im Kreise der Familie konnten die Ehepartner ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen oder Zeit finden, über die Kinder und deren Entwicklung zu sprechen beziehungsweise zu beraten.55 Für Sonn- und Feiertage galt das Prinzip der Ruhe und Entspannung. Sie gaben Raum für „Erholung, […] Freude [und für] kleine Wünsche“56. Außerdem wurden diese Tage oft dazu genutzt, Spaziergänge in die Natur oder einen Ausflug zu „historischen und architektonischen Sehenswürdigkeiten“57 zu unternehmen. Etwas anders verhielt es sich mit den Sommeraufenthalten. Dafür wurden kleine Orte oder auch Inseln ausgesucht, welche der Erholung dienen sollten. Hier wäre zum Beispiel im deutschen Raum der Kururlaub auf der Nordseeinsel Norderney sowie Aufenthalte in Bayern oder im Harz zu nennen. Aber auch Ziele im Ausland, besonders in Italien, erfreuten sich großer Beliebtheit.58 Familiäre Festtage, wie beispielsweise Geburtstage, wurden gesondert gefeiert. Obligatorisch waren dabei das Schmücken des Hauses und das Beschenken des GeburtsBeiträge zum Eutiner Symposium 1997, Eutin 2002, S. 199–246; allgemein: Dirk Hempel, Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750–1819). Staatsmann und politischer Schriftsteller, Weimar u.a. 1997, S. 225ff. 52 Anne-Charlott Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbstständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840, Göttingen 1996, S. 238ff. 53 Lorenz von Stein, Die Frau, ihre Bildung und Lebensaufgabe, Berlin/Dresden 18903, S. 208ff. 54 Gunilla-Friederike Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840–1914 (= Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte, Bd. 6), Göttingen 1994, S. 83. 55 Stein, Die Frau, ihre Bildung und Lebensaufgabe (wie Anm. 53), S. 215. 56 Stein, Die Frau, ihre Bildung und Lebensaufgabe (wie Anm. 53), S. 221. 57 Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben (wie Anm. 54), S. 90. 58 Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben (wie Anm. 54), S. 93–97.

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tagskindes.59 Ein besonderes Fest im Kreise der Familie stellte das Weihnachtsfest dar. Bereits einige Wochen vorher waren Mutter und Kinder mit den Vorbereitungen beschäftigt. In dieser Zeit wurden Geschenke oder Baumschmuck gebastelt sowie Gedichte, Lieder oder Musikstücke für den Heiligen Abend gelernt und vorbereitet.60 Die Frau war als Ehefrau, Mutter und Hausfrau/Hauhälterin dem Ideal der häuslichen Glückseligkeit verpflichtet. Diese sollte eine von Harmonie und Fürsorglichkeit geprägte Atmosphäre sicherstellen, in welcher es dem Mann möglich war, sich von seinem schweren Alltag zu erholen, und in der die Kinder eine umfassende Erziehung genießen konnten. Die häuslichen Aufgaben hatte die Frau demnach selbstverständlich und ohne zu klagen, stets bei guter Laune gewissenhaft zu erledigen. Welchen Umfang die Haushaltstätigkeit der Frau einnahm, hing unter anderem vom Einkommen und Beruf des Mannes, dem Vermögen, der Kinderzahl sowie der Größe des Haushalts ab.61 Zum genuin weiblichen Aufgabenbereich gehörten Nähen, Stricken, Häkeln, das Einrichten der Räumlichkeiten, die Anleitung der Angestellten (für gewöhnlich ein oder mehrere Dienstmädchen/Diener, eine Köchin, ein Kindermädchen, manchmal ein Gärtner) sowie die Regelung der Finanzen in Bezug auf Dienerschaft und Wirtschaftskosten. Für schwerere körperliche Arbeit war sie ebenso wenig zuständig wie für das Kochen.62 Außerhäusliche Arbeit war ihr nur im Bereich der sozialen Wohltätigkeit, beispielsweise der Krankenpflege, gestattet.63 Neben ihrer Rolle als Gattin, Mutter und Hausfrau/Haushälterin hatte die bürgerliche Frau die wichtige Funktion der Gesellschaftsdame. Sie war Repräsentantin ihrer Familie. Regelmäßig nahm sie an den obligatorischen Damenvisiten teil. Bei diesen tranken die Frauen in einem schön hergerichteten Zimmer aus dem teuersten Geschirr der ausrichtenden Familie gemeinsam Kaffee oder Tee. Dazu wurde Gebäck oder Kuchen serviert. Zweck der Visiten war das gepflegte Gespräch. Die Themen erstreckten sich über Krankheiten der Familie, den Arbeitsalltag bis hin zu Problemen mit der Dienerschaft.64 Kam eine Familie oder eine frisch verheiratete Frau in eine neue Stadt, galt es als ihre Pflicht, bei gleichgestellten Familien einen Besuch zu machen und ihre Karte zu hinterlegen. Für die erste Visite war eine zeitliche Begrenzung auf zwanzig Minuten die Regel. Der Besuch musste von der Gastgeberin binnen acht Tagen, als Zeichen für die Aufnahme der Familie in den Kreis, wiederholt

59 Stein, Die Frau, ihre Bildung und Lebensaufgabe (wie Anm. 53), S. 222f. 60 Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben (wie Anm. 54), S. 85. 61 Trepp, Sanfte Männlichkeit (wie Anm. 52), S. 242ff. Neben dem Stadthaus hatten viele bürgerliche Familien einen Wohnsitz auf dem Lande, welcher ebenfalls unterhalten werden musste. 62 Trepp, Sanfte Männlichkeit (wie Anm. 52), S. 255. 63 Rebekka Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750–1850) (= Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte, Bd. 14), Göttingen 2000, S. 177ff. 64 Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums (wie Anm. 63), S. 165f.



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werden.65 Für gewöhnlich ein bis zweimal im Jahr fanden in den bürgerlichen Haushalten größere Diners statt, zu welchen zusätzliches Personal engagiert wurde. Kennzeichen bürgerlicher Frauen war eine spezifische Religiosität.66 Die rites de passages prägten das Familienleben. Zu ihnen zählten Taufe, Kommunion/Konfirmation, Heirat und Tod. Neben diesen Übergangs- beziehungsweise Initiationsritualen erfuhr auch der familiäre Alltag eine religiöse Prägung: es wurde gemeinsam gebetet, gesungen, man hörte Predigten, diskutierte und studierte die Bibel.67 Die Religion war wichtiger Teil des Familienlebens, ihr zentraler Träger die bürgerliche Mutter. Ihr oblag in Bezug auf die Religion die erste religiöse Sozialisation innerhalb der Familie. Sie sorgte für das Schmücken der Zimmerwände mit religiösen Sprüchen oder Heiligenbildern und sollte Frömmigkeit, Demut und Hingabe vorleben. Sie übernahm das Amt der Sittenwächterin und besuchte den Gottesdienst mitunter stellvertretend für die Familie.68 Als Mittelpunkt eines emotional bestimmten Familiengeschehens zeichnete die bürgerliche Mutter auch für Zusammenhalt und Netzwerkpflege verantwortlich. Eine Tätigkeit, welcher sie sich ebenfalls – und das sehr ausführlich – widmete, war daher das Verfassen von Korrespondenzen. Mehrmals wöchentlich wurde so an (erwachsene) Kinder, den (mehr oder weniger lang außer Haus verweilenden) Ehemann oder andere (räumlich entfernte) Familienmitglieder oder Freunde geschrieben. Die Länge der Briefe erstreckte sich dabei meist auf mehrere Seiten.69

2 Adel Das Leben der drei adeligen Mütter war ganz auf ihren Mann ausgerichtet, zudem spielten Haushalts-, Mutter- und vor allem Repräsentationspflichten eine große Rolle. Nicht anders als im Bürgertum hatte die adelige Mutter die Funktion der liebenden Gattin, der Hausfrau/Haushälterin und der Gesellschaftsdame. Charakteristisch für den Alltag war der „gewöhnliche[n] Kreislauf der Beschäftigungen“70. Sophia zu Stolberg war am stärksten Hausfrau/Haushälterin. Häusliche Entscheidungen waren von ihr fortwährend zu treffen – so schickte beispielsweise Friedrich 65 Gisela Mettele, Der private Raum als öffentlicher Ort. Geselligkeit im bürgerlichen Haus, in: Dieter Hein/Andreas Schulz (Hrsg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1996, S. 155–169, hier S. 165. 66 Rebekka Habermas, Weibliche Religiosität – oder von der Fragilität bürgerlicher Identitäten, in: Klaus Tenfelde/Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Wege zur Geschichte des Bürgertums, Göttingen 1994, S. 125–148, hier S. 126. 67 Rebekka Habermas, Rituale des Gefühls. Die Frömmigkeit des protestantischen Bürgertums, in: Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, S. 169–191, hier S. 175f. 68 Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums (wie Anm. 63), S. 210ff. 69 Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums (wie Anm. 63), S. 24. 70 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 283 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia).

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Leopold zu Stolberg seiner Frau Proben von Überzügen für die im Haus befindlichen Stühle, damit sie eine entsprechende Auswahl traf.71 Für den Tagesverlauf einer ihrer 14 Schwangerschaften legte Friedrich Leopold zu Stolberg ihr Folgendes ans Herz: tägliche Spaziergänge, frühes zu Bett gehen und bei der Auswahl der Lektüre auf zu ernste Werke verzichten.72 Auf den Tagesablauf der Gräfin kann auch indirekt durch die große Anzahl ihrer Korrespondenzen (die meist am selben Tag erfolgten, an dem sie eine Nachricht erhielt) geschlossen werden.73 Darin schilderte sie ihrem Mann, der als Diplomat viel und lange unterwegs war, oft die Entwicklung der Kinder.74 Auch das Unterhalten über literarische Werke bildete einen Bestandteil dieser Korrespondenzen.75 Neben den familiären Briefwechseln übernahm Sophia, gerade in den letzten Lebensjahren ihres Mannes, die meisten Korrespondenzen (auch außerfamiliäre).76 Ferner oblag ihr die Absprache und die Organisation der Dienerschaft. Dabei forderte sie zum Beispiel ihren Mann in einem Brief auf, mit einem Diener namens Ludwig zu reden, da ihr der Betrag für das Postgeld, welches er ausgegeben hatte, zu hoch vorkam.77 Sie war die Herrin der häuslichen Finanzen. Nicht selten stellten die adeligen Mütter Bedürfnisse hinter die der Kinder zurück, trat zum Beispiel Sophia eine Reise nach Hamburg nicht an.78 Allerdings schafften sie es auch immer wieder, ihren Hobbys zu frönen: „und da ist der Familiencirkel am Ende jedes Tages sehr süß […] [dein Bruder] gibt uns botanische Aufträge. Diese werde ich mit Freuden und so gut ich kann erfüllen.“79 Die Diplomatengattin Marie von Savigny war neben ihrer Hausfrauen/Haushälterin-Rolle mit einem Höchstmaß an repräsentativen Pflichten konfrontiert. Schon kurz nach ihrer Heirat sprach sie von ihrem ersten Besuch bei den Hofdamen am königlichen Hof sowie daran anschließend, am nächsten Tag, von der ersten Audienz bei den Prinzessinnen von Preußen um halb fünf nachmittags, bei der sie vor allem 71 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 155 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). 72 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 219 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). 73 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 279 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). 74 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 221 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). 75 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 246 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia); Janssen, Friedrich Leopold zu Stolberg (wie Anm. 32), S. 242, 244, 323. 76 Johannes Janssen (Hrsg.), Friedrich Leopold zu Stolberg. Stolberg bis zu seiner Rückkehr zur katholischen Kirche. 1750–1800, Bd. 2, München 1970, S. 489. 77 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 268 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). 78 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 157 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). 79 Janssen, Friedrich Leopold zu Stolberg (wie Anm. 32), S. 248f.



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Prinzessin Louise liebenswürdig empfing.80 Des Weiteren berichtete Marie von ihrem Vorhaben, alle anderen Visiten erst am nächsten Tag zu beginnen und schwärmte ihrer Mutter von einem in ihrem Haus vorhandenen Salon vor.81 Marie wurde besonders anfangs von ihren neuen Aufgaben in solchem Maß beansprucht, dass sie die Beantwortung eines Briefes an ihre Eltern verschieben musste. In dieser Zeit, in welcher sie sich nach dem kleineren Kreis ihrer Familie in Boitzenburg zurücksehnte, bedauerte sie ihre noch immer unregelmäßige Zeiteinteilung aufgrund der anfallenden gesellschaftlichen wie häuslichen Tätigkeiten.82 Die repräsentativen Verpflichtungen wurden von Zeit zu Zeit durch Ausflüge oder Reisen abgelöst, wie zum Beispiel einer Reise zu ihren Schwiegereltern, in die Schweiz, nach England oder zur Pariser Weltausstellung83. Marie erhielt Zeichenunterricht durch einen Düsseldorfer Maler.84 In den Abendstunden besuchte das Ehepaar Savigny oft das Theater.85 Es standen aber immer wieder Diners und Soiréen auf ihrem Pflichtprogramm.86 Die Abende verbrachten die Savignys mit Besuchen, die sich angekündigt hatten. Zum geliebten Lesen blieb deswegen häufig nur wenig Zeit.87 In einem Brief an ihre Eltern bezeichnete Marie ihr – dem Diplomatenberuf ihres Mannes geschuldetes – Leben als „komisches Wanderleben, das wir führen müssen“.88 Oft war ihr die Aufgabe als Hausherrin und Gesellschaftsdame eine „ziemliche Last auf den Schultern“89. Trotz ihres unterschwelligen Widerwillens gegen ihre Pflichten war sich Marie von Savigny aber stets bewusst, welche Verantwortung sie nicht nur für sich, sondern auch für ihre Familie trug.90 Auffallend war auch ihr großes Interesse an politischen Fragen. Marie besuchte geschichtlich-politische Vorlesungen91 und unterhielt sich immer wieder mit ihren Eltern oder ihrem Ehemann über die aktuelle politische Lage92. Erst mit der Amtsniederlegung ihres Ehemannes Karl Friedrich im Jahre 1867 konnte die Familie Savigny eine ruhigere und freiere Lebensweise genießen, über die sie sehr froh und dankbar war.93 80 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 512 (Marie von Savigny an ihre Mutter). 81 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 512 (Marie von Savigny an ihre Mutter). 82 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 513 (Marie von Savigny an ihren Vater). 83 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 556 (Marie von Savigny an ihre Mutter). 84 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 587 (Marie von Savigny an ihre Mutter). 85 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 517 (Marie von Savigny an ihren Vater). 86 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 521 (Marie von Savigny an ihre Mutter), 540 (Marie von Savigny an ihre Mutter). 87 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 531 (Marie von Savigny an ihre Schwiegermutter). 88 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 755 (Marie von Savigny an ihre Mutter). 89 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 629 (Marie von Savigny an ihren Vater). 90 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 517 (Marie von Savigny an ihren Vater). 91 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 589 (Marie von Savigny an ihre Mutter). 92 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 634 (Marie von Savigny an ihre Mutter), 712 (Marie von Savigny an ihren Vater), 744 (Marie von Savigny an ihren Vater). 93 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 873 (Marie von Savigny an ihren Vater).

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Großen Raum nahm die Religion im Alltag der Frauen ein. Alle drei besuchten regelmäßig den Gottesdienst. Bertha von Ballestrem erwähnte in ihren Briefen das „eilige[…] Durchblättern der Sion und der Historisch-politischen Blätter“94, beides katholische Zeitschriften. Diese überprüfte sie auf für ihren Mann relevante Ereignisse in Köln oder Breslau.95 Ferner versicherte sie ihm ihr ständiges Bemühen, Gottes Beistand zu erflehen. In diesem Kontext schrieb sie: „Ich bete allüberall für Dich: im Reisewagen [auf der Reise nach Bad Kudowa], auf der Abendruhestätte […], in den Kirchen von Wartha und Frankenstein, heut während der heiligen Messe.“96 Marie von Savigny, war regelmäßig in einem „hier neuerbauten und vergrößerten Diakonissenhaus, was [sie] recht interessiert“.97 Wiederholt nahm sie an Missionsvorträgen teil.98 In der Korrespondenz Sophia zu Stolbergs findet sich eine von ihr verfasste Schilderung, wonach sie am Morgen nach dem Aufwachen zuerst an Gott dachte und ihn bat, seinen Willen in ihr, an ihr und durch sie geschehen zu lassen. Nach dem Aufstehen las sie in der Bibel und betete ungefähr eine halbe Stunde lang – je nachdem, wie viel Zeit sie zur Verfügung hatte. Tagsüber las sie oft einige Briefe des Franz von Sales. Nachmittags betete sie abermals und abends vor dem Einschlafen erfolgte noch einmal das Lesen einiger Briefe des heiligen Franz und anderer und abschließend der erneute Versuch ihr Herz zu Gott zu erheben.99 Sophia setzte sich vehement für die religiöse Bildung ihrer Angestellten ein („Die Leute werden hier […], unglaublich schlecht in der Religion unterrichtet“)100 und forcierte daher die gemeinsame Bibelexegese. Für dieses Vorgehen erhielt sie von einer Bekannten Die Geschichte der Israeliten in acht Bänden, aus denen sie so gut als möglich lernte, um ihr Wissen richtig weitergeben zu können. Die Stunden der Bibellehre begann sie beim Alten Testament, um den Angestellten die Rolle Gottes als Erlöser und die Frömmigkeit der Erzväter verständlich machen zu können. In diesem Rahmen bat sie ihren Mann darum, ihr einen Leitfaden für das Vorgehen anzugeben, um die bedeutendsten Stellen des Alten Testaments auch vollständig erfassen und vermitteln zu können.101 Ihre tiefe Religiosität manifestierte sich auch im Umgang mit dem Tod ihrer Kinder Franz und Christiane, in dem sie einerseits eine Prüfung Gottes und andererseits

94 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 15), S. 5 (Gräfin Bertha von Ballestrem an ihren Mann). 95 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 15), S. 5 (Gräfin Bertha von Ballestrem an ihren Mann). 96 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 15), S. 5 (Gräfin Bertha von Ballestrem an ihren Mann). 97 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 594 (Marie von Savigny an ihre Mutter). 98 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 594 (Marie von Savigny an ihre Mutter). 99 Janssen, Friedrich Leopold zu Stolberg (wie Anm. 32), S. 323f. 100 Janssen, Friedrich Leopold zu Stolberg (wie Anm. 32), S. 327. 101 Janssen, Friedrich Leopold zu Stolberg (wie Anm. 32), S. 327f.



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auch die Erlösung der Kinder sah, welche nun geborgen seien, da Gott beide zu einer frühen Reife brachte.102 Unterschiede zum Bürgertum ergaben sich letzthin lediglich in dem Umstand, dass die Männer und Söhne ihren Frauen und Müttern in Sachen Frömmigkeit in nichts nachstanden. Die Frau war nicht die zentrale Trägerin religiösen Lebens in der Familie. Das tägliche Gebet und der regelmäßige Kirchenbesuch waren bei Männern ebenso obligatorisch wie bei ihren Frauen. In Sachen Religion schämten sich die Männer auch nicht ihrer Gefühle und trugen ihren Glauben gerne in die Öffentlichkeit. So bedeuteten ihnen etwa Treffen mit dem Papst emotionale Ausnahmesituationen. Karl Friedrich Savigny beispielsweise war 1869 „als Pilger und treuer Sohn“ erstmals in Rom, traf den Kardinalstaatssekretär und den Papst und „die gesamten Eindrücke des römischen Aufenthalts [...] wirkten nachhaltig auf ihn“.103 Als Franz von Ballestrem im Februar 1873 erstmals zu einer Privataudienz bei Pius IX. geladen war, fühlte er sich „wie im Dusel“ und konnte die Nacht vorher nicht schlafen. Nachher war er tief bewegt und fühlte sich als „ein überglücklicher Mann“.104

IV Kindererziehung 1 Bürgertum „Beim Vater zählen beruflicher Werdegang und Meriten, bei der Mutter dagegen die attraktive äußere Erscheinung.“105 Diese Feststellung beschreibt grob das bürgerliche Erziehungsfundament. Während der Vater für den Unterhalt der Familie zuständig war, oblag der Mutter die häusliche Rolle sowie die Vermittlung von Emotionalität. Schon das Vorleben dieser beiden völlig unterschiedlichen Aufgabenbereiche prägte die Erziehung der Kinder. Der meist autoritäre Familienvater traf Entscheidungen über die Namensgebung der Töchter und Söhne, deren Ausbildung und somit auch über deren weiteren Lebensweg. Durch die meist den Großteil des Tages einnehmende Arbeitsbeschäftigung konnte er nur am Abend, an Wochenenden oder während der Ferien an täglichen familiären Angelegenheiten partizipieren. Die Erziehung und Beaufsichtigung stellte damit also fast ausschließlich die Aufgabe der Ehefrau und Mutter dar. Die Mutterpflicht begann mit der sehr beschwerlichen Geburt, die zudem mit einem hohen Risiko für die Schwangere verbundenen war. Sie fand in der Regel 102 Janssen, Friedrich Leopold zu Stolberg (wie Anm. 32), S. 459. 103 Biografie Savigny von Josepha Freifrau von Schönberg, in: Bundesarchiv Koblenz (BaK), Kleine Erwerbung, 738, S. 580. 104 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 15), S. 98 (Ballestrem an seine Frau, 19. Februar, 10. März 1873). 105 Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben (wie Anm. 54), S. 150.

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im Beisein einer erfahrenen Hebamme und von weiterem weiblichen Beistand, wie Schwestern der Entbindenden, jedoch außer in konkreten Notfällen ohne ärztliche Unterstützung und Narkose statt. Der Zeitpunkt der ersten Geburt lag häufig innerhalb des ersten Ehejahres. Von da an verbrachte eine bürgerliche Frau „rund ein Viertel ihres Frauenlebens mit Schwangerschaften oder Wochenbetten“106. Die meisten Frauen gebaren in ihrem Leben (betrachtet man die erste Jahrhunderthälfte) circa 6,8 Kinder.107 Nach der Geburt erfolgte, sofern der Ehemann dies erlaubte, das Stillen des Nachwuchses, alternativ wurde auf die Möglichkeit einer Amme zurückgegriffen. Ab dem Zeitpunkt der Geburt des ersten Kindes war es die mütterliche Pflicht, völlig in der Tätigkeit für ihre Familie aufzugehen. Dazu gehörte beispielsweise auch das Kennen und Lesen der neuesten Literatur zur Kindererziehung. Oftmals wurde jede einzelne noch so kleine Entwicklung der Sprösslinge schriftlich dokumentiert.108 Hauptaufgabe einer Mutter war in frühen Erziehungsjahren die Vermittlung erster grundlegender Fähigkeiten. So lernten die Kinder zuerst von ihr das Sprechen. Dieser Vorgang wurde oftmals durch das Vorlesen von Märchen oder anderen pädagogisch wertvollen Geschichten begleitet. War jene Basis gefestigt, wurde sie mit dem Lernen von Gedichten oder Liedern erweitert. Die Mutter wurde als „erste Lehrerin [der Kinder verstanden], bei der […] [jene] vor Schulantritt ‚spielend lesen und schreiben‘ lernten“.109 Eine kulturelle Prägung erhielt die Nachkommenschaft schon früh durch den gemeinsamen Theater-, Opern- oder Konzertbesuch. Im ausgehenden 18. Jahrhundert war das bürgerliche Erziehungsmodell zum hegemonialen geworden, d.h. es wurde Abstand von der bis dahin vorherrschenden Sicht der Kinder als kleine Erwachsene genommen. Die Kindheit wurde als gesonderte Lebensphase akzeptiert und damit dem Nachwuchs erstmals ein eigener Raum im Haus, in Form des Kinderzimmers, zugestanden.110 Die Erziehung sollte als Weg fungieren, auf dem die Eltern ihren Kindern die gewünschten Charakter- und Persönlichkeitsmerkmale mitgaben, als Anleitung für deren künftiges Leben. Dies hatte auch Auswirkungen auf die Eltern-Kind-Beziehung, die nun vertraulicher gestaltet wurde. So setzte sich zum Beispiel das Du als Anrede der Kinder für ihre Eltern durch und schwere körperliche Züchtigungsmaßnahmen kamen in Verruf. Das bürgerliche Familienideal sah allerdings auch eine streng nach Geschlechtern differenzierte Erziehung vor. Dies kam vor allem den männlichen Nachkommen zugute, waren die ersten Jahre (fünf bis neun) doch von einer großen Freiheit geprägt.111 106 Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben (wie Anm. 54), S. 170. 107 Karin Hausen, „… eine Ulme für das schwankende Efeu“. Ehepaare im deutschen Bildungsbürgertum. Ideale und Wirklichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert, in: Ute Frevert (Hrsg.), Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 77), Göttingen 1988, S. 85–117, hier S. 97. 108 Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben (wie Anm. 54), S. 174. 109 Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben (wie Anm. 54), S. 175. 110 Rosenbaum, Formen der Familie (wie Anm. 10), S. 279f. 111 Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben (wie Anm. 54), S. 196.



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In diesem Zeitraum durften sie sich ungezwungen mit gleichaltrigen Jungen frei vom elterlichen Einfluss in der Natur bewegen. Auf der Suche nach geeigneten Spielplätzen war es ihnen früh erlaubt das elterliche Haus zu mehrstündigen Erkundungsgängen zu verlassen. Die Konfrontation mit der außerfamiliären Welt sollte ihnen eine gewisse Eigenständigkeit sichern. Ferner erhofften sich die Eltern das Ausbilden eines unerschrockenen und durchsetzungsfähigen Wesens. In diesem Sinne wurde auch das Spielzeug ausgesucht. In den Kinderzimmern fanden sich oft literarische Werke, in welchen ein Held voller Neugierde, Tapferkeit und Entdeckungsfreude eine neue Welt entdeckte. Beispiele dafür waren die Odyssee oder Robinson Crusoe. Ferner gab es eine Vielzahl von schlichtem Spielzeug, anhand dessen der Knabe für sein späteres Leben lernen sollte. Neben Zinnsoldaten, welche für die Konstruktion und Nachstellung von Schlachten herangezogen wurden, existierten auch Ritterburgen, in denen Prinzessinnen vor feindlichem Übergriff beschützt werden mussten. Ebenso waren in nahezu jedem Jungenzimmer Baukästen vertreten, die zum einen den Ordnungssinn der Kinder und zum anderen ihre bautechnische Kreativität anregen sollten. Mit dem Eintritt in das Schulleben endete die Erziehungsaufsicht der Mutter. Von da an oblag die weitere Ausbildung des Sohnes dem Ehemann und Vater. Für viele Kinder bedeutete dies einen tiefen Einschnitt in ihr gewohntes Leben. Es wurde von einem strikt einzuhaltenden Stundenplan [...] determiniert. Nach dem Abschluss der sogenannten Bürger- oder Volksschule, also dem Erwerb der grundlegenden Bildung, war es üblich, die weitere Ausbildung in eine andere Stadt zu verlagern. Dies sollte einerseits die Selbstständigkeit der Kinder verbessern und andererseits die Möglichkeit eines Gymnasiumbesuchs und die damit einhergehende klassische Bildung der Söhne garantieren. Darunter fielen vor allem „[d]ie Beschäftigung mit dem Altertum, insbesondere der griechischen und lateinischen Sprache.“112 Einem Erziehungskanon Ende des 18. Jahrhunderts zufolge standen ferner folgende Beschäftigungen auf dem männlichen Stundenplan: Die Weiterentwicklung der Handschrift, die Vertiefung der Schrift und das Verfassen von Texten sowie die sprachliche Ausdrucksfähigkeit, Rechnen, sittliche Wertevermittlung durch den Religionsunterricht, Vernunfts- und Klugheitslehre, die Einführung und Vertiefung in heimatlicher Geschichte, Geografie sowie in weitere Naturwissenschaften. Ihre Abrundung erfuhr die Ausbildung durch die Einführung in die Künste (Zeichnen, Musizieren, Tanzen) und in das Handwerk.113 Nach dem gymnasialen Unterricht konnten die meisten Zöglinge in die Geborgenheit ihrer Familie zurückkehren. Erforderten die äußeren Bedingungen, zum Beispiel das Landleben, das Ausziehen von zu Hause, um die gymnasiale Bildung zu erhalten, so kamen die Söhne häufig bei Verwandten oder Bekannten unter.114 Nach dem erfolgreichen Absolvieren der Hochschulreife kam es den Eltern (dem Vater) zu, eine Ent112 Rosenbaum, Formen der Familie (wie Anm. 10), S. 361. 113 Hannes Stekl, Adel und Bürgertum in der Habsburger Monarchie 18. bis 20 Jahrhundert (= Sozial- und wirtschaftshistorische Studien, Bd. 31), München 2004, S. 145. 114 Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben (wie Anm. 54), S. 208.

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scheidung über das künftige Studium seines Kindes zu treffen. Stand dieses fest, so reiste der junge Mann oftmals mit seinem Erziehungsberechtigten zum Studienort – im Gepäck eine lange Liste Verwandter und Bekannter der Familie. Denn von da an war es die Pflicht der Kinder, den Eltern durch zahlreiche Korrespondenzen Mitteilung über das Voranschreiten des Studiums sowie ihre Besuche bei eben erwähnten Kontakten zu machen. Auf diesem Weg entzogen die Söhne sich nur partiell der bis dato gepflegten familiären Kontrolle.115 Mit beendetem Studium stand sodann die Entscheidung der Berufswahl an, die ebenfalls zum Großteil vom Vater beeinflusst wurde und nicht selten116 in die gleiche Richtung wie die des Familienoberhauptes ging. Anderen Söhnen wurde von elterlicher Seite eine Findungszeit eingeräumt, in welcher sie zum Beispiel Reisen ins Ausland oder zu Verwandten unternahmen, um noch einmal die Freiheit ihrer Jugendjahre genießen zu können, vor allem aber, um sich weiterzubilden, Erfahrungen zu sammeln und reifer zu werden. Die Ausbildung der Mädchen wich stark von jener der Jungen ab. Anders als ihren Brüdern wurde ihnen nur wenig Freiraum zum Welterkunden gegeben und der Spiel- und Lebensraum frühzeitig auf das häusliche familiäre Leben beschränkt. Von klein auf erfolgte eine Konfrontation mit der von der Mutter vorgelebten Rolle als Ehefrau, Hausfrau und Mutter, deren Nachahmung angestrebt wurde. Dies geschah unter anderem dadurch, dass sie einen Großteil des Tages mit der Mutter verbrachten, deren Tagesrhythmus und Tätigkeiten beiwohnten und dadurch weibliche Rollenschema verinnerlichen sollten. Neben dem Verrichten von Handarbeiten, wie Nähen oder dem Aufsticken von klassischen oder biblischen Zitaten, mussten sie frühzeitig lernen, still zu sitzen und künstlerische Tätigkeiten wie Klavierspielen oder Malen auszuüben.117 Ihr Alltag erfuhr also eine streng festgelegte Ritualisierung ganz im Sinne ihrer zukünftigen Lebenswelt als Ehefrau und Hausmutter. Erwünschte Eigenschaften waren dabei unter anderem ein heiteres Gemüt, ein gut gepflegtes, graziöses und anmutiges Auftreten, Geschicklichkeit für alle im Haus anfallenden Tätigkeiten sowie künstlerisch-ästhetisches Geschick.118 Entsprechend gestaltete sich das Repertoire der Spielsachen: Die Kinderzimmer waren voll mit Puppen, aufwendiger Garderobe und Puppenhäusern. Jene bildeten oft detailgetreu den Aufbau des eigenen Hauses in Miniaturformat nach und beinhalteten „Saloneinrichtung mit Klavier und Glasvitrine, Speisezimmer mit Buffet und Anrichte, Dichterkonterfeis, Musikerbüsten und Nippesfiguren, Teppiche, Plüschvorhänge und Spitzdeckchen, Elternschlafzimmer und Kinderstube mit Puppenwagen und Schaukelpferd und nicht zuletzt die Dienstbotenkammer auf dem Dachboden oder neben der Prunkküche mit Kleinstge115 Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben (wie Anm. 54), S. 213. 116 Circa 89 % der Söhne von Vätern aus bildungsbürgerlichem Hause wählten ebenfalls einen Beruf in dieser Sparte. Ein Viertel davon ging dabei in die gleiche Richtung wie der Vater: Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben (wie Anm. 54), S. 217. 117 Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben (wie Anm. 54), S. 221f. 118 Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben (wie Anm. 54), S. 223f.



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schirr aus Kupfer oder Porzellan“.119 Auf diese Weise konnte die junge Tochter bereits frühzeitig spielerisch an die Rolle der Mutter – aber auch an die ihr in späteren Jahren zufallende Rolle als Babysitter für die jüngeren Geschwister – herangeführt werden. Die weitere Ausbildung und Erziehung der Mädchen sah wie folgt aus: Sie wurden durch oftmals ausländische Gouvernanten oder teilweise auch von Privatlehrern im Haus oder in höheren Töchterschulen zumeist nur oberflächlich und willkürlich unterrichtet. Neben dem Unterricht in Lesen und Schreiben, den sie häufig noch gemeinsam mit den Brüdern von der Mutter erhielten, wurden sie in der englischen sowie französischen Sprache geschult. Bestandteil der Erziehung war die Lektüre von Dramen, Gedichten oder klassischen Romanen. Zudem erhielten sie erweiterten Schreibunterricht, welcher aus dem Schulen der Rechtschreibung, der Ausbildung der Handschrift sowie dem Schreiben von Diktaten und Aufsätzen bestand. Der Religions- und Sittenunterricht bildete einen festen Bestandteil des Fächerkanons.120 Besonders wichtig waren der Anstandsunterricht und die Unterweisung in die Haushaltsführung.121 Der Fokus wurde stets auf musische und künstlerische Fähigkeiten gelegt, wie Gesang, Klavierspielen, dem Malen etwa von Aquarellen sowie der Handarbeit. Die (Aus-)Bildung in Deutsch, Geschichte oder Religion erfolgte unter einem anderen Gesichtspunkt als der entsprechende Unterricht der Jungen. So thematisierte der weibliche Geschichtsunterricht beispielsweise kaum Kriegsgeschehen. Die Vermittlung des Lernstoffes geschah aufgrund der differierenden Schwerpunktbildung anhand von geschlechtsspezifischen Büchern. Eine weitere Begründung für dieses Vorgehen war, dass Mädchen auf keinen Fall in die Wissenschaften eingeführt werden durften.122 Dabei hatten die weiblichen Nachkommen im Vergleich zu ihren Brüdern nicht nur weniger Wochenstunden, sondern auch eine um drei Jahre reduzierte Schuldauer.123 Nach dem Absolvieren der grundlegenden (Aus-)Bildung musste das bürgerliche, meist etwa 14-jährige Mädchen der Mutter unterstützend im Haushalt zur Hand gehen, bis ihr ein Mann aus gutem Hause den Antrag machte und sie einen eigenen Haushalt gründete. Möglichkeiten, einem solchen Mann zu begegnen, wurden von den Eltern arrangiert, indem sie ihre Töchter auf Bällen, abendlichen Gesellschaften, Hochzeiten oder während Kuraufenthalten der Gesellschaft präsentierten.124

119 Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben (wie Anm. 54), S. 224. 120 Stekl, Adel und Bürgertum in der Habsburgermonarchie 18. bis 20. Jahrhundert, S. 148. 121 Rosenbaum, Formen der Familie (wie Anm. 10), S. 362. 122 Renate Flich, „Die Erziehung des Weibes muß eine andere werden“. Mädchenschulalltag im Rahmen bürgerlicher Bildungsansprüche im 19. Jahrhundert, in: Birgit Mazohl-Wallnig (Hrsg.), Bürgerliche Frauenkultur im 19. Jahrhundert (= L’Homme Schriften. Reihe zur feministischen Geschichtswissenschaft, Bd. 2), Böhlau 1995, S. 270. 123 Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben (wie Anm. 54), S. 227f. 124 Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben (wie Anm. 54), S. 242f.

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2 Adel Die adeligen Erziehungsstrategien unterschieden sich in einigen Punkten nicht, in einigen Punkten recht klar von den seit Ende des 18. Jahrhunderts zusehends dominierenden bürgerlichen. Es besteht kein Zweifel über ihre Geschlechtsspezifik. Die Erziehung der Töchter erfolgte zumeist durch das Miterleben und die Einbindung der Mädchen in den täglichen Alltag der Mutter, vor allem im „etikettbeladene[n] Eßzimmer.“125 Die Söhne mussten politische Zeitschriften lesen, sie lernten reiten und den Umgang mit der Waffe.126 Das Bemühen um Repräsentation, das Erlernen des adeligen Habitus, spielte gleichwohl bei Jungen wie bei Mädchen eine große Rolle. Auch für den Jungen galt offenbar: „Bei meiner Mutter lernten wir das Handgehen, Handküssen, Verbeugungen, dass sie nicht zu tief wären oder schief. Wir lernten, wie man die Suppe isst, dass man die Ellenbogen an den Leib hält, ja wie man anständig die Tür aufmacht und schließt. Alles das wurde solange geübt, geradezu exerziert, bis es saß.“127 Entsprechend einer standestypischen Ausbildung, die weniger auf formale Bildung als auf Stärkung von Charaktereigenschaften ausgelegt war, besuchten die Kinder der Stolbergs, Savignys und Ballestrems keine Bürger- beziehungsweise Volksschule. Die Söhne der Familie Stolberg besuchten nicht einmal ein Gymnasium. Sie erhielten zunächst Privatunterricht und gingen dann zum Militär beziehungsweise auf die Ritterakademie nach Bedburg. Letztere stand zu dieser Zeit ausschließlich adeligen Söhnen aus vornehmen Familien offen und präsentierte sich als Gegenentwurf zum staatlichen Gymnasium. Hier sollten „außer einer gründlichen wissenschaftlichen und moralischen Bildung im allgemeinen auch die besonderen und eigenthümlichen Anforderungen, welche an den Stand des Adels gemacht werden, berücksichtigt“128 werden. Demgemäß waren Exerzitien wie Tanzen, Reiten, Fechten, Kalligrafie fester Bestandteil des Stundenplans.129 Markant erscheint, dass die Mutter-Kind-Beziehungen zwischen der überkommenen, auf die Einübung standesgerechten Verhaltens abzielenden Distanz130 und der am bürgerlichen Wertehimmel prangenden Intimität changierten. Die zentrale Rolle der Mutter im Erziehungsprozess ist nicht durchgehend erkennbar.

125 Funck/Malinowski, „Charakter ist alles!“ (wie Anm. 5), S. 79. 126 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 283 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). 127 Dankwart Graf von Arnim, zitiert nach: Funck/Malinowski, „Charakter ist alles!“ (wie Anm. 5), S. 79. Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 283 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). 128 Heinz Reif, Westfälischer Adel 1770–1860, Göttingen 1979, S. 638. 129 Reif, Westfälischer Adel (wie Anm. 128), S. 354. 130 Dazu zum Beispiel Jürgen Schlumbohm, Kinderstuben. Wie Kinder zu Bauern, Bürger, Aristokraten wurden. 1700–1850, München 1983, S. 166f; zum adeligen Familienmodell: Funck/Malinowski, „Charakter ist alles!“ (wie Anm. 5), S. 73ff.



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Besonders traditionell scheint es bei den Savignys zugegangen zu sein: Kinder und Erziehung spielen in den Briefen Marie von Savignys nur eine untergeordnete Rolle.131 Wenige Monate nach der Geburt waren die Kinder bereits getrennt von ihrer Mutter auf Reisen.132 Später kam dies immer wieder vor. Die Erziehung übernahmen im Wesentlichen Hauslehrer und Hausmädchen.133 Besonders erwähnenswert fand Marie bezeichnenderweise den Umstand, dass ihre Tochter fortan den kleineren Gesellschaften beiwohnen werde.134 Offenbar mussten gerade die beiden ältesten Geschwister Karl und Elisabeth früh ihre Pflicht im Dienste der Familie erfüllen. So verfassten diese Briefe für ihre Eltern an Freunde oder Bekannte der Familie.135 Marie von Savigny äußerte sich über Elisabeth wie folgt: „Die gute Elisabeth bringt das Opfer, hier bei den Kleinen zu bleiben, sehr liebevoll. Der Ernst des Lebens erfasst die Kinder sehr früh.“136 Elisabeth oblag als ältester Tochter auch die Beaufsichtigung und Erziehung der jüngeren Geschwister. Aus dem Ballestremschen Vermächtnis sind zahlreiche Korrespondenzen Berthas mit und über ihre Kinder (vornehmlich Franz) vorhanden.137 Die Kinder mussten die Eltern siezen138, die Erziehung war an Hauslehrer delegiert, die ihre Zöglinge auch auf Reisen begleiteten. Lediglich als Ersatz für den Kaplan sprang Bertha von Ballestrem ein, um die Katechismusstunde der Mädchen sowie den Mathematik- und Sprachenunterricht ihres Sohnes Franz in die Hand zu nehmen. Während dessen erledigte sie auch „Haushaltungs- und Frühstücksgeschäfte“ und schrieb einen Brief an ihren Mann.139 Bertha und Carl Wolfgang behandelten ihre Kinder jedoch stets mit liebevoller Fürsorge und Zärtlichkeit. Beide Eltern sorgten sich um kindgerechte Spielsachen und Kleidung, die sich nicht an erwachsenen Status- und Rollenvorstellungen orien-

131 Aufgrund des guten Verhältnisses zu ihren Eltern und deren Wertvermittlung kann allerdings vermutet werden, dass Marie der Umgang mit ihren Kindern ebenfalls sehr wichtig war. 132 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 660 (Ottilie von Goethe an Marie von Savigny). 133 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 807 (Marie von Savigny an ihre Mutter). 134 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 653 (Marie von Savigny an ihre Mutter). Marie-Freda war das vierte Kind der Savignys. Sie wurde am 12. Juli 1859 geboren und war zum Zeitpunkt der Erwähnung ein knappes halbes Jahre alt. 135 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 920 (Elisabeth von Savigny an Unbekannt), 931 (Röstell an Marie von Savigny). 136 Real, Karl Friedrich von Savigny, Briefe (wie Anm. 17), Nr. 929 (Marie von Savigny an ihre Mutter). 137 Wird in Folgendem von den Sprösslingen der Familie die Rede sein, so sind damit die älteste Tochter Anna (Maria Johanna Katharina Elisabeth, geboren 1830), ihre jüngere Schwester Hedwig (geboren 1832) und der jüngste Nachkomme der Familie, Franz (Karl Wolfgang Ludwig Alexander, geboren 1834) gemeint. 138 Zum Beispiel Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 15), S. 8f (Franz Graf von Ballestrem an seine Mutter, 20. August 1843). 139 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 15), S. 6 (Gräfin Bertha von Ballestrem an ihren Mann).

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tierten, sondern vor allem bequem und gesund waren.140 Ihrem „lieben Herzenssohn“ bekundete Bertha immer wieder offensiv ihre Zuneigung: „Mein geliebtes Franzel, zwar wollte ich Dir heut eigentlich nicht schreiben, aber ich kann es nicht übers Herz bringen, Dir nicht wenigstens zu sagen, daß ich Dich in Gedanken tausendmal an mein Herz drücke [...] der Vater schließt mit mir zugleich Dich in die Arme“.141 Franz scheute sich in Folge dessen seinen Eltern gegenüber nicht, Gefühle kundzutun und Schwächen einzugestehen: „Was für Gefühle ich empfand, als der Vaterle mich verlassen hatte, können Sie sich wohl denken. Ich weinte zwar sehr, doch die frohe Hoffnung des baldigen Wiedersehens erheiterte mich ein wenig.“142 Als besonders komplex muss die Situation in der Familie Stolberg gelten: Nach dem Tod Friedrich Leopolds erster Gattin Agnes, die ihm vier gemeinsame Kinder hinterlassen hatte,143 kümmerte sich deren Schwester Käte gemeinsam mit dem Witwer um den Nachwuchs. Dies stellte die familiäre Ausgangssituation dar, auf die Sophia nach der Heirat stieß. Beide Frauen hatten zu Beginn Bedenken bezüglich der gemeinsamen Erziehung. Nach dem Einspringen Kätes in der Zeit der Not und dem liebevollen Verhältnis, das sie zu den Kindern hatte, war es Stolbergs ausdrücklicher Wunsch, die Erziehung der Nachkommenschaft zu dritt – im Wechselspiel – zu übernehmen.144 Aus der Ehe Sophias und Friedrich Leopold entstammten dann 13 Kinder, wobei drei davon noch im Säuglingsalter starben.145 Sophia, die den bürgerlichen Erziehungsroman der Zeit, Rousseaus Emil, gelesen hatte,146 plädierte wider ihren Mann für eine fortschrittliche Erziehung, wozu auch das Du im Umgang mit den Kindern gehörte.147 Eine andere Auffassung vertrat Friedrich Leopold indes bezüglich der Erziehung der Kinder durch einen Hofmeister. Diese lehnte er zunächst kate140 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 15), S. 10 (Franz Ballestrem an seine Tante Elisabeth, 11. September 1845); ebenda, S. 7f. (Bertha von Ballestrem an ihren Mann Carl Wolfgang, 8. August 1843). 141 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 15), S. 8 (Bertha von Ballestrem an ihren Sohn Franz, 12. Juli 1843). 142 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm.15), S. 9f (Franz Ballestrem an seinen Vater, 5. Mai 1844). 143 Ernst (Christian Ernst 1783 geboren), Mariagnes (Marie Agnes Caroline, 1785 geboren), Andreas (Otto Henning, 1786 geboren) und Jette (Henriette Luise, 1788 geboren). 144 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 78 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). 145 Julia (Agnes Emilie, geboren 1790), Sibylle (Johanna Amalie, geboren und gestorben 1792), Johann (Franz Leo, geboren 1793, gestorben 1794), Franz (Bernhard Leo, geboren und gestorben 1795), Christian (Franz Leo, geboren 1796), Cai (Johann Peter Canisius, geboren 1797), Leo (Franz Friedrich Leopold, geboren 1799), Alfred (Ferdinand, geboren 1800), Franz (Bernhard, geboren 1802, gestorben 1815), Bernhard (Joseph, geboren 1803), Joseph (Theodor, geboren 1804), Maria Theresia (Amalie, geboren 1805), Paula (Maria Amalia Pauline Clementine, geboren 1807), Maria Sophia (Pauline, geboren 1810). 146 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 369 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). 147 Janssen, Friedrich Leopold zu Stolberg (wie Anm. 32), S. 168.



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gorisch ab. Er wollte sich selbst einbringen und um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, legte er im Jahre 1789 sogar seine Ämter nieder. Als neun Jahre später abermals die Entscheidung über die Beschäftigung eines Hofmeisters anstand, erbat Friedrich Leopold Sophias Rat.148 Daraus kann geschlussfolgert werden, dass er Erziehungsfragen der Kinder in adeliger Tradition nicht völlig allein entschied, sondern Wert auf das Urteil seiner Frau legte. Offenbar hatten die beiden Ehepartner eine geschlechtstypische Aufteilung der Erziehungsaufgaben vorgenommen: Kurz vor der Geburt ihres sechsten Kindes bestimmte Friedrich Leopold zum Beispiel aus der Entfernung den Namen des Kindes im Falle eines männlichen Nachkommens mit „Johannes Petrus Cajus“149. Bei der Geburt einer Tochter wandte er sich gegen die eigene Entscheidung, das Kind zur Erziehung in eine andere Familie zu geben: „Nein liebes Herzchen! Julias Mutter wird Julias Erzieherin seyn! Nimmermehr würd‘ ich in dieses Opfer willigen!“150 Ein anderes Mal versicherte er seiner Frau, dass kein Vater eine Mutter ersetzen könne, am wenigsten jedoch eine solche, wie seine Frau es sei.151 Während Friedrich Leopold sich um die älteren Kinder und vorwiegend um seine Söhne kümmerte, oblag Sophia meist die Aufgabe der Versorgung und Ausbildung der kleinsten Nachkommen sowie der älteren Töchter. Nichtsdestotrotz wurden manche der Kinder schon sehr früh von ihrer Mutter getrennt, stillen durfte Sophia ganz traditionsgemäß nicht.152 In allen drei Familien dominierte die katholische Frömmigkeitserziehung. Sie vollzog sich noch konsequenter als in bürgerlichen Familien und war nicht nur weiblich geprägt. Bertha von Ballestrem ließ ihren Kindern immer ausrichten, dass sie fromm sein sollten.153 Heiligenbilder wurden nicht nur aufgehängt, sondern den Kindern auch zum Geburtstag geschenkt.154 Bei der Auswahl von Erziehern durch den Vater spielte die Religiosität eine zentrale Rolle.155 Im Hausunterricht wurde großer

148 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 240 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). 149 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 230 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). 150 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 167 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). 151 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 88 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). 152 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), Nr. 207 (Graf Friedrich Leopold zu Stolberg an seine Ehefrau Sophia). Dort bemitleidete Stolberg seine Frau, da Lisbeth, welche die Kinder sonst stillte, sie verlassen hatte. 153 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 15), S. 5 (Gräfin Bertha von Ballestrem an ihren Mann). 154 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 5), S. 10 (Graf Franz von Ballestrem an seine Tante Elisabeth). 155 Janssen, Friedrich Leopold zu Stolberg (wie Anm. 32), S. 454f.

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Wert auf Bibelkunde gelegt; der Katechismus musste auswendig gelernt werden.156 Der neunjährige Franz von Ballestrem wurde auf eine Erziehungsanstalt der Jesuiten in Lemberg geschickt. Die Familie wohnte zu diesem Zeitpunkt noch auf dem Land, weshalb sowohl Franz als auch seine beiden Schwestern das elterliche Haus verlassen mussten.157 Seine Mutter war glücklich „Franz in solchen Händen zu wissen, durch deren Vermittlung [sie] am sichersten dem Befehle unseres Heilands ‚lasst die Kleinen zu mir kommen‘ glaub[t]e Genüge leisten zu können“.158 Später besuchte Franz eine weitere von Jesuiten geleitete Erziehungsanstalt: das Collège Notre Dame de la Paix in Namur.159 Für Sophia zu Stolberg stand unumwunden fest: „Es gibt keinen andern Grund einer guten Erziehung als herzliches aufrichtiges Christenthum. […] Die durchgängige Richtung des Gemüthes auf das Gute, der beharrliche Wille, jedes Ungerechte, auch im Kleinsten, jedes Böse, jedes Lieblose treu zu bekämpfen […] dieses Bestreben in Demuth des Herzens, die unsere eigenen Fehler zu sehen wünscht, kann gewiss nur durch Religion, durch Beziehung auf Gott durch Jesum Christum begründet und erhalten werden.“160 In einer rege nachgefragten Erziehungsschrift forderte Friedrich Leopold im Einklang mit seiner Frau: „Gott hat sein Werk in dir angefangen, und will es so gern in dir vollenden, darum sey getreu, wache, bete. Laß dich nicht das Böse überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. Sey allezeit fröhlich; bete ohne Unterlaß; sey dankbar in allen Dingen, denn das ist der Wille Gottes in Christo Jesu an uns.“161 Sophia und Friedrich Leopold waren überzeugt, dass alles Gute vonseiten Gottes käme.162 Ihr Katholizismus nahm sich frappierend aus: Verliebte sich ein Sohn in eine Protestantin, so setzten Sophia und Friedrich Leopold alles daran, die beiden wieder getrennt zu sehen.163 Wie nachhaltig die katholische Frömmigkeitserziehung wirkte, offenbarte jene Situation, in der ihr dreizehnjähriger Sohn Franz seine Eltern auf seinem Sterbebett mit den Worten: „Bei Gott, bei unserm Heiland werde ich euch viel näher sein als izt […]“164 beschwichtigte. Überhaupt ertrug das Kind seine Krankheit mit ungewöhnlicher Geduld und ohne ein Wort des Klagens, stets an seinem Glauben festhaltend – und fungierte somit als Vorbild für die ganze Familie. Gottesehrfurcht 156 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 15), S. 6 (Bertha von Ballestrem an ihren Mann Carl Wolfgang, 7. Juli 1842). 157 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 15), S. 8 (Gräfin Bertha von Ballestrem an ihren Sohn Franz). 158 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 15), S. 8f (Bertha von Ballestrem an ihren Mann, 8. August 1843). 159 Laslowski, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 15), S. 4. 160 Janssen, Friedrich Leopold zu Stolberg (wie Anm. 32), S. 472. 161 Frank Baudach (Hrsg.), Friedrich Leopold Graf zu Stolberg. Standesherr wider den Zeitgeist, Eutin 2010, S. 41 (Friedrich Leopold Graf zu Stolberg an seinen Sohn Ernst. Als Handschrift für Freunde mitgetheilt von einem Freunde, 3. Auflage, Münster 1833). 162 Janssen, Friedrich Leopold zu Stolberg (wie Anm. 32), S. 472ff. 163 Conrad, Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe (wie Anm. 11), S. 137f. 164 Janssen, Friedrich Leopold zu Stolberg (wie Anm. 32), S. 458.



Verbürgerlichung des Adels? 

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und Ergebenheit zeigten auch seine Geschwister. So reagierte die vierjährige Julia tröstend, als sie ihre Mutter einige Zeit nach dem Tod von Franz mit Tränen der Rührung beten sah, mit den Worten: „Mama, weine nicht, er ist bei Gott und wir kommen bald zu ihm, weine nicht“165, weil sie dachte, ihre Mutter weine um den großen Bruder.

V Schlussbetrachtung Noch einmal: Die Aussagekraft dieses Aufsatzes ist notwendigerweise begrenzt, es lassen sich allenfalls Tendenzen erkennen und es ergeben sich Fragen: Die drei untersuchten adeligen Mütter lebten in wohlhabenden finanziellen Verhältnissen. Ihr soziales Kapital gründete auf elitären Netzwerken zu Standesgenossen, bekannten Persönlichkeiten und Herrscherhäusern. Sie waren gebildet und politisch interessiert. Ihre Kapitalverteilung war wesentlich geprägt von der katholischen Religion. So ähnelten ihre Lebenswelten denen des höheren Bürgertums stark, es sind aber auch die graduellen Unterschiede zu betonen. Die Dimension Alltag offenbarte fast ausschließlich Gemeinsamkeiten. Die Rollenbilder der Gattin, Hausfrau/Haushälterin und Salondame sind – natürlicherweise unterschiedlich stark – sowohl im Bürgertum wie im Adel anzutreffen. Signifikante Disparitäten traten nur beim Selbstbild des Ehemannes auf, das einen außerordentlich hohen Grad an affektiv aufgeladener Religiosität beinhaltete. Die Dimension Kindererziehung führte alle kategorischen Trennungen zwischen Adel und Bürgertum, wie sie auch Marcus Funck und Stephan Malinowski betreiben,166 ad absurdum. Zweifelsohne fällt die Absage des Adels an eine formale Bildung recht weitgehend aus, die Geschlechtsspezifik korreliert jedoch mit bürgerlichen Erziehungsstrategien. Eine emotionale Distanz zwischen Mutter und Kind besteht allenfalls partiell, zudem erscheint der Vater nicht nur als autoritärer, auch vor körperlicher Züchtigung nicht zurückschreckender Machtmensch167. Liebe, Fürsorge und Zuneigung charakterisieren auch die Vater-Kind-Beziehungen. Dementsprechend zeigt der Vater ein relativ weitgehendes Engagement in Erziehungsfragen. Dass hier ein Zusammenhang mit der ausgeprägten Religiosität/Katholizität der Eltern besteht, liegt nahe. Weitere Forschungen, die nicht nur auf der allzu beliebten Quellengattung der Erinnerungen gründen, sondern auch zeitgenössisches Korrespondenzmaterial in Augenschein nehmen, erscheinen vor diesem Hintergrund ebenso notwendig wie vielversprechend.

165 Janssen, Friedrich Leopold zu Stolberg (wie Anm. 32), S. 328. 166 Funck/Malinowski, „Charakter ist alles!“ (wie Anm. 5). 167 Funck/Malinowski, „Charakter ist alles!“ (wie Anm. 5), S. 78.

Markus Raasch

„Ich habe in Seinem Schlafzimmer oft Seine Hände geküsst“ Adel und Männlichkeit am Beispiel des Katholizismus Männlichkeitsforschung mag einen bedeutenden Aufschwung genommen haben1 – die Adelshistoriografie jedoch hat den Mann ungeachtet ihrer ausgeprägten Sensibilität für kulturhistorische Fragestellungen2 bisher weitgehend außen vor gelassen. Einschlägige Handbücher und Überblicksdarstellungen3 beschäftigen sich nicht mit Männlichkeitskonzepten, genderorientierte Spezialstudien fokussieren die adelige Frau4. So kann ein fast zehn Jahre alter Aufsatz von Marcus Funck als instruktiv gelten.5 Funck argumentiert zunächst materialistisch und betont die durch Besitzwahrungslogik bedingte Ungleichbehandlung von erst- und nachgeborenen Männern, die freilich 1 Zum Beispiel: Ute Frevert, Männergeschichte oder die Suche nach dem „ersten“ Geschlecht, in: Manfred Hettling u.a. (Hrsg.), Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen, München 1991, S. 31–43; Thomas Kühne (Hrsg.), Männergeschichte – Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt am Main/New York 1996; Walter Erhart/Britta Hermann, Wann ist ein Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit, Stuttgart/Weimar 1997; Karen Hagemann/Ralf Pröve (Hrsg.), Landsknechte, Soldatenfrauen und Nationalkrieger. Militär, Krieg und Geschlechterordnung im historischen Wandel, Frankfurt am Main/New York 1998; Claudia Benthien/ Inge Stephan (Hrsg.), Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln u.a. 2003; Martina Kessel, The „Whole Man“. The Longing for an Masculine World in Nineteenth-Century Germany, in: Gender and History 15, Heft 1, 2003, S. 1–31; Wolfgang Schmale, Geschichte der Männlichkeit in Europa (1945–2000), Wien 2003; Michael Meuser, Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster, Opladen 20103; Manuel Borutta/Nina Verheyen (Hrsg.), Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit und Emotion in der Moderne, Bielefeld 2010; Stefan Horlacher (Hrsg.), „Wann ist die Frau eine Frau?“ „Wann ist der Mann ein Mann?“. Konstruktionen von Geschlechtlichkeit von der Antike bis ins 21. Jahrhundert, Würzburg 2010. Vgl. auch die auf der Homepage des Arbeitskreis für interdisziplinäre Männer- und Geschlechterforschung aufgeführten Publikationen: www.fk12.tu-dortmund.de/cms/ISO/de/soziologie/soziologie_der_geschlechterverhaeltnisse/AIM_Gender/[01.09.2013]. 2 Siehe die in der Einleitung dieses Bandes genannten Studien. 3 Heinz Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999; Monika Wienfort, Der Adel in der Moderne, Göttingen 2006. 4 Christa Diemel, Adelige Frauen im bürgerlichen Jahrhundert. Hofdamen, Stiftsdamen, Salondamen 1800–1870, Frankfurt am Main 1998; Monika Kubrova, Vom guten Leben. Adelige Frauen im 19. Jahrhundert, Berlin 2011. 5 Marcus Funck, Vom Höfling zum soldatischen Mann. Varianten und Umwandlungen adeliger Männlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, in: Eckart Conze/Monika Wienfort (Hrsg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln u.a. 2004, S. 205–236. Vgl. auch Marcus Funck, Männer, adelige, in: Eckart Conze (Hrsg.), Kleines Lexikon des Adels. Titel, Throne, Traditionen, München 2005, S. 158–161.



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durch Karrieremöglichkeiten in Militär, Staatsdienst und Kirche abgefedert werden konnte. Im Anschluss beschreibt er aus kulturalistischer Perspektive ein in der Erziehung vermitteltes und in beträchtlichem Umfang auch gelebtes Männlichkeitsideal, das holistisch angelegt war, mithin Krieger- wie Kavaliersattitüde, den Dienst an der Waffe und die Galanterie, implizierte. Im Zuge eines wirkungsmächtigen Diskurses über die „Krise der Männlichkeit“, der auch als Reaktion auf die erstarkende Frauenbewegung zu sehen ist,6 ging die Konzeption dann indes an der Wende zum 20. Jahrhundert ihrer Ganzheitlichkeit verlustig. Fortan sollte der adelige Mann zuvörderst soldatischer Krieger sein, höfische Verhaltensweisen wurden in pejorativer Hinsicht als unmännlich betrachtet. Funck schreibt auf Basis von Erinnerungen und zeitgenössischer Literatur, wobei ihn konfessionelle Gesichtspunkte nicht interessieren. Es nimmt in Konsequenz nicht wunder, dass auch der so elaborierten genderorientierten Religionsforschung Adelsstudien fehlen.7 Vor diesem Hintergrund möchte dieser Beitrag auf der Grundlage zeitgenössischer Ego-Dokumente Männlichkeitskonzepte adeliger Katholiken ins Blickfeld nehmen. Eingedenk der Historizität, Relationalität8 und Fragilität9 von Männlichkeit wird dazu sämtliches Korrespondenz- und Aktenmaterial derjenigen 92 katholischen Männer herangezogen, die für die Zentrumspartei zwischen 1871 und 1890 im Reichstag saßen und durch ihre Sozialbeziehungen nahezu den gesamten im politischen Katholizismus aktiven Adel repräsentierten.10 Ziel ist es, die Konstituenten katholisch-adeliger Männlichkeit vornehmlich in praxeologischer Hinsicht herauszuarbeiten. 6 Thomas Kühne, Männergeschichte als Geschlechtergeschichte, in: Ders. (Hrsg.), Männergeschichte – Geschlechtergeschichte (wie Anm. 1), S. 7–30, hier S. 16. 7 Zur Rolle der Frau etwa: Irmtraud Götz von Olenhusen (Hrsg.), Wunderbare Erscheinungen. Frauen und katholische Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 1995; Irmtraud Götz von Olenhusen (Hrsg.), Frauen unter dem Patriarchat der Kirchen. Katholikinnen und Protestantinnen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1995; Birgit Sack, Zwischen religiöser Bindung und moderner Gesellschaft. Katholische Frauenbewegung und politische Kultur in der Weimarer Republik (1918–1933), Münster u.a. 1997; Gisela Breuer, Frauenbewegung im Katholizismus. Der Katholische Frauenbund 1903–1918, Frankfurt am Main u.a. 1998; Relinde Meiwes, Arbeiterinnen des Herrn. Katholische Frauenkongregationen im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000; Manuel Borutta, Das Andere der Moderne. Geschlecht, Sexualität und Krankheit in antikatholischen Diskursen Deutschlands und Italiens (1850–1900), in: Werner Rammert (Hrsg.), Kollektive Identitäten und kulturelle Innovationen. Ethnologische, soziologische und historische Studien, Leipzig 2001, S. 59–75. Zum Gesamtkontext zum Beispiel: Ingrid Lukatis u.a. (Hrsg.), Religion und Geschlechterverhältnis, Opladen 2000; Patrick Pasture/Jan Art (Hrsg.), Gender and Christianity in modern Europe. Beyond the feminization thesis, Leuven 2012. 8 Mann-Sein bedeutet Abgrenzung gegenüber Weiblichkeit, aber auch gegenüber anderen Formen von Männlichkeit: Kühne, Männergeschichte (wie Anm. 6), S. 22. 9 Es besteht stets ein Spanungsverhältnis zwischen Leitbildern von Männlichkeit und subjektiven Erfahrungen: Kühne, Männergeschichte (wie Anm. 6), S. 23. 10 Das Quellenmaterial wurde europaweit gesammelt im Rahmen meiner Habilitationsschrift: Markus Raasch, Der Adel auf dem Feld der Politik. Das Beispiel der Zentrumspartei in der Bismarckära (1871–1890), [Düsseldorf 2014].

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I Herrschaft Katholisch-adelige Männlichkeit war zunächst durch Herrschaft bestimmt – im buchstäblichen Sinne, vielmehr aber auf der Ebene der symbolischen Kapitalakkumulation (Bourdieu). Immerhin fast zwei Drittel der untersuchten Adeligen firmierten als Gutsbesitzer, etliche verfügten über riesige Ländereien. Sicherlich bedeutete Landbesitz nicht immer Reichtum und zweifelsohne waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wichtige gutsherrliche Privilegien abgelöst worden.11 Gleichwohl traten viele Landadelige formell und vor allem informell weiterhin als Herrscher auf, imaginierten sich Nicht-Adelige als Beherrschte. Der Adelige war oftmals unverändert Patronatsherr, in Preußen blieb er bis zur Einführung der neuen preußischen Kreisordnung im Jahr 1872 Ortsobrigkeit samt niederer Polizeigewalt und Aufsicht über das Schulwesen. Die ländliche Hierarchie blieb auf den adeligen Grundbesitzer zugeschnitten. Oft demonstrierte dies schon die Anlage der Dörfer: Die adeligen Herrenhäuser bildeten entweder den Dorfkern, „an den sich die klein-bäuerlichen Anwesen nachträglich angesetzt“ hatten,12 oder sie lagen separiert, „trutzig aus den Kronen der uralten Bäume“ ragend13, hoch über oder nahe einem einige hundert Einwohner zählenden Dorf. Repräsentative Bauten nebst einer beträchtlichen Zahl an Dienstpersonal waren durchaus die Regel. Die untersuchten westfälischen Adeligen beispielsweise hatten alle als Kinder auf stattlichen, von der niederländischen Renaissance oder dem Barock geprägten Wasserburgen gelebt. Im Innern waren Bibliotheken und aufwendig, zum Beispiel mit Stuckaturen, gestaltete Repräsentationssäle ebenso typisch wie in der Außenanlage sorgsam gepflegte Gärten und ein ausgedehnter Park. Häufig unternahmen die Adeligen selbst aufwändige Um- und Ausbaumaßnahmen. Mancher Adelige war in herrschaftlicher Tradition Kunstliebhaber und hatte „Umgange mit den ausgezeichneten Künstlern seiner Zeit“.14 Selbst der Wohnsitz von Adeligen, die sich in argen finanziellen Schwierigkeiten befanden,15 bestand bisweilen aus einem Renaissanceschloss, das ca. 3.500 qm Fläche, d.h. mehr als 50 Zimmer und einen großen Festsaal umfasste. Hinter dem Schloss lag ein repräsenta-

11 Prägnant zur Geschichte der gutsherrlichen Privilegien: René Schiller, Vom Rittergut zum Großgrundbesitz. Ökonomische und soziale Transformationsprozesse der ländlichen Eliten in Brandenburg im 19. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 36ff. 12 Gertrud Dyhrenfurth, Ein schlesisches Dorf und Rittergut. Geschichte und soziale Verfassung, Leipzig 1906, S. 4. 13 Karl Kick, 100 Jahre Freiwillige Feuerwehr Rothenstadt 1873–1973, Neustadt/Waldnaab 1973, S. 26. 14 Maximilian Joseph Schleiss, Trauer-Rede bei dem feyerlichen Leichenbegräbnisse des am 5. Dezember 1840 zu Frankfurt am Main in dem Herrn selig entschlafenen Herrn Grafen Erwein von Schönborn-Wiesentheid, Würzburg 1841, S. 10. 15 Ein Sohn von Peter Carl von Aretin an Maximilian Freiherr von Soden, 23. April 1883, in: Verlobungsanzeige, 31. Mai 1869, in: Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München (BayHstaM), Familienarchiv (FA) Aretin, Carl 49/34.



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tiver Landschaftspark.16 Mitunter umfasste der adelige Garten: ein „Lusthaus“, eine große Orangerie, ein Labyrinth, Bowlinggreens, eine hübsch gestaltete Winduhr, fünf große Portale mit kunstvollen schmiedeeisernen Toren, einen Entensee, ein Vogelhaus, einen Kanal und mehrere Gewächshäuser, ferner ein Kolossalbild des Samson mitten im geometrisch ausgemauerten Schlossparkteich, dazu diverse Wasserspiele, einen künstlichen Wasserfall und eine hoch aufschießende Kaskade.17 Der Gutsherr war der wichtigste Arbeitgeber am Platze, andere Bauerngüter in seinem Bezirk erreichten selten die Spannfähigkeit. Die herrschaftliche Stellung des Gutsherren zeigte sich in Anredeformeln („Euer Hochgeboren“) und dem Jagdprivileg, das weidlich und gerne genutzt und von dessen Ausübung stets begeistert berichtet wurde.18 Der Wildpark eines bayerischen Adeligen zwischen Neustadt und Rothenfels umfasste beispielsweise 3.200 Hektar und erlebte selbst Mitglieder der bayerischen und hessischen Herrscherfamilie als regelmäßige Gäste.19 Adelige Familienerlebnisse wie Hochzeiten oder Beerdigungen waren zugleich Hochereignisse der Dorfgemeinschaft; der männliche adelige Körper stand dabei stets im Mittelpunkt: Bei Kirchen­ festen erfüllten seine Kinder Ehrendienste, indem sie Blumen streuten oder das Weihrauchfass trugen. Der Gutsherr und sein Erbnachfolger, mitunter in „große[r] Gala mit allen Orden und Ehrenzeichen“, bildeten bei Umzügen den Mittelpunkt, indem sie mit ihrer gesamten Dienerschaft den Kirchenfahnen, dem Kreuz der Gemeinde und den Gemeindegliedern voranschritten.20 Auch bei Erntefesten war die Inszenierung auf den sich als gutmütiger Patron gerierenden Gutsherren zugeschnitten: Im schlesischen Jacobskirch zum Beispiel zog der Festzug der Dorfgemeinschaft zum Haus des adeligen Gutsherrn, Gärtnersfrauen in bunter Tracht brachten ihm die Erntekrone dar und gedachten ihrem „Herrscher“ im Erntelied: „Wir dienen treulich unserm Herrn,/ Er gibt uns unsern Lohn; /Wir tuen seiner Arbeit gern /und haben Nutzen von. /Wir wünschen unserm Herrn /viel Glück /und schenken ihm den Kranz, /es ist der Schnitter Meisterstück /in vollem Goldesglanz.“. Anschließend hielt der Adelige die zentrale Festansprache und es gab Freibier in einem festlich geschmückten Saal des Gutshofs.21 Adelige Herrschaft war freilich nicht nur auf das Land bezogen, denn auch 16 www.schloss-haidenburg.de/Willkommen_auf_Schloss_Haidenburg/Geschichte.html [01.09.2013]. 17 www.wiesentheid.de/?ms=93&m=|0783470001266955672|0388043001270632485|05701730012759 78812|&modul=site&site=site&v1=1275045591 [01.09.2013]. 18 Beispielhaft: „Bei der Abendpürsche, nach langem Herumfahren und Pürschen zu Fuß im Oberwald, schlich ich noch spät abends die Kotow-Wiese entlang und erlegte am östlichen Ende derselben um 8 Uhr 5 Minuten einen ganz kapitalen Rehbock. Ich war bis auf 30 Schritt herangeschlichen und streckte den Bock im Feuer. Die Freude war groß!“: Tagebuch (TG) von Franz Graf von Ballestrem, 23. August 1886 (unveröffentlichte Abschrift des DFG-Editors Helmut Neubach im Besitz des Eichstätter Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte). 19 Harald Stockert, Adel im Übergang. Die Fürsten und Grafen von Löwenstein-Wertheim zwischen Landesherrschaft und Standesherrschaft 1780–1850, Stuttgart 2000, S. 300ff. 20 TG Ballestrem (wie Anm. 18), 27. Juni 1886. 21 Dyhrenfurth, Ein schlesisches Dorf und Rittergut (wie Anm. 12), S. 151f.

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in Städten wie Breslau, Münster oder Freiburg besaßen die Adeligen eindrucksvolle Palais, sie bildeten einen tragenden Teil des gesellschaftlichen Lebens. Oft waren sie mit ihrer Familie auf Festen, Bällen und Konzerten, die Ehefrau in „prachtvolle[r] Robe von hellblauem Brokat“, die Töchter in weißen Kleidern „mit sehr hübschen Blumen auf Kopf und Brust“, die Männer in Uniform.22

II Aktive Vaterschaft Adelige Männlichkeit bedeutete aktive Vaterschaft, wobei sich Fürsorgewunsch und Härteideal paarten. In den katholisch-adeligen Familien spielte der Vater in Erziehungsangelegenheiten eine zentrale Rolle. Dies galt formal: Er zeichnete für die Einstellung der Ammen und Hauslehrer verantwortlich, bezahlte Schulen und Studium. Während „der passionierte Vater“ der Aufklärung23 in bürgerlichen Familien im Verlaufe des 19. Jahrhunderts weitgehend verloren ging,24 tat sich der katholisch-adelige Ehemann indes auch in praxi als aktiver Vater hervor. Sicherlich figurierte die Mutter als „Zentrum eines emotional bestimmten Familiengeschehens“.25 Aber auch sie hatte in Sachen Erziehung oft Surrogatfunktion und sprang ein, wenn ein Hauslehrer ausfiel, wobei beispielsweise eine schlesische Gräfin Wert darauf legte, „manche andere notwendige Beschäftigung dabei vorzunehmen“. So besorgte sie etwa ihre Haushaltungsund Frühstücksgeschäfte, während ihr Sohn am Klavier übte, und sie schrieb Briefe, wenn ihr Sohn neben ihr auswendig lernte.26 Mancher Vater ließ seinen Kindern liebevolle Fürsorge und Zärtlichkeit angedeihen, sich um kindgerechte Kleidung, Lektüre und Spielsachen sorgend,27 regen Anteil am Zahnwuchs des Sohnes nehmend, mit ihm regelmäßig spielend, Ausflüge unternehmend und Schlitten fahrend, ihn mitbadend und sogar für ihn kochend.28 Das Bedauern war überaus groß, wenn man bei den Geburtstagen seiner Kinder aus beruflichen Gründen nicht anwesend sein konnte.29 Prinzipiell korrespondierte der abwesende Vater intensiv mit seiner Familie und war 22 TG Ballestrem (wie Anm. 18), 11. September 1890. 23 Anne-Charlott Trepp, Männerwelten privat. Vaterschaft im späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: Kühne, Männergeschichte (wie Anm. 1), S. 31–50, hier. S. 34. 24 Trepp, Männerwelten privat (wie Anm. 23), S. 47. 25 Heinz Reif, Westfälischer Adel 1770–1860, Göttingen 1979, S. 283. 26 Bertha von Ballestrem an ihren Mann Carl Wolfgang, 7. Juli 1842, zit. nach: Karl Ludwig Graf von Ballestrem, Graf Franz von Ballestrem 1834–1910. Aus den Briefen, Tagebüchern und Reden zusammengestellt mit einer Einleitung versehen von Ernst Laslowski, Eichstätt 1991, S. 6. 27 Franz Ballestrem an seine Tante Elisabeth, 11. September 1845, zit. nach: Ballestrem, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 26), S. 10; Bertha von Ballestrem an ihren Mann Carl Wolfgang, 8. August 1843, zit. nach: Ballestrem, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 26), S. 7f. 28 Ballestrem, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 26), S. 23. 29 Johann Franz Freiherr von und zu Bodman an seinen Sohn Othmar, 10. Mai 1878, in: Gräflich Bodmannsches Archiv, Bodman (GBAB), A 2160.



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an den Belangen der Kleinen – unabhängig von ihrem Geschlecht – immer interessiert. Auch die offene Artikulation von Emotionen wurde gefördert, so dass sich Kinder nicht scheuten, dem Vater gegenüber Gefühle zu zeigen, Sehnsüchte anzusprechen und Schwächen einzugestehen: „Was für Gefühle ich empfand, als der Vaterle mich verlassen hatte, [...]. Ich weinte zwar sehr, doch die frohe Hoffnung des baldigen Wiedersehens erheiterte mich ein wenig.“30 Viele Väter waren ihren Kindern der „liebste Papa“31. Zugleich übten sich jedoch einige Väter in der Rolle des Zuchtmeisters, wobei sie dabei oft keinen Widerspruch zu ihrem Fürsorgewunsch sahen. Passionierte Vaterschaft bedeutete selten Distanz, aber mitunter auch Strenge und rigides Strafregime. Väter ließen sich siezen32 oder verlangten beim „Du“ strikten Gehorsam, meinten, dass „echte Gottesfurcht“ mit „strammer Zucht“ zusammen kommen sollte.33 Es gab Väter, die ihren Sohn vom Boden essen ließen.34 Zwecks Ruhigstellung wurden Kinder mit einem Handtuch zusammengebunden35 oder in eine Schüssel mit eiskaltem Wasser gesetzt36: „Ihr wißt ja, wie sehr wir Euch lieben und deshalb muß es uns um so mehr schmerzen, wenn Ihr Eure Schuldigkeit nicht thut.“37

III Ganzheitlichkeit Männlichkeit war im adeligen Verständnis ganzheitlich konturiert. Die Geschlechtsspezifik der Erziehung war in jedem Fall evident. Mädchen und Jungen wurden auf unterschiedliche Rollen vorbereitet. Erstere sollten Hausmutter, Nonne oder Hofdame werden und waren daher stark in den mütterlichen Alltag, vor allem in den Bereich Haushalt und häusliche Repräsentation, eingebunden. Die Söhne mussten Politisches lesen, reiten und den Umgang mit der Waffe lernen. Zu Weihnachten gab es 30 Franz Ballestrem an seinen Vater, 5. Mai 1844, zit. nach: Ballestrem, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 26), S. 9f; vgl. Karl Friedrich von Savigny an seine Eltern, 15. September 1823, zit. nach: Karl Friedrich von Savigny, Karl Friedrich von Savigny 1814–1875. Briefe, Akten, Aufzeichnungen aus dem Nachlass eines preußischen Diplomaten der Reichsgründungszeit. Teil 1, bearbeitet von Willy Real, Boppard am Rhein 1981, 6. 31 Vgl. die zahlreichen Briefe der Kinder an Friedrich Ludolf Graf von Landsberg-Velen und Gemen, in: Archivamt des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Münster (LVWLM), Landsberg-Velen (Dep.), 10771, 2010a. 32 Zum Beispiel Franz Ballestrem an seine Mutter, 20. August 1843, zit. nach: Ballestrem, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 26), S. 8f. 33 Karl Forschner, Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler Bischof von Mainz. Sein Leben und Wirken zu seinem hundertjährigen Geburtstage, Mainz 1911, S. 2. 34 Julius Dorneich, Franz Josef Buss und die katholische Bewegung in Baden, Freiburg im Breisgau 1979, S. 15. 35 Zit. nach: Otto Pfülf, Bischof von Ketteler (1811–1877). Eine geschichtliche Darstellung, Bd. 1, Mainz 1899, S. 13. 36 Engelbert Krebs, Alte Freiburger Bürgerfamilien, Freiburg im Breisgau 1922, S. 24. 37 Johann Franz Freiherr von Bodman an seinen Sohn Othmar, o. D, in: GBAB, A 2160.

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demgemäß für die Jungen vor allem Jagdflinten und Reitzeug. Es wurden „rauhe Jungenspiele“, bestritten, unvermeidlich war das „Räuber und Prinzessin“,38 oft schien das Motto „Jungens sind von Eisen, Mädchen sind von Glas“39. Allerdings ist die Unterschiedlichkeit der Geschlechterkonzepte auch zu relativieren. Die untersuchten Eltern-Kinder-Korrespondenzen zeigen, dass sich in Sachen emotionaler Umgang kaum geschlechtsspezifische Unterschiede ergaben. Und es kam durchaus vor, dass in einem adeligen Hause alle Kinder – Mädchen wie Jungen – „passionirte Eselsreiter“40 waren und selbst die Mädchen „lustigen Kriegsspielen“ frönten41. Auffallend war vor allem, dass Männlichkeit unter dem Rubrum Krieger und Kavalier ganzheitlich gedacht wurde. An Kinderbällen mussten konsequenterweise auch die Jungen teilnehmen. Im Hausunterricht der Jungen spielten nicht nur Reiten, Fechten und Voltigieren eine Rolle, sondern die adeligen Familien legten zwecks Teilhabemöglichkeit am höfischen Leben auch einen klaren Schwerpunkt auf Zeichen-, Musik- und nicht zuletzt Tanzunterricht. Zudem konnten im Hausunterricht Fach- und Standeserziehung kaum getrennt werden. Der Musikunterricht etwa zielte auf den Auftritt vor Publikum ab.42 In Briefübungen behandelte man Themen wie „der adelige Grundherr als landwirtschaftlicher Innovator und Vorbild der Bauern“.43 Zumal in Anbetracht der Tatsache, dass zum Beispiel Preußen seit 1834 den Hochschulzugang vom preußischen Abitur abhängig machte, besuchten viele katholische Adelige ein ordentliches Gymnasium. Nicht wenige gingen aber im Zeichen einer ganzheitlich bestimmten Männlichkeit Sonderwege: Rege wurden die Ritterakademien, etwa in Liegnitz oder Bedburg, besucht. Sie galten als „Pflanzschule der Aristokratie“.44 Denn als Gegenentwurf zum staatlichen Gymnasium sollten hier „außer einer gründlichen wissenschaftlichen und moralischen Bildung im allgemeinen auch die besonderen und eigenthümlichen Anforderungen, welche an den Stand des Adels gemacht werden, berücksichtigt“45 werden. Zum Unterrichtsprogramm zählten entsprechend neben regulären Schulfächern wie Geografie, Geschichte, Mathematik, Physik, Philosophie oder Französisch auch Reit-, Fecht-, Kalligrafie38 Reif, Westfälischer Adel (wie Anm. 25), S. 604. 39 Clemens Graf von Galen zitiert nach: Ingrid Lueb, Zwei Menschen »mit festem Charakter«. Die Brüder Clemens August und Franz von Galen und die elterliche Richtschnur, in: Hubert Wolf u.a. (Hrsg.), Clemens August von Galen. Ein Kirchenfürst im Nationalsozialismus, Darmstadt 2007, S. 28–53, hier S. 38. 40 Wilhelm Emmanuel an Wilderich Ketteler, 18. August 1841, zit. nach: Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Briefe 1825–1850, bearbeitet von Erwin Iserloh und Bernd Gollmann, Mainz 1984, 44. 41 Adalberta Mette, Die Liebe zählt nicht, nur die Liebe zählt. Aus dem Leben der Ordensgründerin Pauline von Mallinckrodt, Paderborn o.J., S. 10; Alfred Hüffer, Pauline von Mallinckrodt, Stifterin und Generaloberin der Kongregation der Schwestern der christlichen Liebe. Ein Lebensbild, Münster 1892, S. 8. 42 Reif, Westfälischer Adel (wie Anm. 25), S. 629f. 43 Reif, Westfälischer Adel (wie Anm. 25), S. 630. 44 Zit. nach: Klaus Bleek, Adelserziehung auf deutschen Ritterakademien. Die Lüneburger Adelsschulen 1655–1850, Frankfurt am Main u.a. 1977, S. 467. 45 Zit. nach: Reif, Westfälischer Adel (wie Anm. 25), S. 638.



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und Tanzunterricht.46 Einiger Beliebtheit erfreute sich des Weiteren die königlichbayerische Pagerie in München, wo der adelige Junge ebenfalls eine dem gymnasialen Curriculum adäquate Ausbildung erhielt. Der Schüler hatte jedoch stets seine Pagenuniform (dunkelblauer Waffenrock mit silbergesticktem Kragen und silbernen Köpfen, Degen, dunkelblaues Käppi, grauer Mantel mit silbernen Knöpfen) zu tragen und wurde obligatorisch in Kriegswissenschaften, freier Hand- und Architekturzeichnung, Stenografie, Musik, Tanzen, Reiten, Exerzieren, Kleinkaliberschießen, Fechten, Voltigieren, Turnen und Schwimmen unterrichtet. Sein Schultag währte für gewöhnlich von fünf Uhr früh bis acht Uhr abends und regelmäßig musste er Dienst am Hof verrichten, zum Beispiel Servierdienst bei großen Hofbällen oder Leuchtdienst bei Hofgottesdiensten und zu kirchlichen Feiertagen. Bei der Landtagseröffnung und -schlussfeier hatte er unter Umständen zu Pferd die Hof-Galakutschen zu begleiten.47 Der adelige Mann war also einem holistischen Männlichkeitsideal verpflichtet, das zu gleichen Teilen eine kriegerische und eine höfische Konturierung aufwies und demgemäß die Einheit von Bildungsleistung, Charakterstärke und physischer Unversehrtheit propagierte. Bezeichnenderweise wurden an der Münchener Pagerie auch lediglich diejenigen aufgenommen, „welche mit Fleiß und Talenten, sichtlich gutes Betragen verbinden, sich eines gesunden, mit erblichen oder örtlichen Fehlern nicht behafteten Körpers erfreuen, und welche bei einer ihrem Alter entsprechenden Größe eine fernere kräftige Entwicklung gewärtigen lassen“.48 Inneres und Äußeres sollten korrespondieren. Der adelige Mann hatte charakterstark, galant und höfisch gebildet zu sein, aber eben auch schneidig auszusehen. Ein ungepflegtes Äußeres, eine geringe Körpergröße oder eine Brille galten als gravierende Mängel. Auf Fotos legten die katholischen Adeligen daher besonderen Wert auf ein wohl gestaltetes Äußeres samt elegantem Halstuch oder Krawatte, Dreireiher, Pomade und gewichstem Bart, mitunter Einstecktuch und Pelzmantel.49 Selbstverständlich bildete das Militär ein wesentliches Soziotop des Adels. Jedoch stand dieses keineswegs im Widerspruch zum ganzheitlichen Männlichkeitsmodell, wie es es im Übrigen auch für die Frau keine „terra incognita“50 darstellte. Das Regiment wurde als erweiterte Familie gedacht, Offiziersfrauen und -töchter 46 Reif, Westfälischer Adel (wie Anm. 25), S. 354; Peter Mainka, Die Erziehung der adeligen Jugend in Brandenburg-Preußen. Curriculare Anweisungen Karl Abrahams von Zedlitz und Leipe für die Ritterakademie zu Liegnitz, Würzburg 1997. 47 Otto von Waldenfels, Die Edelknaben der Churfürstlich und königlich Bayerischen Pagerie von 1799–1918, München 1959, S. 11ff. 48 Satzungen für die königlich bayerische Pagerie über Erziehung, Ausbildung und Hausordnung sowie über die Aufnahme der Zöglinge, zit. nach: Funck, Vom Höfling zum soldatischen Mann (wie Anm. 5), S. 215f. 49 Zum Beispiel Bernd Haunfelder, Reichstagsabgeordnete der Deutschen Zentrumspartei 1871–1933. Biografisches Handbuch und historische Photografien, Düsseldorf 1999, S. 51, 53, 62, 64, 68, 70, 77, 91, 93, 98, 101, 102, 104, 109, 131. 50 So fälschlicherweise Ute Frevert, Soldaten, Staatsbürger. Überlegungen zur historischen Konstruktion von Männlichkeit, in: Kühne (Hrsg.), Männergeschichte (wie Anm. 1), S. 84.

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traten „außerhalb der fachmilitärischen Sphäre“ als seine Repräsentanten auf.51 Die Komplementarität von Krieger- und Kavaliersattitüde reflektierten in besonderer Weise die Kadettenanstalten: Die zehn Kompanien starke Hauptkadettenanstalt in Berlin-Lichterfelde besaß beispielsweise inklusive Latein-, Französisch- und Englischunterricht Klassenstufen von der Untersekunda bis zur Oberprima, lehrte Kriegswissenschaften und firmierte als eine der besten Militärschulen der Welt. Die dortige Ausbildung, die nicht das Abitur, sondern das Portepeefähnrichsexamen und anschließend die Offiziersprüfung anstrebte, war vor allem vom Prinzip des militärischen Drills geprägt: Die Kadetten „waren Soldaten, ehe sie zu denken anfingen. Und daß sie es ganz wurden, dafür sorgten Zucht und Tradition, in denen sie aufwuchsen. Hierin unterschied sich das Kadettenkorps scharf von allen anderen Erziehungsinstituten. Jenes züchtete, während diese ‚bildeten‘.“52 Der Tagesablauf in den Anstalten war entsprechend von morgens halb sechs bis abends zehn Uhr strengstens geregelt, nebst Mittagsappell und Zapfenstreich.53 Das Kadettendasein adeliger Offiziersanwärter erschöpfte sich jedoch nicht darin, das Wechselverhältnis von Dienst und Herrschaft durchexerzieren zu lassen. Denn im Gegensatz zu ihren bürgerlichen Kameraden besaßen sie das Privileg des Pagendienstes am Hof. Ein adeliger Mann musste eben beides können: kämpfen und tanzen; militärisch-professionelle und höfische Verhaltensweisen standen in einem komplementären Verhältnis; die Polarität der Geschlechterwelten war beim adeligen Mann nur in geringem Maße evident, weswegen zum Beispiel Militärs, die im Offizierskasino miteinander tanzten, auch keine Seltenheit waren.54 Nur wenige Adelige verzichteten auch während ihres Studiums auf adelige Exerzitien und Geselligkeit und rangen sich zu konsequenter berufsbezogener Leistungsund Studienmotivation durch. Stattdessen unternahmen viele „Kavalierstouren“55 durch Europa und den Orient. Sie waren bestrebt, gemäß dem Ideal des gebildeten Hofmanns theoretisches Wissen durch eigenes Erleben zu ergänzen; auf den langwierigen, mitunter beschwerlichen Reisen wurde Lektüre betrieben und mit dem/n Reisepartner/n über verschiedenste politische, gesellschaftliche und religiöse Fragen diskutiert; vor Ort besuchte man die obligatorischen Sehenswürdigkeiten, vertiefte seine Fremdsprachenkenntnisse und perfektionierte auf Festen und Banket51 Funck, Vom Höfling zum soldatischen Mann (wie Anm. 5), S. 223. 52 Edmund Dolf, Colmar v.d. Goltz (1917), zit. nach: Funck, Vom Höfling zum soldatischen Mann (wie Anm. 5), S. 214. 53 John Moncure, Forging the King’s Sword. Military Education Between Tradition and Modernization. The Case of the Royal Prussian Cadet Corps 1871–1918, New York u.a. 1993, S. 110. 54 Allgemein: Moncure, Forging the King’s Sword (wie Anm. 53), S. 136ff. Vgl. aus den Erinnerungen eines brandenburgischen Offiziers: „Was macht der alten Ritter wert,/Was ist wohl würdiger der Ahnen,/Als dem Kaiser zu dienen mit schneidigem Schwert/und als Page den fürstlichen Damen“: zit. nach: Funck, Vom Höfling zum soldatischen Mann (wie Anm. 5), S. 215. 55 Zur Kavalierstour: zum Beispiel Attilo Brilli, Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Tourismus. Die „Grand Tour“, Berlin 2001.



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ten adelige Exerzitien sowie das Wissen um Zeremoniell und Etikette. Nicht zuletzt mühten sich die katholischen Adeligen durch Treffen mit europäischen Standesgenossen um Netzwerkbildung.

IV Eros Der katholisch-adelige Mann erschien – wie es der aus dem Bürgertum stammende moderne Liebesbegriff postulierte56 – häufig als liebender Ehegatte. Zweifelsohne waren seine Ehen nicht selten im Hinblick auf den Vorteil der Familie arrangiert. Mancher Mann musste den obligatorischen „Eiertanz“ in Sachen Eheanbahnung vollführen.57 Eine Eheanbahnung des späteren Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler scheiterte aus familienpolitischen Gründen.58 Zahlreiche Ehen wurden aber auch aus Liebe geschlossen. Ein bayerischer Freiherr und seine Frau hatten sich beispielsweise während der Morgenmesse kennengelernt und sich einige Zeit zur Vergewisserung ihrer Liebe genommen.59 Lange vor ihrer Hochzeit hatten ein westfälischer Graf und seine zukünftige Frau einen regen Briefwechsel geführt, sich verschiedentlich getroffen, ihre gegenseitigen Sorgen und Ängste besprochen und sich ihrer tiefen Zuneigung versichert.60 Er nannte seine Braut seinen „einzig geliebten Engel“, betonte, dass sie seine „einzige Geliebte, einzige Freude“ sei61 und unterschrieb gerne mit „halt lieb Deinen Dich ewig unaussprechlich liebenden Ignaz“.62 Ein südwestdeutscher Adeliger bekannte seiner zweiten Ehefrau (die erste war verstorben) kurz vor der Hochzeit: „Meine Amalie war die eine Ausnahme, und Du, liebes Lenchen, bist die zweite! Wir werden den Himmel auf die Erde niederziehen, oder vielmehr dieses trübe Erdenleben zum Himmel erhöhen.“63 Einige Zeit nach seiner Hochzeit schrieb er an seine Frau in romantisch-schwärmerischem Ton: „Wie haben mich die 56 Dazu zum Beispiel: Anne-Charlott Trepp, Emotion und bürgerliche Sinnstiftung oder die Metaphysik des Gefühls. Liebe am Beginn des bürgerlichen Zeitalters, in: Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, S. 23–56. 57 Otto Pfülf, Hermann von Mallinckrodt. Die Geschichte seines Lebens, Freiburg im Breisgau 1892, S. 223f. 58 Pfülf, Bischof Ketteler (wie Anm. 35), S. 43f. 59 Karl Otmar von Aretin, Franckenstein. Eine politische Karriere zwischen Bismarck und Ludwig II., Stuttgart 2003, S. 15. 60 Zum Beispiel: Johann Ignaz Graf von Landsberg-Velen und Gemen an Louise Westerholt und Gysenberg, zit. nach: Gitta Böth, Johann Ignaz Franz Maria von Landsberg-Velen 1788–1863, Münster u.a. 2009, S. 58, 59. 61 Johann Ignaz Landsberg an Louise Westerholt und Gysenberg, zit. nach: Böth, Landsberg (wie Anm. 60), S. 58. 62 Zum Beispiel Johann Ignaz Landsberg an Louise Westerholt und Gysenberg, zit. nach: Böth, Landsberg (wie Anm. 60), S. 59. 63 Brief vom 8. Oktober 1835, zit. nach: Dorneich, Franz Josef Buss (wie Anm. 34), S. 35.

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Gefühle Deines Briefchens erfreut, mein Herz floß über in seliger Wonne, in ein freudiges Nachgefühl, in endlosen Dank gegen Gott, der Dich, edles, zartes Wesen, mir an die Hand, ans Herz legte.“64 Darüber hinaus stand die offenkundige Funktionalität eines Ehebündnisses oft nicht in einem Widerspruch zu der Intimität, von der sie getragen war. Das Verhältnis zwischen einem schlesischen Grafen und seiner Frau beispielsweise kam durch äußeres Einwirken zustande, war aber durchgehend von einer besonderen Innigkeit bestimmt: von der Verliebtheit des Anfangs („Noch nicht 24 Stunden sind verflossen, als ich Ihr liebes Antlitz zum letztenmal aus dem Coup´ erblickte, und doch scheint es mir schon eine Ewigkeit, daß ich von Ihnen entfernt bin; in jedem Augenblicke fehlt mir etwas, ich sehe mich um, ich glaube, Sie müßten zur Tür hereintreten, aber mein lieber, süßer Engel erscheint nicht“65) bis zum liebevollen Umgang im Ehealltag („Ich besonders sehne mich von ganzem Herzen in meinen trauten Familienkreis an die Seite meines zärtlich geliebten Weibels“66). Der katholisch-adelige Mann nannte seine Angetraute zärtlich „mein liebes gutes Frauchen“67, „Du liebes liebes Weib“, „liebes Herzchen“68 oder „Liebster Engel“69, in Abwesenheit gewissenhaft „von den letzten 24 Stunden erzählen[d]“,70 „Mund und Augen“ küssend,71 „millionenmal“ herzend72 oder „mit namenloser Liebe“ signierend73. Selbstverständlich musste manche Ehefrau bei ihrem Mann erkennen, dass ihn „ein den Menschen unzugängliches Gebiet in seinem Innern, das er Niemand, wie Gott, aufschließt“, kennzeichnet.74 Dennoch spielte der romantische Gedanke in den Paarbeziehungen eine signifikante Rolle. Die Mutter von Bischof Ketteler schrieb zum Beispiel im Jahre 1833 an einen ihrer Söhne: „So glücklich, wie ich mit dem lieben, 64 Brief vom 26. April 1837, zit. nach: Dorneich, Franz Josef Buss (wie Anm. 34), S. 35. 65 Franz Ballestrem an Hedwig Saurma, 4. November 1857, zit. nach: Ballestrem, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 26), S. 17. 66 Franz Ballestrem an seine Frau, 22. September 1870, zit. nach: Ballestrem, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 26), S. 53. 67 Felix Graf von Loë-Terporten an seine Frau, 25. November 1870, in: Archivamt des Landschaftsverbandes Rheinland, Brauweiler (LVRB), Archiv Wissen, NL Felix Loë 232/3. Vgl. insgesamt die Briefe von Felix Loë an seine Frau, ebenda. 68 Friedrich Leopold Graf zu Stolberg-Stolberg an seine Frau Sophia, 20. Januar 1794, zit. nach: Horst Conrad/Sabine Blickensdorf (Bearb.), Friedrich Leopold zu Stolbergs Briefe an seine Ehefrauen Agnes von Witzleben und Sophia von Redern, Münster 2010, S. 297f. 69 Friedrich Leopold Stolberg an seine Frau Sophia, 22. Januar 1794, zit. nach: Conrad, Stolberg (wie Anm. 68), S. 298f. 70 Felix Loë an seine Frau, 25. November 1870, in: LVRB, Archiv Wissen, NL Felix Loë 232/3. 71 Friedrich Leopold Stolberg an seine Frau Sophia, 20. Januar 1794, zit. nach: Conrad, Stolberg (wie Anm. 68), S. 297f. 72 Friedrich Leopold Stolberg an seine Frau Sophia, 24. Januar 1794, zit. nach: Conrad, Stolberg (wie Anm. 68), S. 299ff. 73 Friedrich Leopold Stolberg an seine Frau Sophia, 12. September 1810, zit. nach: Conrad, Stolberg (wie Anm. 68), S. 480f. 74 Wilhelm Emmanuel an Paula von Ketteler, 13. Oktober 1843, zit. nach: Ketteler, Briefe (wie Anm. 40), 64.



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lieben Vater war, gibt es keine Frau mehr auf der Welt.“75 Selbst überaus nüchterne Persönlichkeiten konnten bei längerer Abwesenheit von zu Hause nicht verhehlen: „Sehr sehne ich mich wieder nach einem Briefe von dir.“76 Ein adeliger Parlamentarier der Zentrumspartei aus Bayern überhäufte seine Frau gar mit Liebesbekundungen: Es war sein „Erstes […] nach Ankunft in Berlin seiner Frau einen Gruß zu senden“;77 in keinem Fall sollte seine Frau denken, „daß zwischen mein Herz u. Dich sich der Reichstag eingeschoben habe“.78 Vielmehr stellte er heraus, dass seine Frau „auch mitten im deutschen Reichstag im Mittelpunkte, dem Herzen eines – [ihres] Abgeordneten“ thront.79 Er sparte nicht an intimen Anredeformeln („Meine Süße, „Liebes Kind“, „Mein Herz“, „mein gutes Schatzi“, „mein liebster Schatz“, „mein liebes Weib“, mein Weibi“ etc.) und er scheute sich nicht zu bekunden: „Ich sehne mich so nach dir u. deiner Liebe.“80

V Leidenschaftliche Glaubenskonsequenz „Als Konstituente katholisch-adeliger Männlichkeit figurierte eine frappierende, mit Leidenschaft gelebte Glaubenskonsequenz. Adelige Familien im Allgemeinen und ihre Männer im Besonderen lebten eine extensive Frömmigkeit. Während auch im katholischen Bürgertum des 19. Jahrhunderts „eine gewisse Unbekümmertheit gegenüber den religiösen Riten und der Autorität der Geistlichen“ erkannt werden konnte (selbst bei späteren Zentrumsabgeordneten),81 war für die untersuchten Adeligen das tägliche Gebet (häufig der Rosenkranz) ebenso obligatorisch wie der gemeinschaftliche Kirchgang. Undenkbar erschien die in bürgerlichen Familien üblicher werdende Praxis, dass einzelne Familienangehörige – in wachsendem Maße Frauen – gleichsam stellvertretend den Gottesdienst besuchten.82 Über allem stand für alle Familienmitglieder das Versprechen „ein wahrer, frommer Katholik zu bleiben und alles zu thun, um unseren Glauben zu mehren.“83 Die Industrieunternehmerfamilien zögerten nicht, ihre 75 Zit. nach: Pfülf, Bischof Ketteler (wie Anm. 35), S. 1. 76 Cajetan Graf von Bissingen-Nippenburg an seine Frau, 3. April 1872, in: Kreisarchiv Rottweil (KaR) NL Bissingen 717. 77 Maximilian Freiherr von Soden-Fraunhofen an seine Frau, 5. Februar 1873, in: BayHstaM FA Soden-Fraunhofen 733. 78 Soden an seine Frau, Febr. 1874, in: BayHstaM FA Soden-Fraunhofen 733. 79 Soden an seine Frau, 25. Februar 1877, in: BayHstaM FA Soden-Fraunhofen 738. 80 Soden an seine Frau, 16. Januar 1875, in: BayHstaM FA Soden-Fraunhofen 735. 81 Thomas Mergel, Zwischen Klasse und Konfession. Katholisches Bürgertum im Rheinland 1797– 1914, Göttingen 1994, S. 75. 82 Andreas Schulz, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005, S. 9; Mergel, Zwischen Klasse und Konfession (wie Anm. 81), S. 78. 83 Hugo Graf Henckel von Donnersmarck an Bischof Förster, 8. Dezember 1878, in: Archiwum Archidiecezjalne i Biblioteka Kapitulna we Wroclawiu, I. A 22, A 49.

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Kohle-, Zink- und Erzgruben „Gottesgnaden“, „Gottessegen“ oder „Heilige drei Könige“ zu nennen.84 Eltern legten großen Wert auf eine frühestmögliche Taufe, gelegentlich noch im Wochenbett.85 Da schon der kindliche Geist „in den reinsten Grundsätzen des Christentums genährt“ werden sollte, wurde regelmäßig aus der Bibel vorgelesen, an Geburtstagen verschenkte man Gebetsbücher.86 Als Hauslehrer fungierten Priester und/oder religiös gesinnte Laien. Im Hausunterricht wurde großer Wert auf Bibelkunde gelegt; der Katechismus musste auswendig gelernt werden.87 Kinder gingen häufig auf Erziehungsanstalten der Jesuiten, „durch deren Vermittlung [die Eltern] am sichersten dem Befehle unseres Heilands ‚lasst die Kleinen zu mir kommen‘ glaub[t]e[n] Genüge leisten zu können“88. Und auch in den Ritterakademien galt: „Die religiösen Wahrheiten [sollten] [...] den Zögling überall umgeben, in direkter und indirekter Form an sein Herz und Ohr anschlagen, durch Unterricht wie durch Gewöhnung sein Eigentum werden.“89 Verließ der Sohn für längere Zeit das Elternhaus, wurde ihm unmissverständlich aufgetragen: „Versäume nie Dein Morgen- und Abendgebet, letztres mit kurzer Gewissensforschung, knieend zu verrichten. Gehe alle 4 Wochen regelmäßig zu den H. Sakramenten, und führe darüber Notiz“.90 Viele adelige Männer gingen auf Wallfahrten, betrieben regelmäßig Exerzitien, waren Herz-Jesu-Jünger.91 In keinem Fall sollten persönlicher Glaube und äußere Lebensführung differieren. Dies galt zunächst im privaten Bereich und deshalb stand der adelige Mann oft im Banne eines Demutskults. Zurückhaltung, Maßhalten und Entsagung spielten in seinem Wertekosmos eine wesentliche Rolle. Es ging vielfach darum, trotz äußeren Wohlstands einfach in seiner Lebensweise zu sein und „die Vornehmheit mehr in der inneren Gesinnung als in Aeußerlichkeiten“ zu suchen.92 So wurden im Hausunterricht über lateinische Übersetzungen, unter anderem von Seneca und Epikur, Tugenden wie Größe im Verzicht, Zufriedenheit mit Wenigem und Bescheidenheit als vorbildlich herausgestellt.93 Denn es galt das Credo: „Der Knabe wird mit allen Keimen 84 Verzeichnis des herrschaftlichen Bergwerksbesitzes, 1893, in: Archiwum Państwowe w Katowicach, 12/709/85. 85 Böth, Landsberg (wie Anm. 60), S. 119. 86 Böth, Landsberg (wie Anm. 60), S. 119. 87 Bertha von Ballestrem an ihren Mann Carl Wolfgang, 7. Juli 1842, zit. nach: Ballestrem, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 26), S. 6. 88 Bertha von Ballestrem an ihren Mann, 8. August 1843, zit. nach: Ballestrem, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 26), S. 8f. 89 Zit. nach: Reif, Westfälischer Adel (wie Anm. 25), S. 638. 90 Burghard Freiherr von Schorlemer-Alst an seinen Sohn Clemens, 5. Oktober 1872, zit. nach: Heinrich Büld, Festschrift des Gymnasiums Dionysianum in Rheine. Den Freunden der Schule als Erinnerungsausgabe an die Dreihundertjahrfeier im Jahre 1959, Rheine 1959, S. 38f. 91 Paul Siebertz, Karl Fürst zu Löwenstein. Ein Bild seines Lebens und Wirkens, München 1924, S. 111ff. 92 Ferdinande von Brackel, Burghard Freiherr von Schorlemer-Alst. Ein Charakterbild, in: Westfälisches Adelsblatt 2, 1925, S. 228–240, S. 234. 93 Reif, Westfälischer Adel (wie Anm. 25), S. 630.



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der Tugenden, die den christlichen Mann zieren, nur dann heranwachsen, wenn er in strenger Zucht, in Gehorsam, in Enthaltsamkeit, in vielfacher Selbstverleugnung großgezogen ist.“94 Die Ritterakademien wollten „die Zöglinge [...] für den Reiz alles moralisch Schönen [...] und für Uneigennützigkeit, Mildtätigkeit, Selbstüberwindung, durch Vorführung großer Beispiele aus der Geschichte, durch ausgesuchte Stellen aus der Literatur oder andere Werke der Kunst und Darstellung erwärmen“95. Der adelige Mann sollte einfache Kleidung tragen, sich der Onanie, vorehelichen Geschlechtsverkehrs und „unbedingt“ des Wirthausbesuchs entsagen.96 Seine Leidenschaft hatte der Kirche zu gelten: „liebet die Kirche, die Braut Jesu Christi und Eure Mutter, als sicherer Leitstern in allen Versuchungen“.97 Eingedenk des Postulats der Glaubenskonsequenz scheuten Adelige aber auch nicht davor zurück, sich in schwierigen Zeiten öffentlich zur Kirche zu bekennen und sie vehement zu verteidigen: Seit den 1860er Jahren tummelten sich zahlreiche Adelige in katholischen Vereinen, auf Katholikentagen und in der entstehenden Zentrumspartei (der Adelsanteil lag hier in der ersten Legislaturperiode des Reichstags bei immerhin fast 40 %). Immer wieder setzten sie sich ideell und finanziell für die Erhaltung des Kirchenstaates ein. Sie schwelgten im manichäischen Denken und erklärten sich zu milites christiani. Sie wollten „in die Reihen der tapferen Armee Jesu Christi“ eintreten98 und „die Entscheidungsschlacht“ der Menschheit bestreiten99. Im „Kulturkampf“ der 1870/80er Jahre versuchte der Adel – durch Spendensammlungen, Asylangebote und Demonstrationen – beim Einsatz für bedrängte Kleriker und Bischöfe „mit seinem Beispiele der ganzen Bevölkerung voranzugehen“.100 Offenkundig war: Eine „Feminisierung der Frömmigkeit“101 existierte in den zentrumsadeligen Familien nicht, der Mann war nicht das Andere des „frommen 94 Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler an den Verein zu Ehren der hl. Familie, 25. Mai 1869, zit. nach Pfülf, Bischof Ketteler (wie Anm. 35), S. 10. 95 Zit. nach: Reif, Westfälischer Adel (wie Anm. 25), S. 353. 96 Burghard Freiherr von Schorlemer-Alst an seinen Sohn Clemens, 5. Oktober 1872, zit. nach: Büld, Festschrift (wie Anm. 90), S. 38f; Pfülf , Bischof Ketteler (wie Anm. 35), S. 8. 97 Lebensskizze der Eltern Droste-Vischering, II. Teil, S. 139, in: LVWLM, Archiv Darfeld, Droste-Vischering 104. 98 Karl Friedrich von Savigny an August Reichensperger, 10. Juli 1870, in: Landeshauptarchiv Koblenz, 700.138/47; Bischof Konrad von Paderborn an Friedrich Wilhelm Freiherr von Schorlemer-Overhagen, 12. September 1876, in: LVWLM, Archiv Herringhausen C 308; auch: Hövelmann an Wilderich Freiherr von Ketteler, 7. Juli 1867, in: LVWLM, Archiv Ketteler-Harkotten, Bestand Schwarzenraben/ Familiensachen 10. 99 Edmund Prinz von Radziwill, Die kirchliche Autorität und das moderne Bewusstsein, Breslau 1872, S. 500. 100 P.P, Januar 1874, in: LVWLM, Archiv Herringhausen C 278. 101 Norbert Busch, Die Feminisierung der Frömmigkeit, dfg-viewer.de/show/?set%5Bimage%5D =204&set%5Bzoom%5D=default&set%5Bdebug%5D=0&set%5Bdouble%5D=0&set%5Bmets%5 D=http%3A%2F%2Fdaten.digitale-sammlungen.de%2F~db%2Fmets%2Fbsb00044941_mets.xml [01.09.2013].

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Geschlecht[s]“102. Entsprechend kennzeichnete männliche Religiosität eine besondere Emotionalität. Im religiösen Kontext wurden Gefühle nicht zurückgehalten. Brüderküsse in bestimmten katholischen Adelsvereinen waren ebenso normal wie das offene Reden über emotional berührende Begegnungen. Fraktionskollegen der Zentrumspartei begegnete man gelegentlich „beinahe heftig, annähernd und ausschüttend“.103 Oft wurde die Sinnlichkeit von Papstbesuchen exponiert: Ein schlesischer Adeliger bekannte seiner Frau, dass er die ganze Nacht vor dem Aufeinandertreffen nicht schlafen konnte. Er sei „wie im Dusel“ gewesen. Während des 16-minütigen Aufeinandertreffens „in Seinem Schlafzimmer“ habe er „oft Seine Hände geküsst“. Der Papst sei ihm in diesem Moment wie „ein inspirierte[r] Heilige[r]“ und „gütiger Vater“ vorgekommen. Nach dem Besuch stand die grenzenlose Befriedigung: Der Adelige sei „ein überglücklicher Mann“ und „noch keines anderen Gedanken fähig“. Ein westfälischer Adeliger schwärmte von der „große[n] [...] Gestalt“ des Papstes, „sein[em] liebevolle[n] Ausdruck“ und „seine[n] heilenden Worte[n]“. Zu besonderer Erregung gereichte ihm der Moment, als er „zum ersten Mal die Hand des Stellvertreters Christi [...] umfassen und küssen durfte“.104 Sein „Herz erzitterte [...] ob vor Rührung oder Ehrfurcht, Scheu und Freude“.105

VI Von weißen und schwarzen Rittern Die Männlichkeitskonzeption des katholischen Adels zeigt sich exemplarisch an zwei Politikern der Zentrumspartei. Auf der einen Seite stand der hochaufgeschossene, stets akkurat gescheitelte und würdevoll auftretende Hermann von Mallinckrodt. Er erschien dem katholischen Adel als Paradigma des integeren Parlamentariers, da er für die Komplementarität von Innen und Außen stand. Ihm wurden Konsequenz, Direktheit, Mut und Offenheit attestiert. Er war aus katholisch-adeliger Perspektive stets derjenige, der „laut und unerschrocken und unermüdlich die Wahrheit vor der Oeffentlichkeit“ aussprach.106 Seine Redekunst wurde bewundert, seine Beiträge erachteten die adeligen Fraktionskollegen als „äußerst scharf“107, „ruhig“ „klar“ und „treffend“. Kein zweiter im Reichstag“ erschien so „in parlamentarischer Form“.108 Seine adeligen Fraktions102 Der Katholik 55, Heft 1, 1875, zit. nach: Busch, Die Feminisierung der Frömmigkeit (wie Anm. 101), S. 206. 103 TG Ernst Ludwig von Gerlach, 17. April 1876, in: Gerlach-Archiv Erlangen (GAE) AO 4. 104 Memoiren Klemens Heidenreich Graf Droste zu Vischering, in: LVWLM, Archiv Darfeld, DrosteVischering 1. 105 Audienz bei Pius IX, Juni 1867, in: LVWLM, Archiv Darfeld, Droste-Vischering 317. 106 Georg von Hertling, Kleine Schriften zur Zeitgeschichte und Politik, Freiburg im Breisgau u.a. 1897, S. 230f. 107 TG Gerlach 1870–1875, 7. Februar 1874, in: GAE AO3. 108 Constantin Graf von Waldburg-Zeil-Trauchburg an seine Frau, 13. März 1874, in: Neues Zeiler Archiv (NZA), 723.



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kollegen frohlockten, wenn Bismarck sich „fürchterlich grob und heftig“ Mallinckrodt gegenüber gebärdete und dieser sich dennoch „unerbittlich“ zeigte.109 Konsequenz und Geradlinigkeit konstatierten Adelige bei Mallinckrodt freilich auch jenseits der Rednerbühne. Er figurierte als der ideale Miles christianus. Ein bayerischer Adeliger etwa schrieb ihm eine „wunderbare Ruhe und Sicherheit der religiösen Überzeugung“ zu: „Da war nichts Halbes, nichts Angekränkeltes, kein Wenn und Aber, kein Vorbehalt, sondern jederzeit das volle Bekenntnis zu dem als allein wahr erkannten kirchlichen Standpunkt“.110 Mallinckrodt war ein konsequenter, rechtschaffener, mitunter grober Politiker, dessen Handeln stets unter dem Rubrum der Ritterlichkeit stand. Er erschien als der „wahre Ritter ohne Furcht und Tadel, der immer gerade Wege wandelt und Intrigen verschmäht“.111 Mallinckrodts Tod im Jahre 1874 bedeutete demgemäß in katholisch-adeliger Wahrnehmung eine markante Zäsur. Selbst Bischof Ketteler gestand gegenüber dem Kölner Erzbischof, wegen der „eingetroffenen Nachricht über den Tod unseres unvergleichlichen Mallinckrodt so erschüttert“ zu sein, dass er nicht wisse, „ob [er] einen vernünftigen Brief zu stande bringen kann“.112 Aus Sicht etlicher Adeliger war mit Mallinckrodt ein „unerreichbares Vorbild“, ja sogar „die Seele der Zentrumsfraktion“ aus dem Leben geschieden.113

Abbildung 1 und 2: Hermann von Mallinckrodt; Ludwig Windthorst (links).

109 Felix Loë an seine Frau, 19. Januar 1874, in: LVRB Archiv Wissen, NL Felix Loë 232/3. 110 Georg von Hertling, Erinnerungen aus meinem Leben, Bd. 1, München 1919/20, S. 262. 111 Waldburg-Zeil an seine Frau, 23. Januar 1874, in: NZA, 723; Soden an seine Frau, 6. Februar 1874, in: BayHstaM FA Soden-Fraunhofen 733. 112 Bischof Ketteler an Erzbischof Melchers, 27. Mai 1874, in: Historisches Archiv des Erzbistums Köln GV, 2.13, 1 (1). 113 Franz Ballestrem an seine Frau, 29. Mai 1874, zit. nach: Ballestrem, Graf Franz von Ballestrem (wie Anm. 26), S. 120; Felix Loë an Frau Mallinckrodt, 27. Mai 1874, zit. nach: Conrad Mertens, Die Todtenklage um Hermann von Mallinckrodt, Paderborn 1880, S. 27.

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Auf der anderen Seite befand sich Ludwig Windthorst. Er war nur etwa 1,50 Meter groß, untersetzt, hatte nur wenig Haare und trug eine dicke Brille, die jedoch seine eklatante Sehschwäche kaum lindern konnte. Mit seinem gnomenhaften Äußeren konterkarierte er alle Vorstellungen vom holistischen Menschen. Für seine Eigenschaften wurde er von Adeligen geachtet, aber ebenso gefürchtet. Obgleich lediglich einfaches Mitglied des Fraktionsvorstands, firmierte Windthorst seit dem Tod Mallinckrodts als „Führer“ beziehungsweise „Hauptführer“ der Fraktion,114 als derjenige, der „mit der lorbeerreichen Standarte [...] hoch oben auf der Warte“ stand115. Titulierungen wie „Windthörstchen“, „Der Kleine“, „le petit“ oder das noch geläufigere „kleine Exzellenz“ wurden selten spöttisch verwendet. Auch Windthorsts Rhetorik wurde wertgeschätzt. Er wirkte mit seiner weniger von Ernst und Geradlinigkeit als von Schlagfertigkeit, Witz und dialogischen Elementen geprägten Rhetorik, die er im Regelfall nicht von der Rednerbühne, sondern von seinem Platz aus entfaltete, als durchaus geborener Streiter der guten Sache. Seine Fähigkeit, selbst in erregtesten Momenten die Ruhe zu wahren und als Gegenspieler des geifernden Reichskanzlers „bei ruhiger Überlegung den besten Eindruck“ zu machen, erschien überaus anerkennenswert.116 Selbst wenn er völlig unvorbereitet das Wort ergreifen musste, nachdem er mehr „geträumt als aufgepasst“ hatte, sprach er „brillant“.117 Auch jenseits des Plenarsaals gereichten Windthorsts „Streitbarkeit und Führung“ zu einiger Wertschätzung.118 In puncto politischer Intelligenz, Kampfesmut und Führungsstärke glaubten katholische Adelige von Windthorst „nur lernen“ zu können.119 „Der politische Kampf“ schien „sein Lebenselement“ zu sein; „zähe und ausdauernd, schlagfertig und erfinderisch, [gebe] es für ihn keine noch so verwickelte Lage, aus der er nicht einen glücklichen Ausgang zu finden, kein noch so unbedeutendes Vorkommnis, das er nicht vorteilhaft zu verwerten gewusst hätte“.120 Jedoch standen die katholischen Adeligen diesen Eigenschaften auch mit innerem Abstand gegenüber. Befremden erzeugte vor allem der Umstand, dass Windthorst es auch „faustdick hinter den Ohren“ hatte.121 Er stand wie kein Zweiter für politische Taktiererei, „diplomatische Kreuz- und Querzüge“122, mangelnde Wertegebundenheit und fehlende Konsequenz. Einem rheinischen Adeligen schien es, „als ob er Einzelfragen gegenüber, auch solchen, die [...] prinzipielle Wichtigkeit besaßen, nur immer 114 Notiz Ballestrem, 1890, in: Diözesanarchiv Breslau NL Porsch III 15 9; TG Soden, 5. Februar 1874, in: BayHstaM FA Soden-Fraunhofen 361. 115 Festlied [1882], in: BayHstaM, FA Aretin Carl 49/33. 116 Waldburg-Zeil an seine Frau, 5. Dezember 1874, in: NZA, 723. 117 Waldburg-Zeil an seine Frau, 23. April 1877, in: NZA, 723. 118 TG Gerlach 1875–1877, 17. Januar 1877, in: GAE AO4. 119 Soden an seine Frau, 24. Februar 1874, in: BayHstaM FA Soden-Fraunhofen 734. 120 Hertling, Erinnerungen (wie Anm. 110), 1919, S. 307. 121 Soden an seine Frau, 16. Februar 1874, in: BayHstaM FA Soden-Fraunhofen 733. 122 Niedersächsische Zeitung und Wahlblatt, [1882], zit. nach: Gräflich Bernstorffsches Archiv, Gartow, 25/19.



„Ich habe in Seinem Schlafzimmer oft Seine Hände geküsst“ 

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ad hoc Stellung nahm“123. In den ersten Jahren der Zentrumsfraktion kam dem geradlinigen Streiter Mallinckrodt und dem in Winkelzügen operierenden Windthorst eine durchaus ergänzende Bedeutung zu: Mallinckrodt „geht ganz direct auf den Gegner los“, er war also „der Matador, der den Stier fällt“, Windthorst hingegen „der Picador, der ihn verwundet“.124 Der Homo politicus Windthorst verabsolutierte die Vorstellung von Politik als Kampf, kam damit adeligen Begehrlichkeiten im Kulturkampf entgegen, verstörte aber andererseits in seinem fortwährenden Wandeln an Anstandsgrenzen: Adelige verstanden nicht, dass ihm ausgerechnet bei einem Toast auf wiederzugewinnende Mandate die Tränen in die Augen stiegen.125 Das Entsetzen war groß, wenn er eine taktische Rede im Reichstag verlangte und sittlich-moralische Einwände als „dummes Zeug“ desavouierte („Sie sollen hier kein Kolleg lesen, sondern eine politische Rede halten“).126 Der adelige Mann war entsetzt, freilich durchaus angezogen: Es erschütterte, wenn Windthorst „viel zu viel Taubeneinfalt“ und „nicht genug Schlangenklugheit“ in der Fraktion beklagte, aber zugleich beeindruckte es auch.127 Windthorst irritierte und doch wurde er ehrfürchtig zitiert: „Wir leben unter Räubern und Feinden und danach müssen wir handeln“.128 Windthorst erschien als eine Art dunkler Ritter, dessen „Lebenselement“ der politische Kampf war,129 der nicht geliebt, aber gebraucht und hoch geachtet wurde. Allerdings nahmen die negativen Wahrnehmungsmuster seit den 1880er Jahren immer mehr zu. Der Kulturkampf flaute ab und der Umgang mit dem Machtmenschen Windthorst erschien aus katholischadeliger Perspektive immer schwieriger. „Herrschsucht“ und „Intrige“130 avancierten zu Windthorstschen Beinahmen. Der Fraktionsvorsitzende konnte nicht länger verhehlen, „daß W. durch seine Neigung, alles allein zu leiten, Fehler begangen hat“.131 Immer wieder wurde herausgestellt: Windthorst könne „sehr unmanierlich“, „sehr ungezogen und auch ungerecht“ wirken.132 Und mancher Adeliger „erwog angesichts der „Eitelkeit und Selbstsucht des Dr. Windthorst“ gar einen Rückzug aus dem Parlament.133 Der Adelsanteil sank denn auch in der Zentrumspartei (1890 betrug er nur noch knapp 30 %). Sicher spielten für den adeligen Rückzug aus dem Reichstag, der sich nach 1890 verstärkte und alle Parteien betraf, verschiedene Gründe eine Rolle,134 123 Hertling an Ernst Lieber, 26. März 1891, in: Pfälzische Landesbibliothek, Speyer, NL Lieber H 142. 124 Waldburg-Zeil an seine Frau, 13. März 1874, in: NZA, 723. 125 Waldburg-Zeil an seine Frau, 13. März 1874, in: NZA, 723. 126 Hertling, Erinnerungen (wie Anm. 110), 1919, S. 358. 127 Waldburg-Zeil an seine Frau, 11. März 1874, in: NZA, 723. 128 TG Gerlach 1870–1875, 14. Oktober 1873, in: GAE AO3. 129 Hertling, Erinnerungen (wie Anm. 110), 1919, S. 307. 130 Georg Arbogast Freiherr von und zu Franckenstein an seine Frau, 14. Mai 1889, zit. nach: Aretin, Franckenstein (wie Anm. 59), S. 276. 131 Franckenstein an Christoph Moufang, 25. Dezember 1880, in: Dom- und Diözesanarchiv Mainz, Domkapitel 5.3, 6 i. 132 TG Ballestrem (wie Anm. 18), 7. Juni 1890. 133 TG Ballestrem (wie Anm. 18), 6. März 1887. 134 Dazu bald ausführlich: Raasch, Der Adel auf dem Feld der Politik (wie Anm. 10).

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aber die Destruktion des katholisch-adeligen Männlichkeitsmodells ist nicht zu verkennen. Der leidenschaftlich-konservative Holist war nicht mehr gefragt, stattdessen Eigenschaften wie Ironie, Taktik und Koalitionsfähigkeit. Je näher das Ende der Bismarckära rückte, desto klarer wurde vielen Adeligen, dass es keinen Lebensstand gab, „der in jeder Beziehung die Gefahr der Corruption näher führt als das parlamentarische Leben“.135 Der Politik sprach man zu, „die besten loyalsten Charaktere“ zu verderben und „eine Zerstörungs-Machinerie [zu sein], die trefflich arbeitet“136: „Was wird da nicht alles Macht!?“.137 Hegemoniale Männlichkeit sollte offenbar ihre feudale Prägung verlieren und diese Entfeudalisierung der politischen Kultur korrelierte eben sinnfälligerweise (siehe Funck) mit dem Aufstieg eines männlichen Härteideals, „das als Abwesenheit oder Unterdrückung von Gefühlen verstanden wurde und das nicht nur als genuin männlich, sondern bald auch als spezifisch deutsch galt“138.

VII Schlussbetrachtung Auf der Metaebene kann diese Studie zu katholischen Adeligen des 19. Jahrhunderts für bestimmte Gesichtspunkte sensibilisieren: Sie fundiert die Betrachtungen Marcus Funcks in Bezug auf die Holistik adeliger Männlichkeit und deren Dekonstruktion am Ende des Jahrhunderts, wobei sie darüber hinaus die Kohärenz letzterer mit einem Wandel des politischen Betriebs aufzeigt. Noch etwas stärker als bei Funck sollte der (symbolische) Herrschaftsaspekt betont werden. Auch wenn aus sozioökonomischer Perspektive zu Recht auf die unterschiedliche Behandlung von erst- und nachgeborenen Männern verwiesen wird, so darf doch nicht übersehen werden, dass auch die Erfahrungswelten zweit genannter durch Kindheit und Jugend stark von einer Kultur der Herrschaft bestimmt sind. Die Öffnung für das bürgerliche Liebesideal mutet ebenso frappierend an wie die Passion, mit der durchaus in Kontrast zum Bürgertum Vaterschaft, Glauben und in gewissem Sinne auch Politik gelebt werden. Ein „Medianwert der Gefühle“139 ist in der katholisch-adeligen Konturierung von Männlichkeit in jedem Fall kaum erkennbar.

135 Konrad Graf Preysing-Lichtenegg-Moos an seine Frau, 15. Februar 1885, in: Staatsarchiv Landshut (StaL), Schlossarchiv Moos (SaM), 776. 136 Waldburg-Zeil an seine Frau, 6. Dezember 1881, in: NZA, 723. 137 Konrad Preysing an seine Frau, 8. Januar 1885, in: StaL SaM, 776. 138 Manuel Borutta/Nina Verheyen, Vulkanier und Choleriker? Männlichkeit und Emotion in der deutschen Geschichte 1800–2000, in: Dies. (Hrsg.), Die Präsenz der Gefühle (wie Anm. 1), S. 11–40, hier S. 20. 139 Schmale, Geschichte der Männlichkeit (wie Anm. 1), S. 41.

Nadine Hüttinger

„Ein glänzendes Elend“? Adelige Hofdamen im 19. Jahrhundert

I Einführung Weibliche Lebensperspektiven blieben in der elitenfixierten Adelsforschung zur Moderne bisher unterbelichtet. Eine umfassende Monografie, wie sie Beatrix Bastl für die frühe Neuzeit geliefert hat, existiert nicht.1 Das für den Adel bis ins 20. Jahrhundert zentrale Soziotop des Hofes wurde aus Genderperspektive nur rudimentär ins Blickfeld genommen, die gewählten Zugriffe können die „Lebenswelt des Alltags“ kaum erhellen. Einschlägige Handbücher und Überblicksdarstellungen zur modernen Adelsgeschichte behandeln die unverheirateten Hofdamen, obwohl sie als einzige Frauen innerhalb der Hofgesellschaft „eine eigenständige Position“ besaßen,2 auf knapp einer Seite3 oder gar nicht4. In Eckart Conzes Adelslexikon gibt es das Stichwort „Hofdame“ nicht (dafür „Hofmann“), ihre Rolle wird in wenigen Zeilen unter dem Rubrum „Frauen“ skizziert5. Für die Hofhistoriografie sind die Hofdamen im Regelfall nicht mehr als „Hallelujah-Tanten“.6 Relevante Arbeiten zur adeligen Frauengeschichte setzen andere Schwerpunkte. Monika Kubrova etwa verabsolutiert in ihrer Dissertation die kulturalistische Perspektive und verengt ihr Erkenntnisinteresse auf die Analyse weiblicher Autobiografien „hinsichtlich der individuellen Bedeutungen von Familie als Wert und sozialem Raum“7. Hofgängerinnen spielen bei ihr zudem nur am Rande eine Rolle, Hofdamen gar keine8. Am ausführlichsten mit den Hofdamen des 19. Jahrhunderts hat sich Christa Diemel auseinandergesetzt.9 Sie 1 Beatrix Bastl, Tugend, Liebe, Ehre. Die adelige Frau in der Frühen Neuzeit, Wien 2000. 2 Monika Wienfort, Der Adel in der Moderne, Göttingen 2006, S. 137. 3 Wienfort, Der Adel in der Moderne (wie Anm. 2), S. 137f. 4 Heinz Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, 2., um einen Nachtrag erweiterte Auflage, München 2012. 5 Monika Wienfort, Frauen, in: Eckart Conze (Hrsg.), Kleines Lexikon des Adels. Titel, Throne, Traditionen, S. 91–95, hier S. 92f. 6 John C. G. Röhl, Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, 4., verbesserte und erweiterte Auflage, München 1995, S. 90. 7 Monika Kubrova, Vom guten Leben. Adelige Frauen im 19. Jahrhundert, Berlin 2011, S. 9. 8 Kubrova, Vom guten Leben (wie Anm. 7) S. 196ff. Hofdamen verbrachten den Großteil ihres Lebens bei Hof, Hofgängerinnen besaßen den exklusiven Zugang zum Hof, wohnten aber dort nicht. 9 Christa Diemel, Adelige Frauen im bürgerlichen Jahrhundert. Hofdamen, Stiftsdamen, Salondamen 1800–1870, Frankfurt am Main 1998, S. 69ff. Vgl. auch Christa Diemel, Hoher Rang und »glänzendes Elend«. Hofdamen im 19. Jahrhundert, in: Otto Borst und Susanne Asche (Hrsg.), Frauen bei Hof, Tübingen 1998, S. 184–198.

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beschreibt ihre Stellung im Kontext der Hofgesellschaft und akzentuiert vor allem das „glänzende Elend“, das die „höfische Rationalität“ (Norbert Elias) ihrem Beruf auferlegte. Dieser kleine Beitrag knüpft ausdrücklich an Diemel an, will sich aber aus Perspektive einer kulturalistisch erweiterten Sozialgeschichte vor allem an ihrer These reiben, dass „höfische Rationalität“ „auch im 19. Jahrhundert das Leben der meisten adeligen Frauen“ dominierte. Zur Erhellung höfischer „Lebenswelt des Alltags“ sollen im Folgenden daher drei langjährige Hofdamen auf Basis ihrer Erinnerungen, Tagebücher und Briefe ins Blickfeld genommen werden: 1. Eveline Baronin von Massenbach. Als Tochter des Freiherrn Herrmann von Massenbach wurde sie im Jahr 1830 geboren. Ihr Adelsgeschlecht ist dem schwäbischen Uradel zuzuschreiben. Das Stammhaus befindet sich im Kraichgau.10 Eveline Massenbach wuchs bereits in Nähe zum Hofgeschehen auf. Ihr Vater war Flügeladjutant König Wilhelms I. und die Familie wohnte in einem Nebengebäude des Stuttgarter Schlosses. Als Hofdame der Kronprinzessin Olga (Nikolajewna Romanowa), welche seit 1864 Königin von Württemberg war, führte sie in den Jahren 1851 bis 1866 regelmäßig Tagebuch. Im Familienarchiv des Hauses Württemberg aufbewahrt, kamen die Aufzeichnungen im Jahr 1985 wieder ans Licht. Robert Uhland gab diese zwei Jahre später als editiertes Tagebuch heraus.11 2. Marie Freiin von Redwitz (1856–1933), aus deren Tagebucheinträgen wertvolles Quellenmaterial zum Münchner Hofgeschehen destilliert werden kann. Das Adelsgeschlecht von Redwitz gehört dem fränkischen Uradel an und lässt sich bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts zurückverfolgen. Ihr Vater Oskar Maximilian Heinrich Freiherr von Redwitz war königlich bayerischer Kämmerer, Professor an der Universität Wien und Dichter.12 Über Maries Erziehung geht aus dem Tagebuch nichts hervor. Redwitz Tagebucheinträge sind von ihr selbst unter dem Titel ,,Hofchronik 1888–1921‘‘ herausgegeben worden.13 Marie Redwitz war zunächst bei Prinzessin Amalie in Bayern angestellt. Nach deren Heirat wurde sie 1892 von ihrem Dienst freigesprochen. Bereits im gleichen Jahr erhielt sie das Angebot, das Hofdamenamt bei der Prinzessin Elisabeth von Bayern zu übernehmen. Nach deren Verheiratung setzte sich die Hofdame zur Ruhe. 3. Mathilde Gräfin von Keller (1853–1945) entstammte ebenfalls einem schwäbischen Uradelsgeschlecht, welches sich bis zum 13. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Gräfin Keller ging aus der zweiten Ehe von Gustav Ludwig Emil von Keller, einem königlich preußischen Kammerherren, hervor.14 Ihre Briefe an nächste 10 Genealogisches Handbuch des Adels (GHdA), Freiherrliche Häuser Bd. XXII, Bd. 127 der Gesamtreihe, Limburg an der Lahn 2002, S. 262. 11 Rudolf Uhland, Das Tagebuch der Baronin Eveline von Massenbach. Hofdame der Königin Olga von Württemberg, Stuttgart 1987, S. 13. 12 GHdA, Freiherrliche Häuser Bd. XXI, Bd. 120 der Gesamtreihe, 1999, S. 334. 13 Marie Freiin von Redwitz, Hofchronik 1888–1921, München 1924. 14 GHdA, Gräfliche Häuser Bd. X, Bd. 77 der Gesamtreihe, 1981, S. 222.



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Verwandte und ihre Tagebuchnotizen beziehen sich auf Erlebnisse in ihrer jahrzehntelangen Tätigkeit am preußischen Hof unter Kaiserin Auguste Victoria. Im Ruhestand überarbeitete Gräfin Keller diese Erinnerungsstücke und veröffentlichte sie mit dem Band ,,Vierzig Jahre im Dienst der Kaiserin‘‘.15 Es handelt sich dabei um den Zeitraum von 1881 bis 1921. Beim Umgang mit der Erinnerungsliteratur ist daher zu beachten, dass Gräfin Keller nachträglich Passagen ergänzt oder gestrichen hat. Zudem hatte sie durch den großen zeitlichen Abstand möglicherweise später andere Auffassungen, Erinnerungen oder Meinungen über Ereignisse. Häufig finden sich vorausschauende Verweise, welche Entwicklungen oder Schicksalsschläge andeuten oder gar vorwegnehmen.

II Alltagsstrukturen Wesentliches Kennzeichen des Hofdamendienstes war sein striktes Regularium. Bereits vor ihrem Dienstantritt wurden die Hofdamen darauf hingewiesen, dass sie ihr künftiges Leben vollständig dem Hof widmen müssten. Ferien waren nicht vorgesehen. Der Tag begann jeweils mit dem Dienstantritt zum Frühstück um „6 ½ Uhr oder gar noch früher“.16 Obwohl der Hofdame Zeit zur freien Verfügung gewährt wurde, hatte sie dennoch ständig verfügbar zu sein. Für Eveline Massenbach galt sogar an Heiligabend ein straffer Zeitplan: ,,5–6 Uhr bei Spitzemberg, 6–7 Uhr bei Luise Benckendorff, 7–10 Uhr bei Ihren Majestäten.‘‘17 Zudem mussten die Hofdamen an zahlreichen Reisen teilnehmen, welche Marie Redwitz diverse Sommeraufenthalte in Schloss Tegernsee oder Possenhofen verschafften. Eveline Massenbach führte es etwa in die Schweiz oder nach England. Wegen Heimatfahrten von Königin Olga verbrachte die Baronin mehrere Aufenthalte in St. Petersburg und Moskau. Dabei waren auch während der Reisen die Diensttage der Hofdame rigoros reguliert: Die Tage vergehen hier gleichförmig […]. Frühstück ab ½ 8Uhr – an den Tagen wo ich Dienst habe großer Spaziergang mit der Kronprinzessin – dann habe ich frei bis zum Mittagessen um 2 Uhr, sofern mich die Kaiserin nicht rufen läßt, um ihr vorzulesen. Wir haben Marschalltafel, die sich bis 4 Uhr hinzieht, worauf man oft noch einen längeren Spaziergang macht. […] Abends trifft man sich bei Ihrer Majestät um ½ 9 Uhr in ihren beiden Salons, wo es für die Alten Lektüre und Ruhe gibt, in dem anderen Unterhaltung für die jungen Alten.18

Die täglichen Obliegenheiten der Hofdame waren mannigfaltig: Eine wesentliche Aufgabe lag in der Begleitung ihrer Herrinnen. Sie musste mit ihnen spazieren gehen 15 Mathilde Gräfin von Keller, Vierzig Jahre im Dienst der Kaiserin. Ein Kulturbild aus den Jahren 1881–1921, Leipzig 1935. 16 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 34. 17 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 211. 18 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 90.

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und ihnen vorlesen. Mathilde Keller leistete der Prinzessin Gesellschaft, wenn sie Klavier oder Krocket spielte. Mitunter standen nachmittägliche Bootsfahrten oder abendliche Handarbeiten auf dem Programm.19 Manchmal wurde ,,am frühen Morgen […] kutschiert, dann gesegelt, gerudert, geschwommen, Tennis gespielt […] und gegen Abend geritten.‘‘20 Herrschaft und Anhang hatten beim Schlittschuhfahren und beim Picknick begleitet zu werden.21 Bei Bedarf musste Rad gefahren,22 gekegelt,23 musiziert24 oder Theater gespielt werden. Marie Redwitz hatte zwecks Zerstreuung der Herzogin von Bayern mitunter „alle Erfindungsgabe und Geschicklichkeit“ anzuwenden und gemeinsam mit anderen Dienern „Szenen aus dem neuen Ballett ‚Die Puppenfee‘‘ aufzuführen, wobei „das Resultat […] mehr komisch als sinnreich und ohne jeden Zusammenhang‘ war.“25 Neben ihrer Funktion als Gesellschafterin fungierte die Hofdame als Sekretärin. Zu ihren täglichen Aufgaben zählte das Verfassen von Briefen oder das Telegraphieren.26 Eveline Massenbach war darüber hinaus auch als Erzieherin tätig. Ihr oblag die Beaufsichtigung der Nichte der Königin, Wera Konstantinowna Romanowa, die immerhin als schwererziehbar galt und 1871 auch aus Mitleid vom württembergischen König adoptiert wurde.27 Davon unbeschadet standen für die Hofdamen nahezu täglich Diners, Bälle oder Soireen auf dem Tagesplan. Ihre zentrale Aufgabe war mithin die Repräsentation: ,,Sie vergrößern und verherrlichen den Hof durch ihre Erscheinung bei allen Feierlichkeiten‘‘28. Es ging dabei indes nicht nur um ,,Luxus, gute[n] Geschmack, Fröhlichkeit, [und] viele[n] schöne[n] Toiletten‘‘29. Prunkvolle Bälle und strenge Etikette kennzeichneten schließlich das höfische Leben trotz gravierender regionaler Unterschiede30 bis zum Ende der Monarchie. Das öffentliche Hofleben galt unverändert als wesentlicher gesellschaftliche Hierarchie konstituierende und reproduzierende Ort, das ihm zugrunde liegende 19 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 142. 20 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 187. 21 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 34f und 148. 22 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 188. 23 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 135. 24 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 125. 25 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 97. 26 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 188. 27 Sabine Thomsen, Die württembergischen Königinnen. Charlotte Mathilde, Katharina, Pauline, Olga, Charlotte – Ihr Leben und Wirken, Tübingen 2007, S. 212f. 28 Friedrich Carl von Moser, Teutsches Hof-Recht, Bd. 2, Frankfurt am Main 1755, S. 164f. 29 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 122. 30 Zu den Hofgesellschaften und ihren Unterschieden: Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Darmstadt 1979; Karl Möckl (Hrsg.), Hof und Hofgesellschaft in den deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, Boppard am Rhein 1990; Karl Ferdinand Werner (Hrsg.), Hof, Kultur und Politik im 19. Jahrhundert, Bonn 1985; Gisela Herdt, Der württembergische Hof im 19. Jahrhundert. Studien über das Verhältnis zwischen Königtum und Adel in der absoluten und konstitutionellen Monarchie, Göttingen 1970; Max Brunner, Die Hofgesellschaft. Die führende Gesellschaftsschicht Bayerns während der Regierungszeit König Maximilians II., München 1987; Röhl, Kaiser, Hof und Staat (wie Anm. 6), S. 78ff.



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Zeremoniell lieferte seine symbolischen Organisationsformen und fungierte sodann als Garant und Motor sozialer Konsolidierung. Es trat bei verschiedenen Anlässen, wie Audienzen, Festtafeln, Staatsbesuchen oder Hochzeiten in Kraft. Der jeweilige Ablauf war entsprechend sorgsam choreografiert: Die räumliche Anordnung der Anwesenden wurde ebenso vorgegeben wie Kleiderordnung und Handlungsabläufe. In München etwa erfolgte zu Jahresbeginn sowohl beim Cercle als auch beim Zuhören des Neujahrskonzerts das Stehen, beziehungsweise Sitzen, in streng hierarchischer Reihung.31 Beim Empfang mussten „Standesherrinnen […] bald nach ihrer Meldung einzeln gebeten werden, Palastdamen32 wieder nur mit Kolleginnen. […] Das Rechtsund Linkssitzen spielte eine wichtige Rolle, denn niemand durfte gekränkt sein, und so mußte man stets vier bis fünf Damen zusammenfinden, die sich im Rang abstuften.‘‘33 Bei Audienzen der bayerischen Königin avancierte der Handkuss zum Abbild von gesellschaftlicher Hierarchie: Wenn sie nun an eine von den adeligen Damen herantrat, um mit ihr zu sprechen, so neigte diese sich tiefer über die Hand der Königin und küßte sie. Und ich sah, daß sie ihre Hand bei den beiden Herzoginnen Leuchtenberg und Max höher und bei den Gräfinnen und Baroninnen tiefer und immer tiefer hielt, in abfallender Linie mit deren Rang, so daß diese gezwungen waren, sich immer weiter und weiter niederzubeugen.34

Beim Defilier-Cour am Berliner Hof mussten „zuerst alle Damen und dann alle Herren, einzeln dem Rang nach, vor den unter dem Throne befindlichen Allerhöchsten resp. Höchsten Herrschaften defilieren und denselben durch Verneigung ihre Ehrfurcht ausdrücken“.35 Wer hoffähig war und die Feierlichkeiten der Berliner „Saison“ besuchen wollte, musste sich schriftlich zu der ersten Feier, der „SprechCour“, anmelden. Bei einer solchen Cour wurde „die eingeladene Gesellschaft, nach Rang-Kategorien geschieden, in verschiedenen Zimmern aufgestellt […], in welchen Ihre Königlichen Majestäten einzutreten und die Versammelten zu begrüßen, auch viele derselben anzusprechen geruhen“.36 Der Hofrang besaß essentielle Bedeutung: Baronin Massenbach etwa wurde nach 13 Jahren im Dienst am Stuttgarter Hof zur Exzellenz ernannt. Sie rückte somit auf die Position 36 in der Hofrangordnung vor.37 Dies entsprach der zweiten Rangklasse. König Karl nahm in diesem Zusammenhang 31 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 106f. 32 Palastdamen hatten im Unterschied zu Hofdamen für gewöhnlich nur die Aufgabe bei Festivitäten im Gefolge der Königin aufzutreten. Sie waren oft verheiratet. 33 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 207. 34 Der Frau Auguste Escherich geb. Paur Lebenserinnerungen, zit. nach Diemel, Adelige Frauen (wie Anm. 9), S. 91. 35 Ceremonial-Buch für den Königlich-Preußischen Hof, VI, S. 31, zit. nach Röhl, Kaiser, Hof und Staat (wie Anm. 6), S. 101. 36 Ceremonial-Buch für den Königlich-Preußischen Hof, VI, S. 37, zit. nach Röhl, Kaiser, Hof und Staat (wie Anm. 6), S. 102. 37 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 196.

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1864 manche Änderung im Reglement zur Rangordnung vor, wobei die Hoffähigkeit – zumindest auf dem Papier – nur mehr für die ersten vier Klassen erhalten blieb. Die Hofdamen der Königinwitwe teilte man der dritten Rangklasse zu, die der Prinzessinnen der vierten.38 Auch in München wurden die Hofdamen 1864 in die zweite Rangklasse eingeordnet, die Oberhofmeisterin39 der Königin sollte den höchsten Beamten des Landes gleichgestellt sein.40 In Preußen gab es in den Jahren 1861 und 1871 Änderungen in der Regelung zur Rangordnung von 1713. Den Hofdamen der Königin, welche nach dem früheren Reglement auf Position 5 standen, wurde gemeinsam mit der Oberhofmeisterin der Kronprinzessin Platz 23 zugesprochen. Die Hofdamen der Kronprinzessin und die Oberhofmeisterinnen der Prinzessinnen rangierten auf Platz 323, vor den Frauen der Obersten. Die anderen Hofdamen der Prinzessinnen folgten auf Position 37, nach den Gattinnen der Kammerherren. Das Hofamt ermöglichte Hofdamen folglich eine soziale Stellung, die sich allein aufgrund der adeligen Herkunft oder Heirat nie geboten hätte.41 Am Münchner Hof herrschte das strenge spanische Hofzeremoniell, wobei die Bestimmungen nicht immer buchstabengetreu ausgelegt wurden (Maximilian II. beschränkte zum Beispiel die Zahl der Empfänge).42 Bei offiziellen Besuchen waren die Hofdamen in jedem Fall dazu angehalten, zügig in die entsprechende Toilette zu wechseln.43 Bei Veranstaltungen zeichnete der Oberstzeremonienmeister für die Einhaltung der Etikette verantwortlich. Nicht selten musste er die anwesenden Damen zurechtzuweisen. Er tippte den ,,Damen mit seinem Stabe auf die Schultern […], wenn sie nicht am richtigen Platze standen‘‘. Sogar das Besetzen vorhandener Sofas war reglementiert. So achtete der Oberstzeremonienmeister bei Hofbällen penibel darauf, ein Sofa frei zu halten, wenn es für eine Hoheit reserviert war.44 Wie stark die Ausübung von Zeremoniell und Etikette tatsächlich vom jeweiligen Herrscher abhing, unterstreicht die Aussage von Marie Redwitz über das Hofkonzert am Neujahrstag. ,,Dieses offiziellste aller Hoffeste war während der Regierungszeit Ludwigs II. ganz in Vergessenheit geraten, nun hatte der Regent diese Hof- oder Neujahrscour aus ihrem langen Schlummer erweckt.‘‘45 Am Stuttgarter Hof erfuhr das Zeremoniell unter Wilhelm I. eine deutliche Lockerung. Eveline Massenbach war an den wenig steifen 38 Dazu: Paul Sauer, Regent mit mildem Zepter. König Karl von Württemberg, Stuttgart 1999, S. 125ff; zur Situation unter Wilhelm I.: Herdt, Der württembergische Hof im 19. Jahrhundert (wie Anm. 30), S. 241ff. 39 Sie zeichnete für die Überwachung der Etikette verantwortlich, bei Empfängen und Audienzen stellte sie die Damen vor. Vor allem aber überblickte sie den Tagesplan ihrer Herrin und regelte die Dienstpläne der anderen Hofdamen. Außerdem war sie wichtige Beraterin der Herrschaft. 40 Diemel, Adelige Frauen (wie Anm. 9), S. 76f. 41 Diemel, Adelige Frauen (wie Anm. 9), S. 73f. 42 Diemel, Adelige Frauen (wie Anm. 9), S. 92. 43 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 59. 44 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 90. 45 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 105.



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Umgang derart gewöhnt, dass ihr eine strenge Einhaltung befremdlich erschien. Der Besuch bei Caroline von Berry46 im Juni 1859 blieb ihr daher in besonderer Erinnerung: ,,Die alten Hofdamen verneigten sich wie Strohhalme. Immer fuhren sie wieder von den Stühlen auf, wenn die Bürschlein gravitätisch durchs Zimmer schritten. Nach und nach bekamen wir alle solche Lachkrämpfe, daß wir einander auswichen, um nicht loszuplatzen.‘‘47 Die württembergische Hofdame beschrieb überdies Soireen bei einem Kuraufenthalt in Wildbad. Es herrschte dabei ein überaus gelockerter Umgang, welcher dazu führte, dass mangels Tanzpartner auch Frauen miteinander tanzten.48 Eine vergangenheitsorientierte Hofhaltung war am preußischen Hof anzutreffen. Kaiser Wilhelm II. legte Wert auf die Wiedereinführung von Menuetten oder Quadrillen aus der Rokokozeit.49 Mitunter hatten Schlossbesucher beim Einzug des Hofes den Eindruck: „der Kaiser bringt immer so ein Stück Mittelalter hinter sich her […]; es ist, als ob die Toten auferstehen mit Zopf und Puder.“50 Bei der Hochzeit des Kronprinzen Wilhelm im Jahr 1905 war der Ablauf nach der kirchlichen Trauung streng traditionell. Nach der sogenannten Zeremonientafel schloss sich nach altpreußischer Tradition ein Fackeltanz an. Gräfin Keller bemerkte, der Tanz habe eine besondere Repräsentation des höfischen Prunkes nach außen getragen. Gerade die Erinnerungen an die Vorgaben durch das strenge Hofzeremoniell bei der eigenen Hochzeit bewegten freilich die Kaiserin zu einer Abänderung. Dadurch fanden die mehrere Tage andauernden Feste nicht statt. Dem neuvermählten Paar wurde so die Zweisamkeit ermöglicht.51 Einer Öffnung des strikten Hofzeremoniells (1909 wurde zum Beispiel auf die schwere Courschleppe beim Ordensfest verzichtet) stand Mathilde Keller auf jeden Fall skeptisch gegenüber. 52 Und sie blickt auch mit Befremden auf die englische Hofhaltung. Bei einer Reise nach England im November 1907 echauffierte sich Keller über den Ablauf des Frühstücks: ,,Jeder kommt und geht wie es ihm paßt, ganz unzeremoniell.‘‘53 Ein anderes nicht zu vernachlässigendes repräsentatives Aufgabenfeld der Hofdame lag im sozialen Bereich: ,,Die Wohltätigkeit kam in unserem sozialen Leben nicht zu kurz.“54 Kaiserin Auguste Victoria beispielsweise verrichtete zahllose karitative Tätigkeiten. Königin Olga war Gründerin und Vorsteherin verschiedener sozialer

46 Caroline von Berry war die Tochter von Franz I. von Neapel-Sizilien. Sie heiratete Charles Ferdinand de Bourbon, duc de Berry. 47 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 135. 48 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 107. 49 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 224. 50 Helmut von Moltke, Erinnerungen, S. 316, zit. nach Röhl, Kaiser, Hof und Staat (wie Anm. 6), S. 103. 51 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 245. 52 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 265. 53 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 253. 54 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 50.

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Institute.55 Es lag nahe, die Hofdamen einzubinden. Diese mussten also Blindenanstalten, Siechenhäuser, Hospitäler und Waisenhäuser besuchen.56 Gräfin Keller beteiligte sich unter anderem an weihnachtlichen Nähabenden für arme Kinder.57 Baronin Massenbach führte in entsprechendem Kontext „Theaterstücke und lebende Bilder zugunsten von Einrichtungen“ auf.‘‘58 Überdies war sie Vorstandsmitglied beim „Frauenverein für christliche Altertumspflege in Stuttgart“.59 Es ist offenkundig, dass die Dienstaufgabe die Hofdamen nicht unberührt ließ. Mathilde Keller zum Beispiel reflektierte über die ,,erschütternde[n] Eindrücke beim Anblick dieser unglücklichen Menschen‘‘60. Bei einem Besuch einer Heimarbeiterinnenausstellung erkannte sie die zugrundeliegende große finanzielle Not und war erschüttert darüber, tatenlos zusehen zu müssen. Gleichzeitig empfand sie Respekt und größte Anerkennung gegenüber den Pflegern.61

III Alltagswahrnehmung Die „Last des Luxus“ ist zweifelsohne evident. Bezeichnenderweise blieb Gräfin Keller eine Kur mit der Kaiserin in Kissingen im Juli 1889 in bester Erinnerung. Denn es herrschte eine entspannte Atmosphäre mit gelockertem Umgangston, in der nur wenig ,,Hofluft‘‘ zu erkennen war.62 Der Hof erschien durchaus als Ort von Bedrängnis und Mühsal. Es war für die Hofdamen mit einigen Anstrengungen verbunden, wenn ausnahmslos jeder Tag der Woche mit Festen und Tanzveranstaltungen belegt war.63 Oft stöhnten die Frauen: ,,Wir waren kaum einen Abend zu Hause, Konzerte, Theater und Routs folgten sich ununterbrochen.‘‘64 Mitunter gereichte es zu einigem Unmut, wenn mehr Zeit für die Toilette und das Anlegen der Kleidung verwendet wurde als für den Ballbesuch selbst.65 Marie Redwitz schimpfte vor allem auf die Anstrengungen des Neujahrstags. Denn nachdem die Hofdame bereits den halben Tag mit vollendeter Frisur und Barbe umherlief, folgte am Abend die Hofcour. ,,Recht beliebt war die Hofcour niemals, denn sie galt mit Recht als ermüdend, und der einzelne kam nicht auf seine Kosten.‘‘66 Die Last des Schönheits- und Kleiderluxus erschien 55 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 6. 56 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 103f. 57 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 37. 58 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 50. 59 Diemel, Hoher Rang (wie Anm. 9), S. 191. 60 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 213. 61 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 247. 62 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 101. 63 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 77. 64 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 91. 65 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 52. 66 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 107.



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exorbitant: Stets hatte die Hofdame gut auszusehen und sich anmutig zu verhalten. Für jeden Auftritt der Hofgesellschaft war passende, zudem selbst zu zahlende Kleidung notwendig: ,,Seufzend hatten sich alle auf das beste ausstaffiert, und fünf große Toiletten harrten der Verwendung – das war eine harte Nuss für die Kasse!‘‘67 Die Wohnung der Hofdame im Schloss war nicht sehr groß. ,,[S]o konnte es sich leicht ereignen, daß sich die Gäste schon in ihrem Zimmer versammelt hatten und sie genötigt war, sich hinter dem Vorhang umzuziehen.‘‘68 Auch die Belastungen auf Reisen fielen gelegentlich enorm aus: ,,Dann ein Tag mit 18 Stunden Eisenbahnfahrt […] Die Strecke bis Wien war schrecklich ermüdend. Wir kamen erst um 1 Uhr nachts an und legten uns erst um 4 Uhr zu Bett‘‘69. Mitunter echauffiert sich Baronin Massenbach auch über den menschlichen Umgang bei höfischen Abenden, ihre Inhaltslosigkeit und Bigotterie attackierend: ,,Sie sind alle schwerhörig, […] sehr affektiert und haben gekünstelte Manieren, selbst wenn sie sich in die Ohren schreien.‘‘70 Alexander von Humboldt blieb ihr dabei besonders negativ im Gedächtnis. […] [T]aub und zahnlos machte mir sein abgeschmacktes eitles Gespräch keinen angenehmen Eindruck.‘‘71 Die physische Beanspruchung gehörte zu den größten Herausforderungen. Mathilde Keller konstatierte zu einem sonntäglichen Ordensfest: ,,Von 11 bis 4 Uhr in der schweren Courschleppe auszuhalten ist kein Vergnügen.‘‘72 Bei einem Hofkonzert nach dem Diner, ,,war [es] zuletzt ordentlich schwer, die Augen offen zu halten, es gelang mir nur durch festes Kneifen in meinen Arm.‘‘73 Vor allem die Cour war es, welche besondere physische Ausdauer forderte. Im Januar 1896 umfasste die Zahl an defilierenden Teilnehmern in Berlin 4.000. Als Hofdame bedeutete dies ein Stillstehen an den Seiten des Thrones von knapp drei Stunden.74 Auffällig ist aber, dass die Hofdame Mathilde Keller an zahllosen Stellen im Tagebuch die körperlichen Anstrengungen benennt, diese jedoch meist in Zusammenhang mit ihrer Herrin bringt. Bei einer im Januar 1892 stattfindenden Cour hob sie die Anteilnahme für die ,,arme‘‘ Kaiserin deutlich hervor.75 Ihr eigenes Empfinden stellte sie dabei in den Hintergrund. Ohne Frage war eine ständige Selbstdisziplin erforderlich, um die eigenen Gefühle unter Kontrolle zu halten76 – auch wenn die drei Hofdamen nicht das erleben mussten, was Baronin Hildegard von Spitzemberg widerfuhr: am Todestag ihres Sohnes Carl, dem

67 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 164. 68 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 122. 69 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 46. 70 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 56. 71 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 59. 72 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 129. 73 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 150. 74 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 175. 75 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 142. 76 Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft (wie Anm. 30), S. 158.

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22. Januar 1880, zur Teilnahme an der Cour im Hohenzollern-Schloss erscheinen zu müssen.77 Allerdings: Die Forschung argumentiert bei der Selbstwahrnehmung der Hofdamen zu materialistisch. Es wird darauf verwiesen, dass es für adelige Frauen insgesamt nur zwei Möglichkeiten gab, um selbstständig seinen Lebensunterhalt zu bestreiten: zum einen als Erzieherin, zum anderen als Hofdame.78 Als Vorteile der Beschäftigung werden ein festes Gehalt sowie vor allem gesellschaftliches Ansehen samt sich daraus ergebender Einflussmöglichkeiten exponiert.79 Manche Hofdame sah aber nicht nur die materielle Komponente. Ihr Beruf war ihnen Last, bereitete ihnen häufig aber auch Lust. Die abendlichen Unterhaltungen verschafften den drei Damen80 mitunter ebenso große Freude wie die Möglichkeit sich ausstaffieren, präsentieren und tanzen zu können. Oft rapportierten sie: ,,Es wurde ein sehr schönes Fest mit Luxus, gutem Geschmack, Fröhlichkeit, vielen schönen Toiletten‘‘81. Gelegentlich waren das Toilette machen und der damit verbundene Kostenaufwand weniger das Problem als eine fehlende Anerkennung der Mühen: Marie Redwitz ärgerte sich über die hohen Ausgaben vor allem deswegen, weil in den überfüllten Räumen die prächtigen Kleider und der viele Schmuck nicht zur Geltung kamen. Reisen war für die Hofdamen auch ein Privileg, sie genossen es und im Regelfall überwogen während dessen „die schönen Erlebnisse der Diners, Tänze oder Ausritte“.82 Über eine Fernreise nach Athen und Konstantinopel legte Gräfin Keller bezeichnenderweise ein eigenes Kapitel in ihrem Tagebuch an („Könnte ich Euch nur für eine Stunde herzaubern und Euch teilnehmen lassen an all der Herrlichkeit, die uns umgibt, und an dem Sommer! Blühende Oleander, Rosen und Veilchen zur jetzigen Jahreszeit im Freien, das erscheint einem doch wie ein Märchen‘‘).83 Die Hofdamen delektierten sich an der persönlichen Nähe zu den Mächtigen, wobei weniger Einflussmöglichkeiten als menschliche Begegnungen herausgestellt werden. Voller Stolz berichtet etwa Gräfin Keller in ihrem Tagebuch von Auguste Victorias Anteilnahme: Bei einem Sturz im Zuge der Weihnachtsvorbereitungen zog sich die Hofdame eine Platzwunde am Kopf zu. Kaiserin Auguste Victoria ließ es sich nicht nehmen, ihrer Hofdame selbst einen Kopfverband anzulegen, nachdem ihr der Kaiser zuvor persönlich das Blut abgewaschen hatte. Überdies besuchte die Monarchin in den folgenden Tagen die Kranke mehrmals täglich. Mathilde Keller zeigt sich überaus gerührt und dankbar

77 Rudolf Vierhaus, Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg geb. Freiin v. Varnbüler. Aufzeichnungen aus der Hofgesellschaft des Hohenzollernreiches, Göttingen 1976, S. 182. 78 Kubrova, Vom guten Leben (wie Anm. 7), S. 107. 79 Diemel, Adelige Frauen (wie Anm. 9), S. 123; Wienfort, Adel in der Moderne (wie Anm. 2), S. 138. 80 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 90; Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 34; Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 148. 81 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 122. 82 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 205. 83 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 106.



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über die außerordentlichen Zuwendungen.84 Überhaupt betonen die Hofdamen immer wieder ihre tiefe Dankbarkeit für die menschliche Anteilnahme ihrer Arbeitgeber.85 Sie erfreuten sich an den diversen, manchmal freilich wenig zweckmäßigen Geschenken, die sie von auswärtigen Majestäten erhielten. Eveline von Massenbach etwa bedauerte es zutiefst, wenn sie wetterbedingt den Zobelmantel nicht tragen konnte, den ihr die russische Zarin geschenkt hatte.86 Vor allem aber wussten sie es zu schätzen, dass sie durch das Hofgeschehen bedeutende Menschen kennenlernen und Einblick in ihre Arbeit erfahren durften. Dies galt zum einen für andere Hochadelige: In bester Erinnerung war Gräfin Keller etwa die Bekanntschaft zum spanischen König Alfons XIII.87 Sie liebte es, mit dem österreichischen Kaiser Franz Joseph nahezu alleine Zeit verbringen zu können.88 Große Befriedigung verschafften zum anderen aber auch die Begegnungen mit nicht-adeligen Persönlichkeiten, und zwar wegen Person und Inhalt: Wissenschaftliche Neuerungen, wie die im November 1895 von Professor Röntgen entdeckten Röntgenstrahlen, bekam man so immerhin aus erster Hand erklärt.89 An zahlreichen Abschnitten ihres Tagesbuchs bekundete Gräfin Keller ihre Befriedigung über ihr außergewöhnliches Dasein: ,,Ja, es ist etwas Großes, solche Augenblicke miterleben zu dürfen – wie unsagbar bevorzugt sind wir darin!‘‘90 Mit welcher Emphase und Überzeugung die geforderte Aufgabe von den Hofdamen mitunter vertreten wurde, lässt sich daran erkennen, wie sich Baronin Massenbach gegenüber einem potentiellen Ehemann verhielt. Obwohl ihr die Vorstellung eines schützenden Mannes gut gefiel, sah sie das Hofamt und ihre Dienstpflicht an oberster Stelle. Die Heirat wurde daher ausgeschlagen. Auch im Nachhinein versicherte sie, diese Entscheidung nicht bereut zu haben.91 Gräfin Keller bekannte sich im Zusammenhang mit dem Tod einer älteren Hofdame nachdrücklich zu der Aufgabe, die Tradition ihres Berufes gegenüber der jüngeren Generation zu wahren.92

IV Außerdienstliche Interessen Mit Aktivitäten jenseits von Dienstaufgaben hat die Forschung im Fall der Hofdamen ihre Schwierigkeiten. Diemel beispielsweise negiert das politische Interesse der Hofdamen, wobei sie diese Feststellung lediglich mit einem Zitat von Eveline Massenbach 84 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 246f. 85 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 247, 168. 86 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 61. 87 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 246. 88 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 261. 89 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 162. 90 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 163f. 91 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 136. 92 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 239.

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belegt.93 Hier muss stärker differenziert werden: In der Tat reflektierte Baronin Massenbach in ihren Tagebucheinträgen nur am Rande über Politik. Bei der Teilnahme an Diners oder Soupers griffen ihre Tischpartner häufig als Gesprächsanlass auf aktuelle politische Ereignisse zurück. Eveline Massenbach bekannte sodann: ,,Ich verstehe nichts davon.‘‘94 Diese Haltung verschaffte ihr jedoch einige Möglichkeiten: Gerade weil ihr Politikverständnis als gering eingestuft wurde, ließ König Wilhelm I. es zu, dass sie an politischen Verhandlungen partizipierte. Sie wurde beispielweise im April 1862 beauftragt, geheime Depeschen über Bismarck vorzulesen.95 Die Massenbach berichtet zudem, stets von den Ministern am Hof über aktuelle Begebenheiten informiert worden zu sein.96 Letzthin war sie Teil einer antipreußischen Gruppe am württembergischen Hof, die versuchte gegen die Reichseinigung unter preußischen Vorzeichen zu opponieren.97 Nach dem Tod Wilhelms I. wurde ihr Einbezug in politische Begebenheiten fortgesetzt. Eveline Massenbach hatte nunmehr Hofbank- und Kammerberichte sowie Angelegenheiten des Katharinenstifts zu verlesen.98 Bei Mathilde Keller steht das politische Interesse außer Frage. Sie nahm sogar an Reichstagsverhandlungen teil. Im Januar 1890 etwa fuhr sie zum Reichstag, um sich über die Beratungen zum Sozialistengesetz zu informieren. Sie bezog auch eine klar antisozialistische Position, welche sich an ihrer Empörung über die Reden von August Bebel und Karl Liebknecht zeigte.99 Auch im Sommer 1900 ließ sie regen politischen Eifer erkennen: Die Mobilmachung der Marineinfanterie wegen des „Boxeraufstandes“ wurde selbstredend am preußischen Hof intensiv diskutiert. Gräfin Keller beteiligte sich interessiert an den allabendlichen Lesungen von Aufsätzen über China.100 Im Zuge der „Daily-Telegraph-Affäre“ reflektierte Gräfin Keller über den schweren Druck, der auf dem Hof lastete. Sie schrieb, zu den aktuellen Ereignissen keine Worte zu finden, und bestärkte sich darin, die Situation lediglich in der Hand Gottes überstehen zu können.101 Marie Redwitz entwickelte erst spät in ihrem Leben politische Wissbegierde, aber sie lässt sich keinesfalls negieren: In ihrem Tagebuch begann Redwitz mit dem Eintritt des Ersten Weltkriegs mit der Beschreibung wichtiger Kriegsereignisse, wie etwa des Attentats von Sarajewo.102 Die Tagebuchauszüge fielen nach ihrer Freistellung vom Hofamt insgesamt nur noch sehr knapp aus. Umso stärker fällt dabei die Umorientierung zur Politik ins Gewicht. Insbesondere die Revolution 1918/19 mit

93 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 128. 94 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 161. 95 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 162. 96 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 172. 97 Diemel, Hoher Rang (wie Anm. 9), S. 190. 98 Diemel, Hoher Rang (wie Anm. 9), S. 198. 99 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 126. 100 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 223. 101 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 264. 102 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 372.



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dem Ende der Monarchie erfuhr eine detaillierte Schilderung.103 Der ,,düstere[n] Hintergrund, der vom Schrecken des Krieges erfüllt war und noch Schrecklicheres barg‘‘104 besaß für Marie Redwitz als Adelige und ehemals Vertraute des Königshauses zweifelsohne große Bedeutung. Es war der ehemaligen Hofdame ein furchtbares Rätsel, wie es zu diesem Schritt kommen konnte. Außerdem nahm sie leidenschaftlichen Anteil an dem Schicksal der Hofbediensteten.105 Einiges Interesse zeigten die Hofdamen auch im Hinblick auf Literatur und Kunst. Dies stand durchaus im Gegensatz zu ihrer Erziehung. Denn bei dieser lag der Fokus auf Standesbewusstsein und dem Bemühen um Exklusivität. Anders als für Jungen konzentrierte sich die Mädchenerziehung auf das Erlernen von Umgangsformen und die Fähigkeit zur Konversation. Demgegenüber wurde die künstlerisch-literarische Bildung zurückgesetzt.106 Die württembergische Hofdame Massenbach beschrieb jedoch mehrfach, in ihrer Freizeit literarische Werke zu lesen. Sie konstatierte etwa für März 1856 knapp, mit ,,Fabiola‘‘107 beschäftigt zu sein.108 Auch während eines Russlandaufenthalts im März 1857 fand Massenbach Zeit, um zur Lektüre zu greifen: ,,Meine erste Lektüre bei Ihrer Majestät war der volkstümliche Roman ,an der Riviera‘ von Antonio in englisch.‘‘109 Darüber hinaus besuchte sie auch in ihrer Freizeit das Theater und nahm an literarischen Salons teil.110 Mathilde Keller beschäftigte sich intensiv mit Belletristik und Sachbuchliteratur in der Bibliothek des Berliner Schlosses. Dabei fällt jedoch ihre Vorliebe für antisemitische Machwerke, beispielsweise Houston Stewarts Chamberlains ,,Grundlagen des 19. Jahrhunderts‘‘, auf. Das Werk bezeichnete sie als ,,höchst interessant und fesselnd‘‘111. In Gesellschaft konnte sich Gräfin Keller wohl durchaus gekonnt über Literatur äußern und ihre Position kritisch vertreten. Dies wird etwa an einem Gespräch mit dem englischen Kriegsminister Haldane deutlich, das sich um Goethe drehte.112 Bei einem Aufenthalt in Tegernsee lernte Mathilde Keller die Hofdame Marie Redwitz kennen, wobei sie in ihrem Tagebuch sogleich die schriftstellerische Tätigkeit von Redwitz‘ Vater festhielt.113 Oskar von Redwitz114 verfasste zahlreiche Gedichte, Romane und Dramen und prägte so 103 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 386–393. 104 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 386. 105 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 390f. 106 Wienfort, Adel in der Moderne (wie Anm. 2), S. 123, S. 127. 107 Historischer Roman von Nicolas Patrick Wisemann (1802–1865). Schauplatz ist das frühchristliche Rom. 108 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 88. 109 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 98. 110 Uhland, Massenbach (wie Anm. 11), S. 68. 111 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 226. 112 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 258. 113 Keller, Vierzig Jahre (wie Anm. 15), S. 179. 114 Oskar von Redwitz (1837–1891) widmete sein Leben vollständig der Literatur. Zunächst als Professor für Literatur an der Universität tätig, verbrachte er den größten Teil seines Lebens auf Landsitzen, wo seine literarische Tätigkeit bestimmend war.

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seine Tochter. Zwar geht aus ihren Tagebucheinträgen kein Hinweis auf ihre literarischen Vorlieben hervor, doch war sie eben selbst schriftstellerisch tätig.115 Im Jahr 1888 veröffentlichte sie Novellen unter dem Titel ,,Ost und West‘‘116. Darin enthalten sind vier in sich abgeschlossene Novellen, die sehr verschiedene Themen aufgriffen. So trägt eine Novelle den Titel ,,Fatma Hanum‘‘, Ort des Geschehens ist Istanbul. Sie beschrieb darin in bildhafter Form die Schönheit und Anmut des Landes. Der Schauplatz einer anderen Novelle ist das Tiroler Bergland. Mathilde Keller und Marie Redwitz gaben ihre Tagebucheinträge selbst heraus. Evelin Massenbach schrieb zwar Tagebuch und hielt verschiedene Briefwechsel fest. Die Tagebucheinträge wurden aber erst durch einen Herausgeber veröffentlicht. Interessant ist in diesem Zusammenhang der jeweilige Aufbau. Während die Tagebücher von Gräfin Keller und Baronin Massenbach eine Untergliederung nach den jeweiligen Daten aufweisen, nimmt Marie Redwitz lediglich eine Grobgliederung mit Unterteilung in einzelne Jahre vor. Innerhalb eines Jahres erfahren die Erinnerungen eine zusammenhängende Darstellung. In manchen Passagen erwähnt die Hofdame konkrete Daten als Anhaltspunkte. In der Regel aber verzichtet sie darauf und findet Umschreibungen, wie ,,[e]inige Tage darauf […]‘‘117. Dadurch drängt sich dem Leser ein Erzählcharakter auf. Zweifelsohne lässt sich die romanartige Darstellung flüssiger lesen.

V Schlussbetrachtung Die Anforderungen an den Beruf der Hofdame können als signifikant gelten: Die unverheiratete und dennoch sich selbst versorgende Frau hatte mannigfaltige Aufgaben zu bewältigen. Sie fungierte als Gesellschafterin, Sekretärin, Erzieherin und nicht zuletzt als Repräsentationsfigur des Hofes, der schließlich immer noch zu einem beträchtlichen Teil gleichsam Spiegel und Generator sozialer Verhältnisse war. Persönliche Freiräume gestattete ihr das Hofleben kaum: Ihr Tagesablauf war ebenso streng reguliert wie das Zeremoniell. Zwischen beiden bestand ein reziprokes Verhältnis. Die Hofdame war sowohl ausführendes wie konstituierendes Organ der die höfische Gesellschaft zusammenhaltenden symbolischen Organisationsformen und somit bildete sie auch den „Kitt, aus dem kollektive Identitäten instituiert und reproduziert werden“118. Auch wenn regionale Unterschiede und persönliche Vorlieben 115 Bekannte Veröffentlichungen von Redwitz: Ost und West: Novellen (1988), Planeten-Calendarium (1908), Prinzen-Märchen (1911), Meeresrauschen und Herzensstürme (1918), Hofchronik 1888– 1921 (1924), Der Liebe Dornenpfad (ohne Jahr). 116 Marie von Redwitz, Ost und West, in: www.gbv.de/dms/belser/dtfrau/40682.pdf [02.05.2013]. 117 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 219. 118 Jan Assmann, Der zweidimensionale Mensch. Das Fest als Medium des kollektiven Gedächtnisses, in: Ders. (Hrsg.), Das Fest und das Heilige. Religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt, Gütersloh 1991, S. 13–30, hier S. 22.



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der jeweiligen Herrscher unbedingt zu beachten sind – die „Last des Luxus“ war in finanzieller, psychischer und physischer Hinsicht enorm, Klagen darüber Legende. Oberflächlichkeit und Scheinheiligkeit des höfischen Lebens stießen den Hofdamen durchaus bitter auf. Gleichwohl ging es den Frauen um mehr als um materielle Sicherheit (Lohn, Kost und Logis) und soziales Prestige (eine Hofdame war vielen adeligen Frauen rangmäßig übergeordnet). Dass kaum offene Kritik am System geübt wurde (Redwitz versucht sich an Änderungsvorschlägen, fügt sich aber, nachdem ihre Vorschläge abgelehnt worden waren),119 liegt nicht nur an der Dominanz „höfischer Rationalität“, d.h. materialistischen Zwängen. Die entsprechenden Deutungen der Geschichtswissenschaft setzen hier unberechtigterweise die Strukturen über den Menschen. Bezeichnenderweise behandelt Diemel „die subjektive Dimension des Hofdamen-Dienstes“ nur auf wenigen Seiten.120 Die Frauen wussten ihre Arbeit auch wertzuschätzen. Sie hatten Freude am höfischen Leben, mochten das Repräsentieren, amüsierten sich bei entsprechenden Veranstaltungen, genossen das Reisen und behielten die ihnen gebotenen außergewöhnlichen Begegnungen menschlicher und inhaltlicher Art im Herzen. Selbstverständlich behagten ihnen auch die Nähe zur Macht und die ihnen gegebenen Einflussmöglichkeiten. Das Forschungsparadigma des „glänzenden Elends“ (Diemel) erscheint daher zwar griffig, aber doch arg eindimensional. Zudem ist es kaum vereinbar mit den in nicht unbeträchtlichem Maße evidenten künstlerisch-literarischen wie politischen Interessen der Hofdamen sowie ihrer Empathie für die sozial Schwachen und die Personen, die sich derer annahmen. Es verwundert, dass dieses in der Literatur bisher weitgehend beschwiegen oder gar verneint worden ist. Diese kleine Studie muss jeden Anspruch auf Repräsentativität weit von sich weisen. Dafür ist ihre Quellengrundlage zu schmal. Die Autorin möchte aber darauf beharren, dass sich die Forschung noch einmal empirisch fundiert, zudem konstruktions- und wertetransparent mit den Hofdamen des 19. Jahrhundert beschäftigen sollte.

119 Redwitz, Hofchronik (wie Anm. 13), S. 207f. 120 Diemel, Adelige Frauen (wie Anm. 9), S. 134ff.

 III Politisch-gesellschaftliches Handeln

Sabine Thielitz

Adel in der Zeit des politischen Umbruchs Gottlieb von Thon-Dittmer und Otto von Bray-Steinburg im bayerischen ‚Märzministerium‘ von 1848

I Einleitung Bayern! Euer Vertrauen wird erwidert, es wird gerechtfertigt werden! Schaart euch um den Thron! Mit Euerem Herrscher vereint, vertreten durch Euere verfassungsmäßigen Organe, laßt Uns erwägen, was Uns, was dem gemeinsamen Vaterlande noth thut. Alles für Mein Volk! Alles für Teutschland!1

Mit diesen abschließenden Worten begegnete König Ludwig I. von Bayern (1786–1868) am 6. März 1848 den zentralen verfassungspolitischen Forderungen, welche von weiten Teilen der bayerischen Bevölkerung mit zunehmender Vehemenz erhoben worden waren. Vor dem Hintergrund der in Paris ausgebrochenen Februarrevolution sowie der erstarkenden liberalen und nationalen Strömungen im Deutschen Bund hatten der damalige Minister des königlichen Hauses und des Äußeren, Ludwig Kraft Ernst Fürst Oettingen-Wallerstein (1791–1870), und der erste Präsident der bayerischen Kammer der Reichsräte, Karl Friedrich Wilhelm Emich Fürst zu Leiningen (1804–1856), bei dem Monarchen auf eine „rechtzeitige und freiwillige Reform“2 zur Rettung der konstitutionellen Monarchie gedrängt. Gemäß der Märzproklamation Ludwigs I. sollten dem auf den 16. März einberufenen Landtag unter anderem Reformgesetze zur Pressefreiheit und Einführung der Ministerverantwortlichkeit sowie über eine Kodifizierung des bayerischen Strafrechts, die Einführung von Schwurgerichten und ein neues Landtagswahlrecht vorgelegt werden.3 Im Februar 1848 war in weiten Teilen der bayerischen Öffentlichkeit zudem der Ruf nach einer Neubesetzung der Ministerien verstärkt artikuliert worden. Diese auch in anderen deutschen Bundesstaaten erhobene Forderung hatte in Bayern durch die politischen Verwicklungen um die Affäre des Monarchen mit Lola Montez (1821–1861) eine besondere Brisanz erhalten. Vor allem der Verweser des Inneren, Franz von Berks (1792–1873), der wegen seiner engen Beziehung zur Mätresse des Königs bereits Anfang des Jahres 1848 in die Kritik geraten war, schien in seiner 1 Proklamation Ludwigs I. über die Märzforderungen, München 6. März 1848, in: Karl Bosl (Hrsg.), Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern, Bd. III/2, München 1976, Nr. 36, S. 125–126, hier S. 126. 2 Karl Joseph Hummel, König Maximilian II. und die Revolution 1848/49 in Bayern, in: Rainer Albert Müller (Hrsg.), König Maximilian II. von Bayern 1848–1864, Rosenheim 1988, S. 91–99, hier S. 92; Karl Joseph Hummel, München in der Revolution von 1848/49, Göttingen 1987, S. 37. 3 Proklamation Ludwigs I. über die Märzforderungen, München, 6. März 1848, in: Bosl, Dokumente (wie Anm. 1), S. 125–126.

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politischen Position nicht länger haltbar. Daher wurde er vom König am Abend des 6. März 1848 aus seinem Amt entlassen.4 Der als liberal geltende Regensburger Bürgermeister Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (1802–1853) wurde als neuer Verweser des Innenministeriums berufen.5 Am 14. März erfolgte zudem die Entlassung des bisherigen Ministers des Äußeren, Fürst von Oettingen-Wallerstein, und die Übernahme der Verweserschaft für das Außenressort durch Klemens August Graf von Waldkirch (1806–1858). Zu einem umfassenderen personalpolitischen Wechsel auf der Ebene der höchsten Staatsämter fand sich Ludwig I. nicht bereit. Erst nach seiner Abdankung am 20. März 1848 vollzog sich unter Maximilian II. (1811–1864) eine breitere Neubesetzung der Ministerämter. Bereits einen Tag nach der Abdankung Ludwigs I. wurde ThonDittmer vom Ministerverweser zum regulären Innenminister erhoben. Der Präsident der Kammer der Abgeordneten, Karl Friedrich Heintz (1802–1868), übernahm das Amt des Justizministers. Das Portefeuille für das Finanzministerium wurde Gustav Freiherr von Lerchenfeld (1806–1866) übertragen. Die Leitung des Kriegsministeriums erhielt Karl Weishaupt (1787–1853). Graf von Waldkirch wurde Ende April von Otto Graf von Bray-Steinburg (1807–1899) als Außenminister abgelöst. Hermann von Beisler (1790– 1859) blieb damit als einziger vormärzlicher Minister nunmehr in der Funktion als Vorsteher des Kultusministeriums im Amt.6 Die Berufung neuer Minister stellte im 4 Aurelio Buddeus, Baiern unter den Übergangsministerien von 1847–1849, in: Die Gegenwart. Eine encyklopädische Darstellung der neuesten Zeitgeschichte für alle Stände, Bd. 7, Leipzig 1852, S. 688–758, hier S. 740–741; Veit Valentin, Die Geschichte der Deutschen Revolution 1848–1849, Bd. 1, Frankfurt am Main 1977, S. 124–140, 385. Der Terminus der ‚(politischen) Öffentlichkeit‘ findet in der Forschung zur Revolution von 1848/49 häufige Verwendung. Dabei bleibt oftmals unklar, welche politisch interessierten oder aktiven Teile der Bevölkerung damit konkret bezeichnet werden. Diese unpräzise Umschreibung ergibt sich auch aus dem vielschichtigen und sich wandelnden Bedeutungsspektrum dieses Begriffs, wozu sich in den letzten Jahren ein umfangreicher und noch andauernder wissenschaftlicher Diskurs entsponnen hat. Trotz der Unschärfe dieses Begriffs wird auch in diesem Beitrag aus Ermangelung einer überzeugenden Alternative darauf zurückgegriffen werden. Zur Begriffsgeschichte siehe: Peter Uwe Hohendahl (Hrsg.), Öffentlichkeit. Geschichte eines kritischen Begriffs, Stuttgart 2000, Neue Erkenntnisse zu dem Zusammenhang von politischer Öffentlichkeit und politischem Bewusstsein bietet: Volker Gerhardt, Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München 2012. 5 Eva Maria Werner, Die Märzministerien. Regierungen der Revolution von 1848/49 in den Staaten des Deutschen Bundes, Göttingen 2009, S. 64–65; Dieter Albrecht, König Ludwig I. und Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer. Eine neue Quelle zum Verhalten des Königs in der Revolution von 1848, in: Andreas Kraus (Hrsg.), Land und Reich. Stamm und Nation. Probleme und Perspektiven bayerischer Geschichte. Festgabe für Max Spindler zum 95. Geburtstag, Bd. 3: Vom Vormärz bis zur Gegenwart, München 1984, S. 69–73, hier S. 59–60. Ob die Entscheidung Ludwigs I. für Thon-Dittmer tatsächlich auf dessen Protektion durch Oettingen-Wallerstein zurückzuführen ist, wie Zuber ausführt, ist nicht eindeutig geklärt. Siehe hierzu: Karl-Heinz Zuber, Der „Fürst Proletarier“ Ludwig von OettingenWallerstein (1791–1870), München 1978, S. 247; Ursula Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer 1802–1853. Politische Biographie eines bayerischen Frühliberalen, Kallmünz 1990, S. 268. 6 Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 66–67. Während Werner fälschlicherweise Adam Weishaupt als neuen Kriegsminister bezeichnet, nennt Hans Rall den richtigen Namen K[arl] Weishaupt: Hans Rall, Die politische Entwicklung von 1848 bis zur Reichsgründung, in: Max Spindler/Andreas



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gesamten Deutschen Bund die politische Antwort der Fürsten auf die revolutionäre Bewegung dar. Wolfram Siemann schreibt diesen neu gebildeten Regierungen eine „Katalysatorfunktion“7 in dem Prozess der Verrechtlichung der Revolution von 1848 sowie eine beruhigende Wirkung auf weite Kreise des Bürgertums zu.8 Dieses bayerische ‚Märzministerium‘9 bestand aus vier adeligen und zwei nichtadeligen Ministern.10 Damit stellten die Vertreter der Gesellschaftsschicht, welche aufgrund ihrer Verbindungen zur monarchischen Obrigkeit und ihrer eigenen politischen Standesvorrechte von Teilen der bürgerlichen und bäuerlichen Öffentlichkeit zunehmend kritisiert worden waren,11 die Mehrheit der bayerischen Regierung auch in der Zeit des politischen Umbruchs von 1848. Dennoch war diese Regierungsumbildung auch in der gemäßigt-liberal orientierten „Allgemeinen Zeitung“ auf Zustimmung gestoßen.12 Dies wirft die Frage auf, inwiefern die Berufung in das bayerische ‚Märzministerium‘ mit dem adeligen Hintergrund der Amtsträger in Verbindung stand. Auf welche Qualifikationsaspekte wurde bei der Berufung Wert gelegt? In diesem Zusammenhang sind neben der genealogisch-ständischen Herkunft besonders der berufliche Werdegang der ‚Märzminister‘ sowie deren politische Erfahrungen relevant. Davon ausgehend stellt sich zudem die Frage, wie sich die bayerische Regierungspolitik während des revolutionären politischen Umbruchs unter dem Einfluss dieser adeligen ‚Märzminister‘ gestaltete? Diesen Aspekten soll im Folgenden am Beispiel des Freiherrn Gottlieb von Thon-Dittmer und des Grafen Otto von BraySteinburg nachgegangen werden, welche als Innen- beziehungsweise Außenminister zentrale Staatsämter in der Revolution 1848/49 bekleideten. Dabei wird eine in der Adelsforschung grundsätzlich zu berücksichtigende Problematik erkennbar: die mangelnde Homogenität des Adels als soziale Gruppe. Die Kraus (Hrsg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. IV/1: Das Neue Bayern 1800–1970, München 1979, S. 224–282, hier S. 229. 7 Wolfram Siemann, Die deutsche Revolution von 1848/49, Frankfurt am Main 200210, S. 60. 8 Siemann, Die deutsche Revolution von 1848/49 (wie Anm. 7), S. 76. 9 Der Begriff des ‚Märzministeriums‘ bezieht sich auf die von Eva-Maria Werner vorgelegte Arbeit zu den ‚Märzministerien‘ der Revolution 1848/49. Trotz der Kritik Jürgen Müllers an der Verwendung des Begriffes ‚Märzministerien‘ auch für die Regierungen der Revolution von 1848, deren personelle Besetzung nicht ausschließlich oder nicht umfassend im März 1848 stattfand, wird der Begriff hier in dem Sinne Werners für die im März und April sukzessive besetzte und im Herbst teilweise umgestaltete bayerische Regierung verwendet. Nach Werner ist dabei nicht der Zeitpunkt der Konstituierung, sondern die durch den Druck der Öffentlichkeit forcierte Regierungsumbildung für die Klassifizierung als ‚Märzministerium‘ entscheidend. Siehe hierzu: Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 14 und Jürgen Müller, Rezension zu: Werner, Eva Maria: Die Märzministerien. Regierungen der Revolution von 1848/49 in den Staaten des Deutschen Bundes, Göttingen 2008, in: H-Soz-u-Kult, 13.03.2009, hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-1-212, [28.06.2013]. 10 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 274. 11 Wolfram Siemann, 1848/49 in Deutschland und Europa. Ereignis – Bewältigung – Erinnerung, Paderborn 2006, S. 83–85. Siehe zur Adelskritik allgemein: Eckart Conze: Adelskritik, in: Ders. (Hrsg.), Kleines Lexikon des Adels. Titel, Throne, Traditionen, München 2005, S. 21–27. 12 Allgemeine Zeitung, Nr. 82, 22. März 1848, S. 1298–1299.

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unterschiedlichen landesspezifischen Ausprägungen sowie die materiellen und rechtlichen Differenzierungen der einzelnen adeligen Untergruppierungen lassen es kaum zu, von ‚dem‘ Adel als einer pauschal fassbaren sozialen Einheit zu sprechen.13 Dies gilt auch für die adeligen ‚Märzminister‘ von 1848. Daher wird neben der Berücksichtigung der sozioökonomischen Aspekte den folgenden Ausführungen das in der neueren Adelsforschung gängige Verständnis von ‚Adeligsein‘ als einer Summe spezifischer Verhaltensweisen und Wertvorstellungen zugrunde gelegt.14 Im Folgenden wird dabei zunächst auf die allgemein maßgeblichen Qualifikationen für die Berufung in ein Ministeramt eingegangen, wobei der Fokus auf der Korrelation von adeligem Hintergrund und Ministertätigkeit liegen wird. Im Anschluss sollen diese Erkenntnisse an dem Beispiel der beiden Minister vertieft werden. Dazu wird der jeweilige biografische Hintergrund dezidierter betrachtet. In einem weiteren Schritt soll die von Thon-Dittmer und Bray-Steinburg beeinflusste bayerische Regierungspolitik in der Revolution 1848 dargestellt werden. Die Ergebnisse der Untersuchung werden in einem knappen Fazit zusammengefasst.15 Hinsichtlich der Korrelation zwischen adeliger Herkunft und Ausübung eines Ministeramtes im Bayern des 19. Jahrhunderts liefern die älteren Untersuchungen von Walter Schärl16 und Klaus von Andrian-Werburg17 maßgebliche Anknüpfungspunkte. Schärl arbeitete unter Heranziehung der ministeriellen Personalakten die Lebensläufe eines Großteils der bayerischen Beamtenschaft für den Zeitraum 1806 bis 1918 auf. Auf der Basis dieser biografischen Studien stellte er innerhalb der verschiedenen Beamtenkategorien Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Amtsträger heraus. Andrian-Werburg liefert unter Bezugnahme auf die Befunde Schärls einen Überblick über die personelle Besetzung der königlich-bayerischen Ministerämter und die zugrunde liegenden Qualifikationsmuster. Eine Arbeit jüngeren Datums zu den ‚Märzministerien‘ im Deutschen Bund von Eva-Maria Werner bietet weitere Informationen speziell zu der Zusammensetzung der deutschen ‚Märzregierungen‘. Werner unternimmt dabei einerseits eine Kategorisierung der Revolutionsregierungen anhand der Art ihrer jeweiligen Konstituierung. Andererseits versucht sie auf der Basis ausgewähl-

13 Heinz Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, 2., um einen Nachtrag erweiterte Auflage, München 2012, S. 1–9; Eckart Conze/Monika Wienfort, Einleitung. Themen und Perspektiven historischer Adelsforschung zum 19. und 20. Jahrhundert, in: Dies. (Hrsg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2004, S. 1–16. 14 Conze/Wienfort, Einleitung (wie Anm. 13), S. 11–12; Monika Wienfort, Der Adel in der Moderne, München 2006, S. 20; siehe auch: Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 112. 15 Die vorliegende Untersuchung steht im Kontext des DFG-Projektes „Edition der Akten der Provisorischen Zentralgewalt in der Revolution von 1848/49“ an der Katholische Universität EichstättIngolstadt. 16 Walter Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft von 1806–1918, Kallmünz 1955. 17 Klaus von Andrian-Werburg, Das Königreich Bayern 1808–1918, in: Klaus Schwabe (Hrsg.), Die Regierungen der deutschen Mittel- und Kleinstaaten 1815–1933, Boppard am Rhein 1980, S. 47–62.



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ter Persönlichkeitsaspekte eine Kollektivbiografie der im Deutschen Bund berufenen ‚Märzminister‘ zu erstellen.18 Bezüglich der Aufarbeitung der biografischen Hintergründe wird auf die um 1900 erschienenen Denkwürdigkeiten Bray-Steinburgs19 und auf die von Ursula Finken erbrachte umfangreiche biografische Studie zu Thon-Dittmer20 zurückgegriffen. Für die Untersuchung des politischen Wirkens der beiden Minister im Kontext der bayerischen ‚Märzregierung‘ dienen die Akten des bayerischen Innen- beziehungsweise Außenministeriums sowie des bayerischen Staatsrates aus den Revolutionsjahren als Quellenbasis.21 Darüber hinaus finden die stenografischen Berichte der bayerischen Ständekammer22 Berücksichtigung. Wie bereits Wolfram Siemann zutreffend konstatierte, fehlt bisher eine dezidierte Aufarbeitung der Rolle des Adels in der Revolution 1848. Diese wird allenfalls in zeitlich übergreifenden, häufig auch landesspezifischen Monografien über adelige Herrschaft knapp thematisiert.23 Daher werden bezüglich der Adelsstruktur und dem Wirken Adeliger in der bayerischen Politik und Verwaltung im 19. Jahrhundert vor allem die grundlegenden Erkenntnisse der Adelsforschungen von Heinz Reif24 und Monika Wienfort25 berücksichtigt.

18 Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5). 19 Karl Theodor von Heigel (Hrsg.), Graf Otto von Bray-Steinburg. Denkwürdigkeiten aus seinem Leben, Leipzig 1901. 20 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5). 21 Die fraglichen Ministerialakten und Akten des Staatsrats lagern im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München, welches im Folgenden mit BayHStA abgekürzt wird. 22 Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Bayern, Protokollbände, München 1848; Verhandlungen der Kammer der Reichsräthe des Königreichs Bayern, Protokollbände, München 1848. 23 Siemann, 1848/49 in Deutschland und Europa (wie Anm. 11), S. 79; zur weiteren Forschungslage siehe: Walter Demel, Der bayerische Adel von 1750 bis 1871, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel 1750–1950, Göttingen 1990, (Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft, Sonderheft 13), S. 126–143; Francis Ludwig Carsten, Der preußische Adel und seine Stellung in Staat und Gesellschaft bis 1945, in: Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel, (wie Anm. 23), S. 112–125; Heinz Reif, Westfälischer Adel 1770–1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite, Göttingen 1979; Hanns Hubert Hofmann, Adelige Herrschaft und souveräner Staat. Studien über Staat und Gesellschaft in Franken und Bayern im 18. und 19. Jahrhundert, München 1962. Die Studie von Heinz Gollwitzer zu den Standesherren wiederum setzt sich generell mit der Rolle der Mediatisierten auf gesamtdeutscher Ebene auseinander und berücksichtigt dabei auch die Situation von 1848: Heinz Gollwitzer, Die Standesherren. Die politische und gesellschaftliche Stellung der Mediatisierten 1815–1918, Göttingen 19642. 24 Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert (wie Anm. 13). 25 Wienfort, Der Adel in der Moderne (wie Anm. 14).

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II Der Zusammenhang zwischen adeliger Herkunft und bayerischem Ministeramt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Die während der Amtszeit Ludwigs I. und der Anfänge der Regierungszeit Maximilians II. geltende Regierungs- und Verwaltungsorganisation hatte ihren Ursprung in der unter dem Kurfürsten und späteren ersten bayerischen König Maximilian I. Joseph (1756–1825) vorgenommenen Verwaltungsreform. Unter dem Einfluss des Grafen Maximilian von Montgelas (1759–1838) wurde ein Umbau der Zentralbehörden vorgenommen, an dessen Ende ein nach dem Ressortprinzip organisiertes ‚geheimes Ministerialdepartement‘ mit den Fachministerien des Äußeren, der Finanzen, der Justiz, des Inneren und des Krieges stand. Dieses Gesamtstaatsministerium übernahm neben der Beratung des Königs und der Vorbereitung der Gesetze auch Verwaltungsfunktionen.26 Dabei orientierte sich die Arbeitsweise an dem Direktorialprinzip, wonach die alleinige interne Entscheidungsbefugnis dem jeweiligen Minister oblag.27 Nach der Entlassung Montgelas im Jahre 1817 wurden die obersten Beratungs- und Verwaltungsgremien des Königreiches Bayern teilweise neu organisiert, wobei die fünf Fachbereiche des Gesamtministeriums beibehalten wurden.28 Ab 1817 regelte eine königliche Verordnung, dass ein jedes der fünf Staatsministerien mit einem eigenen Minister zu besetzen sei.29 Durch diese Bestimmung sollte eine Machtanhäufung in der Hand eines Ministers, wie dies bei Montgelas der Fall gewesen war, vermieden werden.30 An die Stelle des bisherigen geheimen Ministeriums trat zudem der Ministerrat als oberste Verwaltungsinstanz, dessen Arbeitsweise und personelle Zusammensetzung 1821 durch eine 26 Eberhard Weis, Die Begründung des modernen bayerischen Staates unter König Max I. (1799– 1825), in: Alois Schmid (Hrsg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. IV/1: Das Neue Bayern von 1800 bis zur Gegenwart. Staat und Politik, München 20032, S. 3–126, hier S. 71; Franz-Ludwig Knemeyer, Regierungs- und Verwaltungsreformen in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Köln/Berlin 1970, S. 121–122. 27 Eberhard Weis, Die Begründung des modernen bayerischen Staates unter König Max I. (1799– 1825), in: Spindler/Kraus (Hrsg.), Handbuch der bayerischen Geschichte (wie Anm. 6), S. 3–86, hier S. 55–56. 28 Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 5–6. Erst in den 1840er Jahren erfolgte eine weitere Ausdifferenzierung der Fachbereiche durch die Einrichtung eines „Ministeriums des Inneren für Kirchen- und Schulangelegenheiten“ am 27. Februar 1847 und dessen kurzfristiger Aufhebung im November 1848, sowie die Bildung eines „Staatsministeriums des Handels und der öffentlichen Arbeiten“ im November 1848. Siehe hierzu: Königliche Verordnung Ludwigs I. vom 27. Februar 1847, in: Regierungsblatt für das Königreich Bayern, Nr. 9, 27. Februar 1847, München 1847, Sp. 169–177; Königliche Verordnung Maximilians II. vom 11. November 1848, in: Regierungsblatt für das Königreich Bayern, Nr. 61, 15. November 1848, München 1848, Sp. 1105–1114. 29 Königliche Verordnung Maximilians I. Joseph vom 2. Februar 1817, in: Königlich-Baierisches Regierungsblatt, IV. Stück, 2. Februar 1817, München 1817, Sp. 49–56, hier Sp. 50. 30 Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 6.



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königliche Instruktion geregelt wurde. An dessen Zusammenkünften nahm, neben dem König und den Ministern, der Feldmarschall und bis 1825 der Präsident des Staatsrates teil. Der Ministerrat stand formal unter der unmittelbaren obersten Leitung des Königs.31 Für die Regierungszeit Ludwigs I. ist dabei festzuhalten, dass die Teilnahme des Monarchen an den Sitzungen eine Ausnahme darstellte.32 Darüber hinaus hatte eine Verordnung des Königs von 1825 festgelegt, dass der Ministerrat nur den Charakter eines beratenden Gremiums aufweisen und sich ausschließlich auf besonderen Befehl des Monarchen versammeln sollte.33 Ludwig I. sah in seinen Ministern gehorsame Diener, welche die königlichen Beschlüsse widerspruchslos vollziehen sollten. Eine eigenständige, aktive Mitgestaltung der Regierungspolitik durch die Minister entsprach nicht seiner Herrschaftsauffassung.34 So hatte Ludwig I. 1836 in einem Schreiben an den damaligen Innenminister Oettingen-Wallerstein die zunehmende Verwendung der Formulierung „der König und die Staatsregierung“35 untersagt und ausgeführt, dass es „in einem monarchischen Staat nur die in dem König concentrierte Staatsregierung“36 gebe. Allerdings gelang es einzelnen Ministerpersönlichkeiten, Ludwig I. gemäß ihrer eigenen Vorstellungen zu beeinflussen. Nach Andreas Kraus geschah dies aber nur in begrenztem Umfang und nicht in zentralen Fragen.37 Unter Maximilian II. lässt sich im Zuge der revolutionären Ereignisse wieder eine Zunahme der politischen Bedeutung der Minister und des Ministerrates verzeichnen.38 Der neue Monarch stellte am 25. März 1848 die Rechte des Ministerrates wieder her, ohne dessen konkreten Wirkungskreis zu definieren.39 Die Entschließung Maximilians II. vom

31 Bernhard Grau, Archivalische Quellen: Monarch und Kabinett – Protokollserien zum Regierungshandeln in Bayern 1817 bis 1918, in: Dietmar Willoweit (Hrsg.), Grundlagen der modernen bayerischen Geschichte. Staat und Politik im Spiegel der Regierungsprotokolle des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2007, S. 46–69, hier S. 53. 32 Grau, Archivalische Quellen: Monarch und Kabinett (wie Anm. 31), S. 53. 33 Königliche Verordnung Ludwigs I. über die Formation der Ministerien vom 9. Dezember 1825, in: Regierungs- und Intelligenzblatt für das Königreich Bayern, 1825, Nr. 52, 13. Dezember 1825, München 1825, Sp. 977–1024. 34 Kraus, Die Regierungszeit Ludwigs I. (1825–1848), in: Schmid, Handbuch der Bayerischen Geschichte (wie Anm. 26), S. 127–234, hier 138–139. 35 Kabinettsschreiben König Ludwigs I. an den Innenminister Ludwig von Oettingen-Wallerstein, 14. Dezember 1836, Original, BayHStA, München, MInn 44271, Nr. 80; siehe auch: Dirk Götschmann, Das bayerische Innenministerium 1825–1864, Göttingen 1993, S. 116. 36 Kabinettsschreiben Ludwigs I. an den Innenminister Ludwig von Oettingen-Wallerstein, 14. Dezember 1836, Original, BayHStA, München, MInn 44271, Nr. 80; siehe auch: Götschmann, Das bayerische Innenministerium (wie Anm. 35), S. 116. 37 Andreas Kraus, Die Regierungszeit Ludwigs I. (wie Anm. 34), S. 139. 38 Andrian-Werburg, Das Königreich Bayern 1808–1918 (wie Anm. 17), S. 59. 39 Königliche Verordnung Maximilians II. vom 25. März 1848, in: Regierungsblatt für das Königreich Bayern 1848, Nr. 14, 27. März 1848, Sp. 161–165; siehe auch: Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 7.

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22. Dezember 1849 schuf zudem die Stelle eines offiziellen Vorsitzenden im Ministerrat.40 Bis dahin war der Vorsitz, wenn nicht vom König, entweder von dem dienstältesten oder einem besonders damit beauftragten Minister geführt worden.41 Durch eine königliche Verordnung vom 15. November 1848 wurde außerdem die Tätigkeit des Kabinettssekretariats formal auf die privaten Dispositionen des Königs beschränkt.42 Dies hinderte Maximilian II. allerdings nicht daran, sich de facto weiterhin über diese Dienststelle auch in politischen Belangen durch Fachleute beraten zu lassen, wobei keiner dieser Berater langfristig einen übermächtigen Einfluss ausüben konnte. Maximilian II. traf seine politischen Entscheidungen auf der Basis der Gutachten seiner privaten Berater sowie der Äußerungen seiner Minister und Regierungspräsidenten gleichermaßen.43 Nachdem zunächst die Struktur der Ministerien und der Wirkungskreis der Minister im Königreich Bayern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts umrissen wurden, soll nun der Frage nachgegangen werden, welche Qualifikationsmuster für die Übernahme eines Ministeramtes relevant waren. Da der Fokus dabei auf dem Zusammenhang zwischen adeliger Herkunft und Berufung in das hohe Staatsdieneramt liegen soll, ist es auch notwendig, auf die strukturellen Besonderheiten des ‚bayerischen Adels‘ einzugehen. Um 1750 hatte der ‚bayerische Adel‘ im Wesentlichen die alteingesessenen und grundbesitzenden Adelsfamilien Kurbayerns umfasst. Im 19. Jahrhundert bestand der ‚bayerische Adel‘ aufgrund der territorialen und politischen Veränderungen Bayerns jedoch aus verschiedenen Gruppen äußerst heterogener Herkunft. Neben dem grundherrlichen altbayerischen Landadel waren fränkische und schwäbische Reichsritter sowie Standesherren, adelige Reichsstadtpatrizier und die in jüngerer Zeit nobilitierten Beamten zu verzeichnen.44 Eine wesentliche Aufgabe der Regierung Montgelas war es daher gewesen, mittels eines neuen und umfassenden Adelsrechtes die strukturellen Differenzen zwischen den verschiedenen Adelsgruppen auszugleichen.45 In diesem Zusammenhang wurden eine Vereinheitlichung der Rechtsverhältnisse, die Unterordnung des Adels unter die Kontrolle des Staates und der Abbau adeliger Privilegien angestrebt.46 Gemäß einer 1808 erschienenen Verordnung konnte der Adelsstand „nur durch eine königliche Konzession erlangt werden.“47 In Folge dessen 40 Erlass Maximilians II. vom 22. Dezember 1849 an das bayerische Gesamtstaatsministerium, München 22. Dezember 1849, Original, BayHStA, München, Staatsrat 1723, ad Nr. 1 b. 41 Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 7–8. 42 Verordnung Maximilians II. vom 15. November 1848, in: Regierungsblatt für das Königreich Bayern, Nr. 62, 20. November 1848, München 1848, Sp. 1121–1124. 43 Rall, Die politische Entwicklung von 1848 bis zur Reichsgründung 1871 (wie Anm. 6), S. 233. 44 Demel, Der bayerische Adel von 1750 bis 1871 (wie Anm. 23), S. 126. 45 Demel, Der bayerische Adel von 1750 bis 1871 (wie Anm. 23), S. 129–130. 46 Weis, Die Begründung des modernen bayerischen Staates (wie Anm. 26), S. 57. 47 Edict über den Adel im Königreich Bayern vom 28. Juli 1808, in: Königlich-Baierisches Regierungsblatt, LI. Stück, 14. September 1808, Sp. 2029–2044, hier Sp. 2029; siehe auch: Demel, Der bayerische Adel von 1750 bis 1871 (wie Anm. 23), S. 131.



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musste seitdem jede Adelsfamilie die Berechtigung des von ihr geführten Titels nachweisen, worauf die Eintragung in die Adelsmatrikel erfolgte.48 Auf dieser Grundlage konnte Anspruch auf die durch die bayerische Verfassung von 1818 dem Adel zugesprochenen Vorrechte erhoben werden.49 Demel zufolge bildete für die Mehrheit dieses heterogenen ‚bayerischen Adels‘ der zivile oder militärische Staatsdienst die Grundlage ihrer wirtschaftlichen Absicherung, weswegen mehr als die Hälfte aller erwachsenen männlichen Adeligen diesem angehörte.50 Dieser Befund korrespondiert mit den Erkenntnissen Reifs und Wienforts zur Tätigkeit Adeliger im Staatsdienst. In den meisten Einzelstaaten des Alten Reiches hatte der Adel die Mehrzahl der höheren Staatsstellen, der Regierungs-, Verwaltungs- und Militärämter sowie der Hofämter besetzt. Wie Reif feststellt, waren diese adeligen Ämterrechte von Seiten der Aufklärungsbewegung zwar kritisiert worden.51 Doch auch nach 1815 kam dem Adel in der Mehrheit der deutschen Bundesstaaten weiterhin eine erhebliche Relevanz in der Landespolitik zu.52 Dabei bewegte sich in Süddeutschland die Präsenz von Adeligen in den höheren Positionen der Regierung und Verwaltung auf einem beachtlichen, gleichwohl geringeren Niveau als in Preußen.53 Dennoch dominierten im Vormärz Adelige auch in der bayerischen Regierung und Bürokratie, ohne sämtliche Stellen monopolisieren zu können.54 In Bayern ist demnach ebenso wie in der Mehrzahl der deutschen Bundesstaaten von dem Konzept einer ‚Adelspyramide‘ auszugehen, welches mit steigendem Rang einen zunehmenden Adelsanteil konstatiert. Dabei ist zu beachten, dass Adelige nicht nur den Staatsdienst als ihr Betätigungsfeld wählten, sondern der Staatsdienst auch zur Verleihung eines Adelstitels führen konnte.55 Die politische Heterogenität des ‚bayerischen Adels‘ setzte sich demnach auch im Staatsdienst des Königreiches Bayern fort. Wenn ein Großteil der Staatsbediensteten auch weiterhin aus dem Geburtsadel abstammte, so nahm der Einfluss des Neuadels und des armen Altadels dort dennoch zu. Die Ausweitung der Bürokratie hatte dazu geführt, dass die politische Führungsschicht immer weniger mit dem alten grundbesitzenden Adel identisch war.56 Den Hintergrund dieser in der Mehrheit der deutschen Territorien anzutreffenden Entwicklung bildeten die preußischen und rheinbündi48 Weis, Die Begründung des modernen bayerischen Staates (wie Anm. 26), S. 57. 49 Demel, Der bayerische Adel von 1750 bis 1871 (wie Anm. 23), S. 131. Hier ist vor allem das Recht der gutsherrlichen Gerichtsbarkeit, der Siegelmäßigkeit und der Bildung von Familien-Fideikommissen zu nennen. Siehe hierzu: Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern vom 26. Mai 1818, in: Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 19783, Nr. 53, Titel V, S. 155–171, hier S. 163. 50 Demel, Der bayerische Adel von 1750 bis 1871 (wie Anm. 23), S. 134. 51 Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert (wie Anm. 13), S. 15. 52 Wienfort, Der Adel in der Moderne (wie Anm. 14), S. 34–35. 53 Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert (wie Anm. 13), S. 19–21. 54 Wienfort, Der Adel in der Moderne (wie Anm. 14), S. 35. 55 Wienfort, Der Adel in der Moderne (wie Anm. 14), S. 98–99. 56 Demel, Der bayerische Adel 1750 bis 1871 (wie Anm. 23), S. 136–138.

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schen Reformen. In diesem Kontext hatte sich das ursprünglich ausschließlich von adeligen Standespersonen beanspruchte und nach persönlichem Dafürhalten gestaltete hohe Staatsamt zu einem Beruf gewandelt, dem sachliche Leistungsanforderungen mit allgemeiner Gültigkeit zu Grunde lagen und der eine lebenslange Beschäftigungs- und Aufstiegsperspektive eröffnete. Der Zugang zu diesem Beruf sollte nun den jeweils besten Anwärtern auf dem Wege offener Konkurrenz ermöglicht werden. In Folge dessen mussten zum einen Adelsfamilien bürgerliche Erziehungs- und Ausbildungsstandards übernehmen und in die eigene adelige Lebensweise integrieren.57 Zum anderen wurden nun die höheren Staatsämter auch mit Personen aus dem Bildungsbürgertum besetzt. In Bayern wurden hierbei auch Fabrikherren, Großhändler und Bankiers mit einbezogen. Um den bürgerlichen Beamten oder Offizieren, welche sich um den Staat verdient gemacht hatten, einen angemessenen Rang zukommen lassen zu können, erfolgte zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Einführung des Militär-Max-Joseph-Ordens und des Zivilverdienstordens.58 Gemäß dem Adelsedikt von 1818 wurden die Träger dieser Orden der Ritterklasse zugeordnet, sofern sie nicht vor der Verleihung bereits einer höheren Klasse angehört hatten.59 Wie Demel ausführt, durften derartige Ritter ihren adeligen Titel nur mit königlicher Einwilligung auf einen ihrer Söhne übertragen. Für die Übertragung dieses sogenannten Transmissionsadels war zudem der Nachweis eines standesgemäßen eigenen Vermögens erforderlich. Gleiches galt seit 1818 für die Verleihung eines erblichen Adelstitels.60 Insgesamt gestaltete sich die mit der Ausweitung der Bürokratie voranschreitende Umstrukturierung der Beamtenschaft als ein fließender Übergang. Denn die staatlichen Führungspositionen wurden dabei keineswegs als reine Berufe angesehen. Vielmehr erfuhren diese, nach Reif, eine Deutung „als persönlicher Dienst von Individuen mit ständischem ‚Charakter‘ und entsprechenden Privilegien“.61 Auf diese Weise kam es zu einer gewissen Annäherung in der Dienstauffassung auch zwischen altadeligen und neuadeligen sowie bürgerlichen Beamten. Wie Reif feststellt, entwickelten auch die bürgerlichen Beamten neben Leistungsstolz und Fachkompetenz ebenso Herrschafts- und Herkunftsbewusstsein sowie Standesprestige.62 Neben dem Dienst am Hof, in Regierung und Verwaltung sowie im Militär strebten Adelige im 19. Jahrhundert auch weiterhin in die traditionellen Ämterbereiche des Forstwesens und der Diplomatie. Dabei blieb besonders der letzte Bereich in den 57 Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert (wie Anm. 13), S. 16. 58 Demel, Der bayerische Adel 1750 bis 1871 (wie Anm. 23), S. 138–139. 59 Edict über den Adel im Königreich Bayern vom 26. Mai 1818, in: Gesetzblatt für das Königreich Bayern, XII. Stück, 4. Juli 1818, Sp. 213–220, hier Sp. 215; Demel, Der bayerische Adel 1750 bis 1871 (wie Anm. 23), S. 138. 60 Demel, Der bayerische Adel 1750 bis 1871 (wie Anm. 23), S. 138; Edict über den Adel im Königreich Bayern vom 26. Mai 1818, in: Gesetzblatt für das Königreich Bayern, XII. Stück, 4. Juli 1818, Sp. 213–220, hier Sp. 214–216. 61 Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert (wie Anm. 13), S. 16. 62 Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert (wie Anm. 13), S. 17.



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meisten deutschen Territorialstaaten bis zum Ende der deutschen Fürstenherrschaft 1918 eine unangefochtene Domäne des Adels. Für kaum eine andere Berufslaufbahn waren männliche Adelige aufgrund ihrer Erziehung und persönlichen Beziehungen mit so vielen Startvorteilen ausgestattet wie für den diplomatischen Dienst.63 So verfügten diese in der Regel über die erforderlichen Sprachkenntnisse und Umgangsformen sowie über zahlreiche familiäre Beziehungen zum Ausland. Das der diplomatischen Profession inhärente Repräsentationserfordernis ermöglichte auf diese Weise die dortige Beibehaltung eines hohen Adelsanteils. Wie Wienfort ausführt, war in den hochadeligen Gesellschaften der europäischen Königshöfe ein bürgerlicher Botschafter allein aus Paritätsgründen nicht tragbar sowie auch ein Angehöriger des niederen Adels dort kaum bestehen konnte. Dementsprechend waren hier diejenigen Adeligen im Vorteil, welche zum hohen Adel mit vielfältigen europäischen Verbindungen zählten.64 Demnach präferierten Adelige zu einem großen Teil die Ämterlaufbahnen, aus welchen vielfach auch die Staatsminister rekrutiert wurden. Denn wie Andrian-Werburg feststellt, handelte es sich bei den Kandidaten, welche bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Bayern in ein Ministeramt berufen wurden, größtenteils um Persönlichkeiten, welche zuvor vor allem in der allgemeinen inneren oder in der Finanzverwaltung und bisweilen im diplomatischen Dienst tätig waren.65 Dabei ist zu berücksichtigen, dass während der Regierungszeit Ludwigs I. bei der Auswahl für das hohe Staatsdieneramt die schulische und berufliche Ausbildung sowie der genealogische und ständische Hintergrund weitgehend gleich gewichtet wurden. Erst ab 1847 finden sich vermehrt personaladelige Amtsträger in den Ministerämtern. AndrianWerburg folgert daraus, dass ab diesem Zeitpunkt die fachliche Ausbildung zu dem leitenden Berufungskriterium avancierte.66 Hier ist zu bedenken, dass die Personalrekrutierungen für die Ministerämter im Jahre 1847 verstärkt mit den Verstrickungen um die Affäre Lola Montez verbunden waren. Innenminister Karl August von Abel (1788–1859) wurde im März 1847 aufgrund seines vehementen Widerstandes gegen die Verleihung des bayerischen Indigenats an die Mätresse des Königs abgelöst. Das neue Ministerium mit Georg Ludwig von Maurer (1790–1872) als Justiz- und Außenminister sowie Friedrich Freiherr Zu Rhein (1802–1870) als Kultusminister wurde aufgrund seiner liberalen Ausrichtung ‚Ministerium der Morgenröte‘ genannt.67 Dem mit dessen Berufung vollzogenen politischen Kurswechsel lagen aber ausschließlich die

63 Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert (wie Anm. 13), S. 22–23. 64 Wienfort, Der Adel in der Moderne (wie Anm. 14), S. 105–106. 65 Andrian-Werburg, Das Königreich Bayern 1808–1918 (wie Anm. 17), S. 51; Andrian-Werburg beruft sich dabei auf: Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 86–120. 66 Andrian-Werburg, Das Königreich Bayern 1808–1918 (wie Anm. 17), S. 50. 67 Max Spindler, Die Regierungszeit Ludwigs I. (1825–1848), in: Spindler/Kraus, Handbuch der bayerischen Geschichte (wie Anm. 6), S. 87–223, hier S. 213.

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persönlichen Motive des Königs zu Grunde.68 Ebenso verhielt es sich, als Ludwig I. im November 1847 das sogenannte ‚Lola-Ministerium‘ mit dem Fürsten von OettingenWallerstein an der Spitze einsetzte.69 Die jeweiligen Berufungen der Minister wurden hier wesentlich durch die persönliche Haltung der Amtsträger gegenüber der Mätresse des Königs beeinflusst. Es ist dabei nicht in Abrede zu stellen, dass am Ende der Amtszeit Ludwigs I. eine höhere Bereitschaft eintrat, hinsichtlich der bisher bei der Ministerberufung strikt gehandhabten Berücksichtigung genealogischer und ständischer Kriterien einen größeren Spielraum einzuräumen. Die akademische und berufliche Ausbildung gewann zunehmend an Relevanz. Ab etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts erhielt bei der Berufung in ein Ministeramt auch die politische Positionierung der einzelnen Persönlichkeiten sowie deren Beurteilung in der Öffentlichkeit eine größere Bedeutung. Damit trat der sogenannte „politische“ Minister70 in Erscheinung. Besonders in den Märztagen 1848 wurde zur Beschwichtigung der ausgebrochenen Unruhen auch in Bayern den personellen Forderungen der liberal orientierten Teile der politischen Öffentlichkeit nachgegeben. Damit vollzogen sich auch im Königreich Bayern die Neubesetzung der Ministerien und der damit verbundene Austausch eines Teils der politischen Führungsebene erstmals nicht nur gemäß dem königlichen Dafürhalten, sondern ebenso unter Berücksichtigung des Willens der Regierten.71 In der liberalen politischen Presse wurden daher sowohl die königliche Proklamation vom 6. März als auch die darauffolgende Berufung Thon-Dittmers zunächst mit Begeisterung begrüßt.72 Bald verlautete an diesen Zugeständnissen jedoch erste Kritik. Denn der „König hat wohl […] die Koncession gemacht, daß er einen populären Minister für die Verwaltung des Innern gewählt, aber zu einem populären Ministerium will er sich nicht verstehen.“73 Ludwig I. fand sich zu einem umfassenden personalpolitischen Wechsel innerhalb seines Ministerrates nicht bereit. Die Entlassung des bisherigen Verwesers des Außen- und Kulturministeriums, Fürst von Oettingen-Wallerstein, am 11. März 1848 war weniger den öffentlichen Forderungen geschuldet, als wiederum vielmehr die Folge des Verhaltens OettingenWallersteins gegenüber Lola Montez.74 So konstatierte Ludwig I., dass er keinerlei Vertrauen zu Wallerstein habe und hielt es für eine „große Freude, ihn fallen zu

68 Albrecht, König Ludwig I. und Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 60. 69 Spindler, Die Regierungszeit Ludwigs I. (wie Anm. 67), S. 214–216. 70 Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 47; siehe auch: Andrian-Werburg, Das Königreich Bayern 1808–1918 (wie Anm. 17), S. 51. 71 Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 11. 72 Allgemeine Zeitung Nr. 67, 7. März 1848, S. 1060–1061; Deutsche Zeitung, Nr. 70, 10. März 1848, S. 556–557; siehe auch: Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 65. 73 Deutsche Zeitung, Nr. 83, 23. März 1848, S. 661; siehe auch: Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 65. 74 Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 65–66.



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lassen.“75 Vor dem Hintergrund der erneut ausgebrochenen Unruhen im Kontext der Gerüchte um eine etwaige Rückkehr der Mätresse des Königs nach München76 dankte Ludwig I. schließlich am 20. März 1848 ab.77 Der Sohn und Thronfolger Maximilian II. fand sich aus machtpolitischen Erwägungen zu weitreichenderen politischen Zugeständnissen bereit.78 Demensprechend kam er den öffentlichen Forderungen nach einer umfassenden Erneuerung des Ministerrates nach. Zunächst erfolgte die Erhebung Thon-Dittmers vom Ministerverweser zum regulären Innenminister. Auf dessen Vorschlag hin, wurde aus den Reihen der Landtagsabgeordneten nach vorherigen Sondierungen ein Teil der weiteren Kandidaten ernannt. Auf diese Weise fanden in Bayern erstmals bei einer Regierungsbildung die Mehrheitsverhältnisse im bayerischen Landtag eine gewisse Berücksichtigung.79 Vom 4. April 1847 bis zum 25. März 1848 waren sämtliche Ministerien lediglich von Verwesern geleitet worden. Nach der personalpolitischen Erneuerung des bayerischen Gesamtstaatsministeriums im März und April 1848 unter Maximilian II. lagen die bayerischen Regierungsgeschäfte wieder in den Händen ordentlicher Minister.80 Ausgehend von diesen grundlegenden Erläuterungen zu den Auswahlkriterien für die Berufung in das höchste bayerische Staatsamt konnte deren sukzessiver Wandel im Kontext der Revolution von 1848 nachvollzogen werden. Im Anschluss wird nun der biografische Hintergrund zweier Mitglieder des bayerischen ‚Märzministeriums‘ dezidierter aufgearbeitet und im Hinblick auf die genannten Qualifikationskriterien untersucht. Der Fokus soll hier zum einen auf Gottlieb von Thon-Dittmer liegen. Diesem kam als dem zuerst berufenen ‚Märzminister‘ bei der personalpolitischen Besetzung der weiteren Ministerien ein gewisser Einfluss zu. Zudem arbeitete er während seiner Amtszeit als Innenminister maßgeblich an den Gesetzesreformen zur verfassungspolitischen Weiterentwicklung des Königreiches Bayern mit. Zum anderen soll der biografische Hintergrund des Grafen Otto von Bray-Steinburg näher erläutert werden. Dieser leitete bis zum April 1849 die Geschäfte des Auswärtigen und agierte in Folge dessen in dem spannungsreichen Aktionsfeld zwischen den einzelstaatlichen Souveränitätsrechten und den umfassenden Machtansprüchen der revolutionären gesamtdeutschen Institutionen.

75 Ludwig I. an Lola Montez, München 12. März 1848, in: Reinhold Rauh/Bruce Seymour (Hrsg.), Ludwig I. und Lola Montez. Der Briefwechsel, München 1995, Nr. 25, S. 139; siehe auch: Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 66. 76 Valentin, Geschichte der Deutschen Revolution (wie Anm. 4), S. 392–396. Besonders die von ThonDittmer eigenmächtig ergriffenen Maßnahmen zur Aufhebung des Indigenats von Lola Montez sollen Ludwig I. von der Notwendigkeit der Abdankung überzeugt haben: Heinz Gollwitzer, Ludwig I. von Bayern. Eine politische Biographie, München 1986, S. 717. 77 Kraus, Die Regierungszeit Ludwigs I (1825–1848) (wie Anm. 34), S. 231. 78 Achim Sing, Die Memoiren Maximilians II. von Bayern 1848–1864, München 1997, S. 153–155. 79 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 273–274. 80 Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 31.

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III Der biografische Hintergrund Otto von BraySteinburgs und Gottlieb von Thon-Dittmers bis 1848 Die vorausgegangenen Ausführungen zu den allgemeinen Qualifikationsmustern der bayerischen Minister legen es nahe, sich bei der Aufarbeitung des persönlichen und politischen Werdegangs der beiden ausgewählten Amtsträger hauptsächlich an diesen Qualifikationsaspekten zu orientieren. Ein Fokus soll daher auf dem genealogisch-ständischen Hintergrund der beiden adeligen ‚Märzminister‘ liegen. Dabei sind vor allem die familiäre Abstammung sowie der Berufsstand der Väter relevant. Gemäß der steigenden Bedeutung des Ausbildungs- und Leistungsprinzips für die Besetzung von Regierungs- und Verwaltungspositionen im 19. Jahrhundert wird zudem der akademische und berufliche Ausbildungsweg Thon-Dittmers und Bray-Steinburgs im Vordergrund stehen. In Folge der zunehmenden Politisierung des Ministeramtes im Kontext der revolutionären Bewegung ist es sinnvoll, auch die politischen Aktivitäten Brays und Thon-Dittmers, ihr Verhältnis zu politischen Institutionen sowie ihre Wahrnehmung in weiten Teilen der politischen Öffentlichkeit vor ihrer Tätigkeit als Minister zu berücksichtigen. Neben den bisher genannten Aspekten sollen weitere grundlegende Sozialisationsbedingungen, welche aussagekräftige Rückschlüsse auf den persönlichen und politischen Erfahrungshorizont Thon-Dittmers und Bray-Steinburgs versprechen, in den Blick genommen werden.81 So wird auch der Einfluss der Generationenzugehörigkeit nicht unbeachtet bleiben. Die jeweiligen historisch begründeten Sozialisationsbedingungen können neben und in Verbindung mit der ständischen und persönlichen Lebenssituation Erklärungsmöglichkeiten für das Handeln von Individuen liefern.82 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Entscheidung für oder wider eine Handlungsvariante durch situative Faktoren beeinflusst wird.83 Wie Best

81 Die Auswahl der näher zu betrachtenden Sozialisationsaspekte erfolgt einerseits in Anlehnung an die von Werner bei ihrer kollektivbiografischen Untersuchung der deutschen „Märzminister“ akzentuierten Kategorien. Werner konzentriert sich neben den politischen Erfahrungsbereichen sowie der Ausbildung und dem beruflichen Werdegang auch dezidiert auf die Herkunft der Minister. Dabei werden neben dem sozialen Stand auch die geografische Herkunft und die Generationenzugehörigkeit der Minister in den Blick genommen. Siehe hierzu: Werner, die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 16–17, 107–108. Andererseits werden darüber hinaus die von Schärl bei dessen Untersuchung zu den bayerischen Ministerien zugrunde gelegten Kategorien der landsmannschaftlichen Herkunft sowie der Konfessionszugehörigkeit berücksichtigt: Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 33–41. 82 Ulrike Jureit/Michael Wildt, Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, S. 9; siehe auch: Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 118. 83 Ulrike Jureit, Generationenforschung, Göttingen 2006, S. 13.



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konstatiert, stellt auch bei politischen Eliten84 Zeitgenossenschaft nur eine notwendige, aber keineswegs eine hinreichende Bedingung für Betroffenheit durch historische Ereignisse oder aktive Teilnahme daran dar. Je nachdem, in welchen Kontexten diese erlebt wurden, erhalten auch „auf den ersten Blick gleichartige biographische Erfahrungen eine sehr unterschiedliche soziale Bedeutung“.85 Zudem wird die geografische Herkunft und die konfessionelle Zugehörigkeit der beiden Minister berücksichtigt werden. Die jeweiligen Ergebnisse sollen mit denen von Schärl auf der Basis der ministeriellen Personalakten für die Personalstruktur der königlich-bayerischen Ministerämter erbrachten Befunden sowie Werners kollektivbiografischen Erkenntnissen zu der personellen Besetzung der ‚Märzregierungen‘ im Deutschen Bund in Relation gesetzt werden. Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer war am 25. Dezember 1802 in Regensburg als Nachkomme einer wohlhabenden und angesehenen Kaufmannsfamilie geboren worden. Im Jahr 1800 waren der Großvater des späteren Innenministers, Georg Friedrich Dittmer (1727–1811), sowie der Vater, der Regensburger Jurist und Handelsherr Karl Christian von Thon-Dittmer (1763–1831), in den Reichsfreiherrenstand erhoben worden. Karl Christian Thon war nach seinem Jurastudium zunächst als Syndikus und Rechnungsrevisor bei dem württembergischen Gesandten am Regensburger Reichstag, Christoph Albrecht Freiherr von Seckendorff (1748–1834), tätig gewesen. Nach seiner Heirat mit der Kaufmannstochter Friederike Amalie Dittmer (1772–1806) im Jahre 1795 hatte er seinen Dienst quittiert und war im Handelshaus Dittmer tätig geworden.86 Somit lässt sich für Gottlieb von Thon-Dittmer einerseits eine weitzurückreichende wirtschaftsbürgerliche Familientradition feststellen. Andererseits ist Thon-Dittmer auch zu der überwiegenden Mehrheit der Minister des Königreiches Bayern zu rechnen, deren Väter eine juristische Ausbildung genossen haben.87 Aufgrund der erst zwei Generationen zuvor erfolgten Erhebung in den Adelsstand ist der spätere Innenminister der Anfang des 19. Jahrhunderts wachsenden Gruppe der Neunobilitierten zuzurechnen.88 Damit stammte Gottlieb von Thon-Dittmer von einer vermögenden patrizisch-adeligen Familie ab, deren Mitglieder eine kultivierte und weitgehend unabhängige Existenz pflegen konnten.89

84 Zum Eliten-Begriff: Eckart Conze: Elite, in: Conze, Kleines Lexikon des Adels (wie Anm. 11), S. 74–77. 85 Heinrich Best, Geschichte und Lebenslauf. Theoretische Modelle und empirische Befunde zur Formierung politischer Generationen im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Andreas Schulz/Gundula Greber (Hrsg.), Generationswechsel und historischer Wandel, Oldenburg 2003, S. 57–69, hier S. 62–63; siehe auch: Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 118–119. 86 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 1. 87 Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 33. 88 Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert (wie Anm. 13), S. 5–6. 89 Albrecht, König Ludwig I. und Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 61.

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Ab 1821 nahm Gottlieb von Thon-Dittmer ein Studium der Rechtswissenschaften in Würzburg auf, das er in Jena und Erlangen fortsetzte.90 Damit zählt er zu den 73 % aller 1848 berufenen ‚Märzminister‘, welche Jura studierten und daher zu der Mehrheit der hochqualifizierten Regierungsmitglieder dieser Zeit gerechnet werden können.91 Für das Königreich Bayern war die generelle Präferenz von Juristen bei der Berufung in ein Ministeramt mit über 97 % überdurchschnittlich ausgeprägt.92 Nachdem er im Anschluss an sein Studium zunächst beim Herrschaftsgericht Wörth als Aktuar gearbeitet hatte, übernahm Thon-Dittmer ab 1826 den Posten eines Domänenassessors bei dem Fürsten Carl Anselm von Thurn und Taxis (1792–1844).93 In Folge dessen gehört er zu denjenigen juristisch vorgebildeten bayerischen Ministern, die ihr Jurastudium vollständig abgeschlossen hatten, jedoch nicht in den direkten Staatsdienst eintraten.94 Dennoch ist er zu den 60,9 % der späteren ‚Märzminister‘ zu rechnen, welche eine berufliche Laufbahn in Justiz und Verwaltung einschlugen. Aufgrund dieser staatsnahen Tätigkeit postuliert Werner für diese Kandidaten eine grundlegend loyale Einstellung gegenüber ihrem jeweiligen Staat.95 Im Jahre 1836 wurde Thon-Dittmer zum Bürgermeister seiner Heimatstadt Regensburg gewählt.96 Diesen Beruf übte er noch bei seiner Berufung in das bayerische ‚Märzministerium‘ aus und zählt somit gleichsam zu den 3 % aller ‚Märzminister‘, welche aus einem Bürgermeisteramt in ein Kabinett berufen wurden. Auch die Tätigkeit eines Bürgermeisters lag einerseits im Einflussbereich des Staates. Andererseits stellte dieses Amt bisweilen auch ein Betätigungsfeld Oppositioneller im Staatsdienst dar.97 In diesem Zusammenhang soll ein Blick auf den durch die Generationenzugehörigkeit bedingten Erfahrungshorizont des späteren Innenministers geworfen werden. In Anlehnung an die von Werner gewählte Generationeneinteilung ist Thon-Dittmer der Generation der zwischen 1799 und 1807 Geborenen zuzurechnen, welcher 36,9 % aller in den deutschen Staaten berufenen ‚Märzminister‘ angehörten. Von diesen Jahrgängen wird angenommen, dass sie, wenn auch nicht mehr unmittelbar an den Befreiungskriegen beteiligt, doch von deren Folgen und mythenhafter kollektiver Aufarbeitung geprägt wurden. Werner folgend, ist von dieser Altersklasse daher grundsätzlich eine verstärkte Sensibilisierung für nationale und liberale Zielsetzungen zu erwar90 Götschmann, Das bayerische Innenministerium (wie Anm. 35), S. 248–249. 91 Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 123–124. 92 Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 41. 93 Rudolf Reiser, Thon von Dittmer, Gottlieb Karl von, in: Karl Bosl (Hrsg.), Bosls bayerische Biographie: 8000 Persönlichkeiten aus 15 Jahrhunderten, Regensburg 1983, S. 776. Seinen ursprünglichen Berufswusch, in den diplomatischen Dienst einzutreten, gab Thon-Dittmer auf, da er aufgrund des Sparkurses von Ludwig I. nicht annahm, in den Staatsdienst aufgenommen zu werden. Siehe hierzu: Finken, Gottlieb von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 8. 94 Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 43. 95 Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 125–126. 96 Walter Killy (Hrsg.), Deutsche Biografische Enzyklopädie, Bd. 10, München 1999, S. 22. 97 Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 130.



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ten.98 Diese generalisierende Schlussfolgerung bedarf im Einzelfall allerdings einer differenzierteren Untersuchung. Daher ist es erforderlich, das Verhältnis Thon-Dittmers zu den politischen Erfahrungs- und Kommunikationsräumen seiner Zeit zu betrachten. Während seiner Studienzeit hatte er die Nähe zu den studentischen Burschenschaften gesucht. So war er 1821 der Alten Würzburger Burschenschaft beigetreten und wurde drei Jahre später Mitglied in der liberal-demokratischen Erlanger Burschenschaft der Bubenreuther.99 Nach Asmus handelt es sich bei den Burschenschaftern um einen Personenkreis, welcher „in exzeptioneller Weise“100 die Herausbildung politischer Überzeugungen und die Bereitschaft zu persönlichem politischem Engagement sowohl während der Studienzeit als auch im späteren Berufsleben aufweist.101 Im Falle Thon-Dittmers verhält es sich so, dass dieser im Laufe seiner späteren Berufstätigkeit zu einer führenden Gestalt des Frühliberalismus avancierte.102 Er war zum Beispiel dem von Hermann von Beisler begründeten Polenkomitee beigetreten, das polnische Flüchtlinge unterstützte. Im Bayerischen Volksblatt äußerte er sich zudem kritisch zu repressiven Regierungsmaßnahmen. Nachdem er 1839 ein Landtagsmandat erworben hatte, trat er dort als Wortführer der Liberalen auf.103 Diese Entwicklung stimmt mit der Feststellung Wienforts überein, dass im Vormärz Adelige im liberalen politischen Lager keineswegs eine Seltenheit darstellten. Die überwiegende Mehrheit dieser Adeligen wiederum war dabei, wie Thon-Dittmer, dem Dienstadel beziehungsweise den Nobilitierten zuzurechnen.104 Die Berufung Thon-Dittmers in das ‚Märzministerium‘ stieß bei den Vertretern des liberalen Bürgertums auf breite Zustimmung. Zugleich erschien er als ein Befürworter der konstitutionellen Monarchie und des Ausgleichs zwischen den Positionen der bayerischen Krone und den nach politischer Partizipation strebenden Teilen der Bevölkerung.105 Daher heißt es in der „Allgemeinen Zeitung“ vom 5. März 1848, dass von „den Männern welche die öffentliche Stimme in tausendfachem Echo als besonders fähig und würdig bezeichnet, das Steuer der Verwaltung in einer so schweren, verhängnisvollen Zeit wie die heutige mit Kraft und Vertrauen zu

98 Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 121–122. 99 Albrecht, König Ludwig I. und Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 62–63; Killy, Deutsche Biografische Enzyklopädie (wie Anm. 96), S. 22. 100 Helmut Asmus, Die studentischen Burschenschaften in der Auseinandersetzung um die bürgerliche Umgestaltung Deutschlands, in: Ders. (Hrsg.), Studentische Burschenschaften und bürgerliche Umwälzung am 175. Jahrestag des Wartburgfestes, Berlin 1992, S. 11–35, hier S. 16. 101 Asmus, Die studentischen Burschenschaften (wie Anm. 100), S. 16–17; siehe auch: Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 139. 102 Reiser, Thon von Dittmer (wie Anm. 93), S. 776; Killy, Deutsche Biografische Enzyklopädie (wie Anm. 96), S. 22. 103 Götschmann, Das bayerische Innenministerium (wie Anm. 35), S. 250; siehe auch: Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 13–14. 104 Wienfort, Der Adel in der Moderne (wie Anm. 14), S. 36. 105 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 268–269.

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führen, […] der Name Thon-Dittmer von allen genannt“ wird.106 Das persönliche und politische Vertrauen, das Thon-Dittmer entgegengebracht wurde, kann nach Werner auch auf seine mit der Bürgermeistertätigkeit verbundene Nähe zu der breiteren Bevölkerung zurückgeführt werden.107 Zudem entspricht die sich über mehrere Generationen erstreckende Sesshaftigkeit der Familie Dittmer in Regensburg der in der politischen Öffentlichkeit artikulierten Forderung nach einheimischen Ministern.108 Entsprechend der landsmannschaftlichen Aufgliederung der bayerischen Zivilminister nach Schärl, ist Thon-Dittmer dabei zu den 35,5 % der für den Zeitraum von 1808 bis 1918 aus Altbayern stammenden Ministern zu zählen. Der größte Teil der zivilen königlich-bayerischen Minister stammte hingegen mit 43,4 % aus Franken.109 Nach seiner Konfessionszugehörigkeit ist Thon-Dittmer der protestantischen Minderheit der königlich-bayerischen Minister und Ministerverweser zuzurechnen, welche vor allem bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts auffallend ist. Neben Thon-Dittmer waren im bayerischen ‚Märzministerium‘ zudem der Justizminister Karl Friedrich Heintz sowie Georg Ludwig von Maurer protestantischen Glaubens. Im Jahr 1849 trat mit Ludwig von der Pfordten (1811–1880) zum ersten Mal ein Protestant an die Spitze des königlich-bayerischen Ministerrates.110 Mit der Berufung des aus Altbayern stammenden Protestanten Thon-Dittmer war das bayerische Innenministerium im März 1848 in die Hände eines konstitutionellliberal gesinnten und bürgernahen Adeligen aus der Gruppe der Neuadeligen übergegangen. Hinsichtlich des Qualifikationsmusters lag bei der Berufung Thon-Dittmers der Fokus wohl auf dessen beruflicher Vorbildung sowie vielfältigen politischen Erfahrungen im Lager der Liberalen. Die Berufung eines Neuadeligen entspricht dabei der um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Bayern zunehmenden Bereitschaft, den genealogisch-ständischen Qualifikationsaspekt weniger streng auszulegen. Der im April 1848 in das Außenministerium berufene Graf Otto von Bray-Steinburg entstammte als Sohn des französischen Diplomaten und bayerischen Reichsrates François Gabriel Graf von Bray (1765–1832) dem ursprünglich in der Normandie 106 Allgemeine Zeitung, Nr. 65, 5. März 1848, S. 1029; siehe auch: Finken, Gottlieb Freiherr von ThonDittmer (wie Anm. 5), S. 268. 107 Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 131. 108 Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 116. 109 Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 34; AndrianWerburg weist allerdings darauf hin, dass sich für diesen Zeitraum bei einer Einrechnung der bayerischen Kriegsminister eine Verschiebung der landsmannschaftlichen Präferenz zu Gunsten der Altbayern ergibt. So ist nach diesen Berechnungen die Mehrheit der königlich-bayerischen Minister den Altbayern mit 38,5 % zuzurechnen, wohingegen 37,4 % aus Franken, sowie jeweils 7,2 % aus Schwaben und der Pfalz stammten. 17,6 % waren außerbayerischer Herkunft. Siehe hierzu: AndrianWerburg, Das Königreich Bayern 1808–1918 (wie Anm. 17), S. 54. 110 Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 40. Der erste protestantische zivile Minister des Königreiches Bayern war 1832 August Freiherr von Gise (1783– 1860), der erste protestantische Kriegsminister Albrecht Besserer von Thalfingen (1787–1839) 1838. Siehe hierzu: Andrian-Werburg, Das Königreich Bayern 1808–1918 (wie Anm. 17), S. 54.



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beheimateten Adelsgeschlechts der Brays.111 Sein Vater war in Folge der französischen Revolution im Jahre 1799 in den diplomatischen Dienst des bayerischen Kurfürstentums eingetreten. Nach dem Erwerb von Grundbesitz in Irlbach bei Straubing 1811 war ein Jahr später durch Maximilian I. Joseph die Erhebung vom Chevalier zum Grafen erfolgt. Die erneute offizielle französische Anerkennung der Abstammung vom alten normannischen Geschlecht der Brays geschah 1819.112 Entsprechend seiner altadeligen Herkunft lässt sich damit für Otto von Bray, wie für die Mehrheit der in der Revolution berufenen adeligen Minister, eine ähnlich große Distanz zu den unterbürgerlichen Schichten wie bei den Vorgänger-Regierungen feststellen. Dass bereits sein Vater als Diplomat im Staatsdienst tätig gewesen war, korrespondiert zudem mit dem Befund Werners, dass die überwiegende Mehrheit der in der Revolution berufenen Minister aus staatsnahen, akademisch geprägten und gut situierten Elternhäusern stammte.113 Als Knabe trat Bray-Steinburg in die königlich bayerische Pagerie ein und erwarb auf diese Weise die Befähigung für den berufsmäßigen Hofdienst.114 Später nahm er in München und Göttingen das Rechtsstudium auf und zählte damit zu der Mehrheit der hochqualifizierten Regierungsmitglieder dieser Zeit.115 Mit dem Jurastudium genoss er zudem, ebenso wie Thon-Dittmer, die für die königlich-bayerische Ministertätigkeit übliche Vorbildung.116 Danach wählte Bray allerdings, wie schon sein Vater, den diplomatischen Dienst des Königreiches Bayern als sein weiteres Betätigungsfeld. Im Juli 1829 bat er um die Aufnahme in diesen Teil des Staatsdienstes, auf den er sich nach eigenen Angaben vor und während seiner akademischen Studien vorbereitet habe und in welchem er sich seinem König und seinem Vaterlande würdig zeigen wolle.117 Sein späterer Eintritt in das Kabinett entspricht dabei dem in weiten Teilen des Deutschen Bunds in den Märztagen üblichen Rekrutierungsmuster, Minister überwiegend entweder unmittelbar aus den Ministerien oder dem diplomatischen Korps zu berufen.118 Im Hinblick auf das generelle Qualifikationsmuster der königlich-bayerischen Minister stellt die vorherige Beschäftigung Brays im diplomatischen Außendienst eher eine Ausnahme als die Regel dar. Für das Königreich Bayern lässt sich festhalten, dass die juristisch vorgebildeten Minister, die in den Staatsdienst ein111 Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 89–90; Karl Alexander von Müller, Bray, Otto Camillus Hugo Graf B.-Steinburg, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 55, Leipzig 1910, S. 680–687, hier S. 680. 112 Ernst Heinrich Kneschke, Neues allgemeines deutsches Adels-Lexicon, Bd. 2, Leipzig 1860, S. 34–35. 113 Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 115. 114 Andrian-Werburg, Das Königreich Bayern 1808–1918 (wie Anm. 17), S. 52; Heigel, Graf Otto von Bray-Steinburg (wie Anm. 19), S. 8. 115 Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 123–124. 116 Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 41. 117 Otto von Bray an Ludwig I., München 6. Juli 1829, Original, BayHStA, München, MInn 75347, Nr. 1. 118 Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 126–127.

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getreten waren, vor allem über den Referatsdienst oder den allgemeinen Dienst der inneren Verwaltung in die Position eines obersten Staatsdieners gelangten.119 Auch das bayerische Außenministerium wurde daher mehrheitlich von diplomatisch nicht speziell geschulten Ministern geleitet.120 Aufgrund der aus dem bayerischen diplomatischen Dienst resultierenden Auslandsaufenthalte seines Vaters war der spätere bayerische Außenminister nicht in Bayern aufgewachsen. Zum Zeitpunkt seiner Berufung in die bayerische ‚Märzregierung‘ hatte Bray-Steinburg in Folge seiner eigenen dienstlichen Stationierung seinen Wohnsitz in St. Petersburg.121 Dennoch war er laut Finken in der bayerischen politischen Öffentlichkeit bekannt und angesehen.122 Nach der von Schärl vorgenommenen landsmannschaftlichen Aufgliederung der königlich-bayerischen Minister ist Bray zusammen mit Montgelas zu den Amtsträgern ursprünglich französischer Herkunft zu rechnen.123 Allerdings war 1813 mit der Erhebung des Vaters François Gabriel de Bray in den bayerischen Grafenstand auch die Eintragung in die bayerischen Adelsmatrikeln erfolgt. Im Juni 1848 erhielt Otto Graf von Bray als Besitzer des in Niederbayern gelegenen Fideikomisses Steinburg-Irlbach zudem von Maximilian II. das Prädikat „Steinburg“.124 Auf diese Weise wurde auch in der Titel- und Namensgebung die nunmehrige bayerische Verortung dieses Familienzweiges dokumentiert. Daher kollidierte Brays Amtsübernahme wohl nicht mit der in der politischen Öffentlichkeit erhobenen Forderung nach einheimischen und mit den jeweiligen landesspezifischen Verhältnissen vertrauten Ministern.125 Konfessionell ist Otto von BraySteinburg wiederum zu der mit 82,9 % überwiegenden katholischen Mehrheit der königlich-bayerischen Minister zu zählen.126 In Anlehnung an die von Werner gewählte Generationeneinteilung gehört auch Bray-Steinburg der Altersklasse der zwischen 1799 und 1807 Geborenen an, welcher immerhin 36,9 % aller in den deutschen Staaten berufenen ‚Märzminister‘ zuzurechnen sind. Werners Schlussfolgerung, dass von den Angehörigen dieser Generation aufgrund der historischen Sozialisationsvoraussetzungen eine verstärkte Sensibilisierung für nationale und liberale Zielsetzungen zu erwarten sei,127 kann bei BraySteinburg nur bedingt aufrechterhalten werden. Ein Blick auf dessen Verhältnis zu 119 Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 43. 120 Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 46. 121 Erika Bosl, Bray-Steinburg, Otto Camillus Hugo Gabriel von, in: Bosl, Bosls bayerische Biographie (wie Anm. 93), S. 90; Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 89–90. 122 Heigel, Graf Otto von Bray-Steinburg (wie Anm. 19), S. 47; Finken, Gottlieb Freiherr von ThonDittmer (wie Anm. 5), S. 275. 123 Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 34. 124 Walter von Hueck (Bearb.), Adelslexikon, Bd. 2, Limburg an der Lahn 1974, (= Genealogisches Handbuch des Adels, Bd. 52), S. 82. 125 Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 116. 126 Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 40. 127 Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 121–122.



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den politischen Kommunikations- und Erfahrungsräumen seiner Zeit kann näheren Aufschluss bieten. Der spätere bayerische Außenminister hatte neben München auch Göttingen als Studienort ausgewählt.128 Damit gehörte er zu den etwa 40 % der ‚Märzminister‘, die nicht oder nicht ausschließlich im Land ihrer späteren Regierungstätigkeit studiert hatten. Werner verweist dabei auf die Ähnlichkeiten zwischen den in der Göttinger juristischen Fakultät im Kontext der Historischen Rechtschule vermittelten konservativen nationalpolitischen Anschauungen und den diesbezüglichen Überzeugungen der dortigen Studenten.129 In Brays Denkwürdigkeiten wird der Ursprung der Letzteren dem verstärkten Kontakt des jungen Brays mit der befreundeten Pariser Familie La Ferronays zugeschrieben, welcher dem Jurastudium unmittelbar vorausging. Im Kontext seines Pariser Aufenthalts habe Bray jene politische Haltung ausgebildet, die ihn einen Ausgleich des Königtums mit den konstitutionellen Forderungen der neuen Zeit anstreben ließ, obwohl ihm Letztere innerlich immer fremd blieben.130 Inwiefern die Wahl des Studienortes Göttingen, an welchem ein erheblicher Einfluss der Historischen Rechtsschule herrschte, Ausdruck der offenbar bereits in Paris ausgeformten politischen Ansichten war, kann nicht mit Sicherheit geklärt werden. Den Kommunikations- und Handlungsformen der sich im Vormärz entwickelnden freiheitlich gesinnten politischen Öffentlichkeit blieb Bray jedenfalls fern. So ist von ihm weder eine Mitgliedschaft in einer der Burschenschaften noch in einem politischen Verein oder publizistischen Organ überliefert. Auch übte er keinerlei parlamentarische Tätigkeit aus. Die politisch relevanten Kontakte Brays entstanden daher wohl in erster Linie im Zuge seines diplomatischen Dienstes, welcher ihn an die Höfe von Wien, St. Petersburg, Paris und Athen führte.131 Diese Tätigkeit war 1846/47 durch seine Berufung als Minister des Äußeren in das Kabinett Karl von Abels unterbrochen worden. Nach dem Bekanntwerden der Affäre Ludwigs I. mit Lola Montez hatte Bray frühzeitig seinen Abschied genommen und war auf seinen Posten nach St. Petersburg zurückgekehrt. Von dort kam er 1848 aufgrund seiner Berufung in das ‚Märzministerium‘ unter Maximilian II. erneut nach München.132 Damit übernahm das Ministerium des Äußeren ein konservativ geprägter Altadeliger, der aufgrund seiner diplomatischen und außenpolitischen Kompetenz allgemein geschätzt wurde, wie Finken feststellt.133 Während für die Berufung Thon-Dittmers besonders dessen politische Tätigkeit in den Reihen der Liberalen ausschlaggebend 128 Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 89–90; Müller, Bray (wie Anm. 111), S. 681. 129 Werner, Die Märzministerien (wie Anm. 5), S. 135–137. Zu den politischen Lehren der historischen Rechtsschule siehe: Helmut Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte. Rechtsentwicklungen im europäischen Kontext, Heidelberg 200510, S. 143–169. 130 Heigel, Graf Otto von Bray-Steinburg (wie Anm. 19), S. 8–9. 131 Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft (wie Anm. 16), S. 89–90; Killy, Deutsche Biographische Enzyklopädie (wie Anm. 96), Bd. 2, S. 92; Müller, Bray (wie Anm. 111), S. 681. 132 Bosl, Bray-Steinburg, (wie Anm. 121), S. 90; Müller, Bray (wie Anm. 111), S. 681. 133 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 275.

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war, scheint bei Bray-Steinburg vor allem seine berufliche Qualifikation und Erfahrung relevant gewesen zu sein. Entsprechend der ausgeprägt repräsentativen Aspekte der diplomatischen und außenpolitischen Aktivität dürften dabei die adelige Abstammung und Sozialisation eine maßgebliche Rolle gespielt haben.

IV Der Einfluss Thon-Dittmers und Bray-Steinburgs auf die bayerische Regierungspolitik 1848/49 Unmittelbar nach seiner Regierungsübernahme versprach Maximilian II. in seiner Thronrede, die er am 22. März 1848 zur Eröffnung des bayerischen Reformlandtags hielt, die rasche gesetzliche Umsetzung zentraler liberaler Forderungen der politischen Öffentlichkeit. Er kündigte unter anderem die unverzügliche Erarbeitung von Gesetzesvorlagen zur Ministerverantwortlichkeit und Pressefreiheit sowie für ein neues Landtagswahlrecht und eine umfassende Justizreform an.134 Diese demonstrative Reformbereitschaft Maximilians II. wurde durch sein ausdrückliches Bekenntnis zum Konstitutionalismus unterstrichen. Da er versicherte, „für [die] Vertretung des Volkes am Bunde ungesäumt Einleitungen getroffen“135 zu haben, schien der neue bayerische Monarch zudem die Notwendigkeit eines gesamtdeutschen Parlaments anzuerkennen. Das grundsätzliche Versprechen des Königs, für „Freiheit und Gesetzmässigkeit“136 eintreten zu wollen, sollte auch für die Amtstätigkeit des neuen Ministeriums gelten. Auf diese Weise wurde das Reformprogramm der ‚Märzregierung‘ mit dem politischen Glaubensbekenntnis des Monarchen verbunden, wie Finken richtig feststellt.137 In der Kammer der Abgeordneten war die Thronrede einerseits begrüßt, andererseits aber als zu wenig fortschrittlich empfunden worden.138 In ihrer Dankadresse vom 27. März 1848 forderten die Abgeordneten daher die Erweiterung der geplanten Reformen um das Recht der Zweiten Kammer auf Gesetzesinitiative, die Aufhebung der gutsherrlichen Gerichtsbarkeit und die Beseitigung des adeligen Jagdrechtes. Zudem wurde eine Steuerreform angemahnt.139 Von dem Ministerkollegium wurden diese Reformwünsche der Abgeordnetenkammer als gerechtfertigt angesehen. Der 134 Maximilian II. von Bayern, Thronrede Seiner Majestät des Königs bei Eröffnung der Ständeversammlung am 22. März 1848, München 1848, S. 4–5. 135 Maximilian II. von Bayern, Thronrede am 22. März 1848 (wie Anm. 134), S. 5. 136 Maximilian II. von Bayern, Thronrede am 22. März 1848 (wie Anm. 134), S. 6. 137 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 282. 138 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 283. 139 Abdruck des Adressentwurfs siehe: Allgemeine Zeitung, Nr. 87, 27. März 1848, S. 1378–1379; Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreiches Bayern 1848, Protokollband 1, München 1848, 1. Sitzung vom 27. März 1848, S. 87–128 und 2. Sitzung vom 27. März 1848, S. 145–186; siehe auch: Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 283.



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Fokus sollte jedoch zuerst auf der Umsetzung der zentralen verfassungspolitischen Märzforderungen liegen.140 Noch in den letzten Märztagen begann das bayerische Gesamtstaatsministerium mit der Ausarbeitung der ersten Gesetzesvorlagen. ThonDittmer beschäftigte sich dabei vor allem mit dem Landtagswahlrecht, der Frage der Ministerverantwortlichkeit und dem parlamentarischen Initiativrecht.141 Daher wird auf diese Aspekte im Folgenden genauer eingegangen. Der von Thon-Dittmer vorgelegte Wahlrechtsentwurf war verhältnismäßig konservativ ausgefallen.142 So sollte die ständische Gliederung der Kammer der Abgeordneten zwar aufgehoben werden, die Wahl aber nach einem indirekten Zensuswahlrecht erfolgen. Zur Urwahl war jeder männliche bayerische Staatsbürger, der das 25. Lebensjahr vollendet hatte, auf keinerlei Fürsorgeleistungen angewiesen war und keine Eintragung in seinem polizeilichen Führungszeugnis aufwies, zugelassen. Für die Wahlmänner galten die gleichen Voraussetzungen. Diese sollten zudem nachweislich mindestens fünf Gulden Jahressteuer entrichten. Für die Übernahme eines Abgeordnetenmandats waren das Staatsbürgerrecht, ein guter Leumund und ein Mindestalter von 25 Jahren erforderlich. Das aktive und passive Wahlrecht war für alle Konfessionen vorgesehen.143 In der Staatsratssitzung vom 25. April wurde die vorgeschlagene Aufhebung der ständischen Gliederung in der Kammer der Abgeordneten angenommen, ein Großteil der von Thon-Dittmer vorgesehenen Wahlbeschränkungen aber verworfen. Das aktive Wahlrecht sollten nun alle volljährigen bayerischen Staatsbürger erhalten, welche eine direkte Staatssteuer bezahlten. Von der Einführung des vorgesehenen Zensus für das passive Wahlrecht der Wahlmänner wurde gänzlich abgesehen.144 Nachdem der so modifizierte Wahlrechtsentwurf von beiden Kammern mit großer Mehrheit angenommen worden war,145 konnte dieser am 4. Juni zusammen mit den Gesetzen über das parlamentarische Initiativrecht und die Ministerverantwortlichkeit im Landtagsabschied verkündet werden.146 Das neue Wahlrechtsgesetz wurde als Bestandteil der Verfassungsurkunde angesehen und konnte demnach nur unter den für Verfassungsgesetze geltenden Bedingungen geändert 140 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 283–284. 141 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 285. 142 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 287. 143 Protokoll der 12. Staatsratssitzung vom 25. April 1848, Beilage II. „Gesetz-Entwurf die GrundBestimmungen für die Wahl der Abgeordneten zur Stände-Versammlung betreffend“, Abschrift, München, April 1848, BayHStA, München, Staatsrat 905, S. 1–8; siehe auch: Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 287. 144 Manfred Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus 1848–1850, Düsseldorf 1977, S. 218. 145 Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreiches Bayern 1848, Protokollband 5, München 1848, 34. Sitzung vom 16. Mai 1848, S. 154; Verhandlung der Kammer der Reichsräthe des Königreiches Bayern 1848, Protokollband 5, München 1848, 21. Sitzung vom 28. Mai 1848, S. 59–60. 146 Abschied für die Ständeversammlung des Königreiches Bayern vom 4. Juni 1848, in: Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1848, Nr. 7, 6. Juni 1848, Sp. 41–55, hier Sp. 46–47 und Gesetz, die Wahl der Landtags-Abgeordneten betreffend, vom 4. Juni, in: Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1848, Nr. 11, 10. Juni 1848, Sp. 77–88.

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werden. Auch deshalb erwies sich das neue bayerische Wahlgesetz als das Dauerhafteste der Revolutionszeit.147 Das Gesetz zur Ministerverantwortlichkeit, welches am 4. Juni verabschiedet wurde,148 zeigte insgesamt eine doppelte Tendenz. Auf der einen Seite sollte es die Stellung der Minister dem Monarchen gegenüber stärken und damit den Einfluss unverantwortlicher politischer Ratgeber zurückdrängen. Auf der anderen Seite wurden auf diesem Wege die Modalitäten festgelegt, unter welchen die Volksvertretung die ministerielle Verantwortlichkeit einfordern konnte.149 So erhielten die Minister ein nicht zu entziehendes Ruhegehalt, um ihre finanzielle und politische Unabhängigkeit zu stärken. Die Annahme eines Ministeramtes sollte zudem nicht verpflichtend sein. Die Verantwortlichkeiten bei der Amtsausübung bezogen sich allerdings sowohl auf verfassungs- und rechtswidrige als auch dem Landeswohl nachteilige Handlungen.150 Auf diese Weise wurde weniger eine strafrechtliche, als eine politische Ministerverantwortlichkeit eingeführt. Denn in den Märztagen hatte die Ansicht, dass eine Regierung forthin in Übereinkunft mit der Kammermajorität geführt werden müsse, zunehmende Verbreitung in der bayerischen Öffentlichkeit gefunden.151 Die von den Abgeordneten geforderte Ausdehnung des parlamentarischen Mitspracherechtes wurde von Thon-Dittmer unterstützt. Daher arbeitete er zunächst einen Gesetzesentwurf zum parlamentarischen Initiativrecht aus, welcher auch die grundsätzliche Möglichkeit bot, die bisherigen verfassungsmäßigen Vorrechte des Monarchen bezüglich der Einberufung, Vertagung und Auflösung der Kammern abzuschaffen.152 Maximilian II. lehnte die Einschränkung des königlichen Privilegs der Gesetzesinitiative jedoch prinzipiell ab. Er befürchtete zusätzliche Verfassungsreformen als Folge eines parlamentarischen Initiativrechts. Da weder in der Proklamation Ludwigs I. vom 6. März 1848 noch in seiner eigenen Thronrede vom 22. März 1848 eine derartige Reform versprochen worden war, sah er für deren Vollzug keine hinreichenden Gründe.153 In der Staatsratssitzung am 26. April 1848 wurde allerdings ein neuer Gesetzesentwurf dargelegt, welcher das vorgesehene Initiativrecht des Landtags 147 Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus (wie Anm. 144), S. 221. 148 Abschied für die Ständeversammlung des Königreiches Bayern vom 4. Juni 1848, in: Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1848, Nr. 7, 6. Juni 1848, Sp. 41–55, hier Sp. 45–46 und Gesetz, die Verantwortlichkeit der Minister betreffend vom 4. Juni 1848, in: Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1848, Nr. 10, 10. Juni 1848, Sp. 69–76. 149 Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus (wie Anm. 144), S. 111. 150 Gesetz, die Verantwortlichkeit der Minister betreffend vom 4. Juni 1848, in: Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1848, Nr. 10, 10. Juni 1848, Sp. 69–76, siehe auch: Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus (wie Anm. 144), S. 112–113. 151 Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus (wie Anm. 144), S. 113–115. 152 Finken, Gottlieb von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 293–294; Thon-Dittmers erster Gesetzesentwurf über die Abänderung des § 7, Titel X der Verfassungsurkunde, München, ohne Datum, Abschrift; das beiliegende Schreiben „Motive für den Gesetzentwurf über die Abänderung des § 7, Titel X der Verfassungsurkunde“ ist auf den 9. April 1848 datiert, Abschrift, BayHStA, München, MJu 13564. 153 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 294.



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deutlich einschränkte und die monarchischen Vorrechte stärkte. Demnach sollte es weiterhin allein dem König obliegen, die Abgeordnetenkammer einzuberufen, zu vertagen oder aufzulösen. Darüber hinaus stand es nach diesem modifizierten Entwurf dem Monarchen zu, mittels eines suspensiven Vetos die Sanktionierung der Gesetze bis zu einem Jahr zu verschieben. Änderungen von Verfassungsgesetzen auf der Grundlage parlamentarischer Gesetzesinitiativen sollten wiederum nur zulässig sein, wenn diese nicht das bestehende Staats- und Gesellschaftssystem sowie die Rechte Dritter betrafen. Für eine Verfassungsänderung war dabei eine dreimalige Beratung in Gegenwart von drei Vierteln beider Kammern und die Beschlussfassung mit Zweidrittelmehrheit vorgesehen. Zusätzlich wurde im Zuge der Staatsratssitzungen eine zwölfjährige Sperrfrist für bereits einmal geänderte Verfassungsgesetze eingeführt.154 Unter diesen Voraussetzungen willigte Maximilian II., wenn auch widerwillig, in die Sanktionierung des Gesetzes ein,155 nachdem es vom bayerischen Landtag angenommen worden war.156 Darüber hinaus arbeitete Lerchenfeld unter Mithilfe Thon-Dittmers die Gesetzesvorlagen für die Ablösung der Grundlasten, die Aufhebung des Lehensverbands und die Beseitigung des Jagdrechts aus.157 Mit der Verabschiedung des Reformgesetzes „die Aufhebung der standes- und gutsherrlichen Gerichtsbarkeit, dann die Aufhebung, Fixierung und Ablösung von Grundlasten betreffend“158 wurde eine grundsätz-

154 Protokoll der 13. Staatsratssitzung vom 26. April 1848, Beilage II. „Gesetz-Entwurf Abänderung des § 7. Tit. X. der Verfassungs-Urkunde betreffend, BayHStA, München, Staatsrat 906, S. 1–3; siehe auch: Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 294–295. 155 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 295–296; Verkündung des Gesetzes siehe: Abschied für die Ständeversammlung des Königreiches Bayern vom 4. Juni 1848, in: Gesetzblatt des Königreiches Bayern 1848, Nr. 7, 6. Juni 1848, Sp. 41–55, hier Sp. 45 und Gesetz, die ständische Initiative betreffend vom 4. Juni 1848, in: Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1848, Nr. 9, 10. Juni 1848, Sp. 61–66. 156 Gesamtbeschluss der Kammer der Staendeversammlung „die staendische Initiative betreffend“, München 26. Mai 1848, Abschrift, BayHStA, München, MJu 13564. 157 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 285. Aufgrund der desolaten finanziellen Situation eines Großteils der Bauern infolge mehrerer Missernten und der Verteuerung der Grundnahrungsmittel sowie unter dem Eindruck der bäuerlichen Unruhen im Zuge der Märzrevolution, hatte das bayerische ‚Märzministerium‘ ein Gesetz über die Fixierung und Ablösung der Grundlasten in Aussicht gestellt: Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 308–311; Wilhelm Volkert, Die Bauernbefreiung in Bayern, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Niederbayern 109 (1983), S. 135–142, hier S. 138–140; Michael Stolleis, Die bayerische Gesetzgebung zur Herstellung eines frei verfügbaren Grundeigentums, in: Helmut Coing/Walter Wilhelm (Hrsg.), Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts, Bd. 3, Frankfurt 1976, S. 44–117, hier S. 97–111. 158 Protokoll der 10. Staatsratssitzung vom 19. April, Beilage I. „Entwurf eines Gesetzes über die Aufhebung, Fixierung und Ablösung von Grundlasten“, BayHStA, München, Staatsrat 903, S. 1–16; Gesetz über die Aufhebung der standes- und gutsherrlichen Gerichtsbarkeit, dann die Aufhebung, Fixierung und Ablösung der Grundlasten vom 4. Juni 1848, in: Gesetzblatt für das Königreiches Bayern 1848, Nr. 13, 13. Juni 1848, Sp. 97–118.

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liche Veränderung der Eigentumsverhältnisse in Bayern vorgenommen.159 In Verbindung mit der Beseitigung der adeligen Grundherrschaft wurde das adelige Jagdrecht aufgehoben.160 Die auf diese Weise in Bayern vollzogene Bauernbefreiung wird von Wilhelm Volkert als „das wichtigste soziale Werk des 19. Jahrhunderts“161 angesehen. Des Weiteren stand die gesetzliche Umsetzung der Pressefreiheit auf der politischen Agenda, wofür sich vor allem Kultusminister Beisler engagierte.162 Das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit war in der Verfassung des Königreiches Bayern von 1818 durchaus garantiert worden.163 Allerdings handelte es sich hier um einen freiwilligen königlichen Gunstbeweis, welcher jederzeit entzogen werden konnte.164 Mit dem königlichen Presseedikt vom 26. Mai 1818 war zudem eine Vorzensur für regelmäßig erscheinende Zeitungen und Schriften eingeführt worden.165 In dem Gesetzesentwurf „über die Freiheit der Presse und des Buchhandels“166 sollte das Presseedikt von 1818 ebenso wie die Zensur aufgehoben werden. Ein etwaiger Missbrauch der Pressefreiheit sollte wiederum durch gesetzliche Vorschriften begrenzt werden können.167 Dieser Entwurf wurde vom bayerischen Staatsrat und der Kammer der Abgeordneten gleichermaßen bereitwillig unterstützt.168 Mit dem Zusatz, dass darüber hinausgehende Einschränkungen der Pressefreiheit auch nicht auf dem Verwaltungswege eingeführt werden könnten, wurde das Gesetz am 4. Juni 1848 im bayerischen Gesetzblatt veröffentlicht.169 In der praktischen Anwendung erfuhr das Gesetz eine rigide Auslegung. Besonders Thon-Dittmer, der sich im Vormärz für die Pressefreiheit engagiert hatte,

159 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 308. 160 Gesetz, die Aufhebung des Lehensverbandes betreffend vom 4. Juni 1848, in: Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1848, Nr. 14, 13. Juni 1848, Sp. 121–126 und Gesetz, die Aufhebung des Jagdrechtes auf fremdem Grund und Boden in den Regierungsbezirken diesseits des Rheins betreffend vom 4. Juni 1848, in: Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1848, Nr. 15, 15. Juni 1848, Sp. 129–134. 161 Volkert, Bauernbefreiung (wie Anm. 157), S. 141; siehe auch: Finken, Gottlieb Freiherr von ThonDittmer (wie Anm. 5), S. 316. 162 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 305. 163 Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern vom 26. Mai 1818, Titel IV., § 11, in: Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte (wie Anm. 49), Nr. 53, S. 155–171, hier S. 162. 164 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 305. 165 Edict über die Freyheit der Presse und des Buchhandels (3. Beilage zu der Verfassungsurkunde des Königreiches Bayern), vom 6. Juni 1818, in: Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1818, X. Stück, 24. Juni 1818, Sp. 181–188. 166 Protokoll der 6. Staatsratssitzung vom 13. April 1848, Gesetzesentwurf eines Edicts über die Freiheit der Presse und des Buchhandels, ohne Datum, BayHStA, München, Staatsrat 899, S. 1–4; Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Bayern, 1848, Beilagenband I, S. 186–189. 167 Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Bayern, 1848, Beilagenband 1, S. 190; siehe auch: Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 305. 168 Protokoll der 6. Staatsratssitzung vom 13. April 1848, Original, BayHStA, München, Staatsrat 899, S. 1–26; Kammer der Abgeordneten, 12. Sitzung vom 19. April, Protokollband 2, S. 169–209. 169 Edikt über die Freiheit der Presse und des Buchhandels vom 4. Juni 1848, in: Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1848, Nr. 12, 13. Juni 1848, Sp. 89–96.



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wandte in seiner Ministertätigkeit repressive Maßnahmen gegen die demokratische Presse an, um die politische Ordnung der ‚Märzregierung‘ zu wahren.170 König Maximilian II. begegnete all diesen Gesetzesentwürfen der ‚Märzminister‘, trotz seiner zuvor beteuerten Reformbereitschaft, mit erheblichem Widerstand. Diese verstärkte ablehnende Haltung des Monarchen wurde von Thon-Dittmer auf den Einfluss des konservativen königlichen Beraterkreises zurückgeführt. Wie Finken daher feststellt, musste sich das neue liberal-gemäßigte ‚Märzministerium‘ von Anfang an gegen die politische Einflussnahme der unverantwortlichen Ratgeber Maximilians II. verwahren.171 Hinsichtlich der Stellung des Königreiches Bayern zur Frage der Deutschen Einheit waren noch vor dem Eintreten Bray-Steinburgs in das bayerische ‚Märzministerium‘ erste richtungsweisende Maßnahmen durch Ludwig I. und den Verweser des Außenministeriums Waldkirch ergriffen worden. So war von Seiten Bayerns in der deutschen Bundesversammlung auf eine Revision der Bundesverfassung gedrängt worden.172 An der in diesem Sinne von Hessen-Darmstadt und Nassau ausgehenden Mission Max von Gagerns (1810–1889) und des Grafen Philipp von Lehrbachs (1789– 1857) sowie den diesbezüglichen Verhandlungen in Dresden und Berlin hatte Bayern durch den Freiherrn Ferdinand von Verger (1806–1867) teilgenommen. Ludwig I. hatte sich nach anfänglichem Zögern bereit erklärt, seinen Gesandten an diesem Verständigungsversuch über die Modalitäten des Zusammentritts und der Wirksamkeit der geplanten Nationalvertretung zu beteiligen.173 Diese Versuche auf der fürstlichministeriellen Ebene der Einzelstaaten eine Bundesreform zu erwirken, scheiterten. Vor diesem Hintergrund erklärte sich die bayerische Regierung zur Durchführung der Wahlen für das Frankfurter Parlament bereit. Dieses Zugeständnis war vor dem Hintergrund der Beschlüsse des Bundestages vom 30. März und 7. April 1848, nach welchen die deutsche Verfassung zwischen den Regierungen und dem Volk vereinbart werden sollte,174 erfolgt. Wie Doeberl richtig feststellt, erkannte die bayerische Regierung die 170 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 306–307. 171 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 285–286. 172 Votum des königlich bayerischen Bundestagsgesandten, die dermalige Lage des deutschen Bundes, insbesondere die Revision der Bundesverfassung betreffend, in der 18. Sitzung der Bundesversammlung vom 13. März 1848, in: Paul Roth/Heinrich Merck (Hrsg.), Quellensammlung zum deutschen öffentlichen Recht seit 1848, Bd. 1, Erlangen 1850, Nr. 25, S. 136–138; siehe auch: Heigel, Graf Otto von Bray-Steinburg (wie Anm. 19), S. 49. 173 Ludwig von Pastor, Leben des Freiherrn Max von Gagern 1810–1889. Ein Beitrag zur politischen und kirchlichen Geschichte des 19. Jahrhunderts, Kempten 1912, S. 215–217. 174 Vortrag des Revisionsausschusses und Beschluss, die Revision der Bundesverfassung, insbesondere die Wahlen von Nationalvertretern betreffend, in der 26. Sitzung der Bundesversammlung vom 30. März 1848, in: Roth/Merck (Hrsg.), Quellensammlung zum deutschen öffentlichen Recht seit 1848, (wie Anm. 172), Nr. 51, S. 188–193; Vortrag des Revisionsausschusses und Beschluss, die Revision der Bundesverfassung, insbesondere die Wahlen von Nationalvertretern betreffend, in der 29. Sitzung der Bundesversammlung vom 7. April 1848, in: Roth/Merck (Hrsg.): Quellensammlung zum deutschen öffentlichen Recht seit 1848, (wie Anm. 172), Nr. 62, S. 220–232; Michael Doeberl, Bayern

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alleinige Beschlusskompetenz des Frankfurter Parlaments bezüglich der deutschen Verfassung nicht an.175 Der Präsident der Nationalversammlung, Heinrich von Gagern (1799–1880), konstatierte hingegen am 23. Mai 1848, dass Beruf und Vollmacht zur Schaffung der Verfassung in der Souveränität der Nation liege.176 Der Beschluss der Nationalversammlung vom 27. Mai 1848 erklärte zudem, dass alle Bestimmungen einzelner deutscher Verfassungen, die mit dem von der Nationalversammlung zu gründenden allgemeinen Verfassungswerk nicht übereinstimmten, nur nach Maßgabe der Letzteren zu betrachten seien.177 Diese unterschiedlich akzentuierten Auffassungen über die verfassungspolitischen Kompetenzen der Frankfurter Nationalversammlung bildeten eine maßgebliche Konfliktquelle zwischen dem deutschen Parlament und der bayerischen Regierung.178 Zunächst nahm die Münchner Staatsführung allerdings aus machtpolitischen Erwägungen eine abwartende und sondierende Haltung gegenüber der Frankfurter Nationalversammlung ein.179 In der Diskussion um die Bildung einer Provisorischen Zentralgewalt im Mai und Juni 1848 hatte die bayerische Regierung die Idee eines dreigliedrigen Direktoriums favorisiert und diesen Gedanken in ihrem „Entwurf einer deutschen Gesamtverfassung“180 weiter ausdifferenziert. Entgegen dieser Vorstellungen wurde die Provisorische Zentralgewalt infolge des „kühnen Griff[s]“181 Heinrich von Gagerns in Form eines deutschen Gesamtministeriums mit einem Reichsverweser an der Spitze geschaffen. Die offizielle bayerische Anerkennung der Provisorischen Zentralgewalt und des Erzherzogs Johann (1782–1859) als Reichsverweser erfolgte am 29. Juni 1848 dementsprechend zögerlich. Diese war in erster Linie ein Zugeständnis an die Person des Erzherzogs und die politischen Forderungen eines Großteils der bayerischen Öffentlichkeit, wie Doeberl feststellt.182 Außenminister Bray erschien die und die deutsche Frage in der Epoche des Frankfurter Parlaments, München 1922, (= Bayern und Deutschland, Bd. 1), S. 56–57. 175 Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 57. 176 Rede Heinrich von Gagerns, Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Nr. 2, 2. Sitzung in der Paulskirche am 23. Mai 1848, in: Franz Wigard (Hrsg.), Stenographische Berichte über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Bd. 1, Frankfurt am Main 1848, S. 15–20, hier S. 17. 177 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Nr. 9, 8. Sitzung am 27. Mai 1848, in: Wigard, Stenographische Berichte (wie Anm. 176), S. 115–155. 178 Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 57. 179 Heigel, Graf Otto von Bray-Steinburg (wie Anm. 19), S. 50. 180 Königlich Baierischer Entwurf einer Gesamtverfassung nebst seinen Motiven, Mai 1848, Frankfurt am Main 1848. 181 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Nr. 24, 23. Sitzung in der Paulskirche am 26. Juni 1848, in: Wigard, Stenographische Berichte (wie Anm. 176), S. 501–529, hier S. 521. 182 Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 58–60; Heigel, Graf Otto von BraySteinburg (wie Anm. 19), S. 50.



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Einrichtung eines Reichsverwesers als eine bedauerliche Lösung.183 Jedoch befürwortete er unter Berücksichtigung der angespannten politischen Situation die Anerkennung und Unterstützung des Erzherzogs Johann.184 Denn die bayerische Regierung war in diesem Zusammenhang vor allem bestrebt, den Eindruck einer grundsätzlichen Ablehnung bezüglich der Einsetzung einer nationalen Zentralgewalt zu vermeiden.185 Dementsprechend hatte die Münchner Regierung bereits am 28. Mai 1848 in der „Allgemeinen Zeitung“ erklären lassen, dass Bayern „als Theil des großen deutschen Vaterlandes, der allgemeinen Stimme folgen und dem allseitig erstrebten Ziele deutscher Einheit offen und ohne Hehl Gewicht und Einfluss zuwenden“186 werde. Als die Bundesversammlung schließlich durch ihren Beschluss vom 12. Juli 1848 dem Reichsverweser bis auf Weiteres ihre verfassungsmäßigen Befugnisse und Verpflichtungen übertrug, unterzeichnete auch der bayerische Gesandte, Freiherr Karl von Closen (1786–1856), im Namen seiner Regierung diesen Beschluss.187 Die Form des Geschäftsverkehrs der Provisorischen Zentralgewalt mit den Einzelstaaten stieß bei der Münchner Regierung bald auf Kritik.188 Am 16. Juli 1848 ordnete der Reichskriegsminister Eduard von Peucker (1791–1876) in einem Erlass an alle Kriegsminister der Einzelstaaten die Huldigung des Reichsverwesers durch die Bundestruppen für den 6. August an.189 Der bayerische Ministerrat nahm an dieser unmittelbaren Adressierung des reichsministeriellen Erlasses an die einzelstaatlichen Kriegsminister Anstoß. Die Münchner Regierung erwog daher, dem Peucker‘schen Ministerialerlass entweder nicht Folge zu leisten, oder den Verfügungsanspruch desselben zu unterlaufen. Dabei sollte die Proklamation des Reichsverwesers durch einen inhaltlich gleichen Tagesbefehl des bayerischen Monarchen ersetzt werden. Thon-Dittmer hegte gegen beide Vorgehensweisen Bedenken und plädierte lediglich für die Verlesung eines königlichen Tagesbefehls zusätzlich zu der Proklamation des Erzherzogs. Diesem Ansinnen wurde von Maximilian II. stattgegeben.190 Allerdings sollte danach wiederum erst dem König und im Anschluss daran dem Erzherzog Johann gehuldigt werden. Thon-Dittmer fügte sich letztlich in diese Vorgehenswei-

183 Otto von Bray-Steinburg an von Closen, München 29. Juni 1848, Konzept, BayHStA, München, MA 1133, Nr. 3. 184 Otto von Bray-Steinburg an Erzherzog Johann, München 3. Juli 1848, Konzept, BayHStA, München, MA 1133, Nr. 10; Otto von Bray-Steinburg an von Closen, München 4. Juli, Konzept, BayHStA, München, MA 1133, Nr. 11. 185 Heigel, Graf Otto von Bray-Steinburg (wie Anm. 19), S. 50. 186 Allgemeine Zeitung, Nr. 149, 28. Mai 1848, S. 2370; siehe auch: Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 48. 187 Beschluss der Bundesversammlung vom 12. Juli 1848, in: Protokolle der Deutschen Bundesversammlung, Bd. 33 (Sitzung 1–70, 7. Januar–12. Juli 1848), Frankfurt am Main 1848, S. 753–757. 188 Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 62. 189 Huldigungserlaß des Reichskriegsministers von Peucker vom 16. Juli 1848, in: Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte (wie Anm. 49), Nr. 89, S. 343–344. 190 Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 62–63.

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se.191 In der „Allgemeinen Zeitung“ wurde in Folge dessen gegen den bayerischen Innenminister der Vorwurf erhoben, dass er die Stellung der Zentralgewalt nicht vorbehaltlos anerkannt habe und die bayerische ‚Märzregierung‘ den Partikularismus und die Reaktion unterstütze.192 Vor diesem Hintergrund geriet die Stellung Thon-Dittmers „als Innenminister ernsthaft ins Wanken“,193 wie Finken feststellt. Diese Tendenz verschärfte sich weiterhin, als der bayerische Innenminister im Zusammenhang mit den in Folge des Waffenstillstands von Malmö auftretenden Septemberunruhen eine scharfe Überwachung der politischen Vereine und der Tagespresse anordnete. So versuchte ThonDittmer mittels der „Neuen Münchner Zeitung“ ein regierungseigenes Presseorgan zu etablieren. Auf diese Weise verlor er laut Finken zunehmend die Unterstützung weiter Teile der liberalen Öffentlichkeit. Andererseits drängte der konservative Beraterkreis um König Maximilian II., besonders der ehemalige Minister Karl von Abel, auf eine weitreichende personalpolitische Umgestaltung des bayerischen Gesamtstaatsministeriums.194 Der bayerische Innenminister wiederum protestierte gegen den immensen Einfluss der inoffiziellen politischen Berater des Königs. Für die wirkungsvolle Amtsausübung eines konstitutionell-monarchischen Ministeriums sei ein ungeteiltes vertrauensvolles Verhältnis zu dem Monarchen eine Grundvoraussetzung, schrieb er an Maximilian II.195 Vor diesem Hintergrund wurde im Herbst 1848 schließlich die Entlassung Thon-Dittmers forciert. Den geeigneten Anlass hierzu boten die Bierkrawalle gegen Münchner Brauereien am 17. und 18. Oktober 1848,196 bei denen die Sicherheitskräfte nicht rechtzeitig eingegriffen hatten. Als Innenminister trug Thon-Dittmer für dieses Versäumnis der Ordnungskräfte die politische Verantwortung. Daher wurde nun auch von Seiten des gemäßigten liberalen Besitzbürgertums dessen Rücktritt gefordert.197 Maximilian II. nahm schließlich eine Umorganisation des bayerischen Gesamtstaatsministeriums vor, in dessen Folge Thon-Dittmer am 14. November 1848 aus seinem Amt entlassen wurde. Die Nachfolge im Innenministerium übernahm der bisherige Finanzminister Lerchenfeld.198 In den nächsten Monaten wurden auch die übrigen Mitglieder der bayerischen ‚Märzregierung‘ nach und nach entlassen. Am längsten konnte Bray-Steinburg sein 191 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 334. 192 Allgemeine Zeitung, Nr. 220, 7. August 1848, S. 3507–3508 und Nr. 224, 11. August 1848, S. 3578– 3579. 193 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 329. 194 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 336–337. 195 Antrag des Staatsministeriums des Inneren an König Maximilian II., München 29. September 1848, Entwurf, BayHStA, München, MInn 44988; siehe auch: Finken, Gottlieb Freiherr von ThonDittmer (wie Anm. 5), S. 337–338. 196 Münchner Neueste Nachrichten aus dem Gebiet der Politik, Nr. 194, 19. Oktober 1848, S. 2257– 2258 und Nr. 195, 20. Oktober 1848, S. 2271–2275. 197 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 339. 198 Valentin, Geschichte der Deutschen Revolution (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 439.



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Ministeramt wahrnehmen. Bis April 1849 standen das Außenressort und damit auch die Frage der außenpolitischen Positionierung Bayerns gegenüber den neuen revolutionären Institutionen in Frankfurt unter dem Einfluss des erfahrenen Diplomaten.199 Unter seiner Mitwirkung hatte die bayerische Regierung dem deutschen Gesamtministerium im Zusammenhang mit den Septemberunruhen ihre bedingungslose Unterstützung zugesichert. Otto von Bray-Steinburg war persönlich nach Frankfurt gereist und hatte dort eine von Maximilian II. genehmigte Erklärung des bayerischen Ministerrates vorgelegt, in welcher sich Bayern bereit erklärte, eine Vermittlung in der Angelegenheit des deutsch-dänischen Waffenstillstands zu übernehmen.200 Als Gegenleistung für diese Unterstützung erwartete sich die Regierung in München von der Provisorischen Zentralgewalt eine bereitwilligere Anerkennung der einzelstaatlichen Souveränitätsrechte. Jene drängte in den folgenden Monaten jedoch vehement auf den faktischen Vollzug der von ihr in Anspruch genommenen umfassenden Verfügungsgewalt.201 So forderte das deutsche Gesamtministerium im Kontext der Ernennung des Frankfurter Abgeordneten Gustav Graf von Keller (1805–1897) zum Reichskommissär für die südwestdeutschen Bundesstaaten, dass sämtliche bayerischen Behörden und Truppen den Verfügungen des Reichsministers des Inneren zur Aufrechterhaltung der Ruhe ungesäumt Folge leisten sollten.202 Der bayerische Bevollmächtigte in Frankfurt, Freiherr von Closen, konnte allerdings die Zulassung eines bayerischen Bevollmächtigten erwirken, mit dem sich der Reichsinnenminister vor dem Erlass Bayern tangierender Beschlüsse zu verständigen habe.203 Im Herbst und Winter 1848/49 traten zunehmend die verfassungsrechtlichen Verhandlungen der Nationalversammlung in den Fokus des Interesses der bayerischen Regierung. Die Debatten und Vorschläge des Verfassungsausschusses der Paulskirchenversammlung riefen wegen der vorgesehenen umfassenden Zuständigkeit der 199 Kriegsminister Weishaupt erhielt am 21. November 1848 seine Entlassung, Lerchenfeld am 19. Dezember 1848. Am 5. März 1849 folgte die Entlassung des Justizministers Heintz, am 4. März 1849 schied Beisler aus seinem Ministeramt aus. Graf Bray wurde am 18. April 1849 aus seinem Amt als Außen- und Handelsminister entlassen: Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus (wie Anm. 144), S. 589–591. 200 Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 65. Erklärung des königlich bayerischen Gesamtstaatsministerium, München 8. September 1848, Original, BayHStA, München, MA 1132, Nr. 39, Fol. 79 r/v; Die Ausfertigung dieser Erklärung wurde Bray, der sich bereits in Frankfurt aufhielt, übersandt: Handschriftliche Notiz Thon-Dittmers zu dem Entwurf derselben Erklärung des königlich-bayerischen Gesamtstaatsministeriums, M[ünchen], 8. September 1848, BayHStA, München, MInn 43856, an Fol. 31 vorne angeheftet. 201 Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 66–67. 202 Schreiben des Reichsministers des Innern von Schmerling an das königlich-bayerische Staatsministerium zu München, Frankfurt 23. September 1848, Abschrift, BayHStA, München, MInn 43857; siehe auch: Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 67–68. 203 Antrag des Staatsministeriums des Innern an Maximilian II., München 26. September 1848, Original, BayHStA, München, MInn 43857; siehe auch: Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 68.

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Reichsregierung sowie dem territorialen Umfang des zu schaffenden deutschen Bundesstaates und der Oberhauptfrage erhebliche Bedenken bei dem bayerischen Mo­­ nar­chen hervor.204 Maximilian II. suchte daher in der Verfassungsfrage verstärkt die Kooperation mit den anderen königlichen Höfen, wobei er zunächst besonders eine Verständigung mit Preußen anstrebte.205 So übersandte der bayerische Monarch dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) im September 1848 den bayerischen Verfassungsentwurf und bat um eine diesbezügliche Rückäußerung,206 worauf er im Oktober 1848 erneut insistierte.207 Auch war es zu verstärkten württembergischbayerischen Sondierungen gekommen. Georg Klindworth (1798–1882) reiste als Abgesandter des Königs von Württemberg nach München und erklärte in Anwesenheit des württembergischen Gesandten, Ferdinand Christoph Graf von Degenfeld-Schomberg (1802–1876), seine Ermächtigung, eine Verständigung in der deutschen Verfassungsfrage zwischen den königlichen Höfen, zunächst zwischen Bayern und Württemberg, anzubahnen. Davon ausgehend sei auf eine Verständigung mit dem König von Preußen hinzuarbeiten.208 Unter Mitwirkung des Grafen Bray erfolgte in Folge dessen die Ausarbeitung einer auf den 21. Oktober 1848 datierten, aber nicht unterzeichneten Punktation, in welcher hinsichtlich der strittigen Oberhauptfrage die Errichtung eines Direktoriums von drei Bundesfürsten gefordert wurde.209 Klindworth sollte diese Auffassung bei seinen darauffolgenden Reisen nach Berlin dem Preußenkönig zur Kenntnis bringen. Der württembergische Agent stieß bei Friedrich Wilhelm IV. hinsichtlich der Punktation durchaus auf Zustimmung. Dennoch kam es nicht zu einer definitiven Einigung in dieser Angelegenheit, da sich der interimistische Leiter des preußischen Außenministeriums, Carl Adolf Hans Graf von Bülow (1807–1869), sowie der preußische Ministerpräsident, Friedrich Wilhelm Graf von Brandenburg (1792–1850), nicht auf weitere diesbezügliche Gespräche einließen. Doeberl sieht einen wesentlichen Grund für die ablehnende Haltung der preußischen Minister auch in der zweifelhaften persönlichen und diplomatischen Reputation des gewählten Unterhändlers.210 Ein wesentliches Anliegen der bayerischen Politik stellte der Verbleib Österreichs in dem entstehenden deutschen Bundesstaat dar. In Folge des Eintritts des Fürsten 204 Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 70–71. 205 Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 79. 206 Maximilian II. von Bayern an Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, Hohenschwangau 21. September 1848, in: Karl Haenchen (Hrsg.), Revolutionsbriefe 1848. Ungedrucktes aus dem Nachlaß König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen, Leipzig 1930, S. 181–182. 207 Maximilian II. von Bayern an Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, Nymphenburg 15. Oktober 1848, in: Haenchen, Revolutionsbriefe 1848 (wie Anm. 206), S. 197–198. 208 Otto von Bray-Steinburg an den Geschäftsträger Freiherrn von Gise in Dresden und den königlichen Gesandten von Lerchenfeld in Berlin, München 21. Oktober 1848, Entwurf, BayHStA, München, MA 1386, Nr. 21; siehe hierzu: Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 80–81. 209 „Punctation das Verfassungswerk des Deutschen Bundesstaats betreffend“, Abschrift, BayHStA, München, MA 1386, ad Nr. 21; siehe hierzu: Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 81, 228–229. 210 Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 83–96.



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Felix von Schwarzenberg (1800–1852) in das österreichische Ministerium und der Übernahme der Krone durch Franz Joseph I. (1830–1916), schien sich die politische Situation Österreichs stabilisiert zu haben.211 Daher erfolgte Ende November 1848 die Entsendung des bayerischen Legationsrates Karl Maria Freiherr von Aretin (1796– 1868) nach Österreich. In einem Handschreiben hatte der König Bray-Steinburg angehalten, Aretin anzuweisen, den Standpunkt des neuen österreichischen Kabinetts in der deutschen Frage in Erfahrung zu bringen. Zudem sollte Aretin dafür Sorge tragen, dass sich Österreich nicht zu weit von Deutschland entferne und „nicht Preußen das Feld überlasse“.212 Am 27. November 1848 konstatierte der österreichische Staatsminister Schwarzenberg, dass „Oesterreich‘s Fortbestand in staatlicher Einheit […] ein deutsches, wie europäisches Bedürfniß“213 sei. Nach dem Rücktritt des großdeutsch orientierten Anton Ritter von Schmerling (1805–1893) und dem Eintritt des die kleindeutsche Lösung favorisierenden Heinrich von Gagerns in die Reichsregierung,214 äußerte die österreichische Staatsführung Ende Dezember zudem ihre entschiedene Ablehnung gegenüber dem Gagernschen Programm des engeren und weiteren Bundes.215 Maximilian II. hatte indessen im Dezember 1848 angeregt, bei den Garantiemächten der Wiener Verträge von 1815 zu sondieren, ob man dort nicht auf die Größe der Gefahr aufmerksam geworden sei, welche für die Weltlage und das ganze europäische Gleichgewicht erwachsen müsse, wenn Österreich oder Preußen zur deutschen Kaiserwürde gelange, und ob man denn nicht gesinnt sei, die Wiener Verträge aufrecht zu erhalten.216 Außenminister Bray hatte in diesem Zusammenhang erhebliche Bedenken geäußert, über eine so heikle Angelegenheit schriftliche Anweisung zu geben.217 Doch erklärte Maximilian II. ihm, dass es zweckmäßig sei, wenn die bayerischen Gesandtschaften in London, Paris und St. Petersburg die europäischen Groß-

211 Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 96; Valentin, Geschichte der Deutschen Revolution (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 214–224. 212 Maximilian II. an Otto von Bray-Steinburg, Nymphenburg November 1848, mit Notiz Brays vom 25. November 1848, dass er in diesem Sinne Aretin geschrieben habe, Original, BayHStA, München, MA 1386, Nr. 36; Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 98. 213 Das Programm von Kremsier dem österreichischen Reichstag vom Ministerium Schwarzenberg vorgetragen, 27. November 1848, in: Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte (wie Anm. 49), Nr. 98, S. 360. 214 Siemann, Die deutsche Revolution von 1848/49 (wie Anm. 7), S. 194. 215 Erwiderung des österreichischen Ministerpräsidenten Fürst Schwarzenberg, 28. Dezember 1848, in: Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte (wie Anm. 49), Nr. 100, S. 362–363. 216 Maximilian II. an Otto von Bray-Steinburg, Nymphenburg 11. Dezember 1848, Original, BayHStA, München, MA 1386, Nr. 47; siehe auch: Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 111, 244. 217 Otto von Bray-Steinburg an Maximilian II., München 12. Dezember, Konzept, BayHStA, München, MA 1386, Fol. 49; siehe auch: Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 111, 244–245.

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mächte an ihre Pflicht, die Wiener Verträge von 1815 zu gewährleisten, erinnerten.218 Dem königlichen Willen folgend, instruierte Bray den bayerischen Gesandten in London, Freiherrn August von Cetto (1794–1879), dementsprechend.219 Dieser äußerte sich in einem Brief an den britischen Außenminister Henry John Temple, 3. Viscount Palmerston (1784–1865) dahingehend, dass der bayerische Monarch einer Neuordnung Deutschlands im Sinne der Kaiseridee nicht zustimme.220 Durch einen Artikel der Deutschen Zeitung vom 8. Februar 1849 wurde der deutschen Öffentlichkeit wiederum berichtet, die bayerische Regierung habe die Garanten der Wiener Verträge gegen die Pläne der Frankfurter Nationalversammlung aufgerufen.221 Johann Maximilian Graf von Arco-Valley (1806–1875), ein Mitglied der Münchner Reichsratskammer, nahm diese Entwicklung zum Anlass einer an Bray gerichteten Interpellation. Bei deren Verhandlung am 17. Februar 1849 wurde zum einen der Vorwurf erörtert, dass sich die Münchner Regierung in einer innerdeutschen Angelegenheit an eine nichtdeutsche Garantiemacht der Wiener Verträge gewandt habe. Zum anderen wurde darüber diskutiert, dass die bayerische Regierung, nach Presseinformationen, von einem Ausscheiden Österreichs aus Deutschland ausgegangen sei.222 Außenminister Bray erklärte daraufhin, der bayerische Gesandte in London habe der britischen Regierung lediglich zur Kenntnis bringen wollen, dass Bayern der geplanten Neugestaltung Deutschlands unter preußischer Hegemonie nicht vorbehaltlos zustimme, wie dies von deren Seite wohl angenommen worden war. Denn ohne die Berücksichtigung der Mitwirkung der Stände könne die bayerische Krone in eine derartige Dezimierung der bayerischen Souveränitätsrechte nicht einwilligen. Zudem betonte Bray in seiner Erwiderung, dass das mögliche Ausscheiden Österreichs aus dem zu gründenden Deutschland von Seiten der bayerischen Regierung stets als das größte Unglück angesehen wurde.223 Trotz dieser Erklärung war die politische Position des Außenministers durch diese Vorgänge destabilisiert worden.224 218 Maximilian II. an Otto von Bray-Steinburg, Nymphenburg 16. Dezember 1848, Original, BayHStA, München, MA 1386, Nr. 59; siehe auch: Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 111, 245. 219 Otto von Bray-Steinburg an Freiherrn von Cetto in London, München 16. Dezember 1848, Konzept, BayHStA, München, MA 1386, Nr. 58; siehe auch: Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 112, 246. 220 Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 112–113, 247–248; Freiherr von Cetto an Otto von Bray-Steinburg, London 26. Dezember 1848, Original, BayHStA, München, MA 1386, Nr. 82; Freiherr von Cetto an Lord Palmerston, London 22. Dezember, Abschrift, BayHStA, München, MA 1386, ad Nr. 82. 221 Deutsche Zeitung, Nr. 39, 8. Februar 1849, S. 305–306. 222 Verhandlungen der Kammer der Reichsräthe 1849, Protokollband 1, Nr. 5. Protokoll der 5. Sitzung der Kammer der Reichsräthe des Königreichs Bayern, München 17. Februar 1849, S. 146–151; siehe auch: Heigel, Graf Otto von Bray-Steinburg (wie Anm. 19), S. 57–58. 223 Verhandlungen der Kammer der Reichsräthe 1849, Protokollband 1, Nr. 5. Protokoll der 5. Sitzung der Kammer der Reichsräthe des Königreichs Bayern, München 17. Februar 1849, S. 152–160; siehe auch: Heigel, Graf Otto von Bray-Steinburg (wie Anm. 19), S. 58–59. 224 Heigel, Graf Otto von Bray-Steinburg (wie Anm. 19), S. 59.



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Der Erlass der österreichischen Regierung vom 9. März 1849, nach welchem die habsburgische Monarchie durch die wenige Tage zuvor oktroyierte Verfassung eine staatsrechtliche Einheit geworden sei und in ihrer Gesamtheit in den Deutschen Bund aufgenommen zu werden wünsche,225 schwächte die großdeutschen Bestrebungen erheblich. Am 28. März 1849 beschloss die Frankfurter Nationalversammlung die Annahme des kleindeutschen erbkaiserlichen Verfassungsentwurfs und wählte den preußischen König zum deutschen Kaiser.226 Die bayerische Regierung wiederum blieb bei ihrer ablehnenden Haltung gegenüber einem preußischen Erbkaisertum und beharrte auf dem Erfordernis, die Verfassung zwischen der Nationalversammlung und den Einzelregierungen zu vereinbaren.227 In diesem Zusammenhang fasste Maximilian II. den Entschluss, ein dezidiert konservativ-partikularistisches ‚Repressionsministerium‘ zu berufen. Für Bray kam der Eintritt in ein Solches nicht in Frage.228 Am 19. April wurde der ehemalige sächsische Minister, Ludwig von der Pfordten (1811–1880), welcher zuvor wiederholt die zentralisierende Reichsverfassung verurteilt hatte, zum Minister des Äußeren ernannt.229 Mit Bray war das letzte Mitglied des im März und April 1848 ernannten bayerischen ‚Märzministeriums‘ aus dem Amt geschieden.

V Fazit Die zu Beginn festgestellte Dominanz adeliger Minister innerhalb der bayerischen ‚Märzregierung‘ korrespondiert mit der in der Adelsforschung häufig konstatierten Fähigkeit des ‚Obenbleibens‘ des Adels auch in politischen Umbruchsituationen.230 Es ist auffallend, dass die adelige Herkunft der Minister auch in den März- und Apriltagen des Jahres 1848 in der breiten politischen Öffentlichkeit eben kein kategorisches Ausschlusskriterium für die Übernahme eines Ministeramtes darstellte. Die Hintergründe dafür sind wohl vor allem in der durch die gehobene Herkunft 225 Erlaß der österreichischen Regierung an den Landesbevollmächtigten bei der Reichszentralgewalt von Schmerling, 9. März 1849, in: Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte (wie Anm. 49), Nr. 105, S. 371–373. 226 Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 134–138; Siemann, Die deutsche Revolution von 1848/49 (wie Anm. 7), S. 197, 203; Valentin, Geschichte der deutschen Revolution (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 370–374. 227 Otto von Bray-Steinburg an den interimistischen Geschäftsträger in Berlin Grafen vom Paumgarten, München 31. März 1849, Entwurf, BayHStA, München, MA 1388, Nr. 37; siehe auch Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 139–140, 255. 228 Heigel, Graf Otto von Bray-Steinburg (wie Anm. 19), S. 59–60. 229 Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 148–149. 230 Rudolf Braun, Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben: Adel im 19. Jahrhundert, in: Wehler, Europäischer Adel 1750–1950 (wie Anm. 23), S. 87–95; Eckart Conze, „Niedergang und «Obenbleiben»“, in: Ders., Kleines Lexikon des Adels (wie Anm. 11), S. 187–188.

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bedingten fundierten Ausbildung, der administrativen beziehungsweise diplomatischen Berufserfahrung und der damit einhergehenden berufsbedingten Staatsnähe der Kandidaten zu suchen. Andererseits war die persönliche politische Bekanntheit und anfangs überwiegend positive Bewertung der jeweiligen Adeligen in der öffentlichen Meinung relevant.231 Für das Innenressort wurde dabei mit dem der Gruppe der Neuadeligen angehörenden Thon-Dittmer ein dezidiert liberaler Politiker gewählt, der bereits während seiner Tätigkeit als Abgeordneter und Bürgermeister für freiheitliche Reformen eingetreten war. Das Außenministerium konnte mit Billigung der Öffentlichkeit hingegen einem Altadeligen, welcher eine gemäßigt-konservative politische Ausrichtung und diplomatische Ausbildung sowie dementsprechende Verbindungen aufwies, überantwortet werden. Thon-Dittmer hatte auf die Umsetzung der in den Märztagen versprochenen Gesetzesänderungen gedrängt. Dabei arbeitete er die Gesetzesentwürfe hinsichtlich der Ministerverantwortlichkeit, des ständischen Initiativrechtes und des Landtagswahlrechts persönlich aus. Auf diese Weise trug er zu einer verfassungsrechtlichen Weiterentwicklung Bayerns bei.232 Dennoch attestiert ihm Doeberl, einen kaum nennenswerten Einfluss auf die bayerische Regierungspolitik ausgeübt zu haben. Er begründet dieses Urteil mit der politischen Inkonsequenz und Unsicherheit des Innenministers, der sich während seiner Amtstätigkeit der Mehrheit der Öffentlichkeit letztlich nicht entschieden liberal genug gezeigt habe.233 Auch Wilhelm Volkert konstatiert, dass Thon-Dittmer den progressiven Kräften nicht liberal genug gewesen sei, während er aus konservativer Sicht wiederum zu reformbereit erschien.234 Götschmann stellt zudem fest, dass Thon-Dittmer, trotz seiner juristischen Ausbildung und vorherigen administrativen Berufserfahrung nur ungenügende Kenntnisse über die Strukturen eines Ministeriums und den ministeriellen Geschäftsgang aufwies. Entscheidend für das Scheitern Thon-Dittmers sei allerdings besonders dessen Mangel an „politische[m] Format“235 und Autorität gewesen. Bray-Steinburg hatte sich während seiner Amtstätigkeit, trotz seiner eher konservativen persönlichen Ausrichtung, um einen politischen Ausgleich zwischen dem bayerischen Souveränitätsstreben und den umfassenden Machtansprüchen der Provisorischen Zentralgewalt und der Frankfurter Nationalversammlung bemüht. Im Zusammenhang mit der von Maximilian II. angeordneten Sondierung Bayerns bei den Garantiemächten der Wiener Verträge von 1815 gegen die kleindeutsche erbkaiserliche Lösung der Deutschen Frage, hatte Bray jedoch in weiten Teilen der politischen Öffentlichkeit erhebliche Sympathieverluste erlitten, wie von Heigel feststellt. 231 Andrian-Werburg, Das Königreich Bayern 1808–1918 (wie Anm. 17), S. 50–51. 232 Finken, Gottlieb Freiherr von Thon-Dittmer (wie Anm. 5), S. 285. 233 Doeberl, Bayern und die deutsche Frage (wie Anm. 174), S. 78. 234 Wilhelm Volkert, Die politische Entwicklung von 1848 bis zur Reichsgründung 1871, in: Schmid, Handbuch der bayerischen Geschichte (wie Anm. 26), S. 235–317, hier S. 248. 235 Götschmann, Das bayerische Innenministerium (wie Anm. 35), S. 252.



Adel in der Zeit des politischen Umbruchs 

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Für den weiteren Verbleib in einem reaktionären bayerischen Gesamtministerium schien er dem bayerischen Monarchen wiederum nicht geeignet.236 Es bleibt festzuhalten, dass in der politisch angespannten Situation des Jahres 1848 hinsichtlich der Übernahme eines Ministeramtes die adelige Herkunft der Amtsträger wohl nicht von grundsätzlich übergeordneter Relevanz war. Denn neben dem Aspekt des genealogischen Hintergrundes war am frühesten in den 1820er Jahren, als Regel ab 1847, gleichermaßen der Faktor der fachlichen Eignung bei der Rekrutierung der Staatsminister hinzugetreten. Mit der Entstehung einer politischen Öffentlichkeit in den 1840er Jahren hatte zudem die politische Ausrichtung und öffentliche Wirkung der Minister zunehmende Bedeutung erhalten.237 Die sich wandelnde Relevanz der Qualifikationsmuster bei der Berufung in ein bayerisches Ministeramt wird durch das parallele Wirken der adeligen Minister Thon-Dittmer und Bray-Steinburg evident. Denn die beiden waren – gleichsam exemplarisch für die Heterogenität des bayerischen Adels – in ihren politischen Ausrichtungen und Erfahrungen sowie nach ihren familiären Hintergründen sehr unterschiedlich akzentuiert. Die Amtstätigkeit beider Minister stand dabei in dem Spannungsfeld der persönlichen politischen Orientierung, der Erwartungen der politischen Öffentlichkeit und der Anweisungen des Monarchen als oberster Dienstherr. Durch die zunehmende Diskrepanz zu der öffentlichen Meinung destabilisierte sich die Position der Minister maßgeblich. Letztlich entscheidend für den Verbleib in einem Ministeramt blieb auch in der Revolution 1848/49 die Übereinstimmung mit den politischen Ansichten des Monarchen. Im Kontext des zunehmenden Erstarkens der fürstlichen Gewalten und der eigenen restaurativen Absichten hatte Maximilian II. keine Verwendung mehr für den liberalen Thon-Dittmer und den konservativ-gemäßigten Bray-Steinburg.

236 Heigel, Graf Otto von Bray-Steinburg (wie Anm. 19), S. 50–60. 237 Andrian-Werburg, Das Königreich Bayern 1808–1918 (wie Anm. 17), S. 50–51.

Christiane Schwarz

Wider den Nationalsozialismus Sozio-strukturelle Betrachtungen zu katholischen Adeligen

I Einführung So überbordend die Widerstandsforschung heute anmutet, so klar zeichnen sich ihre Desiderate ab. Die Rolle des Adels beispielsweise wurde bisher nur rudimentär betrachtet,1 zu stark lag der Fokus auf dem „konfliktreiche[n] Arrangement zwischen Adel und Nationalsozialismus“2 beziehungsweise der „Integration eines eigen-sinnigen Adels in das Herrschaftssystem des NS-Staates“3. Der Zusammenhang von Adeligsein und Konfession ist bisher völlig außen vor geblieben, obwohl eine frappierend hohe Zahl katholischer Adeliger in oppositionellen Kreisen agierte und einschlägige Abhandlungen die Sonderrolle des katholischen Adels immer wieder akzentuieren4. Der folgende Beitrag versteht sich als Plädoyer für eine konfessionell orientierte Adelshistoriografie und möchte auf dem Feld der Widerstandsforschung Neuland betreten. Daher widmet er sich Personen der Opposition5, die katholisch und adelig waren. Im Zentrum des Interesses stehen indes nicht ihre widerständischen Aktivitäten, sondern die sozio-strukturellen Eigenheiten dieser Gruppe. Ökonomische, kulturelle und soziale Kapitalien sowie politische Mentalitäten sollen herausgearbeitet werden, um so die Prämissen katholisch-adeligen Widerstandshandelns aufzuzeigen. Letztlich soll der Frage nachgegangen werden, ob es so etwas wie eine spezi1 Eckart Conze, Adel und Adeligkeit im Widerstand des 20. Juli 1944, in: Heinz Reif (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland, Bd. 2: Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 269–295. In der wichtigen Monografie von Malinowski spielt der Widerstand auf wenigen Seiten eine kleine Rolle, wie überhaupt die Wege des Adels in das „Dritte Reich“, nicht seine Wege zwischen 1933 und 1945 im Blickpunkt stehen: Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003. 2 Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 1), S. 585. 3 Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 1), S. 587. 4 Malinowski spricht von „Milieus, in denen der traditionelle Habitus weitgehend erhalten blieb und damit nicht zuletzt eine adelsspezifische Distanz zum Nationalsozialismus ermöglichte“: Vom König zum Führer (wie Anm. 1), S. 358. Ähnlich Heinz Reif, der dem politisch aktiven katholischen Adel attestiert „zum völkischen Radikalismus wie zum Nationalsozialismus kritische Distanz zu halten“: Heinz Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, 2., um einen Nachtrag erweiterte Auflage, München 2012, S. 112. 5 Unter „Opposition“ wird im Folgenden sowohl „politische Opposition“ wie „gesellschaftliche Verweigerung“ (Löwenthal) verstanden. Zu den Begriffen: Richard Löwenthal, Widerstand im totalen Staat, in: Ders./Patrik von zur Mühlen (Hrsg.), Widerstand und Verweigerung in Deutschland. 1933 bis 1945, Bonn 1997, S. 11–24.



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fisch katholisch-adelige Disposition gab, die eine oppositionelle Haltung im „Dritten Reich“ nahelegte. Dazu werden auf Basis der relevanten biografischen Arbeiten und eigener Quellenstudien im Familienarchiv Aretin (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München) vier bekannte katholische Adelige ins Blickfeld genommen. Es handelt sich um zwei Kleriker und zwei Laien. Sie entstammen alle traditionsreichen adeligen Familien, deren Nähe zum Katholizismus schon darin evident wird, dass ihre Vorfahren für die Zentrumspartei im Reichstag saßen. Zu nennen wäre zum ersten der am 16. März 1878 geborene Clemens Augustinus Joseph Emmanuel Pius Antonius Hubertus Marie Graf von Galen, der als „Löwe von Münster“ bekanntgewordene Prediger gegen die Euthanasiemorde. Er kam als elftes von 13 Kindern des Ferdinand Heribert Ludwig Graf von Galen und der Elisabeth von Galen, geborene Gräfin von Spee in Dinklage, im Münsterland zur Welt. Die Familie gehörte zum katholisch-westfälischen Uradelsgeschlecht Galen, das mit Hermann von Galen zuerst 1138 bis 1146 urkundlich erscheint und dessen Stammreihe mit Rotger von Galen urkundlich 1220 bis 1251 beginnt.6 Zum zweiten soll der zum katholisch-bayerischen Uradelsgeschlecht Preysing gehörende Johann Konrad Augustin Maria Felix Graf von Preysing in Augenschein genommen werden. Als Gegner des NS-Regimes trat er durch zahlreiche Hirtenbriefe und sein Engagement für die verfolgten Juden hervor. Preysing wurde am 30. August 1880 in Kronwinkl als viertes von elf Kindern des Grafen Kaspar von Preysing und der Hedwig von Preysing, geborene Gräfin von Walterskirchen, geboren. Die erste urkundliche Erwähnung des Adelsgeschlechts erfolgte bereits um 1100 mit Gerunch de Prisingan.7 Dritter Protagonist ist Erwein Karl von Aretin, der als Publizist und Monarchist gegen den Nationalsozialismus zu Felde zog. Er repräsentierte das bayerische Adelsgeschlecht Aretin. Die Stammreihe des Geschlechts begann 1769, als der Sohn des armenischen Kleinkönigs, Johann Baptist Christoph von Aretin, von Kurfürst Maximilian III. Joseph in den Freiherrenstand erhoben wurde.8 Schließlich soll Maria Erich August Wunibald Anton Joseph Reinhard Reichserbtruchsess Fürst von WaldburgZeil und Trauchburg untersucht werden. Er verwirklichte seinen Kampf gegen das NSRegime hauptsächlich mit dem Publizisten Fritz Gerlich. Waldburg-Zeil gehörte dem katholisch-schwäbischen hochfreien Uradel Waldburg an. Mit Ebirhardus de Tanne fand um 1170 die erste urkundliche Erwähnung statt. 1601 erfolgte eine Teilung in die Linien Wolfegg und Zeil.9 Methodische Leitlinie der Ausführungen ist die Boudieusche Kapitalsortentheorie, mithin eine Betrachtung adeligen Portfolios nach ökonomischen, kulturellen und sozialen Gesichtspunkten.10 6 Genealogisches Handbuch des Adels (GHdA), Gräfliche Häuser A Bd. VII, Bd. 56 der Gesamtreihe, Limburg an der Lahn 1973, S. 182–192. 7 GHdA, Gräfliche Häuser Bd. VIII, Bd. 63 der Gesamtreihe, 1976, S. 318. 8 GHdA, Freiherrliche Häuser B Bd. III, Bd. 31 der Gesamtreihe, 1963, S. 4–10. 9 GHdA, Fürstliche Häuser Bd. XII, Bd. 85 der Gesamtreihe, 1984, S. 378–396. 10 Dazu zum Beispiel: Pierre Bourdieu, Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg 1997, S. 49ff.

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II Wohlstand Genau lässt sich das ökonomische Kapital im Fall der Familie Waldburg-Zeil taxieren. Sie war reich in Bayern und Württemberg begütert. Der Gesamtbesitz an Wald und Grund des Hauses Waldburg-Zeil-Trauchburg betrug im Jahr 1900 Schätzungen zufolge 4.000 bis 4.500 Hektar, wovon etwa 2.500 Hektar Waldbesitz waren. Im Jahr 1903 kam es zu einer Verdoppelung des Grundbesitzes, als die Linie Waldburg-ZeilWurzach erlosch. Das „Stammgut Wurzach“ wurde 1909 in einem Prozess durch eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart dem Fürsten Waldburg-Zeil-Trauchburg übertragen. Der Gesamtbesitz lag zu diesem Zeitpunkt bei nahezu 9.000 Hektar11 und damit auf ähnlichem Niveau wie etwa der des schlesischen Magnaten Franz Graf von Ballestrem, der zu den reichsten Männern Preußens gehörte12. Schuldenprobleme der Vergangenheit13 schienen keine Rolle mehr zu spielen. Die beiden geistlichen Adeligen stammten aus wohlhabenden Uradelsfamilien mit hohem Fideikommissvermögen.14 Als nachgeborene Söhne erhielten sie freilich nur einen Erbanteil. Vor allem mittelbar können Aussagen über ihr ökonomisches Kapital getroffen werden: Die Finanzen der Familie Galen etwa erscheinen auskömmlich. Clemens von Galens Vater Ferdinand vertrat als Reichstagsabgeordneter die politischen Interessen der Katholiken im Wahlkreis Vechta-Cloppenburg. Seine Pflichten als Fideikommissherr schienen mit seinem politischen Engagement durchaus vereinbar. Dies kann als erster Hinweis auf den Besitz hoher zeitlicher und ökonomischer Ressourcen gedeutet werden.15 Die 13 Kinder der gräflichen Familie genossen eine standesgemäße schulische Ausbildung. Der damit einhergehende Wohnortswechsel und die Unterbringung der Kinder in einem Internat stellten keine Hürde dar. Auch das sich anschließende Studium war aus standesgemäßen Motiven eine Selbstverständlichkeit, die von den Eltern finanziert wurde.16 Trotz des relativen Wohlstands der Familie herrschte auf der Burg Dinklage, dem Wohnsitz der Familie, freilich eine „spartanische“ Lebensweise. Bedürfnislosigkeit und Einfachheit waren die Maximen, die sich auch in der Ausstattung der Burg widerspiegelten. So gab es auf der Burg keine Wasserleitung und kein Badezimmer, auch wurden die wenigsten Räume beheizt.17 Ein ähnliches Bild zeichnet sich bei der Betrachtung der Familie Preysing ab, die traditionsgemäß zu den größten adeligen Grundbesitzern in Bayern zählte. Über 11 Andreas Dornheim, Adel in der bürgerlich-industrialisierten Gesellschaft. Eine sozialwissenschaftlich-historische Fallstudie über die Familie Waldburg-Zeil, Frankfurt am Main 1993, S. 419f. 12 Hermann Ehren, Graf Franz von Ballestrem, Breslau 1935, S. 29f. 13 Walter-Siegfried Kircher, Ein fürstlicher Revolutionär aus dem Allgäu. Fürst Constantin von Waldburg-Zeil 1807–1862, Kempten 1980, S. 127. 14 Heinrich Portmann, Kardinal von Galen. Ein Gottesmann seiner Zeit, Münster 198618, S. 28; www. deutsche-biographie.de/sfz97324.html [03.03.2013]. 15 Portmann, Galen (wie Anm. 14), S. 45. 16 Portmann, Galen (wie Anm. 14), S. 36–42. 17 Portmann, Galen (wie Anm. 14), S. 29.



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Jahrhunderte hinweg hatten die Mitglieder der Familie zahlreiche bedeutende Funktionen im Hof-, Staats- und Militärdienst inne.18 1914 verfügte allein der Fideikommissbesitzer der niederbayerischen Güter Moos, Niederhatzkofen und Loham, zu denen Brennereien, Brauereien und zusammen 2.551 Hektar Land gehörten,19 über ein Vermögen von sieben Millionen Mark und ein Jahreseinkommen von 0,28 Millionen Mark20. Einige biografische Angaben indizieren den finanziellen Wohlstand der Familie Preysing. Die Mutter verreiste jährlich in den Sommermonaten mit jeweils zwei ihrer Kinder in Gebiete außerhalb Bayerns, beispielsweise an die Ostsee.21 Die große Anzahl von Besitztümern auch außerhalb des Stammsitzes im bayerischen Kronwinkl deutet darauf hin, dass die Familie weitgehend frei von finanziellen Schwierigkeiten war. Auch die Tatsache, dass allen elf Kindern hohe Bildungsmöglichkeiten eingeräumt wurden, fundiert dies. Die gräflichen Söhne besuchten ab dem Alter von neun Jahren das städtische Gymnasium in Landshut und wurden deshalb unter der Woche in einem, der Familie gehörenden Haus am Dreifaltigkeitsplatz untergebracht, um ihnen den langen Schulweg zu ersparen.22 Galens und Preysings spätere berufliche Tätigkeiten als Seelsorger und Bischöfe sicherten ihnen regelmäßige Einkommen, die weit über der Norm lagen. Etwas anders lagen die Verhältnisse bei Erwein von Aretin. Er wuchs als Sohn des schlossbesitzenden Juristen Anton von Aretin auf, der im Jahr 1880 eine Versetzung an das Bezirksamt in Kissingen als Bezirksamtsassessor von König Ludwig I. erhielt. Aufgrund weiterer Versetzungen des Vaters lebte die Familie unter anderem in Regensburg und Landshut. Die Schulbildung am Gymnasium und die Ausbildung in der königlich-bayerischen Pagerie in München lassen Rückschlüsse darauf zu, dass die Familie Wert auf eine standesgemäße Ausbildung ihrer Kinder legte.23 Hinweise auf das Fehlen finanzieller Mittel liegen nicht vor, weshalb wohl davon ausgegangen werden kann, dass das familiäre Umfeld Aretins „wohlhabend“ war.24 Die eigene Familie ernährte Aretin im Wesentlichen mit den Einnahmen seiner journalistischen Tätigkeit, die er ab 1922 bei den „Münchner Neuesten Nachrichten“ ausübte. Berücksichtigt man, dass er als zweitgeborener Sohn nicht der Haupterbe der Familie war,

18 www.deutsche-biographie.de/sfz97324.html [03.03.2013]. 19 Bayerischer Landwirtschaftsrat (Hrsg.), Handbuch des größeren Grundbesitzes in Bayern, München 1907, S. 219f. 20 Rudolf Martin, Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Bayern, Berlin 1914, S. 27. 21 Bernhard Schwerdtfeger, Konrad Kardinal von Preysing. Bischof von Berlin, Berlin 1950, S. 13. 22 Schwerdtfeger, Preysing (wie Anm. 21), S. 14f. 23 Karl Otmar von Aretin und Maria King (Hrsg.), Der Dichter und sein Astronom. Der Briefwechsel zwischen Rainer Maria Rilke/Erwein von Aretin, Frankfurt am Main/Leipzig 2005, S. 11f. 24 Gerhard Wulz, Der Überzeugungs-Schreiber. Erwein von Aretin: bayerischer Patriot, Monarchist, Katholik und Nazi-Gegner, in: Unser Bayern. Heimatbeilage der Bayerischen Staatszeitung, 51, 2002, S. 166–168, hier S. 166.

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konnte man ihn aus finanzieller Sicht durchaus dem Kleinadel zuordnen, wenn dies auch keinesfalls bedeutete, dass er am Existenzminimum lebte.25

III Erziehung zu Frömmigkeit, Bescheidenheit und Einsatz für Schwache Die Adeligen einte eine strenge Erziehung zum katholischen Glauben, die in Verbindung mit klaren Erziehungsgrundsätzen wie Konsequenz, Disziplin und Bescheidenheit stand. So fungierten die Eltern Galens als Vorbild für ein unerschütterliches Gottvertrauen und eine enge Bindung an den Papst. Täglich beteten die Eltern nach dem nachmittäglichen Spaziergang in der Kapelle den Rosenkranz. Auf Empfehlung Papst Leos XIII. hin führte der Vater Ferdinand diesen zudem als Abendgebet ein, an dem alle Hausbewohner teilzunehmen hatten. Die Eltern gingen zunächst an jedem Sonn- und Feiertag und später häufig täglich zur heiligen Kommunion.26 Für die Kinder gehörten die Vorbereitung und die wöchentliche Ablegung der Beichte zu den Primärerfahrungen. Für Galen begann jeder Tag mit dem Besuch der heiligen Messe. Zuspätkommen oder gänzliches Fernbleiben wurde mit Nahrungsentzug konsequent geahndet.27 Die Mutter schien jedes ihrer 13 Kinder persönlich und mit großer Gewissenhaftigkeit im Katechismus unterrichtet zu haben. Galen selbst äußerte sich über die fruchtbare Lehre der Mutter, dass er sich bewusst war, „in der Gymnasialzeit, auch bei den Jesuiten in Feldkirch, kaum noch Neues an Wissen und Verständnis der Glaubenswahrheiten gewonnen zu haben.“28 Zur ersten heiligen Kommunion schenkte Elisabeth von Galen ihren Söhnen die „Nachfolge Christi“. Das Werk des Thomas von Kempen aus dem 15. Jahrhundert kann als Anleitung zur Nachfolge Christi verstanden werden. Die darin enthaltene Betonung der Distanz zu den vergänglichen Dingen der Welt wurde früh an die Kinder herangetragen. Die Lektüre und Wertschätzung des Buches in der Familie verdeutlicht den asketischen Charakter der Galenschen Erziehung.29 Nach Ansicht der Eltern sollten Härte und Schlichtheit die Kinder zu einfachen, festen und unbeugsamen Individuen formen.30 So berichtete der bürgerliche Sohn eines benachbarten Lehrers, dass in der gräflichen Familie Galen Speisen und Getränke weniger üppig ausgefallen seien als in der eigenen. Galens Biograf Portmann erzählt von der großen Freude der Kinder, wenn der Vater zwei Apfelsinen von

25 Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 1), S. 376f. 26 Portmann, Galen (wie Anm. 14), S. 27f. 27 Portmann, Galen (wie Anm. 14), S. 30f. 28 Clemens von Galen, zitiert nach: Portmann, Galen (wie Anm. 14), S. 31. 29 Max Bierbaum, Nicht Lob nicht Furcht. Das Leben des Kardinals von Galen nach unveröffentlichten Briefen und Dokumenten, Münster 19849, S. 22f. 30 Portmann, Galen (wie Anm. 14), S. 28f.



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einer Reise mitbrachte.31 Trotz des autoritären Erziehungsstils gab es indes nur selten Strafen, da die Kinder den ernsten Tadel des Vaters sehr fürchteten und allein der Gedanke, die Eltern zu betrüben, die Kinder in den meisten Fällen von Versuchungen abhielt.32 Wenig anders gestalteten sich das alltägliche Leben und die Erziehung in der Familie Preysing. Die starke Betonung des Religiösen äußerte sich ebenso wie im Hause Galen im täglichen Besuch der Messe, die in der Schlosskapelle abgehalten und vom Vater nur bei Temperaturen von unter minus 18 Grad Celsius abgesagt wurde. Die Mutter Preysings legte großen Wert auf das gemeinsame Familiengebet mit ihren Kindern, welches sie gewöhnlich jeden Abend in der Kapelle vorbetete.33 Darüber hinaus schien sie sich vorbildhaft und tatkräftig im Katholischen Frauenbund engagiert zu haben und gründete mehrere Zweigvereine in Landshut, Moosburg, Bamberg und anderen bayerischen Orten.34 Zur Frömmigkeit gehörte das soziale Engagement: Galens Vater etwa unterstützte viele Hilfsbedürftige, indem er gemäß dem Gedanken der Vinzenzvereine die Armen in ihren Häusern besuchte und verpflegte. Die Bittsteller, die regelmäßig die gräfliche Burg aufsuchten, wurden von der Mutter mit Almosen oder ermunternden Worten versorgt. Die Armenfürsorge war aber nicht nur den Eltern vorbehalten. Früh lernten die Kinder, sich aus christlichen Motiven heraus sozial zu engagieren. Die Mädchen halfen beispielsweise der Mutter beim Nähen von Kleidung, die zu Weihnachten an arme Familien verschenkt wurde.35 Die Erziehung in Kronwinkl war außerdem von einem strengen Gerechtigkeitssinn und einer zuchtvollen, auf Demut und Mäßigung setzenden Lebensauffassung geprägt. Ähnlich wie in der Familie Galen zeichneten sich die Mahlzeiten auf dem Schloss mehr durch Schlichtheit und Knappheit, als durch Üppigkeit und Luxus aus. Auch bei der Kleidung wurde auf einen verschwenderischen Umgang verzichtet.36 Der Vater Preysings gerierte sich als starke Autorität und sah es als seine Pflicht an, die Familie nicht nur zu ernähren, sondern für seine Kinder Erzieher und Vorbild zu sein. Nach seinem frühen Tod übernahm die Mutter die Aufgabe, die zehn noch unmündigen Kinder zu versorgen und zu erziehen. Dabei standen ihr ein Kinderfräulein aus Irland und Gouvernanten aus dem Elsass zur Seite. Sie vertrat stets die Ansicht, dass Konsequenz das Grundprinzip der Erziehung sein müsse und die Kinder von klein auf an Pünktlichkeit und Ordnung gewöhnt werden sollten. Ein schwächliches Nachgeben stand bei ihr außer Frage.37 Preysing hielt in einem Gedenkheftchen fest, dass die Mutter den Kindern auf Reisen keine Wünsche erfüllte, wenn jene beispielsweise plötzlich Hunger oder Durst verspürten. Gemäß dem Motto „Es fällt euch kein Perl‘ aus der Kron‘“ sorgte sie dafür, 31 Portmann, Galen (wie Anm. 14), S. 29. 32 Portmann, Galen (wie Anm. 14), S. 29f. 33 Wolfgang Knauft, Konrad von Preysing. Anwalt des Rechts, Berlin 1998, S. 18ff. 34 Knauft, Anwalt des Rechts (wie Anm. 33), S. 20. 35 Portmann, Galen (wie Anm. 14), S. 33f. 36 Portmann, Galen (wie Anm. 14), S. 11f. 37 Schwerdtfeger, Preysing (wie Anm. 21), S. 5–8.

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dass ihre Kinder nicht rund um die Uhr von Bediensteten umsorgt wurden, sondern im alltäglichen Leben mithelfen und anpacken mussten.38 Aufgrund fehlender oder bisher nicht erschlossener Quellen lässt sich die spezifische Prägung durch das Elternhaus im Falle Aretin und Waldburg-Zeil weitaus weniger genau und ausführlich nachzeichnen. Familiengeschichtliche Hinweise lassen jedoch Rückschlüsse auf die starke Betonung des Religiösen zu. Die Zugehörigkeit der Familie Aretin zum katholischen Teil des bayerischen Adels, der generell eine katholisch-konservative Gesinnung besaß, kann als Anzeichen für eine ausgeprägte katholische Erziehung gedeutet werden.39 Aretins Interesse und die Beschäftigung mit dem Fall der stigmatisierten Therese Neumann können als Hinweise auf seinen tiefen Gottesglauben gedeutet werden.40 Auch im Falle Waldburg-Zeil lohnt ein Blick in die Familiengeschichte, um Hinweise über die tiefe Verankerung des Religiösen zu erhalten. Zahlreiche Vorfahren Waldburg-Zeils betätigten sich in der Politik. Sein Urgroßvater Erbgraf Constantin von Waldburg-Zeil, „streng katholisch, ganz nach den theologischen und pädagogischen Prinzipien der katholischen Erneuerung und in Skepsis gegenüber der Aufklärung erzogen“41, trat 1831 gegen das Staatskirchentum ein. Er initiierte zudem die Errichtung eines katholischen Knabenerziehungsinstitutes in der Gemeinde Neutrauchburg, welches von Waldburg-Zeils Großvater Fürst Wilhelm von Waldburg-Zeil frequentiert wurde. Es ist anzunehmen, dass die strenge katholische Erziehung, die Constantin Waldburg-Zeils Aussagen zufolge „die beste Garantie für geordnete gesellschaftliche Verhältnisse“42 war, über Generationen hinweg praktiziert wurde. Daher dürfte der katholische Glaube auch in der Erziehung Waldburg-Zeils eine zentrale Rolle eingenommen haben.43

IV E(rnste)-Kultur und Prägewirkung des ländlichen Milieus In der Familie Galen wurden regelmäßig historische oder religiös-philosophische Werke rezitiert. Daneben blieb ausreichend Zeit für Lyrik und Literatur. Die Mutter verlas im Kreise der Familie häufig die Werke katholischer Dichter oder Romanschrift38 Schwerdtfeger, Preysing (wie Anm. 21), S. 8. 39 Karl Otmar von Aretin, Der bayerische Adel. Von der Monarchie zum Dritten Reich, in: Martin Broszat (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit. Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, München 1981, S. 513–540, hier S. 514ff. 40 Erwein von Aretin, Krone und Ketten. Erinnerungen eines bayerischen Edelmannes, München 1955, S. 15f. 41 Walter-Siegfried Kircher, „Katholisch vor allem“? Das Haus Waldburg und die katholische Kirche vom 19. ins 20. Jahrhundert, in: Mark Hengerer (Hrsg.), Adel im Wandel, Bd. 1, Ostfildern 2006, S. 289. 42 Constantin Waldburg-Zeil, zitiert nach: Kircher, „Katholisch vor allem“? (wie Anm. 41), S. 293. 43 Kircher, „Katholisch vor allem“? (wie Anm. 41), S. 288–293.



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steller.44 Im Hause Preysing sorgte aufgrund des frühen Todes des Grafen Kaspar die Mutter für die geistige Betätigung ihrer Kinder. Als Hofdame am kaiserlichen Hof in Wien konnte sie weitreichende Kontakte knüpfen und ihre bereits vorhandene solide Allgemeinbildung ausdehnen. Ihre Liebe zu Literatur, Geschichte, Kunst, Musik und den Fremdsprachen wollte sie an ihre Kinder weitergeben. Deshalb gehörte auch außerhalb der festgesetzten Unterrichtsstunden die Berührung mit Literatur, Kunst und Musik zu den Primärerfahrungen der Preysingschen Kinder. Bei Tisch wurde häufig französisch gesprochen. Am Abend musizierte die gräfliche Familie regelmäßig unter der Leitung der Mutter, die am Klavier vor allem Werke von Schumann und Schubert spielte und sang.45 Zu den Bekannten der Familie gehörte Annette von Droste-Hülshoff. Preysing schien stark von der regen Geistigkeit der Mutter profitiert zu haben. Er beherrschte einige Fremdsprachen fließend und kannte zahllose Gedichte, Zitate oder Anekdoten.46 Aretin entwickelte aufgrund der Abstammung der Familie von einem ausländischen Königshaus schon als Jugendlicher ein reges Interesse für Genealogie. 1912 veröffentlichte er zusammen mit seiner Mutter Maria von Aretin eine Abhandlung mit dem Titel „Pro Memoria“, in der die armenische Abstammung der Familie urkundlich nachgewiesen wurde.47 Auch Waldburg-Zeil zeichnete sich durch ein besonderes historisch-wissenschaftliches Interesse aus. Als junger Mann begann er, sich eine Bibliothek anzuschaffen, die einen beträchtlichen Umfang erreichen sollte.48 Essentiell für die vier Adeligen war die Prägung durch den ländlichen Raum. Die Wasserburg Dinklage etwa war umzäunt von der unberührten Natur und der Schönheit des Landgutes der Familie Galen. Dort erlebte Galen eine unbeschwerte und einfache Kindheit. „Heufahren, Ausflüg[e] mit Eselwagen, Ausritt[e], Osterfeu[er] [und] Schlittschuhlaufen“ gehörten zu den alltäglichen Erfahrungen.49 Dabei lernte Galen die Natur mit ihrer Vielfalt an Pflanzen, Blumen, Kräutern sowie Tieren zu Land und zu Wasser kennen. Graf Ferdinand von Galen unterrichtete seine Söhne im Alter von etwa zehn Jahren im Reiten. Einige Jahre später durften die jungen Männer an der Jagd teilnehmen, die bei Galen eine große Leidenschaft entfachte.50 Als Theologiestudent bedauerte er oft, dass seine Pflichten nicht mit der Jagd vereinbar waren.51 Weitläufige Wiesen, Wälder und Parks gehörten 44 Ingrid Lueb, Zwei Menschen „mit festem Charakter“. Die Brüder Clemens August und Franz von Galen und die elterliche Richtschnur, in: Hubert Wolf u.a. (Hrsg.), Clemens August von Galen. Ein Kirchenfürst im Nationalsozialismus, Darmstadt 2007, S. 28-53, hier S. 43. Ludger Grevelhörster, Kardinal Clemens August Graf von Galen in seiner Zeit, Münster 2005, S. 9. 45 Schwerdtfeger, Preysing (wie Anm. 21), S. 6–10. 46 Schwerdtfeger, Preysing (wie Anm. 21), S. 8ff. 47 Aretin, Krone und Ketten (wie Anm. 40), S. 7f. 48 O. A,, Auf Geradem Wege. Dem Fürsten Erich August von Waldburg zu Zeil und Trauchburg zum Gedächtnis, in: Neues Abendland 8, 1953, Heft 7, S. 387–396, hier S. 389. 49 Bierbaum, Nicht Lob nicht Furcht (wie Anm. 29), S. 11f. 50 Portmann, Galen (wie Anm. 14), S. 31ff. 51 Bierbaum, Nicht Lob nicht Furcht (wie Anm. 29), S. 65f.

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auch zu den Primärerfahrungen Preysings. Das Schloss Kronwinkl lag malerisch inmitten der bewaldeten Isarhänge Niederbayerns. Kaspar von Preysing ließ seine Kinder an den eigenen Verpflichtungen als Gutsherr teilhaben, um ihnen den Reichtum der Natur vor Augen zu führen. Es verwundert daher nicht, dass Preysing sich in der Kindheit die Namen zahlreicher Blumen und Bäume aneignete und die Vögel an ihrem Gesang erkennen lernte.52 Auch der Familienwohnsitz der Walburg-Zeil, das Schloss Zeil, lag abgeschieden von der Ortschaft Leutkirch. Die Besitztümer waren umzäunt von weiträumigen Wiesen, Wäldern und Parks, die land- und forstwirtschaftlich genutzt wurden.53 Ergänzt wurden die Naturerfahrungen durch die ausgeprägte Religiosität des dörflichen Umfelds. Die Heimat Galens etwa lag im Münsterland, welches seine katholische Tradition bereits vor den Zeiten des Kulturkampfes vehement verteidigt hatte. Der Kirchenkalender strukturierte das Leben der Dorfbewohner. Besonders beeindruckend empfanden die Galenschen Kinder das Fronleichnamsfest, das den Angaben Galens Schwester Paula zufolge „zu den allerschönsten Jugenderinnerungen“ gehörte.54 Die geschmückten Straßen und Altäre, die Fahnen, das Geläute und die Böller dienten der Huldigung Gottes. Der Gang der gräflichen Familie direkt hinter dem Allerheiligsten demonstrierte die klare Sozialhierarchie des Ortes.55 Dennoch intendierten die Eltern die Integration ihrer Kinder in die dörfliche Gemeinschaft. Das Spiel mit den Dorfkindern und der gemeinsame Kommunionsunterricht stellten daher keine Ausnahme dar. Die Beherrschung des Plattdeutschen trug einen Teil dazu bei, dass die gräflichen Kinder ohne Probleme Anschluss fanden und von den bürgerlichen Kindern kaum unterschieden werden konnten.56 Preysings Kindheit im katholischen Niederbayern war ebenso unbeschwert und fröhlich. Allerdings lassen sich einige Abweichungen feststellen. Die Abgeschiedenheit der Burg in Kronwinkl verhinderte möglicherweise den alltäglichen Kontakt mit bürgerlichen Kindern aus dem näheren Umfeld. Die Kindheitserinnerungen Preysings konzentrieren sich jedenfalls in erster Linie auf die zahlreichen Geschwister in Kronwinkl.57 Aus der Reihe fällt Aretin. Seine Geburtsstadt Bad Kissingen zählte 1887, im Jahr seiner Geburt, zwischen 7.000 und 9.000 Einwohner, dürfte aufgrund des frühen Umzugs jedoch einen zu vernachlässigenden Einfluss auf ihn ausgeübt haben.58 Die Regierungstätigkeit des Vaters führte zu einem mehrmaligen Wohnortswechsel der Familie. Sie zog zunächst nach Landshut und später nach Regensburg.59 In diesen 52 Schwerdtfeger, Preysing (wie Anm. 21), S. 4ff. 53 Dornheim, Adel in der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 428 und S. 419f. 54 Paula von Galen am 29. Mai 1921, zitiert nach: Bierbaum, Nicht Lob nicht Furcht (wie Anm. 29), S. 19. 55 Bierbaum, Nicht Lob nicht Furcht (wie Anm. 29), S. 19f. 56 Portmann, Galen (wie Anm. 14), S. 32f. 57 Schwerdtfeger, Preysing (wie Anm. 21), S. 12. 58 https://www.statistik.bayern.de/statistikkommunal/09672114.pdf [04.04.2013], S. 6. 59 Karl Otmar/Aretin und Martina King (Hrsg.), Der Dichter und sein Astronom. Der Briefwechsel zwischen Rainer Maria Rilke und Erwein von Aretin, Frankfurt am Main 2005, S. 11f.



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bayerischen Städten hielt eine gemäßigte Industrialisierung Einzug, die wohl auch differierende religiöse und weltanschauliche Erfahrungswelten parat hielt.60 Allerdings ist anzunehmen, dass die Besitztümer der Familie in Haidenburg in Niederbayern und in Neuburg an der Kammel häufig frequentiert wurden.

V Ausbildung zwischen Standestreue und nichtadeliger Norm Gemäß adeligem Standard besuchten die Kinder der Familie Galen und Preysing keine Volksschule. Sie wurden auf den Eigentümern der Familie von Hauslehrern und Geistlichen unterrichtet, um eine elementare Schulbildung zu erhalten.61 Entgegen der in der Forschung konstatierten häufigen Geringschätzung des Erziehungspersonals waren die Hauslehrer in den Familien Galen und Preysing sehr angesehen.62 Die Existenz eines Erziehungspersonals ist bei den Familien Aretin und Waldburg-Zeil nicht nachweisbar. Allerdings ist aufgrund des traditionell adeligen Erziehungsmusters davon auszugehen, dass die Kinder der Häuser Aretin und Waldburg-Zeil ebenfalls von Hauslehrern unterrichtet wurden, bis sie auf ausgewählte Gymnasien wechselten.63 Galen und sein Bruder Franz erhielten ihre humanistische Bildung von 1890 bis 1894 am Jesuitenkolleg „Stella Matutina“ in Feldkirch in Vorarlberg. Das Internat war eine von meist wohlhabenden katholischen Adelsfamilien frequentierte Schule, welche die im Elternhaus grundgelegte Frömmigkeitserziehung der Kinder fortzuführen vermochte. Da in Deutschland während des Kulturkampfes keine Ordensschulen zugelassen waren, fiel die Wahl häufig auf die angesehene Privatschule in Österreich.64 Die Jesuiten als Träger der Schule sahen ihren Auftrag seit jeher in der Mission sowie im Bemühen um den Aufstieg der Kirche im weltlichen Bereich. So verwundert es nicht, dass die von der „Gesellschaft Jesu“ getragene Einrichtung eine ganzheitliche und strenge Erziehung ausübte, die darauf abzielte, die Zöglinge hinsichtlich zukünftiger Führungspositionen in Kirche oder Gesellschaft zu qualifizieren. Von Bedeutung war ebenfalls die Erziehung zu gegenseitiger Rücksichtnahme und sozialem Miteinander.65 Aber auch die körperliche Ertüchtigung spielte eine besondere Rolle in Feldkirch. Ein Schwimmbad, diverse Sport- und Spielanlagen sowie ein Landgut trugen ihren Teil dazu bei. Neben sportlichen Aktivitäten wie 60 www.statistik.regensburg.de/publikationen/publikationen/Jahrbuch/jahrbuch_2011.pdf [15.04.2013], S. 20f, 62. 61 Portmann, Galen (wie Anm. 14), S. 30; Schwerdtfeger, Preysing (wie Anm. 21), S. 8. 62 Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 1), S. 77f. 63 Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 1), S. 73. 64 Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 1), S. 85; Wienfort, Adel in der Moderne, Göttingen 2006, S. 124. 65 Grevelhörster, Kardinal Galen (wie Anm. 44), S. 13f.

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Schwimmen, Fußball, Rodeln, Eislaufen oder Wandern wurden auch musikalische oder schauspielerische Tätigkeiten nicht vernachlässigt.66 Zum religiösen Leben der Schule gehörten die tägliche Feier der Heiligen Messe, die feierliche Gestaltung kirchlicher Feste, die Erziehung zur Papsttreue sowie eine innige Verehrung der Mutter Gottes, die Galen mit dem Eintritt in die Marianische Männerkongregation bezeugte und vertiefte.67 Nach anfänglichen Problemen gelang es Galen schnell, sich in seinem neuen Umfeld zurechtzufinden. Zum Schuljahr 1894/1895 wechselte er mit seinem Bruder Franz an das katholische Gymnasium Antonianum in Vechta im Oldenburger Münsterland, um das Abitur abzulegen. Grund dafür war die fehlende Anerkennung der Jesuitengymnasien durch die preußische Regierung. Die Brüder verbrachten die beiden Jahre unter der Woche in Vechta bei dem geistlichen Professor Brägelmann, der sich gewissenhaft um sie sorgte. An den Wochenenden besuchten die gräflichen Söhne regelmäßig die Familie im nur 15 Kilometer entfernten Dinklage.68 Im Gegensatz zu Galen erhielten die Adeligen Preysing, Aretin und WaldburgZeil ihre humanistische Bildung an weltlichen Gymnasien: Preysing wechselte 1889 im Alter von neun Jahren auf das königlich-bayerische humanistische Gymnasium in Landshut. Seine älteren Brüder besuchten die Schule ebenfalls und wohnten daher in einem Haus am Dreifaltigkeitsplatz, um den täglichen langen Schulweg zu umgehen. Das Haus war in Besitz der Familie Preysing und wurde von einer alten Dienerin sowie einem strengen Hofmeister bewohnt, die sich um das Wohl der Kinder sorgten.69 Preysing zeigte im unterrichtlichen Alltag besonderes Interesse für Geschichte, Fremdsprachen und Deutsch, während ihn der Mathematik- und auch der Religionsunterricht nur entfernt tangierten. Preysing betonte indes, dass aufgrund der damals vorherrschenden geistesgeschichtlichen und politischen Situation „religiös eine eiskalte Atmosphäre“ herrschte. Marianische Männerkongregationen waren in Bayern zu dieser Zeit untersagt. In zweiwöchigem Abstand waren lediglich der Empfang der heiligen Kommunion sowie das Ablegen der Beichte vorgeschrieben.70 WaldburgZeil verbrachte seine Gymnasialzeit am Max-Gymnasium in München. Dort wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine „ausgeprägte katholische Familienerziehung“ um die humanistische Komponente ergänzt.71 Während der Gymnasialzeit Waldburg-Zeils trat eine neue Schulordnung in Kraft, die mit einer Erhöhung der Gesamtstundenzahl einherging. Moderne Fremdsprachen, der mathematisch-naturwissenschaftliche

66 Bernhard Löcher, Das österreichische Feldkirch und seine Jesuitenkollegien „St. Nikolaus“ und „Stella Matutina“. Höheres Bildungswesen und Baugeschichte im historischen Kontext 1649 bis 1979, Mainz 2006, S. 189f, 217f und 222–230. 67 Grevelhörster, Kardinal Galen (wie Anm. 44), S. 13f. 68 Portmann, Galen (wie Anm. 14), S. 39f. 69 Schwerdtfeger, Preysing (wie Anm. 21), S. 14f. 70 Schwerdtfeger, Preysing (wie Anm. 21), S. 15. 71 O. A., Auf Geradem Wege (wie Anm. 48), S. 388.



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Unterricht sowie die Turnstunden wurden deutlich aufgestockt, während die Lateinstunden eine Kürzung erfuhren.72 Einen eher klassischen Ausbildungsweg legte Aretin zurück: Er erhielt seine humanistische Bildung an den Gymnasien in Landshut und später in Regensburg. Im Alter von 14 Jahren wechselte er an die königlich-bayerische Pagerie in München, wo er 1906 das Abitur ablegte. Er folgte damit der Familientradition, denn bereits sein Großvater, Vater und auch der ältere Bruder wurden in der Erziehungsanstalt erzogen.73 Die Edelknabenschule sah ihren Auftrag darin, jungen Adeligen eine gediegene und umfassende Erziehung zu ermöglichen. Die adelige Herkunft galt als Aufnahmekriterium und musste durch eine Ahnenprobe nachgewiesen werden.74 Genaue Anweisungen regelten den Tagesablauf. Neben dem gymnasialen Unterricht gehörten Militärunterricht, Turnen, Exerzieren, Kleinkaliberschießen, Fechten, Tanzen, Reiten und Schwimmen zu den täglichen Verpflichtungen. Aber auch religiöse Pflichten waren fester Bestandteil des Tagesablaufs und wurden von geistlichen Präfekten überwacht. Jene waren zusätzlich für die Verhängung von Strafen zuständig, falls es zu Disziplinschwierigkeiten kam.75 Alle Adeligen begannen nach der Schule ein Studium. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entsprach die Entscheidung zu einem Studium durchaus dem adeligen Standard, sofern die Familien nicht eine Karriere der Söhne im militärischen Bereich intendierten.76 Bei der Betrachtung der Studiengänge der untersuchten Adeligen fällt aber auf, dass das Gros „typisch adelige“ Fächer wie Jura, Geschichte oder Theologie77 wählte. Lediglich Aretin traf mit dem Studium der Mathematik und Astronomie eine außergewöhnliche Wahl.78 Weder für Galen noch für Preysing stand aber die Berufung zum Dienste Gottes a priori fest. Galen studierte auf Wunsch des Vaters zunächst an der katholischen Universität in Freiburg in der Schweiz zwei Semester Philosophie und Geschichte.79 Von besonderer Bedeutung für seinen weiteren Lebensweg sollte sich für Galen der Aufenthalt in Rom herausstellen, der sich an die Freiburger Zeit anschloss. Durch die Begegnung mit der Ewigen Stadt, ihren erhabenen Gassen, Plätzen, Kirchen und Gebäuden, und schließlich durch die Teilnahme an der Papstmesse schienen sich für Galen alle im Elternhaus vermittelten Werte und religiösen Wahrheiten bewahrheitet zu haben. Seine Liebe und Ehrfurcht vor der Kirche und 72 Winfried Bauer (Hrsg.), Chronik. 150 Jahre Maximiliansgymnasium 1849–1999, München 1999, S. 24f. 73 Wulz, Überzeugungs-Schreiber (wie Anm. 24), S. 166. 74 Otto von Waldenfels, Die Edelknaben der Churfürstlich und Königlich Bayerischen Pagerie von 1799–1918, München 1959, S. 9f. 75 Waldenfels, Edelknaben (wie Anm. 74), S. 9–12. 76 Wienfort, Adel in der Moderne (wie Anm. 64), S. 125. 77 Eckart Conze, Von deutschem Adel. Die Grafen Bernstorff im 20. Jahrhundert, Stuttgart/München 2000, S. 305; Wienfort, Adel in der Moderne (wie Anm. 64), S. 125f. 78 Conze, Von deutschem Adel (wie Anm. 77), S. 305. 79 Portmann, Galen (wie Anm. 14), S. 40f.

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dem geistlichen Stand, die ohnehin selbstverständlich für ihn waren, intensivierten sich durch den Besuch in Rom.80 Der Entschluss zum Studium der Theologie löste auch in Preysings Kreisen durchaus Unverständnis aus. Preysing hatte sich nach dem Abitur für ein Jurastudium an der Universität in München entschieden, um später im Staatsdienst tätig zu sein.81 Nach dem Abschluss seiner juristischen Ausbildung entschied er sich gegen den Richterdienst und wurde aufgrund der weitreichenden familiären Verbindungen als Assessor im Bayerischen Staatsministerium des Äußeren angestellt. Nach kurzer Zeit führten auch seine Wege nach Rom, wo er als Legationssekretär der bayerischen Gesandtschaft tätig war. Dort gelang es ihm, als Diplomat bedeutende Kontakte zu knüpfen und Einblick in internationale Beziehungen zu erhalten, die seinen Horizont deutlich erweiterten.82 So fasste wohl auch Preysing in Rom den Entschluss, sein Leben Gott zu widmen. Verantwortlich hierfür könnten die damals geführten innerkirchlichen Kontroversen um die Reformbewegungen der Kirche unter Papst Pius X. gewesen sein. Wenngleich Preysing an den Diskussionen nur als Laie teilnahm, erregte die Diskrepanz zwischen den konservativen Reformbemühungen und den Modernismus-Anhängern sein besonderes Interesse. Aber auch die Stadt mit ihren zahlreichen Kunst- und Kulturschätzen sowie ihrer langen Geschichte übte eine besondere Faszination auf ihn aus.83 Die Wege Galens und Preysings führten nach ihrer Berufung zu Gott schließlich nach Innsbruck. Beide studierten dort an der Theologischen Fakultät Canisianum, die unter der Leitung der „Gesellschaft Jesu“ stand. Sie besaß weltweit großes Ansehen, weshalb Studenten aus Europa, Übersee und Russland das Konvikt frequentierten. Neben der nationalen Vielfalt herrschte auch in weltanschaulicher, kultureller und ständischer Hinsicht Verschiedenartigkeit.84

VI Politische Mentalität im Zeichen des Neuthomismus Politik spielte in den untersuchten Adelsfamilien traditionell eine große Rolle. So war beispielsweise für einen charakteristischen Vertreter des westfälischen Adels, wie Ferdinand von Galen, politisches Engagement eine adelige Pflicht und Selbstverständlichkeit, die er aus der patriarchalischen Sichtweise des Adels ableitete.85 Der 80 Portmann, Galen (wie Anm. 14), S. 41ff. 81 Schwerdtfeger, Preysing (wie Anm. 21), S. 16f. 82 Schwerdtfeger, Preysing (wie Anm. 21), S. 17ff. 83 Knauft, Anwalt des Rechts (wie Anm. 33), S. 22f. 84 Maria Anna Zumholz, Die Tradition meines Hauses. Zur Prägung Clemens August Graf von Galens in Elternhaus, Schule und Universität, in: Joachim Kuropka (Hrsg.), Clemens August Graf von Galen. Neue Forschungen zum Leben und Wirken des Bischofs von Münster, Münster 1992, S. 11–30, hier S. 21. 85 Wienfort, Adel in der Moderne (wie Anm. 64), S. 44.



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in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stattfindende Kulturkampf veranlasste den streng katholischen Adeligen zu einer antimodernen und ultramontanen Geisteshaltung. Neben seiner Teilnahme an den jährlich stattfindenden Generalversammlungen der deutschen Katholiken vertrat er zunächst als Zentrumsabgeordneter im Landtag und von 1873 bis 1902 als Reichstagsabgeordneter die katholischen Interessen in der Öffentlichkeit.86 Seine Intention, die durch den Liberalismus atomisierte Gesellschaft wieder in die rechten Bahnen zu weisen, trat dabei deutlich zutage.87 Der erste signifikante sozialpolitische Antrag der deutschen Parlamentsgeschichte trägt seinen Namen.88 Ferdinand von Galen bemühte sich sehr darum, dass die Sprösslinge an seinem Leben und seinen Studien teilnahmen. Deshalb stellte beispielsweise die Lektüre meist katholischer Zeitungen ein morgendliches Ritual dar. Politische und kirchliche Ereignisse aus der näheren Umgebung oder ganz Europas dienten als Grundlage für Diskussionen und Gespräche in der Familie, an denen sich Galen lebhaft beteiligte.89 Die frühe Konfrontation mit sozial- und kirchenpolitischen Fragestellungen und Problemen führte bei Galen zu einem regen Interesse für Politik, das er zeitlebens behalten sollte. Das Vorbild seines Vaters hatte ihn gelehrt, dass politisches Engagement Teil des adeligen Selbstverständnisses darstellte.90 Ähnlich sah die Situation im Hause Preysing aus. Auch dort nahm politisches Engagement eine bedeutende Position ein. Über die Jahrhunderte hindurch hatten sich die Mitglieder des bayerischen Uradelsgeschlechts in Politik und Kirche betätigt. Gemäß dieser Tradition engagierte sich Preysings Vater Kaspar im 19. Jahrhundert als königstreuer bayerischer Nationalist und sprach sich gegen den Anschluss Bayerns an das Bismarcksche Reich aus. Nach der Reichsgründung 1871 setzte er im Gegensatz zu vielen seiner Standesgenossen die politische Tätigkeit als Abgeordneter der bayerischen Volkspartei fort. Er und sein Bruder Conrad, der Taufpate Konrads von Preysing, vertraten als Landtags- und als Zentrumsabgeordnete des Deutschen Reichstags die katholischen Interessen.91 So erfolgte die Konfrontation mit politischen Fragestellungen der Zeit auch bei Preysing nebenbei und alltäglich. Sie führte dazu, dass er zu einem aufmerksamen Ver-

86 Lueb, Zwei Menschen (wie Anm. 44), S. 45. 87 Lueb, Zwei Menschen (wie Anm. 44), S. 44f. 88 Der „Antrag Galen“ vom März 1877 forderte die Sonntagsruhe ebenso wie das Verbot der Kinderarbeit und eine Regelung der Frauenbeschäftigung. Schiedsgerichte mit gewählten Arbeitnehmervertretern waren vorgesehen, um Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu schlichten, Fabrikinspektoren zu wählen und Normalarbeitstage beziehungsweise Minimalarbeitslöhne zu verhandeln. Handwerker und Fabrikarbeiter sollten sich zu Genossenschaften zusammenschließen. Zur Sozialpolitik der Zentrumspartei in der Bismarckära demnächst ausführlich: Markus Raasch, Der Adel auf dem Feld der Politik. Das Beispiel der Zentrumspartei in der Bismarckära (1871–1890), [Düsseldorf 2014]. 89 Grevelhörster, Kardinal Galen (wie Anm. 44), S. 9. 90 Lueb, Zwei Menschen (wie Anm. 44), S. 49ff. 91 Schwerdtfeger, Preysing (wie Anm. 21), S. 5f.

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folger vor allem kirchenpolitischer Tagesereignisse wurde.92 Nicht anders gestaltete sich die Situation bei Aretin und Waldburg-Zeil: Aretins Großvater, Peter Carl von Aretin, gehörte zu den Mitbegründern der Zentrumspartei. Sein Onkel Ludwig und auch sein Cousin Heinrich waren als Zentrumsabgeordnete im Reichstag tätig.93 Die Funktion vieler Familienmitglieder als königlich-bayerische Kämmerer entsprach der katholisch-konservativen Einstellung der Familie.94 In der Familie Waldburg-Zeil gab es ebenso zahlreiche Mitglieder, die sich als Politiker für die Interessen der Katholiken einsetzten. Constantin von Waldurg-Zeil gehörte ebenfalls zur Kulturkampf-Generation der Zentrumspartei. Erich von Waldburg-Zeils Vater Georg engagierte sich als Mitglied in der der Ersten Kammer in Württemberg und Bayern.95 Politische Leitidee für die vier Adeligen war dabei nicht zuletzt das naturrechtliche Denken des Thomas von Aquin. Galen begegnete der Naturrechtslehre schon im Elternhaus. Die Auseinandersetzung mit dem Gedankengut des in der Familie verehrten Großonkels Wilhelm Emmanuel von Ketteler führte zur Identifikation mit neuthomistischen Ideen.96 Jener betrachtete das Naturrecht als unabdingbare Voraussetzung für die Freiheit des Menschen.97 Galens philosophische Studien in Freiburg konfrontierten ihn dann erneut mit den Ideen des Thomas von Aquin. Das dortige theologische Studienprogramm basierte auf den Schriften des heiligen Thomas.98 Und auch an der Theologischen Fakultät in Innsbruck spielten diese eine zentrale Rolle.99 Die Internalisierung des Naturrechtsgedankens führte bei Galen in besonderem Maße dazu, dass er jedes Staatswesen daraufhin untersuchte und beurteilte, ob es das natürliche Recht berücksichtigte. Die Beachtung des Gottesrechts und des daraus deduzierten christlichen Sittengesetzes bildeten für ihn den Maßstab zur Beurteilung einer legitimen Staatsform.100 Vor diesem Hintergrund ist auch Galens Einstellung zur Weimarer Republik zu sehen. Obwohl er nach dem Umsturz 1918 eine monarchische Staatsform präferiert hätte, überprüfte er die neue Staatsform hinsichtlich der Umsetzung und Beachtung christlicher Grundsätze. Das Wahlrecht interpretierte er als eine im Natur92 Knauft, Anwalt des Rechts (wie Anm. 33), S. 23f. und S. 26. 93 GHdA, Freiherrliche Häuser B Bd. III, Bd. 31 der Gesamtreihe, Limburg an der Lahn 1963, S. 7. 94 GHdA, Freiherrliche Häuser B Bd. III, Bd. 31 der Gesamtreihe, Limburg an der Lahn 1963, S. 7ff. 95 GHdA, Fürstliche Häuser Bd. XII, Bd. 85 der Gesamtreihe, Limburg an der Lahn 1984, S. 388. 96 Zur Bedeutung des katholischen Naturrechts für die Adeligen der Zentrumspartei ausführlich: Markus Raasch, Die politische Ideenwelt des Adels. Das Beispiel der Zentrumspartei in der Bismarck­ ära (1871–1890), in: Ders. und Tobias Hirschmüller (Hrsg.), Von Freiheit, Solidarität und Subsidiarität. Staat und Gesellschaft der Moderne in Theorie und Praxis. Festschrift für Karsten Ruppert zum 65. Geburtstag, Berlin 2013, S. 357–382, hier S. 359ff. 97 Rudolf Uertz, Katholizismus und Demokratie, in: APuZ 7, 2005, S. 15-22, www.bpb.de/apuz/29234/ katholizismus-und-demokratie?p=all [06.04.2013]; Zumholz, Tradition, S. 13f. 98 Zumholz, Tradition (wie Anm. 84), S. 20. 99 Zumholz, Tradition (wie Anm. 84), S. 22. 100 Barbara Imbusch, „...nicht parteipolitische, sondern katholische Interessen...“. Clemens August Graf von Galen als Seelsorger in Berlin 1906 bis 1929, in: Kuropka, Clemens August Graf von Galen (wie Anm. 84), S. 31–60, hier S. 47.



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recht begründete öffentliche Aufgabe der Bürger und begrüßte sie. Auch die in Artikel 1 der Verfassung fixierte republikanische Staatsform lehnte Galen nicht grundsätzlich ab.101 Allerdings wurzelte seine Kritik im zweiten Satz des Artikels 1. Der dort festgeschriebenen Souveränität des Volkes widersprach Galen, da er der fehlenden Berücksichtigung des Gottesgnadentums nicht beistimmen konnte. Die fehlende Achtung des Gottesrechts und die Erschaffung eines „Staatsgottes“ schrieb er den liberalen Kräften der Zeit zu, denen er zeitlebens kritisch gegenüberstand.102 Der Zentrumspartei hielt Galen stets die Treue.103 Der starke Obrigkeitsgehorsam und die gemeinsame Gegnerschaft zum Liberalismus und Bolschewismus führten zunächst dazu, dass Galen die Bürger nach der nationalsozialistischen Machtübernahme zu keiner Verweigerungshaltung, sondern zur Achtung der neuen Regierung aufrief. Gleichzeitig widersprach der nationalsozialistische Staat mit seiner fehlenden transzendenten Begründung in Gott und der Missachtung der natürlichen Rechte der Auffassung Galens und mündete schließlich in eine Abwehr- und Widerstandshaltung.104 Das naturrechtliche Denken des Thomas von Aquin ist auch bei Aretin und Waldburg-Zeil als Maßstab ihrer Beurteilung von gesellschaftlichen und staatlichen Prozessen zu deuten. Wenngleich der Ursprung der Zuwendung zu den naturrechtlichen Ideen nicht eindeutig belegt werden kann, ist es wahrscheinlich, dass die Adeligen im Elternhaus oder an den Bildungsinstituten mit dem neuthomistischen Gedankengut in Berührung kamen.105 Die naturrechtliche Überzeugung Waldburg-Zeils und Aretins erklärt ihre grundsätzliche Ablehnung des Säkularismus. Sie erblickten darin einen Zustand der Gottlosigkeit, der sich in ihren Augen immer mehr ausbreiten konnte, weil die Menschen nach der alleinigen Macht strebten. Ein Staat, der postuliert, die oberste Instanz zu sein, und das natürliche Recht missachtet, war in ihren Augen abzulehnen. Die Auffassung von der Unterordnung der Religion unter die Staatsgewalt stellte den Hauptangriffspunkt für die späteren Oppositionellen dar. Für Waldburg-Zeil und Aretin war allein Gott die Quelle des Rechts, demzufolge jeder Staat zur Affirmation Gottes und dessen Recht verpflichtet war. Sie führte zu einer konsequenten Ablehnung sowohl der Lehre von der Souveränität des Staates als auch der des Volkes.106 Aretins Kritik an der Weimarer Republik bezog sich auf die „völlig unsichere, zum Teil sogar überhaupt fehlende Rechtsunterlage“ des „Weimarer Zustands“107. Als überzeugter Monarchist lehnte er die Volkssouveränität als Rechts101 Imbusch, Clemens August von Galen als Seelsorger (wie Anm. 100), S. 46. 102 Imbusch, Clemens August von Galen als Seelsorger (wie Anm. 100), S. 4. 103 Joachim Kuropka, Clemens August von Galen im politischen Umbruch der Jahre 1932 bis 1934, in: Kuropka, Clemens August Graf von Galen (wie Anm. 84), S. 61–100, hier S. 68 und S. 71ff. 104 Hubert Wolf, Clemens August Graf von Galen. Gehorsam und Gewissen, Freiburg im Breisgau 2006, S. 72f. 105 O. A., Auf Geradem Wege (wie Anm. 48), S. 388f; Aretin, Krone und Ketten (wie Anm. 40), S. 8f. 106 Dornheim, Adel in der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 308–311; Aretin, Krone und Ketten (wie Anm. 40), S. 27 und S. 29. 107 Aretin, Krone und Ketten (wie Anm. 40), S. 38.

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fundament der Weimarer Verfassung ab, da sie sich gegen die Allmacht Gottes richtete.108 Er sah sich bereits 1923 veranlasst, seine katholisch-konservativen politischen Anschauungen zu offenbaren, indem er Jungadelsbriefe veröffentlichte. Obwohl er sich nie parteipolitisch engagierte, gelang es ihm, im ebenfalls parteipolitisch neu­ tralen Heimat- und Königsbund das Gros der bayerischen nationalen und monarchistischen Verbände und Vereine unter seiner Führung zu versammeln. Dort konnte er im Kreise Gleichgesinnter seine monarchistischen Interessen und die Vorstellung eines föderalistischen deutschen Staates kundtun und Wege zur Umsetzung vorbereiten.109 Nach seiner frühen Begegnung mit Hitler während seiner Tätigkeit als Journalist der „Münchner Neuesten Nachrichten“, der heutigen „Süddeutschen Zeitung“, schloss er eine Zusammenarbeit mit der nationalsozialistischen Bewegung für alle Zeiten aus. Dies hing mit dem schlechten Eindruck zusammen, den Hitler bei Aretin hinterlassen hatte.110 Als württembergischer Anhänger des Hauses Habsburgs verfolgte Waldburg-Zeil zwar keine monarchistischen Interessen, jedoch verband ihn mit Aretin die vollkommene Ablehnung der Weimarer Republik. Eine Identifizierung oder Anerkennung der Demokratie konnte nicht erfolgen, da für ihn der Wille Gottes die Grundlage der Souveränität darstellte und nicht der Wille des Volkes. Waldburg-Zeils Konservativismus führte gleichzeitig zur Ablehnung des Liberalismus, da dieser aus seiner Sicht weiteren Strömungen der Zeit, wie dem Sozialismus, dem Marxismus und schließlich dem Nationalsozialismus, zugrunde lag.111 Preysings Begegnung mit der Naturrechtslehre erfolgte möglicherweise bereits im Elternhaus, spätestens jedoch an der Theologischen Fakultät in Innsbruck.112 Inwiefern Preysing das naturrechtliche Denken prägte und beeinflusste, wurde in der Forschung bisher nur unzureichend berücksichtigt. Preysings Zweifel gegenüber der Weimarer Republik hingen mit seiner Treue zum Hause Wittelsbach zusammen; zudem konnte er jedoch die Republik nicht gutheißen, weil sie auf einem Putsch wider die natürliche Ordnung gründete.113 Die Entwicklungen des Frühjahres 1933 verglich er mit dem Einzug des Modernismus, der seines Erachtens ebenfalls zum Verfall von Religion, Sittlichkeit und Recht beitrug.114

VII Geistliche Vorbilder Als Vorfahre von drei der vier untersuchten Personen nahm der bereits 1877 verstorbene Wilhelm Emmanuel von Ketteler eine besondere Rolle ein. Ketteler wurde 1811 in 108 Aretin, Krone und Ketten (wie Anm. 40), S. 29. 109 Aretin, Krone und Ketten (wie Anm. 40), S. 8–11. 110 Aretin, Krone und Ketten (wie Anm. 40), S. 13f. 111 Dornheim, Adel in der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 314f. 112 Zumholz, Tradition (wie Anm. 84), S. 22. 113 Knauft, Anwalt des Rechts (wie Anm. 33), S. 34ff. 114 Knauft, Anwalt des Rechts (wie Anm. 33), S. 50f.



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Münster geboren und studierte zunächst Rechtswissenschaft. Das „Kölner Ereignis“ im Jahre 1837, im Zuge dessen der Kölner Erzbischof Clemens August von Droste zu Vischering verhaftet wurde, veranlasste Ketteler dazu, die Entlassung aus dem Staatsdienst zu erbeten.115 Nach dem Studium der Theologie führten seine Wege zunächst nach Hopsten in Westfalen, wo er als Priester der armen Landbevölkerung tätig war. Nach seiner Versetzung nach Berlin wurde er schließlich 1850 nach Mainz gerufen und dort zum Bischof geweiht. Seine Abgeordnetentätigkeit in der Frankfurter Nationalversammlung galt in erster Linie der Verteidigung der bedrohten Freiheitsrechte der katholischen Kirche und deren Unabhängigkeit vom preußischen Staat.116 Ketteler sah im Liberalismus eine neuzeitliche Strömung, die aufgrund ihrer zerstörerischen Kräfte die organischen Formen des Lebens zu destruieren vermochte. In der Verkündung der Menschenrechte sah er den Ursprung aller liberalen Bewegungen, die nicht mehr Gott als Quelle von Recht und Gesetz sahen, sondern allein den Menschen. Dieses, dem Naturrecht widersprechende Moment kritisierte Ketteler scharf.117 Seinen Entwurf zur Lösung der sozialen Frage publizierte Ketteler in seinen Predigten und verschaffte sich dadurch Bekanntheit und hohes Ansehen.118 Clemens von Galen war von Kindheit an beeindruckt von der Persönlichkeit Kettelers und wünschte sich im Alter von siebzehn Jahren die Schrift Freiheit, Autorität und Kirche.119 Der Großonkel avancierte zu seinem großen Vorbild. Immer wieder las er in der Biografie Kettelers und vertraute seiner Mutter während des Ersten Weltkrieges, nachdem 1916 das Friedensangebot ausgesprochen worden war, an: „Ich möchte mir bei solchen neuen Situationen immer O. Bischof Wilhelm Emmanuel zu Hilfe rufen, der es so überraschend verstand, neue Gedanken zu verarbeiten und nach Wahrheit und Irrtum zu zergliedern [...].“120 Eine andere wichtige Vorbildfigur war Pater Michael Hofmann. Hofmann wurde 1860 als Sohn einfacher Müllersleute in Kundl in Tirol geboren. Er erlebte eine selige und unbeschwerte Kindheit, die durch den frühen Tod des Vaters und der drei Schwestern getrübt wurde. Die Frömmigkeit und Tiefgläubigkeit der Mutter sollten Hofmann schon in jungen Jahren prägen. Nach dem Abitur studierte er am Germanikum in Rom Theologie und erhielt im Jahr 1887 das heilige Sakrament der Priesterweihe.121 Bevor er an die Theologische Fakultät nach Innsbruck kam, lehrte Hofmann in Salz115 Hermann-Josef Grosse Kracht, Wilhelm Emmanuel von Ketteler. Ein Bischof in den sozialen Debatten seiner Zeit, Kevelaer 2011, S. 16–22. 116 Grosse Kracht, Ketteler (wie Anm. 115), S. 36f. 117 Ludwig Lenhart, Bischof Ketteler. Staatspolitiker–Sozialpolitiker–Kirchenpolitiker, Mainz 1966, S. 71f. 118 Grosse Kracht, Ketteler (wie Anm. 116), S. 54f. 119 Bierbaum, Nicht Lob nicht Furcht (wie Anm. 29), S. 50. 120 Clemens von Galen am 15. April 1917, zitiert nach: Bierbaum, Nicht Lob nicht Furcht (wie Anm. 29), S. 149. 121 Albert Oesch, P. Michael Hofmann S.J.: Regens des theologischen Konviktes Canisianum in Innsbruck, Innsbruck 1951, S. 5–43.

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burg Kirchengeschichte und Kirchenrecht und trat 1895 in die „Gesellschaft Jesu“ ein. Er dozierte dort kurze Zeit über Philosophie und von 1898 bis 1918 über Kirchenrecht. Daneben hielt er Vorträge über die soziale Frage. Seine Absicht war niemals die Dinge zu verwissenschaftlichen, sondern einen praktischen Anreiz zu sozialem Engagement zu geben. So diente beispielsweise der von ihm gegründete „Soziale Studienzirkel“ der Ausbildung von Nächstenliebe unter den Konviktoren.122 Seine einfache und pragmatische Art spiegelte sich auch in seinem Lehrstil wider. An Stelle einer übereifrigen Wissenschaftlichkeit präferierte der Regens Klarheit und Schlichtheit. Den Konviktoren gegenüber verhielt sich Hofmann stets gerecht und wohlwollend. Allerdings konnte er seine Wut manchmal nicht verbergen, wenn er feststellte, dass es an Eifer, Ehrgeiz oder Können fehlte.123 Die allgemeine Beliebtheit, die der Regens des Canisianums genoss, war auf seine grundsätzliche Wertschätzung aller Konviktoren sowie auf das Vertrauen, das er den Alumnen entgegenbrachte, zurückzuführen. Eine weitere Charaktereigenschaft war seine Strenge. In Verbindung mit seiner frommen und einfachen Art übte dieses Zusammenspiel eine Faszination bei den Konviktoren aus.124 Galen urteilte, dass er „ein ganz ungewöhnlich vortrefflicher Mann, ein Heiliger und dabei sehr praktisch und klug, eher ziemlich streng, aber vernünftig“ sei. Hofmann wurde zum großen Vorbild Galens. In dem tiefen und lebendigen Gottesglauben, der Demut und Verehrung des Heiligen Stuhls schienen Hofmann und Galen ebenbürtig gewesen zu sein.125 Auch der starke Einfluss, den Hofmann auf Preysing ausübte, ist nicht zu übersehen. Für Preysing stellte er die entscheidende Bezugsperson in Innsbruck dar. Er ließ sich bewusst auf die Begegnung und den Austausch mit dem geachteten Erzieher ein.126

VIII Klar umrissene berufliche und persönliche Bande Das am breitesten gefächerte soziale Kapital war Aretin zu eigen. Aretin gelangte 1922 durch seinen Nachbarn Eugen Fürst zu Öttingen-Wallerstein zu den „Münchner Neuesten Nachrichten“, dem Vorläufer der „Süddeutschen Zeitung“. Dort lernte er bedeutende bürgerliche Persönlichkeiten wie den Herausgeber der Zeitung, Paul Nikolaus Cossmann, kennen. Der 1869 in Baden-Baden geborene Sohn eines Musikers kam schon kurze Zeit nach seinen naturwissenschaftlichen und philosophischen Studien zur Publizistik. Seine nationale Einstellung offenbarte Cossmann während des Ersten 122 Oesch, P. Michael Hofmann S.J. (wie Anm. 121), S. 44–66. 123 Oesch, P. Michael Hofmann S.J. (wie Anm. 121), S. 67. 124 Oesch, P. Michael Hofmann S.J. (wie Anm. 121), S. 92–95 und S. 119ff. 125 Clemens von Galen an den Bruder Franz am 13. Juni 1900, zitiert nach: Bierbaum, Nicht Lob nicht Furcht (wie Anm. 29), S. 78. 126 Schwerdtfeger, Preysing (wie Anm. 21), S. 25.



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Weltkrieges durch einige Veröffentlichungen in den von ihm mitbegründeten „Süddeutschen Monatsheften“. In seiner Tätigkeit als politscher Berater der „Münchner Neuesten Nachrichten“ konnte er seine nationale Linie treu fortführen. Der zum Christentum konvertierte Jude war ein tiefgläubiger Mann, dessen Maximen Sittlichkeit und Wahrheit bildeten.127 Auch Fritz Gerlich, der später zusammen mit Waldburg-Zeil in kompromissloser Gegnerschaft zum Nationalsozialismus Artikel im „Geraden Weg“ veröffentlichen sollte, lernte Aretin dort kennen. Der 1883 in Stettin geborene Calvinist kam für seine naturwissenschaftlichen und historischen Studien nach München. Nach seiner Promotion war Gerlich zunächst im Archivdienst tätig, gelangte aufgrund seiner journalistischen Begabung jedoch bald in die Publizistik. 1920 wurde er von Cossmann zum Hauptschriftleiter der „Münchner Neuesten Nachrichten“ ernannt und verhalf der Zeitung wesentlich zu Ansehen und ihrer konservativen Richtung. Meinungsverschiedenheiten führten 1928 dazu, dass Gerlich sein Amt als Chefredakteur quittierte und in den Archivdienst zurückehrte.128 Fritz Büchner wurde zum Nachfolger Gerlichs. Der evangelische Journalist erkannte den gefährlichen Charakter des Nationalsozialismus früh und sah in der Restaurierung der Monarchie ebenso wie Aretin die einzige Möglichkeit zur Verhinderung einer Katastrophe.129 Aretin, Cossmann und Büchner verband ein freundschaftliches Verhältnis.130 Überdies war Aretin mit Rainer Maria Rilke eng verbunden. Er lernte den Dichter durch seine entfernte Verwandte Fürstin Marie von Thurn und Taxis kennen. Die Fürstin fungierte als Mäzenin Rilkes. Sie beschrieb Aretin Rilke gegenüber als Astronom und Geisterseher von besonderer Qualität und erweckte dadurch großes Interesse bei dem Lyriker, der eine besondere Affinität zum Übernatürlichen besaß.131 Zu Beginn des Jahres 1915 kam es zu dem ersten Treffen zwischen Aretin und Rilke. Letzterer schätzte neben Aretins hoher historischer Bildung vor allem sein Wissen im mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich. Aretins Bemühungen, anhand des Vergleichs des europäischen und eines in Mexiko gefundenen Kalenders historische Ereignisse aus der mexikanischen Prähistorie zu rekonstruieren, beeindruckten Rilke sehr. Aber auch die Begeisterung für das Übernatürliche einte die beiden Männer und wurde in den zahlreichen Treffen thematisiert, denen die Partnerinnen teilweise beiwohnten.132 Zu dem erweiterten Freundeskreis um Rilke gehörten neben Aretin der Kulturphilosoph Rudolf Kassner, der Astronom und Astrologe Hans Hermann Kritzinger und der Schriftsteller Felix Noeggerath. Das gemeinsame Interesse an Mathematik und Astronomie stellte die Prämisse für die meist spontanen und zwanglosen 127 Karl Alexander von Müller, „Cossmann, Paul Nikolaus“, in: Neue Deutsche Biographie 3, 1957, S. 374–375, www.deutsche-biographie.de/sfz8802.html [08.04.2013]. 128 Karl Otmar Freiherr von Aretin, „Gerlich, Albert Fritz“, in: Neue Deutsche Biographie 6, 1964, S. 307–208, www.deutsche-biographie.de/sfz20670.html [20.04.2013]. 129 Karl Otmar Freiherr von Aretin, „Büchner, Fritz“, in: Neue Deutsche Biographie 2, 1955, S. 720, www.deutsche-biographie.de/sfz6305.html [08.04.2013]. 130 Aretin, Krone und Ketten (wie Anm. 40), S. 15. 131 Aretin/King, Dichter und Astronom (wie Anm. 59), S. 9–13. 132 Aretin/King, Dichter und Astronom (wie Anm. 59), S. 13.

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Zusammenkünfte dar.133 Aretin und Rilke pflegten eine rege Korrespondenz, die bis 1922 bestand.134 Der Abbruch des Kontakts kann durch Aretins Hinwendung zu historischen und politischen Fragestellungen erklärt werden.135 Das soziale Kapital Waldburg-Zeils, immerhin Nachfahre eines Reichsfürsten­ geschlechts,136 sowie Preysings und Galens gründete demgegenüber vornehmlich auf Kontakten zu Standesgenossen und war stark klerikal bestimmt. Traditionsgemäß gingen Geistliche auf Schloss Zeil ein und aus.137 Die wenigen freundschaftlichen Kontakte, die Galen unterhielt, bestanden zu Geistlichen, darunter sein erster Kaplan Heinrich Holstein.138 Wenn er auch gegenüber seiner Pfarrgemeinde stets als eifriger und verantwortungsbewusster Seelsorger auftrat und sich während seiner Zeit als Gesellenpräses durchaus soziabel präsentierte, mied Galen den gesellschaftlichen Kontakt in Laien- und Adelskreisen gänzlich. Im Wesentlichen soll Galen mit den Mitgliedern seiner großen Familie verkehrt haben. Seine Tätigkeit im Aufsichtsrat der Zentrumszeitung „Germania“ ermöglichte ihm Kontakte zu katholischen Politikern, Parlamentariern und auch Standesgenossen.139 Auch Preysing bewegte sich jenseits seiner Familienbeziehungen vornehmlich in kirchlichen Kreisen. Er wurde dank seiner vielseitigen Fähigkeiten 1913, kurz nach seiner Priesterweihe, zum Erzbischöflichen Sekretär Franziskus von Bettingers ernannt. Diese Tätigkeit verhalf Preysing, Zugang zu wichtigen Persönlichkeiten und innerkirchlichen Gruppen zu erhalten. So nahm er beispielsweise 1914 an der viertägigen Papstwahl teil und lernte dort zahlreiche Kardinäle und Sekretäre kennen. Das Verhältnis zu Bettinger war bis zu seinem plötzlichen Tod 1917 sehr vertraut.140 Im selben Jahr begegnete Preysing dem neuen Apostolischen Nuntius Eugenio Pacelli, dem späteren Papst Pius XII. Aufgrund Preysings diplomatischer Erfahrungen und vielseitiger Sprachkenntnisse wurde er zu dessen Begleiter und Berater ernannt. Es entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen den Männern, das sich lange Zeit aufrechterhielt. Pacelli sollte großen Einfluss auf den Lebensweg des geschätzten Preysing nehmen, da er beispielsweise an dessen Ernennung zum Eichstätter Bischof maßgeblich beteiligt war.141 Während seiner Münchner Zeit, in der er als Stadtpfarrprediger wirkte und sich nebenbei wissenschaftlichen Tätigkeitsfeldern widmete, stand Preysing 133 Aretin/King, Dichter und Astronom (wie Anm. 59), S. 14. 134 Aretin/King, Dichter und Astronom (wie Anm. 59), S. 15f. 135 Aretin/King, Dichter und Astronom (wie Anm. 59), S. 19. 136 Beck, Rudolf, In den Fürstenhäusern zu Waldburg-Zeil und Waldburg-Wolfegg, in: Zeitzeichen 4, 2007, S. 72–77. 137 Vgl. demnächst die Ausführungen zum sozialen Kapital der südwestdeutschen Zentrumsadeligen in: Markus Raasch, Der südwestdeutsche Adel und die Anfänge der Zentrumspartei, in: Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft 2014 (im Druck). 138 Imbusch, Clemens August von Galen als Seelsorger (wie Anm. 100), S. 45. 139 Kuropka, Politischer Umbruch (wie Anm. 103), S. 78 und S. 66. 140 Knauft, Anwalt des Rechts (wie Anm. 33), S. 25 und S. 30f. 141 Knauft, Anwalt des Rechts (wie Anm. 33), S. 32f.



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außerdem in Kontakt mit anerkannten Theologen, vor allem jenen des Jesuitenordens. Zu nennen ist dabei unter anderem Pater Erich Przywara, der sich als Schriftsteller der Jesuitenzeitschrift „Stimmen der Zeit“ zu zahlreichen philosophischen und theologischen Fragestellungen zu Wort meldete. Auch Pater Robert Graf von NostizRieneck und Pater Franz Ehrle waren Gesprächspartner Preysings. Den Austausch zwischen den Männern dürften die gemeinsamen historischen Interessen angeregt haben.142

IX Vereinsbindungen mit klerikal-adeligem Hintergrund Drei der untersuchten Adeligen gehörten dem Konnersreuther Kreis an. Der Konnersreuther Kreis oder auch Eichstätter Freundschaftsbund bezeichnete einen Zirkel geistlicher und weltlicher sowie adeliger und bürgerlicher Anhänger der Therese Neumann. Die 1892 geborene Therese Neumann aus Konnersreuth in der Oberpfalz besaß eine außergewöhnliche Krankengeschichte. Im Alter von 19 Jahren führte ein Unfall zur Lähmung und Erblindung der jungen Frau. Unerwartet erhielt sie einige Jahre später ihre Sehkraft zurück und wurde von der Lähmung befreit. Seit Weihnachten 1922 verspürte sie ein vermindertes Nahrungsbedürfnis, zu dem in der Fastenzeit des Jahres 1926 das Erlebnis von Visionen der Heiligen Schrift hinzukam. Seit dem Karfreitag dieses Jahres galt sie zudem als stigmatisiert. Während sich die Wundmale Jesu bei ihr zeigten, soll sie zusätzlich von ekstatischen Zuständen betroffen gewesen sein. Der Stigmatisierten wurde außerdem nachgesagt, fremde Sprachen zu beherrschen sowie hellsehen, schweben und prophezeien zu können.143 Die sonderbaren Ereignisse in Konnersreuth lockten zahlreiche neugierige Besucher an. Aretin erlebte bereits im Sommer 1927, zu Zeiten seiner journalistischen Tätigkeit bei den „Münchner Neuesten Nachrichten“, die Passionen der Therese und war „tief beeindruckt“.144 Sein damaliger Kollege Fritz Gerlich wurde durch Aretin auf die Ereignisse in Konnersreuth aufmerksam. Als Calvinist machte er sich auf den Weg, um den „Schwindel von Konnersreuth“ aufzudecken. Gerlich kehrte jedoch als überzeugter Katholik zurück und wurde zu einem der größten Verteidiger der Stigmatisierten.145 Neben Aretin und Gerlich gehörten weitere Personen dem Konnersreuther Freundschaftskreis an. Hierzu zählte der Eichstätter Theologe Dr. Franz Xaver Wutz, der an der dortigen Hochschule für Theologie die Professur für Altes Testament und Bibelwis142 Knauft, Anwalt des Rechts (wie Anm. 33), S. 41. 143 Dornheim, Adel in der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 295. 144 Aretin, Krone und Ketten (wie Anm. 40), S. 15f. 145 Rudolf Beck, Widerstand aus dem Glauben, in: Allgäuer Geschichtsfreund 93, 1993, S. 135–157, hier S. 136f.

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senschaften innehatte. Auch seine anfängliche Skepsis verwandelte sich nach dem Erlebnis in Konnersreuth in Überzeugung. Durch weitere Mitglieder aus Eichstätt wie dem Kapuzinerpater Ingbert Naab, einem der wirkungsvollsten publizistischen Gegner des Nationalsozialismus, und schließlich Benedicta von Spiegel, einer Äbtissin der Eichstätter Benediktinerinnenabtei St. Walburg, kam auch Preysing in Kontakt mit dem Konnersreuther Kreis.146 Waldburg-Zeil gehörte ebenfalls zu dem Zirkel um Therese Neumann. Dadurch lernte er 1929 Fritz Gerlich kennen. Sie teilten die Auffassung, dass jeglicher Extremismus von rechts und links aufgrund des Naturrechts bekämpft werden müsse. Sie beschlossen daher, eine Zeitung zu gründen, die den Wählern eine politische Orientierungshilfe bieten sollte, indem sie dezidiert auf die Irrlehren der Zeit verwies.147 Den Treffen des Kreises wohnte Therese Neumann in den meisten Fällen bei. Die aktuellen politischen Ereignisse wurden gemeinsam beobachtet und bewertet. Die Verteidigung des katholischen Glaubens war das Gebot der Stunde. Deshalb wurde im Zirkel auch über mögliche Widerstandsaktivitäten der einzelnen Mitglieder beraten. Therese Neumann äußerte gegenüber Gerlich und Naab, dass sie zum kämpfen bestimmt seien, wenngleich die Möglichkeit zum Scheitern bestünde.148 Andere Intentionen wies der Bayerische Heimat- und Königbund (BHKB) auf. Bis zur Auflösung im Jahr 1933 zählte er etwa 70.000 Mitglieder, worunter sich vor allem Bürgerliche, Handwerker und Bauern befanden.149 Aretin war es gelungen, die 1924 gegründete Bayerische Heimat- und Königspartei aufzulösen und in den stetig anwachsenden BHKB zu integrieren. Als Leiter dieses Bundes kam Aretin seinen monarchistischen Zielen näher und versuchte, die Republik in die Monarchie zu überführen.150 Durch das gute Verhältnis zu seinem Nachbarn Eugen Fürst zu Öttingen-Wallerstein und seinem Vetter, dem Kabinettschef Joseph Maria Graf von Soden, hatte Aretin Kronprinz Rupprecht kennengelernt und wurde zu dessen politischem Berater ernannt. Als Vorsitzender des BHKB in den Jahren 1925 bis 1927 verschaffte sich Aretin in weiten Teilen Bayerns Gehör mit seinen monarchistischen Plänen. Alle notwendigen Maßnahmen zur Umsetzung erörterte er mit Kronprinz Rupprecht. Zur Erlangung der Ziele versuchte der BHKB die Massen zu aktivieren. Es wurden Zeitungen und Flugblätter verteilt oder Vorträge und Filmprojekte verwirklicht, die ihre Wirkung jedoch teilweise verfehlten.151 Aufgrund der erhöhten journalistischen Tätigkeit quittierte Aretin 1927 die Leitung des Bundes in Einvernehmen mit dem Kronprinz, übte jedoch weiterhin bedeutenden Einfluss aus.152

146 Beck, Widerstand (wie Anm. 145), S. 138f; Schwerdtfeger, Preysing (wie Anm. 21), S. 54. 147 Dornheim, Adel in der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 297. 148 Beck, Widerstand (wie Anm. 145), S. 139; Schwerdtfeger, Preysing (wie Anm. 21), S. 54. 149 www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44431 [25.04.2013]. 150 Aretin, Krone und Ketten (wie Anm. 40), S. 10f. 151 Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 1), S. 375f. 152 Aretin, Krone und Ketten (wie Anm. 40), S. 14.



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Besondere Bedeutung hatte des Weiteren der Hauptverein katholischer Edelleute. Er war der Dachverband der einzelnen katholischen Adelsverbände, wie beispielsweise der Genossenschaft katholischer Edelleute in Bayern oder dem Verein katholischer Edelleute Deutschlands. Er sollte die Kooperation zwischen den einzelnen Verbänden gewährleisten. Unter dem Vorsitz von Alois Fürst zu Löwenstein-Wertheim-Rosenberg gehörten dem Verein im Jahr 1925 etwa 2.500 Adelige an. Regelmäßige Treffen sicherten den Austausch unter den Vereinen. Die auf einer Versammlung gehaltenen Vorträge über die „Pflichten des katholischen Adels gegenüber der öffentlichen Unsittlichkeit“, die „Beteiligung des Adels an den katholischen Organisationen“ oder die „Pflichten des landsässigen Adels“ demonstrieren die konservative Einstellung der Vereinigung in den damals geführten Sittlichkeitsdebatten.153 Bereits 1927 kristallisierte sich eine Spaltung des Vereins in ein rechtsradikales und ein betont christlich-konservatives Lager heraus. Zu letzterem gehörten Alfons Freiherr von Redwitz, Attila Graf von Neipperg, der Vorsitzende Löwenstein sowie drei der untersuchten Adeligen, Aretin, Clemens von Galen und sein Bruder Franz sowie Konrad von Preysing. In ihren Vorträgen dominierte stets die religiös-sittliche, ritterliche und konservative Ausrichtung des Denkens.154 Preysing und Aretin gehörten der Genossenschaft katholischer Edelleute in Bayern an. Der Adelsverband zählte zwar zu den einflussreichsten in Bayern, besaß aber nur eine geringe Mitgliederzahl von gut 100 Personen, bevor es zur Aufnahme von Frauen und dem Streben nach häufigerer Versammlung kam. Im Zeitraum vom Ersten Weltkrieg bis 1939 stieg die Zahl auf etwa 400 Mitglieder an. In der Genossenschaft katholischer Edelleute sammelte sich in Abgrenzung zur Deutschen Adelsgenossenschaft (DAG) ein Kreis „exklusiver“ Adeliger, die aus gutgestellten, altbayerischen Familien stammten und mit wenigen Ausnahmen, darunter Aretin, typisch adeligen Berufen nachgingen. Die Bande zu den bayerischen Bischöfen waren sehr eng.155 Eine weitere Eigenheit der Genossenschaft war die Vernachlässigung des Militärischen, welche eine zusätzliche Abgrenzung zur DAG darstellte. Wenngleich einige jüngere Mitglieder der Genossenschaft katholischer Edelleute eine gewisse Affinität zur Neuen Rechten aufwiesen und zu einer Modifizierung des Vereins in einen politischen Verband neigten, so behielt jener doch bis zur Auflösung 1933 seine konservative, am Hause Wittelsbach orientierte Richtung bei.156 Sodann ist der Verein katholischer Edelleute in Deutschland zu nennen. Er wurde ähnlich wie die Genossenschaft katholischer Edelleute in Bayern von gut situierten adeligen Familien Westfalens frequentiert und geleitet. Seinen Auftrag sah der Verein in der „Förderung des kirchlichen und standesmäßigen Lebens der Mitglieder“, der Mitarbeit an der „Barmherzigkeit“ sowie der Pflege des Vereinsleben und in der 153 Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 1), S. 360f. 154 Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 1), S. 362ff. 155 Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 1), S. 367f. 156 Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 1), S. 371.

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Erhaltung des adeligen Grundbesitzes. Auch die Aufnahmebedingungen zeugten von der Orientierung des Vereins an christlichen Leitsätzen.157 Religiöse Rituale spielten bei der Konstituierung der Vereinsidentität eine große Rolle. Man suchte sich als eine Art laikale Sodalität zu inszenieren. So wurde auf Versammlungen nicht nur gebetet, man hielt auch gemeinsam Exerzitien ab; nach dem Tod eines Mitgliedes wurde eine heilige Messe gelesen, in der Regel in der Galenschen Kapelle des Domes zu Münster.158 Das Besondere der eigenen Tätigkeit suchte man dabei durch den Rekurs auf bedeutende kirchengeschichtliche Zäsuren herauszustellen: Die Generalversammlungen fanden traditionell jeweils statt am 25. Januar, dem Fest Pauli Bekehrung, das auf die Loslösung der Urkirche vom Christentum Bezug nahm, und am 31. Juli, dem Namenstag des vermutlich wichtigsten katholischen Gegenreformators, des Heiligen Ignatius von Loyola.159 Bezeichnenderweise entwickelte sich der Verein in den 1920er Jahren in eine der Genossenschaft katholischer Edelleute in Bayern entgegengesetzte Richtung. Wenn auch im Jahre 1924 mit der Wahl Franz von Galens zum Vorsitzenden des Vereins noch die zentrumstreue und ultramontane Linie dominierte, erstarkten mit der Zeit andere Richtungen. Mit Franz von Papen, Engelbert Freiherr von Kerckerinck und den Gebrüdern Lüninck formierte sich eine Gruppe katholischer adeliger Politiker, die deutlich am Rande oder außerhalb des Zentrums standen. Aufgrund der internen Differenzen im Verein legte Franz von Galen 1928 die Vorstandschaft und Mitgliedschaft nieder. Auch Clemens von Galen gehörte dem Verein katholischer Edelleute an und geriet aufgrund seiner ultramontanen Haltung in Konflikt mit den rechtsradikalen Adeligen Westfalens.160 Clemens und Franz von Galen blieben ihrer moderaten und zentrumsnahen Linie treu und stellten daher eine Ausnahme im westfälischen Adel dar. Trotz des Einflusses und der räumlichen Nähe zu ihren Standesgenossen widerstanden sie der Radikalisierung und sind somit in die Nähe der bayerischen und südwestdeutschen Adeligen zu rücken.161 Die verwandtschaftliche Beziehung zur Familie Preysing oder die Verbindung zur Katholischen Tatgemeinschaft sind als mögliche Kontaktstellen zu deuten. Die Katholische Tatgemeinschaft war eine Organisation junger katholischer Adeliger aus Südwest- und Westdeutschland, die eine Neuformierung des Adelskonservativismus intendierte. Zu den Hauptinitiatoren gehörte Waldburg-Zeil. Nach seinen eindrucksvollen Erlebnissen und Bekanntschaften in Konnersreuth forderte er die Erneuerung des geistigen und politischen Lebens unter christlichen Prämissen. Dazu veranstaltete er im Sommer 1930 mit Hans Georg von Mallinckrodt eine Tagung auf 157 Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 1), S. 385f. 158 Protokoll über die 5. Generalversammlung der Genossenschaft katholischer Edelleute, 2. Februar 1879, in: BayHStA FA Aretin, Peter Carl 49/31. 159 Horst Conrad, Stand und Konfession. Der Verein der katholischen Edelleute. Teil I: Die Jahre 1857– 1918, in: Westfälische Zeitschrift 158, 2008, S.125–188, hier S. 126. 160 Bierbaum, Nicht Lob nicht Furcht (wie Anm. 29), S. 199ff; Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 1), S. 389–394. 161 Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 1), S. 394 und S. 386.



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seinem Schloss Zeil im Allgäu, der weitere Gleichgesinnte aus dem katholischen Adel beiwohnten.162 Aus der Zusammenkunft entwickelte sich eine Vereinigung, die von dem „geistlichen Führer“ Abt Adalbert Graf von Neipperg und dem „weltlichen Führer“ Erich Fürst von Waldburg-Zeil geleitet wurde. Das „Führertum“ beruhte auf der Idee eines geistigen, an katholischen Prinzipien orientierten Führers, der seine Berechtigung von der adeligen Herkunft ableitete. Anton Ernst Graf von Neipperg und der genannte Mallinckrodt nahmen zudem eine bedeutende Position in der Katholischen Tatgemeinschaft ein.163 Ziel des Kreises war die Schulung des katholischen Jungadels, weshalb auf den Schlössern der Mitglieder mehrtätige Kurse abgehalten wurden. Diese behandelten religiöse, philosophische, soziale und teilweise politische Fragestellungen. Obwohl sich die Tatgemeinschaft als überpolitisch betrachtete, dürfte ihre politische Einstellung der des Zentrums oder der Bayerischen Volkspartei entsprochen haben. Der antisozialistische und antiparlamentaristische Kurs wurde seit Mai 1932 durch eine dezidiert antinationalsozialistische Haltung ergänzt. Die Hauptangriffspunkte gegen die NS-Bewegung lagen im „offensichtlichen Sozialismus“ sowie der „Kirchenfeindlichkeit“. Letztere widersprach dem Postulat des Kreises, wonach die Anhänger ein Leben nach Gott führen sollten, das von einem konsequenten „Gut-sein und Gut-handeln“ bestimmt wurde.164 Die Katholische Tatgemeinschaft stand in Kontakt zum Verein katholischer Edelleute Südwestdeutschlands, dessen Vorsitz Anton Ernst Graf von Neipperg hatte. Weitere bekannte Anhänger waren Fürstenberg, Löwenstein sowie jeweils einer oder beide der Brüder Galen und Boeselager, die in der militärischen Widerstandsgruppe des 20. Juli aktiv werden sollten.165 Wenngleich Waldburg-Zeil bereits im Konnersreuther Kreis mit Fritz Gerlich einen Gleichgesinnten getroffen hatte, konnten seine politischen und weltanschaulichen Einsichten in der Katholischen Tatgemeinschaft weiter gefestigt werden. Die scharfe Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im „Geraden Weg“ begann im Sommer 1931, nachdem sich Waldburg-Zeil bereits ein Jahr in den Kreisen der Katholischen Tatgemeinschaft bewegte.166

X Schlussbetrachtung Hohe ökonomische Ressourcen waren keine notwendige Voraussetzung, um sich im Widerstand zu engagieren. Es konnte aber aufgezeigt werden, dass sich alle vier Adeligen in einem Zustand befanden, den man als finanzielle Sorglosigkeit bezeichnen könnte. Die Adeligen erfuhren eine intensive Frömmigkeitserziehung, was das Credo 162 Beck, Widerstand (wie Anm. 145), S. 135f. 163 Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 1), S. 382. 164 Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 1), S. 382f. 165 Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 1), S. 382. 166 Dornheim, Adel in der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 300.

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des Maßhaltens ebenso implizierte wie das Postulat sozialen Engagements. Das Bildungsniveau war in allen Familien beachtlich, eine ländliche Prägung obligatorisch. Die ausgeprägte Religiosität auf dem Land bestätigte die Glaubenswahrheiten, die im Elternhaus vermittelt wurden. Als Anführer der dörflichen Hierarchie beteiligten sich die adeligen Familien teilweise sehr stark an der Gestaltung des religiösen Lebens.167 Der Ausbildungsweg oszillierte zwischen Standesspezifik und bürgerlicher Norm; alle absolvierten ein Universitätsstudium. Ein Engagement im Sinne des politischen Katholizismus war den Adeligen in die Wiege gelegt, ihre Weltsicht daher sehr stark von neuthomistischem Denken geprägt. Die Berücksichtigung des Naturrechts diente zur Beurteilung staatlicher Legitimität. Sofern dieses Recht nicht gewährleistet oder dem Volkswillen untergeordnet wurde, konnte keine Anerkennung erfolgen. Die Weimarer Verfassung wurde aufgrund der festgeschrieben Volkssouveränität von den Adeligen abgelehnt. Der Grad der Ablehnung variierte freilich. Die Adeligen deuteten den aufkommenden Nationalsozialismus und seine Glaubensfeindlichkeit als Ausfluss der negativen Strömungen der Zeit, ähnlich wie den Liberalismus und den Bolschewismus. Er konnte aufgrund der fehlenden Berücksichtigung des Gottesrechts nicht legitim sein – wenn auch die Sorge um das Gemeinwohl eine Anerkennung nahelegte.168 Das Portfolio der Adeligen wies ferner ein beachtliches soziales Kapital auf, das auf dem Vorbild bekannter Geistlicher, Standesbeziehungen, aber auch bedeutenden Kontakten zu Nicht-Adeligen beruhte. Sie verkehrten sowohl in Kreisen und Verbänden, die von Bürgerlichen dominiert waren, als auch in den zur damaligen Zeit bekannten Adelsvereinen und –verbänden, in denen wiederum das geistliche Element eine tragende Rolle spielte. Warum entwickelten relativ viele katholische Adelige eine oppositionelle Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus? Was heißt es konkret, dass sich in „Milieus, in denen seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten christliche Lehren und Lebensformen eingeübt und entsprechende institutionelle Verstetigungen ausgebildet worden waren, eine allgemeine Resistenz gegen Indoktrination und Inanspruchnahme durch den Nationalsozialismus“ zeigte169? Diese Studie kann angesichts ihrer schmalen empirischen Basis darauf keine befriedigende Antwort geben. Zudem muss jede Art von Determinismus strikt abgelehnt werden. Das Bemühen um „Verstehen“ sollte die Widerstandsforschung allerdings nicht aufgeben und beim Adel, dessen innere Dispositionen angeblich zu „Arrangements mit dem Nationalsozialismus weit mehr als zum Widerstand“ prädestinierten,170 endlich entwickeln. Bestimmte sozio-kulturelle Muster erscheinen im Zusammenhang von Adel und Konfession evident. Für beides – so meine ich – wollte und konnte diese Studie sensibilisieren. 167 Bierbaum, Nicht Lob nicht Furcht (wie Anm. 29), S. 19f. 168 Wolf, Gehorsam und Gewissen (wie Anm. 104), S. 72f; Dornheim, Adel in der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 314f; Knauft, Anwalt des Rechts (wie Anm. 33), S. 51. 169 Christoph Strohm, Die Kirchen im Dritten Reich, München 2011, S. 107. 170 Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 1), S. 590.

Nico Raab

Adeligkeit und Widerstand Das Beispiel des Katholiken Claus Schenk Graf von Stauffenberg 1994 metaphorisierte Joachim Fest in Bezug auf die zum Thema „Widerstand im Nationalsozialismus“ bestehende Literatur, „daß der Fisch […] dabei ist, in seinen Wassern zu ertrinken“.1 Bereits vor zwei Jahrzehnten hatte diese nahezu unübersehbare Dimensionen angenommen. Gesamtdarstellungen zum 20. Juli und Biographien der Verschwörer sind Legende. Die Frage nach den spezifisch adeligen Kapitalien des deutschen Widerstands bleibt allerdings trotz der im Zuge des „cultural turn“ florierenden Adelsforschung bis heute merkwürdig unterbelichtet. Lediglich Eckart Conze2 und Doris Muth3 haben sich in Aufsätzen näher mit dem Zusammenhang von Adeligkeit und Widerstand beschäftigt, wobei Ersterer in einer 25-seitigen Gesamtschau zum 20. Juli zwangsläufig nur eine Skizze liefern kann und Letztere am Beispiel Stauffenberg vor allem zu klären versucht, inwiefern „adelige Herkunft und ein spezifisch adeliges Selbstverständnis für [den] Weg in den Widerstand handlungsleitend waren“.4 Eine substantielle Betrachtung von Adelskapital und seiner Nutzbarmachung im konkreten Kampf gegen den Nationalsozialismus fehlt. Dem soll im Folgenden ein Stück weit abgeholfen werden. Es wird mithin auf der Folie der Bourdieuschen Kapitalsortentheorie5 ins Blickfeld genommen, inwiefern bei der Zentralfigur des 20. Juli adelige Prägungen für die Widerstandstätigkeit eine Rolle spielten.

I Das ökonomische Kapital Als Stauffenberg aktiv an der Konspiration zu partizipieren begann, befand er sich im Rang eines Oberstleutnants. Für diesen Dienstgrad (Selbstmieter unter 45 Jahren) wurde in der Kassen- und Rechnungslegungsordnung für das Heer von 1935 ein Ver1 Joachim Fest, Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli, Berlin 1994, S. 7. 2 Eckart Conze, Adel und Adeligkeit im Widerstand des 20. Juli 1944, in: Heinz Reif (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert, Bd. 2, Berlin 2001, S. 269–296. 3 Doris Muth, „Es wird Zeit, daß ich das Reich rette!“ Vom Anhänger zum Attentäter – Stauffenbergs Weg in den Widerstand, in: Mark Hengerer u.a. (Hrsg.), Adel im Wandel. Oberschwaben von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Bd. 2, Ostfildern 2006, S. 817–830. 4 Muth, Es wird Zeit (wie Anm. 3), S. 817. 5 Dazu Pierre Bourdieu, Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1982; Ders., Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183–198; Pierre Bourdieu, Die männliche Herrschaft, Frankfurt am Main 2005, S. 70f, 74.

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dienst von 748,15 Reichsmark pro Monat festgelegt.6 Hinzu kam der in Kriegszeiten ausgeschüttete, steuerfreie Wehrsold, der sich bei Stauffenberg auf 120 Reichsmark im Monat belief.7 Am 1. Juli 1944 wurde Stauffenberg offiziell zum Chef des Generalstabes beim Befehlshaber des Ersatzheeres, Friedrich Fromm, ernannt und dabei zum Oberst befördert.8 Als Oberst (wiederum Selbstmieter unter 45 Jahren) verdiente er 948,70 Reichsmark pro Monat. Allerdings ist letztgenannte Summe unerheblich, da Stauffenberg nach seiner Beförderung nur noch drei Wochen lebte. Doch auch als Oberstleutnant bewegte sich Stauffenberg in weitaus höheren Gehaltsdimensionen als beispielsweise ein durchschnittlicher Angestellter (231 Reichsmark pro Monat im Jahr 1939).9 Alle Zahlenangaben beschreiben zudem im Fall Stauffenbergs Mindestgrößen, da er seit 1933 verheiratet war.10 Zu berücksichtigen sind darüber hinaus die verschiedenen Zulagen, die es vor allem im Krieg gab, wie beispielsweise die Frontzulage.11 Das ökonomische Kapital Stauffenbergs umfasste neben Gehaltsbezügen auch materiellen Besitz. Die Schenken von Stauffenberg, wohlhabend durch ihre Besitztümer und die daraus resultierenden Pachteinnahmen, besaßen zahlreiche Güter in ganz Südwestdeutschland. Diese waren teils durch Heirat beziehungsweise Erbschaft (Wilflingen, Amerdingen), teils durch Kauf (Ditzingen, Jettingen) in den Stauffenbergschen Besitz übergegangen. In den Bereich der Erbschaft fielen unter anderem auch die Besitzungen in Lautlingen, die Barbara Schenk von Stauffenberg aus der Wilflinger Linie in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts von ihrem verstorbenen Gatten Georg Dietrich von Westerstetten geerbt hatte. Im Fideikommiß-Teilungsvertrag von 1922 wurden die Lautlinger Besitztümer, die das in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erbaute Schloss sowie zwei Pachthöfe umfassten, Claus‘ Vater Alfred zugesprochen.12 Die Stauffenbergschen Besitzungen spielten für die Widerstandsaktivitäten partiell eine Rolle. Die geringste Bedeutung kam Schloss Lautlingen zu. Anfang September 1943 sprach Claus dort mit seinem Bruder Berthold und Rudolf Fahrner über das poli6 Karl-Volker Neugebauer (Hrsg.), Grundzüge der deutschen Militärgeschichte. Arbeits- und Quellenbuch, Bd. 2, Freiburg im Breisgau 1993, S. 317. 7 Rudolf Absolon, Die Wehrmacht im Dritten Reich. 1. September 1939 bis 18. Dezember 1941 (= Schriften des Bundesarchivs, Bd. 5), Boppard am Rhein 1988, S. 344f. 8 Peter Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Die Biographie, München 2007, S. 407f; Eberhard Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg. Ein Lebensbild, Paderborn 2008, S. 223f, 233. Inoffiziell arbeitete Stauffenberg schon seit Mitte Juni 1944 für Fromm. 9 Neugebauer, Grundzüge der deutschen Militärgeschichte (wie Anm. 6), S. 317. 10 Hans-Jürgen von Hößlin, „Schenk v. Stauffenberg“, in: Vereinigung des Adels in Bayern e.V. (Hrsg.), Genealogisches Handbuch des in Bayern immatrikulierten Adels, Bd. 24, Neustadt an der Aisch 2002, S. 167. 11 Absolon, Wehrmacht im Dritten Reich (wie Anm. 7), S. 355ff. 12 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 54; Gerd Wunder, Die Schenken von Stauffenberg. Eine Familiengeschichte, Stuttgart 1972, S. 140–142, 318, 359–361, 389, 455f. Zur Lage der Stauffenbergschen Besitzungen siehe die Übersichtskarte im Anhang, S. 529.



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tische System und die gesellschaftliche Organisation nach Hitler. Diese Zusammenkunft aber stellte seinen letzten Aufenthalt auf Schoss Lautlingen dar, ein Indiz dafür, wie sehr er von den Attentatsvorbereitungen in Berlin vereinnahmt wurde.13 Für die Verschwörung bedeutsamer als Lautlingen waren die Wohnungen Stauffenbergs. Da allzu häufige Zusammenkünfte der Verschwörer im Dienst zu auffällig gewesen wären, traf man sich, wenn möglich, im privaten Rahmen. Stauffenbergs Wohnung in Bamberg, die er zusammen mit seiner Frau Nina besaß, während seiner Berliner Zeit aber selten nutzte, gehörte allerdings nicht zu derartigen Schauplätzen. Bis auf eine Begegnung mit Regimegegner Alfred Delp ist keine Weitere verzeichnet.14 Zu solchen Zwecken eignete sich alleine aus Entfernungsgründen das Haus in der Berliner Tristanstraße deutlich besser. Zwar wohnte Claus Stauffenberg dort eher als Untermieter seines Bruders Berthold, doch muss man davon ausgehen, dass er für sein Logis auch Miete zahlte.15 In der Tristanstraße kam es neben einigen kleinen Treffen, wie dem mit Cäsar von Hofacker am 16. Juli 1944, zu einer einzigen großen Runde mit zentralen Persönlichkeiten der Verschwörung.16 Dennoch blieben Zusammenkünfte in Wannsee eher eine Seltenheit. Verwandtschaftliche Begegnungen wie die Claus‘ und Hofackers dürften keine allzu große Aufmerksamkeit erregt haben, eine derart große Runde wie an jenem 16. Juli musste bei häufigeren Zusammenkünften aber damit rechnen, in das Visier der Gestapo zu geraten. Eine für die Konspiration nicht unerhebliche Rolle nahm die Wohnung der beiden Brüder durch weitere Mitbewohner ein. Zum einen logierte Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim in Wannsee, nachdem er die Nachfolge Stauffenbergs als Stabschef Friedrich Olbrichts angetreten hatte und fortan eine tragende Säule bei den Umsturzplänen und am 20. Juli selbst war.17 Zum anderen war das Haus in der Tristanstraße kurzzeitiges Refugium für Rudolf Fahrner, der im Auftrag Stauffenbergs an einem Schwur für die Verschwörer und an den Aufrufen für den Umsturz arbeitete. Daneben wohnte auch noch Claus‘ Onkel, Nikolaus Graf von Üxküll-Gyllenband, bei den Stauffenberg-Brüdern. Er half dem körperlich stark eingeschränkten Obersten im Alltag und beteiligte sich zudem an der Ausarbeitung der Umsturzaufrufe.18 Hinsichtlich der finanziellen Aufwendungen ist zu berücksichtigen, dass Soldaten wie Offiziere ihre Reisen mit Bahn oder Flugzeug bei einer gewissen Entschädigung selbst finanzieren mussten. Stauffenberg hielt sich allerdings den Großteil seiner Zeit als Diensttuender im Allgemeinen Heeresamt in Berlin auf. Leider lassen sich die Kosten der Dienstflüge Stauffenbergs in die Führerhauptquartiere nach Berchtesga-

13 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 360f. 14 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 216. 15 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 333. 16 Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 1), S. 390; Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 247. 17 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 223f. 18 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 333, 357ff, 493ff.

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den und Rastenburg aus der Literatur nicht feststellen.19 Auch was Stauffenberg in seinem Widerstandshandeln an Materialkosten aufzuwenden hatte, kann kaum mehr eruiert werden. Das liegt vor allem daran, dass die Konspiranten im Hinblick auf die Organisation und Planung der Verschwörung sowie die Ausarbeitung von Aufrufen beziehungsweise Nachkriegsordnungen zum Zwecke des Selbstschutzes den mündlichen Austausch präferierten.

II Das soziale Kapital 1 Familie und Verwandtschaft Claus von Stauffenberg entstammte einer Adelsfamilie, deren Wurzeln im 13. Jahrhundert liegen und die ihren Status bis in das frühe 20. Jahrhundert kontinuierlich ausbauen konnte. Als Inhaber des Schenkenamtes der Grafen von Zollern gehörte die Familie Stauffenberg seit 1251 zum sogenannten Dienstadel. Ein Meilenstein war der Erwerb der Herrschaft Wilflingen durch Heirat, was gleichbedeutend mit einer Anbindung an das Herzogtum Württemberg war. In dieser Zeit kam es zur Ausdehnung des Familienbesitzes nach Osten, in deren Zuge sich die Amerdinger Linie herausbildete. Deren Pendant, die Wilflinger Linie, erwarb im frühen 16. Jahrhundert Lautlingen, wo Claus von Stauffenberg den Großteil seiner Kindheit verbringen sollte. Einen für die weitere Familiengeschichte bedeutenden Schritt unternahm die Adelsfamilie in der Mitte des 16. Jahrhunderts, als man sich vom adelsfeindlichen Hause Württemberg hin zum Hause Habsburg wandte. Die Habsburger erhoben beide Linien der Familie Stauffenberg im Jahre 1698 in den Freiherrenstand, ehe am Ende des 18. Jahrhunderts die Wilflinger Linie in den Grafenstand promoviert wurde. Nach dem Aussterben der gräflichen Linie mangels männlicher Nachkommen dauerte es bis 1874, ehe sich in Franz Ludwig Philipp Schenk Freiherr von Stauffenberg als Belohnung für dessen 25-jährige Tätigkeit als Kammerpräsident wieder ein Stauffenberg Graf nennen durfte. Nach seinem Tod wurden die Stauffenbergschen Besitzungen durch zwei Fideikommisse aufgeteilt, wobei das Gut Lautlingen im gräflichen Fideikommiss beinhaltet war.20 19 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8): Stauffenberg unternahm vier Reisen in die beiden Führerhauptquartiere, bei denen er den Sprengstoff mitführte. Am 6. und 11. Juli 1944 flog er mit dem Flugzeug auf den Obersalzberg (S. 243f, 246). Am 15. und 20. Juli nutzte er ebenfalls jeweils das Flugzeug für seine Reise nach Rastenburg in die Wolfsschanze (S. 252ff, 264ff). 20 Doris Muth, Reichsritter – Domherren – Widerstandskämpfer. Zur Familiengeschichte der Schenken von  Stauffenberg, in: Jakobus Kaffanke OSB u.a. (Hrsg.), Es lebe das „Geheime  Deutschland“! Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Person – Motivation – Rezeption. Beiträge des Sigmaringer Claus von Stauffenberg-Symposiums vom 11. Juli 2009 (Anpassung – Selbstbehauptung – Widerstand, Bd. 30), Berlin 2011, S. 25–30, 39, 41, 45.



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Dem Lautlinger Ast der gräflichen Schenken von Stauffenberg entsprang nun Claus, Jahrgang 1907, als dritter Sohn von Alfred Graf von Stauffenberg und Caroline, geborene Gräfin von Üxküll-Gyllenband. Er hatte zwei ältere Zwillingsbrüder, Berthold und Alexander, die im März 1905 geboren worden waren. Ende September 1933 heiratete Claus Nina, geborene Freiin von Lerchenfeld.21 Von den beiden Brüdern spielte Berthold die größere Rolle für das Widerstandshandeln Stauffenbergs. Der Marineoberstabsrichter wich am 20. Juli nicht von der Seite seines Bruders.22 Doch bereits im Vorfeld war er ein nicht zu unterschätzendes Rädchen im konspirativen Getriebe. Berthold, „das verkörperte Gewissen seines Bruders Claus“,23 führte zusammen mit Rudolf Fahrner des Öfteren Gespräche mit Claus über die politische Ordnung, vor allem aber arbeitete er mit dem Germanisten an den Aufrufen. Auf besonderen Wunsch Claus‘ verfassten Berthold und Fahrner einen Schwur, „der auch bei allen Trennungen und Gefährdungen […] noch diejenigen verbinde, die eine deutsche Zukunft mittragen könnten“. Ende 1943 überarbeitete Berthold mit Fahrner zusammen außerdem die für den Umsturz geltenden Standrechtsverordnungen.24 Stauffenbergs Onkel, Nikolaus von Üxküll-Gyllenband, war als Spezialist für militärpolitische Fragen an der steten Überarbeitung der Zukunftsplanungen beteiligt.25 Ein anderer wichtiger, mit Stauffenberg entfernt verwandter Konspirant war Cäsar von Hofacker. Der Vetter des schwäbischen Offiziers wurde von Stauffenberg zum Aufbau einer Umsturzgruppe in Paris auserkoren und berichtete ihm in zahlreichen Gesprächen über die Lage im Westen. Am 20. Juli verzeichnete die von Hofacker aufgebaute Außenstelle der Konspiration auch dank der Tatkraft des Luftwaffenoffiziers die größten Erfolge, brach aber letztlich wie der gesamte Putschversuch zusammen.26 Eine letzte verwandtschaftliche Beziehung, die Stauffenbergs Widerstandshandeln erleichterte, war die zu seinem Vetter Peter Graf Yorck von der Wartenburg. Durch seinen Vetter lernte Stauffenberg Ulrich Graf Schwerin von Schwanenfeld kennen und wurde über die Gespräche auf den Treffen des Kreisauer Kreises stets auf dem Laufenden gehalten.27 Yorck „stellte sich in voller Breitschaft zu Stauffenberg und dem Gedanken eines […] Attentats als Auslösung und Auftakt einer deutschen Erhebung“ und hätte im Fall eines Regimewechsels das Amt des Staatssekretärs beim Reichskanzler übernommen.28 21 Hößlin, Schenk v. Stauffenberg (wie Anm. 10), S. 165ff. 22 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 474. 23 Joachim Kramarz, Claus Graf Stauffenberg. 15. November 1907–20. Juli 1944. Das Leben eines Offiziers, Frankfurt am Main 1965, S. 138. 24 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 157ff, 169f, 230ff. 25 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 359; Kramarz, Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 23), S. 138f. 26 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 468; Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 186f, 247ff. 27 Kramarz, Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 23), S. 137ff. 28 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 217f.

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2 Freunde und Bekannte Ein wesentlicher Baustein für das Konstrukt „Widerstand“ waren Stauffenbergs im Regelfall adelige Freunde und Bekannte, wobei zu unterscheiden ist zwischen den bereits vor Stauffenbergs Eintritt in die Konspiration bestehenden sowie den erst im Laufe seiner Widerstandsaktivität entstandenen Verbindungen. Major Freiherr von Leonrod, einen Kameraden aus der Zeit beim 17. Bamberger Kavallerieregiment, überredete Stauffenberg zur Teilnahme am Staatsstreich nach einem um Weihnachten 1943 vorgesehenen, aber letztlich ausgebliebenen Anschlagsversuch. Später, im Juni 1944, wurde Leonrod auf Betreiben Stauffenbergs in die Adjutantur Olbrichts versetzt, da der schwäbische Offizier strategisch wichtige Stellen mit geeigneten Personen besetzen wollte. So verfügte er es auch bei dem mit ihm seit der Ausbildung in Bamberg befreundeten Oberstleutnant Peter Sauerbruch, der aber nach nur drei Monaten Dienst im Allgemeinen Heeresamt im März 1944 wieder abkommandiert wurde.29 Auf der Kriegsakademie in Berlin 1936 lernte Stauffenberg Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg kennen. „Eine der wertvollsten Vermittlungen“ bescherte Schulenburg seinem ehemaligen Kommilitonen, indem er ihn mit dem sozialdemokratischen Oppositionellen Julius Leber bekannt machte. Zudem vermittelte er Stauffenberg Anfang 1944 Leutnant Ewald Heinrich von Kleist als potentiellen Attentäter.30 Auch Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim kannte Stauffenberg seit seiner militärischen Ausbildung in Berlin. Nach seiner Versetzung in den Generalstab bei Fromm sorgte Stauffenberg dafür, dass ihm mit Mertz von Quirnheim ein gleichgesinnter Offizier auf seiner Position nachfolgte. Seit seinem Dienstantritt am 17. Juni 1944 half Mertz tatkräftig bei den Umsturzplänen mit. Am 20. Juli war er neben Stauffenberg und Haeften der Einzige, der von Anfang an vorbehaltlos für den Staatsstreich sein Leben riskierte.31 Neben dem Unterricht an der Kriegsakademie nahm Stauffenberg an politischen Diskussionsrunden bei seinem Vetter Peter Graf Yorck von der Wartenburg teil und schloss dabei Bekanntschaft mit dem Legationsrat Adam von Trott zu Solz. Jener stellte im Widerstand einen wichtigen Informanten für außenpolitische Fragen dar, die in den Plänen der Verschwörer eine gewichtige Rolle spielten. Trott zu Solz lotete auf zahlreichen Auslandsreisen für Stauffenberg die Haltung der Westmächte nach einem möglichen Sturz des Regimes aus. Aus guten Bekannten wurden Anfang 1944 sehr gute Freunde.32 Einer der wenigen nicht-adeligen alten Freunde war Rudolf Fahrner. Er, der ebenfalls in der Geisteswelt des von Claus verehrten Dichters 29 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 203, 404; Kramarz, Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 23), S. 156f; Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 219. 30 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 146f, 401f; Kramarz, Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 23), S. 136f. 31 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 428; Kramarz, Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 23), S. 184; Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 270ff. 32 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 146, 382f; Kramarz, Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 23), S. 178.



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Stefan George zu verorten war, schloss mittels Frank Mehnert, einem George-Schüler, 1936 mit Stauffenberg Bekanntschaft und war ihm im Widerstand ein wichtiger Freund und Helfer. Zum einen stand Fahrner, der gegen Ende des Krieges im besetzten Griechenland tätig war, seinem Freund als Gesprächspartner zur Verfügung.33 Zum anderen war der Germanist derjenige, der entscheidend an der Redaktion der geplanten Aufrufe an die Bevölkerung und eines von Stauffenberg gewünschten Eides mitwirkte. Zu diesen Zwecken bestellte ihn Stauffenberg einige Male nach Berlin, wo Fahrner im Geheimen (meist in Zusammenarbeit mit Berthold von Stauffenberg oder Nikolaus Graf Üxküll) an den Entwürfen arbeitete. Außerdem vermittelte er Stauffenberg Oberleutnant Urban Thiersch, der im Amt Ausland/Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht für die Verschwörer agieren sollte.34 Den bereits bestehenden breiten Freundes- und Bekanntenkreis erweiterte Stauffenberg während seiner Widerstandstätigkeit gezielt. Zu einem wahren „Lehrmeister“ wurde Henning von Tresckow. Mit Tresckow, den er 1941 auf einem Besuch an der Ostfront kennenlernte, arbeitete er im September 1943 militärische Pläne für den Umsturz aus. Zudem brachte Tresckow Stauffenberg in dieser Zeit mit Carl Friedrich Goerdeler zusammen, dem ehemaligen Leipziger Oberbürgermeister und designierten Reichskanzler nach dem Sturz Hitlers.35 Bei der Arbeit an den Umsturzplänen wurden Stauffenberg und Tresckow von Major Hans-Ulrich von Oertzen unterstützt. Dadurch Stauffenberg gut bekannt, wirkte Oertzen bei den Vorbereitungen unmittelbar vor dem 20. Juli 1944 mit.36 Das Paradebeispiel für die Entstehung einer Freundschaft unter Gesinnungs- und Standesgenossen ist die von Stauffenberg mit seinem Ordonnanzoffizier Werner von Haeften. Haeften unterstützte seinen Vorgesetzten vorbehaltlos beim Staatsstreich und stand ihm bei seiner Mission in der Wolfsschanze sowie bis zur Niederschlagung des Staatsstreichs bei.37

III Das kulturelle Kapital 1 Inkorporierungen In der Literatur ist häufig von bürgerlichen Bildungs- und Erziehungsidealen die Rede, die bei Claus Anwendung fanden.38 So besuchte er das humanistische Eberhard-Lud33 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 53, 157ff, 241f. 34 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 357ff, 419ff; Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 169f. 35 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 340; Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 94, 164ff. 36 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 431f. 37 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 451ff. 38 Muth, Es wird Zeit (wie Anm. 3), S. 819.

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wig-Gymnasium, die „Elite-Schule des schwäbischen Bildungsbürgertums“,39 und konnte sich dank der liberalen Atmosphäre in seinem Elternhaus und am württembergischen Königshof geistig frei entfalten.40 Dadurch entwickelte sich bei den Brüdern im Gegensatz zu ihren Eltern kein „Anspruch auf eine durch Tradition überkommene Anerkennung ihres Standes“.41 Ein weiterer, für diesen Befund determinierender Faktor ist im Freundeskreis der Brüder zu finden, der überwiegend aus Bürgerlichen bestand.42 Dennoch war der Habitus der Brüder weiterhin von ihrer Zugehörigkeit zum Adel geprägt. Man beginge einen Fehler, würde man Stauffenbergs Adeligkeit geringschätzen. Wie Doris Muth erkennt, „ergänzten sich aristokratisches Standesbewusstsein und bürgerliches Erziehungsideal“.43 Die These des fruchtbaren Miteinanders von Standesbewusstsein und bürgerlichen Einflüssen stützt auch Hans Bentzien, der Claus von Stauffenberg ein quasi aufgeklärtes adeliges Selbstbild zuspricht: „So gelangte er bereits früh, in seinen Jugendjahren, zu der Erkenntnis: Adel der Geburt ist nur gerechtfertigt, wenn er von einem Adel der Gesinnung begleitet wird. Wer Vorrechte der Geburt in Anspruch nehmen kann, darf es nur in Verantwortung vor der Gemeinschaft tun.“44 Das im Vergleich zur Elterngeneration, besonders zum Vater, gegensätzliche Adeligkeitsmodell illustriert am besten ein Ausspruch Claus von Stauffenbergs im Erwachsenenalter: „Bedeutung hat der Adel keine mehr, Rechte hat er noch viel weniger, aber er hat aus seiner Tradition heraus besondere Verpflichtungen.“45 Eine – auch für das spätere Widerstandshandeln – besondere Bedeutung in Stauffenbergs Erziehung spielte der Glaube. Im Gegensatz zu Berthold entwickelte sich vor allem bei Claus eine tiefe Religiosität.46 Deren Ausprägung und Bedeutung für das Widerstandshandeln Stauffenbergs blieb in der Forschung lange Zeit vernachlässigt. Dieses Defizit wird in jüngerer Zeit auszugleichen versucht, so etwa durch die Studien von Reindl und zuletzt Kaffanke. Vor allem Kaffanke bietet ein Konglomerat von schriftlichen und mündlichen Quellen, das ein eindrucksvolles Bild von der Bedeutung des Glaubens für das Denken und Handeln des Claus von Stauffenberg vermittelt.47 Stauffenberg, in eine ihren katholischen Glauben seit jeher konsequent 39 Muth, Es wird Zeit (wie Anm. 3), S. 819. 40 Muth, Es wird Zeit (wie Anm. 3), S. 819f; Ulrich Schlie, „Es lebe das heilige Deutschland“. Ein Tag im Leben des Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Ein biografisches Porträt, Freiburg 2009, S. 42. 41 Muth, Reichsritter – Domherren – Widerstandskämpfer (wie Anm. 20), S. 47. 42 Christopher Dowe, Alter Adel und Neuadelsvorstellung. Die von Stauffenbergs, in: Haus der Geschichte Baden-Württemberg in Verbindung mit der Landeshauptstadt Stuttgart (Hrsg.), Adel und Nationalsozialismus im deutschen Südwesten, Leinfelden-Echterdingen 2007, S. 83–103 und S. 198–201, hier S. 88. 43 Muth, Es wird Zeit (wie Anm. 3), S. 820. 44 Hans Bentzien, Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Der Täter und seine Zeit, Berlin 2004, S. 12. 45 Dowe, Alter Adel und Neuadelsvorstellung (wie Anm. 42), S. 91f. 46 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 28. 47 Jakobus Kaffanke OSB, Das Christliche bei Claus Philipp Maria Schenk Graf von Stauffenberg, in: Ders. u.a. (Hrsg.), Es lebe das „Geheime Deutschland“! Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Person



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praktizierende Familie hineingeboren und von Kindesbeinen an tiefgläubig, verleugnete während seiner Zeit beim Militär nie seine Religiosität, auch nicht dann, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Wann immer ihm möglich, nahm er an Gottesdiensten teil, zudem trug er stets ein Kruzifix um den Hals.48 Kaffanke stellt darüber hinaus fest, dass „Stauffenbergs religiöse Verwurzelung […] gerade in den Monaten vor dem 20. Juli 1944 […] eine Erneuerung und Stärkung erfuhr“.49 Beispielsweise sollte seine Frau Nina dafür sorgen, dass er die Sterbesakramente empfange.50 Bei der Verabschiedung von den Teilnehmern einer Gesprächsrunde am 14. Juli sagte Stauffenberg: „Mir bleibt nur noch der Mord – aus christlicher Verantwortung.“51 Auch Margarethe von Oven, der Sekretärin Henning von Tresckows, gegenüber betonte er die Rolle der Religion, denn er sah das Attentat als „von Gott gegebene Aufgabe“.52 Welchen Halt ihm sein Glaube gegeben hat, zeigt der spontane Besuch eines Gottesdienstes im Berliner Stadtteil Dahlem am Vorabend des Attentates.53 Stauffenberg war zwar laut Kaffanke nicht dogmengläubig,54 doch reflektierte er sein Tun auch auf religiöser Ebene. So sah er sich dem christlichen Menschenbild und deshalb der Maxime verpflichtet, Menschen höher zu werten als Meinungen und Ideen, die sie vertraten. Zugleich war er der Meinung, auch die große Politik müsse einer religiös verankerten Sittlichkeit folgen. Parteien waren ihm dagegen fremd, ebenso wie deren Programme.55 Stauffenbergs Staatsverständnis war vielmehr organischer Gestalt: Den Nukleus der konzentrischen Gesellschaft stellte für ihn die Familie dar. Ihre genossenschaftliche Struktur wurde im Sinne eines korporativen Aufbaus auf alle übrigen Sozialeinheiten des Staates projiziert. Dieser „figurierte dementsprechend als organischer, nach naturrechtlichen Prinzipien konstituierter und damit ebenfalls dem Gemeinwohl verpflichteter Körper, dessen Glieder die Gesamtheit aller Individuen und der durch sie gebildeten Korporationen bildeten“.56 Jenes Naturrecht, dessen Gottgegebenheit die christliche Konnotation des organi– Motivation – Rezeption. Beiträge des Sigmaringer Claus von Stauffenberg-Symposiums vom 11. Juli 2009 (Anpassung – Selbstbehauptung – Widerstand, Bd. 30), Berlin 2011, S. 59–70; Alwin Reindl, Stauffenbergs Katholizität in der geschichtswissenschaftlichen Literatur, in: Bericht des Historischen Vereins Bamberg, 145, 2009, S. 293–324. 48 Kaffanke, Das Christliche (wie Anm. 47), S. 60–62. 49 Kaffanke, Das Christliche (wie Anm. 47), S. 59. 50 Kaffanke, Das Christliche (wie Anm. 47), S. 66. 51 Detlef Graf von Schwerin, „Dann sind‘s die besten Köpfe, die man henkt“. Die junge Generation im deutschen Widerstand, München 1991, S. 387. 52 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 356. 53 Reindl, Stauffenbergs Katholizität in der geschichtswissenschaftlichen Literatur (wie Anm. 47), S. 305f. 54 Kaffanke, Das Christliche (wie Anm. 47), S. 68. 55 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 362. 56 Markus Raasch, Die politische Ideenwelt des Adels. Das Beispiel der Zentrumspartei in der Bismarckära, in: Ders./Tobias Hirschmüller (Hrsg.), Von Freiheit, Solidarität und Subsidiarität. Staat und Gesellschaft der Moderne in Theorie und Praxis, Berlin 2013, S. 357–382, hier S. 359f.

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schen Staatsverständnisses offenlegt, machte es in Stauffenbergs Sicht dem Staat zur Aufgabe, „die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass ein jeder sich gemäß seiner Bestimmung und seinen Anlagen entfalten kann“.57 Eine ethisch legitimierte politische Ordnung konnte nur durch „die gesunde, ungefährdete, lebensvolle Existenz der Familie“ erreicht werden, da in ihr die zentralen Wertorientierungen fixiert seien.58 Seine Religiosität ließ Stauffenberg jedem Menschen, egal welcher Schicht er entstammte oder welcher Konfession er angehörte, wohl mit Toleranz und Respekt begegnen. Ein Beispiel hierfür mag eine Äußerung Stauffenbergs im Rahmen seiner konspirativen Tätigkeit sein: „Das deutsche Volk besteht nicht nur aus adeligen Offizieren und Krautjunkern.“59 Eine differenziertere Betrachtung ist allerdings hinsichtlich eines eventuellen Antisemitismus Claus von Stauffenbergs notwendig. In der Literatur finden sich diverse Beispiele und Aussagen von Zeitgenossen, die seinen Antisemitismus negieren. So versuchte er einmal in seiner Jugend, „eine Taktlosigkeit seiner Mutter gegenüber einem jüdischen Mitschüler gutzumachen […]“.60 Auch ein ehemaliger Mitschüler Stauffenbergs am Eberhard-Ludwig-Gymnasium kann sich nicht an antisemitische Ausfälle Claus von Stauffenbergs erinnern, die durchaus dem Zeitgeist entsprochen hätten.61 Außerdem sagte er einmal, „daß in den KZ in der überwiegenden Anzahl anständige Menschen säßen“.62 Harsche Kritik übte Stauffenberg zudem an der Reichspogromnacht.63 Dieses anscheinend makellose Bild muss allerdings ein Stück weit revidiert werden. Fakt ist zwar, dass Stauffenberg nie mit dem von den Nationalsozialisten praktizierten Antisemitismus konform ging. Allerdings hielt er eine – wenn auch gewaltlose – Entfernung der Juden durchaus für richtig, wie sein Bruder Berthold nach dem gescheiterten Aufstandsversuch im Verhör bekannte.64 Der geistige Hintergrund dürfte wohl in der Mitgliedschaft im Kreis um den Dichter Stefan George zu finden sein. George hegte einen der Zeit entsprechenden, latenten Antisemitismus, obwohl seinem Kreis auch Juden angehörten. Die Haltung des Meisters blieb nicht 57 Raasch, Die politische Ideenwelt (wie Anm. 56), S. 360. 58 Anselm Doering-Manteuffel, Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Ein württembergischer Preuße im Widerstand gegen Krieg und Diktatur, in: Zollernalbkreis Jugendring e. V./Zollernalbkreis (Hrsg.), Verblendung, Mord und Widerstand. Aspekte nationalsozialistischer Unrechtsherrschaft im Gebiet des heutigen Zollernalbkreises von 1933–1945 (Vorträge, gehalten bei der Sommerakademie „Nationalsozialismus und Widerstand“ des Zollernalbkreises Jugendring e. V. vom 15. bis 21. Juli 1994 anläßlich des 50. Jahrestages des Attentats auf Hitler durch Claus Schenk Graf von Stauffenberg am 20. Juli 1944), Hechingen 1995, S. 71–84, hier S. 80. 59 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 228. 60 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 426. 61 Kaffanke, Das Christliche (wie Anm. 47), S. 62. 62 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 228. 63 Corina Erk, Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Zwischen Wohlwollen und Widerstand, in: Bericht des Historischen Vereins Bamberg, 145, 2009, S. 343. 64 Werner Bräuninger, Claus von Stauffenberg. Die Genese des Täters aus dem Geiste des Geheimen Deutschland, Wien 2002, S. 82, 106.



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ohne Einfluss auf die Mitglieder des Kreises. So waren auch Johann Anton und Max Kommerell Antisemiten. Letzterer wurde zum Mentor von Claus von Stauffenberg ernannt, doch kann über ein eventuelles Übergehen antisemitischen Gedankengutes von Kommerell auf Stauffenberg nur spekuliert werden.65 Beispielhaft für einen vorhandenen Antisemitismus, wenngleich im Hochgefühl eines erfolgreichen „Blitzkrieges“ entstanden und deshalb nicht überzubewerten, ist eine briefliche Äußerung Stauffenbergs gegenüber seiner Frau Nina auf dem Polen-Feldzug: „Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk.“66 Als Ergebnis dieser Skizze ist festzuhalten, dass sich bei Stauffenberg – wohl infolge des Eintritts in den George-Kreis – ein latenter Antisemitismus ausbildete, der allerdings nie offen zutage trat. Dabei wusste er aber sehr wohl zwischen Mittel und Ziel zu unterscheiden, was die scharfe Kritik an der Behandlung der Juden durch die Nationalsozialisten beweist. Wohl nicht bewusst durch die Erziehung intendiert, sondern dem Ersten Weltkrieg als einschneidendes Erlebnis in Claus‘ Kindheit zuzuschreiben, ist sein bereits erstaunlich früh ausgeprägter Nationalismus. Mit gerade einmal zehn Jahren rief er, erschüttert vom deutschen Waffenstillstandsgesuch am Ende des Ersten Weltkrieges, aus: „Mein Deutschland kann nicht untergehen – u. wenn es jetzt auch sinkt – es muss sich wieder stark u. groß erheben […].“67 Auch ein Schulaufsatz aus dem Jahre 1923 dokumentiert Stauffenbergs Hingabe an Deutschland, die sich durch sein späteres Widerstandshandeln wie ein roter Faden ziehen sollte: Für alle, die das Vaterland und das neue Reich erkannt haben, gibt es nur den Einen hohen Beruf, den uns die grossen Griechen und Römer durch die Tat vorgelebt haben, […]: Des Vaterlandes und des Kampfes fürs Vaterland würdig zu werden und dann sich dem erhabenen Kampf für das Volk zu opfern; ein wirklichkeits- und kampfbewusstes Leben führen.68

Dienst am Vaterland erschien Stauffenberg als Lebenszweck.69 In Interdependenz dazu spielte in Stauffenbergs inkorporiertem kulturellem Kapital das Soldatenethos eine wichtige Rolle. Stauffenberg, der sich durch seinen hohen militärischen Intellekt auszeichnete, in seinem Ausbildungsjahrgang stets zu den Besten gehörte und einen steilen Aufstieg auf der militärischen Karriereleiter erlebte, verstand Gesetz, Ehre und Recht als die unabdingbaren Werte des Militärs.70 65 Bräuninger, Claus von Stauffenberg (wie Anm. 64), S. 75f, 79; Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 85; Manfred Riedel, Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg, Köln u.a. 2006, S. 174. 66 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 200. 67 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 38. 68 Muth, Es wird Zeit (wie Anm. 3), S. 821. 69 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 38, 53; Muth, Es wird Zeit (wie Anm. 3), S. 823; Wunder, Die Schenken von Stauffenberg (wie Anm. 12), S. 349, 355. 70 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 104; Muth, Es wird Zeit (wie Anm. 3), S. 822f; Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 41f.

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Auch jenseits der Antisemitismusproblematik war Stefan George von außerordentlich großer Bedeutung für Stauffenbergs kulturelles Kapital. Der Dichter baute nach 1900 einen Kreis aus Gleichgesinnten um sich auf, zu dem im Jahre 1923 auf Vermittlung des Philologen Albrecht von Blumenthal alle drei Stauffenberg-Brüder stießen. Die Brüder fanden einen Kreis vor, dem Menschen verschiedener sozialer Herkunft und Professionen angehörten. Vor allem im engeren Freundeskreis Georges, zu dem auch die Stauffenberg-Brüder zählten, war die Mehrheit der Mitglieder bürgerlicher Herkunft, darunter auch der zum Mentor von Claus von Stauffenberg ernannte Max Kommerell. Dieser innere Zirkel requirierte sich vornehmlich aus Hochschullehrern, Schriftstellern, Juristen sowie bildenden Künstlern und Architekten.71 George entwickelte die Vision eines auf antiken und mittelalterlichen Vorbildern basierenden „neuen Reiches“, dem er den Namen „Geheimes Deutschland“ gab.72 Diesen Staat wollte er von einer „Führungsschicht, die nach geistigen Gesichtspunkten auszuwählen sei“,73 verwirklicht sehen. George entwarf dafür das Konzept eines neuen geistigen Adels, dem sich Claus von Stauffenberg zugehörig fühlte. Georges Konzeption muss dabei in einem größeren historischen Kontext gesehen werden. An der Wende zum 20. Jahrhundert begannen sich mehrere deutsche Autoren (Alexandra Gerstner untersucht die Überlegungen Walter Rathenaus, Bernhard Koerners, Kurt Hillers, Edgar Jungs und Richard Graf Coudenhove-Kalergis) in ihren Schriften mit einer Neuadelsvorstellung auseinanderzusetzen. Deren Motivation resultierte aus einer fortschreitenden Verwässerung der idealisierten alten Adelsschicht durch zunehmende Nobilitierungen von Juden und Großbürgern.74 Ein stimulierendes Moment war zudem die Änderung der politischen Verhältnisse. Die ungeliebte Weimarer Republik ließ es notwendig erscheinen, sich Gedanken über eine neue Führungsschicht zu machen.75 Dabei kam es zu Uminterpretationen des Adelsbegriffes, die in Detailfragen verschiedene Ausformungen aufwiesen, in den großen Zusammenhängen allerdings dieselben Intentionen verfolgten. Koerner baute seinen Adelsbegriff auf einen strikten Antisemitismus auf und akzentuierte die Bedeutung der Familientradition für die Zugehörigkeit zum Adel. Nobilitierungen seien nicht zu akzeptieren, vielmehr komme es auf Erziehung und Vererbung an. Aus letzteren Prinzipien geht hervor, dass Koerner zufolge auch das Bürgertum – sofern es die Voraussetzungen erfüllte – zum neuen Adel gehören durfte. Ferner sollten auch Unternehmer und die Unterschichten

71 Bräuninger, Claus von Stauffenberg (wie Anm. 64), S. 22; Rainer Kolk, „George-Kreis“, in: Wulf Wülfing u.a. (Hrsg.), Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825–1933, Stuttgart 1998, S. 141, 146f. 72 Kurt Finker, Der 20. Juli 1944. Militärputsch oder Revolution?, Berlin 1994, S. 64; Muth, Es wird Zeit (wie Anm. 3), S. 820. 73 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 362. 74 Alexandra Gerstner, Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008, S. 139. 75 Gerstner, Neuer Adel (wie Anm. 74), S. 295.



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zu der „neuen Aristokratie“ gehören.76 Auch Jung sah in dem notwendigen neuen Adel keinen Geburtsadel mehr. Zwar spiele für ihn die familiäre Geschlossenheit eine entscheidende Rolle, jedoch sollte auch ein sozialer Aufstieg vor allem für das Bürgertum möglich sein. Zentrale Kriterien waren also die familiäre Herkunft, der Charakter und die Erziehung. Hinzu traten althergebrachte adelige Werte, wie Dienst, Besitz und Verantwortlichkeit.77 Diese eher allgemeinen Wertvorstellungen konkretisierten die Autoren in ihren Modellen auf individueller Ebene. Die zentrale Begrifflichkeit war hierbei der Neu-Adelige als Tatmensch. Gerstner filtert aus den Diskursen drei zentrale Aspekte: Erstens das Land, das dem Adeligen die Rahmenbedingungen zur Tat bietet. Zweitens das Kriegertum, wobei weniger der traditionsreiche Offiziersberuf als vielmehr der moderne Ritter als neues Männlichkeitsideal proklamiert wurde. Drittens verband man die Tat mit den geistigen Fähigkeiten des Täters, der somit Repräsentant eines neuen geistigen Adels war.78 Diesen Adel verpflichtete Hiller zur Verantwortlichkeit gegenüber dem Volk und damit zur Herrschaft. Jung sprach in diesem Zusammenhang vom Verantwortungsbewusstsein, das den Neu-Adeligen aus ihrem Geist heraus erwachsen müsse.79 Die Charakteristika des neuen geistigen Adels lassen sich pointiert mit drei Begriffen zusammenfassen: Der bereits angesprochene Antisemitismus, der Antimaterialismus (Ablehnung eines materialistisch orientierten neuen Adels80) und der Antikommunismus (Zurückweisung der Herrschaft der Masse81) bilden den Rahmen für ein neues Adelsmodell. Hinzu kommen „nicht quantifizierbare, innere Qualitäten“,82 die Bildung dagegen wird aufgrund ihrer allgemeinen Zugänglichkeit und damit ihrer fehlenden Exklusivität nicht als Kriterium beachtet.83 Stefan Georges Adelsmodell weist frappierende Ähnlichkeiten zu den zeitgenössischen Neuadelskonzepten auf. Das neue Geheime Deutschland als Renaissance des antiken Griechentums sollte von einem Adel angeführt werden, der „nicht auf den Privilegien der Geburt, sondern auf den Vorrechten des Geistes“84 beruhte. Die geistige Führungsschicht sollte sich Pflichten auferlegen, die sich zum Beispiel im Dienst an der Allgemeinheit äußerten. George lehnte ebenfalls die zunehmende Materialisierung der Gesellschaft ab, der Geist war für ihn der entscheidende Faktor. Ein zentrales

76 Gerstner, Neuer Adel (wie Anm. 74), S. 140–158, insbesondere S. 141–146, 166. 77 Gerstner, Neuer Adel (wie Anm. 74), S. 184–196, insbesondere S. 184, 188, 191. 78 Gerstner, Neuer Adel (wie Anm. 74), S. 198, 206, 237. 79 Gerstner, Neuer Adel (wie Anm. 74), S. 268, 281. 80 Gerstner, Neuer Adel (wie Anm. 74), S. 528. 81 Gerstner, Neuer Adel (wie Anm. 74), S. 528. 82 Gerstner, Neuer Adel (wie Anm. 74), S. 527. 83 Gerstner, Neuer Adel (wie Anm. 74), S. 294. 84 Peter Thaddäus Lang, Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Prägende Kräfte in Kindheit und Jugend, in: Zollernalbkreis Jugendring e. V./Zollernalbkreis (Hrsg.), Verblendung, Mord und Widerstand (wie Anm. 58), S. 86–96, hier S. 90.

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Anliegen Georges stellte „die Fähigkeit zur Hingabe und zum Opfer […]“ dar.85 Neben der Opferbereitschaft nahm auch Georges Ethos der Tat entscheidenden Einfluss auf Stauffenbergs Bewusstseinswelten, „wonach dem Berufenen Pflichten auferlegt seien, die kein anderer für ihn erfüllen könne“.86 Ludwig Thormaelen, ebenfalls ein Anhänger Georges, beschreibt, wie sehr Stauffenberg Georges Maxime der Tat bereits in relativ jungen Jahren verinnerlicht hatte: „Eine Trennung, einen Abstand zwischen Denken und Tun, Empfinden und Handeln, gab es bei Claus nicht.“87 So ist der spätere Schritt Stauffenbergs zum Täter, der nach George vor dem deutschen Volk verantwortlich ist, nicht verwunderlich, zumal in der Georgeschen Diktion der Täterbegriff nicht negativ konnotiert war, sondern „einen tatkräftigen, aktiven, voran­gehenden, handelnden Menschen“88 bezeichnete. Doch wieso war Stauffenberg so empfänglich für Georges Reichsidee? Wie bereits angedeutet, entwickelte Claus von Stauffenberg ein gänzlich anderes Adelsverständnis als seine Eltern. Für ihn gehörte man als Adeliger nicht mehr automatisch zur gesellschaftlichen Elite, vielmehr musste dies durch Leistung und Übernahme von Verantwortung gerechtfertigt sein.89 Dennoch hielt er weiterhin „traditionelle adelige Dienst- und Ehrvorstellungen“90 hoch, die auch George in seinem Gedankengebäude berücksichtigte. Eine interessante, weil in den einschlägigen Biographien über Stauffenberg nicht explizit herausgearbeitete Verbindung stellt Reindl zwischen Georges Ethos der Tat und Stauffenbergs Katholizismus her. Da laut Reindl Georges Tatbegriff den Charakter einer künstlerischen Forderung trage und daher „den Einsatz des Lebens nie rechtfertigen“91 könne, bedurfte es eines „Ethos der Sühne und des Opfers“.92 Damit sich diese christlichen Werte zu einem Ethos ausprägten, war allerdings eine lange Tradition erforderlich. In der Folge könne das Ethos der Tat keine Erfindung Georges sein.93 Damit schließt sich für Reindl der Kreis: „Stauffenbergs Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus und sein Entschluss zur Tat wurden nicht erst durch George verursacht, sie begannen lange vor George, sie wurzelten in seiner christlichen Kinderstube.“94 Ein weiterer Faktor für die Konformität Stauffenbergs 85 Muth, Es wird Zeit (wie Anm. 3), S. 820. 86 Muth, Es wird Zeit (wie Anm. 3), S. 828. 87 Bentzien, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 44), S. 33. 88 Bentzien, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 44), S. 39f. 89 Dowe, Alter Adel und Neuadelsvorstellung (wie Anm. 42), S. 89; Muth, Reichsritter – Domherren – Widerstandskämpfer (wie Anm. 20), S. 47. 90 Dowe, Alter Adel und Neuadelsvorstellung (wie Anm. 42), S. 102. 91 Reindl, Stauffenbergs Katholizität in der geschichtswissenschaftlichen Literatur (wie Anm. 47), S. 302. 92 Reindl, Stauffenbergs Katholizität in der geschichtswissenschaftlichen Literatur (wie Anm. 47), S. 302. 93 Reindl, Stauffenbergs Katholizität in der geschichtswissenschaftlichen Literatur (wie Anm. 47), S. 302. 94 Reindl, Stauffenbergs Katholizität in der geschichtswissenschaftlichen Literatur (wie Anm. 47), S. 303.



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mit den Georgeschen Ideen war die humanistische Bildungstradition am EberhardLudwig-Gymnasium, die wie George die Epoche der Griechen als „den Höhepunkt menschlicher Entwicklungsgeschichte darstellte“.95 Claus von Stauffenberg war in seiner Jugend außerdem Mitglied der Neupfadfinder-Bewegung, deren Ideen zu denen Georges relativ ähnlich waren. Die Jugendlichen beklagten die technologisierte Welt, lehnten die Weimarer Republik mit ihrer „umständliche[n] und kontroverse[n] Meinungsbildung in der täglichen Praxis der Parlamente“ ab und wiesen generell alles Linke zurück.96 Zudem „beschäftigte man sich mit dem Idealbild eines Ritters, eines anständigen Soldaten also, der mit starker Hand das schwach gewordene Reich und die Schwachen in ihm zu schützen vermochte“.97 Ferner spielte sicherlich auch die Enttäuschung Stauffenbergs über die demokratische Staatsform der krisengeschüttelten Weimarer Republik sowie den geringen Widerstand der Monarchen, speziell des württembergischen Königs, gegen ihre Absetzung am Ende des Ersten Weltkrieges eine nicht unerhebliche Rolle für seine Offenheit gegenüber Georges Idee von einem neuen, geistigen Reich.98 Zuletzt, und das ist wohl der wichtigste Grund, dürfte Georges Modell besonders attraktiv für Stauffenberg gewesen sein, da in ihm der – wenn auch modifizierte – Adel eine entscheidende, weil staatstragende Position einnehmen sollte.

2 Interne und externe Kommunikation Als nicht zu vernachlässigender Vorteil erwies sich Stauffenbergs Zugehörigkeit zum Zirkel um Stefan George auf dem Feld der Gewinnung von Verschwörern (externe Kommunikation) und der innerkonspirativen Verständigung (interne Kommunikation). Hier spielten Gedichte aus der Feder Georges, durch die sich die Verschwörer oft klarer verständigen konnten, eine überaus wichtige Rolle. So vertiefte ein Gedicht die Nähe zwischen Stauffenberg und Henning von Tresckow während ihrer Arbeit an der „Operation Walküre“ im September 1943.99 Margarethe von Oven, der Sekretärin Tresckows, begründete Stauffenberg sein Widerstandshandeln durch die Rezitation eines George-Gedichtes als von Gott gegebene Aufgabe.100 Zur Gewinnung weiterer Verschwörer nutzte er zudem oft die Macht des Georgeschen Wortes. Maria von Stauffenberg berichtete, „[e]s könne ihm die, die er brauche, finden helfen“.101 Mit ‚es‘ ist 95 Lang, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 84), S. 90. 96 Bentzien, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 44), S. 26. 97 Bentzien, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 44), S. 25f. 98 Bentzien, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 44), S. 19; Finker, Der 20. Juli 1944 (wie Anm. 72), S. 64. 99 Kramarz, Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 23), S. 169; Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 165f. 100 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 356. 101 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 180f.

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in diesem Fall das Gedicht „Der Widerchrist“ gemeint, das Stauffenberg beispielsweise dem unschlüssigen Oberstleutnant Bernardis vortrug.102 Marcel Beyer führte die Auswahl eben dieses Gedichts durch Stauffenberg und die Verschwörer auf seine semantische Polyvalenz zurück. Denn Claus von Stauffenberg musste ja, zumal vor gemischter also teils in die Verschwörung eingeweihter und teils regimetreuer Zuhörerschaft, seine Haltung und sein geheimes Wirken in einem Zuge vor Gleichgesinnten aufdecken und vor Gegnern verbergen, er musste sich gegebenenfalls herantasten, musste horchen, welche Resonanz das Aufsagen von George-Versen bei einem Gegenüber auslöst, um dann, aus der vermutlich auch wieder äußerst vorsichtig geäußerten Resonanz, zu deuten, welche Haltung das Gegenüber einnahm.103 Gelangten darüber hinaus Versatzstücke Georgescher Lyrik in die Worte Stauffenbergs, nahm seine Umwelt dies „als unmittelbare[n] Ausdruck seiner inneren Bewegung“104 wahr.

3 Außenpolitische Planungen Die Staatsstreichpläne im September 1943 erarbeiteten Stauffenberg und Tresckow mit dem Ziel, dass die Fronten trotz des Umsturzes nicht zusammenbrechen sollten.105 Ende 1943 war Stauffenberg der Meinung, die Hauptaufgabe einer Post-Hitler-Regierung sei „das Halten der Ostfront gegen den Einbruch der russischen Brutalität“.106 Diese Einstellung resultiert aus Stauffenbergs Überzeugung im Herbst 1943, sowohl die Ost- als auch die Westfront halten zu können. Auch Mitte Juni 1944, als die Alliierten bereits in der Normandie gelandet waren, war Stauffenberg noch nicht gewillt, die Westfront aufzugeben und den Alliierten so eine kampflose Besetzung des Deutschen Reiches zuzugestehen. Vor der Invasion am 6. Juni 1944 äußerte der Oberst in einem Memorandum das Ziel, „daß Deutschland noch einen im Spiel der Kräfte einsetzbaren Machtfaktor darstelle und daß insbesondere die Wehrmacht in der Hand ihrer Führer ein anwendbares Instrument bleibe“.107 Hier wird deutlich, dass Stauffenberg es angesichts seiner Vaterlandsliebe und seiner Ideale nur schwer akzeptieren konnte, wenn Deutschland im „Konzert der Großen“ keine Rolle mehr spielen würde. Zudem wusste Stauffenberg wohl genau, dass die Wehrmacht in einem besetzten Deutschland nicht mehr existieren würde. Dass dies seinem Soldatenethos und seiner Liebe zum Soldatenberuf diametral entgegenstand, darf angenommen werden. Zunächst hoffte er deshalb, einen 102 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 181. 103 Marcel Beyer, Stefan George, die Brüder Stauffenberg und die Eindeutigkeit, in: Text + Kritik, 146, 2005, S. 35–46, hier S. 43f. 104 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 182. 105 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 166, 171. 106 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 353. 107 Kramarz, Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 23), S. 181.



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Waffenstillstand mit den Westmächten schließen zu können. Im Sommer des Jahres 1944 musste er sich jedoch eingestehen, dass die Kapitulation unvermeidbar war.108 Bis zuletzt hielt Stauffenberg an dem illusorischen Glauben fest, eine Umsturzregierung könne im Westen Akzeptanz finden.109 Auch hierin spiegelt sich seine Angst vor dem Schicksal, das Deutschland im Falle einer Besetzung drohte. Die Tatsache, dass Stauffenberg die Ostfront unter allen Umständen halten wollte, zeugt von einer grundlegenden Ablehnung des sowjetischen Kommunismus. Jene Staatsform lief nicht nur seinem organischen Staatsverständnis, sondern auch seinem Ideal von einer geistigen Führungsschicht zuwider. Die Verteidigung Europas gegen den Bolschewismus hoffte Stauffenberg bis zuletzt zusammen mit den Westalliierten aufnehmen zu können. Zudem sah er die Gefahr einer „ideologische[n] Subversion der Wehrmacht und des deutschen Staates“.110 Stauffenberg konnte also die Beeinflussung und eventuelle Verkehrung der von ihm verinnerlichten, militärischen Wertekategorien sowie die Einführung des Kommunismus in Deutschland nicht ohne Weiteres hinnehmen. Hinzu kommt noch die Einsicht in die viel zu schlechte Behandlung der sowjetischen Soldaten und Zivilbevölkerung.111 Sollten nun die Heere der Roten Armee auf deutschen Boden marschieren, wären Rache und Vergeltung am deutschen Volk vorprogrammiert. Für Stauffenberg, Diener von Volk und Staat, dürfte das eine schlimme Vorstellung gewesen sein.

4 Innenpolitische Forderungen Hinsichtlich der Innenpolitik und deren zukünftiger Gestaltung vertrat Stauffenberg bisweilen klare Ansichten. Im September 1943 diskutierte Claus mit seinem Bruder Berthold und Rudolf Fahrner über eine Ordnung nach dem Nationalsozialismus. Sie kamen überein, der Religion im Staat einen großen Einfluss zukommen zu lassen. Politik müsse auf „einer religiös verankerten Sittlichkeit“ basieren.112 Das Thema Religion spielte in Theorie und auch Praxis (Gewinnung von Verschwörern) eine wichtige Rolle, was angesichts der tiefen Religiosität Stauffenbergs nicht verwunderlich ist.113 Ein weiterer zentraler Diskussionspunkt fand sich in der Parteienfrage. Erörtert wurde die Möglichkeit, gänzlich auf Parteien zu verzichten; zu groß war hier offensichtlich das Menetekel der gescheiterten Weimarer Republik.114 Eine Volksvertretung ohne 108 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 389; Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 223. 109 Kramarz, Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 23), S. 179. 110 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 37, 383. 111 Muth, Es wird Zeit (wie Anm. 3), S. 822f; Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 212. 112 Kramarz, Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 23), S. 132, 159. 113 Kramarz, Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 23), S. 160. 114 Kramarz, Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 23), S. 133f.

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Parteien sollte, Stauffenbergs Staatsverständnis folgend, möglichst alle gesellschaftlichen Schichten umfassen, so dass jede von ihnen ein Mitspracherecht hätte.115 Der von Stauffenberg verinnerlichte Habitus des Dienstes am Vaterland spiegelte sich in den Lautlinger Gesprächen insofern wider, als Technik, Industrie und Wirtschaft dem Staat dienen müssten und nicht umgekehrt.116 Die Industrie sollte zudem nicht an die Stelle der zu erhaltenden bäuerlichen Lebensformen rücken. Das Beharren auf diese Lebensformen beweist, dass sich Stauffenberg trotz seiner liberalen Erziehung und Bildung durchaus dem oftmals ländlich geprägten und auf Grundbesitz aufbauenden adeligen Stand zugehörig fühlte.117 Der letzte, von Fahrner im Nachhinein protokollierte Diskussionspunkt betraf „Fixierungen und Dogmatisierungen“. Diese seien zu vermeiden, da sie als „vorgefaßte Schablone“ oft nicht mit der Wirklichkeit zusammenpassen und so die tägliche politische Arbeit erschweren würden. Anstatt das politische Programm vorher festzulegen, müsse es den aktuellen Gegebenheiten (Verhältnisse, Personal etc.) immer wieder angepasst werden.118 Diese im spätsommerlichen Lautlingen festgelegte Maxime wendete Stauffenberg konsequent während seiner Aktivität im Widerstand an. Daneben folgte er dem bekannten Grundsatz „Nicht Ideen, sondern Menschen“. Diesen hätte Stauffenberg auch im Falle eines erfolgreichen Attentats angewandt, denn bei einem möglichen Auftreten spontaner Kräfte im Zuge der Umsturzwirren wäre für ihn die Persönlichkeit eines Menschen, nicht dessen ideologische Zugehörigkeit, von Bedeutung gewesen.119 Einen interessanten Punkt erwähnt noch Zeller, der das Lautlinger Programm als paternalistisch bezeichnet, welches also die „Verantwortlichkeit von oben handelnder Führungskräfte“ in den Mittelpunkt rückte.120 Hier ergibt sich wieder ein Bezug zu Claus‘ Zugehörigkeit zum George-Kreis und der dadurch verbundenen ideellen Beeinflussung. Zwar kommt in der Überlieferung Fahrners kein Hinweis auf den geistigen Adel vor, doch nahm das durch Stauffenberg vertretene Georgesche Prinzip der geistigen Führungsschicht Einfluss auf die Gespräche. Den beiden Brüdern und Fahrner war darüber hinaus „ein Wiederfinden und Schaubarmachen einer echten Identität der Deutschen“ ein zentrales Anliegen, da bei ihnen selbst der Patriotismus und die Identifikation mit Deutschland extrem ausgeprägt waren.121 In diesem Deutschland sollte nach erfolgtem Umsturz eine Regierung instituiert werden, die aus der Perspektive Stauffenbergs notwendigerweise breit aufgestellt sein musste. Stauffenberg forderte, fast das gesamte linkspolitische Spektrum, einschließlich des linken Flügels der Sozialdemokraten, einzubeziehen. Dies ist auf die 115 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 160. 116 Kramarz, Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 23), S. 133. 117 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 361; Muth, Es wird Zeit (wie Anm. 3), S. 817. 118 Muth, Es wird Zeit (wie Anm. 3), S. 817. 119 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 158. 120 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 162. 121 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 162.



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aus seiner liberalen Erziehung resultierende Toleranz sowie auf sein offenes Eliteverständnis zurückzuführen. Analog hierzu arbeitete Stauffenberg auch im Rahmen seiner Widerstandsaktivitäten mit den Sozialdemokraten und Gewerkschaften zusammen. Zu seinen wichtigsten Vertrauten aus den linken Parteien gehörte der SPD-Abgeordnete Julius Leber.122 Auch militärische Aspekte beeinflussten die Zukunftspläne Stauffenbergs. So vertrat er die Ansicht, dass nach einem Umsturz nur die Wehrmacht die innenpolitische Lage stabilisieren könnte; sie „sei die im Staat konservativste Einrichtung“ und „gleichzeitig im Volk verwurzelt“.123 Außerdem sah Stauffenberg das Militär in Form des Offizierskorps als Repräsentant des deutschen Volkes. Sein Selbstverständnis als Offizier und den daraus resultierenden Stolz transportierte Stauffenberg in folgender Äußerung, mit der er seinem Offizierskorps – sich eingeschlossen – eine hohe Aufgabe übertrug: „Ja, wir sind auch die Führung des Heeres und auch des Volkes und wir werden diese Führung in die Hand nehmen.“124 Stauffenberg begriff die Offiziere als Verantwortungsträger, wofür sie dann im Gegenzug auch an der politischen Gestaltung einer Nachkriegsordnung partizipieren sollten.125 Stauffenbergs tiefe Abneigung gegenüber dem NS-Regime manifestierte sich in seiner Forderung, dessen Verbrechen zu sühnen und das von den Nationalsozialisten mit Füßen getretene Recht in Deutschland wiederherzustellen.126 Hier lässt sich eine Verbindung zwischen der Restitution deutschen Rechts und Stauffenbergs Gerechtigkeitssinn einerseits beziehungsweise der Wiedererlangung von Ehre andererseits sehen.

5 Pläne, Aufrufe, Attentat Nach dem erfolgten Attentat und dem Anlaufen der „Operation Walküre“ sollte sich Carl Goerdeler mit einer Rundfunkansprache an die Nation wenden. Goerdeler nannte Stauffenberg als deren Autor. Tatsächlich enthält der Text einige Passagen, die auf den Oberst hinweisen. In Bezug auf den Krieg heißt es beispielsweise, dass dieser ehrenhaft beendet werden solle, mit dem Ziel, die „deutschen Lebensinteressen“ zu wahren. Darin spiegelt sich Stauffenbergs Angst vor einem Machtverlust Deutschlands. Eine weitere Passage, die auf die Autorenschaft Stauffenbergs hinweist, betrifft die Konstitution des neuen Staates: Er solle auf „Recht, Freiheit, Ehre und Anstand“ basieren.127 Nach erfolgtem Umsturz sollte die neue Regierung eine Erklärung abgeben. In Konkurrenz zu der aus der Feder Goerdelers stammenden Erklärung existiert eine 122 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 360; Kramarz, Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 23), S. 136f, 171; Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 203ff. 123 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 352. 124 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 361. 125 Dowe, Alter Adel und Neuadelsvorstellung (wie Anm. 42), S. 92. 126 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 170. 127 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 368.

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weitere, die dem Kreis um Stauffenberg zugerechnet wird. In zwölf Thesen fassten deren Autoren die Ziele der neuen Regierung zusammen. Die vielfachen Überschneidungen mit Stauffenbergs Vorstellungen lassen auf seine Beteiligung schließen. Sein Sinn für Gerechtigkeit äußerte sich in der Zielsetzung, das Recht wiederherzustellen. Dazu gehörten neben dem Abbruch der von Stauffenberg schon früh verurteilten Judenverfolgung die Bestrafung aller Rechtsbrecher sowie das Zugeständnis an die Frontsoldaten, sich an der Ausarbeitung einer Verfassung beteiligen zu dürfen. Der letztgenannte Schritt dürfte einerseits in die Erklärung aufgenommen worden sein, weil Stauffenberg die Leistungen der Soldaten honorieren wollte. Andererseits hoffte er, dass die Werte des Militärs so ihren Niederschlag in der Verfassung finden würden. Als ein weiteres Ziel wurde die Wiederherstellung „[der] Freiheit des Geistes, des Gewissens, des Glaubens und der Meinung“ genannt.128 Stauffenbergs in christlichen Wertvorstellungen und außerordentlicher Bildung begründetes Gewissen war immerhin ein Grund für seinen Eintritt in den Widerstand. Wie der Auszug aus der Regierungserklärung zeigt, lag Stauffenberg viel an der Freiheit des Glaubens. Kirche und Staat sollten voneinander getrennt werden, um die möglichst ungestörte Entfaltung des Glaubens zu garantieren.129 Eine weitere Zielsetzung der Regierung bestand in der „Erneuerung der Erziehung und Bildung der Jugend auf christlich-religiöser Grundlage“. Da dies zunächst widersprüchlich erscheint, sollen Stauffenbergs Vorstellungen zur Rolle der Kirche im Staat im Folgenden näher beleuchtet werden: Stauffenberg begriff den Staat als organisches Gefüge. Er sollte Gott, seinem Schöpfer und Rechtsspender, verpflichtet sein und das göttliche Sittengesetz wahren. Ihre Übernatürlichkeit ließ die Kirche zu der bedeutendsten aller im Staatsmodell integrierten gesellschaftlichen Korporationen werden.130 Folglich glaubte Stauffenberg gerade in der Kirche fruchtbaren Boden für die Verwirklichung Georges theoretischer Ideen finden zu können.131 Zudem lässt sich die hehre Aufgabe der Kirche ableiten, den Nukleus des organischen Staates – die Familie – etwa durch Seelsorge zu schützen.132 Vor dem Hintergrund der am Anfang des Kapitels zitierten Forderung Stauffenbergs, „die große Politik müsse einer religiös verankerten Sittlichkeit folgen“, erscheint die Kirche letzten Endes als Bewahrerin der christlichen Werte und damit als Bezugspunkt für die im Staat politisch Handelnden. Es ist anzunehmen, dass Stauffenbergs Erziehung und Bildung der Maßstab für die Inhalte der Regierungserklärung waren. Unter der neu installierten Regierung sollte der Krieg zwar fortgeführt werden, allerdings nur, um Deutschland zu verteidigen. Dieser Gedankengang entsprach exakt dem von Stauffenberg.133 Als eine der 128 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 365ff. 129 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 365ff. 130 Raasch, Die politische Ideenwelt des Adels (wie Anm. 56), S. 365. 131 Reindl, Stauffenbergs Katholizität in der geschichtswissenschaftlichen Literatur (wie Anm. 47), S. 307. 132 Doering-Manteuffel, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 58), S. 80. 133 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 380.



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wichtigsten Aufgaben sahen es die Autoren an, „tapfer und geduldig den vielfach entehrten deutschen Namen wieder rein zu waschen“, mithin eines von Stauffenbergs Hauptanliegen. Abschließend forderten die Verfasser die „Herstellung einer gerechten Friedensordnung“. Dazu würde allerdings ein gesundes, moralisch und materiell intaktes Deutschland unerlässlich sein.134 Bedeutend für den Umsturzversuch war die Redaktion der Erklärungen. Ende Oktober 1943 wurde Fahrner nach Berlin gerufen, um die Entwürfe zweier Aufrufe zu unterstützen. Der Anteil Stauffenbergs dürfte unter den Beteiligten wohl am größten gewesen sein. Einer der Aufrufe richtete sich „An das Deutsche Volk“. Hierin wurde die gegen jedes göttliche Gebot verstoßende Schreckensherrschaft Hitlers und die Zerstörung des Rechts verurteilt. Hitler habe „Ehre und Würde, Freiheit und Leben anderer für nichts erachtet, durch grausame Massenmorde den guten Namen der Deutschen besudelt, das Volk ins Unglück gestürzt, mit seinem angemaßten Feldherrngenie die tapferen Soldaten ins Verderben geführt […]“.135 Die in diesem Zitat auftretenden Kritikpunkte sprechen dafür, dass Stauffenberg enormen Einfluss auf die Redaktion des Aufrufes „An das Deutsche Volk“ hatte. Typisch für seine Argumentation waren Schlagworte wie „Ehre“, „Freiheit“ und „Schändung des deutschen Namens“ beziehungsweise „Schändung der deutschen Ehre“. Die in dem Aufruf genannten politischen Ziele deckten sich zudem größtenteils mit denen, die die Regierungserklärung aufführte.136 Der zweite Aufruf wurde von Stauffenberg, Tresckow und Beck verfasst und richtete sich „An die Wehrmacht“. Er kritisiert die Hitlersche Kriegspolitik und betont, dass der Krieg ausschließlich zu Verteidigungszwecken fortgeführt werden dürfe. Darüber hinaus erklärt er die Notwendigkeit eines Umsturzes: „Wir müssen handeln, weil – und das wiegt am schwersten – in Eurem Rücken Verbrechen begangen wurden, die den Ehrenschild des deutschen Volkes beflecken und seinen in der Welt erworbenen guten Ruf besudeln.“137 Zuletzt verbleibt noch der Blick auf die „Operation Walküre“. Ihre Tarnung durch einen von Hitler selbst unterzeichneten Einsatzbefehl darf als Geniestreich der Verschwörer betrachtet werden. Bereits vor dem Eintritt Stauffenbergs in die Konspiration operierte man im Widerstand auf der Basis von „Walküre“. Im September 1943 modifizierte Stauffenberg zusammen mit Tresckow die militärischen Planungen; zu welchen Teilen sie sich jeweils einbrachten, kann nicht ohne Weiteres bestimmt werden.138 Eine bedeutende Änderung vom 11. Februar 1944, die „die Zusammenfassung einzelner Truppenteile aus verschiedenen Wehrkreisen“ betrifft, kann jedoch sicher auf 134 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 365ff. 135 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 364. 136 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 364f. 137 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 369. 138 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 322f; Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 164ff.

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Stauffenberg zurückgeführt werden.139 Ob der Entwurf einer neuen Kriegsspitzengliederung wirklich das Hauptwerk Stauffenbergs war, wie es Kramarz darstellt, ist fraglich. Bei Hoffmanns Ausführungen, die der Konzeption zwei Memoranda von Ludwig Beck zugrunde legen, lässt sich zwischen den Zeilen ein Löwenanteil Becks herauslesen.140 Trotzdem können all die Änderungen, Verbesserungen und Aktualisierungen, an denen Stauffenberg beteiligt war, auf seinen ausgeprägten Intellekt im militärischen Bereich zurückgeführt werden. Nach der langwierigen und kraftraubenden Aufstellung aller Pläne und der Redaktion der Aufrufe musste als ultimativer Schritt das Attentat erfolgen. Lange Zeit kam aber kein Verschwörer in die Position, um bei einer Besprechung mit Hitler im selben Raum zu weilen. Die Ratlosigkeit und Verzweiflung wurde durch die Versetzung Stauffenbergs zu Fromm beendet: Als Stabschef beim Befehlshaber des Ersatzheeres hatte Stauffenberg von nun an größere Chancen auf einen Vortrag beim „Führer“. Allerdings gab es noch ein Hindernis, denn Fromm war von Hitler jahrelang nicht mehr zur Lage bestellt worden. An dieser Stelle kam Stauffenbergs umfassender, militärischer Verstand ins Spiel. Eines seiner Memoranden gelangte im Mai 1944 Hitler in die Hände. Dieser war derart begeistert, dass er Fromm und mit ihm auch seinen Stabschef von da an regelmäßig zu Vorträgen zitierte.141 Die Verschwörung war zwar auf die Zielgerade eingebogen, ein Bombenanschlag barg aber für Stauffenberg das Risiko, selbst umzukommen. Obwohl er deshalb einen guten Grund gehabt hätte, die Ausführung zu verweigern, war er zum äußersten Mittel des Selbstopfers bereit.142 Diese Opferbereitschaft korreliert mit seiner Zugehörigkeit zum Kreis um Stefan George. Aber auch sein katholischer Glaube erleichterte Stauffenberg die Entscheidung zur Ausführung des Attentats, denn dieser ließ sowohl den Opfertod als auch den Tyrannenmord zu.143

IV Das symbolische Kapital Nach dem Bericht eines nah Beteiligten befahl Beck Stauffenberg geradezu, das Attentat zu unterlassen, wenn er es nicht überleben könne, weil nur er [Stauffenberg] den Staatsstreich durchzuführen hoffen konnte.144

139 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 345f. 140 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 353; Kramarz, Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 23), S. 152. 141 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 213. Zur militärischen Ausbildung Stauffenbergs siehe: Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 19-46. 142 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 393. 143 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 394. 144 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 442.



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Dieses Hoffmann entlehnte Zitat verdeutlicht die hohe Meinung der Verschwörer von Stauffenberg, den nicht zuletzt Beck von der eigenhändigen Ausführung des Attentats abhalten wollte.145 Ein weiteres, aufschlussreiches Zitat findet sich bei Fabian von Schlabrendorff, dem mitverschworenen Ordonnanzoffizier von Stauffenbergs Lehrmeister Henning von Tresckow. Laut Schlabrendorff prädestinierte „[...] dessen innere Einstellung, Umsicht, Ruhe, Klarheit, Zähigkeit, Tapferkeit, dessen fachmännisches Wissen und Können ihn zum Geschäftsführer der Widerstandsbewegung […]“.146 Stauffenberg erfuhr also eine enorm hohe Wertschätzung, die sich in teils bedingungsloser Unterstützung manifestierte. Ausnahmen bildeten Carl Goerdeler und Helmuth James Graf von Moltke. Goerdeler stufte Stauffenberg anfangs noch als „besonders befähigte[n] Generalstabsoffizier“ ein. Als sich jener aber zunehmend an den politischen Beratungen beteiligte (einem Feld, das Goerdeler für sich beanspruchte), nahm die Entfremdung der beiden stolzen Persönlichkeiten ihren Lauf.147 Auch die Beziehung zwischen Moltke und Stauffenberg war alles andere als unproblematisch. Dies lag allerdings mehr an der Verschiedenheit der Charaktere als an der Verschiedenheit der Auffassungen. Letztere nämlich gingen grundsätzlich in dieselbe Richtung, unterschieden sich allerdings in einigen Details. So zeichnete auch Moltke das Bild einer natürlichen Ordnung, der jegliche Schichtung und Klasseneinteilung fehlte. Während für Stauffenberg die Familie den Kern der Gesellschaft darstellte, sollte nach Moltke das einzelne Individuum im Mittelpunkt stehen, das mit den anderen Individuen unterschiedlich enge Beziehungen eingeht und in diesen Beziehungen jeweils andere Rechte und Pflichten hat.148 Zu Spannungen kam es aber vielmehr aufgrund ihres Charakters. Während Stauffenberg sich im Widerstand durch „energiegeladenes Tätertum“ profilierte, gab sich Moltke „im persönlichen Umgang kühl, auch hochmütig“.149 Darüber hinaus mussten sich zwangsläufig Dissonanzen ergeben, geschuldet dem Umstand, dass Moltke eine gewisse Resignation und Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal des Reiches an den Tag legte. Stauffenberg dagegen kämpfte bis zuletzt dafür, dass Reich zu retten.150 Besonders prägnant für das Verhältnis der beiden ist folgende Äußerung Stauffenbergs: „Kann diesen Menschen nicht ertragen, diesen Helmuth Moltke.“151 Abgesehen von dieser problematischen Verbindung schlug Stauffenberg bei seiner Tätigkeit eine breite Welle der Sympathie und Wertschätzung entgegen. So glaubte Schulenburg etwa: „Wir wären schon weiter, wenn sich Stauffenberg eher [zur Beteili145 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 393. 146 Fabian von Schlabrendorff, Offiziere gegen Hitler, Berlin 1984, S. 80. 147 Kramarz, Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 23), S. 135ff, 170ff. 148 Für eine pointierte Zusammenfassung der Vorstellungen Moltkes siehe Franz Graf von Schwerin, Helmuth James Graf von Moltke. Im Widerstand die Zukunft denken. Zielvorstellungen für ein neues Deutschland, Paderborn 1999, S. 145–153. 149 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 339. 150 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 339. 151 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 339.

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gung am Staatsstreich] entschlossen hätte.“152 Den Beweis für diese These liefert auch Beck, der der Meinung war, dass Stauffenberg „die ganze Last der Vorbereitung getragen [habe]“. Auch Claus‘ Onkel, Nikolaus Graf Üxküll, sah in ihm die letzte Hoffnung für den Umsturz. Üxküll bewunderte den Neffen für seine enormen Leistungen, die angesichts seiner Behinderung noch höher einzuschätzen gewesen seien.153 Ebenso wie Üxküll glaubte Adam Trott, durch den Eintritt des „jungen, hochbefähigten, feurigen Offizier[s]“ sei wieder Schwung in die Umsturzpläne gekommen.154 Major Percy Schramm akzentuierte vor allem die menschliche Komponente Stauffenbergs, der den Machthabern nicht gleichsam einem Roboter willenlos gehorchte. Der ultimative Meilenstein auf dem Weg zum 20. Juli war die Versetzung Stauffenbergs, dem laut Guderian „‚besten Pferd‘ des Generalstabs“, zu Generaloberst Fromm. Fromms militärische Wertschätzung (beziehungsweise die positive Wahrnehmung des kulturellen Kapitals auf militärischem Gebiet) brachte Stauffenberg nunmehr in die Position, das Attentat eigenhändig durchführen zu können.155 Es lässt sich feststellen, dass Stauffenbergs großes symbolisches Kapital eine hervorragende Basis für seine Aktivität im Widerstand war. Besonders zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch sein rhetorisches Talent. Selbst die Gestapo „attestierte ihm eine ‚besondere Art der Persönlichkeit‘ und eine ‚außergewöhnliche Redegabe‘. Er habe ‚in einer faszinierenden Weise für sich einzunehmen verstanden‘“.156 Auch Kramarz beschreibt eine Reihe von Personen, die von Stauffenbergs Redekunst und seiner Überzeugungsgewalt nach eigener Aussage fast willenlos gemacht wurden.157 Die Schilderung ist ein Paradebeispiel für die Transformation von symbolischem Kapital in Macht, die Stauffenberg auch bei anderen potentiellen Mitverschwörern wie Urban Thiersch anwandte. Seine typische Methodik hinterließ bei besagtem Thiersch bleibende Wirkung. Unter dem Eindruck von Claus‘ „unangreifbaren genialen Kräften“ verspürte er „eine Lust […], für ihn, mit ihm zu wirken“.158 Aus diesen Beispielen ist zu schließen, dass Stauffenberg eine starke Ausstrahlung gehabt haben muss. Sie war es, die viele Mitglieder des Kreisauer Kreises dazu veranlasste, sich mit seinen Ideen auseinanderzusetzen und diese, zum Missfallen Moltkes, auch zu übernehmen. Stellvertretend für die „Überläufer“ sei hier Stauffenbergs Vetter Yorck genannt. Dieser stellte nicht nur den Kontakt zu Julius Leber her, sondern versprach Stauffenberg darüber hinaus, „stets an seiner Seite [zu] stehen“.159 152 Kramarz, Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 23), S. 148. 153 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 188f, 226. 154 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 382. 155 Kramarz, Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 23), S. 183, 191. 156 Schwerin, Dann sind‘s die besten Köpfe, die man henkt (wie Anm. 51), S. 327. 157 Kramarz, Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 23), S. 165. 158 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 351ff. Hoffmann schildert hier die Gewinnung weiterer Verschwörer durch Stauffenberg. Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 234f. 159 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 338.



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Sein Charisma setzte Claus Graf Stauffenberg auch bewusst für konspirative Zwecke ein. Bei den letzten militärischen Vorbereitungen im Juli 1944 etwa nutzte er „als alter Panzer-Mann […] seine persönliche Ausstrahlung […] in der Hoffnung, sie möge beim Eingang der Umsturzbefehle günstig nachwirken“.160 Jede Ausstrahlung wäre aber wertlos, wenn Stauffenberg im Gegenzug dafür kein Vertrauen gespürt hätte. Kramarz demonstriert an einer Reihe von Zitaten, wie vorbehaltlos viele Anhänger Stauffenberg folgten.161 Graf Hardenberg beispielsweise bezeichnete Stauffenberg als „antike Größe“ und „Vorbild eines klugen und tapferen deutschen Offiziers“.162 Die ihm zugewiesene „antike Größe“ kann man auf die Bildung Stauffenbergs, die auch von antikem Gedankengut beeinflusst war, beziehen.163 Engstes Vertrauen zu Stauffenberg hatten auch seine Mitverschwörer Mertz von Quirnheim und Werner von Haeften, die trotz entsprechender Möglichkeiten am 20. Juli nicht flüchteten, sondern mit Stauffenberg in den Tod gingen. Haeften hatte sich im November 1943 aus Bewunderung für Stauffenberg zu ihm versetzen lassen. Er hatte „sich mit aller Energie in die Arbeit“ gestürzt und nach dem Vorbild seines Vorgesetzten und Freundes „oft bis tief in die Nacht an den Plänen für den Staatsstreich“ gearbeitet.164 Mertz und Haeften kämpften vom Anfang bis zum Ende für den Erfolg der Verschwörung. Mertz gab ohne Wissen seines Vorgesetzten Olbricht unerschrocken die „Walküre“-Befehle heraus,165 auch Haeften warf nach seiner Rückkehr für den Staatsstreich alles in die Waagschale. Beide erachteten, wie auch die übrigen Verschwörer, ihren Eid auf Hitler als nicht mehr gültig. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass es aufgrund eben beschriebener zwischenmenschlicher Bindungen zu keinem einzigen Verrat kam.166 Tatsächlich soll sich Haeften bei ihrer standrechtlichen Erschießung in die auf Stauffenberg abzielende Gewehrsalve geworfen haben.167

160 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 432. 161 Kramarz, Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 23), S. 168. 162 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 406. 163 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 12. 164 Volker Thiel, Widerstand im Schatten Stauffenbergs. Werner von Haeften, in: Stephen Schröder/Christoph Studt (Hrsg.), Der 20. Juli 1944. Profile, Motive, Desiderate. 20. Königswinterer Tagung 23. – 25. Februar 2007 (=Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft 20. Juli, Bd. 10), Berlin 2008, S. 81–102, hier S. 95, 97; Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 188. 165 Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 271ff. 166 Kramarz, Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 23), S. 168f. 167 Fest, Staatsstreich (wie Anm. 1), S. 280; Thiel, Widerstand im Schatten Stauffenbergs (wie Anm. 167), S. 101; Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 8), S. 282; Fest, Thiel und Zeller geben an, Haeften habe sich in die Salve geworfen. Bei Hoffmann findet sich darüber nichts.

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V Stauffenberg und die Nutzbarmachung seines Adelskapitals: Ein Fazit Auf der Ebene des ökonomischen Kapitals lässt sich kein Zusammenhang zwischen Stauffenbergs Adeligkeit und seinem Widerstandshandeln erkennen. Ein etwaiger konspirativer Verwendungszweck seines Offiziersgehalts ist nur sehr abgeschwächt feststellbar und mit dem elterlichen Landgut in Lautlingen hatte Stauffenberg ökonomisch gesehen nichts zu tun. Seine Wohnung in Bamberg spielte abgesehen von einer Begegnung mit Delp ebenfalls so gut wie keine Rolle. Einzig das Haus in der Tristanstraße war als Schauplatz einiger Treffen sowie als Unterkunft für Mertz und Graf Üxküll von Bedeutung. Sein vor allem auf Standesgenossen fußendes soziales Kapital setzte Stauffenberg demgegenüber gezielt für seine oppositionellen Aktivitäten ein. Er verstand es sehr gut, auf der Basis verwandtschaftlicher Verbindungen und Freundschaften zu agieren. Erwähnenswert, aber aufgrund der ausgeprägten militärischen Affinität des Widerstandes nicht allzu verwunderlich, ist die Tatsache, dass sich Stauffenberg in der Konspiration vor allem auf Freunde und Bekannte aus seinen soldatischen Lehrjahren stützte. Bei der raschen Vernetzung Stauffenbergs im Widerstand, die in engen freundschaftlichen Verbindungen wie denen zu Tresckow, Haeften und Leber resultierte, halfen ihm unter anderem seine Kontaktfreudigkeit und seine kommunikativen Fähigkeiten. Zudem bildete Claus‘ Familie einen starken Rückhalt. So waren ihm, der das speziell im Adel erleichterte Changieren zwischen privatem und öffentlichpolitischem Betätigungsfeld zu nutzen wusste, sein Bruder Berthold, seine Vettern Hofacker und Yorck sowie sein Onkel Üxküll enge Vertraute. Sicherlich sind die genannten Ausprägungen des sozialen Kapitals Stauffenbergs nicht ausschließlich mit seiner Adeligkeit begründbar (siehe Freundschaften aus militärischer Ausbildung oder George-Kreis), doch erscheint gerade sein außerordentliches Sozialkapital auf familiärer Ebene typisch für einen Adeligen. Auf dem Feld des kulturellen Kapitals bleibt festzuhalten, dass dieses ebenso wie das soziale Kapital das Widerstandshandeln Stauffenbergs massiv beeinflusste. Es wäre allerdings auch hier falsch zu behaupten, dass Claus sein kulturelles Kapital allein seinem Adeligsein verdankt. Dies erkennt man etwa an den bürgerlichen Bildungs- und Erziehungsidealen, die bei Stauffenberg zum Tragen kamen. Dennoch darf seine Adeligkeit nicht vergessen werden. Stauffenberg hegte einen tiefen Glauben, was für den (konservativen) Adel typisch war. Seine adelige Herkunft korrespondiert mit dem von ihm verinnerlichten Ethos des Dienstes am Vaterland. Die große Bedeutung der Familie für Claus von Stauffenbergs Widerstandshandeln schlug sich auch in seinen politischen Ansichten nieder, stellte er doch die Familie in den Mittelpunkt eines zukünftigen organisch strukturierten Staates. Seine Empfänglichkeit für die Ideen Georges lässt sich sowohl auf seine adelige Herkunft (Dienstethos, Glaube, Beanspruchung einer staatstragenden Rolle des Adels) als auch auf seine liberale



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Erziehung und Bildung (Humanismus, verändertes Adelsverständnis) zurückführen. Stauffenbergs Inkorporierungen hatten nun deutlichen Einfluss auf sein Widerstandshandeln. In der internen wie auch in der externen Kommunikation manifestierte sich häufig seine Zugehörigkeit zum George-Kreis. Die außenpolitischen Planungen führte Stauffenberg stets auf der Folie seines organischen Staatsverständnisses (zum Beispiel Ablehnung des Kommunismus) und seines Nationalismus durch. Die innenpolitischen Forderungen sind stark von seiner Religiosität, wiederum seinem organischen Staatsverständnis, seiner Liberalität und von diversen Wertvorstellungen geprägt. Letztere dringen besonders stark in den Regierungsprogrammen und Aufrufen, die neben christlichen Werten auch die Forderung nach der Wiederherstellung von Recht, Gewissen, Ehre und Freiheit beinhalten, durch. In die Position, den letzten Schritt des Attentats durchzuführen, kam Stauffenberg aufgrund seines ausgeprägten militärischen Intellekts. Die moralische Vertretbarkeit schöpfte Stauffenberg insbesondere aus dem christlich konnotierten Opfer-Begriff sowie Georges Ethos der Tat. Dass die (adeligen) Kapitalien Stauffenbergs eine wichtige Rolle für dessen Widerstandshandeln spielten, äußert sich nicht zuletzt in ihrer Wahrnehmung durch die Mitverschworenen. Stauffenberg, den die meisten seiner Mitstreiter sehr schätzten, wurde bald nach seinem Eintritt in die Konspiration nicht zuletzt wegen seiner intellektuellen Fähigkeiten und seiner hohen Sozialkompetenz zum wichtigsten Mann der Erhebung. Sein symbolisches Kapital wusste Claus gezielt einzusetzen, zum Beispiel dann, wenn er weitere Personen für die Verschwörung gewinnen wollte. Stauffenbergs Adeligsein hatte in der Summe einen durchaus signifikanten Einfluss auf sein Widerstandshandeln. Zwar gründeten sich nicht alle Facetten der Stauffenberg eigenen Kapitalverteilung ausschließlich darauf, doch waren Stauffenbergs adelige Kapitalien in den meisten Bereichen seiner konspirativen Tätigkeit relevant. Claus von Stauffenberg war sich der ihm zur Verfügung stehenden (adeligen) Kapitalien sehr wohl bewusst und setzte sie gezielt für seine Zwecke ein.

Barbara Jahn

„Eine Klasse, die von Rechts wegen keine mehr sein sollte“ Der Adel in der frühen Bundesrepublik

I Einführung „Nach meiner Ueberzeugung [besteht] kein Anlass anzunehmen, daß sich der Adel geändert habe: was sich geändert hat, ist die Zeit“,1 verkündete Erwein Freiherr von Aretin in einem Vortrag vor Angehörigen des bayerischen Adels im Jahre 1948, nur drei Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches. Diese durchaus positive Einschätzung der Lage des Adels nach 1945 schienen allerdings nur die wenigsten seiner Standesgenossen zu teilen. Zahlreiche andere Angehörige des Adels, vor allem aber diejenigen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, die Heimat und Besitz durch Flucht verloren hatten und nun vor einem leidvollen Neuanfang standen, sahen in der „großen Schicksalswende“2 von 1945 das Ende einer langen Entwicklung. Resigniert heißt es etwa in der Familienchronik der Familie von Maltza(h)n: Seit dem schicksalshaften Jahr 1945 leben die Familien von Maltzan und die von Maltzahn in einer neuen Welt. In ihr gelten nicht mehr die Faktoren, die bis dahin ihr Dasein, ihre Bedeutung und ihre Lebensform maßgeblich bestimmt haben. Um beim Bilde des Stammbaumes zu bleiben, so wurde er mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges aus jenem Boden gerissen, aus dem er mit tiefgreifenden Wurzeln acht Jahrhunderte hindurch seine Kräfte gesogen, um nicht nur im biologischen Sinne zu wachsen, sondern sich auch in der besonderen Form der Adelsfamilie zu entfalten.3

Ähnliche Bewertungen lassen sich in zahlreichen anderen, nach 1945 entstandenen Familiengeschichten oder Memoiren nicht nur des ost- sondern auch des west­ deutschen Adels lesen, die jedoch häufig mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihren

1 Erwein Freiherr von Aretin, Der Adel in heutiger Zeit. Vortrag gehalten in einer von der Genossenschaft katholischer Edelleute in Bayern veranstalteten Versammlung des bayerischen Adels im grossen Saal des Wirtschafts-Ministeriums in München am 13. Februar 1948, in: Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), Archiv der Genossenschaft katholischer Edelleute, Nr. 65 sowie BayHStA, Familienarchiv Aretin, Nr. 231. 2 Hans Erich von Groll, „Junker“ in historischer Sicht. In dem Buch von Walter Görlitz, in: Deutsches Adelsarchiv 2, 1957, S. 26. 3 Maltza(h)nscher Familienverein (Hrsg.), Die Maltza(h)n 1194–1945. Der Lebensweg einer ostdeutschen Adelsfamilie, Köln 1979, S. 391.



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Abschluss finden oder die Jahre nach 1945 lediglich als Epilog behandeln.4 Für viele Adelsfamilien besaß das Jahr 1945 eine „Sprengwirkung“5. Es markierte eine tiefe Zäsur, wenn nicht sogar den einschneidendsten Bruch in ihrer Geschichte. Zwar hatte bereits die Revolution von 1918 und 1919 das Ende der Adelswelt bedeutet, da durch die Beseitigung der Monarchie dem Adel nicht nur der unmittelbare Zugang zur Macht, sondern auch sein zentraler Bezugspunkt und Orientierungsrahmen genommen und darüber hinaus durch die Weimarer Verfassung von 1919 das Ende des Adels als Stand verkündet und die adeligen Privilegien beschnitten worden waren. Indem allerdings die ländlichen Besitzverhältnisse hierbei weitgehend unangetastet blieben, konnten sich auf lokaler Ebene adelige Herrschaftsgewohnheiten, Herrschaftsrechte und Herrschaftsansprüche erhalten.6 Der Nationalsozialismus setzte dann jedoch trotz anfänglichen Umwerbens des Adels den Kampf gegen dessen Privilegien fort und trug somit – anders als es der Adel erhofft hatte – weniger zu dessen Stärkung als vielmehr zu dessen Schwächung bei.7 Anscheinend den letzten Schlag versetzten ihm dann nach 1945 nicht nur die direkten und indirekten Folgen der Kriegsniederlage mit Flucht, Vertreibung und Enteignung, sondern vor allem auch die Besatzungsmächte, die mit ihrer Politik alle Hoffnungen auf eine politische oder rechtliche Neuprivilegierung des Adels zerstörten. So war denn auch das im Mai 1949 in Kraft tretende Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland völlig frei von adelsspezifischen Bestimmungen. Hernach reüssierte die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“8, die „ebensowenig proletarisch wie bürgerlich ist, d.  h. durch den Verlust der Klassenspannung und sozialen Hierarchie“ sowie durch die „Vereinheitlichung der sozialen und kulturellen Verhaltensformen“9 gekennzeichnet ist. Diese Entwicklungen hatten zwar schon vor 1945 begonnen, setzten sich nun aber 4 Eckart Conze, Von deutschem Adel. Die Grafen von Bernstorff im zwanzigsten Jahrhundert, Stuttgart 2000, S. 190f. Adalbert Prinz von Bayern etwa lässt seine Familiengeschichte „Nymphenburg und seine Bewohner“ aus dem Jahr 1950 trotz des vielversprechenden Schlusskapitels „In der Republik“ mit dem Jahr 1946 enden. Der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg widmet er dabei lediglich knapp zwei Seiten. Adalbert Prinz von Bayern, Nymphenburg und seine Bewohner, München 1950, S. 148–160. 5 Maltza(h)nscher Familienverein, Die Maltza(h)n 1194–1945 (wie Anm. 3), S. 391. 6 Conze, Von deutschem Adel (wie Anm. 4), S. 191. 7 Eckart Conze, In den Katarakten der Moderne. Adel in Deutschland im 20. Jahrhundert, in: Ders./ Sönke Lorenz (Hrsg.), Die Herausforderung der Moderne. Adel in Südwestdeutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Viertes Symposion „Adel, Ritter, Ritterschaft vom Hochmittelalter bis zum modernen Verfassungsstaat“ (17./18. Mai 2007, Schloss Weitenburg), Ostfildern 2010, S. 9–22, hier S. 17. 8 Helmut Schelsky, Die Bedeutung des Schichtungsbegriffes für die Analyse der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft, in: Ders., Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/Köln 1965, S. 331–336, hier S. 332. Schelskys These basiert auf den Ergebnissen einer 1953 veröffentlichten Studie zu den Wandlungen der Familie in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Helmut Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart. Darstellung und Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbestandsaufnahme, Stuttgart 1955. 9 Schelsky, Die Bedeutung des Schichtungsbegriffes (wie Anm. 8), S.  332. Dazu auch ausführlich Hans Braun, Helmut Schelskys Konzept der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ und die Bundesrepublik der 50er Jahre, in: Archiv für Sozialgeschichte 29, 1989, S. 199–223.

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immer schneller und intensiver fort. Der Adel schien als Verlierer aus dieser gesellschaftlichen Modernisierung hervorzugehen, sein Niedergang die logische Schlussfolgerung.10 Allerdings: Es gelang den adeligen Familien offenbar, ihr individuelles Schicksal vielfach zu akzeptieren und sich in die neuen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse der Bundesrepublik einzufügen. Erneut besetzten augenscheinlich überproportional viele ihrer Mitglieder gesellschaftliche Führungspositionen, sei es in Wirtschaft oder Bürokratie. Vor allem auf regionaler und lokaler Ebene ließen sich einzelne Angehörige des Adels nach wie vor mit traditionellen Anreden wie „Hoheit“, „Durchlaucht“ oder „Erlaucht“ ansprechen, der Adel schien auch weiterhin in der Gesellschaft als Adel wahrgenommen zu werden.11 Entgegen aller Erwartung war somit die Geschichte des Adels 1945 keineswegs an ihr Ende gelangt. Auch in der Bundesrepublik hatten sich adelige Familien, wie es etwa in der Familienchronik der Familie von Dewitz heißt, „alles in allem respektabel behauptet“.12 Aber wie gelang es dem Adel in der frühen Bundesrepublik Deutschland, trotz aller Abstiegs- und Verlusterfahrung den scheinbar sicheren Niedergang abzuwenden und stattdessen „oben zu bleiben“?13 Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen und im Sinne einer „Sozialgeschichte in der Erweiterung“14 die Strategien deutlich gemacht werden, mit denen der Adel den Verlust seines Status über 1945 hinaus kompensierte, seinen Rang neu bestimmte und den sich wandelnden Umständen anpasste. Verstanden wird der Adel hierbei als ein Lebens- und Kulturmodell, als eine Gruppe von Menschen, die in Familien organisiert ist, deren Vorfahren dem Adelsstand angehörten und die um bestimmte Traditionen, Werthaltungen, Lebensweisen und Erinnerungstechniken sowie um eine spezifische Selbstsicht, soziale Praxis und Abgrenzung bemüht ist.15 10 Conze, Von deutschem Adel (wie Anm. 4), S. 191. 11 Andreas Dornheim, Adel in der bürgerlich-industrialisierten Gesellschaft. Eine sozialwissenschaftlich-historische Fallstudie über die Familie Waldburg-Zeil, Frankfurt am Main 1993, S. 497f. 12 Fritz–Jürgen von Dewitz, Vorwort, in: Gerd Heinrich, Staatsdienst und Rittergut. Die Geschichte der Familie von Dewitz in Brandenburg, Mecklenburg und Pommern, Bonn 1990, S. V. 13 Zum Begriff des „Obenbleibens“: Rudolf Braun, Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben. Adel im 19. Jahrhundert, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel 1750–1950, Göttingen 1990, S. 87–95. 14 Jürgen Kocka, Sozialgeschichte in Deutschland seit 1945. Aufstieg – Krise – Perspektiven. Vortrag auf der Festveranstaltung zum 40-jährigen Bestehen des Instituts für Sozialgeschichte am 25. Oktober 2002 in Braunschweig, Bonn-Bad Godesberg 2002, S. 9–44, hier S. 28. Zu Geschichte, Entwicklung und Kritik dieser Position: Gerhard A. Ritter, Die neuere Sozialgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Sozialgeschichte im internationalen Überblick. Ergebnisse und Tendenzen der Forschung, Darmstadt 1989, S. 19-88, hier S. 62. 15 Franz Neumann, Adel, in: Hanno Drechsler (Hrsg.), Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik, München 200310, S.  10–11. Zu Herkunft und Geschichte des Adelsbegriffs seit der Antike: Werner Conze, Adel, Aristokratie, in: Otto Brunner u.a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1972, S. 1–48.



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Mit ihrer Themenstellung betritt die vorliegende Untersuchung ein noch weitgehend unbearbeitetes Feld. Zwar lässt sich im Zuge des „cultural turn“ innerhalb der Historiografie seit einigen Jahren ein stetig wachsendes Interesse der Geschichtsschreibung auch am Adel des 19. und 20. Jahrhunderts verzeichnen,16 die Schwelle des Jahres 1945 überschreiten diese Studien allerdings sehr selten. Bis heute liegen mit Ausnahme vereinzelter biographischer beziehungsweise familienbiographischer Arbeiten17 keine fundierten Untersuchungen über den Adel in der Bundesrepublik vor. Die Adelsgeschichte der jüngeren Vergangenheit ist nach wie vor weitgehend unterbelichtet, ja sie liegt teilweise immer noch in Händen von Adelsapologeten und Populärwissenschaftlern.18 Hier möchte die vorliegende Studie ansetzen. Sie verfolgt den Prozess der Positionierung und „Einhausung“19 des Adels im westdeutschen Staat über einen Zeitraum von etwa 15 Jahren. Beginnend mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 reicht der Untersuchungszeitraum bis zum Ende der Kanzlerschaft Adenauers im Jahre 1963. Stützten sich bisherige Untersuchungen vornehmlich auf Memoiren und einzelne Familienarchive, wurden für diese Studie systematisch die Jahrgänge 1950 bis 1961 der Zeitschrift „Deutsches Adelsarchiv“20 ausgewertet. Als Quelle für Aussagen über den deutschen Adel in der 16 Siehe die Ausführungen und Literaturangaben in der Einleitung dieses Bandes. 17 Mit Fokus auf dem 20. Jahrhundert untersuchte etwa Andreas Dornheim die Geschichte der Familie von Waldburg-Zeil vom 13. Jahrhundert bis in die späten 1960er Jahre: Dornheim, Gesellschaft (wie Anm. 11); ebenfalls bis zum Ende der 1960er Jahre reicht die Familienstudie Eckart Conzes über die Grafen von Bernstorff: Conze, Von deutschem Adel (wie Anm. 4). Hierzu auch Ders., Totgesagte leben länger. Adel in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: Mark Hengerer/Elmar L. Kuhn (Hrsg.), Adel im Wandel. Oberschwaben von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Bd. 1, Ostfildern 2006, S. 107–122; Ders., In den Katarakten der Moderne (wie Anm. 7). 18 Johannes Rogalla von Bieberstein, Adelsherrschaft und Adelskultur in Deutschland, Frankfurt am Main 1989; Oswald von Nostitz, Der Adel – Relikt oder fortwirkende Kraft?, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.), Rechtfertigung der Elite. Wider die Anmaßung der Prominenz, Freiburg u.a. 1979, S. 100–120. Paula Almqvist, Eine Klasse für sich. Adel in Deutschland, Hamburg 1979; Ingelore M. Winter, Der Adel. Ein deutsches Gruppenporträt, Wien u.a. 1981. 19 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918. Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 319. Nipperdey prägte hier den Begriff im Zusammenhang mit dem Wunsch der Arbeiter nach Heimischwerdung in der „reformierte[n] bürgerliche[n] Gesellschaft“ der Weimarer Republik. 20 Von der Institution gleichen Namens in den Jahren 1948 bis 1961 herausgegeben, war die monatlich erscheinende Publikation eine Weiterentwicklung der sogenannten Flüchtlingslisten, die seit 1945 vom Deutschen Adelsarchiv veröffentlicht wurden und Namen sowie neue Adressen aus dem Osten vertriebener oder geflohener Adeliger enthielten. 1948 erfolgte nicht nur die Umbenennung der Zeitschrift in „Deutsches Adelsarchiv“, sondern auch eine Veränderung der redaktionellen Inhalte. Vermehrt veröffentlichte man nun auch Artikel zur Adelsgeschichte sowie zum Adel der Gegenwart, Reiseberichte, politische Kommentare und Buchrezensionen. Einen Großteil der Publikation begannen die sogenannten Familienanzeigen einzunehmen, die über Verlobungen, Hochzeiten, Geburten und Todesfälle Auskunft gaben. Hinzu kamen Stellen- und Kleinanzeigen sowie Bekanntschaftsgesuche. Nach einem weiteren Namenswechsel im Jahre 1962 heißt die bis heute erscheinende Zeitschrift „Deutsches Adelsblatt. Mitteilungsblatt der Vereinigung der deutschen Adelsverbände“, womit man trotz des Untertitels bewusst an die zwischen 1883 und 1945 herausgegebene Zeitschrift „Deutsches

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frühen Bundesrepublik erschien das „Deutsche Adelsarchiv“ geradezu prädestiniert, da davon auszugehen ist, dass die in der Zeitschrift behandelten Themen den Adel auch grundsätzlich betrafen. Zwar ist der deutsche Adel nicht mit dem „Deutschen Adelsarchiv“ identisch, so dass deutlich zwischen beiden Begriffen unterschieden werden muss, allerdings behauptete das „Deutsche Adelsarchiv“ selbst, das Sprachrohr „des deutschen Adels“ zu sein.21 So wies 1932 Walter von Bogen und Schönstedt in der damals unter dem Namen „Deutsches Adelsblatt“ herausgegebenen Zeitschrift darauf hin, dass, „wenn einst der Chronist erforschen will, wie der Adel die Irrungen und Wirrungen dieser wildbewegten Zeit beurteilt, welche Ziele er verfolgt hat, wie er die Tradition seines Standes mit den Erfordernissen der Gegenwart in Einklang gebracht hat“, ihm hier „klar und unzweideutig Aufschluß [ge]geben“22 werden würde. Für die Zeit nach 1945 erscheint das „Deutsche Adelsarchiv“ als das führende Periodikum, um den Adel im Zuge der Demokratisierung zu gemeinsamen Idealen zu erziehen und einen neuen adelsethischen Codex zu schaffen. Daneben bilden die zum Thema einschlägigen Bestände adeliger Verbands- und Familienarchive im Bayerischen Hauptstaatsarchiv das empirische Rückgrat der Studie. Neben dem Archiv des Verbands Bayerischer Edelleute in Bayern23 zählt hierzu der Nachlass der Familie von Aretin. In Form von Verbands- und Privatkorrespondenz, politischen Denkschriften, Reden und Diskussionsverläufen auf Verbandstreffen, Familientagen und Adelsvereinigungen, Zeitungsartikeln sowie statistischen Aufstellungen boten die entsprechenden Bestände Einsichten in die unterschiedlichsten Aspekte adeligen Denkens und Handelns in der Zeit nach 1945.24 Adelsblatt“ der Deutschen Adelsgenossenschaft anknüpfte. Walter von Hueck, 50 Jahre Deutsches Adelsarchiv, in: Deutsches Adelsblatt 34, 1995, S. 205–208; Claus Heinrich Bill, Deutsches Adelsarchiv (Zeitschrift), in: Ders., Kleines ABC zum deutschen Adel. Protagonisten, Namen, Verbände, Begriffe, Daten und Fakten aus fünf Jahrhunderten. Teil 2, in: Nobilitas 11, 2008, S. 15. 21 Claus Heinrich Bill, Kulturgeschichtliche Bibliographie zum Adelsblatt, home.foni.net/~adels­ forschung1/kubib00.htm [14.11.2012]. 22 Walter von Bogen und Schönstedt, An der Schwelle des zweiten halben Jahrhunderts, in: Deutsches Adelsblatt 50, 1932, S. 4. 23 Ursprünglich 1871 als Verein gegen den „Kulturkampf“ von katholischen Adeligen in Bayern ins Leben gerufen, gründete sich die Genossenschaft katholischer Edelleute (GKE) zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf Anweisung der US-Militärregierung neu und existiert bis heute. Nach eigenen Aussagen widmete sich die GKE in der Nachkriegszeit verstärkt der Jugend, um mit Vorträgen und Veranstaltungen „aristokratisches Denken und Handeln, das Bewusstsein von der persönlichen Verantwortung allen gegenüber, die sich nicht selbst helfen können, und auch die Notwendigkeit einer kritischen Beobachtung der politischen Strömungen aus christlicher Sicht“ zu vermitteln. Georg Freiherr von Aretin/Louis Freiherr von Harnier, Ein Blick in die Geschichte der Genossenschaft katholischer Edelleute in Bayern e. V., www.gke-bayern.de/ [15.01.2013]. 24 Die sich überdies für die Thematik anbietenden Archive der Familien Soden-Fraunhofen und Arco-Zinneberg konnten in der vorliegenden Arbeit hingegen keine Berücksichtigung erfahren. Die zum gegenwärtigen Zeitpunkt (März 2013) einsehbaren Bestände des Familienarchivs Soden-Fraunhofen erwiesen sich als unergiebig, eine Einsicht in den Nachlass der Familie von Arco-Zinneberg war nicht möglich, da die Anfrage bei der Familie um Benutzung unbeantwortet blieb.



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II Homogenisierung Entscheidend für den Adel nach 1945 und darüber hinaus war eine Entwicklung, die bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begonnen hatte, aber angesichts der adelsübergreifenden Verlusterfahrungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs besonders an Bedeutung gewann: Die Nivellierung traditioneller Adelsunterschiede.25 Zu den Topoi der Geschichtsschreibung zum 19. und 20. Jahrhundert gehört der Umstand, dass der deutsche Adel nicht existierte. Stattdessen gilt es für ihn als typisch, sozial gesehen seit jeher in sich stark differenziert zu sein. Somit eigentlich ein „Stand aus Ständen“,26 unterschied man zwischen hohem und niederem Adel, wobei es innerhalb dieser Gruppen wiederum Untergliederungen gab, zwischen verschiedenen Adelslandschaften und dabei durchaus signifikanten Ost-West bzw. NordSüd-Unterschieden sowie nicht zuletzt zwischen evangelischem und katholischem Adel.27 Nach 1945 wurden diese Differenzen zwischen dem ost- und dem westdeutschen Adel auf die Spitze getrieben. Heimatverlust und existenzielle Unsicherheit durch Flucht und Vertreibung kennzeichneten die grundlegenden Erfahrungen des ostpreußischen, pommerschen und schlesischen Adels. Schätzungen gehen davon aus, dass 25.000 Adelige weitgehend besitzlos in die Westzone gelangten.28 Wie allen anderen Flüchtlingen oder Vertriebenen auch, ermöglichte ihnen zwar das Lastenausgleichsgesetz von 1952 einen Neuanfang. Eine individuelle Wiederherstellung des Vermögens sah die Bundesregierung dadurch aber nicht vor, sondern lediglich eine Wiedererstattung der früheren Vermögensstruktur in verkleinertem Maßstab.29 Der Neubeginn für den ostdeutschen Adel fiel somit bescheiden aus. Zudem erfolgte er nicht mehr auf seinem angestammten Tätigkeitsgebiet, der Landwirtschaft, sondern in den unterschiedlichsten bürgerlichen Berufen. So nützte etwa die Familie zu Dohna nach eigenen Angaben die erhaltenen Lastenausgleichszahlungen in Höhe von 172.000 Mark zum Aufbau einer chemischen Reinigung.30 Eine Ausnahme von 25 Eckart Conze, Der Edelmann als Bürger? Standesbewußtsein und Wertewandel im Adel der frühen Bundesrepublik, in: Manfred Hettling/Bernd Ulrich (Hrsg.), Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005, S. 347–371, hier S. 351. 26 Joachim von Dissow (Pseudonym für Johann Albrecht von Rantzau), Adel im Übergang. Ein kritischer Standesgenosse berichtet aus Residenzen und Gutshäusern, Stuttgart 1961, S. 122. 27 Zum Beispiel: Andreas Dornheim, Adel. Selbstverständnis, Verhalten und Einfluß einer traditionellen Elite, in: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.), Eliten in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart u.a. 1990, S. 142–163, hier S. 145ff. 28 Hans-Georg von Studnitz, Glanz und keine Gloria. Reise durch die Wohlstandsgesellschaft, Stuttgart 1965, S. 68. 29 Conze, Von deutschem Adel (wie Anm. 4), S. 197; Hans Braun, Das Streben nach „Sicherheit“ in den 50er Jahren. Soziale und politische Ursachen und Erscheinungsweisen, in: Archiv für Sozialgeschichte 18, 1978, S. 279–306, hier S. 294f. 30 Monika Wienfort, Der Adel in der Moderne, Göttingen 2006, S. 87.

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diesen Anfängen in einfachen Verhältnissen bildeten lediglich Familien, die Vermögen in Westdeutschland oder im Ausland besaßen, wie etwa die Familie Henkel von Donnersmarck.31 Hart traf es auch den ostdeutschen Adel, dessen Besitzungen auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone lagen. Unter dem Motto „Junkerland in Bauernhand“ wurden hier im Zuge der Bodenreform von 1945 und 1946 Betriebe von führenden Nationalsozialisten und Kriegsverbrechern sowie Grundbesitz über 100 Hektar entschädigungslos und pauschal enteignet.32 Damit setzte man allen Hoffnungen adeliger und nicht adeliger Gutsbesitzer ein Ende, die in der nunmehrigen sowjetischen Besatzungszone ausgeharrt hatten und nicht, wie in den Gebieten östlich von Oder und Neiße geschehen, unmittelbar nach Kriegsende geflohen waren. Jetzt aber, da Verhaftungen und Internierungen von ehemaligen „Junkern“ an der Tagesordnung waren, flohen auch die meisten Adeligen aus diesen Gebieten in den Westen. Nur wenige ältere Menschen, die vielfach nicht mehr die Kraft zu Flucht und Neuanfang besaßen, aber auch einige Stadtbewohner ohne Besitz und Sonderfälle wie Pfarrer oder Ärzte wollten ihre Heimat nicht verlassen.33 In der DDR war Adel faktisch nicht mehr existent. Die wenigen verbliebenen Adeligen hatten untereinander kaum Kontakt und lebten weit verstreut in, zumindest anfangs, häufig ärmlichsten Verhältnissen.34 Mit der Zeit wurden die ehemals adeligen Herrenhäuser, Schlösser und Gutsgebäude abgerissen oder als Krankenhäuser, Kinderheime oder Schulen genutzt.35 Als „fast unmenschlich zu tragen“ beschreibt ein ostdeutscher Adeliger den „Unterschied von einst und jetzt“, den Unterschied zu seinem „bis 1945 so besonnten Leben“36 in einem Dankesbrief an das „Deutsche Adelsarchiv“ anlässlich der Weihnachtsspende 1949. Im Vergleich dazu war für den angestammten Adel Westdeutschlands die Zäsur des Jahres 1945 nicht annähernd so ausgeprägt. Im Zeichen von Entmilitarisierung und Demokratisierung sollten auch hier Bodenreformen durchgeführt werden. Wegen des sich zuspitzenden Ost-West-Gegensatzes und den Spannungen zwischen 31 Markus Raasch, Adel und Nachkriegszeit. Ein kategorialer Zugriff (Vortrag auf der Tagung „Was ist Adel? Ein vergleichender Blick der Alten und Neuesten Geschichte“ am 9. Juni 2012 in Augsburg), www.ku.de/fileadmin/140204/Raasch/Adel_und_Nachkriegszeit._Ein_kategorialer_Zugriff.pdf [24.09.2013]. 32 Wienfort, Der Adel in der Moderne (wie Anm. 30), S. 85. In Sachsen etwa betraf diese Aktion circa 300 adelige Eigentümer, die etwa 400 Güter von durchschnittlich 340 Hektar Größe besaßen. Henning Kopp-Colomb, Sächsischer Adel heute (1945–1995), in: Katrin Keller/Josef Matzerath (Hrsg.), Geschichte des sächsischen Adels, Köln 1997, S. 327–343, hier S. 328. 33 Wienfort, Der Adel in der Moderne (wie Anm. 30), S. 85f. Die mecklenburgisch-pommersche Familie von Dewitz beispielsweise floh so gut wie vollständig nach Westdeutschland. Lediglich zwei Familienmitglieder, die Diakonie-Schwester Jutta von Dewitz sowie Friederike von Dewitz in Roggenhagen, lehnten die Flucht ab. Heinrich, Staatsdienst und Rittergut (wie Anm. 12), S. 259. 34 Kopp-Colomb, Sächsischer Adel heute (wie Anm. 32), S. 329. 35 Conze, Von deutschem Adel (wie Anm. 4), S. 283. 36 O.  V., Dankesbrief an das „Deutsche Adelsarchiv“ anlässlich der Weihnachtsspende 1949, in: Deutsches Adelsarchiv 35, 1950, S. 2.



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der Sowjetunion und den westlichen Alliierten wurden diese Pläne jedoch nicht in die Tat umgesetzt. Daher blieben in der Bundesrepublik die ländlichen Besitzverhältnisse im Wesentlichen unangetastet. Adelige Grundeigentümer konnten auch weiterhin über ihren vollständigen Besitz verfügen, so dass bis heute Familien wie von Thurn und Taxis oder von Hohenlohe zu den größten Landbesitzern zählen und über die bedeutendsten Forstbetriebe Deutschlands verfügen.37 Wie Kurt Freiherr Rüdt von Collenberg konstatierte, war demnach nach 1945 nicht nur „der Lebensstandard innerhalb der sozialen Schichtungen adeliger Namensträger völlig verschiedenartig“, sondern zusätzlich wechselten auch „die Existenz-Bedingungen […] in den einzelnen Gebieten der Bundesrepublik“.38 Bodenreform und Enteignung in Mittel- und Ostdeutschland auf der einen und die ungebrochene Kontinuität des Besitzes im Westen auf der anderen Seite hatten ökonomisch tiefe Gräben zwischen den Adelsgruppen hinterlassen. Hans-Georg von Studnitz zufolge „[habe] der zweite Weltkrieg den deutschen Adel in zwei ungleiche Hälften [ge]spalten, von denen die eine nach wie vor ihr Auskommen [habe], während die andere an den Bettelstab gekommen“,39 ja geradezu „ins Proletariat abgesunken“40 sei; zwischen „besitzendem und nichtbesitzendem Adel [sei] die Kluft heute größer als jemals zuvor“.41 Umso erstaunlicher ist es daher, dass gerade die gemeinsame Schicksalslage, die durch den Zweiten Weltkrieg und die unmittelbare Nachkriegszeit geschaffen wurde, diese materiellen, aber auch die hierarchisch-vertikalen, regionalen und konfessionellen Unterschiede innerhalb des Adels zu überdecken schienen. Zwar empfanden sich Adelige nach wie vor nicht einfach nur als adelig, sondern die Zugehörigkeit zum bayerischen oder preußischen, katholischen oder protestantischen Adel war entscheidender Teil ihrer jeweiligen Identität.42 Doch in der Bundesrepublik verblassten diese binnenadeligen Differenzen und traten zunehmend in den Hintergrund, während der Zusammenhalt und das Verbundenheitsgefühl innerhalb des Adels an Bedeutung gewannen. Mehr denn je betrachteten sich ost- und westdeutsche Adelige als „Standesgenossen“, als „Brüder und Schwestern“.43 Adelige Feierlichkeiten wie 1950 die Diamantene Hochzeit im Fürstenhaus von Thurn und Taxis44 fanden im ganzen Land Resonanz, Adelsverbände bemühten sich verstärkt darum, Gemeinsamkeiten herauszustellen.45 Zeichen der neuen Verbundenheit zwischen west- und 37 Wienfort, Der Adel in der Moderne (wie Anm. 30), S. 87. 38 Kurt Freiherr Rüdt von Collenberg, Der Adel im heutigen Westdeutschland, in: Deutsches Adelsarchiv 92, 1955, S. 64. 39 Hans Georg von Studnitz, Der deutsche Adel heute, in: Der Monat 100, 1956, S. 43-50, hier S. 44. 40 Von Studnitz, Der deutsche Adel heute (wie Anm. 39), S. 49. 41 Von Studnitz, Der deutsche Adel heute (wie Anm. 39), S. 49. 42 Conze, Totgesagte (wie Anm. 17), S. 118. 43 Spendenaufruf des Hilfswerks des „Deutschen Adelsarchivs“, in: Deutsches Adelsarchiv 68, 1953, S. 71. 44 O. V., Diamantene Hochzeit im Fürstenhause Thurn und Taxis, in: Deutsches Adelsarchiv 37, 1950, S. 5. 45 Kopp-Colomb, Sächsischer Adel heute (wie Anm. 32), S. 333f. Im Jahre 1965 existierten in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt 14 regionale Adelsverbände, drei ritterschaftliche Verbände,

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ostdeutschem Adel war die Gründung des „Hilfswerk[s] des Deutschen Adelsarchivs“ im Jahre 1949, das sich durch Spenden finanzierte und bedürftige Adelige vor allem in der sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise der DDR durch regelmäßige Paketsendungen und finanzielle Beihilfen unterstützte.46 Entscheidenden Anteil an dieser Homogenisierung und damit einhergehend an der Entstehung eines deutschen Adels hatte das Standesbewusstsein, das den Adel nach 1945 verband. Gerade „aus [diesem] Gefühl der Standeszusammengehörigkeit heraus“ waren sich die deutschen Adeligen nach eigenen Aussagen „näher […], als es früher möglich war“.47

III Materieller Erfolg Neben der Homogenisierung war ein zweites entscheidendes Signum der Adelsgeschichte nach 1945 die relativ schnelle und weitgehende Anlehnung an die politische und gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. „Der Adel muß sich auf den Boden der Demokratie stellen“, forderte Reinold von Thadden-Trieglaff, Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentags, 1958 in einem Vortrag anlässlich der Tagung der europäischen Adelsjugend in München. „Er muß von seinen Schlössern [...] herab in die Dörfer und Städte gehen und dort das Los der von der Nivellierung betroffenen Menschen teilen“, bei denen „es sich nicht nur um Flüchtlinge oder Bankrotteure, sondern um Angehörige aller Gesellschaftsgruppen und Berufe, um das arbeitende Volk schlechthin“48 handelt. Mit seinem Aufruf war Reinhold von Thadden-Trieglaff nicht alleine. Zahlreiche Vorträge auf Familienzusammenkünften49 und Adelstagungen,50 aber ebenso Artikel und Kommentare in den Ausgaben des die den alteingesessenen Adel einzelner Länder umfassten, drei landsmannschaftliche Zusammenschlüsse des Adels aus den Gebieten, aus denen die Deutschen vertrieben worden waren, sowie der Verband der Angehörigen der Baltischen Ritterschaft. Dachorganisation all dieser Adelsverbände war bis 1956 die Deutsche Adelsgenossenschaft, die dann im Zuge einer Umgestaltung der Satzung in die Vereinigung der Deutschen Adelsverbände umbenannt wurde. Robert von Schalburg, Die Institutionen des Adels in der Bundesrepublik. Sonderdruck aus Heft 1 des „Deutschen Adelsblatts“ vom 15. Januar 1965, in: BayHStA, Archiv der Genossenschaft katholischer Edelleute, Nr. 108. 46 von Schalburg, Die Institutionen des Adels in der Bundesrepublik (wie Anm. 45); Claus Heinrich Bill, Hilfswerk der Deutschen Adelsverbände (wie Anm. 20), S. 39. 47 O. V., Dankesbrief an das „Deutsche Adelsarchiv“ anlässlich einer Wäschespende 1951, in: Deutsches Adelsarchiv 42, 1951, S. 18. 48 Reinhold von Thadden-Trieglaff, Adel heute? Vortrag auf der Tagung der europäischen Adelsjugend in München vom 10. bis 12. Oktober 1958, in: Deutsches Adelsarchiv 8, 1959, S. 144. 49 Etwa Rudolf von Wedel-Polssen, Berechtigung und Aufgaben des Adels in der heutigen Staatsform. Vortrag anlässlich des Familientags der Grafen und Herren von Wedel vom 1. bis 2. August 1952. Erwähnt in: Hubertus von Wedel-Kannenberg, Bericht über den Familientag der Grafen und Herren von Wedel, in: Deutsches Adelsarchiv 63, 1952, S. 196. 50 Etwa von Aretin, Der Adel in heutiger Zeit (wie Anm. 1); Friedrich August Freiherr von der Heydte, Die Aufgaben des Adels in der Demokratie. Vortrag anlässlich der Generalversammlung der Genos-



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„Deutschen Adelsarchivs“51 beschäftigten sich mit möglichen Beiträgen des Adels zur Stabilisierung der westdeutschen Demokratie. Diese Akzeptanz des herrschenden politischen Systems wirkt erstaunlich, stand sie doch in krassem Gegensatz zu der massiven Ablehnung und Anfeindung der Weimarer Republik in den 1920er Jahren. Seine alten politischen Einstellungen und mentalen Prägungen, vor allem die Abneigung gegenüber Parlamentarismus und Parteienstaatlichkeit, schien der Adel nun jedoch abgelegt zu haben. Zwar trugen in den 1950er Jahren vereinzelte Adelige, wie etwa Erich Fürst von Waldburg-Zeil, die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie vor.52 Insbesondere in regionalen Bezügen – etwa in Bayern oder Hannover – wurden auch Stimmen nach der Wiedereinführung der Monarchie laut.53 Eine nennenswerte Opposition gegen die Bundesrepublik gab es nach 1945 aber zu keiner Zeit. Stattdessen erkannte die Mehrheit der 50.000 bis 70.000 in der BRD lebenden Adeligen54 die „Zweckmäßigkeit der demokratischen Formen“55 an und stützte die parlamentarische Ordnung sogar, wenn auch oftmals kritisch.56 Verband man mit dem Jahr 1945 zunächst „den Zwang zur Eingliederung in die moderne Gesellschaft“,57 begann der Adel schon bald, sein individuelles Schicksal zu akzeptieren und sich in die neuen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse einzugewöhnen.58 Der Grund hierfür liegt wohl zum einen darin, dass, anders als die Weimarer Verfassung, das Bonner Grundgesetz keine adelsdiskriminierenden Bestimmungen enthielt.59 Daneben waren aber insbesondere die sozialen und ökonomischen Wiederaufstiegsprozesse des Adels im Zuge des „Wirtschaftswunders“ in den 1950er und frühen 1960er Jahren entscheidend für die rasche Akzeptanz der Bunsenschaft katholischer Edelleute in Bayern in Altötting am 25.  April 1954, in: BayHStA, Archiv der Genossenschaft katholischer Edelleute, Nr. 108. 51 Etwa Kurt Freiherr Rüdt von Collenberg, Hat der deutsche Adel noch eine Aufgabe? Auszug aus einem Referat gehalten bei der Tagung der Vereinigung des Adels in Baden-Baden am 29. November 1952 in Heidelberg, in: Deutsches Adelsarchiv 67, 1953, S. 43f; Otto von Harling, Sinn und Aufgaben der Adelsverbände, in: Deutsches Adelsarchiv 78, 1954, S. 24ff. 52 Alois Graf von Waldburg-Zeil schreibt in einem Brief vom 24. Mai 1986, sein Vater Erich Fürst von Waldburg-Zeil habe „erhebliche Vorbehalte“ gegenüber der Demokratie gehabt: Dornheim, Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 349, 397. 53 Joachim Selzam, Monarchistische Strömungen in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1989, Erlangen 1994, S. 2. 54 Die Zahlen gehen hier deutlich auseinander. Während Hans-Georg von Studnitz und Claus Jacobi von 50.000 Personen sprechen, die in der Bundesrepublik der 1950er Jahre dem Adel angehörten, sind es bei Hans-Ulrich Wehler 70.000 Adelige, die in dieser Zeit in Westdeutschland lebten. Von Studnitz, Glanz und keine Gloria (wie Anm. 28), S.  68; Claus Jacobi, Adel und Bürgertum, in: Der Monat 9, 1956, S. 50–56, hier S. 55; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5: Von der Gründung der beiden deutschen Staaten bis zur Vereinigung 1949–1990, München 2008, S. 166. 55 Von Aretin, Der Adel in heutiger Zeit (wie Anm. 1). 56 Conze, Der Edelmann als Bürger? (wie Anm. 25), S. 348. 57 Maltza(h)nscher Familienverein, Die Maltza(h)n 1194–1945 (wie Anm. 3), S. 391. 58 Conze, In den Katarakten der Moderne (wie Anm. 7), S. 18. 59 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 54), S. 166.

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desrepublik. In geradezu schwindelerregend rasantem Tempo hatte der wirtschaftliche Aufschwung aus der „Zusammenbruchgesellschaft“ der ersten Nachkriegsjahre und der wieder erreichten „Normalität“ um 1950 eine Wohlstandsgesellschaft entstehen lassen. In ihr war es insbesondere dem besitzlosen oder nach 1945 enteigneten Adel möglich, wirtschaftlich – wenn auch häufig nur in bescheidenem Maße – wieder zu reüssieren und sein Sozialprestige zu bewahren.60 Das „Wirtschaftswunder“ trug somit entscheidend zur beruflichen Integration der adeligen Flüchtlinge und Vertriebenen und damit zur Kompensation ihrer Verlusterfahrungen bei.61 Einem möglichen sozialen und politischen Unruhepotential von Seiten des Adels wurde somit jedweder Nährboden entzogen. Stattdessen sah er wie die meisten anderen Bundesbürger auch die 1950er und 1960er Jahre als eine Zeit des individuellen wie kollektiven Wiederaufstiegs.62 Ganz im Gegensatz zur Weimarer Republik stand die Bundesrepublik somit nicht für Verlusterfahrungen und mannigfache Abstiegsprozesse. Selbstverständlich gab es diese auch nach 1949, nur konnte man hierfür nicht die Bundesrepublik verantwortlich machen. Vielmehr waren sie das Ergebnis von Entwicklungen, die vor deren Gründung stattgefunden hatten, in der Weimarer Republik, der Zeit des Nationalsozialismus, in den Jahren der Besatzung.63 Somit akzeptierte der deutsche Adel den neuen Staat, weil sich dessen politische Ordnung und dessen wirtschaftliches System als fähig gezeigt hatten, selbst den aus den Agrargebieten östlich der Oder und Neiße sowie aus der sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise der DDR geflüchteten Adelsfamilien die Möglichkeit einer Annäherung an den einstmals innegehabten sozialen Status zu eröffnen.64

IV Antitotalitarismus Neben diesen Erfolgs- und Aufstiegsmöglichkeiten der „Wirtschaftswundergesellschaft“ begünstigte überdies der Antitotalitarismus der frühen Bundesrepublik die Integration des Adels in die deutsche Gesellschaft. Politisch teilte der Adel jenen antitotalitären Grundkonsens, der die bundesdeutsche Gesellschaft der 1950er Jahre einte und somit entscheidend stabilisierte.65 Einen nicht unwesentlichen Teil bildeten hierbei die Rezeption und der öffentliche Umgang der frühen Bundesrepublik mit dem 60 Conze, In den Katarakten der Moderne (wie Anm. 7), S. 18. 61 Conze, Von deutschem Adel (wie Anm. 4), S. 198. Stellvertretend für viele Adelige heißt es etwa in der Familienchronik der aus der sowjetischen Besatzungszone geflohenen Familie von Dewitz, dass sich in der Bundesrepublik „die Chance des Neubeginns oder des Wiederbeginns“ ergeben hatte. Heinrich, Staatsdienst und Rittergut (wie Anm. 12), S. 259. 62 Conze, In den Katarakten der Moderne (wie Anm. 7), S. 18. 63 Conze, Von deutschem Adel (wie Anm. 4), S. 386f. 64 Conze, Von deutschem Adel (wie Anm. 4), S. 198f. 65 Conze, Der Edelmann als Bürger? (wie Anm. 25), S. 358.



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Widerstand gegen den Nationalsozialismus, insbesondere mit dem Attentatsversuch des 20. Juli 1944 und dem überproportional hohen Adelsanteil unter den Verschwörern. Wurden die Ereignisse des 20.  Juli bereits in den frühen Nachkriegsjahren zu einem festen Bestandteil des identitätsstiftenden Geschichtsbilds des Adels, hielten sie ab 1954 ebenso in die kollektive Erinnerung der westdeutschen Gesellschaft Einzug.66 Für die staatlichen Institutionen und die Repräsentanten der Bundesrepublik verkörperte die nationalkonservative Opposition das „andere“, bessere und damit zukunftsfähige Deutschland, mit dem sich eine Verbindungslinie ziehen ließ zwischen der Weimarer Republik und der Bonner Demokratie.67 Daneben spielte die positive Bewertung des 20. Juli und vor allem seiner militärischen Träger im Hinblick auf die seit Anfang der 1950er Jahre diskutierte Wiederbewaffnung eine entscheidende Rolle.68 Aber nicht nur für die Selbstvergewisserung der jungen Bundesrepublik nach 1945 waren somit der Widerstand und die Pflege der Erinnerung an ihn von zentraler Bedeutung. Von beinahe noch größerer Tragweite war der Umgang mit dem Attentatsversuch für den Adel. Dieser begann bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit, sich mit den Ereignissen im Umfeld des 20. Juli stark zu identifizieren. Schon 1948 schrieb der ehemalige Widerstandskämpfer Otto Heinrich von der Gablentz: „So weit hatte sich der Adel drängen lassen, daß ihm nur ein Weg übrigblieb, der seiner Haltung und Überlieferung ganz unangemessen war: Putsch und Attentat.“69 Von der einstigen Position der Deutschen Adelsgenossenschaft, deren Marschall Adolf Fürst zu Bentheim-TecklenburgRheda nach dem gescheiterten Attentat 1944 Hitler den Abscheu des Standes vor dem „verruchten Verbrechen“70 bekundet hatte, war nun nicht einmal mehr am Rande die Rede. Stattdessen wurden in der Erinnerung des Adels, das machen die Aussagen zum 20. Juli in den Artikeln des „Deutschen Adelsarchivs“ deutlich, die Widerstandskämpfer – und damit der Adel allgemein – durch das „persönliche Opfer“71 zum „Gewissen der

66 Conze, Adel und Adeligkeit im Widerstand des 20. Juli 1944, in: Heinz Reif (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland. Bd. 2: Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 267–295, hier S. 270. 67 Auf die Haltung der westdeutschen Bevölkerung gegenüber dem Widerstand schien dies jedoch keine Auswirkungen zu haben, auch weiterhin assoziierte man das Attentat von 1944 überwiegend negativ. Noch 1956 äußerten in einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie 49 % der Befragten ihre Skepsis darüber, eine Schule nach einem der Widerstandskämpfer des 20. Juli zu benennen, lediglich 18 % sprachen sich dafür aus. Elisabeth Noelle-Neumann/Erich Peter Neumann, Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1957, Allensbach/Bonn 1957, S. 145. 68 Conze, Adel und Adeligkeit im Widerstand (wie Anm. 66), S. 290. 69 Otto Heinrich von der Gablentz, Die Tragik des Preußentums, München 1948, S. 103f. (Hervorhebung der Verfasserin). 70 Georg H. Kleine, Adelsgenossenschaft und Nationalsozialismus, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 26, 1978, S. 100–143, hier S. 139. 71 Hans Erich von Groll, Rezension zu: Annedore Leber, Das Gewissen steht auf. 64  Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand 1933–1945, Frankfurt  am  Main/Berlin 1954, in: Deutsches Adelsarchiv 87, 1954, S. 208.

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Nation“.72 Somit rechtfertigte der Adel seine Existenz nicht nur vor sich selbst, sondern vor allem auch vor der übrigen Gesellschaft mit dem Hinweis darauf, „daß wie immer bei Gewissensentscheidungen, so auch bei dieser, der größten und entscheidendsten unserer Geschichte, der aktive Anteil des Adels ein unverhältnismäßig großer war“.73 Schon wenige Jahre nach Kriegsende sprach man in Zusammenhang mit der Thematik „Adel und Nationalsozialismus“ nicht mehr von der Mitwirkung des Adels an der Zerstörung der Weimarer Republik und dem Aufstieg des Nationalsozialismus, seinen Bündnissen mit dem Regime oder der Beteiligung zahlreicher Adeliger an der verbrecherischen Politik und Kriegsführung, sondern man hob in erster Linie die adelige Opposition gegen die NS-Diktatur hervor. Aufgrund des vergleichsweise hohen Adelsanteils in den nationalkonservativen Verschwörerzirkeln wurde jede öffentliche Würdigung des Widerstands mehr oder weniger freiwillig zu einer Belobigung des Adels und bildete somit eine entscheidende Grundlage für dessen positiv-versöhnliche Annäherung an Demokratie und Weststaat.74 Auf diese Weise bot die Bundesrepublik dem Adel die Möglichkeit einer erneuerten Identitäts- und Traditionsstiftung, die dieser nur allzu gerne wahrnahm und die für die Akzeptanz der neuen politischen Verhältnisse eine entscheidende Rolle spielte. Im Zuge seiner antitotalitären Haltung distanzierte sich der Adel in den 1950er Jahren aber nicht nur vom Nationalsozialismus, sondern auch ganz gegenwartsbezogen vom real existierenden Sozialismus. Diese Haltung war für ihn allerdings keineswegs neu. Ebenso in der Gegenwart wie „bereits seit Jahrhunderten“ sei er dazu „berufen […], die Gewalt der uns bedrohenden Ost-Massen zu brechen“ und die „abendländische, christliche Kultur vor einer Überflutung durch die Unkultur“75 zu erretten, konstatierte etwa Kurt Freiherr Rüdt von Collenberg 1952 im „Deutschen Adelsarchiv“. Ganz im Gegensatz zu den in der Zwischenkriegszeit immer wieder geschilderten Erlebnissen baltischer Adeliger aus den Jahren nach der russischen Oktoberrevolution gewann der traditionelle adelige Antikommunismus nach 1945 durch die eigene Erfahrung von Flucht, Vertreibung und Enteignung sowie den weltpolitischen Hintergrund des Kalten Kriegs allerdings einen wesentlich konkreteren

72 Hans Erich von Groll, Rezension zu: Gerhard Ritter, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1955, in: Deutsches Adelsarchiv 93, 1955, S. 89. 73 Hans Erich von Groll, Rezension zu: Annedore Leber, Das Gewissen entscheidet. Berichte des deutschen Widerstandes von 1933–1945 in Lebensbildern, Hamburg 1957, in: Deutsches Adelsarchiv 12, 1957, S. 233. 74 Conze, Von deutschem Adel (wie Anm. 4), S. 203. 75 Von Collenberg, Hat der deutsche Adel noch eine Aufgabe? (wie Anm. 51), S. 43. Bemüht von Politikern, Verbandsvertretern und Publizisten war das zu erneuernde und vor allem durch den „Bolschewismus“ bedrohte „christliche Abendland“ im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg in aller Munde. Entsprechend häufig wird darauf auch im „Deutschen Adelsarchiv“ der 1950er Jahre Bezug genommen. Etwa F. v. H., Rezension zu: Klaus Ackermann, Das Land der stummen Millionen, Tübingen 1951, in: Deutsches Adelsarchiv 50, 1951, S. 152; Edgar von Schmidt-Pauli, Politische Jahresbilanz 1952, in: Deutsches Adelsarchiv 65, 1953, S. 7.



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Bezugspunkt.76 Für den Adel der 1950er Jahre galt „die unfaßbare Sphinx Rußland“ als „das vielleicht wichtigste Problem der Gegenwart“,77 weshalb er den bundesrepublikanischen Antikommunismus als einen Konsens empfand, den er schon wegen der Vernichtung der Adelswelt im Osten vorbehaltlos teilte. Zudem vertraten die Bundesregierung und die Regierungsparteien die Interessen des Adels, indem sie die Abtrennung der ehemaligen Ostgebiete zumindest de jure nicht anerkannten und die Sowjetisierung Ostdeutschlands, und damit die Bodenreform, als Unrecht und kommunistische Gewalt verurteilten.78 Diese Bestätigung der adeligen Eigentumsrechte unterstrich überdies demonstrativ das Lastenausgleichsgesetz. Indem der westdeutsche Staat mittels dieser Ausgleichszahlungen die Interessen des Adels als berechtigt ansah, solidarisierte er sich in der adeligen Wahrnehmung mit ihm. Somit leistete der Lastenausgleich nicht nur materiellen Beistand, sondern wurde für den Adel auch zum Signal gegen die Enteignungspolitik der DDR.79 Folglich trug ebenso der bundesrepublikanische Antikommunismus mit seiner Absage an den Sozialismus und dem Bekenntnis zu Freiheit und Privateigentum entscheidend zur Integration des Adels in die westdeutsche Gesellschaft bei.

V Bonner Konservativismus Nicht zuletzt aber war es auch das konservative Grundgepräge des Bonner Staats, das den Adel die neue staatliche Ordnung so rasch akzeptieren ließ. Als „motorisiertes Biedermeier“80 hatte Erich Kästner die gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik in den 1950er Jahren charakterisiert und damit auf die Gemengelagen und Spannungsverhältnisse zwischen rasantem sozialen und technischen Wandel und gleichzeitiger Restauration verwiesen – eine Gegensätzlichkeit, die man aus politischem Blickwinkel als „Modernisierung unter ‚konservativen Auspizien‘“81 bezeichnen mag. Tatsächlich prägten mit dem einsetzenden Automobilboom, den Anfängen des Fernsehens und des Massentourismus, der Herausbildung neuer Freizeitstile 76 Conze, Der Edelmann als Bürger? (wie Anm. 25), S. 360. 77 F. v. H., Rezension zu Klaus Ackermann (wie Anm. 75), S. 152. 78 Conze, Der Edelmann als Bürger? (wie Anm. 25), S. 360. 79 Conze, Von deutschem Adel (wie Anm. 4), S. 197. 80 Kästners Bonmot wurde für die Charakterisierung der 1950er Jahre zum geflügelten Wort. Mit seiner Bemerkung setzte der Autor das geistige Klima der Adenauerzeit in Beziehung zu den Zensurmaßnahmen des Biedermeier gegen Schriftsteller wie Heinrich Heine. Kästner zufolge gäbe es keine offizielle Zensur mehr, „weil wir keine brauchen. Wir haben, fortschrittlich wie wir nun einmal sind, die Selbstzensur erfunden“. Erich Kästner, Heinrich Heine und wir (Februar 1956), in: Klaus Wagenbach (Hrsg.), Vaterland, Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat seit 1945. Offene Briefe, Reden, Aufsätze, Gedichte, Manifeste, Polemiken, Berlin 2004, S. 132. 81 Christoph Kleßmann, Ein stolzes Schiff und krächzende Möwen. Die Geschichte der Bundesrepublik und ihre Kritiker, in: Geschichte und Gesellschaft 11, 1985, S. 476–494, hier S. 485.

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und Konsumerwartungen zuvor nie dagewesene Modernisierungs- und Beschleunigungstendenzen die Adenauerära.82 Der gesellschaftliche, politische und kulturelle Rahmen all dieser Aufbrüche und Neuanfänge war jedoch stets von konservativen Kontinuitäten geprägt. So tastete man sich gerade in politischen und anderen öffentlichen Institutionen, aber auch in den gesellschaftlichen Werteordnungen zum Altvertrauten zurück.83 Als Leitbilder dienten dabei die Prinzipien des privaten und öffentlichen Lebens jener Zeiträume, die von den Deutschen als stabil wahrgenommen wurden und in denen es ihnen ihrer Ansicht nach gut ging: das Kaiserreich und die Jahre 1933 bis 1939.84 Die „konservative Grundstimmung“85 der Adenauerära zeigte sich etwa in der insbesondere von Politikern, Verbänden und den Kirchen propagierten Restauration tradierter Familienstrukturen und Rollenbilder86 oder dem Politikverständnis der Menschen, bei dem autoritäre Formen der Herrschaftsausübung, wie sie etwa in der dominierenden politischen Verhaltensweise Konrad Adenauers zum Ausdruck kamen, die entscheidende Rolle spielten.87 Mit diesen konservativen gesamtgesellschaftlichen Strukturen konnte sich der Adel identifizieren, entsprachen sie doch weitgehend seinen eigenen und boten ihm somit vielfache Anknüpfungsmöglichkeiten. So war es denn auch der Konservativismus, der in der Bundesrepublik unverkennbar den bevorzugten politischen Standpunkt des Adels bildete. Zu seinem Sammelbecken wurde die christlich-konservative CDU/CSU; die Zahl adeliger Mitglieder in anderen Parteien wie etwa den Freidemokraten war dagegen verschwindend gering.88 Stattdessen engagierten sich vor allem orthodox-katholische süddeutsche Hochadelige in der politisch ausgerichteten „Abendländischen Bewegung“, die 1951 unter anderem von Erich Fürst von Waldburg-Zeil ins Leben gerufen worden war und 82 Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 11. 83 Conze, Von deutschem Adel (wie Anm. 4), S. 205. 84 Laut Meinungsumfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie im Oktober 1951 nannten auf die Frage „Wann in diesem Jahrhundert ist es nach Ihrem Gefühl Deutschland am besten gegangen?“ 45 % der Teilnehmer das Kaiserreich und 42 % den Zeitraum zwischen 1933 und 1939. Elisabeth Noelle-Neumann/Erich Peter Neumann, Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947–1955, Allensbach/ Bonn 1956, S. 137. 85 Axel Schildt/Arnold Sywottek, „Wiederaufbau“ und „Modernisierung“. Zur westdeutschen Gesellschaftsgeschichte in den fünfziger Jahren, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 6–7, 1989, S. 18–32, hier S. 31. 86 Ute Frevert, Frauen zwischen Beruf und Familie im Wirtschaftswunderland, in: Dies., FrauenGeschichten. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt am Main 1986, S. 253-271, hier S. 254f. 87 Anselm Doering-Manteuffel, Strukturmerkmale der Kanzlerdemokratie, in: Der Staat 30, 1991, S. 1–18, hier S. 13. 88 Wienfort, Der Adel in der Moderne (wie Anm. 30), S. 60. Zu diesen Ausnahmen innerhalb des Adels zählte, wenn auch nur zeitweilig, Hubertus Friedrich Prinz zu Löwenstein-Wertheim-Freudenberg, der von 1953 bis 1957 als FDP-Abgeordneter im Bundestag saß. Dann allerdings verließ er die Freidemokraten und wechselte zur Deutschen Partei, später wurde er Mitglied der CDU: Jacobi, Adel und Bürgertum (wie Anm. 54), S. 50.



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es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die geistige Höherwertigkeit und Eigenständigkeit des vermeintlich in Verfall geratenen „Abendlands“ zu verteidigen.89 Zu diesem Zweck forderte ihr streng konservatives Programm das antikommunistische Credo, eine paternalistische Sozialordnung sowie einen auf Gott verpflichteten, quasi-ständischen Staat. Zeitweilig sah man Otto von Habsburg als Präsident oder Wahlmo­ narch vor.90 Wissenschaftlichen Impetus sollte zudem die 1952 in Eichstätt etablierte „Abendländische Akademie“ besitzen. Neben zahlreichen Adeligen gehörten namhafte Politiker und Kirchenvertreter wie etwa der Eichstätter Bischof Josef Schröffer zu deren Mitgliedern.91 Deutlich zeigt sich anhand dieser Zusammenstellung das Wiederaufleben der traditionellen Nähe von Adel und Amtskirche in der Bundesrepublik.92 Vor allem die katholische Kirche besaß im Adenauerdeutschland entscheidenden Einfluss und drückte der Geschichte der frühen Bundesrepublik ihren Stempel auf. Die Kooperation mit der CDU unter Adenauer, deren treueste Wählerschaft die Katholiken darstellten, ermöglichte eine Gesetzgebung, die von der Schulreform bis zur Rentenreform unverkennbar durch die katholische Ideenwelt beeinflusst war.93 Da diese Ideenwelt mit derjenigen des Adels vielfach übereinstimmte, sah er auch durch das Engagement der Kirche in der bundesdeutschen Gesellschaft seine Interessen vertreten.

VI Adaption des „noblesse oblige“ Entscheidend für den Prozess, sich der deutschen Nachkriegsdemokratie zu öffnen und sich mit den neuen soziopolitischen Rahmenbedingungen abzufinden, war für den Adel insbesondere die Auseinandersetzung mit seiner zukünftigen Funktion und Stellung in der bundesdeutschen Gesellschaft94. Dass in den 1950er Jahren die 89 Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999, S. 20. 90 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 54), S. 168. 91 Für eine Liste der prominenten Mitglieder der „Abendländischen Akademie“ und ihrer Organe siehe Rudolf Uertz, Konservative Kulturkritik in der frühen Bundesrepublik Deutschland. Die Abendländische Akademie in Eichstätt (1952–1956), in: Historisch-Politische Mitteilungen 7, 2001, S. 45–71, hier S. 50f. 92 Raasch, Adel und Nachkriegszeit (wie Anm. 31). 93 Wilhelm Damberg, Milieu und Konzil. Zum Paradigmenwechsel konfessionellen Bewusstseins im Katholizismus der frühen Bundesrepublik, in: Olaf Blaschke, Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970. Ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002, S. 315–350, hier S. 342. 94 Etwa Prof. Dr. Schoeps-Erlangen, Preußentum und Gegenwart (Tradition in der Wandlung). Vortrag anlässlich des Familientags der Grafen und Herren von Wedel vom 7. bis 8. August 1953. Erwähnt in: Hubertus von Wedel-Kannenberg, Bericht über den Familientag der Grafen und Herren von Wedel, in: Deutsches Adelsarchiv 74, 1953, S. 183; Hans-Georg von Studnitz, Was wir bewahrt haben, in: Deutsches Adelsarchiv 40, 1950, S. 4; Rena von Schaper, Noblesse oblige 1955, in: Deutsches Adelsarchiv 91,  1955, S.  44; Maximilian Wilke, Gedanken über den deutschen Adel, in: Deutsches Adelsarchiv

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Frage nach seiner künftigen Aufgabe den Adel wohl mit am dringlichsten beschäftigte, wundert nicht, ging es doch hierbei um nichts weniger als die Rechtfertigung seiner Fortexistenz. Aber was konnte den Adel, der „längst und vollkommen zum Mitläufer“95 in der bürgerlichen Gesellschaft geworden war, überhaupt noch von anderen Bevölkerungsteilen unterscheiden und ihn daher für bestimmte Funktionen prädestinieren? Nur allzu sehr war man sich in Adelskreisen über den Verlust des exponierten Status im Klaren. Der Adel, so beklagte Angela von Britzen schon 1950 im „Deutschen Adelsarchiv“, sei „in die Masse verw[ie]sen, in der er sich mit seinem Leben einrichten wird müssen“.96 Auch Hans-Georg von Studnitz konstatierte, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg zwar weder soziologisch oder politisch noch durch materielle Grundlagen ein Standesbewusstsein des Adels begründen lasse. Nichtsdestotrotz aber habe dieser nach wie vor „das Bewußtsein [seiner] Besonderheit“97 bewahrt. Zum entscheidenden Signum jener adelseigenen „Besonderheit“ erklärte von Studnitz die seit Jahrhunderten typische Allgemeinwohlorientierung und Allgemeinverpflichtung des Adels. Seine ihn von anderen sozialen Gruppen oder Schichtungen unterscheidende Aufgabe sah der Adel der 1950er Jahre demzufolge darin, den „Verhärtungserscheinungen“98 der Moderne entgegenzuwirken und sich um übergeordnete Belange, allgemeine Interessen und das Wohl von Staat und Gesellschaft zu bemühen.99 In diesem Sinne sollte der „verantwortliche Dienst an der Gemeinschaft“,100 geleitet von „vorbehaltlose[r] Einsatz- und Opferbereitschaft“,101 stets im Mittelpunkt allen adeligen Handelns stehen. Damit wurde erstmals in der deutschen Adelsgeschichte der Imperativ des „noblesse oblige“ auf eine freiheitlichdemokratische Staats- und Gesellschaftsordnung bezogen. Allerdings diente die vom Adel für sich beanspruchte Allgemeinwohlorientierung nicht nur dazu, sich selbst eine Sonderstellung in Staat und Gesellschaft der jungen Bundesrepublik zuzuweisen beziehungsweise diese einzufordern. Vielmehr schien man durch den Verweis auf das adelige Dienstideal den Vorwurf historischer Schuld oder Verfehlung gerade in Bezug auf das Verhalten in der Zeit des Nationalsozialismus konterkarieren zu wollen.102 Zur Begründung dieses Selbstbilds berief sich der deutsche Nachkriegsadel 6, 1956, S. 105; Cornelius-Adalbert Freiherr von Heyl, Bericht über die Jugendtagung auf Schloß Eisenbach, in: Deutsches Adelsarchiv 9, 1956, S. 164. 95 Jacobi, Adel und Bürgertum (wie Anm. 54), S. 50. 96 Angela von Britzen, Rezension zu: Wolf von Niebelschütz, Der blaue Kammerherr, Frankfurt am Main 1949, in: Deutsches Adelsarchiv 34, 1950, S. 6. 97 Von Studnitz, Was wir bewahrt haben (wie Anm. 94), S. 4. 98 Von Thadden-Trieglaff, Adel heute? (wie Anm. 48), S. 145. 99 Von Harling, Sinn und Aufgaben der Adelsverbände (wie Anm. 51), S. 25f. 100 Von Heyl, Bericht über die Jugendtagung auf Schloß Eisenbach (wie Anm. 94), S. 164. 101 Von Harling, Sinn und Aufgaben der Adelsverbände (wie Anm. 51), S. 25. 102 Conze, Der Edelmann als Bürger? (wie Anm. 25), S. 363. Otto von Harling etwa sah die Verluste des Adels auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs ebenso als eine Folge der adelstypischen Einsatz- und Opferbereitschaft wie den Widerstand des 20. Juli 1944. Von Harling, Sinn und Aufgaben der Adelsverbände (wie Anm. 51), S. 25.



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auf die Geschichte. In seiner fast tausendjährigen Tradition sah er einen uneinholbaren Erfahrungsvorsprung, der ihn dazu prädestinierte, Verantwortung gegenüber der Gesellschaft zu übernehmen.103 In unmittelbarem Zusammenhang mit dieser, sich auf die Geschichte berufenden Allgemeinwohlorientierung machte sich der Adel der 1950er Jahre als eine Art „Schutzvorrichtung“ der liberalen Demokratie die „Wahrung der Freiheit und Würde der Persönlichkeit bei vollem Einsatz für die Gemeinschaft […] [zum] Lebensgesetz“.104 Die Möglichkeit der Entfaltung des Einzelnen sah man ebenso wie die Bewahrung individueller Freiheit als Ziel und Mittel im Kampf gegen die durch den Adel immer wieder beschworene und kritisierte gesellschaftliche „Vermassung und Egalisierung“.105 Für deren Ursprung hielt man den Gleichheitsimperativ von Aufklärung und Französischer Revolution, aus denen sich im Geschichtsbild vieler Adeliger wiederum der Totalitarismus des 20. Jahrhunderts entwickelt hatte. Da dieser indirekt auf „Vermassung“ und „Egalisierung“ zurückzuführende Totalitarismus aber für den gesellschaftlichen Niedergang des Adels verantwortlich gemacht wurde, galt es umso mehr, nivellierende Tendenzen der Gegenwart zu bekämpfen.106 Darüber hinaus sah sich der Adel der jungen Bundesrepublik jedoch auch einem Antiindividualismus und Antiliberalismus verpflichtet, der vor Freiheit und Bindungslosigkeit als Egoismus warnte. Die Gesellschaftskritik des Adels erstreckte sich somit nicht nur auf Kommunismus und Nationalsozialismus. Vielmehr prangerte man ebenso die soziopolitischen und soziokulturellen Realitäten der freiheitlich-westlichen Gesellschaft an.107 Im Zentrum der adeligen Kritik stand dabei vor allem der Individualismus, der sich im 20.  Jahrhundert zu einem „zerstörerischen Atomismus“108 gesteigert habe. Das Bekenntnis zur freiheitlichen Persönlichkeitsentfaltung bei gleichzeitigem Verfechten des Antiindividualismus war hierbei eine nur scheinbar widersprüchliche Haltung. Tatsächlich verstand der Adel unter positiv gewerteter Freiheit nicht die Freiheit von etwas, sondern die Freiheit zu etwas, also etwa zu einer Bindung an den Staat, den Stand oder die Familie.109 Nur innerhalb dieser wäre seiner Ansicht nach 103 Nicolaus von Grote, Die Aufgabe des baltischen Edelmanns in der heutigen Wirklichkeit, in: Protokoll der vom Verband der Angehörigen der Baltischen Ritterschaften e. V. durchgeführten internationalen Jugendtagung zum Thema „Verantwortung des Adels“ in Essingen-Heisingen (Berufsschule) vom 14. bis 18. Oktober 1958, Gauting 1958, S. 8–18, in: BayHStA, Archiv der Genossenschaft katholischer Edelleute, Nr. 108. 104 Von Harling, Sinn und Aufgaben der Adelsverbände (wie Anm. 51), S. 25. 105 Von Collenberg, Hat der deutsche Adel noch eine Aufgabe? (wie Anm. 51), S. 43. 106 Conze, Der Edelmann als Bürger? (wie Anm. 25), S. 257f. 107 Conze, Der Edelmann als Bürger? (wie Anm. 25), S. 361. 108 Von Thadden-Trieglaff, Adel heute? (wie Anm. 48), S. 144. 109 Conze verweist in diesem Zusammenhang auf die Ähnlichkeit der These zu dem antiliberalen, antiindividualistischen und antiwestlichen Freiheitskonzept, wie es sich in der deutschen Rechten bereits seit dem 19. Jahrhundert herausbildete. Verstärkt entwickelte sich diese Idee einer „deutschen Freiheit“ aber ab 1914 und in der „Konservativen Revolution“ der Weimarer Republik beziehungswei-

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eine „Formung jener Individualpersönlichkeit […], in der Goethe das höchste Glück der Erdenkinder erblickt[e]“, tatsächlich möglich, wohingegen die völlige Bindungslosigkeit „letzten Endes in die Angst“110 führe. Neben der Allgemeinwohlorientierung war es nicht zuletzt dieser Freiheitsbegriff, mit dem der Adel seine Forderung begründete, auch in der Gegenwart der gesellschaftlichen Führungsschicht anzugehören.111 Da „Staat und Gesellschaft ohne eine Elite nicht auf die Dauer gesund bleiben könn[t]en“,112 wurde man in den Beiträgen des „Deutschen Adelsarchivs“ nicht müde zu betonen, dass eine solche geradezu lebensnotwendig für den Erhalt der Demokratie sei.113 Ganz im Gegensatz zur Weimarer Republik verstand man sich in der Bundesrepublik der 1950er Jahre aber nicht als Gegenelite, sondern vielmehr als ein Teil der herrschenden Führungsschicht. Im Sinne eines offenen Eliteverständnisses ließe sich eine Zugehörigkeit zu dieser Führungsschicht aber nicht durch die Geburt, sondern nur durch Auswahl und „persönliche Leistung […] legitimieren“.114 Dennoch betonte der Adel stets, dass gerade er sich als „ein hervorragendes Reservoir für die Bildung der Elite“115 qualifizieren würde, „da er auf die Tradition gestützt sei“.116 Tatsächlich schienen Adelige im Wettbewerb um Elitepositionen deutlich bevorteilt zu sein,117 obwohl eigentlich „allen Gesellschaftsschichten der Weg in die Schicht, se der bundesrepublikanischen „Neuen Rechten“. Conze, Der Edelmann als Bürger? (wie Anm. 25), S. 361. Hierzu auch Axel Schildt, Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, München 1988, S. 129f. 110 Von Thadden-Trieglaff, Adel heute? (wie Anm. 48), S. 145. 111 Zum Folgenden: Conze, Der Edelmann als Bürger? (wie Anm. 25), S. 364f. 112 Otto von Harling, Sinn und Möglichkeit einer „Akademie des Jungadels“, in: Deutsches Adelsarchiv 72, 1953, S. 148. 113 Etwa Otto von Harling, Adel und Elite. Bemerkungen zu einem Artikel von Leopold von Caprivi aus Heft 20 des „Sonntagsblatts“ vom 15. Mai 1955, in: Deutsches Adelsarchiv 94, 1955, S. 105f; HansJoachim von Merkatz, Die Aufgabe des Europäischen Adels in unserer Zeit. Vortrag auf der Tagung der europäischen Adelsjugend in München vom 10. bis 12. Oktober 1958, in: Deutsches Adelsarchiv 7, 1959, S. 123f. 114 Von Harling, Sinn und Aufgaben der Adelsverbände (wie Anm. 51), S. 26. Der Begriff des „Elitereservoirs“ findet sich innerhalb des adeligen Elitediskurses der 1950er Jahre häufig. Siehe hierzu etwa auch Arnold Freiherr von Vietinghoff-Riesch, Gedanken über Tradition, in: Deutsches Adelsarchiv 72, 1953, S. 146; Bericht über die Tagung der Evangelischen Akademie im Schloß Tutzing, in: Deutsches Adelsarchiv 77, 1954, S. 8. 115 Von Harling, Sinn und Aufgaben der Adelsverbände (wie Anm. 51), S. 26. Hierzu etwa auch von Vietinghoff-Riesch, Gedanken über Tradition (wie Anm. 114), S. 148; von der Heydte, Die Aufgaben des Adels in der Demokratie (wie Anm. 50). 116 Von Grote, Die Aufgabe des baltischen Edelmanns in der heutigen Wirklichkeit (wie Anm. 103), S. 18. 117 Für die Bundesrepublik der Ära Adenauer liegt hier noch ein erhebliches Forschungsdesiderat vor. Allerdings konnte für die Niederlande eine soziologische Studie zur Beziehung zwischen Adeligkeit und Elitenzugehörigkeit die Positionierungsvorteile des Adels bis in die Gegenwart klar nachweisen. Jaap Dronkers, Has the Dutch nobility retained its social relevance during the 20th century?, in: European Sociological Review 19, 2003, S. 81–96; Jaap Dronkers/Huibert Schijf, The transmission of



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die das Wesen ihres Lebensraumes bestimmt[e]“,118 offen stehen sollte. Löste man auch niemals den Begriff des Adels von der Gruppe adeliger Namensträger, um ihn mit dem Begriff der „Elite“ gleichzusetzen, geht dennoch aus den Äußerungen der Adeligen deutlich ihre Überzeugung hervor, dass sich moderne Eliten am adeligen Vorbild orientieren würden. Daher nimmt es nicht wunder, dass vereinzelte Angehörige des Adels wie Hans-Joachim von Merkatz dafür eintraten, den Begriff „Adel“ zukünftig als Synonym für eine leistungsgenerierte, offene Elite zu nützen.119 In diesem Zusammenhang sprach man auch von einer Führungsschicht, „die ihrem Geist und in ihrer Haltung nach adelig [sei], ohne Träger adeliger Namen zu sein“,120 also eine Art „geheimer Adel unter den Menschen in allen Schichten der Gesellschaft“.121 Durch dieses Eliteverständnis gelang es dem Adel nicht nur, sich in die Kontinuität seiner historischen Rolle zu stellen, sondern er begründete damit zugleich auch die eigene zukünftige Existenz. Vor allem aber wies er sich auf diese Weise, ganz im Sinne des traditionellen, adeligen Selbstverständnisses, eine öffentliche Funktion und damit Sichtbarkeit zu. Diese Sichtbarkeit, verstanden als Wahrnehmbarkeit und Unterscheidbarkeit, war für die Stabilisierung der politischen und gesellschaftlichen Sonderstellung des Adels seit jeher essentiell.122 Mit dem im „Deutschen Adelsarchiv“ immer wieder betonten Gebot des „mehr sein als scheinen“123 als Maxime adeliger Lebensführung stand dies jedoch in keinem Widerspruch. Vielmehr wollte und sollte der Adel auf diese Weise, das war sein eigener Anspruch, in der Gesellschaft wirken und in ihr eine Vorbildfunktion übernehmen.124

VII Kontinuität und Wandel adeligen Lebensstils Konnte man in Bezug auf die gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik in den 1950er Jahren von einer „Modernisierung unter ‚konservativen Auspizien‘“ spreelite positions among the Dutch nobility during the 20th century, in: Eckart Conze/Monika Wienfort (Hrsg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln u.a. 2004, S. 65–82. 118 Von Grote, Die Aufgabe des baltischen Edelmanns in der heutigen Wirklichkeit (wie Anm. 103), S. 17. 119 Von Merkatz, Die Aufgabe des Europäischen Adels in unserer Zeit (wie Anm. 113), S. 123f. 120 Henning von Wistinghausen, Tagungsverlauf, in: Protokoll der vom „Verband der Angehörigen der Baltischen Ritterschaften e. V.“ durchgeführten internationalen Jugendtagung zum Thema „Verantwortung des Adels“ vom 14. bis 18. Oktober 1958 in Essingen-Heisingen (Berufsschule), Gauting 1958, S. 6, in: BayHStA, Archiv der Genossenschaft katholischer Edelleute, Nr. 108. 121 Von Merkatz, Die Aufgabe des Europäischen Adels in unserer Zeit (wie Anm. 113), S. 123. 122 Conze, Der Edelmann als Bürger? (wie Anm. 25), S. 364. 123 Hans-Georg von Studnitz, Integrität des Staatsdienstes, in: Deutsches Adelsarchiv 45, 1951, S. 68. Dieselben Argumentationen finden sich etwa auch bei von Harling, Adel und Elite (wie Anm. 113), S. 105f. 124 Conze, Der Edelmann als Bürger? (wie Anm. 25), S. 364.

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chen, so galt dies auch für den Lebensstil und die Kultur des Adels dieser Zeit. Einer bewusst gepflegten Kontinuität in Lebenshaltung und Bemühen um Distinktion standen hierbei signifikante Modernisierungsprozesse und Tendenzen der Anpassung an die neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gegenüber. Als deutliches Moment von Diskontinuität lässt sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine zunehmende Privatisierung erkennen. Mit Ausnahme der wenigen Mitglieder des Hochadels, die die Klatschspalten der Regenbogenpresse füllten, versuchte der Adel seine Identität dadurch zu erhalten, dass er sein Adeligsein zunehmend den Augen der Öffentlichkeit entzog und auf die private Sphäre beschränkte. Eine besondere Bedeutung kam hierbei der adeligen Familie zu, in die sich nun verstärkt die Pflege von Tradition und Zusammengehörigkeitsgefühl verlagerte. Nach 1945 kam es daher zur Gründung zahlreicher Familienverbände und -vereine, die regelmäßig zu Zusammenkünften luden.125 Gepflegt wurden adelige Traditionen und Erinnerungen in der Bundesrepublik der Adenauerzeit überdies auch in einer Reihe von Adelsverbänden und Ritterschaften, die ihre Orientierung weiterhin in den Adelsmatrikeln der Zeit vor 1918 fanden.126 Nicht zuletzt unter anderem diese Organisationen veranstalteten die zahlreichen, weiterhin durchgeführten Feste und Adelsbälle, die in der Bundesrepublik zum Zentrum exklusiven Zusammentreffens wurden. So lud etwa die Vereinigung des Adels in Bayern gemeinsam mit der Genossenschaft Katholischer Edelleute in Bayern in den 1950er Jahren regelmäßig zu Tanztees in privatem Rahmen127 und Adelsbällen in München. Dass ein Herr von Wachten in einem im Vorfeld einer solchen Tanzveranstaltung verfassten Brief an den Fürsten Eugen zu Oettingen-Wallerstein darauf verweist, dass „nur unverheiratete junge Leute“128 einzuladen seien, zeigt deutlich, dass diese Feste durch ihre exklusive Geselligkeit als streng kontrollierte Heiratsmärkte dienten. Unverändert fungierte dabei der Gothasche Adelskalender als Informationsquelle.129 Tatsächlich war es das Heiratsverhalten, in dem auch noch nach 1945 das adelige Bemühen um Distinktion seinen stärksten Ausdruck fand. Für den Adel bedeutet die Ehe seit jeher die zentrale soziale Institution, lässt sich doch nur in und mit ihr die adelige Familie  konstituieren, die Legitimation der Nachkommen ermöglichen und damit die zukünftige Existenz der Adelsfamilie sichern. Aus diesem Grund spielte auch in den 1950er Jahren bei der Wahl des Ehepartners das Konnubium eine zen­ trale Rolle.130 So nimmt es nicht wunder, dass damals wie heute der Anteil der endo125 Wienfort, Der Adel in der Moderne (wie Anm. 30), S. 148. 126 Conze, Von deutschem Adel (wie Anm. 4), S. 394. 127 Brief des Herrn von Wachten an den Fürsten Eugen zu Oettingen-Wallerstein vom 4. Januar 1951, in: BayHStA, Archiv der Genossenschaft katholischer Edelleute, Nr. 72. 128 Einladung zum Ball der Vereinigung des Adels in Bayern und der Genossenschaft katholischer Edelleute in Bayern e.  V. am 29.  Januar 1951 um 21  Uhr in München im Hotel Bayerischer Hof, in: BayHStA, Archiv der Genossenschaft katholischer Edelleute, Nr. 72. 129 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 54), S. 167. 130 Wienfort, Der Adel in der Moderne (wie Anm. 30), S. 111.



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gamen Eheschließungen in keiner anderen gesellschaftlichen Schicht so hoch war wie im Adel. Anhand einer Auswertung der im „Deutschen Adelsarchiv“ zwischen 1950 und 1959 erschienenen Heiratsanzeigen wird deutlich, dass von 1.375 Hochzeiten 643 (48,94 %) zwischen adeligen Partnern geschlossen wurden. 732 Heiraten (53,24 %) fanden dagegen zwischen Adeligen und Bürgerlichen statt. Im Verlauf des Jahrzehnts bleibt dieser relativ hohe Anteil ebenbürtiger Verbindungen stets konstant bei etwa der Hälfte der Eheschließungen pro Jahr. Waren demzufolge die endogamen Eheverbindungen innerhalb des Adels überaus häufig, zeigen die Zahlen dennoch, dass Heiraten zwischen Adeligen und Bürgerlichen keine Seltenheit mehr darstellten. Standesgemäße Ehen waren demnach nicht mehr länger gefordert. Dass sie aber bisweilen erwünscht waren, macht eine, von adeligen Eltern für ihren Sohn im „Deutschen Adelsarchiv“ annoncierte Partneranzeige deutlich, in der „um einer ungeeigneten Ehewahl evtl. vorzubeugen […] eine harmonische Ehe m. Dame aus gleichartiger Familie“131 zu arrangieren versucht wurde. Noch am ehesten üblich schienen endogame Verbindungen nach dem Zweiten Weltkrieg im Hochadel zu sein. So heirateten innerhalb des bayerischen Adels zwischen 1950 und 1951 von 276 Mitgliedern standesherrlicher Häuser 215 (80,25 %) adelige Partner, nur 52 (19,75 %) gingen dagegen bürgerliche Ehen ein. Deutlich geringer ist die Anzahl bürgerlicher Eheschließungen bereits bei nicht standesherrlichen Fürsten und Grafen (n=580), von denen 397 (68,45 %) ebenbürtig heirateten, gefolgt von den Freiherrn (n=2.048) mit 884 (43,25 %) Ehen zwischen Adeligen und Bürgerlichen. Am häufigsten außerhalb seines Standes vermählte sich mit 1.067 bürgerlichen Hochzeiten (78,46 %) der unbetitelte Adel (n=1.360).132 In den Fällen einer solchen Einheiratung eines Mitglieds des Adels in bürgerliche Familien waren es zumindest im bayerischen Adel (n=2.467) mit 62 % (1.527) meist die adeligen Männer, die sich eine bürgerliche Partnerin zur Frau nahmen. Heiraten zwischen adeligen Frauen und bürgerlichen Männern waren mit 38 % (940) dagegen deutlich seltener.133 Auch in der Auswertung der im „Deutschen Adelsarchiv“ erschienenen Heiratsanzeigen zeigte es sich, dass sich mit 410 (56,01 %) von insgesamt 732 Bekanntmachungen überwiegend die männlichen Mitglieder des Adels für eine bürgerliche Ehefrau entschieden. Die Zahl der adeligen Frauen, die einen Bürgerlichen heirateten, lag mit 322 (43,99 %) dagegen deutlich darunter. Diese Ergebnisse verwundern nicht, war es doch auch im Adel der 1950er Jahre den Frauen im Gegensatz zu den Männern nicht möglich, das symbolische Kapital ihrer Adeligkeit in eine bürgerliche Verbindung miteinzubringen. Durch die Eheschließung mit einem Bürgerlichen 131 Anzeige Nr. 55, in: Deutsches Adelsarchiv 48, 1951, S. 127. 132 Franz Josef Fürst zu Hohenlohe-Schillingfürst (Hrsg.), Der bayerische Adel 1921–1951. Sonderdruck aus Bd. 5 (1953) des „Genealogischen Handbuchs des in Bayern immatrikulierten Adels“, Neustadt/Aisch o. J., s. p., in: BayHStA, Archiv der Genossenschaft katholischer Edelleute, Nr. 72. 133 Hohenlohe-Schillingfürst, Der bayerische Adel (wie Anm. 132). Fälschlicherweise ist in der Statistik des Sonderdrucks der Anteil der nicht-endogamen Heiraten, bei denen eine adelige Frau einen bürgerlichen Mann ehelicht, mit 54 % angegeben.

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verloren sie nicht nur ihren adeligen Namen, sondern auch ihren adeligen Status; in den genealogischen Handbüchern des Adels wurden sie von diesem Moment an ebensowenig geführt.134 Während der Adel nach dem Zweiten Weltkrieg somit einer standesgemäßen Verbindung immer weniger Bedeutung beimaß, war hingegen die Konfession des zukünftigen Ehepartners nach wie vor entscheidend.135 Dementsprechend selten kamen zumindest im bayerischen Adel der 1950er Jahre mit 18,3 % konfessionell gemischte Ehen (n=4.257) vor. Der überwiegende Teil des Adels (81,6 %) heiratete innerhalb der Konfession.136 Neben der Bedeutung von Ehe und Familie war zudem die weiterhin hohe Adelsquote bei gesellschaftlichen Führungspositionen gerade in den einst angestammten adeligen Betätigungsfeldern wie der Politik, dem diplomatischen Dienst oder dem Militär ein weiteres Signum für die Kontinuität adeliger Lebenshaltung in den 1950er Jahren. Trotz aller Privatisierung hatte der Adel sein hohes symbolisches Kapital keineswegs verloren. In der Politik der Adenauerära ragten als adelige Persönlichkeiten insbesondere Heinrich von Brentano und Hans-Joachim von Merkatz hervor. Beide gehörten zu den bereits im ersten Parlament vertretenen Mitgliedern des Adels und wurden 1955 Bundesminister, von Brentano Außenminister und von Merkatz Bundesjustizminister. Darüber hinaus waren Adelige seit 1949 aber auch regelmäßig im Bonner Bundestag137 und in der Bundesversammlung138 vertreten. Seinen stärksten Einfluss konnte sich der Adel in der Nachkriegszeit allerdings in der militärischen Führung und im diplomatischen Corps bewahren. Bereits im Vorfeld der Gründung der Bundeswehr im Mai 1955 waren mit Wolf von Baudissin, Gerhard Graf von Schwerin und Johann Adolf Graf von Kielmansegg Adelige entscheidend an deren Aufbau beteiligt. In der Bundeswehr selbst zählten 1955 noch immer 16 % der Generäle (n=18) zum Adel.139 Besonders stark vertreten waren Adelige in der Nachkriegszeit im diplomatischen Dienst der Bundesrepublik,140 vier der 17 deut134 Conze, Von deutschem Adel (wie Anm. 4), S. 330. 135 Wienfort, Der Adel in der Moderne (wie Anm. 30), S. 116. 136 Hohenlohe-Schillingfürst, Der bayerische Adel 1921–1951 (wie Anm. 132). 137 Im ersten Bundestag, der im Herbst 1949 gewählt worden war, stammten zehn der 402 Abgeordneten aus dem Adel (2,5 %), in der zweiten Legislaturperiode fanden sich mit 2,7 % 13 Adelige unter den 487 Abgeordneten. 1957 war der Adel im dritten Bundestag mit nur neun Mitgliedern von 497 Abgeordneten vertreten (1,8 %). 138 Bereits 1949 bei der Wahl Theodor Heuss’ zum ersten Bundespräsidenten waren 14 Adelige zugegen, als Heuss 1954 erneut gewählt wurde, durften fünf Adelige mehr ihre Stimme abgeben. 1959 waren bei der Wahl Heinrich Lübkes wiederum nur 13 Adelige in der Bundesversammlung vertreten. 139 Wolfgang Zapf, Deutsche Generale. Die militärische Führungsgruppe in der Bundesrepublik und in der DDR, in: Werner Baur u.a. (Hrsg.), Beiträge zur Analyse der deutschen Oberschicht, München 1965, S. 115–135, hier S. 123f; Wolfgang Zapf, Wandlungen der deutschen Elite. Ein Zirkulationsmodell deutscher Führungsgruppen 1919–1961, München 1966, S. 180. 140 Zapf, Wandlungen der deutschen Elite (wie Anm. 139), S. 124; Karl Deutsch/Lewis J. Edinger, Germany rejoins the powers. Mass opinions, interest groups, and elites in contemporary German foreign policy, Stanford, Kalifornien 1959, S. 193.



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schen Botschafter kamen 1955 aus dem Adel141. Von einer adeligen Dominanz im Auswärtigen Amt lässt sich mit einem Blick auf die gesamten Zahlen aber dennoch nicht sprechen.142 Außerhalb dieser traditionellen Betätigungsfelder fanden sich Adelige in der jungen Bundesrepublik aber auch in wirtschaftlichen Spitzenpositionen. Zu diesen gehörte beispielsweise Vicco von Bülow-Schwante, der in den 1950er Jahren im Aufsichtsrat von Henkel, Mannesmann und anderen Unternehmen der Großindus­ trie saß.143 Das Fortbestehen des sozialen Kapitals des Adels in der jungen Bundesrepublik zeigt sich darüber hinaus anhand des hohen Ansehens, das Mitglieder des Adels in der westdeutschen Gesellschaft weiterhin genossen. Deutlich wurde dies gerade bei adeligen Feierlichkeiten wie Jubiläen oder Hochzeiten, die in der Bevölkerung große Resonanz fanden. Adelige Feierlichkeiten beschränkten sich demnach auch in der Bundesrepublik nur selten auf die tatsächliche Familie, sondern waren stets öffentliche, ritualisierte Ereignisse, bei denen die Bevölkerung noch immer dem Adel huldigte. So präsentierte sich 1955 anlässlich der Hochzeit von Prinzessin Sophie von Bayern mit Herzog Jean-Engelbert von Arenberg in Berchtesgaden der gesamte Ort in „großer Flaggengala“; im Anschluss an die Trauung, an der die Honoratioren der Stadt teilnahmen, wurde das Brautpaar „von der Bevölkerung mit begeisterten Hochrufen begrüßt“.144 Unterstrichen wurde die Bedeutung und das Ansehen der Adelsfamilie dadurch, dass, wie häufig im Adelskreisen, die Hochzeitszeremonie von einem hohen Vertreter der Geistlichkeit – in diesem Fall Joseph Kardinal Wendel, Erzbischof von München und Freising – vollzogen wurde. Parallel zu diesen vielfachen Kontinuitäten in Sachen Lebensführung ging der Adel aber nach 1945 insbesondere bezüglich Ausbildung und Berufswahl auch neue Wege. Zwar wurden in den Familien, sofern es die finanzielle Situation zuließ, sowohl Töchter als auch Söhne nach wie vor zunächst von Hauslehrern unterrichtet, bevor sie das Gymnasium, häufig ein Privatinternat, besuchten. Eine solche, relativ kostspielige Ausbildung konnten sich dagegen Adelsfamilien, die ihren Besitz nach 1945 verloren hatten, nicht leisten. Stattdessen besuchten ihre Töchter und Söhne von der Grundschule bis zum Gymnasium eine öffentliche Schule.145 Im Anschluss daran folgte sowohl für Männer als auch für Frauen eine akademische oder berufliche Ausbildung, mit der sich zumindest die männlichen Familienmitglieder erstmals in der Geschichte der Familie gezielt auf eine künftige Aufgabe vorbereiteten.146

141 Zapf, Deutsche Generale (wie Anm. 139), S. 180. 142 Eckart Conze u.a., Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010, S. 510. 143 Jacobi, Adel und Bürgertum (wie Anm. 54), S. 56. 144 Norbert von Wurzbach, Hochzeit im Hause Wittelsbach, in: Deutsches Adelsarchiv 90,  1955, S. 24f. 145 Conze, Von deutschem Adel (wie Anm. 4), S. 303. 146 Conze, Von deutschem Adel (wie Anm. 4), S. 318.

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Ihre Fortsetzung fanden diese Modernisierungsprozesse in Erziehung und Ausbildung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Berufswahl der adeligen Männer. Hierfür entscheidend war in dieser Zeit ein zunehmender Schwund der traditionellen Distanz des Adels gegenüber dem marktwirtschaftlichen System. Waren noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts Adelige in vielen Teilen Deutschlands gezwungen, ihre Titel abzulegen, wenn sie Handel trieben oder einem anderen bürgerlichen Erwerb nachgingen, so lebten in den 1950er Jahren 90 % aller Adeligen in Westdeutschland in Widerspruch zu dieser Tradition.147 Adelige waren nun in allen denkbaren Berufen anzutreffen.148 Im bayerischen Adel (n=1.817) etwa gingen 11,16 % der Aristokraten einem Beruf im Handel, in der Industrie oder im Bankfach nach, 5,46 % waren als Ingenieure oder Chemiker beschäftigt. Zugleich waren 1951 allerdings immer noch 15,36 % im Staatsdienst und 14,98 % im Militär, also angestammten Berufsfeldern, tätig. Einen anderen Weg schlugen dagegen die adeligen Frauen ein. Wie bereits beschrieben, war auch für sie der Besuch eines Gymnasiums sowie ein Studium oder eine Ausbildung obligatorisch. Allerdings orientierte sich der Adel, ebenso wie die gesamte Bundesrepublik der 1950er Jahre, am Leitbild der Hausfrauenehe, weshalb die Frauen nach der Eheschließung ein Studium oder einen Beruf meist immer aufgaben. Stattdessen widmeten sie sich der Haushaltsführung, der Kindererziehung und häufig ehrenamtlichen Aufgaben.149 Unverheiratete Töchter hatten dagegen nicht nur die Möglichkeit, einer beruflichen Erwerbstätigkeit zumeist in den Bereichen des Lehrens, Heilens und Erziehens nachzugehen, sondern vielmehr wurde diese für sie zum Normalfall. Tatsächlich war der Anteil arbeitender adeliger Frauen in der Adenauerära kaum niedriger als der Nicht-Adeliger.150

VIII Fazit Conze untersuchte 2005 erstmals, wenn auch unsystematisch, Artikel und Kommentare, die in den 1950er Jahren in der Zeitschrift „Deutsches Adelsarchiv“ erschienen waren und sich vor allem mit der Frage nach Sinn und Aufgaben des Adels in der Bundesrepublik Deutschland auseinandersetzten.151 Für die vorliegende Studie wurden die Jahre von 1949 bis 1963 ins Blickfeld genommen, auf Grundlage einer systematischen Zeitschriftenanalyse und weitgehend ungenutzen Archivmaterials. Auf diese Weise konnte fundiert werden, dass es dem Adel dieser Zeit aufgrund wirtschaftlicher 147 Von Studnitz, Glanz und keine Gloria (wie Anm. 28), S. 65. 148 Von Collenberg, Hat der deutsche Adel noch eine Aufgabe? (wie Anm. 51), S. 44. Auch Jacobi, Adel und Bürgertum (wie Anm. 54), S. 55. 149 Frevert, Frauen zwischen Beruf und Familie im Wirtschaftswunderland (wie Anm. 86), S. 254f. 150 Conze, Von deutschem Adel (wie Anm. 4), S. 327. 151 Conze, Der Edelmann als Bürger? (wie Anm. 25).



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Erfolge und bedingt durch den Antitotalitarismus der Nachkriegsgesellschaft, die adelszentrierte Erinnerung an den Widerstand sowie den gesellschaftlichen Konservativismus in den neuen soziopolitischen Verhältnissen entgegen allen Erwartungen gelang, in der Bundesrepublik heimisch zu werden. Als ideeller Integrationsmotor diente hierbei nicht zuletzt das Selbstbild des Adels im Zeichen von Freiheit des Einzelnen und Gemeinwohlorientierung. Gerade im Hinblick auf Kontinuität und Wandel adeliger Lebensformen nach 1945 konnten im Zuge der Untersuchung Annahmen beispielsweise zu der auch weiterhin großen Bedeutung von Ehe und Familie für den Adel insbesondere in Gestalt standesgemäßer Eheschließungen152 mit Zahlen untermauert werden. Ähnliches gilt für die Berufswahl153, für die darauf hingewiesen werden konnte, dass sich, trotz aller Modernisierung und Öffnung des Adels für das marktwirtschaftliche System, angestammte Tätigkeitsfelder in Verwaltung und Militär auch weiterhin großer Beliebtheit erfreuten. Die Studie sensibilisiert dafür, dass auch in der frühen Bundesrepublik der Erhalt und die Pflege von Traditionen und Lebensformen innerhalb des Adels entscheidend waren und ihn weiterhin zu einer weitgehend geschlossenen Sozialeinheit und Prestigeformation machten. Dass er zugleich Modernisierungs- und Wandlungsprozessen offen gegenüberstand, bedeutete für den Adel freilich keinen Widerspruch. Vielmehr sah er die Überlebensfähigkeit seiner eigenen Wertordnung gerade durch die Entwicklung der westdeutschen Gesellschaft und durch seine eigenen Erfolge darin bestätigt. Mehr denn je wurde für den Adel somit das Vertreten traditioneller Werte bei gleichzeitiger Anpassung an sich wandelnde Zeitumstände zu seiner entscheidenden, distinktiven Fähigkeit. So hatte die Pluralität der liberal-demokratischen Gesellschaft der Bundesrepublik dem Adel zwar die Grundlage für seine Privilegierung genommen. Zugleich aber bot gerade sie ihm die Chance, Nischen und Freiräume für seine soziokulturelle Sonderexistenz und Sonderidentität zu wahren, Adeligkeit weiter zu leben und zumindest als „PrestigeOberschicht“154 die Spitze der Gesellschaft zu bilden. Als eine „Klasse […], die von Rechts wegen eigentlich keine sein sollte“155 gelang es dem Adel, der gegenwärtig nur 0,1 % der Bevölkerung ausmacht,156 somit allen Unkenrufen zum Trotz, auf der Bühne der Geschichte zu bleiben.

152 Wienfort, Der Adel in der Moderne (wie Anm. 30), S. 133. 153 Wienfort, Der Adel in der Moderne (wie Anm. 30), S. 126. 154 Ralf Dahrendorf, Eine neue deutsche Oberschicht?, in: Die neue Gesellschaft 9, 1962, S. 18–31, S. 18. 155 Almqvist, Eine Klasse für sich (wie Anm. 18), S. 37. 156 Wienfort, Der Adel in der Moderne (wie Anm. 30), S. 159.

 IV Mythen

Vanessa Rafaela Koller

Der Sisi-Mythos und die deutsche Gesellschaft der Zwischenkriegszeit I „Sisi sells“ „Sisi sells“1, dieses Motto fasst den Eindruck zusammen, welcher entsteht, wenn man sich die mediale und werbewirksame Präsenz der bereits vor über 100 Jahren gestorbenen Kaiserin Elisabeth von Österreich2 in unserer heutigen Zeit vergegenwärtigt. Neben zahlreichen belletristischen3 und (populär-)wissenschaftlichen4 Buchpubli1 Josef Rohrer, Sissi in Meran. Kleine Fluchten einer Kaiserin, Wien und Bozen 2008, S. 10. 2 Carolin Maikler bezeichnet den Namen „Sisi“ in der Schreibweise mit einem „s“ als historisch korrekt, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass bereits zu Lebzeiten der Kaiserin die Schreibweise „Sissy“ und nach ihrem Tod „Cissi“ und „Sissi“ in Erscheinung traten. Die im Rahmen dieser Studie untersuchten Quellen bestätigen Maiklers Feststellung: Carolin Maikler, Kaiserin Elisabeth von Österreich. Die Entstehung eines literarischen Mythos. 1854–1918 (= Klassische Moderne, Bd. 17), Würzburg 2011, S. 13. Im Jahr 1998 stellte zudem der Antiquar Paul Heinemann die These auf, die Kaiserin habe mit dem Namen „Lisi“ unterschrieben: Sabine Bader, Neue Schreibweise der österreichischen Kaiserin. „Lisi“ kommt ganz groß raus. Starnberger Antiquar präsentiert These auf allen Kanälen, in: Süddeutsche Zeitung 97, 1998, S. 45. Auch Sabine Bader, „Lisi, die junge Kaiserin“. Starnberger Antiquar Paul Heinemann bietet neue Schreibweise für Elisabeth von Österreich, in: Süddeutsche Zeitung 89, 1998, S. 35. 3 Lucas Zandberg, Sisi`s winterlied. Roman over keizerin Elisabeth van Oostenrijk, Schoorl 2007; Petra Windhausen, Elisabeth – von heute an, in 60 Jahren. Eine Kurzgeschichte. Ein Roman, Norderstedt 2008; Thomas Krüger, Als Kaiser Franz gegen Kaiserin Sisi Fußball spielte. Eine Geschichte. Mit Bildern von Jörg Mühle, Hamburg 2008; Renate Rosemarie Künzler-Behncke, Sisi – Wie aus der kleinen Sisi die große Kaiserin Elisabeth wurde, Wien u.a. 2010; Claudia Kern, Sissi. Die Vampirjägerin. Scheusalsjahre einer Kaiserin, Stuttgart 2011; Nikolaus Fischer, Sisi der größte Schmerz einer Kaiserin – wie ihr einziger Sohn Rudolf wirklich starb – Tagebuch einer Kurtisane. Romanbiografie, o.O. 2013. 4 Derzeit existiert keine aktuelle, um Vollständigkeit bemühte Bibliographie zu Elisabeth von Österreich. Zahlreiche Werke benennt Maikler in ihrer Einleitung. An dieser Stelle werden lediglich die in den letzten fünf Jahren in deutscher Sprache über die Kaiserin veröffentlichten Bücher aufgelistet, um einen Einblick in die Vielfalt und Menge der Sisi-Literatur zu gewähren, die von Biographien, über kulturhistorische, literatur-, film- und politikwissenschaftliche Studien, psychologische Analysen, medizinische Diagnosen, esoterische Beiträge, bis hin zu Bildbänden, Reiseführern, Ratgebern, Kinderbüchern und Kochbüchern reicht: Sigrid-Maria Größing, Sisi und ihre Männer, Wien 2008; Saskia Lugmayr, Die „Sissi“-Triologie von Ernst Marischka. Diplomarbeit, Wien 2008, online: www. romy.de/homeblog/download/diplom_lugmayr.pdf [28.07.2013]; Gerda Mraz/Ulla Fischer-Westhauser, „Elisabeth“. Prinzessin in Bayern. Kaiserin von Österreich. Königin von Ungarn. Wunschbilder oder die Kunst der Retouche, Wien/München 2008²; Gabriele Praschl-Bichler, Unsere liebe Sisi. Die Wahrheit über Erzherzogin Sophie und Kaiserin Elisabeth. Aus bislang unveröffentlichten Briefen, Wien 2008; Josef Rohrer, Sissi in Meran. Kleine Fluchten einer Kaiserin, Wien u.a. 2008; Renate Gees, Die Sisi in mir. Spuren einer innigen Seelenverwandtschaft, Frankfurt am Main 2009; Rudolf Reiser,

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kationen belegen dies eine Fülle von Artikeln über Elisabeth von Österreich in Zeitschriften und Zeitungen5 sowie die Existenz von Sisi-Museen und -Ausstellungen6, Sisi-Wanderwegen und -Reiserouten7 sowie Sisi-Denkmälern8. Gleichermaßen zählen dazu das 1992 in Wien erstmals aufgeführte und mehrmals aktualisierte Musical „Elisabeth – Die wahre Geschichte der Sissi“ von Michael Kunze, Sylvester Levay und Harry Kupfer, das Musical „Sisi“ von Roland Baumgartner, welches im Herbst 2000 Kaiserin Elisabeth. Das andere Bild von Sissi, München 20092; Gabriele Rittig, Prinzessin Sisi. Ein Wildfang wird Kaiserin, Wien 2009; Maria Wiesmüller, Sissis Lieblingsrezepte, Rum bei Innsbruck 20092; Brigitte Hamann, Elisabeth. Kaiserin wider Willen, überarbeitete Neuausgabe, München u.a. 201012; Katrin Unterreiner, Sisi. Kaiserin Elisabeth von Österreich. Ein biographisches Portrait, Freiburg im Breisgau u.a. 2010; Michael Budde, Sissis Hochzeit und das Elisabeth-Fest-Album, Petersberg 2011; Hanne Eghardt, Sisi’s Kinder. Leben im Schatten einer exzentrischen Mutter, Wien 2011; Ludwig Merkle, Sissi. Die schöne Kaiserin, München 2011; Gunter Pirntke, Aufstieg und Fall der Kaiserin von Österreich, o.O. 2011; Katharina Riedl, Mit Sissi durch Wien, Hamburg 2011; Christine Stecher, Kaiserin Sisi. Einzigartig – vielgeliebt – unvergessen, München 2011; Nadine Strauss, Sisi: Die Geschichte einer echten Prinzessin, Kehl 2011; Johannes Thiele, Elisabeth. Ihr Leben. Ihre Seele. Ihre Welt, Wien 2011; Cony Ziegler, Sisi. Auf den Spuren von Kaiserin Elisabeth durch Bayern, München 2011; Brigitte Hamann, Elisabeth. Kaiserin wider Willen, München 2012; Marilis Kurz-Lunkenbein, Die Sisi-Straße. Lebensweg der Kaiserin Elisabeth, Berlin 2012; Olivia Lichtscheidl, Sisi auf Korfu. Die Kaiserin und das Achilleion, Wien 2012; Martha Schad, Kaiserin Elisabeth und ihre Töchter, München 20122; Johannes Thiele, Sisi. Ein Leben in Bildern, Leipzig 2012; Michaela Lindinger, „Mein Herz ist aus Stein“. Die dunkle Seite der Kaiserin Elisabeth, Wien 2013; Katrin Unterreiner, Sisi und das Salzkammergut, Graz 2013; Maikler, Kaiserin Elisabeth von Österreich (wie Anm. 2), S. 13–40. Auch alte Erinnerungsschriften, Tagebücher und Biographien stehen als aktuelle Neuauflagen zur Verfügung, davon in den letzten fünf Jahren in deutscher Sprache: Constantin Christomanos, Die graue Frau (1898), Whitefish 2010; Karl Tschuppik, Elisabeth. Kaiserin von Österreich, Prag 2009. 5 In den letzten fünf Jahren wurden unzählige Artikel zu Elisabeth von Österreich veröffentlicht, von denen beispielhaft genannt werden sollen: Karen Andersen, Wenn er nur kein Kaiser wäre, in: Der Spiegel Geschichte 6, 2009, S. 126–131; Joachim Hirzel, Das faszinierende Sisi-Prinzip, online: www.focus.de/ kultur/kino_tv/focus-fernsehclub/sisi-das-faszinierende-sisi-prinzip_aid_462364.html [01.05.2013]; Kathrin Zeilmann, Sisi. Entzauberung eines Märchens, online: www.focus.de/wissen/mensch/geschichte/ tid-16595/sisi-entzauberung-eines-maerchens_aid_463540.html [09.04.2013]; „Sisi“ wird 175 Jahre alt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 299, 2012, S. 10. 6 Eine von mir im Rahmen meiner Studien erstellte Gesamtübersicht kann über den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt bezogen werden. 7 Neben der 2002 ins Leben gerufenen Sisi-Straße, die von Augsburg über Wien bis nach Ungarn führt, existiert in Meran eine Sisi-Promenade und am Starnberger See eine Sisi-Tour. Auch der ADAC veranstaltete im Frühjahr 2013 eine ADAC-Oldtimer-Reise auf den Spuren von Sisi. Dieter Baur, Sisi war auch schon da, in: Süddeutsche Zeitung 50, 2002, S. 51n; Heidi Siefert, Schwindelerregende Aussichten. Gänsehaut auf Himmelspfaden, online: www.spiegel.de/reise/europa/schwindelerregende-aussichten-gaensehaut-auf-himmelspfaden-a-781594.html [24.04.2013]; www.kunz-pr.com/news-lesen/items/ sekt-mit-sisi-auf-dem-starnberger-see-sommernachts-party-zum-175-geburtstag.html [26.04.2013]; www. sisi–strasse.info/ [27.04.2013]. 8 Während 1998 in Genf und 1999 in Wien neue Elisabeth-Denkmäler errichtet wurden, hat man 2011 im Isergebirge eine erneuerte Gedenktafel für die Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn enthüllt: Maikler, Kaiserin Elisabeth von Österreich (wie Anm. 2), S. 15; friedlandinbohmen.jimdo. com/haindorf/gedenktafel-kaiserin-sissi/ [26.04.2013].



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Premiere hatte9, das 2001 erstmals aufgeführte Bad Ischler Musical „Sisi, Kaiserin der Herzen“ des Komponisten Peter Schleicher und Produzenten Günter Lechner10, das Musical „Sissi – Liebe Macht & Leidenschaft“ von George Amade und Jean Müller, das im April 2012 seine Europapremiere erlebte und von da ab durch Deutschland, Österreich und die Schweiz tourte11, ein Fin-de-siècle-Epos mit dem Titel „Sisi sings the Blues“, das im Rahmen der Wiener Festwochen 1996 aufgeführt wurde12, eine Reihe von Sketchen – betitelt mit „Sisi — Wechseljahre einer Kaiserin“ – in der von 1997 bis 2002 von Pro Sieben ausgestrahlten Comedyshow „Bullyparade“13, Fernsehdokumentationen über die Kaiserin14, eine Ausgabe des Hörmagazins CD Wissen von 200415, ein Themenblock zu Elisabeth von Österreich aus dem Jahr 2012 in der Rubrik

9 In Deutschland fanden zuletzt Aufführungen des Musicals von Kunze, Levay und Kupfer in Essen 2001 bis 2003, in Stuttgart 2005 bis 2006, im Frühjahr 2008 in Berlin, im Frühjahr 2010 in Düsseldorf, im Dezember 2011 in Frankfurt und im März 2012 in Bremen statt. Aktuell gastiert es seit September 2012 als Jubiläumsfassung in Wien. „Elisabeth – Die wahre Geschichte der Sissi“ wurde sogar ins Japanische, Ungarische, Schwedische, Finnländische, Italienische, Schweizerische, Belgische und Niederländische übertragen. Das Musical von Baumgartner war im Dezember 2000 in München zu sehen. 10 „Sisi, Kaiserin der Herzen“ wurde ins Berliner Schiller-Theater exportiert, jedoch 2002 wegen finanzieller Unstimmigkeiten abgesetzt: O. A., Sisi, Kaiserin der Herzen, kommt nach Berlin, online: www.berliner-kurier.de/archiv/sisi-kaiserin-der-herzen-kommt-nach-berlin,8259702,8164910.html# [26.04.2013]; O. A., „Sisi“ – Kaiserin der Schulden?, online: www.bz-berlin.de/archiv/sisi-kaiserinder-schulden-article58151.html [26.04.2013]. 11 Eine erneute Tournee ist gerade in Planung: www.adticket.de/Sissi-Liebe-Macht-Leidenschaft. html [26.04.2013]; sissi-musical.com/ensemble.html [26.04.2013]. 12 O. A., Sisi und Paralyse. Wiener Festwochen 1996, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 292, 1995, S. 35. 13 www.fernsehlexikon.de/1880/bullyparade/ [01.05.2013]. 14 Zu den Fernsehdokumentationen zählt die Mitte August 1998 von SAT. 1 ausgestrahlte SpiegelReportage „Tod einer Kaiserin – wie ‚Sisi‘ vor 100 Jahren in Genf ermordet wurde“, eine Sendung zum Thema Parallelen zwischen Diana und Sisi, die am 30. August 1998 von RTL gezeigt wurde, der am 4. September 1998 von SWR2 ausgestrahlte Beitrag „Sisi lebt!“, bei dem Antonia Kreppel Mythen und Tatsachen aus dem Leben der Kaiserin von Österreich erforscht, der auf Bayern 3 am 9. und 10. September gezeigte Zweiteiler „Unsterbliche Sisi“ von Helmut Jedeles, die am 13. September von ARTE im Rahmen eines Sisi-Themenabends ausgestrahlte Vorstellung der „rebellischen, widerborstigen Majestät“ durch Brigitte Hamann sowie das SPIEGEL TV Special vom Dezember 1998 mit dem Titel „Sisi und Diana – die letzten Märchenprinzessinnen ihrer Zeit. Auch im SPIEGEL TV Special vom September 2007 zum Thema „Wien – Welthauptstadt des schönen Scheins“ ging es um den Sisi-Kult. Daneben strahlte im November 2006 der ORF die Dokumentation „Elisabeth – die rätselhafte Kaiserin“ und im Dezember 2008 das ZDF den Dokumentarfilm „Sisi – Mythos einer Märchenprinzessin“ aus. 2010 wurde darüber hinaus eine Terra X- Folge mit dem Titel „Sisi – Mythos einer Märchenprinzessin“ veröffentlicht. Zuletzt zeigte BR-alpha am 24.12.2012 die Dokumentation „Unsterbliche Sisi. Das Leben der Kaiserin Elisabeth von Österreich“. 15 Burkhard Plemper, Kaiserin Sisi – Romy Schneider. Vergöttert & verkannt (= Biographien des 20. Jahrhunderts, No. 5), in: CD Wissen. Das Hörmagazin, München 2004.

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radioWissen von Bayern 216, die Satire „Sisi und der Kaiserkuss“ von Christoph Böll aus dem Jahr 199117, Christian Froschs Kurzspielfilm „Sisi auf Schloss Gödöllö“ von 1994, der Fernsehfilm „Wie eine schwarze Möwe“ von 1998, der erstmals von der ARD 1998 in 52 halbstündigen Folgen ausgestrahlte Trickfilm „Prinzessin Sissi“18, der Film „Ein flüchtiger Zug nach dem Orient“ von Ruth Beckermann, welcher 1999 auf der „Viennale“ sowie 2000 auf der „Berlinale“ präsentiert wurde, und die Reiserouten der Kaiserin verfolgt19, der 3D-Animationsfilm „Lissi und der wilde Kaiser“ von Michael Bully Herbig aus dem Jahre 200720, die ZDF-Neuverfilmung „Sisi“ von 200921, und schließlich der 2012 erschienene österreichische Kinofilm „Sisi … und ich erzähle euch die Wahrheit“22. Sogar die Pharmaindustrie bedient sich des Namens der Kaiserin zur Vermarktung ihrer Medikamente: Ausgerechnet 1998, 100 Jahre nach dem Tod Elisabeths von Österreich, wurde das Sisi-Syndrom – eine Depression, an der angeblich bereits die Monarchin litt – erfunden. Von der Krankheit Betroffene versuchen, ihren depressiven Störungen und ihrer inneren Leere durch hektische Aktivitäten zu entfliehen und stellen nach außen keine antriebsarme und leidende, sondern eine dynamische Persönlichkeit dar.23 Ferner wurde 2004 das Berliner Modelabel „Sisi Wasabi“— frei übersetzt „scharfe Kaiserin“ – gegründet, dessen Grundidee die Verbindung modischer Basics mit Trachtenelementen war. Getreu ihres Namens bilden Sweatshirts oder Tops mit Sisi-Aufdruck Elemente der Kollektionen.24 Zuhauf versuchen Orte, die Elisabeth von Österreich tatsächlich oder auch nur mutmaßlich zu ihren Lebzei16 www.br.de/radio/bayern2/sendungen/radiowissen/geschichte/elisabeth-von-oesterreich116. html [02.05.2013]. 17 „Sisi und der Kaiserkuss“ wurde 1995 von 3Sat und 1996 von ARD ausgestrahlt, online: www.imdb. com/title/tt0102936/ [25.04.2013]; O. A., Tutti Frutti an der Hofburg, in: Der Spiegel 39, 1991, S. 269. 18 „Prinzessin Sissi“ ist eine Produktion von RAI, France 3, ARD und der kanadischen Cine Group: O. A. (1998), Brennpunkt. SISSI, online: www.focus.de/panorama/boulevard/brennpunkt-sissi_ aid_171625.html [29.04.2013]. 19 O. A., Tito und Sisi. Berlinale-Forum widmet sich der Politik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 21, 2000, S. 49; Eva Menasse, Wer die Angstwahl hat. Das Heer, wie es an der Grenze steht und Flüchtlinge jagt: Österreich im Spiegel seines Filmfestivals „Viennale“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 257, 1999, S. 53. 20 Maikler, Kaiserin Elisabeth von Österreich (wie Anm. 2), S. 16. 21 Daniel Haas (2009), TV-Romanze „Sisi“: Fräulein Kaiserin macht Karriere, online: www.spiegel. de/kultur/tv/tv-romanze-sisi-fraeulein-kaiserin-macht-karriere-a-667514.html [24.04.2013]. 22 www.cineplexx.at/content/filme/filmdetail.aspx?filmid=37247 [30.05.2013]. 23 Jörg Blech, Seelsorge für die Industrie, in: Der Spiegel 20, 2011, S. 118; Wolfgang Harth/Andreas Hillert, Sissi-Syndrom & Tanorexie, online: www.springermedizin.at/artikel/9384-sissi-syndromtanorexie [01.05.2013]. 24 Anke Schipp, Wenn Preußen Trachten machen. Junge Designer entdecken Dirndl und Lederhosen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 36, 2004, S. 55; Katrin Kruse, Mehr Luxus wagen. Berliner Designer zeigen Mode in Berlin, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 163, 2006, S. 9; Anke Schipp; Alfons Kaiser, Im Metallic-Mantel der Geschichte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 27, 2009, S. 9; Maikler, Kaiserin Elisabeth von Österreich (wie Anm. 2), S. 16.



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ten besucht hatte, daraus Profit zu schlagen. So wirbt das Hotel „Wilder Mann“ in Passau mit einem Kaiserin-Sissi-Salon. Im Wiener Café „Gloriette“ wird ein Sisi-Buffet angeboten. Das Feldafinger Golfhotel „Kaiserin Elisabeth“ lädt zum Golf around the Sisi inklusive Sisi-Menü und anlässlich des 175. Geburtstags der Kaiserin offeriert der Tourismusverband Starnberger Fünf-Seen-Land eine Sommernachtsparty mit SisiDouble und Historikerin Andrea Hähnle auf einem Luxus-Katamaran.25 Selbst das Luxushotel Schloss Fuschl, welches lediglich für die „Sissi“-Filme der 1950er Jahre vom Regisseur und Drehbuchautor Ernst Marischka als Double für das Schloss in Possenhofen diente, beherbergt eine Sissi-Suite.26 Gleichermaßen nutzen die 2008 eröffnete Berliner Niederlassung von Madame Tussauds und das Wachsfigurenkabinett Panoptikum in Hamburg die Anziehungskraft der Kaiserin und nennen Wachsfiguren in Form der als Sisi kostümierten Romy Schneider ihr Eigen. 27 Der Devotionalienhandel blüht. Dies belegen, neben den erfolgreichen Versteigerungen persönlicher Dinge aus dem Besitz Elisabeths von Österreich28, das Angebot an Sisi-Artikeln unterschiedlichster Art. Zu letzteren zählen Sisi-Schmuck, Sisi-CDs29, Sisi-Porzellan, Sisi-T-Shirts, Sisi-Sammlermünzen, Sisi-Pralinen, Sisi-Figuren und vieles mehr.30

25 Michael Weithmann, Im Scharfrichterhaus spielt die Musik. Passau zwischen Krummstab und Kabarett, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 39, 1996, S. R6; www.tourismus.passau.de/PassaufuerVeranstalter/Tagungshotels.aspx?view=~/custom/steckbrief/detail&orgid={211BB0B6-864F-49AC-815C8C1ADD9E4D97} [25.04.2013]; Andrea Freund, Alle Hoffnung ruht auf dem Erlebnispfad. In seinem zweihundertfünfzigsten Jahr muss Bad Brückenau die einstige Klientel der Privatgäste wiederfinden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 37, 1997, S. R5; www.gloriette-cafe.at/sisi-buffet.html [26.04.2013]; www.kaiserin-elisabeth.de/hk_angebote.asp?Id=14 [26.04.2013]; www.kunz-pr.com/news-lesen/items/ sekt-mit-sisi-auf-dem-starnberger-see-sommernachts-party-zum-175-geburtstag.html [26.04.2013]. 26 O. A., „Schloss Fuschl“, Salzburger Land. Stilvoll logieren während der Spiele, online: www.focus.de/ reisen/oesterreich/schloss-fuschl-salzburger-land-stilvoll-logieren-waehrend-der-spiele_aid_423366. html [29.04.2013]; fuschlsee.salzkammergut.at/austria/poi/400885/sissi-museum-im-schloss-ladl.html [29.04.2013]. 27 O. A., Madame Tussauds Berlin. Kaiserin Sisi wartet auf Freunde, online: www.focus.de/reisen/ deutschland/madame-tussauds-berlin-kaiserin-sisi-wartet-auf-freunde_aid_304892.html [29.04.2013]; www.madametussauds.com/Berlin/UnsereFiguren/KulturellePersoenlichkeiten/RomySchneider/Default.aspx [30.04.2013]; www.panoptikum.de/de/Galerie.html [30.04.2013]. 28 Zuletzt wurden 2012 in Wien unter anderem ein Bademantel für 3.600 Euro und 2010 in Irland eine Reitpeitsche, die schließlich für 37.000 Euro den Besitzer wechselte, versteigert: O. A., Bademantel von Kaiserin Sisi wird versteigert, online: www.fr-online.de/newsticker(bademantel-von-kaiserin-sisi-wird-versteigert,11005786,14977500.html [29.04.2013]; O. A., „Sisis“ Reitpeitsche für 37.000 Euro versteigert, online: www.fr-online.de/panorama/auktion-sisis-reitpeitsche-fuer-37-000-euroversteigert,1472782,4717476.html [29.04.2013]; O. A., Sisis Bademantel gehört jetzt Peißenberg, online: www.merkur-online.de/lokales/weilheim/peissenberg/sisis-bademantel-gehoert-jetzt-peissenberg-2410904.html [29.04.2013]. 29 Der Sisi-Shop von Schloss Schönbrunn, der Hofburg und des Hofmobiliendepots offeriert zwei CD–Bände mit dem Titel „The Sound of Sisi“. 30 www.sisi-shop.at/de/[29.04.2013].

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Doch wie wurde die historische Person Elisabeth von Österreich zu dieser populären Figur, die sie heute ist? Zu welchen Zwecken wurde sie zu welcher Zeit von wem nutzbar gemacht? Oder: Was kennzeichnet und wie entwickelte sich der Sisi-Mythos?

II Profil der Studie Obwohl die Liste der Publikationen zu Elisabeth von Österreich lang ist, mangelt es an ausführlichen historischen Forschungsarbeiten zu ihrem Mythos. Wegweisend erscheint der Aufsatz „Sissi. Popular Representations of an Empress“ von Sylvia Schraut, die sich auf 16 Seiten mit dem Prozess der Legendenbildung um Elisabeth im Bereich der Geschichtsschreibung, den Filmen und Bühnenstücken über sie – besonders den Filmen aus den 1950ern – sowie mit dem aktuellen Elisabeth-Bild befasst. Zudem ist die Arbeit „(Nach-)Blicke auf die Kaiserin. Zur Konstruktion von ‚Sisi‘-Bildern in der Wiener Presse um 1900“ von Evelyn Knappitsch zu nennen.31 Gut die Hälfte ihrer Abhandlung zum Thema Geschichte im Spielfilm widmet Katharina Weigand der „Sissi“-Triologie von Ernst Marischka.32 Letzteres Thema wurde bereits um die vergangene Jahrhundertwende wissenschaftlich untersucht und von Saskia Lugmayr als Sujet ihrer 2008 veröffentlichten kunsthistorischen Diplomarbeit gewählt.33 Weitere kurze, jedoch durchaus fundierte Aufsätze zu den einzelnen medialen Ausprägungen des Sisi-Mythos sind in dem Ausstellungskatalog „Elisabeth von Oesterreich. Einsamkeit, Macht und Freiheit“ von 1986 enthalten: Walter Obermaier geht auf die Kaiserin als literarisches Thema zu ihren Lebzeiten und wenige 31 Sylvia Schraut, Sissi. Popular Representations of an Empress, in: Sylvia Paletschek (Hrsg.), Popular Historiographies in the 19th and 20th Centuries. Cultural meanings, social practices (= New German historical perspectives, Bd. 4), Oxford 2011, S. 155–205; Evelyn Knappitsch, (Nach-)Blicke auf die Kaiserin. Zur Konstruktion von „Sisi“-Bildern in der Wiener Presse um 1900, Graz 20122. 32 Katharina Weigand, Geschichte im Spielfilm – «Sissi» zwischen Wissenschaft und Zelluloid, in: Monika Fenn (Hrsg.), Aus der Werkstatt des Historikers. Didaktik der Geschichte versus Didaktik des Geschichtsunterrichts (= Münchner Kontaktstudium Geschichte, Bd. 11), München 2008, S. 93–123. 33 Folgende Aufsätze sind dazu erschienen: Mary Wauchope, Sissi Revisited, in: Margarete LambFaffelberger (Hrsg.), Literature, Film, and the Culture Industry in Contemporary Austria (= Austrian Culture, Bd. 33), New York 2002, S. 170–184; Siegfried Becker, Die Braut Europas. Zur kulturellen Semantik eines Filmmärchens, in: Ingo Schneider (Hrsg.), Europäische Ethnologie und Folklore im internationalen Kontext. Festschrift für Leander Petzoldt zum 65. Geburtstag, Frankfurt am Main 1999, S. 513–528; Claudia Lenssen, Die Sissi-Triologie. 1955, 1956, 1957, in: Rainer Rother (Hrsg.), Mythen der Nationen. Völker im Film, München/Berlin 1998, S. 312–316; Susanne Marschall, Sissis Wandel unter den Deutschen, in: Thomas Koebner (Hrsg.), Idole des deutschen Films. Eine Galerie von Schlüsselfiguren, München 1997, S. 372–383; Ruth Beckermann, Elisabeth – Sissi – Romy Schneider. Eine Überblendung, in: Dies./Christa Blümlinger (Hrsg.), Ohne Untertitel. Fragmente einer Geschichte des österreichischen Kinos, Wien 1996, S. 304–321; Georg Seeßlen, Sissi – Ein deutsches Orgasmustrauma, in: Hans-Arthur Marsiske (Hrsg.), Zeitmaschine Kino. Darstellungen von Geschichte im Film, Marburg 1992, S. 65–79; Lugmayr „Sissi“-Triologie (wie Anm. 4).



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Jahre nach ihrem Tod ein34, Otto Brusatti untersucht die musikalische Komponente des Sisi-Mythos von der Übersiedelung Elisabeths nach Wien 1854 bis zur Filmmusik zu Viscontis „Ludwig“ aus dem Jahr 197235, Brigitte Hamann schildert die Rolle der Kaiserin in der Literatur des Fin de siècle36, Ursula Storch setzt sich mit Kaiserin Elisabeth als Dramengestalt im Zeitraum von 1930 bis 1979 auseinander37 und Peter Kraus-Kautzky listet Filme über Sisi von 1919 bis 1982 auf38. Populärwissenschaftlich wurde die politische Funktion der Monarchin in der Donaumonarchie, der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und heute von Markus Metz und Georg Seeßlen im Februar 2013 für Bayern 2 mit dem Titel „Sisi/Sissi. Politik und Projektion“ aufbereitet.39 Umfassendere Publikationen zum Sisi-Mythos liegen bisher vor allem im Bereich der Germanistik vor: Als Pionierin lässt sich Juliane Vogel mit ihrer Studie „Elisabeth von Österreich, Momente aus dem Leben einer Kunstfigur“ bezeichnen.40 Vogel beschreibt anhand literarischer Zeugnisse, Malerei und Plastiken den Prozess der Mythenbildung von Sisis Hochzeit 1854 bis in die Zeit des Fin de siècle. Aufbauend auf dieser Grundlage interpretiert Carolin Maikler vor allem für den Zeitraum von 1854 bis 1918 über 50 Texte in deutscher, italienischer, französischer, englischer und ungarischer Sprache auf vergleichende Weise bezüglich der Person Elisabeth von Österreich. Diese Studie schließt zeitlich an die Arbeit von Maikler an, weil der Blick zunächst auf den Sisi-Mythos in der „Weimarer Republik“ und anschließend auf die Zeit des Nationalsozialismus gerichtet sein wird. Zielsetzung und methodischer Ansatz differieren jedoch erheblich: Es geht nicht um den Prozess der literarischen Mythenbildung, sondern um Kulturgeschichte, mithin die Untersuchung gesellschaftlichen Wandels in Deutschland am Beispiel des Sisi-Mythos. Mythen werden dabei als textlich oder ikonisch fixierte Narrationen verstanden, die um bestimmte Figuren der Geschichte, die Aktanten – hier Elisabeth von Österreich – kreisen. „Die Mythisierung dieser Figuren geschieht durch diskursive Verfahren: Den Aktanten werden 34 Walter Obermaier, „Auf Flügeln meiner Lieder …“ – Kaiserin Elisabeth und die Literatur, in: Susanne Walther (Hrsg.), Elisabeth von Österreich. Einsamkeit, Macht und Freiheit. 99. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien. Hermesvilla, Lainzer Tiergarten. 22. März 1986 bis 22. März 1987, Wien 1986, S. 37–42. 35 Otto Brusatti, Von der heiligen Elisabeth zur „Liebesleid-Sissy“ (Die Kaiserin in der Musik), in: Walther, Elisabeth von Österreich (wie Anm. 34), S. 102–104. 36 Brigitte Hamann, Elisabeth in der Literatur des Fin de siècle, in: Walther, Elisabeth von Österreich (wie Anm. 34), S. 105–110. 37 Ursula Storch, Wie in einem Spiegel (Kaiserin Elisabeth als Dramengestalt), in: Walther, Elisabeth von Österreich (wie Anm. 34), S. 111–117. 38 Peter Kraus-Kautzky, Elisabeth im Film, in: Walther, Elisabeth von Österreich (wie Anm. 34), S. 117–118. 39 www.br.de/radio/bayern2/sendungen/land-und-leute/sisi-sissi-metz-seesslen100.html [02.05.2013]. 40 Juliane Vogel, Elisabeth von Österreich, Momente aus dem Leben einer Kunstfigur, umfassend überarbeitete Neuauflage, Frankfurt am Main 19982.

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bestimmte semantische Merkmale zugesprochen, die Mytheme […]. Diese Mytheme – also sprachliche oder ikonische Zeichen […] werden zu Paradigmen gesammelt, die dann das Reservoir darstellen für die jeweils syntagmatisch realisierte Narration.“41 Die einzelnen Mytheme können sich im Wechsel der Zeit verändern oder einander ablösen und sich auf diese Weise an unterschiedliche Rahmenbedingungen anpassen.42 Der Mythos fundiert freilich zugleich die Identität einer Gruppe. In seiner Reproduktion über Texte, Bilder, Jahrestage, Monumente und Riten wird sich eine Gruppe (Gesellschaft) ihrer selbst bewusst.43 Damit bildet er – unbeschadet aller Auseinandersetzungen zwischen Assmann-Schule und Rüsen-Anhängern – einen Bestandteil der „praktisch wirksame[n] Artikualtion von Geschichtsbewusstsein im Leben einer Gesellschaft“, die als Geschichtskultur bezeichnet worden ist.44 So soll im Folgenden, ausgehend von vorhandenen materiellen Datenträgern, der Sisi-Mythos in der deutschen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit untersucht und die jeweils ex­trahierbaren Mytheme in die zeitlichen Rahmenbedingungen eingeordnet werden. In Anlehnung an den von Michel Foucault45 inspirierten und aus der Literaturwissenschaft stammenden New Historicism46 werden Elemente, die in Artefakten – hier vornehmlich Texte – einer Kultur47 zu finden sind, nicht als selbstverständlich hingenommen, sondern danach gefragt, warum ausgerechnet diese und keine anderen dort auftauchen. Der Text erscheint dabei als Bestandteil einer Kultur, der 41 Wulf Wülfing, Mythen und Legenden, in: Wolfgang Küttler u.a. (Hrsg.), Geschichtsdiskurs in 5 Bänden (= Die Epoche der Historisierung, Bd. 3), Frankfurt am Main 1997, S. 159. 42 Hier wird bewusst Abstand genommen von einem Aspekt der Theorie Aleida Assmanns, nach dem Mythen zeitenthobene Geschichten seien: Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 40. 43 Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit (wie Anm. 42), S. 29–40. 44 Jörn Rüsen, Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken, in: Klaus Füßmann u.a. (Hrsg.), Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln u.a. 1994, S. 5; Markus Raasch, Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Die deutsche Gesellschaft und der Heroe. Der Bismarckmythos im Wandel der Zeit, Aachen 2010, S. 9. Dem Konzept der Geschichtskultur steht jenes der Erinnerungskultur gegenüber, wobei beide in etwa die gleichen gesellschaftlichen Phänomene umfassen, lange Zeit synonym gebraucht wurden und mitunter fraglich ist, warum die beiden einander gegenüber gestellt werden: Marko Demantowsky, Geschichtskultur und Erinnerungskultur – zwei Konzeptionen des einen Gegenstandes. Historischer Hintergrund und exemplarischer Vergleich, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik. Zeitschrift für historisch-politische Bildung 33, 2005, S. 11–20. 45 Michel Foucault erweist sich laut Landwehr und Stockhorst als Prototyp kulturwissenschaftlichen und kulturhistorischen Arbeitens: Achim Landwehr/Stefanie Stockhorst, Einführung in die Europäische Kulturgeschichte, Paderborn 2004, S. 82. 46 Der Einfluss des New Historicism, welcher in den 1980er Jahren in den USA entstanden ist, reicht schon seit geraumer Zeit über den engeren Bereich der eigenen Disziplin hinaus. So lässt sich diese Theorie als Impuls gebend für die Diskussion um die Neue Kulturgeschichte bezeichnen: Landwehr/ Stockhorst, Einführung (wie Anm. 45), S. 84; Stefan Jordan, Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, Paderborn 2009, S. 184–186. 47 Hierbei wird ein weiter Kulturbegriff zugrunde gelegt, der kollektive Sinnzusammenhänge in ihrer historischen Bedingtheit bezeichnet: Landwehr/Stockhorst, Einführung (wie Anm. 45), S. 14.



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zahlreiche Verschränkungen mit ebendieser aufweist. Die Studie möchte „die Subjektivität der Quelle zum Gegenstand […] [der] Erkenntnis“ machen und „den Wandel des Bewusstseins der Menschen, in dem sich […] ein großer Teil der wirklichen Veränderung widerspiegelt“, untersuchen.48 Ihr Ziel ist es, gemäß dem New Historicism, die Fäden der Artefakte aufzugreifen, die über sie selbst im engeren Sinn hinausweisen, und somit Webstrukturen der deutschen Gesellschaft darzulegen.49 Die Auswahl der Manifestationen beschränkt sich auf Werke von Deutschen50 für Deutsche, wohl wissend, dass von Einflüssen diesen Auswahlprinzipien nicht entsprechender Artefakte auf den deutschen Sisi-Mythos auszugehen ist. Untersuchungsgrundlage bilden Zeitungsartikel unterschiedlicher politischer Ausrichtung und regionaler Verbreitung, die zwischen 1918 und 1945 zu den Geburts- und Todestagen der Kaiserin erschienen sind, sowie einschlägige Filme und Belletristik. Aus heuristischen Gründen werden im Folgenden aus dem reichhaltigen Quellenfundus diejenigen Mythosreproduktionen präsentiert, die als exemplarisch erscheinen.

III Der Sisi-Mythos in der „Weimarer Republik“51 1 Die selbstbewusst Leidende im Film „Das Schweigen am Starnberger See“ von Rolf Raffé Das erste Projekt der 1919 von Rolf Raffé (1895–1978) gegründeten Filmfirma „Irisfilm“, die wenig später in „Indra-Film“ umbenannt wurde, stellte ein Stummfilm 48 Hans-Werner Goertz, „Vorstellungsgeschichte“. Menschliche Vorstellungen und Meinungen als Dimension der Vergangenheit. Bemerkungen zu einem jüngeren Arbeitsfeld der Geschichtswissenschaft als Beitrag zu einer Methodik der Quellenauswertung, in: Archiv für Kukturgeschichte 61, 1979, S. 253–271, hier S. 265f. 49 Landwehr/Stockhorst, Einführung (wie Anm. 45), S. 84f. 50 Darunter verstehe ich Männer und Frauen, die entweder in Deutschland geboren wurden und dort aufwuchsen, oder so lange in Deutschland lebten, dass sie gemeinhin als Deutsche gelten. 51 Zum Mythos vor 1918: Neben den zahlreichen und mannigfaltigen österreichischen Manifestationen des Sisimythos, die bereits ab Elisabeths Eintritt in die Öffentlichkeit zu existieren begannen, zeugen auch im deutschen Raum einige wenige Artefakte von der Mythisierung der Kaiserin zu deren Lebzeiten. Zu nennen wären an dieser Stelle die „Elisabeth-Polka“ des Herzogs Ernst von SachsenCoburg (1818–1893), die aus der Regentenzeit der Kaiserin stammt, sowie ein Bittbrief mit Tabularium – eine Art „poetisches Archiv“ –, den der Münchner Sprachkünstler und Mysterienforscher Alfred Schuler (1865–1923) der Kaiserin überreichen wollte. Was den postumen Sisimythos anbelangt, existieren ein Nachruf von Theodor Fontane (1890–1898), der 1900 unter dem Pseudonym Gregor Samarow veröffentlichte vierbändige Roman „Der Krone Dornen. Historisch-romantische Bilder aus dem Leben und Leiden der Kaiserin Elisabeth von Oesterreich“ von Oskar Meding (1828–1903), das, den Wittelsbacher-Schwestern Elisabeth und Sophie gewidmete Gedicht „Die Schwestern“ von Stefan George (1868–1933), welches zuerst 1904 in den „Blättern für die Kunst“, dann 1907 als elftes „Zeitgedicht“ im „Siebenten Ring“ erschien, und die deutsche Übersetzung von „My Past“, den Memoiren

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über Ludwig II. dar. An ihm war die ehemalige Lieblingsnichte der Kaiserin, Gräfin Larisch, spätere wegen Vermittlungsdiensten zwischen Rudolf und Marie Vetsera vom Hof verbannte Marie Louise von Wallersee-Wittelsbach – nach ihrer Scheidung und erneuten Heirat dann Frau Brucks – (1858–1940) beteiligt.52 Kaiserin Elisabeth von Österreich kommt hier eine Nebenrolle zu, die Raffés Frau Carla Nelsen Raffé (eigentlich Karolina Henriette Bäumler, 1897 bis 1988) übernahm. Für die Produktionskosten in Höhe von 85.000 Mark kam die Münchner Immobilienfirma Schneider & Bieler auf, „während die Verleihfirma ‚Süddeutscher Film – Lloyd GmbH‘ allein für die Kinoauswertung in Süddeutschland 150.000 Mark an die Indra-Film zahlte“. Gedreht wurde der Bilderstreifen im September/Oktober 1919. Im Dezember 1919 ließ ihn die Polizeidirektion München, „trotz Intervention der Krongutverwaltung wegen vermeintlich unerlaubter Aufnahmen vor den Königsschlössern“, nach Vorlage bei der bayerischen Zensur für die öffentliche Vorführung zu. Unter dem Titel „Ludwig II., König von Bayern. Sein Schicksal und tragisches Ende“ wurde der Film seit dem 24. Januar 1920 überaus erfolgreich in zahlreichen Münchner Kinos aufgeführt. Im Februar 1920 sprach die bayerische Zensurstelle ein „Teilweise verboten“ aus, da man die anklagend-politischen Sätze von Ludwig II. in seiner Abschiedsrede an die Untertanen im letzten Akt beanstandet hatte. Raffés Ludwig II.-Film avancierte im Verlauf des Jahres 1920 – wie die „Süddeutsche Film-Lloyd-Gesellschaft“ in einer Annonce verlauten ließ – zum „größten Kassenschlager der Gegenwart“, wobei sich die zeitgenössischen Filmkritiken dementsprechend als überwiegend wohlwollend erwiesen. Da der Bildstreifen vor Inkrafttreten des Reichslichtspielgesetztes vom 29. Mai 1920 produziert und in den öffentlichen Verkehr gebracht worden war, musste er vonseiten der Indra-Film innerhalb eines Jahres der Reichsfilmstelle Berlin oder München vorgeführt und von dieser, auch wenn er bereits früher amtlich zugelassen worden war, erneut geprüft werden. „Die so genannte Nachzensur erfolgte am 15. Juli 1921 seitens der Filmprüfstelle München, wobei der Film nun in einer kürzeren Version […] unter dem Titel Das Schweigen am Starnbergersee – Schicksalstage König Ludwig II., König von Bayern eingereicht wurde.“ So ist der Film, welcher mehrere Jahre als verschollen galt, in der Sowjetunion wiedergefunden und anschließend 1978 im Rahmen der Münchner Kulturwoche im Stadtmuseum gezeigt wurde, heute überliefert.53

von Elisabeths Nichte, welche 1913 mit dem Titel „Meine Vergangenheit“ in Deutschland gedruckt und veröffentlicht wurde. Trotz eines Verbreitungsverbotes, welches über das Buch bis 1918 verhängt wurde ist, darf angenommen werden, dass es dennoch unter dem Ladentisch vertrieben wurde. 52 Brigitte Sokop, Jene Gräfin Larisch…. Marie Louise Gräfin Larisch-Wallersee. Vertraute der Kaiserin – Verfemte nach Mayerling, Wien u.a. 19882, S. 549. 53 Alfons Maria Arns, „Der Traum von einem König“. Der deutsche Stummfilm und König Ludwig II., in: Filmmuseum München/Goethe–Institut München (Hrsg.), 20seitiges Booklet mit Essays von Alfons Maria Arns & Hans-Günther Pflaum (= Edition Filmmuseum 46), o. O. 2009; Sokop, Jene Gräfin Larisch (wie Anm. 52), S. 384.



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Zum ersten Mal in Raffés Film tritt die Figur der Elisabeth gemeinsam mit ihrer Schwester Sophie – beide in prächtigen Kleidern – auf.54 Elisabeth sitzt auf dem Sockel einer Perseus- und Medusa-Statue und liest in einem Buch, während Sophie ihrem Bewegungsdrang nachkommt. Es herrscht eine unbeschwerte Atmosphäre, die indes an einigen Stellen eine Brechung erfährt. Die fröhliche Klaviermusik unterstreicht die Sorglosigkeit der beiden Prinzessinnen zu diesem Zeitpunkt, wobei die zukünftige Kaiserin einen ernsteren Eindruck erweckt. Die Plastik soll wohl vom Zuschauer erkannt werden, da eine Totale sie zunächst komplett zeigt, um dann die beiden jungen Frauen in der Halbtotale zu fokussieren. Die lesende Elisabeth erscheint sodann vor der Statue des großen griechischen Heroen als kulturell interessierte, bildungsbeflissene junge Frau, der eine große Zukunft bevorsteht. Der Verweis auf das weibliche Ungeheuer aus der griechischen Mythologie, dem von Perseus das Haupt abgeschlagen wurde, indiziert freilich nicht nur Elisabeths Antikenliebe, sondern kann auch als böses Omen für die Zukunft der Schwestern angesehen werden. Während Sophie im Folgenden die Auflösung ihrer Verlobung mit Ludwig II. hinnehmen muss, findet auch Elisabeth später kein Glück. Mehrere Filmminuten später kündigt der Zwischentitel an, dass inzwischen Jahre vergangen seien. Bevor Elisabeth erneut auftritt, liest der Zuschauer von einer innigen Freundschaft, die die Kaiserin von Österreich und ihren Vetter Ludwig verbindet. So stattet erstere dem König einen Besuch ab. Anders als zuvor kommt Elisabeth nun mit schwarzem, hochgeschlossenem Kleid und ernster, vom Leben gezeichneter Miene zu Pferd zu Ludwigs Schloss, während die Szene mit ruhiger Klaviermusik untermalt wird. Hier soll offensichtlich bewusst durch Musik und Kostüm ein Kontrast geschaffen werden zwischen der einstigen Unbeschwertheit als Prinzessin und ihrer aktuellen Situation. Dass Elisabeth auf ihrem Weg zu Ludwig mit ihrem Pferd aus dem Schatten in das Sonnenlicht reitet, könnte so inszeniert worden sein, um das Treffen der beiden als Lichtblick in ihrer beider Leben, zumal dem des bayerischen Königs, darzustellen. Zu Beginn der anschließenden Begegnung zwischen Ludwig und Elisabeth in einem Raum des Schlosses geben sie an, einsam zu sein. Elisabeth zeigt Interesse für das Buch, welches Ludwig im Begriff war zu lesen, bevor sie in der nächsten Szene durch hüfthohes Gestrüpp spazieren, das für eine diffizile Lebenssituation der beiden steht. Dass an dieser Stelle Ludwig seine Cousine an die Hand nimmt, ihr eine Blume pflückt und ihre Hand küsst, drückt die Verbundenheit der beiden in ihrer prekären Situation aus. Diese Beobachtung wird durch die allmählich melancholisch werdende Klaviermusik und den Zwischentitel „Du der Adler – ich die Taube“ gestützt. Indem Elisabeth anschließend aus dem Bild läuft, wird ihre Rastlosigkeit angedeutet. Einige Szenen später kündigt der Zwischentitel „Leidige Verhältnisse am Wiener Hof treiben die Kaiserin zu dem einsamen Ludwig“ einen erneuten 54 Im Folgenden sollte aus Gründen der Anschaulichkeit mit Screenshots aus den in Rede stehenden Filmen gearbeitet werden. Die jüngste Rechtsprechung im Urheberrecht macht dies leider nicht möglich.

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Auftritt Elisabeths an. Sie reitet geschwind in schwarzem Gewand, steigt vom Pferd, betritt das Schloss Herrenchiemsee und eilt dort durch den Spiegelsaal. Vereinzelte Klaviertöne erzeugen eine angespannte Stimmung, die durch verschiedene Lichteffekte unterstrichen wird. So reitet die Kaiserin diesmal in das Halbdunkel der Bäume und beim Betreten des Schlosses wirft sie einen langen Schatten auf die Treppenstufen. Somit gewinnt die Figur der Elisabeth an Dramatik. Zudem verleiht der Schatten als Symbol für die Ankunft Jesu Christi, die bei Lukas 1,35 mit den Worten „Die Kraft des Höchsten wird dich überschatten“ angekündigt wird, der Kaiserin eine messianische Nuance.55 Ihr flotter Gang durch den ausladenden, menschenleeren Saal unterstreicht der Kaiserin Einsamkeit. Wenig später erfährt der Zuschauer von Elisabeths Kuraufenthalt in Hohenschwangau. Sie verlässt mit ihrer Hofdame ein belichtetes Gebäude, während ruhige Klaviermusik zu vernehmen ist. Der Zwischentitel vermittelt, dass Elisabeth ihre Hofdame um Proviant schickt, um allein zu sein, woraufhin beide in verschiedene Richtungen aus dem Bild gehen. Anschließend zeigen zwei Aufnahmen in der Totale, wie Elisabeth mit weißem Regenschirm als Gehstock und Fächer in flottem Schritt spazieren geht. In der nächsten Szene lässt sich die Kaiserin mit einem Ruderboot auf einem See fahren und füttert dabei einen Schwan. Das Tier weist zum einen hin auf Ludwig II., dessen Lieblingsgestalt der Schwanenritter Lohengrin war, und könnte zum anderen eine Anspielung sein auf den Singschwan als Sinnbild des in Todesnot rufenden Heilands am Kreuz und somit erneut eine Verbindung herstellen zwischen Elisabeth, Jesus Christus und dem in naher Zukunft sterbenden König Ludwig.56 Die Klaviermusik wird mit dem Eintreten des Zwischentitels „Die Kaiserin will den König mit einem Besuch überraschen und findet den Einsamen, tief in sich versunken, auf dem Söller des Turmes.“ unruhiger. Die folgende Szene ist entsprechend dem Schauplatz am Rande des Abgrundes, der die beiden in Todesnähe rückt, von überwiegend dramatischer Klaviermusik geprägt. Im Mittelpunkt stehen Elisabeth und Ludwig in der Nahe, so dass der Fokus auf der Mimik der Darsteller liegt. Die von Traurigkeit gezeichnete Kaiserin bittet ihren Cousin, sich nicht in die Einsamkeit zu vergraben. Doch Ludwig ist der Ansicht, für ihn „gibt es kein Zurück“. Daraufhin sinkt die Kaiserin weinend auf einen Steinpfeiler. Liebevoll nimmt der König sie in seine Arme, während ihm Elisabeth mit den Worten „Auch ich bin eine Einsame Ludwig! Schwer drückt die Dornenkrone auf meine Stirne, aber wir dürfen nicht verzagen, darum sei auch Du stark, wir alle müssen unser Los tragen, wie Gott es uns erwählt“ Mut zusprechen möchte. Beachtenswert erscheint hier die erneute Jesus-Analogie, welche Elisabeth durch die Dornenkronen-Metapher und die Gottgläubigkeit zugeschrieben wird. Daraufhin findet die Kaiserin in einer anderen Form Eingang in den Film. Die Minister des Königs haben sich gegen diesen verschworen und vernehmen seine 55 Hans Biedermann, Knaurs Lexikon der Symbole, München 1989, S. 379f. 56 www.hdbg.eu/koenigreich/web/index.php/themen/index/herrscher_id/7/id/41 [04.07.2013]; Biedermann, Lexikon (wie Anm. 55), S. 392f.



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Diener, um an belastende Aussagen zu kommen. Ludwigs Leibdiener Hesselschwert liefert schließlich die gewünschten Informationen, indem er „die Absonderlichkeiten des Königs in einer übertriebenen Weise“ darstellt. In seinen Erzählungen tritt Elisabeth zwei Mal in Erscheinung. Zum Ersten zeigt sie sich dem König als gespenstähnliche Vision in weißem Gewand, die auf ihn zuläuft und verschwindet, als er vor ihr niedersinkt um sie zu umarmen. Dabei unterstreicht unruhige Geigenmusik das Geschehen. Außerdem inszeniert Ludwig, sich mit dem Schwert zu erstechen, als ihm wiederum die fiktive Gestalt der Elisabeth – diesmal in schwarzem Kleid – erscheint, welche er auf Knien umarmt, bevor die Figur verschwindet. Untermalt wird die Szene durch Geigenmusik, die zunächst dramatisch ist, als Elisabeth auftritt, ruhiger wird und bei ihrem Verschwinden zu sehr hohen spannungsvollen Tönen wechselt. Nach seiner Festnahme erwartet Ludwig Hilfe von Elisabeth, die ihn retten soll. Jedoch wird ein Brief an seine Hoffnungsträgerin abgefangen. So kann letztere nur noch „dem teuren Verblichenen einen Strauß Jasmin – seine Lieblingsblumen“ als letzten Gruß auf den aufgebahrten Leichnam legen. Der letzte Auftritt Elisabeths im Film wird von harmonischen Klavierklängen begleitet. Wie bereits in einer vorhergehenden Szene wird Elisabeth als gottgläubig dargestellt, da sie sich geneigten Hauptes von dem Bischof am Grab des Königs bekreuzigen lässt. Ihre schwesterliche Zuneigung zu Ludwig drückt die Kaiserin durch einen Kuss auf die Stirn des Toten und den Ausspruch „Mein Ludwig!“ aus.57 Auffällig ist, dass Elisabeth im Film als kluge, selbständige Frau ohne Kinder und Ehemann gezeigt wird. Sie wird als unabhängiges Individuum konturiert. Sie trifft eigene Entscheidungen und pflegt eine Freundschaft auf gleicher Augenhöhe zum bayerischen König. Diese Darstellung Elisabeths verweist auf die Entstehungszeit der Quelle, zu der die Gleichberechtigung der Frau voranschritt, ein neues Frauenbild entstand und auch im Film die selbständige, emanzipierte Frau beschworen wurde. Frauen durften allein Straßenbahn und Zug fahren, „und ganz Mutige tauchten als Alleinreisende in Seebädern auf“. Viele typisch „männliche“ Verhaltensweisen wurden nun von Frauen imitiert.58 Die zahlreichen religiösen Anspielungen, welche Elisabeth als Erlöserin erscheinen lassen, fügen sich ein in die Entstehungszeit des Films. Nach der Erschütterung durch Krieg und Niederlage bestand ein verstärktes Bedürfnis nach religiösem Rückhalt, der nicht allein bei der evangelischen und katholischen Kirche, sondern auch in Sekten, bei selbsternannten Propheten sowie bei esoterischen und okkultistischen Zirkeln gesucht wurde. Die Konjunktur letzterer zeigt, dass Utopien, messianische Verheißungen und apokalyptische Visionen viele bewegten. Trotz einer Tendenz zur Entkirchlichung gehörten nach einer Volkszäh-

57 Rolf Raffé, Das Schweigen am Starnbergersee, Deutschland 1920. 58 Michael Salewski, Revolution der Frauen. Konstrukt, Sex, Wirklichkeit (= Historische Mitteilungen. Im Auftrag der Ranke-Gesellschaft, Bd. 75), Stuttgart 2009, S. 309.

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lung 1925 von der Bevölkerung des Deutschen Reiches immerhin 96,5 % einer der beiden christlichen Volkskirchen an. 59 Der Film enthält bezüglich der Figur Elisabeth zahlreiche authentische Elemente, jedoch ist auch eine Reihe von Abweichungen von der (konstruierbaren) historischen Realität feststellbar. Bereits zu Beginn kündigt ein Zwischentitel die Prinzessinnen Elisabeth und Sophie an und zeigt in der folgenden Szene zwei etwa gleich alte junge Frauen. Allerdings war die jüngste Schwester Elisabeths, Sophie, erst sechs Jahre alt, als ihre große Schwester mit 16 Jahren zur Kaiserin von Österreich wurde. Der Altersunterschied von zehn Jahren wurde wohl außer Acht gelassen, um Elisabeth in eine Szene mit der zukünftigen verlobten Ludwigs, Sophie, zu integrieren und somit die unbeschwerte Jugend der Schwestern darstellen zu können.60 Es wird jedoch fälschlicherweise suggeriert – um das Bild „echter“ Prinzessinnen in prachtvollen Kleidern und vor imposantem Ambiente zu kreieren –, die beiden jungen Frauen hätten am Münchner Hof gelebt, während sich Brigitte Hamann sicher ist, Elisabeth sei „abseits jeden höfischen Zwanges“ aufgewachsen.61 Die Film-Elisabeth trägt in allen Szenen, die sie als Kaiserin abbilden, außer jener, in der sie Ludwig zum ersten Mal als Vision erscheint, schwarze Kleidung, was die Diskrepanz zum hoffnungsvollen Beginn steigert und ihren traurigen Seelenzustand akzentuiert. Allerdings trug die Kaiserin im wahren Leben erst ab dem Tod ihres Sohnes drei Jahre nach Ludwigs Tod bis zu ihrem eigenen Lebensende, abgesehen von wenigen Ausnahmen, als „Mater Dolorosa“ ausschließlich Trauerkleidung.62 Darüber hinaus werden die Vogelnamen, die Elisabeth und Ludwig sich auch tatsächlich gaben, zum Teil verfälscht wiedergegeben. So legt der Zwischentitel Elisabeth die Worte „Du der Adler – ich die Taube“ in den Mund, während in Gedichten der beiden Ludwig getreu dem Film als Adler, Elisabeth allerdings als Möwe bezeichnet wird. Hier wurde zugunsten der messianischen Aura Elisabeths ein für Gläubige irrelevantes Tier durch ein christliches Symboltier ersetzt. So steht die Taube unter anderem für Rettung und Frieden. Elisabeth wird zur Hoffnungsträgerin für die Erlösung Ludwigs, was der König einige Szenen später ganz direkt erkennen lässt, indem er der Meinung ist, seine Freundin könne ihn aus der Internierung befreien.63 Fälschlicherweise wird in dem Film vermittelt, Elisabeth habe während Ludwigs zwangsweisem Aufenthalt in Schloss Berg in Possenhofen verweilt, obwohl sie sich zu der Zeit in der Tat im wenige Kilometer entfernten Feldafing 59 Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur (= Schriftenreihe, Bd. 729), Bonn 2008, S. 268. Im Vergleich dazu gehörten im Jahr 2010 nur mehr 59,4 % der Bevölkerung in Deutschland einer der beiden christlichen Volkskirchen an: www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in–deutschland/61565/kirche [28.07.2013]. 60 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 399–403, 604–607. 61 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 17. 62 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 555f. 63 Gerd Heinz-Mohr, Lexikon der Symbole. Bilder und Zeichen der christlichen Kunst, Düsseldorf/ Köln 1971, S. 280–282.



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aufhielt. Da Possenhofen näher an Schloss Berg liegt als Elisabeths tatsächlicher Aufenthaltsort, hat Raffé möglicherweise ortskundigen Zuschauern vermitteln wollen, Elisabeth sei in direkter Nähe zu Ludwigs Gefängnis gewesen und hätte ihm umso besser helfen können, wäre sein Brief an sie nicht abgefangen worden. Hamann ist jedoch der Meinung, Elisabeth hätte für eine Befreiungsaktion die Tatkraft gefehlt.64 Heftiger als im Film dargestellt, war nach Ansicht der Historikerin die Reaktion der Kaiserin auf Ludwigs Tod. So ist Elisabeth vor dem Katafalk Ludwigs in tiefe Ohnmacht gesunken und hat anschließend gefordert, den sich zum Zwecke der Flucht vor der Welt und den unausstehlichen Menschen lediglich tot stellenden König aus der Kapelle zu holen. Eine solche Darstellung hätte aber das Mythem der selbstbewusst leidenden Herrscherin durchkreuzt. Die filmische Präsentation der Kaiserin als überzeugte Christin enthält einen wahren Kern, hat Elisabeth doch nach dem Tod ihres Freundes im Beisein ihrer Tochter intensiv zu Gott gebetet.65 Raffés Elisabeth ist zusammenfassend eine selbstbewusste, zudem einst hoffnungsvolle Frau, deren von Gott erwählte Aufgabe, eine Krone zu tragen, ihr freilich zur Last, ja zur Qual wird, so dass sie sich mit dem menschenscheuen Ludwig in ihrer Traurigkeit verbunden fühlt. Auch ihn wird sie gleichwohl nicht retten können. Sie ist für sich und ihre Umgebung die scheiternde Erlöserin.

2 Die Republikfreundin in der Vossischen Zeitung Am 11. September 1923 veröffentlichte die bürgerlich-liberale „Vossische Zeitung“66 anlässlich des sich zum 25. Mal jährenden Todestages der Kaiserin einen Bericht mit dem Titel „Kaiserin Elisabeth und die Republik“. Darin werden Ausführungen der deutschsprachigen liberalen Zeitung „Pester Lloyd“ aus Ungarn kritiklos wiedergegeben. Laut Falk, dem Chefredakteur und ehemaligen Ungarischlehrer der Kaiserin, habe diese ihm einmal mitgeteilt, sie hätte davon gehört, „[…] dass die zweckmäßigste Regierungsform die Republik sei“. Zudem soll sie eben genanntem Lehrer versichert haben, den Verfasser der um 1866 erschienenen und von ihr bereits gelesenen Schrift „Der Zerfall Österreichs“, welcher wohl der Sohn eines hohen Staatsbeamten war, vor Unannehmlichkeiten zu bewahren.67 Das Bild Elisabeths von Österreich, welches in diesem Artikel vermittelt wird, ist rein politischer Natur. Die Kaiserin erscheint ausschließlich als Freundin der Republik.

64 Heinz-Mohr, Lexikon der Symbole (wie Anm. 63), S. 412. 65 Heinz-Mohr, Lexikon der Symbole (wie Anm. 63), S. 412. 66 Die Vossische Zeitung, die vor 1904 „Königlich-privilegierte Berlinische Zeitung“ hieß, zählte 1918 80.000 Auflagen: Rudolf Stöber, Deutsche Pressegeschichte. Einführung, Systematik, Glossar, Konstanz 2000, S. 212. 67 O. A., Kaiserin Elisabeth und die Republik, in: Vossische Zeitung 429, 1923, S. 3.

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Das Mythem „Republikfreundin“ fügt sich in das Jahr 1923, welches zu den Krisenjahren der noch jungen „Republik“ gezählt wird. Aufstandsversuche der extremen Rechten und Linken prägten den Herbst 1923.68 Als werbende Figur erscheint da die Kaiserin, die sich, wie der Artikel versichern möchte, gegenüber ihrem Vertrauten als heimliche Anhängerin der Republik zu erkennen gab. Tatsächlich enthält der Artikel Aspekte, die dem Forschungsstand zu Elisabeth von Österreich entsprechen. Allerdings generiert auch Hamann ihre Erkenntnisse aus den 1898 in der Zeitung „Pester Lloyd“ veröffentlichten Erinnerungen des jüdischen Journalisten Max Falk, der 1866 zum Ungarisch-Lehrer der Kaiserin wurde und sie in Sachen politischer Ausgleich massiv beeinflusst haben dürfte.69 Einen überzeugenderen Nachweis für die These der Kaiserin als Republikfreundin findet man in von ihr verfassten Gedichten, in welchen sie sich „sehr kritisch zu Kaiser, Habsburg und Monarchie [äußert] und die Republik als einzige Zukunftsform [besingt]“.70

3 Elisabeth als Liebende in Wilhelm Dieterles Film „Ludwig der Zweite“ Am 10. März 1930 fand im Berliner Titania-Palast die Uraufführung des unter der Regie Wilhelm Dieterles (1893–1972) entstandenen Stummfilms „Ludwig der Zweite, König von Bayern. Die Tragödie eines unglücklichen Menschen“ statt. Das aus der Feder des Regisseurs, seiner Frau Charlotte und Ludwig Biro stammende Drehbuch enthält eine Elisabeth-Rolle, welche durch Trude von Molo besetzt wurde, während Dieterle selbst die Ludwig-Rolle übernahm. Allerdings war die Zulassung des Werks nicht ohne Irritationen vonstattengegangen. Neben dem von der „Filmprüfstelle Berlin“ vorgeschriebenen Jugendverbot sowie einigen Kürzungen aus Rücksicht auf noch lebende Personen – insbesondere aus der Familie Ludwigs – war es zu einer sich über mehrere Wochen hinziehenden politisch aufgeladenen Kontroverse zwischen den Zensurstellen in Berlin und der Bayerischen Regierung in München gekommen. Letztere hatte eine Nichtzulassung gefordert, da die Darstellung nicht der Wahrheit entspräche und das Ansehen des deutschen Reiches, die öffentliche Ordnung sowie die Beziehung Bayerns zum deutschen Reich gefährdet würden. „Außerdem müsse von einer ‚verrohenden Wirkung‘ dieser ‚Irrentragödie‘ ausgegangen werden.“ Zudem leisteten verschiedene königstreue Verbände starken Widerstand gegen die Aufführung des Films. So war es auch die rechtskonservative und nationalsozialistische

68 Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik, durchgesehene und erweiterte Auflage (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 16), München 20097, S. 37–56. 69 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 240–244. 70 Obermaier, „Auf Flügeln meiner Lieder“ (wie Anm. 34), S. 40.



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Presse, die nach der Premiere des Films ein Verbot forderte, während die Tages- und Fachpresse verhalten positiv bis ablehnend reagierte.71 Zwei Filmsequenzen widmen sich der Beziehung zwischen König Ludwig II. und Kaiserin Elisabeth von Österreich. In der ersten kündet zunächst ein schwarzer junger Mann in der Dunkelheit mit einem Feuerwerk, welches Ludwig von Schloss Berg aus durch das Fenster erblickt, von der Anwesenheit Elisabeths auf der Roseninsel. Verträumt blickt die Kaiserin in weißem Kleid und Hermelinmantel vor einer kleinen Villa stehend in den Himmel. Ludwig wird indessen auf einem Ruderboot zur Insel gefahren. Dort angekommen eilt er zu der mit Licht bestrahlten Elisabeth, die sich im Kontrast zu ihrer hellen Gestalt in einem dichten Nadelbaumwald befindet und nennt ihren Namen. Der Schwarze spielt dabei auf seiner Gitarre. Als Schauplatz wurde wohl der Wald wegen seiner symbolischen Bedeutung als Ort der Geborgenheit und Abgeschiedenheit vom Treiben der Welt gewählt. Romantische Klaviermusik ertönt, als sich Elisabeth und Ludwig am Stamm einer Birke zärtlich an der Hand berühren und der König ihr eine Rose schenkt. Das Bild entfaltet durch eine Reihe von Zeichen eine eigene Dynamik. So kann der aufrechte Stamm eines Baumes, neben dem eindeutigen Liebes-Symbol der Rose, als Phallus-Symbol interpretiert werden.72 Während die Kaiserin an der Rose riecht, beobachtet Ludwig seine Angebetete fasziniert und geht dann aus dem Bild, um sich auf einer Bank zu entspannen. Elisabeth folgt ihm und streicht ihm behutsam mit der Rose über seinen Kopf, wobei sie ihm „Vergiss alle Sorgen.“ zuraunt. Beide blicken sich tief in die Augen. Dann setzt sich die Kaiserin zu Ludwig und gibt dem Schwarzen ein Zeichen, woraufhin sich dieser vor sie setzt und Gitarre spielt. Ein vorbeihuschender Hund bringt Elisabeth zum Schmunzeln. Ludwig in der Großaufnahme jedoch legt, parallel zu einer leicht tragischen Wendung in der Musik, die Stirn in Falten, blickt nach oben und atmet tief ein, bevor ihn der Zwischentitel „Ich möchte nur auf dieser Insel leben ~ nichts hören von Politik und Geld ~ aber dann würden sie mich wohl ganz für verrückt erklären“ sagen lässt. Diese Worte bringen Elisabeth zum Weinen. Sie wischt sich ihre Augen mit einem Tuch aus, woraufhin Ludwig ihre Hand fasst und meint: „Spare Deine Tränen ~ wer weiß, was uns an Leid noch vorbestimmt ist.“ Die nächste Kameraeinstellung in der Weite zeigt den schwarzen Nachthimmel, welcher nur durch den Mond erhellt wird, vor den Wolken ziehen. Dies könnte symbolisch für die Vergänglichkeit der glücklichen, Licht ins Dunkel bringenden Stunden mit Elisabeth stehen und in Kombination mit Ludwigs Worten einen Vorweggriff auf das spätere tragische Ende seines Lebens darstellen.73 Die nächste Filmsequenz, welche Elisabeth als Figur enthält, ist gegen Ende des Films angesetzt. Als Ludwig, der inzwischen auf Schloss Berg interniert wurde, mit seinem Arzt einen Spaziergang macht, kommen die beiden an einer Birke vorbei. 71 Arns, „Der Traum von einem König“ (wie Anm. 53); Kay Weniger, Das große Personenlexikon des Films. Bd. 2: C–F, Berlin 2001, S. 389–392. 72 O. A., Herder Lexikon. Symbole, Freiburg im Breisgau 19787, S. 134, 178. 73 Herder Lexikon (wie Anm. 72), S. 113.

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Der König streichelt den Baum und sinniert: „Elisabeth ~ sei gegrüßt ~“. Die Klaviermusik wird allmählich romantisch und wechselt zu derselben Melodie wie in der ersten Sequenz mit Elisabeth, als Ludwig mit einem Lächeln im Gesicht eine ausladende Geste vollzieht und aus dem Bild läuft. Nun zeigt der Film die weiß gekleidete, trotzig blickende Elisabeth vor einem Fenster sitzend. Als ihre Bedienstete ihr ein Glas Milch bringt, spricht Elisabeth mit ärgerlicher Gestik und Mimik, worauf erstere mit ebenfalls wütendem Gesichtsausdruck antwortet: „Hätte er das Geld für weniger friedliche Zwecke verschwendet ~ anstatt für Schlossbauten ~ säße er noch lange auf dem Thron.“ Elisabeth nickt mit erboster Miene, fasst ihre Bedienstete an der Schulter und spricht: „Wir wollen ihn morgen besuchen ~ ehe sie ihn wirklich zum Wahnsinn treiben.“ Anders als alle anderen Zwischentitel besteht der Hintergrund all jener Texte, die von und gleichzeitig zu oder über Elisabeth und Ludwig gesprochen werden, aus Rosenranken, was wiederum auf eine Liebesbeziehung der beiden hinweisen soll.74 Entsprechend Dieterles Ablehnung der „Sachlichkeit“ seiner Tage und seinem Eintreten für „das Gefühl“ in einem Artikel zu dem Film „Das Schweigen im Walde“ aus dem Vorjahr des Ludwig-Films, inszeniert der Regisseur eine Romanze zwischen Elisabeth und Ludwig. Seine Forderung nach einer Steigerung der Produktion deutscher Filme, die auf den unerschöpflichen Landschaften und den vorhandenen Stoffen basieren sollten, wird in „Ludwig der Zweite“ gleichermaßen berücksichtigt, indem sich Dieterle dem Leben eines bayerischen Monarchen zuwendet und die Handlung stets innerhalb Deutschlands verläuft. Die Filmsequenz auf der Roseninsel kommt den wahren Begebenheiten in formaler Hinsicht durchaus nahe. „1881 ließ sich [nämlich] Elisabeth im Kahn von Feldafing aus zur Roseninsel rudern, um dort König Ludwig zu besuchen. […] [Sie] brachte ihren Mohren Rustimo mit. Stumm wie meistens saßen die beiden beieinander und genossen den Rosenduft. Auf der Rückfahrt begleitete der König seine Cousine im Kahn. Rustimo sang mitten auf dem See fremde Volkslieder zur Gitarre, und Ludwig steckte ihm zum Dank einen Ring an den schwarzen Finger.“75 Während Hamann einen sehr integrierenden Umgang Ludwigs und Elisabeths mit dem Schwarzen schildert, erteilt die als Sympathieträgerin auftretende Kaiserin ihrem schwarzen Bediensteten im Film lediglich Befehle. Die Integration des schwarzen Darstellers in den Film trägt ein deutliches Kolorit der Zeit. Viele der infolge der deutschen Kolonialzeit (1884–1918) ins Land gekommenen, meist männlichen, afrikanischen Kolonialmigranten fanden aufgrund ökonomischer und politischer Ausschlussmechanismen nach 1918 ihr Auskommen in Berufen, wie jenen des Artisten, Kellners, Tänzers oder Musikers, in denen sie als Repräsentanten ethno-kultureller Differenz deutlich zur Schau gestellt wurden. Der Dieterle-Film reiht sich ein in die Tradition der Filmproduktion in den Nachkriegsjahren, die eine nur schwer zu übersehende koloniale 74 Wilhelm Dieterle, Ludwig der Zweite, Deutschland 1930. 75 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 407f.



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Nostalgie in sich trugen. „So offensichtlich und naiv der Eskapismus dieser Filme, so beschränkt und undifferenziert blieben die anonymen Rollen, die sie für dunkelhäutige Darsteller vorsahen: dämonische ‚Mohren‘, ‚fanatisierte Eingeborene‘, ‚treue Diener‘, Pagen und Portiers, manchmal ‚Inder‘ oder ‚Malayen‘, später gelegentlich auch amerikanisierte Musiker oder Boxer – das waren die sich aus dem Bildarchiv des Rassismus speisenden Rollen, die schwarze Deutsche in Filmen wie ‚Die Herrin der Welt‘ (1919/20), ‚Das indische Grabmal‘ (1921), ‚Eine Weiße unter Kannibalen‘ (1921), […] ‚Die Austernprinzessin‘ (1919) [und „Niemandsland“ (1931)] zu spielen hatten. […] Da Schwarze Komparsen jedoch vergleichsweise rar waren, stellte die Tätigkeit im Kino für die meisten kolonialen Migranten oftmals nicht nur eine finanziell einträgliche Einkommensquelle dar, sondern, […] [sie] war auch mit Möglichkeiten zur dandyhaften Selbstinszenierung, der Verweigerung und dem Gefühl subjektiver Aufwertung verbunden.“76 Es ist folglich ein Spezifikum der Zeit, dass Elisabeths schwarzer Bediensteter die Sympathie für die Kaiserin durchaus unterstreichen soll. Während der Film zwei Liebende zeigt, die es kaum erwarten können, Zärtlichkeiten auszutauschen, spricht Hamann von einem nicht ganz so harmonischen und vor allem asexuellen Verhältnis. So schrieb Sisi „1874 an ihren Mann: ‚Wenn mich nur der König von Bayern in Ruhe lässt‘ […] und stöhnte gegenüber den Hofdamen über seine anstrengenden Besuche“. Dieterle gestaltete die Beziehung der beiden wohl zugunsten seiner Präferenz für Gefühle derart romantisch aus. Er verzichtete indessen darauf, zu zeigen, dass sich Elisabeth einige Male von ihrer Tochter Valerie zu den Treffen mit Ludwig begleiten ließ, wohl weil er die Kaiserin nicht in der Rolle der Mutter zeigen wollte.77 Die letzte Filmsequenz mit Elisabeth stellt sie, durch ihre Zustimmung zum Ausspruch ihrer Hofdame bezüglich Ludwigs finanzieller Zurückhaltung in Kriegsbelangen, wahrheitsgemäß als Antimilitaristin dar.78 Auch der in diesem Zusammenhang geäußerte Wunsch Elisabeths, Ludwig zu besuchen, basiert auf dem tatsächlich stattgefundenen Versuch, den internierten König zu sprechen, den sie allerdings aufgab, als man ihr davon abriet.79 Diese Szene hat Dieterle wohl gewählt, um zu zeigen, dass Elisabeth auch in einer äußerst schwierigen Zeit zu Ludwig stand. Zusammenfassend erscheint Elisabeth in „Ludwig der Zweite, König von Bayern. Die Tragödie eines unglücklichen Menschen“ als pazifistische Romantikerin und kinderlose Geliebte, die mit ihrem Verehrer fühlt und zu ihm hält.

76 Tobias Nagl, Fantasien in Schwarzweiß – Schwarze Deutsche, deutsches Kino, online: www. bpb.de/gesellschaft/migration/afrikanische-diaspora/59355/schwarze-deutsche-im-film?p=all [14.07.2013]. 77 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 401, 405. 78 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 401. 79 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 412.

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4 Die selbstbewusst scheiternde Ehefrau und Mutter im Film „Elisabeth von Österreich – Eine historische Reportage“ Der Film „Elisabeth von Österreich – Eine historische Reportage“ des Regisseurs Adolf Trotz aus dem Jahr 1931 lässt die Handlung in den frühen Ehejahren Elisabeths und Franz-Josephs beginnen und endet mit Elisabeths Tod. Trotz zeichnet zunächst das Bild eines verliebten Paares, dessen Glück durch die strenge Kaisermutter und FranzJosephs Festhalten an dem Hofzeremoniell getrübt wird. Besonders deutlich wird dies mit filmischen Mitteln bei einer Szene umgesetzt, die ein Hoffest zeigt. Umrahmt von fröhlicher Orchestermusik, die im Kontrast zur Handlung steht, schwenkt die Kamera in der Nahe mehrmals von Elisabeth, die ihre Handschuhe entgegen der Hofordnung auszieht, über Franz Joseph zur Kaisermutter, die ihren Sohn zwingt, seine Frau dazu zu bringen, sich wieder ordnungsgemäß anzuziehen, und zurück. Am Ende fokussiert die Kamera in Großaufnahme Elisabeths Hände, die die Handschuhe fallen lassen, sowie ihren Körper von Hals bis Knie, der sich erhebt und den Raum verlässt. Der Regisseur zeigt, dass Elisabeth sich nicht gegen die übermächtige Sophie und die Prinzipientreue des Kaisers behaupten kann, sich jedoch dagegen auflehnt. Ihre unterlegene Position gegenüber ihrem Gemahl illustriert jene Szene, in der Franz Joseph, nachdem er von der Schwangerschaft seiner Frau erfahren hat, zu dieser ans Bett tritt. Die Kamera, schräg von oben über Franz Josephs Schulter auf Elisabeth gerichtet, entspricht den Worten, die der Kaiser wie an ein Kind an seine Frau richtet: „Ja Sissi! Was sagt der Professor? Na das ist doch. Du aber a Bub muss wern!“ Die junge Kaiserin erscheint dennoch als eine freiheitsliebende, bescheidene, selbstbewusste junge Frau mit Gerechtigkeitssinn, die von ihrem Volk verehrt wird. Besonders eindrucksvoll werden erstere Eigenschaften in einer Szene geschildert, die Elisabeth in der Totale auf Augenhöhe mit einem Soldaten zeigt, dem sie energisch befiehlt, er solle das Malträtieren eines Untergebenen unterbinden. Als Elisabeth voller Trauer und Entsetzen feststellen muss, dass die Kaisermutter den neugeborenen Sohn an sich genommen hat, schlägt Franz Joseph seiner Sissi vor, sie solle verreisen. Für diese Szene, in welcher Franz erneut vor Elisabeths Bett steht, wurde wieder die Kameraposition hinter Franz Joseph gewählt. Sie befindet sich jedoch in Augenhöhe mit der Kaiserin, was deren Auflehnung gegen die Übermacht der Schwiegermutter, gegen die sie sich allerdings nicht durchsetzen kann, unterstreicht. Elisabeth befolgt schließlich Franz Josephs Rat und reist von einem Ort zum nächsten, woraufhin es Beschwerden von Seiten der Handwerker gibt, welche sich aufgrund der ständigen Abwesenheit der Kaiserin über mangelnde Festgelegenheiten beklagen. Währenddessen trifft sich Sissi in den Bergen und auf der Roseninsel mit Ludwig II. von Bayern. Die erste Begegnung der beiden, die im Film gezeigt wird, ist von filmischen Kontrasten geprägt. Elisabeth wandert zunächst bei entspannender Zittermusik durch eine idyllische Berglandschaft, die immer wieder in der Weite zu sehen ist. Als sie die dunkle Kirche betritt, in der Ludwig auf sie wartet, erklingen monumentale Orgelklänge. Somit erhält die unbeschwerte Stimmung mit dem Auftreten Ludwigs eine



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tragische Nuance. Die Nachricht, ihr Sohn solle heiraten, führt Elisabeth zurück an den Hof. Dort versucht sie vergeblich die von Franz Joseph gegen Rudolfs Willen forcierte Verbindung zwischen ihrem geliebten Sohn und der Prinzessin Stephanie von Belgien zu verhindern, da diese ihn unglücklich machen würde. Kurz darauf schockt die Nachricht von Ludwigs Tod die Kaiserin. Rudolf, der inzwischen ein Scheidungsgesuch an den Papst gerichtet hat, da er sich lieber mit Marie Vetsera liieren wollte, wird von seinem Vater zurechtgewiesen. Elisabeth stellt sich diesmal auf die Seite ihres Mannes und möchte Rudolf dazu überreden, sich von Marie zu trennen. Daneben bittet sie Stephanie, ihren Mann „ein bisschen froher“ zu machen. Kurze Zeit später erhält die Kaiserin Nachricht vom Selbstmord ihres Sohnes. Die Stärke der Kaiserin wird in diesem Moment von der räumlichen Position der Eheleute zueinander unterstrichen. Während Franz Joseph sitzt und auf dem Schreibtisch weinend zusammensinkt, ist Elisabeth in der Lage neben ihrem Mann zu stehen und ihre Emotionen größtenteils zu kontrollieren. Nach diesem Schicksalsschlag reist die Kaiserin inkognito in der Welt umher, bis sie schließlich in der Schweiz ermordet wird. Die Sequenz zu ihrem Todestag zeigt sie zum ersten Mal nach Rudolfs Tod. Elisabeth trägt ein Gewand, das sie mit einem schwarzen, bodenlangen Kleid und einer schwarzen Schleierhaube als „Mater Dolorosa“ kennzeichnet, während sie im gesamten Film, mit Ausnahme der ersten Szene in schwarzem Reitkleid, helle Kleidung trägt.80 Typisch für den Regisseur Adolf Trotz ist das Thema Ehe, wobei seine Wertorientierung eindeutig dem Glück beider Geschlechter gilt. Als „unersetzlichen Schatz“ jedes Volkes sieht er glückliche, kinderreiche Ehen. In einem späteren Film mit dem Titel „Wege zur guten Ehe“, der 1936 wegen seiner Gefahr für die „Volksgesundheit“ auf Goebbels Veranlassung verboten wurde, wird die Einstellung deutlich, dass der Beitrag des Mannes zum Eheglück darin besteht, sich mehr um seine Ehe und weniger nur um seine Geschäfte zu kümmern.81 Diese Haltung wird auch in „Elisabeth von Österreich“ deutlich. Während Franz Joseph zu Beginn der zunächst glücklichen Ehe den Außenminister in einer dringenden Angelegenheit warten lässt, um sich mit Sissi zu unterhalten, beendet er zu einem Zeitpunkt, zu dem das Verhältnis der Eheleute unterkühlt erscheint, das Gespräch mit seiner Frau um den Außenminister sofort zu empfangen. Dass eine unglückliche Ehe schwerwiegende Folgen mit sich bringt, wird im Film an zwei Beispielen vor Augen geführt. Zum einen anhand des Thronfolgers Rudolf, der sich aus Verzweiflung über seine erzwungene Ehe das Leben nimmt, zum anderen an Elisabeth, die ihr fröhliches Wesen durch die in der Ehe erfahrenen Enttäuschungen verliert. Selbst der Kaiser wird durch die unglückliche Ehe zunehmend starrsinniger. Die Kaiserin, welche im Film als Sympathieträgerin erscheint, protestiert zudem mit den Worten „Bin ich denn nicht ein freier Mensch?“ gegen die Vorgaben, die ihr am Hof gemacht werden.

80 Adolf Trotz, Elisabeth von Österreich, Deutschland 1931. 81 www.difarchiv.deutsches-filminstitut.de/dt2tp0129.htm [22.05.2013].

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Trotz fügt sich mit seiner Idee des gleichen Rechts auf eine glückliche Ehe, respektive auf persönliche Freiheit für Mann und Frau, in die Zeit der „Weimarer Republik“ ein, in der die Gleichstellung der Geschlechter in unterschiedlichen Bereichen gedacht und zum Teil verwirklicht wurde. Neben der Einführung des Frauenwahlrechts 1919 zeugen davon das Mutterschutzgesetz von 1927 sowie die 1922 erlassene Erlaubnis für Frauen, Richterinnen, Schöffinnen und Geschworene zu werden. Darüber hinaus forderte die erste ordentliche Professorin an einem deutschen Lehrstuhl, Mathilde Vaerting, die vollkommene Gleichberechtigung von Mann und Frau auf allen Ebenen – das heißt von Ehe und Familie bis zum höchsten Staatsamt.82 „In der Weimarer Republik traten [zudem] bürgerlich-liberale wie sozialdemokratische Frauenbewegungen für eine umfassende Reform des Ehe- und Familienrechts ein. Ein Schwerpunkt der sozialdemokratischen Vorschläge lag darauf, das Scheidungsrecht durch Einführung des Zerrüttungsprinzips zu liberalisieren, da selbst schwerste Zerrüttung nicht als Trennungsgrund galt.“83 Auf dem Juristentag von 1925 wurde zudem die Abkehr von dem sehr einseitigen ehelichen Güterrecht einheitlich beschlossen und als Alternative die Zugewinngemeinschaft befürwortet.84 Der zu dieser Zeit im Film beschworene Typus der selbständigen, emanzipierten Frau wird hier in erster Linie durch Sissis Schwiegermutter Sophie verkörpert. Statt der unschuldigen Frau tritt die herrische Kaisermutter auf die Bühne. Auch Elisabeth selbst erfüllt zum Teil die Kriterien einer starken, emanzipierten Frau. Reist sie doch ohne Begleitung ihres Mannes durch die Welt und reagiert, als sie die Nachricht vom Tod ihres Sohnes erhält – im Vergleich zu ihrem Mann, der in Tränen ausbricht – gefasst.85 Zieht man den Erkenntnisstand der Historiografie zum Vergleich heran, wird deutlich, dass der Film zwar auf einigen Tatsachen beruht, die Bezeichnung „historische Reportage“ im heutigen Sinn allerdings nicht verdient. In der Tat spricht Brigitte Hamann von einem guten Verhältnis des jungen Ehepaares zueinander. „Die Verliebtheit Franz Josephs war nicht zu übersehen. Und es besteht kaum ein Zweifel, dass die junge Sisi die Liebe ihres Mannes erwiderte und mit ihm glücklich war.“ Später sei die Liebe, wie im Film gleichermaßen transportiert wird, erloschen.86 Zwar ist auch bei Hamann von kleinen Verstößen Sisis gegen das Hofzeremoniell87 die Rede, ein 82 Salewski, Revolution der Frauen (wie Anm. 58), S. 294–301. 83 Birgit Sack, Zwischen religiöser Bindung und moderner Gesellschaft. Katholische Frauenbewegung und politische Kultur in der Weimarer Republik (1918–1933) (= Internationale Hochschulschriften, Bd. 266), Münster u.a. 1998, S. 327. 84 Merith Niehuss, Familie und Geschlechterbeziehungen von der Zwischenkriegszeit bis in die Nachkriegszeit, in: Anselm Doering-Manteuffel (Hrsg.), Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts (=Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 63), München 2006, S. 148. 85 Salewski, Revolution der Frauen (wie Anm. 58), S. 310. 86 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 97. 87 So verwehrte die junge Kaiserin zwei Cousinen den obligatorischen Handkuss, begleitete ihren Mann einen Tag lang nach Wien und ging mit Franz ohne Hofbeamte durch die Säle und verwinkelten



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Gasthausbesuch und ein Einschreiten gegen die Misshandlung eines Soldaten zählen jedoch nicht dazu. Letztere Szene wurde in den Film integriert, um die von Hamann bestätigte Gerechtigkeitsliebe Elisabeths zu verdeutlichen.88 Dass die Kaiserin beim österreichischen Volk zunächst beliebt war und diese Zuneigung des Volkes allmählich durch lange Abwesenheit abnahm, sieht Hamann als erwiesen an.89 Während im Film Franz Joseph seiner Frau eine Reise vorschlägt, um sich von der Geburt ihres Sohnes zu erholen, war es in der Realität ein Lungenspezialist, der „entschied, [Elisabeth] […] müsse sofort in ein wärmeres Klima“.90 Die Verantwortung für Elisabeths Abwesenheit wird somit auf ihren Mann übertragen. Krankheiten, Diäten und schwere seelische Probleme werden im Film zugunsten der Darstellung einer selbstbewussten Kaiserin verschwiegen.91 Zudem wird suggeriert, Rudolf sei das erste Kind des Kaiserpaares gewesen. Tatsächlich waren vor ihm bereits zwei Schwestern geboren worden und als viertes Kind brachte Elisabeth wieder eine Tochter zur Welt. Durch die, dem Wunsch Franz Josephs entsprechende Geburt des Thronfolgers erscheint die junge Ehe des Kaiserpaares umso erfolgreicher. Während Sophie bei der Erziehung der ersten drei von Sisi geborenen Enkel eine überragende Stellung einnahm, setzte die Kaiserin ihre Mutterrechte für ihr letztes Kind durch. Hamann bezweifelt jedoch aufgrund eines kurz nach der Geburt des ersten Kindes von Elisabeth verfassten Briefes, dass man ihr die Kinder – was auch im Film gezeigt wird – gleich nach der Geburt weggenommen hat, wie die Kaiserin später beklagte.92 Beträchtlich weicht die „historische Reportage“ im Falle der Schilderung von Rudolfs Verlobung vom Forschungsstand ab. Nach Hamann erhielt die in London weilende Kaiserin ein Telegramm, dass sie von der soeben stattgefundenen Verlobung Rudolfs mit der 16-jährigen Tochter des Königs der Belgier, Prinzessin Stephanie, in Kenntnis setzte. Der darauf folgende „kurze Gratulationsbesuch in Brüssel war nicht mehr als eine lästige Pflicht“.93 Die Ausführungen der Historikerin enthalten demnach weder Hinweise auf ein Engagement der Kaiserin gegen die Verlobung ihres Sohnes noch darauf, dass sie sich gegen seinen Kontakt mit Marie Vetsera ausgesprach.94 Es liegt nahe, dass Trotz an dieser Stelle eine Manipulation vornahm, um einerseits den Tod des Kronprinzen mit einer unglücklichen Liebe erklären zu können – die wahren Gründe für Rudolfs Selbstmord sind wohl vielschichtiger – und andererseits Elisabeth als gute Mutter darzustellen, der die Zukunft ihres Sohnes nicht gleichgül-

Gänge der Hofburg in das Burgtheater, was Sophie als unschicklich rügte: Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 69, 78, 80. 88 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 57. 89 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 102, 159. 90 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 139. 91 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 138f. 92 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 99–102. 93 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 355. 94 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 544f.

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tig ist.95 Die Verehrung, welche Rudolf für seine Mutter aufbrachte, findet sowohl bei Hamann als auch im Film Beachtung. Allerdings ist Hamann der Auffassung, das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn habe sich durch die „ungeliebte Schwiegertochter“ – Elisabeth hegte eine Abneigung gegen das belgische Königshaus – verschlechtert.96 Zudem habe sich Elisabeth kaum um ihren Sohn gekümmert.97 Folglich überdeckt der Regisseur Zweifel an Elisabeths Qualitäten als Mutter. Wahrheitsgetreu zeigt der Film, dass die Kaiserin als erste über den Tod ihres Sohnes informiert wurde und sie es war, die mit Disziplin und überwiegender Gefasstheit den Kaiser informierte. Jedoch war laut Hamann Rudolfs Todesursache der kaiserlichen Familie zunächst unbekannt, während im Film Elisabeth weiß, dass er erschossen wurde. Dass Franz Joseph zu weinen begann, entspricht nicht den Ausführungen Hamanns.98 Die dargestellte ausgeprägte Reisetätigkeit der Kaiserin nach dem Tod ihres Sohnes ist mit dem aktuellen Forschungsstand konform, allerdings hatte sich Elisabeth in der (konstruierbaren) historischen Realität das Reiseleben schon zuvor fest vorgenommen und wartete die Heirat ihrer Lieblingstochter ab.99 Mit einer ausführlichen, aber in einigen Details nicht wahrheitsgemäßen Schilderung der Ermordung Elisabeths hat Trotz schließlich seinen Film enden lassen. So fehlt der Sonnenschirm der Kaiserin, welchen sie beim Verlassen des Hotels bei sich hatte, und anstatt nur eines passiven Arztes kämpften 1898 zwei Ärzte und eine Krankenschwester um das Überleben der Kaiserin.100 Das Bild der nahezu einsam sterbenden Frau wurde wohl gewählt, um auf Elisabeths Zurückgezogenheit von den Menschen – eine weitere Folge ihrer unglücklichen Ehe – am Ende ihres Lebens hinzuweisen. Das im Film kreierte Gesamtbild der Kaiserin ist schließlich jenes einer selbstbewussten, sportlichen und liebenden Frau und Mutter, die trotz ihrer außergewöhnlichen Anlagen nicht in der Lage ist, sich gegen die Übermacht des höfischen Zwanges und den Patriarchalismus ihrer Zeit durchzusetzen, infolgedessen Zuflucht bei ihrem Vetter Ludwig sucht und nach dem Tod ihres Sohnes als „Mater Dolorosa“ umherreist.

95 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 547. 96 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 355f. 97 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 532. 98 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 544. 99 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 558. 100 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 589–591.



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IV Der Sisi-Mythos zur Zeit des Nationalsozialismus 1 Die Kaiserin als vorbildhafte Gattin und Mutterideal im Roman von Marie Blank-Eismann Der unter dem Pseudonym Marie Blank-Eismann von Marie Trebsdorf (1890–?)101, die in Meißen geboren wurde und dort lebte, verfasste, zweibändige Roman „Sissi. Der Schicksalsweg einer Kaiserin“ muss aufgrund seines Erscheinungsjahres 1937 inhaltlich in Einverständnis mit dem nationalsozialistischen Regime gestanden haben, zumal eine Reihe von weiteren Werken aus der Feder Blank-Eismanns zwischen 1934 und 1939 veröffentlicht wurde. Titel wie „Seines Bruders Weib“, „Wenn sich zwei Herzen scheiden“, „Zu dir kehrt heim mein Herz“ und „Zwei zwingen das Glück“ lassen darauf schließen, dass Blank-Eismanns – absichtlich oder weniger bewusst – primär im Bereich der Indoktrination durch Zerstreuung und Unterhaltung tätig war.102 Die zwei insgesamt fast 600 Seiten umfassenden „Sissi“-Romane dienten in den 1950er Jahren als Vorlage für Ernst Marischkas dreiteilige Filmreihe über die Kaiserin.103 Inhaltlich umfassen die zwei Bände die Zeit der Verlobung Elisabeths bis zu ihrem Tod. Gleich zu Beginn des ersten Teils wird die Mutter des österreichischen Kaisers, Sophie, als herrschsüchtig und einflussreich charakterisiert, womit ihr die Rolle der Gegenspielerin Sissis zukommt. Letztere zeichnet sich durch ihre kindliche und schlanke Mädchengestalt sowie ihr vergnügtes und unbekümmertes Wesen aus und erscheint folglich als Sympathieträgerin. Sissis Heimatverbundenheit drückt Blank-Eismann durch den bayerischen Dialekt der jungen Herzogin sowie ihr Bekenntnis, der Vater sei ihr in „der kurzen Wichs“ lieber als in der Galauniform, aus. Als sich Sissi und Franz zufällig im Wald von Ischl begegnen, steht für den Kaiser fest, dass er statt der von seiner Mutter ausgewählten Helene deren Schwester, die kindliche Sissi, heiraten wird. Das „kleine Prinzesschen“ verstößt zum Missfallen ihrer Schwiegermutter schon während der Hochzeitszeremonie gegen die höfische Etikette, indem sie ihren „Franzl beim Empfang so stürmisch“ küsst sowie froh und übermütig lacht. Diese Episode ist prägend für Elisabeths weiteres Leben, welches sich fortan durch eisige Hofluft und häufige Abwesenheit des von Regierungsgeschäften eingespannten Kaisers auszeichnet. Nach der Geburt ihrer ersten Tochter gelingt es der temperamentvollen Sissi erst nach heftigen Kämpfen, Seelenqualen und einer Flucht zu ihren guten Eltern, ihr Mutterrecht gegen Sophie durchzusetzen. Elisabeths 101 Nähere Angaben zur Autorin können aufgrund der bisherigen Vernachlässigung Blank-Eismanns in der Forschung nicht gemacht werden. 102 Klaus Hildebrand, Das Dritte Reich (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 17), neubearbeitete Auflage, München 20036, S. 244–247. 103 Diese Information fehlt bisher in der Literatur zur „Sissi“-Triologie von Marischka: O. A., Sissi. Roman von Marie Blank-Eismann, in: Eichstätter Kurier 274, 1956, S. 2.

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und Franz Josephs Reise nach Ungarn, wo die Kaiserin begeistert umjubelt wird, trübt der Tod ihrer in Wien bei der Großmutter gebliebenen Tochter Sophie. Doch bald entflammt Sissis Sehnsucht nach neuem Mutterglück. Zu ihrer Freude erfüllt sie diesmal die „große und heiligste Aufgabe“, einen Thronfolger zu gebären. Der erneute, vergebliche Kampf um ihr Mutterrecht – diesmal ohne Unterstützung des vielbeschäftigten Gatten – lässt ihre Kräfte schwinden, so dass die Ärzte zu einem Aufenthalt in Madeira raten. Diesem stimmt sie widerwillig und nur deswegen zu, weil sie für ihren Mann, ihre Kinder und ihr Land gesund werden möchte. Allerdings prägt diese „Zeit des Alleinseins […] Elisabeths ganzes späteres Leben. Aus dem lebensfrohen, heiteren Kind der bayerischen Berge wurde eine Einsiedlerin.“ Stundenlang wandert die Kaiserin umher, um ihren marternden Gedanken an ihre sie, laut der Kaisermutter, nicht vermissenden Kinder zu entfliehen. So fährt sie vor Sehnsucht nach Mann und Kindern gleich im Frühjahr nach Hause. Jedoch muss sie feststellen, dass ihr die Herzen der Kinder absichtlich entfremdet wurden. Als sie dem Trugschluss erliegt, Franz habe eine Affaire, ist sie untröstlich und wird krank, woraufhin sie sich dem Rat der Ärzte, nach Korfu zu reisen, fügt. Dort erholt sie sich, geht spazieren, treibt Sprachstudien und lernt Ungarisch. Doch ihre Wunden sind noch nicht geheilt und so fährt sie nach Possenhofen, wo sie dem Bayernkönig Ludwig II. begegnet, der sich mit Sissis Schwester verlobt und der Kaiserin seine Liebe gesteht. Das Missverständnis bezüglich Franz Josephs Affaire kann aufgeklärt werden, wodurch es zu einer erneuten Annäherung der Ehepartner kommt. Ludwig allerdings löst aus falscher Eifersucht die Verlobung mit Elisabeths Schwester wieder auf. 1866 kümmert sich die Kaiserin um Verwundete und Hinterbliebene. Kurz darauf nimmt das österreichische Kaiserpaar hocherfreut die Einladung an, sich zu König und Königin von Ungarn krönen zu lassen. Nachdem der wunderschönen Königin die Begeisterung der Ungarn zukam, zieht sie sich wegen ihrer erneuten Schwangerschaft von Festlichkeiten und Hofleben zurück. Die Tochter, welche sie 1868 überglücklich gebärt, gehört nun nur ihr. Als ihr Franz die geplanten Hoffeste und Empfänge ankündigt, ist Elisabeth in Sorge, dass das Familienleben darunter leiden wird. Sie will als Kaiserin auch Mensch, Mutter und liebende Gattin sein. Um nicht länger in Wien bleiben zu müssen, reist Sissi mit ihren Kindern nach Gödöllö. Auch Jahre später fühlt sich Elisabeth, deren Gatte mit anderem beschäftigt ist als mit seiner Frau, einsam, so dass sie viel auf Reisen geht, wobei sie die Kinder meistens mitnimmt. Mit dem Alter wird sie genügsamer und anspruchsloser und verzichtet fast völlig auf leibliche Genüsse, wodurch sie ihre schlanke, jugendliche Gestalt behält. Sie turnt auch viel, reitet und lässt ihr Haar ausgiebig pflegen. Auf einer ihrer Wanderungen begegnet sie Ludwig, spürt eine Wesensverwandtschaft mit ihm und schließt unter dem Versprechen, sich oft mit dem König auf der Roseninsel zu treffen, Freundschaft. Dieser Kontakt mit Ludwig wandelt sie so sehr, dass sie ihre Kinder vernachlässigt. Als sie mit Gisela über deren Verlobung spricht, kommen Schuldgefühle gegenüber ihrer Tochter, auf. Als Elisabeths Nichte, Marie, die Eltern verliert, verspricht die Kaiserin, die Mutterstelle zu vertreten. Doch zu ihrem Missfallen – Marie ist keine standesgemäße Partie



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– verlieben sich der Kronprinz, Rudolf, und Elisabeths Nichte ineinander. Als das Kaiserpaar gemeinsam entscheidet, die beiden räumlich zu trennen, besucht Elisabeth mit Marie ihre Schwester in England, um ihre Nichte auf andere Gedanken zu bringen. Dort stürzt die Kaiserin vom Pferd und verletzt sich schwer. Doch ihren wahren Zustand möchte sie vor ihrer Familie in Wien verbergen, um diese nicht in Sorge zu versetzen. Während sie sich die Zeit ihrer Krankheit mit Lesen, Sprachstudien und Ungarisch lernen vertreibt, entdeckt sie bei ihrer Heimkehr die Liebe zu ihrem Franz wieder. Zurück in Wien besucht die herzensgute Kaiserin Spitäler mit Verwundeten. Als ihre Schwiegermutter stirbt, hat ihr Elisabeth bereits verziehen, dass diese sie so verletzte und das Glück der Ehe gefährdete. Gemeinsam mit ihrem Gatten macht sie sich Gedanken über eine zukünftige Frau für Rudolf. Am Ende des ersten Bandes feiern Elisabeth und Franz, die sich noch immer lieben, Silberhochzeit.104 Damit beginnt sogleich der zweite Band des Romans. Allerdings sorgt der Wunsch des Volkes, das Kaiserpaar aus Anlass der Silberhochzeit zu feiern, dafür, dass Elisabeth erneut den höfischen Zwang ertragen muss. Sisi, die sich in der folgenden Zeit mit Franz und Rudolf nach einer geeigneten Braut für den Kronprinzen umsieht, will ihren Sohn nicht zur Heirat zwingen. Obwohl sie aus Sorge um dessen Glück gegen eine Verbindung mit Stephanie von Belgien ist, versucht sie Rudolf davon zu überzeugen, dass Liebe wachsen kann. Als feststeht, dass sich die beiden verlobt haben, tritt sie erfolglos vor ihrem Gatten für das Glück ihres Sohnes und gegen diese Ehe ein. So leidet Elisabeth, dem Wahnsinn nahe, am Tag der Hochzeit und muss, wie bereits bei Giselas Eheschließung, ein Stück ihres Herzens opfern. Um nicht Zeugin einer unglücklichen Ehe zu werden, verlässt sie Wien erneut und fühlt sich, das Leben am Hof verabscheuend, an einer entscheidenden Wende ihres Lebens. Inkognito reisend, mit einfacher Kleidung und dichtem Schleier, besucht die Kaiserin Ludwig im Hause Gutenbergs in der Schweiz. Sie beschließen, gemeinsam die Roseninsel aufzusuchen, um einsam zu sein. Derweil lernt Franz bei der Jagd Katharina Schratt kennen, die zu seiner Kameradin wird. Das schlechte Verhältnis zwischen Rudolf und seiner Frau führt seine Mutter zurück nach Wien, wo sie die Eheleute besänftigen kann, indem sie Stephanies Aussehen verändert. Zunächst erschrickt die Kaiserin über die Nachricht, dass ihr Mann Schratt protegiert. Nach einem Gespräch der beiden Frauen ist jedoch auch Elisabeth für eine Freundschaft zwischen der Schauspielerin ihrem Mann, der auch weiterhin nur Sisi liebt. Um ausgiebigen Kontakt zwischen Rudolf und ihrer Nichte zu verhindern, reist Sissi mit letzterer ab und überlebt ein Attentat in Triest, nicht ohne noch am Unglücksort Verletzten zu helfen. Aus Sehnsucht nach Mann und Kindern befiehlt die Kaiserin die Rückreise nach Wien, wo sie an Hofbällen teilnimmt, da sie erkennt, dass sie es bisher versäumt hat, um die Liebe des Volkes zu werben. Inzwischen verbindet auch Sissi eine Freundschaft mit Katharina Schratt. Da ihre Schwiegertochter ein Kind erwartet, bleibt Elisabeth vorerst in Wien, leidet jedoch an Depressionen. Als Stephanie bei einem Fluchtversuch selbstverschuldet stürzt, 104 Marie Blank-Eismann, Sissi. Der Schicksalsweg einer Kaiserin, Bd. 1, München 2007.

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ihr Junge im Mutterleib stirbt und sie keine Kinder mehr gebären kann, setzt sich die davon zunächst tief betroffene Elisabeth aus Mutterliebe bei ihrem Gemahl für ein Scheidungsgesuch von Rudolfs Ehe beim Papst ein. Als sich Franz unnachgiebig zeigt, erleidet seine Frau einen schweren Nervenzusammenbruch. Auf dem Krankenbett schmiedet die Kaiserin Reisepläne und bricht mit Marie Valerie, nicht ohne die Bitte an Franz, mitzukommen, in den Orient auf. Unterwegs stiftet sie Geld an Trapistenklöster für die Ärmsten der Armen. Heimweh und Ludwigs Gefangennahme führen Elisabeth zurück in die Heimat. Der Versuch, ihrem Freund einen Besuch abzustatten misslingt und so kann sie lediglich, mit der Ohnmacht ringend, eine von der Roseninsel stammende weiße Rose zum Leichnam Ludwigs bringen. Da sie auf der Trauerfeier Mann und Sohn nicht treffen möchte, reist Sissi nach Korfu. Die zerrüttete Ehe ihres Sohnes, dem sie durchaus Vergnügen außerhalb der Ehe gönnt, führt sie zurück nach Wien. Neben ihrem Vater stirbt in dieser Zeit auch Rudolf mit seiner Geliebten. Elisabeth ist überzeugt, dass letzterer am Ende glücklich in der Liebe war und tröstet ihren Gatten. Die tiefgebeugte Mutter trauert unbeschreiblich um ihren Sohn und macht sich Vorwürfe. Todessehnsüchtig wagt es die Kaiserin nach diesem Erlebnis nicht mehr zu lächeln und geht nach Valeries Hochzeit auf Reisen. Auf Korfu lässt sie ihrem Sohn ein Denkmal errichten. Bald darauf hat das Kaiserpaar weitere Todesfälle in der Familie zu beklagen. Trotz zunehmender Menschenscheue erfüllt die Kaiserin ihre Pflicht beim Besuch des russischen Zarenpaars und anlässlich des Jahrtausendfests Ungarns 1896. Ihren Vorsatz am 50. Regierungsjubiläum Franz Josephs teilzunehmen, kann Elisabeth nicht mehr erfüllen, denn am 10. September 1898 wird sie Opfer eines todbringenden Attentats.105 Der Roman beinhaltet eine Reihe von Elementen, die auf die Zeit seiner erstmaligen Veröffentlichung verweisen. Die Eheschließung der kindlichen und jungen Sissi wird bei Blank-Eismann als positiv dargestellt. Demgemäß steht die Geschichte im Einklang mit Hitlers Propagierung der Frühehe.106 Die ganzen zwei Bände lang wird die Autorin nicht müde zu betonen, was für eine besorgte Mutter Elisabeth doch sei. Während sie zu Beginn energisch um ihr Mutterrecht kämpfen muss, sind es am Ende ihre Kinder, derentwegen sie von ihren Reisen nach Wien zurückkehrt. Damit entspricht sie dem Idealbild der nationalsozialistischen Frau der Zukunft, die eine „gesunde Mutter“ sein und „deren einzige wahre Aufgabe in der Geburt und der Aufzucht ‚gesunden Erbnachwuchses‘ bestehen sollte.“107 Das Thema „Erbkrankheit“ wird in dem Roman nicht ausgespart. So fürchtet sich Sissi davor, dem „unheilvolle[n] Erbe der Wittelsbacher“ zu erliegen und wahnsinnig zu werden. Darüber hinaus waren die Nationalsozialisten der Meinung, dass „nicht die Ehen die besten seien, die aus rein verstandesmäßigen Erwägungen gegründet würden. Wie sich auf allen Lebensgebieten immer das durchsetze, was echt sei, so bewähre sich im Leben auch die Ehe 105 Marie Blank-Eismann, Sissi. Der Schicksalsweg einer Kaiserin, Bd. 2, München 2007. 106 Salewski, Revolution der Frauen (wie Anm. 58), S. 315. 107 Salewski, Revolution der Frauen (wie Anm. 58), S. 315.



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am besten, deren Fundament in der echten Zuneigung der beiden Partner bestehe. Nur solch eine Ehe bürge für eine wirklich einwandfreie Erziehung der Kinder und sei damit eine wertvolle Keimzelle für die deutsche Zukunft.“ In diesem Sinne zeigt die Autorin, wie sich die Zuneigung Elisabeths und Franz Josephs zueinander ein Leben lang erhält. Während Elisabeth sich noch am Tag ihres Todes wünscht: „Ach, könnte doch der Kaiser kommen […]“ hat auch das Herz Franz Josephs „einzig und allein bis zum letzten Atemzug seiner Sissi gehört“.108 Als dementsprechend fruchtbar erwies sich die Ehe, aus der drei Töchter und ein Sohn hervorgingen. Im Gegensatz dazu brachte die nicht aus Zuneigung, sondern aus Gehorsam dem Vater gegenüber geschlossene Ehe zwischen Stephanie und Rudolf lediglich eine Tochter hervor und endete mit dem Selbstmord des Kronprinzen in einer Katastrophe. Daneben erscheint die Darstellung der Sympathieträgerin Elisabeth als besonders gläubige Frau geradezu nonkonformistisch. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass sich die Autorin von der rigiden Kirchenpolitik der NSDAP nicht beirren ließ, und mit dem Mythem „Gläubigkeit“ möglicherweise verdeckten Protest zum Ausdruck bringen wollte. Vor allem ab dem Jahr 1935 hatte sich das Vorgehen gegen die beiden Kirchen mit Verhaftungsaktionen und Verleumdungskampagnen verschärft. „Spätestens 1937 war für kirchliche Beobachter klar, dass das NS-Regime ‚grundsätzlich und definitiv die Vernichtung des Christentums‘ in Deutschland wollte […]“. Stellvertretend dafür verfolgte Hitler die bereits 1933 in einer Geheimrede „bekundete Absicht, ‚selbst eine Kirche [zu] werden‘ […]“. In diesem Sinne bestand eine „Tendenz zur Sakralisierung der Führerherrschaft“ sowie der Darstellung des Nationalsozialismus als politische Religion. Elisabeths Gläubigkeit findet Ausdruck in den Sätzen „[D]er Himmel möge mich segnen“, „Vater im Himmel, warum hast du uns das nicht erspart?“, „Gott sei mit dir!“, „Wir wollen Gott danken, dass der Krieg zu Ende ist […].“, „Ich werde für dein Glück beten, Rudi, damit der Himmel ein einsehen hat […].“, „Der himmlische Vater hat mich beschützt.“ und „Gottes Hand ruht schwer auf uns!“ sowie in der Beschreibung: „[Sie] faltete […] ihre Hände und betete in dieser Stunde aus tiefstem Herzen zu dem Lenker der Geschicke […].“109 Obwohl der Roman das Leben Elisabeths nahe an der Realität erzählt, enthält er zahlreiche Abweichungen, die dazu dienen, die generierten Mytheme zu konsolidieren. So soll Elisabeth die Charakteristik der potentiell idealen Frau unter anderem optisch erfüllen, denn Blank-Eismann beschreibt Sissis blaue Augen entsprechend dem optimalen arischen Erscheinungsbild, obwohl sie in realiter dunkelbraun waren.110 Zudem ist Elisabeth im Roman nur widerwillig bereit, dem Rat der Ärzte zu folgen und sich in Madeira von ihrer Krankheit zu erholen. Allein ihrem Mann, ihren Kindern und dem Land zuliebe, will sie wieder gesund werden. Sie erfüllt damit die 108 Blank-Eismann, Sissi (wie Anm. 105), S. 283, 287. 109 Blank-Eismann, Sissi (wie Anm. 104), S. 56, 61f, 133, 138f; Blank-Eismann, Sissi (wie Anm. 105), S. 28, 197, 267, 280. 110 Marie Louise von Wallersee, Kaiserin Elisabeth und ich, Leipzig 1935, S. 15.

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Rolle der fürsorglichen Mutter, guten Ehefrau und Patriotin. Hamann allerdings ist der Meinung, dass es der explizite Wunsch Elisabeths war, nach Madeira zu reisen, und zu den Auslösern ihres schlechten Gesundheitszustandes neben Nervenkrisen, Hungerkuren sowie Schwangerschaften eine Ehekrise gehörte.111 Letztere versucht BlankEismann so oft es geht zu entkräften und stellt lediglich die Schwiegermutter der Kaiserin und die Regierungsgeschäfte des Kaisers als konfliktverursachende Momente dar, während außereheliche Liebschaften des treuen Kaisers ignoriert werden. So stellt sich die Affäre mit einer Balletttänzerin als Missverständnis heraus und Katharina Schratt ist lediglich Freundin und Kameradin. Dadurch kann bezeugt werden, dass eine aus Liebe geschlossene Ehe bis zum Ende von Zuneigung der Partner erfüllt ist und Elisabeth und Franz eine solch gute Ehe durchlebten. Allerdings weiß die Forschung, dass die Beziehung nicht einmal so unbeschwert begann, wie es der Roman zeigt. Das Kennenlernen der beiden lief nicht ungezwungen in der Natur, sondern in steifer, verlegener Stimmung im Kreis der Verwandtschaft ab.112 Ein harmonischer Beginn der Ehe wird inszeniert, indem Blank-Eismann eine strahlende ausgelassene Sisi auf dem Weg zu ihrem Bräutigam schildert, die sich jedoch im wahren Leben anstatt die Märchenbrautfahrt zu genießen, schüchtern und ängstlich verhielt.113 Darüber hinaus darf man von Liebschaften des Kaisers bereits ab der Zeit um 1860 ausgehen, darunter die seit 1875 geführte, gut belegte sexuelle Beziehung zu Anna Nahowski. Hamann spricht durchaus von einer „Schwäche [Franz Josephs] für das weibliche Geschlecht“.114 Daneben betont die Historikerin, dass sich das Verhältnis der beiden im Laufe der Jahre verschlechterte, so dass „diese Abgründe […] nur notdürftig durch äußere Freundlichkeit und höfliche Formen zu kaschieren [waren].“115 Dennoch blieb die Liebe des Kaisers zu seiner Frau, wie im Roman geschildert, über die Jahre erhalten, während Elisabeth, die „[in] Wirklichkeit […] die Liebe [hasste]“, in den späten 1880er Jahren „längst keine Liebe mehr […] an Franz Joseph band, sondern Mitleid mit dem einsamen Mann, mit dem sie nicht mehr zusammenleben wollte und konnte“.116 Blank-Eismann stellt somit die Ehe des Kaiserpaares, trotz einiger wahrer Elemente stark euphemistisch dar, was ihr Motiv der Heirat aus Zuneigung, welche ewige Liebe garantieren soll, unterstreicht. Um das Mythem der „guten Mutter“ zu betonen, schreibt der Roman Elisabeth mehr liebevolles Engagement hinsichtlich ihrer Kinder zu als nachweisbar ist. Dass Blank-Eismann die älteste Tochter zu Hause bei der Kaisermutter und nicht, wie in der Realität, auf der Reise nach Ungarn sterben lässt, zeigt wie wichtig es der Autorin war, Elisabeths Mutterqualitäten zu betonen und Sophie zu verurteilen. Als im Roman ihre 111 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 134–140. 112 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 29; Blank-Eismann, Sissi (wie Anm. 104), S. 6–8. 113 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 60–63; Blank-Eismann, Sissi (wie Anm. 104), S. 10. 114 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 134, 368, 487. 115 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 369. 116 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 391–398, 492.



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Tochter Gisela Elisabeth von ihren Heiratsplänen erzählt, fällt der Kaiserin auf, dass sie ihre Kinder in den letzten Wochen – eine nicht allzu langen Dauer – vernachlässigt habe. In Wahrheit aber war es die Kaiserin selbst, die sich um einen geeigneten Ehemann für ihre 15-jährige Tochter kümmerte. Jedoch wohl nicht aus allzu großer Liebe zu ihrem Kind, denn es ist kein Wort Elisabeths überliefert, worin sich eine liebevolle Zuneigung zu Gisela gezeigt hätte.117 Entsprechend der (konstruierbaren) historischen Realität findet die Verlobung Rudolfs im Roman später als jene Giselas statt, und wird dazu verwendet, eine geläuterte Elisabeth zu präsentieren, die aus ihren Fehlern gelernt hat und sich nun für Rudolfs eheliche Zukunft interessiert. Allerdings ist Hamann der Meinung, dass die Kaiserin von der Verlobung Rudolfs lediglich in Kenntnis gesetzt wurde.118 Für Elisabeths Mütterlichkeit und Barmherzigkeit steht im Roman ihre Aufnahme der elternlos gewordenen Nichte Marie. Allerdings starben Maries Eltern in Wirklichkeit erst, als diese bereits über dreißig Jahre alt war. Marie als Waise hinzustellen dient dazu, neben der Betonung von Sissis Engagement für Arme und Verwundete, ihre fürsorgliche Seite hervorzuheben.119 Weitere Charaktereigenschaften, die Blank-Eismann Elisabeth zuschreibt, stellen jene der Empathie und Einsamkeitsliebe dar. Diese werden besonders bei den Treffen zwischen Elisabeth und Ludwig, welche einen realen Hintergrund besitzen, herausgestellt.120 Während die Freundschaft zu Ludwig ausführlich beleuchtet wird, verzichtet die Autorin auf die Erwähnung von Elisabeths freundschaftlichen Kontakten zu weiteren Männern. Interessanterweise wird ihr Engagement für Ungarn und die damit verbundene Beziehung zu Andrássy nicht beachtet, wohl, weil politisches Engagement zu der Erscheinungszeit des Romans nicht zu den Hauptaufgaben einer Frau gehörte und die Beziehung mit dem ungarischen Magnaten, Exilanten und späterem ungarischen Ministerpräsidenten die Konstruktion der idealen Mutter und liebenden Gattin konterkariert hätte. Gleichermaßen bleibt der Jagdreiter Bay Middleton unberücksichtigt, dessen Wegfall als Pilot, und nicht ein Unfall, laut Hamann dazu führte, dass der Kaiserin das Reiten keinen Spaß mehr bereitete und sie die Reitjagd unvermittelt aufgab.121 Insgesamt zeichnet der Roman das Bild einer liebenden Frau, welche trotz großer Widerstände die Interessen ihres Mannes und ihrer Kinder über alles stellt und dabei ihr Lebensglück findet.

117 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 291–293; Blank-Eismann, Sissi (wie Anm. 104), S. 134–136. 118 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 355. 119 Sokop, Jene Gräfin Larisch (wie Anm. 52), S. 548. 120 Blank-Eismann, Sissi (wie Anm. 105), S. 137–140. 121 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 357.

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2 Die Kaiserin als verhinderte Mutter und erbkranke Frau in der „Berliner Morgenpost“ Die während der Zeit des Nationalsozialismus dem Zentralverlag der NSDAP unterstellte „Berliner Morgenpost“122 veröffentlichte am 19. Dezember 1937 den von Hilde R. Lest verfassten Beitrag „Die Kaiserin, die niemand alt kannte“.123 Obwohl Elisabeth zuerst als eitle Frau beschrieben wird, die „eine krankhafte Furcht vor dem Altern“ hatte, möchte der Artikel in seiner Ganzheit doch deutlich zur Sympathie mit der Kaiserin hinreißen. Märchenhaft wird die Vorgeschichte der Ehe zwischen Elisabeth und Franz Joseph geschildert: „[…] [W]ie es einst im Märchen vorkam […], wenn zwei besorgte Mütter ein Heiratskomplott schmieden, nahm auch hier der Prinz, der […] sein Herz auf den ersten Blick an ein Aschenbrödel verlor, sein Schicksal selbst in die eigenen Hände. Als Franz Joseph […] in einem Salon wartete, tat sich die Tür auf und herein trat ein bildschönes Mädchen im kurzen, weißen Kleide, mit Blumen im Haar und einem Blumenstrauß in den Händen.“ Bezaubert von der Erscheinung der jungen Elisabeth und entzückt von ihrer Natürlichkeit soll der Kaiser sich dafür eingesetzt haben das „Schulmädchen“ anstatt derer nun enttäuschter Schwester Helene zu ehelichen. Als die bayrische Prinzessin dann mit dem Brautschiff nach Wien gekommen sei, hätten ihr die Völker Österreichs „Die Braut ist die allerschönste Frau in der ganzen Christenheit“ zugerufen. Von einem schweren Schicksal, das Elisabeth mit dem Ja-Wort auf sich nahm, ist im Anschluss die Rede. Begründet wird dies einerseits damit, dass das Mädchen nicht für das Leben am Hof erzogen worden sei und andererseits mit der Bevormundung durch ihre „herrschsüchtige, bigotte Schwiegermutter […], die man einst in den Straßen Wiens ausgepfiffen hatte [und nun] […] voller Eifersucht [sah], wie Elisabeth dank ihrer strahlenden Schönheit und Liebenswürdigkeit, die Zuneigung des Volkes und namentlich der für sie geradezu fanatisch begeisterten Ungarn mehr und mehr gewann.“ Die Erzherzogin habe nicht nur „[k]leine Etikettenverstöße“ aufgebauscht, sondern sich zudem in die Erziehung der Kinder eingemischt. Nach anfänglich glücklichen Ehejahren hätten sich die Eheleute aufgrund Elisabeths „komplizierten Seelenleben[s]“ – das als typisch für die „erblich belastet[e]“ Familie der Wittelsbacher bezeichnet wird – entfremdet. Infolgedessen hätte das „Nomadenleben“ der Kaiserin mit unzähligen Reisen begonnen, das sie jedoch nicht angetreten habe, ohne zuvor eine Gesellschafterin für ihren Gemahl – namentlich Katharina Schratt – zu organisieren. Ein Konglomerat an tragischen Schicksalsschlägen führte laut Lest schließlich dazu, dass der Kaiserin das „Dasein zur Qual“ wurde, ihre Gesundheit, die ohnehin bereits unter jahrelanger Diät gelitten 122 Gerhard Fischer, 100 Jahre „Berliner Morgenpost“, online: www.luise-berlin.de/bms/ bmstext/9809gesa.htm [16.05.2013]. Die „Berliner Morgenpost“ zählte 1939 440.000 Auflagen: Rudolf Stöber, Deutsche Pressegeschichte. Einführung, Systematik, Glossar, Konstanz 2000, S. 159. 123 Hilde R. Lest, Die Kaiserin, die niemand alt kannte. Am 24. Dezember wäre Elisabeth von Österreich hundert Jahre alt geworden, in: Berliner Morgenpost 19. Dezember 1937.



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habe, untergraben wurde und sie als „Dame in Schwarz“ umherreiste. „[D]ie Gegenwart fremder Menschen und auch die ihres Gatten […] [waren] ihr lästig.“ Schließlich „führte ein Extrazug ihren Leichnam für immer nach Wien zurück.“124

Abbildung 3: Von der „Berliner Morgenpost“ 1937 abgedruckte Fotografie der Elisabeth von Österreich

Dem Artikel beigefügt ist eine Abbildung Elisabeths, die sie bis zur Brust in einem weißen Rüschenkleid mit dezentem V-Ausschnitt, Perlenhalskette und hoch gestecktem Haar zeigt. Es handelt sich hierbei um eine um 1898 von Carl Pietzner überretuschierte, ursprünglich Mitte der 1860er Jahre von Ludwig Angerer aufgenommene und somit zu den spätesten gewollten Abbildungen der Kaiserin zählende Fotografie. Das Bild stellt einen Bezug her zwischen dem einstigen bildschönen Mädchen im

124 Lest, Die Kaiserin, die niemand alt kannte (wie Anm. 123).

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weißen Kleid und der Kaiserin, die sich aus Eitelkeit „in reiferen Jahren“ weder malen noch fotografieren ließ.125 Die im Artikel enthaltenen Mytheme spiegeln eine Reihe von Ideen aus der NS-Zeit wider. So entspricht das von Elisabeth bis zu ihrer Hochzeit gezeichnete Bild der Vorstellung der Nationalsozialisten, die Frau stehe dem Kind besonders nahe. Dafür spricht unter anderem die Bezeichnung der immerhin 15 Jahre alten Prinzessin als „Schulmädchen“ und die Beschreibung ihres Auftretens wie das eines „Blumenmädchens“.126 Eine glückliche Ehe ist jedoch durch Elisabeths erblich bedingtes kompliziertes Seelenleben auf Dauer nicht möglich. Diese Aussage trägt das Kolorit der NS-Zeit, welche geprägt war von der Vorstellung, „die ‚Volksgemeinschaft‘ [sei] von ‚minderwertigen‘, ‚rassenfremden‘ oder ‚erbkranken‘ Elementen zu ‚säubern‘“127. Ein Nomadenleben beginnt die Kaiserin allerdings nicht ohne an ihren Mann zu denken und ihm zu seiner Aufheiterung eine Gesellschafterin an die Seite zu stellen. Laut NS-Ideologie gehörte die Unterhaltung des Mannes schließlich zu den Aufgaben einer Frau.128 Dass die schweren Schicksalsschläge, welche sich in Elisabeths Familie ereigneten, für beträchtliche seelische und gesundheitliche Erschütterungen sorgten, entspricht ebenso der nationalsozialistischen These „die Frau sei kein rational bestimmtes, sondern ein durch und durch emotionales Wesen“.129 Zieht man Brigitte Hamanns Biographie zum Vergleich mit dem Artikel heran, fallen sowohl Parallelen als auch Abweichungen auf. Vor allem bezüglich der ungeplanten Verlobung dichtet Lest märchenhafte Elemente hinzu. Statt im „kurzen weißen Kleide“, das die Darstellung des sorglosen Mädchens vom Lande unterstreicht, erblickte der Kaiser Sisi im Kreise mehrerer Verwandten in einem einfachen schwarzen Trauerkleid. Dass die für den Kaiser auch in der Realität angenommene „Liebe auf den ersten Blick“ erwähnt wird, entspricht Hitlers Präferenz für den Vollzug von Liebesheiraten.130 Die in den Artikeln geschilderte Begeisterung der Menschen, welche der zukünftigen Kaiserin bei ihrer Ankunft in Österreich zu Teil wurde, wird von Hamann bestätigt.131 Ihre „Beliebtheit bei der Bevölkerung“ nahm wohl in den ersten Ehejahren durchaus zu, bevor sie in den frühen 1860er Jahren aufgrund seltsamer Krankheiten und weiter Reisen der Kaiserin umschlug.132 So kann insgesamt nicht davon die Rede sein, dass Sisi „die Zuneigung des Volkes […] mehr und 125 Fischer-Westhauser, „Elisabeth“ (wie Anm. 4), S. 136. 126 Lest, Die Kaiserin, die niemand alt kannte (wie Anm. 123). 127 Ulrich von Hehl, Nationalsozialistische Herrschaft (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 39), München 1996, S. 22. 128 Dorothee Klinsiek, Die Frau im NS-Staat. Stuttgart 1982 (=Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte Nr. 44), S. 25f. 129 Klinksiek, Die Frau im NS-Staat (wie Anm. 128), S. 24. 130 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 25–33; Lest, Die Kaiserin, die niemand alt kannte (wie Anm. 123). 131 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 58–63. 132 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 102, 159.



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mehr“ gewonnen habe.133 Lest hat hier wohl nachgebessert, um Elisabeth im Gegensatz zu ihrer Tante als volksnah zu charakterisieren. Gleichermaßen legte auch Hitler Wert darauf, sich mit kleinbürgerlichen Tugenden wie Bescheidenheit und Freundlichkeit gegenüber Kindern und Erwachsenen aus dem Volk volksnah zu präsentieren.134 Während Hamann eine Ehekrise im Winter 1859/60 zu den Auslösern einer Nervenkrise der Kaiserin zählte, welche wiederum neben ständigen Hungerkuren zu einer extremen Verschlechterung von Elisabeths Gesundheitszustand geführt hätte, verschweigt der Artikel von 1937 den Beitrag der Liebschaften Franz Josephs zu dem Gemütszustand seiner Frau.135 Umso relevanter erscheint dadurch der Einfluss der Vererbung auf die Entfremdung der Eheleute. Die Geschichtswissenschaft geht von einer Unterstützung des Verhältnisses zwischen Katharina Schratt und dem Kaiser von Seiten Elisabeths aus. Allerdings bahnte sich diese Beziehung erst Mitte der 1880er Jahre an und somit – anders als in der „Berliner Morgenpost“ suggeriert – erst zwanzig Jahre nach Beginn ihrer langen Reisen.136 Indem Lest diese Beziehung auf ihre Art erwähnt, kann sie den aufkommenden Verdacht, Elisabeth sei eine schlechte Ehefrau gewesen, zumindest teilweise entkräften. Somit ergibt sich schließlich das Bild Elisabeths als ein einst unschuldiges Mädchen, deren vererbtes Seelenleben zu einer Entfremdung von ihrem Mann, einer Reihe von Schicksalsschlägen und ihrer Vereinsamung führten, wobei sie trotz ihres Dranges zu reisen das Bedürfnis ihres Mannes nach einer Gesellschafterin nie vergaß.

3 Die „fromme“ Kaiserin im „Eichstätter Kurier“ Am 27. Dezember 1937 erschien im „Eichstätter Kurier“ eine Anzeige, die aus einer Fotografie der Kaiserin, welche Elisabeth bis zur Brust mit hoch gestecktem Haar, schwarzem, hochgeschlossenem Kleid und einer Kette mit großem Kreuzanhänger zeigt, sowie folgendem Satz bestand: „Am 24. Dezember jährte sich zum 100. Male der Geburtstag der einstigen Kaiserin von Österreich, Elisabeth, die im Jahre 1898 in Genf von einem Anarchisten ermordet wurde.“ Während die geschriebenen Zeilen sehr neutral gehalten sind, gibt die Auswahl des Fotos, welches gleichermaßen von der „Germania“ abgedruckt wurde, Spielraum für Interpretationen. Es handelt sich um die letzte Atelier-Photographie der Kaiserin, welche Ende der 1860er Jahre von Ludwig Angerer aufgenommen und beim Tode der Kaiserin 1898 von Carl Pietzner

133 Lest, Die Kaiserin, die niemand alt kannte (wie Anm. 123). 134 Eckart Dietzfelbinger, Der Beitrag der Medien zur Faszination des Nationalsozialismus, in: Kathrin Demmler u.a. (Hrsg.), Medien bilden – aber wie? Grundlagen für eine nachhaltige medienpädagogische Praxis, München 2009, S. 173–181. 135 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 134–139. 136 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 369, 482–511.

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überretuschiert wurde.137 Das Bild zeigt Elisabeth als fromme, trauernde Frau. Möglicherweise kommt in der Auswahl des Motivs der gläubigen Elisabeth stiller Protest gegen die antikirchlichen Repressionen des NS-Regimes, welche sich spätestens 1937 als systematisch erwiesen, zum Ausdruck.

Abbildung 4: Vom „Eichstätter Kurier“ 1937 abgedruckte Fotografie der Elisabeth von Österreich

137 Gertrude Aretz, Kaiserin Elisabeth von Österreich in zweihundert Bildern, Wien/Leipzig 1938, Abb.177; Fischer-Westhauser, „Elisabeth“ (wie Anm. 4), S. 134f.



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4 Elisabeth – Die Unverstandene im Erinnerungsbuch von Gertrude Aretz Das 1938 vom Bernina-Verlag (Wien-Leipzig) veröffentlichte und von Gertrude Aretz (1889–1938) verfasste Erinnerungsbuch „Kaiserin Elisabeth von Österreich in zweihundert Bildern“ gibt laut „Germania“ „einen tiefen Blick in die unruhevolle, vom Leiden geformte Seele der Kaiserin“. Dass die Autorin Bilder sprechen lässt, wird als „sehr guter Gedanke bezeichnet, weil ja die äußere Erscheinung dieser edlen Frau uns heutigen viel, sehr viel zu sagen“ habe.138 Aretz entwirft das Bild einer „seltsame[n] Frau“, die sich einerseits durch Schönheit, Anmut, warme Menschlichkeit, Großzügigkeit, Bescheidenheit, eine romantisch und poetisch veranlagte Natur und nie versagende Liebenswürdigkeit auszeichnete, der jedoch andererseits ein unruhevolles, unglückliches Leben mit durch inneres Leid verursachter Vergeistigung, verschleierter und im Schmerz gestählter Seele sowie einem tragischen Tod beschieden waren. „Die schönste Frau, die auf einem Throne saß“ habe ihre glücklichste Zeit als Kind in Possenhofen am Starnberger See verbracht. Sissy, die als Mädchen nicht besonders hübsch gewesen sein soll, sei in einem „Kinderparadies“ fernab von höfischen Zwängen aufgewachsen. Allerdings bleibt das „innerlich unharmonische[…] Zusammenleben […] der Eltern“ nicht unerwähnt. Anstelle der von der Kaisermutter – die sich durch einen „fast männliche[n] Geist und [durch] männliche[…] Entschlossenheit“ auszeichnet – auserwählten älteren Schwester habe sich der österreichische Kaiser seinem Herzen folgend gegen seiner Mutter Willen für eine Heirat mit der liebreizenderen Sissy entschieden. Das 16-jährige Mädchen habe laut Aretz zu diesem Zeitpunkt bereits eine unglückliche Liebe hinter sich gehabt und hätte in ihren Gedichten erste Anzeichen von Melancholie. Bevor sie die von jubelnden Menschen begleitete Reise nach Wien angetreten habe, sei Sisi der Abschied von Possenhofen ihr schwer gefallen. Unzufrieden mit der Wahl ihres Sohnes habe die „formstrenge“ Schwiegermutter die Hochzeitspredigt manipuliert, um Sissy zu diskreditieren. Darüber hinaus habe sie „ihre Macht in einer Weise aus[geübt], die Elisabeth bis ins Innerste verletzt“ und ihre Schwiegertochter am Frühstückstisch das erste Mal zum Weinen gebracht habe.139 Aretz weist der Kaisermutter die Schuld daran zu, dass sich Sisi nicht dem höfischen Zeremoniell gefügt habe. Die Versuche Elisabeths, dem Hofleben zu entfliehen, haben Sophie gescholten, was die junge Kaiserin sehr betrübt habe. Da Sisi ihr erstes Kind entzogen und in die Obhut der Großmutter gegeben worden sei, habe die Kaisein die Lust verloren, sich um die Erziehung ihrer Tochter zu kümmern und sich infolgedessen anderen Beschäftigungen zugewandt. Die Liebe zu Musik, Literatur, Natur, Reisen, Turnen, Spazierengehen und 138 Max Domschke, Der Schicksalsweg einer Kaiserin, in: Germania 67, 1937, Nr. 356. Nähere Angaben zur Autorin können aufgrund ihrer bisherigen Vernachlässigung in der Forschung nicht gemacht werden. 139 Aretz, Kaiserin Elisabeth von Österreich (wie Anm. 137), S. 24f.

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Reiten sowie die Begeisterung für Hunde, den Zirkus, die ungarische und griechische Sprache hätten Elisabeth ausgezeichnet, während ihr Gemahl als nüchtern, praktisch denkend und pflichtgetreu beschrieben wird. Sie sei ihrer Zeit vorausgeeilt und dies hätte ihre Umgebung veranlasst, Elisabeth exzentrisch und launenhaft zu finden. Kennzeichen der Kaiserin seien ihre elegante Kleidung und ihr sorgfältig gepflegtes Haar gewesen. Da sie in politischen Dingen nicht ernst genommen worden sei, habe sich Elisabeth – die beim Volk große Beliebtheit genossen habe – von solchen Dingen ferngehalten. Als Elisabeth zu Sophies Missgunst eine zweite Tochter zur Welt brachte, hätte sie laut Aretz ihren Willen durchsetzen und die Kinderzimmer in ihre Nähe verlegen können. Bei einer Reise nach Italien wäre es Elisabeth gelungen die Sympathien des österreichfeindlichen Volkes durch ihre Erscheinung zu gewinnen. Die darauffolgende Ungarnreise, auf der sie triumphal begrüßt worden sei, habe Elisabeth aufgrund des sie erschütternden Todes ihrer ältesten Tochter unterbrochen. Einen Freudenrausch bei Land und Kaiser habe die bald darauf folgende Geburt des Thronfolgers ausgelöst. Allerdings seien seine Erziehung und Pflege wiederum Thema der Auseinandersetzungen zwischen der Kaiserin und ihrer Schwiegermutter gewesen. Schließlich hätten die „vielen Erschütterungen des Gemüts“ zu einer Krankheit von Elisabeths Seele geführt. Aufgrund ihrer Diffamierung am Wiener Hofe habe sich die inzwischen 23-Jährige der Gesellschaft entzogen. Unter dem Vorwand einer Krankheit sei sie nach Madeira geflüchtet, wo sich Sisi nach ihrem Gatten, den Kindern und ihren Familienmitgliedern aus Possenhofen gesehnt hätte. Elisabeth habe anschließend in Venedig, Kissingen und Possenhofen verweilt, bevor sie das Volk bei ihrer Rückkehr nach Wien mit frenetischer Begeisterung empfangen habe. Da „Sophie durch die lange Abwesenheit Elisabeths die Kinder jetzt vollends an sich gerissen hat“, habe Sisi, der Streitereien überdrüssig, schweren Herzens aufgegeben, um ihren Nachwuchs zu kämpfen. Des Weiteren erwähnt Aretz den Kontakt zwischen Elisabeth und Ludwig II., dessen aufgebahrten Leichnam sie Jahre später inkognito aufsuchte. Nach dem für Österreich verlorenen Krieg von 1866 sei sie ihrem Mann und den Verwundeten zur Seite gestanden. „Sie ist wie verwandelt, wie immer, wenn sie eine Gefahr zu bekämpfen hat. Dann greift sie tatkräftig zu, wo es zu helfen gilt. […] Sie übt die Samariterdienste wirklich aus, nicht in der üblichen Weise fürstlicher Wohltäterinnen […].“ Die Autorin ist zudem der Meinung, Elisabeth habe sich beim Kaiser erfolgreich für die Ungarn eingesetzt, was sie in Österreich allerdings unbeliebter gemacht habe. Im Jahr 1868 habe Elisabeth in Ungarn eine Tochter geboren, deren Erziehung nun sie allein übernommen habe. Als die Schwiegermutter im Sterben lag, soll Elisabeth Mitleid empfunden haben mit „der Frau, die ihre Jugend verbittert hat“. Dabei habe „Elisabeth […] erkannt, wie nichtig aller Glanz und äußere Würden sind.“ In Bezug auf die Verheiratung Rudolfs ist bei Aretz folgendes zu lesen: „Elisabeth kämpft vergebens für den Sohn um eine Frau, die seinem Herzen nahesteht.“ Dabei habe sie wieder einmal gezeigt, dass sie für ein „freie[s] Menschentum“ eingestanden sei. Mit dem Tod ihres Vaters 1888 sei „ein Stück ihres eigenen Lebens entschwunden“. Kurz darauf habe die Verlobung ihrer geliebten Tochter Marie Valerie



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zum seelischen Unwohlsein der Kaiserin beigetragen. Als sich der Thronfolger 1889 das Leben nahm, habe das Kaiserpaar gleichermaßen mit tiefer Erschütterung reagiert. Tiefverschleiert, „wie eine Mater dolorosa“, habe Elisabeth im Glauben an das Mystische heimlich und doch erfolglos die Kapuzinergruft aufgesucht, um mit ihrem toten Sohn in Kontakt zu treten. „Von nun an wird Elisabeth die unstete Weltreisende durch Meere und Länder. […] Sie legt die Farbe der Trauer nie mehr ab.“ Die Autorin ist entgegen mancher Verlautbarungen zu Lebzeiten der Kaiserin davon überzeugt, dass lediglich das Gemüt der Kaiserin krank gewesen sei, während sie sich durch einen gewohnt klaren Geist ausgezeichnet habe. Erneut sei Elisabeth 1890 mit dem Tod ihrer Schwester Helene und jenem ihres „besten Freund[es], den sie je gehabt“, namentlich Andrássy, „geprüft“ worden. Betrübt hätte Elisabeth 1890 die Hochzeit ihrer Lieblingstochter zur Kenntnis genommen. Ablenken hätte sich die Kaiserin auf ihren zahllosen Reisen wollen, bei denen es besonders einem Griechischlehrer, dem „kühlen Engländer“ Frederic Barker, gelungen sei, sie zu unterhalten. Ebenfalls für eine Aufhellung ihrer „dunkle[n] Seele“ hätte laut Aretz der Besuch bei Valerie und deren Kindern gesorgt, wo sich Elisabeth „von einer neuen bezaubernden Seite als Großmutter“ gezeigt habe. Trauer habe die Kaiserin erneut im Jahre 1897 heimgesucht, als ihre Schwester Sophie bei einem Brandunglück in Paris ums Leben kam. Auf den, auf Elisabeth schließlich verübten tödlichen Anschlag habe der Kaiser mit tiefer Trauer reagiert. Aretz schließt ihr Werk mit den Worten: „Elisabeth, die der Welt in den letzten Jahren ihres Lebens als Repräsentantin eines großen Reiches fast ganz entschwunden war, lebt nach ihrem Tode in der Erinnerung aller, und wie kaum einer anderen Fürstin gehört von da an die ganze Liebe der Menschen ihr, der Unglücklichen und so wenig Verstandenen.“ Letzteres Zitat wirbt offensichtlich um Verständnis für die Kaiserin und möchte Elisabeth abschließend als sympathische Frau charakterisieren. Zahlreiche in der 100-seitigen Einleitung des Buches aufgegriffene Aspekte verweisen auf die Zeit seiner Erscheinung: Deutlich erkennbar wird die für die Veröffentlichung eines Werks zu dieser Zeit notwendige Vereinbarkeit des Inhalts mit den Ansichten des Regimes, wenn die Autorin über Elisabeths niedergedrückte Stimmung in Folge des verlorenen Krieges von 1866 schreibt.140 Die Kaiserin habe am meisten einen „schmachvollen Frieden“ befürchtet. „Lieber in Ehren zugrunde gehen, als einen solchen abschließen, ist ihre Ansicht nach der Schlacht.“141 Hierin ist eine deutliche Parallele zu einer Äußerung Hitlers von 1941 auszumachen. Im Sinne der Parole „Sieg oder Untergang“ äußerte der Diktator, dass das deutsche Volk, im Falle seines Versagens, untergehen müsse. Ein „schmachvoller Frieden stand folglich für Hitler ebenso wie für die Kaiserin in Aretz‘ Einleitung nicht zur Debatte.142 Zuweilen weisen die Beschreibungen der Kaiserin erstaunliche Parallelen zum menschlichen 140 Hildebrand, Das Dritte Reich (wie Anm. 102), S. 242–245. 141 Aretz, Kaiserin Elisabeth von Österreich (wie Anm. 137), S. 50. 142 Hildebrand, Das Dritte Reich (wie Anm. 102), S. 79.

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Idealbild der Nationalsozialisten auf. Entsprechend den Olympia-Dokumentationsfilmen „Fest der Völker“ und „Fest der Schönheit“ Leni Riefenstahls von 1937/38, die stählerne Körper zur Schau stellen, spricht auch Aretz vom „stählerne[n] Organismus“ der Kaiserin und davon, dass beim Reiten die „Gefahr […] eher ihren Mut [erhöht], als [gedämpft ] […]“ habe. Elisabeth erscheint als kühne Sportlerin, gerade so, wie Hitler den idealen menschlichen Organismus in einer Rede vor der Hitlerjugend propagierte: „Schlank und rank, flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl […].“143 Ebenso schreibt Aretz der Kaiserin zu, „den Fluch der Vererbung“ in Rudolfs Tat gesehen zu haben.144 Dies entspricht der Betonung Lests, Elisabeth stamme aus einer erblich belasteten Familie. Dem Buch lassen sich, trotz Elisabeth als Sympathieträgerin aus dem Hochadel, eine Reihe von anti-adeligen Nuancen entnehmen. So ist die Autorin der Ansicht, dass fürstliche Wohltäterinnen – anders als Elisabeth nach dem Krieg von 1866 – „sich begnügen, durch die Krankenhäuser an den Betten vorüberzueilen und hier und da an einen der Kranken die vorgeschriebene Frage zu richten, um verständnislos für Menschen und Leiden, zum nächsten zu eilen“.145 Darüber hinaus habe „Elisabeth […] erkannt, wie nichtig aller Glanz und äußere Würden sind“.146 Aretz betont zudem, dass Reichtum und hohe Stellung Elisabeth nie glücklich gemacht hätten und die Kaiserin lediglich habe Mensch sein wollen.147 Dies entspricht einer Meinungsäußerung Hitlers – der sich prinzipiell in Bezug auf seine negative „Einstellung“ zum Adel eher bedeckt hielt – in seinem Buch „Mein Kampf“, in welchem er „die ‚Ergebnisse einer Fortpflanzung‘„ […] [anprangert, die einerseits] ‚auf rein gesellschaftlichem Zwang‘, […] [andererseits] ‚auf finanziellen Gründen‘„ beruhten.148 Aretz hebt diese Kritik auf eine emotionale Ebene, indem sie genau die beiden Aspekte gesellschaftliche Stellung und Reichtum aufgreift, wobei erstere zu Elisabeths persönlichem Unglück geführt habe, während letzterer von der Kaiserin nicht geschätzt worden sei. Die Ausführungen der Autorin legen darüber hinaus nahe, Elisabeth habe von ganzem Herzen ihre Mutterrolle für ihre ersten drei Kinder übernehmen wollen, den Kampf um ihren Nachwuchs allerdings gegen ihre Schwiegermutter verloren. Nur im Falle ihrer jüngsten Tochter Marie Valerie habe die Kaiserin die alleinige Erziehung übernommen und folglich sei ihre „Mütterlichkeit zur vollen Entfaltung und Reife“ gekommen. Der Entzug ihrer Kinder wird als Auslöser für Elisabeths vergebli143 Aretz, Kaiserin Elisabeth von Österreich (wie Anm. 137), S. 62, 86; Wiebke Brauer, RiefenstahlFilme. Die Frau, die den perfekten Nazi-Körper schuf, online: einestages.spiegel.de/external/ShowTopicAlbumBackground/a1829/l4/l0/F.html [28.07.2013] 144 Aretz, Kaiserin Elisabeth von Österreich (wie Anm. 137), S. 76. 145 Aretz, Kaiserin Elisabeth von Österreich (wie Anm. 137), S. 50. 146 Aretz, Kaiserin Elisabeth von Österreich (wie Anm. 137), S. 57. 147 Aretz, Kaiserin Elisabeth von Österreich (wie Anm. 137), S. 95. 148 Andreas Dornheim, Adel in der bürgerlich-industrialisierten Gesellschaft. Eine sozialwissenschaftlich-historische Fallstudie über die Familie Waldburg-Zeil, Frankfurt am Main 1993, S. 263.



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che Suche nach Glück und Frieden gehandelt. So heißt es: „Wie gern wäre Elisabeth auch ihren andern Kindern eine solche Mutter gewesen. Und hätte sie diese Erfüllung gleich anfangs gekannt, vielleicht wäre sie nie die rastlose Weltwanderin geworden.“ Aretz fügt ihrem Werk folglich das Mythem der verhinderten Mutter bei. Elisabeth wäre es zu ihrem eigenen Schaden lange Zeit verwehrt worden, ihre nach der nationalsozialistischen Anschauung eigentliche Aufgabe und Pflicht als Mutter wahrzunehmen. Eine liebende Mutter sei sie dennoch stets gewesen. Dies möchte Aretz mit verschiedenen Schilderungen bezeugen. Zum einen schreibt sie über Sisis Freude anlässlich des Besuchs ihrer Kinder in Venedig. Zum anderen verdeutlicht die Autorin ihre Sichtweise, indem sie über den Einsatz der Kaiserin für eine glückliche Ehe ihres Sohnes berichtet. Gemäß der NS-Ideologie, nach der die Frau dem Mann die Verantwortung für Politik, Gemeinschaft und Erwerb zu überlassen habe, ist auch Aretz der Meinung Elisabeth habe „weder eine politische Persönlichkeit sein noch überhaupt in der Öffentlichkeit eine Rolle spielen“ wollen. 149 Eine weitere Funktion, die Elisabeth laut Aretz gerne erfüllt hätte, wäre jene von den Nationalsozialisten propagierte „natürliche[…] Aufgabe[…] als […] verständnisvolle Kameradin des Mannes“. In diesem Sinne habe Sisi ihrem Mann immer und besonders in Kriegszeiten beigestanden. Auch nach dem Tod des Thronfolgers habe die Kaiserin ihren Gemahl zu stützen vermocht. „Elisabeth steht bei ihm und zu ihm, wenn er sie braucht, auch wenn sie abwesend ist.“ Diese These stützt darüber hinaus die Bemerkung der Autorin, auf ihren Reisen sei Elisabeth stets sehr glücklich über Besuche des Kaisers gewesen. „Sie erwartet ihn ungeduldig und macht die verschiedensten Pläne, wie man ihn unterhalten könnte.“ Als Zeichen der Hingabe Elisabeths für Franz Joseph gibt die Autorin an, die Kaiserin habe geäußert, dass sie ihren Mann nicht überleben wolle, da sie diesen Schicksalsschlag nicht ertragen könne. Schließlich habe die Kaiserin ihrem pflichtgetreuen und ritterlichen Mann, den „nicht einmal das lange Alleinsein zu anderen Frauen führt“ für die Zeit ihrer langen Abwesenheit eine „Geistesfreundin“ vermittelt.150 Vielfach schmückt die Autorin Ereignisse so detailliert aus, als wäre sie selbst dabei gewesen, wodurch ihre Aufzeichnungen an Seriosität verlieren. So glaubt Aretz zu wissen, dass sich im Rahmen der Brautwerbung in Ischl „Sissys Gesicht […] [mit] flammender Röte [überzieht] als sich […] [Franz Josephs] Blicke mit den ihren begegnen.“151 Zwar wird die Ehe von Elisabeths Eltern als unglücklich dargestellt, die von Hamann erwähnten zahlreichen Affären und unehelichen Kinder des Vaters werden jedoch zugunsten der Darstellung der von der NS-Ideologie propagierten 149 Aretz, Kaiserin Elisabeth von Österreich (wie Anm. 137), S. 46, 53, 61; Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen bürgerlicher Verbesserung und neuer Weiblichkeit, Frankfurt am Main 1986, S. 200f. 150 Aretz, Kaiserin Elisabeth von Österreich (wie Anm. 137), S. 50, 69, 74, 80, 84; Klinksiek, Die Frau im NS-Staat (wie Anm. 128), S. 24. 151 Aretz, Kaiserin Elisabeth von Österreich (wie Anm. 137), S. 18.

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wahren Familiengemeinschaft verschwiegen.152 Grund für die unharmonische Ehe sei ihre Bestimmung als konventionelle Verbindung von außen gewesen. Dies unterstreicht wiederum die von Hitler kritisierte, auf gesellschaftlichem Zwang und finanziellen Gründen beruhende Heiratspraxis des Adels. Dennoch seien die aus dieser Ehe hervorgegangenen Kinder glücklich aufgewachsen, was als Vorbild für nicht allzu harmonische Mariagen gedacht sein könnte, trotzdem Kinder in die Welt zu setzen. Die Aussage, Sisi sei die „Lieblingstochter“ ihres Vaters gewesen, der viel Zeit mit ihr in der Natur verbracht habe, lässt sich durch Hamanns Biographie widerlegen.153 Hier soll bewusst eine Verbindung zwischen Elisabeth und ihrem Vater, der sich – wie seine Tochter – gerne „mit den einfachen Dorfleuten“ unterhalten und „sich gar nichts aus dem Hofleben“ gemacht habe, hergestellt werden. Er habe sich zudem nicht um Klassenunterschiede gekümmert und allen Prunk gehasst. Herzog Max und seine Tochter werden also trotz ihrer Zugehörigkeit zum Adel als sympathisch beschrieben, gerade weil sie die Zwänge ihres Standes ablehnen und sich den einfachen Leuten zuwenden.154 Demgemäß führt Aretz aus, dass Sisi unter den Hochzeitszeremonien gelitten hat. Anders als die jüngsten Forschungsergebnisse zeigen, habe jedoch erst die Schwiegermutter mit ihrem unerträglichen Zwang, den sie über die Braut ausgeübt habe, diese zum Weinen gebracht.155 Anstelle einer von Sophie manipulierten Hochzeitspredigt ist in Hamanns Biographie von einer „blumenreiche[n]“ Traurede und Begeisterung für Sisi von Seiten der Erzherzogin zu lesen. Dieses von Aretz kreierte Zerrbild Sophies verstärkt den negativen Eindruck, welcher der Schwiegermutter als Verkörperung des infernalischen höfischen Zwangs zukommen soll. Um Elisabeths Freiheitsliebe und Natürlichkeit sowie die grundlose Strenge der Schwiegermutter zu illustrieren, werden folgende, nicht belegbare Ereignisse beschrieben: Einkaufsbummel in Begleitung einer Hofdame, Kontakt zu Kindern einfacher Leute sowie die Verweigerung, sich dem Volk in schwangerem Zustand zu zeigen.156 Die Vorfälle am Todestag der Kaiserin schildern Aretz und Hamann nahezu auf die gleiche Weise, was wohl daran liegt, dass beide mit Gräfin Irma Sztáray dieselbe Quelle für ihre Ausführungen herangezogen haben.157 Zusammenfassend ergibt sich durch Aretz‘ Ausführungen ein Bild Elisabeths als einer körperlich gesunden, faktisch antiadeligen Frau, die ihrem Mann und ihrem 152 Klinksiek, Die Frau im NS-Staat (wie Anm. 128), S. 35; Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 33–36; Aretz, Kaiserin Elisabeth von Österreich (wie Anm. 137), S. 12f. 153 Aretz, Kaiserin Elisabeth von Österreich (wie Anm. 137), S. 11; Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 25f. 154 Aretz, Kaiserin Elisabeth von Österreich (wie Anm. 137), S. 11f. 155 Aretz, Kaiserin Elisabeth von Österreich (wie Anm. 137), S. 22–26; Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 57–71. 156 Aretz, Kaiserin Elisabeth von Österreich (wie Anm. 137), S. 28–30; Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 91. 157 Aretz, Kaiserin Elisabeth von Österreich, S. 88–93; Hamann, Elisabeth (wie Anm. 4), S. 589–592.



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Land treu zur Seite steht und deren zunehmende Rastlosigkeit und Vergeistigung auf die Verwehrung der Mutterrolle und erschütternde Schicksalsschläge zurückzuführen sind.

V Schlussbetrachtung Wirft man abschließend einen Blick auf die Manifestationen des Sisi-Mythos in der frühen Bundesrepublik, wird man unweigerlich mit der Kontinuität zur NS-Zeit konfrontiert. Neben der Sissi-Triologie des Regisseurs Ernst Mariscka, deren Filme „Sissi“ (1955), „Sissi, die junge Kaiserin“ (1956) und „Sissi – Schicksalsjahre einer Kaiserin“ (1957) auf dem zweiteiligen Roman von Marie Blank-Eismann beruhen158, stellt auch der Film „Königswalzer“ (1955) des Regisseurs Viktor von Tourjansky ein Remake eines gleichnamigen Films aus der NS-Zeit dar. Sowohl die „Süddeutsche Zeitung“ als auch die „Nürnberger Nachrichten“ und der „Donaukurier“ fanden ausschließlich positive Worte für Marischkas „Publikumserfolg“ mit „genau [der] […] richtige[n] Mischung: Kostüm und Kulisse, ein bisschen Komik und sehr viel Gemüt“.159 Die Konjunktur des aus der Zeit der Diktatur stammenden Elisabethmythos bezeugt auch die Tatsache, dass der „Donaukurier“ 1956 Blank-Eismanns Roman abdruckte. Lediglich Heinrich Benedikt verzichtet in seinem zu Elisabeth in der „Neuen Deutschen Biographie“ 1959 erschienenen Artikel auf Informationen deutscher Autoren aus der NS-Zeit, beruft sich aber dennoch auf Literatur aus der ersten Hälfte der 1930er Jahre.160 Diese Erkenntnisse reihen sich ein in Ergebnisse der jüngeren NS-Studien, welche darauf schließen lassen, dass im Hinblick auf die Ausgangssituation von Staat und Gesellschaft in der Gründungsphase der Bundesrepublik „die politische, ideologische und mentale Verwurzelung des nationalsozialistischen Regimes in der deutschen Gesellschaft sehr viel tiefgreifener [sic!] war, als dies von der bisherigen Forschung erkannt wurde. In den Bereichen Politik, Kultur und Justiz zeigen sich bemerkenswerte Nachwirkungen des Nationalsozialismus“.161 Dem pflichtet gleichermaßen Salewskis These, für sehr 158 Die Sissi-Triologie weist gleichermaßen durch ihre Besetzung mit Romy Schneider als Tochter der von 1933 bis 1945 gefeierten Schauspieler Magda Schneider und Wolf Albach-Retty sowie mit Karlheinz Böhm als Sohn eines Stardirigenten des „Dritten Reiches“ weitere Kontinuitäten zur NS-Zeit auf: Beckermann, Elisabeth – Sissi – Romy Schneider (wie Anm. 33), S. 320. 159 O. A., Von der Leinwand notiert, in: Süddeutsche Zeitung 22./23. Dezember, 1956, S. 5; O. A., Filme in Ingolstadt, in: Donaukurier 295, 1957, S. 6; O. A., Das romantische Märchen einer großen Liebe, in: Nürnberger Nachrichten 304, 1955, S. 21; O. A., Schwer drückt die Krone Habsburgs Majestäten, in: Nürnberger Nachrichten 300, 1957, S. 16. 160 Heinrich Benedikt, „Elisabeth“, in: Neue Deutsche Biographie 4, 1959, S. 442–443, online: www. deutsche-biographie.de/pnd118529897.html [30.07.2013]. 161 Stephan A. Glienke/Volker Paulmann/Joachim Perels, Einleitung, in: Dieselben (Hrsg.), Erfolgsgeschichte Bundesrepublik? Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, S. 9.

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viele Frauen habe das als „wahre[s] Glück“ empfundene NS-Frauenbild bis weit in die 1960er Jahre hinein nachgeklungen, bei.162 Von primärem Interesse in diesem Aufsatz waren freilich die gesellschaftlichen Kontinuitäten und Brüche zwischen „Weimarer Republik“ und NS-Zeit. Allen Versuchen, die Sonderwegsthese zu beleben, muss dabei eine Absage erteilt werden.163 Diese gesellschaftshistorische Studie kann eine deutliche Zäsur im Frauenbild ausmachen. Gleichsam naheliegend sind die politischen Stilisierungen: Undenkbar erscheint im Nationalsozialismus der Versuch, mit Hilfe Elisabeths für die Republik zu werben.164 Auffallend sind nach 1933 die antiadeligen Töne und vor allem die Präsenz eugenischen Gedankenguts. Darüber hinaus setzt sich Elisabeth zwar als gute Mutter in den Werken aus dem „Dritten Reich“ durchwegs energisch gegen den Entzug ihrer Kinder ein und missachtet das Hofzeremoniell, doch nur in der „Weimarer Republik“ wird ihr enormes Selbstbewusstsein über ihren Einsatz für die Rechte als Mutter hinaus zugeschrieben, indem sich die Kaiserin beispielsweise gegen die menschenverachtenden Aktivitäten einer Gruppe von Soldaten auflehnt. Engagement durfte bei einer Frau in der NS-Zeit im Gegensatz zur Zeit der „Weimarer Republik“ demnach nur noch entbrennen, wenn es um ihre Kinder und den treusorgenden Einsatz für ihren Ehemann ging. Der Appell an den Mann, patriarchalischem Denken zu entsagen und sich um die Ehefrau zu mühen, erweist sich als Weimarer Phänomen, während die Werke über Sisi aus der NS-Zeit der Frau die Pflicht, den Mann zu unterhalten, zuschreiben. Die nationalsozialistische Elisabeth verkörpert die aufopferungsvolle Mutter, ihr Wirken soll dem Glück des Mannes und dem Wohl des Volkes dienen. Emanzipierte, um Selbstbestimmung ringende Frauen können nach 1933 nur noch durch die böse Schwiegermutter verkörpert werden. Die als überaus starke Frau dargestellte Sophie eignet sich ex negativo als Identifikationsfigur. Eine wesentliche Kontinuität in der Elisabeth-Darstellung darf indes nicht verschwiegen werden: Auffällig ist die Persistenz des Mythems Gläubigkeit, welches sich sowohl in Rolf Raffés Ludwig-Film als auch im Roman von Marie Blank-Eismann und implizit in der Bildauswahl von „Eichstätter Kurier“ und „Germania“ findet. Dies zeigt, dass nicht nur nach dem Ersten Weltkrieg ein verstärktes Bedürfnis nach religiösem Rückhalt bestand, sondern auch im „Dritten Reich“ der Glaube trotz den ergriffenen Maßnahmen des NS-Regimes gegen die Kirchen weiterhin in der Gesellschaft eine Rolle spielte. In dieser Arbeit – welche freilich noch einer Ergänzung für die Zeit vor 1918 und nach 1945 bedarf – wurde somit für die Zeit von zwei unterschiedlichen poli162 Salewski, Revolution der Frauen (wie Anm. 58), S. 317. 163 Im Sinne zum Beispiel von Jürgen Kocka oder Andreas Wirsching: Jürgen Kocka, German History before Hitler: The Debate about the German Sonderweg, in: Journal of Contemporary History 23, 1988, S. 3–16; Andreas Wirsching, Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 58), München 2000, etwa S. 109. 164 Im Film „Königswalzer“ aus dem Jahr 1935 gefährdet der demokratisch gesinnte Bürger aus falschem Eifer die Hochzeit Elisabeths.



Der Sisi-Mythos und die deutsche Gesellschaft der Zwischenkriegszeit 

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tischen Systemen ausschnitthaft ein deutscher Erinnerungsort behandelt. Sie hofft, mit Dekonstruktion und Einordnung des Sisi-Mythos in einen größeren Zusammenhang einen Beitrag dazu geleistet zu haben, „Schneisen in das wegelose Gelände der Erinnerungslandschaften zu schlagen“ und inmitten diesem einen weiteren Orientierungspunkt zu hinterlassen.165

165 Etienne François/Hagen Schulze, Einleitung, in: Dieselben (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, München 2001, S. 9–24.

Annemarie Hackl

Der Mythos der Elisabeth von Österreich Das Beispiel der Romy-Schneider-Filme

I Einleitung Schon zu ihren Lebzeiten trug Kaiserin Elisabeth von Österreich ein Stück weit mythische Züge. Ihre geschickte Körperpolitik, also das Bemühen um Schönheitspflege, die Kunst des glanzvollen Auftritts und die Fähigkeit, sich ostentativ rar zu machen, spielte dabei eine wichtige Rolle.1 Nicht minder galt dies für die zahlreichen Bilder und Fotografien, die das Ideal einer „märchenhafte[n] Schönheit“ begründeten und verbreiteten.2 Gleichwohl begann die substantielle Mythisierung Elisabeths erst nach ihrem Tod im Jahre 1898.3 So entstand schon bald eine Vielzahl an Erinnerungsartikeln – von Münzen bis hin zu Zeichnungen. Knapp ein Jahr nach dem Tod der österreichischen Kaiserin erschien die erste Auflage des Bestsellers The Martyrdom of an Empress, der die Hypostasierung Elisabeths entscheidend vorantrieb und ihr Leben zu einer der „most poetic and romantic pages in modern history“ verklärte.4 Das Motiv der märchenhaften Liebesheirat und vor allem die Verehrung der ehemaligen bayerischen Prinzessin durch das österreichische Volk bildeten fortan wesentliche Bestandteile des sich ausbreitenden Elisabeth-Mythos. Populäre Kommunikatoren fand dieser zum Beispiel in Ernst Decsey und Gustav Holm. Sie schufen das Lustspiel Sissys Brautfahrt, das 1932 wiederum den Brüdern Hubert und Ernst Marischka als Vorlage für das Singspiel Sissy diente. Dieses avancierte in den 1930er Jahren am Theater in Wien zu einem großen Erfolg.5 Einen Meilenstein bildeten dann die vielgesehenen Sissi-Filme der 1950er Jahre.6 Dass sie nicht zuletzt dank der Hauptdarstellerin Romy Schneider eine Katalysatorfunktion für die Verbreitung des Mythos 1 Ausführlich dazu: Brigitte Hamann, Elisabeth. Kaiserin wider Willen, München 1997, S. 181ff. 2 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 1), S. 189. Bezeichnenderweise gab es von der Kaiserin nach 1869 fast keine Bilder mehr. Bei ihren wenigen öffentlichen Auftritten trug Elisabeth stets einen Fächer oder Schleier, um ihr Gesicht zu verdecken. Sie wollte unbedingt verhindern, dass der Verfall ihrer Schönheit dokumentiert wird. 3 Karin Unterreiner, Sisi. Mythos und Wahrheit, München 2005, S. 18. Hier ergeben sich Affinitäten zu einer anderen herausgehobenen Person des 19. Jahrhunderts, die im Jahre 1898 verstarb: Otto von Bismarck. Vgl. zum Bismarck-Mythos zuletzt: Markus Raasch (Hrsg.), Die deutsche Gesellschaft und der konservative Heroe. Der Bismarckmythos im Wandel der Zeit, Aachen 2010. 4 Marguerite de Godart Cunliffe-Owen, The Martyrdom of an Empress, London 1901, S. 6. 5 Unterreiner, Sisi (wie Anm. 3), S. 19. 6 Sissi, Österreich 1955, Regisseur Ernst Marischka (Film); Sissi. Die junge Kaiserin, Österreich 1956, Regisseur Ernst Marischka (Film); Sissi. Schicksalsjahre einer Kaiserin, Österreich 1958, Regisseur Ernst Marischka (Film). Alle zit. nach STUDIOCANAL, Romy Schneider – Sissi Edition (4 DVDs).



Der Mythos der Elisabeth von Österreich 

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besaßen, hat die einschlägige Literatur immer wieder betont.7 Eine theoriegestützte Analyse ihrer mythischen Codes ist jedoch – ungeachtet der wichtigen Studien von Katharina Weigand8 und der Kunsthistorikerin Saskia Lugmayr9 – bis heute nicht durchgeführt worden. Kaum berücksichtigt hat die Forschung zudem den Umstand, dass Romy Schneider noch ein viertes Mal Elisabeth von Österreich gespielt hat, und zwar in Luchino Viscontis Ludwig-Film aus dem Jahr 197210. Dieser Aufsatz interessiert sich für die Zeit zwischen 1955 und 1972 und sieht die vier Elisabeth-Filme als mentalitätsgeschichtliche Quelle für den deutschsprachigen Raum. Theoretischer Ausgangspunkt ist der Assmannsche Erinnerungsbegriff. Mythos wird verstanden als eine Narration, die kollektive Identität schafft und dabei auf gesellschaftliche „Wahrnehmung, Wertsetzung, Selbstbilder und Rollenzuschreibungen“ rekurriert.11 Er ist Medium des kulturellen Gedächtnisses und damit entscheidend daran beteiligt, „die Alltagswelt um die andere Dimension der Negationen und Potentialitäten“ zu ergänzen und „das Gestern ans Heute [zu binden], indem [er] in einem fortschreitenden Gegenwartshorizont Bilder und Geschichten einer anderen Zeit einschließt“.12 Seine Reproduktionen (vom Bild über den Roman bis zum Film) sind ein mehr oder minder komplexes „System von Codes und Tropen“,13 dessen kritische Analyse uns zu kollektiven Sinnbildungen führen kann, also den „Sehnsüchten, Ängsten, Tagträumen der Menschen und der Zeit, in der und für die sie gemacht“ wurden14. Eine solche Analyse soll im Folgenden am Beispiel der Sissi-Filme und des Ludwig-Films von Visconti geleistet werden. Eine Möglichkeit der Operationalisierung bietet die Methode der De-Konstruktion, wie sie von der FUER-Gruppe vorgeschlagen worden ist: Die Analyse geschieht in vier Stufen, wobei von der Oberfläche ausgehend Tiefenstrukturen betrachtet und Triftigkeitsprüfungen durchgeführt werden: Zuerst wird die Oberflächenstruktur ins Blickfeld genommen. Es handelt sich dabei im Grunde um eine Bestandsaufnahme: 7 Zum Beispiel: Katharina Weigand, Geschichte im Spielfilm. »SISSI« zwischen Wissenschaft und Zelluloid, in: Monika Fenn (Hrsg.), Aus der Werkstatt des Historikers. Didaktik der Geschichte versus Didaktik des Geschichtsunterrichts. Münchner Kontaktstudium Geschichte Bd. 11, München 2008, S. 93–124, hier S. 103. Unterreiner, Sisi (wie Anm. 3), S. 21. Für weiterführende Literatur zum SissiMythos: vgl. die ausführlichen Angaben bei Koller in diesem Band. 8 Weigand, Geschichte im Spielfilm (wie Anm. 7), S. 93–124. 9 Saskia Lugmayr, Die „Sissi“-Trilogie von Ernst Marischka. Diplomarbeit, Wien 2008, www.romy.de/ homeblog/download/diplom_lugmayr.pdf [19.03.2013]. 10 Ludwig, Italien 1972, Regisseur Luchino Visconti (Film), zit. nach STUDIOCANAL, Romy Schneider – Sissi Edition (4 DVD). 11 Aleida Assmann und Jan Assmann, Mythos, in: Hubert Cancik u.a. (Hrsg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. 6: Kultbilder – Rolle, Stuttgart u.a. 1998, S. 179–200, hier S. 185. 12 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 20055, S. 16, 57. 13 James Monaco, Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Medien, Hamburg 2005, S. 63. 14 Irmgard Wilharm, Bewegte Spuren. Studien zur Zeitgeschichte im Film, Hannover 2006, S. 23.

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Was ist das ausgewiesene Leitthema? Wie sind die Filme entstanden? Von wem wurden sie gedreht? Für wen wurden sie gedreht?15 Hier werden also zum einen die Hintergründe zur Entstehung des Films betrachtet, zum anderen verschafft man sich einen groben Überblick über ihn. Es folgt eine Analyse der Tiefenstruktur I. Hierbei gilt das Interesse dem Was? und Wie? der historischen Narration: Wer sind die Schlüsselfiguren? Welche Szenen sind besonders relevant? Welche filmischen Mittel werden eingesetzt?16 Im Folgenden sollen in diesem Sinne drei Szenen aus der Sissi-Trilogie und zwei aus dem Visconti-Film einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Auf der Ebene der Tiefenstruktur II steht dann das „Warum?“ im Mittelpunkt: „Warum werden Szenen so und nicht anders gedreht?“ „Welche vergangenheitsbezogenen Deutungsmuster sind zu erkennen, welche gegenwartsbezogenen Sinnbildungen?“ Am Ende soll dann durch Einbeziehung weiterführender Quellen und Darstellungen die historische Überprüfung der filmischen Narration erfolgen, wobei es dabei nicht um eine Fehlersuche geht. Marischka soll kein Vorwurf gemacht werden, dass er die Drehbücher „mehr oder weniger aus Anekdoten zusammengeschrieben [hat], die mit der historischen Wahrheit der beiden Figuren fast nichts zu tun haben“.17 Genauso soll Visconti nicht dafür gelobt werden, dass er „als einziger die Sissi historisch authentisch porträtiert“ hat.18 Vielmehr wird die Erhärtung der dekonstruierten Sinnbildungsmuster das Ziel sein.19

II Analyse der Oberflächenstruktur Der Österreicher Ernst Marischka (1893–1963) war seit der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts ein erfolgreicher Drehbuchautor mit einem Faible für wienerische Themen und romantische Kostümfilme. Besonders am Herzen lag ihm der melancholische Blick auf die Donaumonarchie, von der er mit „Herzigkeit, Sentiment und Walzertakten […], opulente[r] Ausstattung und pittoresken Landschaftsaufnahmen“20 stets ein „wehmütig erinnernde[s] Bild“21 zeichnete. Wiederholt nahm er überdies das englische Königshaus ins Blickfeld. So reüssierte er 1954 mit einem Remake seines 1930er 15 Waltraud Schreiber, Kompetenzbereich historische Methodenkompetenz, in: Andrea Körber u.a. (Hrsg.), Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik, Neuried 2007, S. 194–255, hier S. 226. 16 Schreiber, Methodenkompetenz (wie Anm. 15), S. 226. 17 Karlheinz Böhm, Mein Weg. Erinnerungen, München 1994, S. 114. 18 Renate Seydel (Hrsg.), Ich, Romy. Tagebuch eines Lebens, München 1988, S. 274. 19 Schreiber, Methodenkompetenz (wie Anm. 15), S. 229. 20 Mark Schlemmermeyer (Hrsg.), Das große TV-Spielfilm Filmlexikon, Bd. 5: Ra–To, Hamburg 2006, S. 320. 21 Manfred Kreckel, Marischka (kath.), in: Historische Kommission bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Neue Deutsche Biographie, Bd. 16: Maly–Melanchthon, Berlin 1990, S. 215.



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Jahre-Films „Mädchenjahre einer Königin“ an den Kinokassen. Dabei war die junge englische Königin Victoria von der 16-jährigen Romy Schneider verkörpert worden. 1955 sollte Marischka dann an sein Singspiel von 1932 anknüpfen. Er adaptierte den Elisabeth-Stoff, schrieb selbst ein Drehbuch, übernahm neben der Regie auch die Produzentenrolle und brachte den Film Sissi in die Kinos – wieder mit Romy Schneider in der Titelrolle, dazu deren Mutter Magda Schneider und Gustav Knuth als Filmeltern Ludovika und Max in Bayern sowie Karlheiz Böhm als österreichischer Kaiser.22 Am 21. Dezember 1955 fand die Uraufführung in Wien und am darauffolgenden Tag im Münchner Stachus-Theater statt.23 Der Erfolg war überwältigend: Der Film lockte allein in Deutschland mit knapp 6,6 Millionen Zuschauern mehr Menschen in die Lichtspielhäuser als Vom Winde verweht, der bis dahin den Besucherrekord hielt.24 Es folgten zwei Fortsetzungen mit weitgehend unveränderter Besetzung: 1956 Sissi – Die junge Kaiserin und 1957 Sissi – Schicksalsjahre einer Kaiserin. Die Verfilmung eines vierten Teiles über das Leben der Kaiserin von Österreich scheiterte lediglich am Widerstand Romy Schneiders.25 Die Trilogie zeigt einen chronologischen Ablauf der Geschichte Elisabeths von Österreich. Im ersten Teil steht das Aufeinandertreffen von Sissi und Franz im Zentrum, am Ende findet die prächtige Hochzeit statt. Die ersten Ehejahre des Kaiserpaares thematisiert der zweite Teil: das erste Kind, Prinzessin Sophie, wird geboren, die österreichischen Konflikte mit Ungarn lösen sich nach maßgeblicher Vermittlung Sissis mit der Krönung des Herrscherpaares zu Königen von Ungarn auf. Der letzte Film behandelt eine schwere Erkrankung der Kaiserin und schließlich die Aussöhnung mit den Venezianern, die wiederum Sissi mit ihrem Liebreiz zu überzeugen weiß. Erst der italienische Regisseur Luchino Visconti (1906–1976) konnte Romy Schneider, die in der Zwischenzeit nach Frankreich übergesiedelt war, von einer erneuten Darstellung der Elisabeth von Österreich überzeugen. In seinem Ludwig von 1972 spielt sie eine wichtige Nebenrolle. Sie ist freilich „nicht mehr die Sissi von einst“,26 sondern firmiert nunmehr als ‚Sisi‘. Der bayerische König Ludwig II. wird von Viscontis damaligem Lebensgefährten Helmut Berger verkörpert. Visconti, der aus wohlhabenden Verhältnissen stammt, verband seine persönliche Geschichte mit Deutschland.27 In den 1930er Jahren hatte er das damals bereits von den Nationalsozialisten 22 Kreckel, Marischka (wie Anm. 21), S. 215. 23 www.sissi.de/filme/presse_sissi_weltweit.php [29.06.2012]. 24 Schlemmermeyer, Filmlexikon (wie Anm. 20), S. 2528 und Adolf Heinzlmeier/Berndt Schulz, Das Lexikon der Deutschen Filmstars, Berlin 2003, S. 486. 25 Heinzlmeier/Schulz, Filmstars (wie Anm. 24), S. 485f. 26 Geheimdokument aus Deutsche Kinemathek, Filmarchiv Berlin, 10. 27 Alfons Maria Arns, Viaggio in Germania, in: Wolfgang Storch (Hrsg.), Götterdämmerung. Luchino Viscontis deutsche Trilogie. Begleitbuch zur Ausstellung „Götterdämmerung – Luchino Viscontis deutsche Trilogie“, Filmmuseum Berlin, Berlin 2003, S. 21–32, hier S. 23f. Visconti erläuterte sogar in einem Interview, dass er schätze, seine Vorfahren kämen aus Deutschland: Geheimdokument, Filmarchiv Berlin, 14.

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regierte Land – durchaus fasziniert – bereist, im Zweiten Weltkrieg dem italienischen Widerstand angehört. Nach 1945 konzentrierte er sich darauf, in seinen Werken den Versuch zu unternehmen, das in und von Deutschland aus während der nationalsozialistischen Zeit Geschehene zu verstehen. In diesen Kontext stellte er seine Nachkriegswerke, deren Hauptthematik die spannungsvolle Komplexität von Individuum und Kollektiv sein sollte.28 Vorlage für den Spielfilm über den bayerischen König war die Erzählung Vergittertes Fenster von Klaus Mann.29 Der Regisseur schuf mit Ludwig eine Komplementärgeschichte seiner sogenannten deutschen Trilogie. Diese beinhaltet die Filme Die Verdammten von 1964 und Der Tod in Venedig von 1971.30 Auch in ihnen spiegelt sich Luchino Viscontis Passion für anthropomorphes Kino nebst einer möglichst hohen Authentizität wider.31 Das Team um den Regisseur konnte auf den Schlössern Linderhof, Neuschwanstein und Herrenchiemsee32 Aufnahmen durchführen und arbeitete mit authentischen Requisiten, die es als Leihgabe von den Wittelsbachern erhielt.33 Das beachtliche Budget von zwölf Millionen DM ermöglichte u.a. die ständige Benutzung von drei Kameras während der gesamten Dreharbeiten.34 Am 31. Juli 1971 starteten die Dreharbeiten, am 6. Juni des Folgejahres waren sie beendet.35

III Analyse der Tiefenstruktur I 1 Einführung der jungen Prinzessin Die Einführung Sissis beginnt mit opulenten Landschaftsaufnahmen und einer Atmosphäre von Weite und Freiheit.36 Die Prinzessin reitet, umrahmt von der Panoramaeinstellung des Fuschlsees und der Alpen, auf die Kamera zu. Dass das Salzburger Land und der Fuschlsee das bayerische Possenhofen und den Starnberger See darstellen sollen, liegt wohl an der besonderen Idylle der Gegend, die durch ihre größere

28 Arns, Viaggio in Germania (wie Anm. 27), S. 23f. 29 Arns, Viaggio in Germania (wie Anm. 27), S. 32. 30 Bernd Kiefer, Luchino Visconti, in: Thomas Koebner (Hrsg.), Filmregisseure. Biographien, Werkbeschreibungen, Filmographien, Stuttgart 1999, S. 717,1–724,2, hier S. 723. 31 Martin Schlappner (Hrsg.), Luchino Visconti. Reihe Film 4, München/Wien 1976, S. 7 und Kiefer, Luchino Visconti (wie Anm. 30), S. 722. 32 Kiefer, Luchino Visconti (wie Anm. 30), S. 724. König Ludwig II. plante alle drei Schlösser während seiner Regierungszeit und ließ die Bauarbeiten starten, aber nur Schloss Linderhof wurde bis zu seinem Tod fertiggestellt: Ludwig Hüttl, Ludwig II. König von Bayern. Eine Biographie, München 1986, S. 230, 264f, 297. 33 Kiefer, Luchino Visconti (wie Anm. 30), S. 724. 34 Geheimdokument aus Deutsche Kinemathek, Filmarchiv Berlin, 8. 35 Laurence Schifano, Visconti. Fürst des Films, Gernsbach 1988, S. 526. 36 Sissi (wie Anm. 6). 07:38–10:31.



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Nähe zu den Bergen und dichten Wald besticht.37 Sissi kehrt von einem morgendlichen Ausritt mit ihrem Pferd Gretl zurück und erscheint als „ein bildschönes, fünfzehnjähriges, gertenschlankes Mädchen in einem Reitkleid, ein Reithütchen auf dem Kopf, das lange […] Haar zu einem schwer herabhängenden Knoten“38 gebunden. Auffallend ist, dass das rote Kleid der jungen Prinzessin farblich komplementär zum grünen Hintergrund ist und folglich besonders hervorsticht. Mit dem Auftreten der Prinzessin setzt Jagdhornmusik ein, die das ländliche Idyll unterstreicht. Die Prinzessin figuriert als Inkarnation von Natürlichkeit, Unschuld und übermütiger Lebenslust: Sie lächelt während der ganzen Sequenz und reitet im Galopp. Der dabei stark hin und her wippende Zopf veranschaulicht die Wildheit der jungen Reiterin. Die offene Körperhaltung der Prinzessin auf dem Pferd strahlt unbändige Freude und keinerlei Anzeichen von Angst aus. Die Leidenschaft ihres Reitstils illustriert gleichzeitig ihre Unerschrockenheit, ein Charakterzug der Jugend. Sissi unterstreicht es, indem sie der Aufforderung ihres Vaters, mit dem Pferd über die Rosenbüsche zu springen, sofort nachkommt. Im schnellen Schnittwechsel zwischen Eltern und Tochter sind die optische Erscheinung und die Ähnlichkeit des Kleidungsstils zwischen dem Vater und dem Kind erkennbar. Beide sind Kinder ihrer Heimat. Sissi trägt zum Reiten ein rotes Lodenkleid, während ihr Vater in einer bayerischen Lederhose auftritt und in seiner Hand eine Pfeife hält. Herzog Max ist es auch, der Sissi zuerst hört. Er lächelt seine Tochter während der gesamten Szene an, der Ausspruch – „Ein Prachtmädel!“39 – verbalisiert dann seinen Stolz. Herzogin Ludovika ist nicht weniger angetan von ihrer Tochter, tritt aber als phänotypisch besorgte Mutter auf. Kleidungsmäßig unterscheidet sie sich von ihrem Mann und ihrer Tochter. Sie trägt ein Baumwollkleid, keine Tracht. Es handelt sich nicht um ein aufwändig verziertes, wie es an den königlichen Höfen üblich war, sondern um ein einfaches Kleid, das die Bodenständigkeit der Herzogin aufzeigt. Auch sie reagiert auf die Stimme ihrer Tochter, da sie umgehend aus dem Zimmer hinaus auf die Terrasse eilt.40 Im Gegensatz zum Vater, der mit vor Stolz geschwellter Brust der Prinzessin dabei zusieht, wie sie Hindernisse überspringt, zeigt Herzogin Ludovikas Miene ihre Sorge um das Kind. Mit zusammengekniffenem Mund und verschränkten Händen beobachtet sie ihre Tochter, deren Reitstil sie eindeutig für zu gefährlich hält. Ihr zusätzlicher Ausruf: „Sissi!“41 klingt mehr ängstlich als vorwurfsvoll, verweist aber eindeutig auf die mütterliche Besorgnis der Herzogin. Der Kontrast der Eltern ist auffällig, da sie beide als liebende Eltern nebenei37 Seydel, Romy (wie Anm. 18), S. 103 und www.schlossfuschlsalzburg.com/de/Fuschlsee-und-Umgebung [14.07.2012]. 38 Geheimdokument aus Deutsche Kinemathek, Filmarchiv Berlin, S. 13, Bild 6. 39 Sissi (wie Anm. 6). 08:12. 40 Die elliptische Darstellung der Gangrichtung der Mutter wird durch die Montage ermöglicht, um auf diese Weise in dem Zeitabschnitt, in welchem sie wohl durch die Tür geht, zurück auf die reitende Sissi zu schneiden. 41 Sissi (wie Anm. 6). 07:55.

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nander stehen, aber gleichzeitig auf unterschiedliche Art und Weise in ihrer Mimik und Körperhaltung ihre Gefühle zeigen. Der Größenunterschied zwischen den Partnern kommt dabei noch intensivierend hinzu. Den Höhepunkt findet dieser Kontrast, als der Vater Sissi auffordert, ein Hindernis zu überspringen. Ludovika reagiert mit Erschrecken und zeigt ihren Unmut liebevoll aber deutlich, indem sie sanft auf den Brustkorb ihres Ehemanns trommelt, der wohl eine Reaktion seiner Frau nicht nur erwartet, sondern auch bezweckt hat. Er lacht sie frech an und beugt sich leicht zu ihr. In dieser Einstellung übersteigt der Headroom von Herzog Max den von Ludovika etwa um das Doppelte, was die Herzogin folglich als die kleine, besorgte Mutter im Gegensatz zu dem legeren Patriarchen charakterisiert.

2 Der Schwiegermutter-Konflikt Kaiser Franz Joseph I. informiert seine Mutter Erzherzogin Sophie auf dem Hofball in Bad Ischl, der anlässlich des Geburtstags des Monarchen am 18. August 1853 stattfindet, darüber dass er Prinzessin Elisabeth heiraten möchte. Die entsetzte Mutter trifft kurz darauf in einem Raum neben dem Ballsaal auf die junge Sissi. Die Kaiserinmutter fordert die Prinzessin zu einem Gespräch auf.42 Durchwegs filmt die Kamera mit flacher Bildschärfe und rückt auf diese Weise den Dialog in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Schnitte dienen der Fokussierung auf die Gestik (in den halbtotalen Einstellungen) und auf die Mimik (in den nahen Einstellungen). Der Kontrast zwischen den beiden Frauen könnte kaum größer sein. Die Kamera filmt die Kaiserinmutter größtenteils in leichter Untersicht, was sie als überlegen, bisweilen überheblich erscheinen lässt. Sie geht im Raum umher, während Sissi in der Mitte des Raumes weitgehend auf der Stelle verharrt. Im Schnitt ähneln sich die Ballkleider der beiden Damen, aber die Farbgebung und die Frisur zeigen deutliche Differenzen auf. Sissi trägt ein hellblaues Kleid, dessen Farbgebung an den Himmel an einem sonnigen Tag erinnert. Es steht dem dunkelblauen Kleid der Kaiserinmutter, das ihre kühlen Gesichtszüge deutlich hervortreten lässt,43 diametral entgegen. Sophies Haare sind fest zusammengesteckt, wodurch die Erzherzogin überaus streng wirkt. Sissis Haare sind demgegenüber seitlich zurückgesteckt und fallen frei über den Rücken. Sie ist die einzige Dame mit offenen Haaren auf dem Ball und verkörpert eindrucksvoll „Weite als Gegensatz zur Enge und Begrenztheit“.44 Die Machtverhältnisse scheinen klar. Zunächst dominiert die Erzherzogin den Dialog. Sie lässt der bayerischen Prinzessin kaum Raum für längere Antworten und sieht diese selten an. Bisweilen hebt sie ihren Kopf und zusätzlich noch eine Augenbraue, was ihr einen geringschätzigen Blick von oben ermöglicht. Sissis Augen sind 42 Sissi (wie Anm. 6). 01:11:44–01:14:50. 43 Katharina Theml, Licht, Farbe, Sound. Filme sehen lernen, Frankfurt am Main 2008, S. 23. 44 Theml, Filme (wie Anm. 43), S. 28.



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fast immer auf die Kaiserinmutter gerichtet. Mit anfangs noch ruhiger Stimme antwortet sie auf die ihr gestellten Fragen. Als die Erzherzogin ihrer Nichte die Entscheidung des Kaisers, sie heiraten zu wollen, mitteilt, werden Mimik und Gestik der Prinzessin zunehmend aufgeregter. In der Nahaufnahme erkennt man, wie sie die Augen kurz zu Boden, zur Seite und wieder zurück auf die Erzherzogin richtet. Eine Zäsur bildet dann der Moment, als sie deutlich gegenüber der Kaiserinmutter erklärt: „Aber ich will ja gar nicht Kaiserin werden!“45 Die neue Intensität des Gesprächs akzentuiert die hohe Frequenz der Montageschnitte in der folgenden Schuss-Gegenschuss-Sequenz. Die beiden Damen werden lauter, die Intonation schwankender. Vor allem Sissi ist emotional erregt. Die Prinzessin zieht die Augenbrauen deutlich immer wieder nach oben, lehnt sich mit dem Oberkörper nach vorne und schreit ihrer Tante aufgebracht die Antworten entgegen. Die Syntax der Prinzessin verändert sich. Waren die Sätze vor ihrem emotionalen Ausbruch einfach und ruhig formuliert, antwortet sie Sophie nun ausführlicher und umständlicher. Das Ende ihres letzten Satzes markiert sie mit einer Rückwärtsbewegung des Oberkörpers in die aufrechte Haltung, wobei sie ihren Kopf ebenfalls hocherhoben hält, die Augen weit aufreißt und die linke Schulter leicht von der Kaiserinmutter wegbewegt. Sie zeigt ihren Unmut und ihre Wehrhaftigkeit gegenüber Sophie, das Hierarchiegefälle negierend. Eine kurze Pause zeigt deutlich, dass die Kaiserinmutter mit dieser heftigen Gegenreaktion nicht gerechnet hatte. Sophie blickt kurz zu Boden und atmet tief ein. Das erweckt den Eindruck, als versuche sie ihre Contenance zurückzugewinnen. Da kurz darauf wieder der spöttische Blick, angezeigt durch den leicht in den Nacken gelegten Kopf und die nach oben gezogene Augenbraue, auf dem Gesicht der Erzherzogin auftaucht, diese aber das Gespräch beendet, wirkt es, als könne sie vorerst dem widerspenstig wirkenden Mädchen nichts mehr entgegensetzen. Die kräftige Bewegung und der schnelle Schritt der Prinzessin, die sich energisch umdreht, so dass ihre Haare wild wippen, verstärken Sissis Aura von erhabener Unbändigkeit, als sie das Zimmer verlässt. Dieser anfängliche Streit muss als paradigmatisch für die Beziehung von Sissi und ihrer Schwiegermutter angesehen werden.

3 Das Ende in Venedig Die finale Sequenz aus Schicksalsjahre einer Kaiserin behandelt einen Besuch von Franz und Elisabeth, die gerade von einer schweren Lungenkrankheit genesen ist, in Venedig:46 Obwohl der Markusplatz voller Menschen ist, herrscht absolute Stille, als das Kaiserpaar an Land geht. Die Tiefenschärfe der Einstellung vermittelt dem Zuschauer den weiten Weg, welchen das Kaiserpaar über den Markusplatz zurücklegen muss. Der Rückschnitt in die halbnahe Frontansicht des Kaiserpaares lässt deren 45 Sissi (wie Anm. 6). 01:14:16. 46 Schicksalsjahre einer Kaiserin (wie Anm. 6). 01:39:25–01:44:11.

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angespannte Haltung erkennen. Die Venezianer, die immer wieder in der Halbtotalen zu sehen sind, blicken alle ernst, zurückhaltend und schweigend auf die ankommenden Österreicher. Der Vertikal- und anschließende Horizontalschwenk entlang der Menschenmenge zeigen nur stille Massen; die Damen in unbeweglicher Haltung, ebenso die Herren, die trotz der vorbeigehenden Majestäten ihren Hut nicht abnehmen. Die Schritte des Kaiserpaares hallen leise wider und lassen die Spannung in der Szene für den Zuschauer greifbar wirken. Durch die Parallelfahrt der Kamera erhält man den Eindruck, als gehe man gemeinsam mit dem Kaiserpaar den Weg über den Markusplatz. Nach einer Minute tritt eine plötzliche Wende ein: eine Bewegung in weiter Entfernung, die anfangs durch die Tiefe des Bildes nur schemenhaft erkennbar ist. Die Kaiserin zeigt erst nach etwa zwei Sekunden eine Reaktion. Ihre Mimik und Gestik verändern sich: die Hände zucken kurz, sie bleibt stehen und ihr Gesicht hellt sich auf. Die nunmehr weichen Gesichtszüge der Kaiserin, ihr glückliches Lächeln und ihr freudiger Ausruf machen deutlich: Bei der schemenhaften Gestalt kann es sich nur um die kleine Tochter Elisabeths, Prinzessin Sophie von Österreich, handeln. Auch der Kaiser verändert seine Mimik zu einem gütigen Lächeln, was Sissi jedoch kaum mehr wahrnimmt. Jede Etikette vernachlässigend, rennt die Kaiserin ihrem Kind entgegen. Zwei alte italienische Zuschauerinnen werden zwei Mal kurz hintereinander eingeblendet. An ihnen sieht man anfangs die Ablehnung der Einheimischen gegenüber den Majestäten sowie die nun eintretende Veränderung. Die Kaiserin küsst ihre Tochter und spricht mit ihr sehr liebevoll und hat dabei anscheinend völlig die Umgebung, in der sie sich gerade befindet, vergessen, was besonders durch die Nahaufnahme der beiden mit der nur noch schemenhaft erkennbaren Menge im Hintergrund verdeutlicht wird. Sissi ist immer noch in ihrem Glück über die Tochter versunken, als ihr Mann bereits neben sie getreten ist und der Kardinal von Venedig mit Gefolge vor ihr steht. Inmitten dieser Szene, als die Monarchin ihr Kind so innig an sich drückt, schlägt die Stimmung bei der sie umgebenden Masse um. Mit dem Ausruf eines Italieners in der Menschenmenge „Viva la mamma!“,47 verändert sich die bisher stille Masse in eine laut jubelnde Menge, die den Ausruf hundertfach wiederholt. Die totalen Einstellungen zeigen nun auch, dass die Menschen lächeln und wild mit den Armen dem Kaiserpaar zuwinken. Der Jubel verstummt erst, als Glockenläuten ertönt. Demütig küsst Sissi die Hand des Geistlichen, bevor sie sich für ihr Verhalten entschuldigt. Der Kirchendiener lächelt ihr aufmunternd und verständnisvoll zu und für eine kurze Zeit zeigen die Overshoulder-Schuss-Gegenschussaufnahmen den huldvoll lächelnden Kardinal und die fromm den Kopf nach unten neigende und zu dem Geistlichen aufblickende Monarchin. Die Erklärung des Gottesdieners, dass die Liebe, die sie zeige, ein Gottesprodukt sei, verstärkt den Eindruck einer besonderen Gottgefälligkeit bei Sissi. Elisabeth und ihre Familie folgen den Geistlichen auf dem 47 Schicksalsjahre einer Kaiserin (wie Anm. 6). 01:41:16.



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roten Teppich in Richtung der Kirche. Das Kind halten die Eltern an den Händen zwischen sich fest. Die Szene erinnert an eine Art Kirchenprozession, bei der die Gläubigen, mit gesenktem Kopf, hinter dem Kreuze hergehen und auf diese Weise die Kirche als ihre höchste Instanz auf Erden anerkennen. Mit imposanten Bildern von aufsteigenden Tauben und den lächelnden Massen, die nun den Hut vor der Familie ziehen, erhält dieser ganze Abschnitt eine festliche Wirkung, die jeden mitreißt und eine nunmehr heile Welt simuliert. Die letzten Schnitte wechseln zwischen der posierenden Kaiserfamilie und Totalaufnahmen von der Menschenmenge auf dem Markusplatz ab. Die Kaiserhymne erklingt. Der Kaiser hält salutierend seine kleine Tochter liebevoll auf dem Arm. Die Nähe zwischen dem Vater und seinem Kind lässt den lächelnden Kaiser trotz der militärischen Pose menschlich wirken. Die abschließende Einstellung auf die in unschuldiges Weiß gekleidete Kaiserin, in einem schulterfreien Kleid, wirkt wie eine Zusammenfassung der Trilogie. Die Familie ist im Zeichen des Kreuzes wieder vereint, die Welt geheilt. Die gelben Blumen, welche das Kind ihrer Mutter überreicht, verweisen farblich auf die „christliche Erlösung“.48

4 Klagen bei Nacht Die nachfolgend analysierte Szene ist Teil einer längeren Sequenz. Die Kaiserin und ihr Cousin Ludwig treffen sich in Bad Ischl und unterhalten sich vertraulich bei einem nächtlichen Spaziergang im Moment der einsetzenden Morgendämmerung.49 Elisabeth tritt als Gegenteil von erhabener Unbändigkeit auf. Sie ist schwarz gekleidet und blass geschminkt, wirkt traurig, bedrückt, vom Leben verbraucht. Dem korrespondiert die totale und tiefenscharfe Perspektive, welche die beiden gekrönten Häupter klein und wenig bedeutend erscheinen lässt. Der düstere Charakter der Szene wird unterstützt durch die Hintergrundmusik (Schumanns Klavierstück Kinderszenen, das entgegen dem Titel als „Rückspiegelung eines Älteren für Ältere“ komponiert wurde), die dunkle Schneelandschaft und die vertrockneten Pflanzen, welche die beiden Personen umgeben und von denen nur die Stängel gezeigt werden. Kaiserin Elisabeth erzählt, fast wie in einem inneren Monolog, von den Eindrücken, die auf sie als frisch Vermählte einprasselten. Deutlich stellt sie die große innere Distanz heraus, die ihr Verhältnis zum Hofleben in Wien schon bald kennzeichnete. Tief enttäuschte Hoffnungen werden virulent. Obwohl ihre Stimme stets fest bleibt, verrät ihre Körperhaltung – der meist nach unten gesenkte Kopf und ihre Unfähigkeit länger ruhig stehenzubleiben – ihre Anspannung. Ludwig hört ihr während der ganzen Zeit aufmerksam zu und lässt sie nicht aus den Augen, obwohl sie seinem Blick kaum begegnet, sondern meist in die Ferne oder zu Boden blickt, als wäre sie weit 48 Theml, Filme (wie Anm. 43), S. 27. 49 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 1. 18:18–22:38.

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von ihm entfernt. Ein plötzlicher Wechsel der Kamera in eine Panoramaeinstellung entfernt die Figuren optisch vom Zuschauer und zeigt parallel dazu die Leere, die Elisabeth beschreibt.50 Nichts umgibt die beiden Gekrönten außer Schnee, Dunkelheit und Trostlosigkeit. Dann spricht Elisabeth von ihren „Fluchtorten“ – Madeira, Griechenland und Italien. Die Kamera springt dabei in die Nahaufnahme und ermöglicht auf diese Weise, die sich verändernde Mimik der Kaiserin zu erkennen. Sie lächelt, wirkt selig. Ihre Lippen sind leicht nach oben gezogen und sie legt den Kopf in den Nacken, während sie mit schwärmerischer Stimme die Orte aufzählt, an denen sie Geborgenheit fand. Besonderes Augenmerk liegt auf Italien, das Sisi mit den ersten Zeilen aus einem Goethe-Gedicht verklärt:51 Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, / [Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn, / Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, / Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht? / Kennst du es wohl? Dahin! / Dahin möcht‘ ich mit dir, / O mein Geliebter, ziehn].52

Die melancholische Stimmung wird erstmals gestört, als Elisabeth aufgebracht Rechtfertigungen für ihre eskapistischen Anwandlungen vorbringt, ohne, dass solche gegenüber Ludwig nötig wären. Die Kamera folgt ihrem Weg und zeigt Elisabeths Profil. Die deutlich zu erkennenden weit aufgerissenen Augen und heftige Armbewegungen reflektieren ihre Frustration über die ständigen Beanstandungen an ihr. Zynisch gibt sie zu verstehen, dass sich ihre gesellschaftliche Bedeutung in ihrem vorteilhaften Äußeren erschöpfe. Ludwigs fortwährender Ruhe begegnet sie mit Spott. Die natürliche Kopfbewegung eines Zuschauers imitierend, folgt die Kamera weiter der Kaiserin, als diese von den Gerüchten über ihre angeblichen Liebhaber erzählt und Ludwig offen auffordert, Stellung zu nehmen.53 Als auch dieses Gespräch ins Leere verläuft, was durch einen erneuten Einstellungssprung in die Totale ausgedrückt wird, schneidet Elisabeth eigenmächtig erneut ein Gerücht an, diesmal eins, das den König betrifft. Ohne Umschweife befragt ihn die Kaiserin über seine nächtlichen Ausritte und Menschenscheu. Allerdings wirkt die Frage lächerlich, da beide Figuren zu diesem Zeitpunkt ohne Lakaien und mitten in der Nacht draußen umherwandern. Klar erkennbar möchte Elisabeth ihren Cousin mit ihren Fragen verwirren. Ihre Mimik, die durch die Overshoulder-Einstellung in der Nahaufnahme deutlich erkennbar ist, gibt den Blick auf das erneut spöttische Lächeln frei, das durch die ebenfalls ‚lächelnden‘ Augen und das hocherhobene Kinn den Eindruck einer selbstsicheren Frau erweckt, die sich ihrer Wirkung durchaus bewusst ist und weitere Reaktionen bei ihrem Gegenüber provozieren möchte. Zu diesem Zweck legt sie immer wieder den Kopf leicht schief. Ludwig reagiert jedoch ruhig und lässt die

50 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 1. 19:25. 51 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 1. 19:57. 52 Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Düsseldorf 2006, S. 129. 53 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 1. 21:19.



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Augen direkt auf seine Cousine gerichtet. Sein Gesicht ist nur zur Hälfte zu sehen, da die Dunkelheit alles andere verschluckt. Die zurückgewonnene Contenance Elisabeths durchbricht er schließlich, indem er den von ihr vorgebrachten Verweis auf Siegfried dazu nutzt, um ihr zu erklären: „Wissen Sie, nur einmal fürchtet Siegfried sich; wenn er zum ersten Mal einer Frau begegnet“,54 eine Mitteilung, die sie offensichtlich trifft: Die Maske der Fröhlichkeit wirkt wie abgerissen, die Erkenntnis, dass diese Aussage eine Art von Liebeserklärung ist, macht ihr die Bedeutung der Situation für ihr Gegenüber klar. Der Kopf bleibt zwar in der hocherhobenen Stellung, aber die Gestik ist eingefroren; wie ein Standbild umrahmt von dunkler Nacht.

5 Besuch auf Schloss Herrenchiemsee Die jetzt zu analysierende Sequenz gliedert sich in eine Reihe von Besuchen der Kaiserin in den neuerrichteten Schlössern ihres bayerischen Cousins Ludwig ein. Sie besucht, begleitet von ihrer Hofdame Ida Ferenczy, zuerst das Schloss Linderhof mit seiner berühmten Venusgrotte. Im Anschluss trifft sie auf der Herreninsel im Chiemsee ein, um das dortige Schloss zu begutachten. Der König verweilt zu dieser Zeit nicht dort und die Damen werden von den Angestellten während der fast vierminütigen, mehrteiligen Szene auf Herrenchiemsee umher geführt.55 Das Klappern des Pferdewagens im Zusammenspiel mit Schumanns Musik leitet die Ankunft der Kaiserin auf dem Schloss ein. Der Schwenk der Kamera und die Tiefenschärfe der Einstellung veranschaulichen die Breite der königlichen Residenz. Für diese Szene wählte Visconti einen sonnigen Tag. Dennoch ist die Szene durch eine trostlose Atmosphäre geprägt; so erwecken etwa das Schloss und sein Garten einen verlassenen Eindruck. Keinerlei opulente Festmusik, wie mancher Zuschauer sie bei Besuchen von Monarchen erwarten würde, ist zu hören und nur wenige Lakaien sind vor Ort. Schumanns Musik erzeugt durch die langsame Geigenmusik eine Einsamkeit, weil sie die pure Stille vermittelt, die nun die Kaiserin umgibt. Die Kamera beobachtet die alleine zum Eingang des Schlosses schreitende Elisabeth. Die in schwarz gekleidete Monarchin sieht sich mehrfach um und bleibt stehen, als solle ihr kein Detail des Kunstwerks Ludwigs entgehen. Erst kurz vor dem Betreten des Schlosses zeigt sich ihre Hofdame im Bild. Die nächste Einstellung wird durch einen scharfen Schnitt eingeleitet, welcher den Übergang von den Außen- zu den Innenaufnahmen markiert. Ein Diener des bayerischen Königs führt die Kaiserin und ihre Hofdame durch das Prunktreppenhaus des Schlosses.56 Das einzige Hintergrundgeräusch bildet der Wiederhall der Schritte. 54 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 1. 22:29. 55 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 4. 29:19–33:25. 56 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 4. 30:53.

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Das Schloss wirkt verlassen. An dem Treppenabsatz angelangt, verweilt die Kaiserin länger. Sie blickt sich um. In der Nahaufnahme ist in ihrem Gesicht ein belustigtes Lächeln erkennbar. Elisabeth erweckt den Eindruck, den Pomp nicht anzuerkennen, sondern diesen zu belächeln. Deutlich kommt dies schließlich zum Ausdruck, als sie den Spiegelsaal erreicht. Der Versuch Ludwigs, auf der Insel Herrenchiemsee eine Kopie des Schlosses Versailles zu errichten, kommt hier am eindrucksvollsten zum Ausdruck. Elisabeth reagiert mit Ungläubigkeit auf die fast einhundert Meter lange Galerie.57 In der Totalen betritt die Kaiserin den Saal und hält kurz inne. Trotz der Tiefenschärfe der Einstellung ist ihre Mimik nicht erkennbar, aber ihre vor Erstaunen vor das Gesicht geschlagene Hand ist deutlich sichtbar. Ihre Belustigung kommt durch ihren, die Stille durchbrechenden Lachanfall und ihr ungläubiges Kopfschütteln deutlich zum Ausdruck. Der Rücksprung der Kamera veranschaulicht dabei die Tiefe der Galerie. Das Lächeln der Kaiserin verschwindet nicht mehr von ihrem Gesicht, jedoch wechselt der Ausprägungsgrad; sie wirkt zunehmend ernster aufgrund des einsamen Pomps. Elisabeth scheint ungläubig und erschüttert von der überladenen Pracht des Schlosses, die zwar beeindruckt, jedoch ihre Menschenfeindlichkeit nicht verbergen kann.

IV Tiefenstruktur II und Überprüfung der historischen Triftigkeit 1 Die Sissi-Trilogie der 1950er Jahre – eine Analyse von Sissi „Die Arbeit“ (Hans Blumenberg), welche die Sissi-Trilogie am Mythos der Elisabeth von Österreich leistet, lässt sich anhand von sieben interdependenten Codierungsebenen festmachen: 1. Elisabeth ist zunächst der lebenslustige und freiheitsliebende Wildfang. Ihr offenes Haar wird diesbezüglich zum Signum, wobei Marischka sehr wohl wusste, dass die historische Elisabeth in ihren jungen Jahren gewöhnlich mit Hochsteckfrisur abgebildet ist.58 Der Etikette steht Sissi fern, der Natur ist sie überaus verbunden. Sie reitet aus einer prachtvollen Berglandschaft ins Geschehen, miss57 Peter Wolf u.a. (Hrsg.), Götterdämmerung. König Ludwig II. und seine Zeit. Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2011, Augsburg 2011, S. 126. 58 Erst in den späteren Jahren machte die historische Elisabeth auf die Schönheit ihrer langen Haare aufmerksam und trug diese meist über den Rücken fallend: Unterreiner, Sisi (wie Anm. 3), S. 66. Auch Bartlosigkeit und Frisur des österreichischen Kaisers entsprechen den Gepflogenheiten der 1950er Jahre, nicht dem Äußeren des historischen Franz Josephs: Karin Rudolph, Sissi. Das Leben einer Kaiserin, Nürnberg 1998, S. 30 und Hamann, Elisabeth (wie Anm. 1), S. 8, Abbildung 28.



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achtet, die Rosenbüsche überspringend, die Konvention, hat einen beachtlichen Tierpark, liebt die Jagd, rettet aber dann doch einen Auerhahn vor ihrem Vater.59 Die junge Prinzessin kümmert sich liebevoll um ihre Vögel und um ein von ihr aufgefundenes und gerettetes Rehkitz. Lediglich das Futter lässt sie sich für ihre Tiere bringen, ansonsten erledigt sie die Versorgung alleine.60 Ihre bodenständige Natürlichkeit steht den Ansprüchen der Hofgesellschaft diametral entgegen und deswegen befindet sie sich von Anfang an in einem Spannungsverhältnis mit deren Inkarnation, ihrer Schwiegermutter Sophie. Schloss Schönbrunn kann aus ihrer Sicht nur ein „fremde[s][..], ferne[s][..] Land“61 sein mit sinnentleerten Regeln62 und unmenschlichen Verzichtsforderungen63. Wehmütig lässt sie ihre Vögel und das Rehkitz frei, bevor sie nach Wien ziehen muss: „Ich möcht‘ wenigstens meinen Tieren die Freiheit geben, wenn ich sie schon aufgeben muss.“64 Ihre Genesung im dritten Teil der Trilogie kann konsequenterweise nur weit weg von der Großstadt Wien in der unverbrauchten Natur Madeiras und Korfus gelingen. Dass die historische Elisabeth eine umfassende aristokratische Ausbildung genossen hatte, in der zum Beispiel Liebesromane streng verboten waren,65 muss der Film verschweigen. 2. Elisabeth ist ein Kind ihrer Heimat. Bayern ist ihr wesentlicher Identifikationsraum. Mehrfach trägt sie Tracht, mithin Dirndl oder rotes Lodenkleid, wobei „die Tracht [...] neben dem Dialekt eines der sinnfälligsten Mittel [ist], um auszudrücken, woher man kommt und wohin man gehört“.66 Genauso wie ihr Vater liebt sie das Zitherspiel.67 In Wien erfreut sie sich an ‚Schweinshax’n‘ und Münchner Bier.68 Die bayerische Heimat ist als locus amoenus konstruiert. Marischka nutzt ausladende, stets sonnige Panoramaaufnahmen der Voralpenlandschaft und sanfte, idyllisch anmutende Geigenmusik, um den Zuschauern eine emphatische Verbindung zum Heimatraum Sissis zu ermöglichen. Die Sehnsucht nach Bayern erwähnt die Kaiserin bereits früh und verarbeitet diese in Gedichten.69 Bei Schwierigkeiten wird Sissi auch nach ihrer Hochzeit nach Possenhofen zurückkehren. Abgesehen vom Wiener Hofleben fällt ihr der Zugang zu ihrer

59 Sissi (wie Anm. 6). 49:15. 60 Sissi (wie Anm. 6). 08:37–08:59. 61 Die junge Kaiserin (wie Anm. 6). 10:35. 62 Die junge Kaiserin (wie Anm. 6). 07:25. 19 Seiten Hofetikette sollen von der jungen Kaiserin gelernt werden. Die Regeln darin beschreibt sie als „Unsinn“. 63 Die junge Kaiserin (wie Anm. 6). 47:08. Der Verzicht auf ihr Kind aufgrund von Staatsreisen. 64 Sissi (wie Anm. 6). 01:24:43. 65 Gabriele Praschl-Bichler, Kaiserin Elisabeth. Mythos und Wahrheit, Wien 1996, S. 196. 66 www.buergerzentrum.net/mirror/upload/1114700753.pdf [15.03.2013]. 67 Sissi (wie Anm. 6). 50:50. 68 Die junge Kaiserin (wie Anm. 6). 23:04. 69 Die junge Kaiserin (wie Anm. 6). 10:55.

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neuen Heimat Österreich wegen der Affinität zu Bayern leicht. Es ist für sie „[e]in schönes Land“,70 vor allem auch wegen der Berge und ihrer Tierwelt.71 3. Elisabeth ist die bezaubernde Tochter mit bezaubernden, geschlechtsspezifisch klar konturierten Eltern. Streit mit ihnen gibt es nicht, niemals verliert Sissi ein böses Wort über sie. Die Eltern sind ihr ein stützender Anker, sie ist ihnen ein Sonnenschein. Körperliche Intimität in Form von Umarmungen und Liebkosungen ist – im Gegensatz zur Wiener Hofwelt – fester Bestandteil von Sissis Familienleben.72 Sissis Vater und Mutter führen entgegen der historischen Realität73 eine glückliche, von gegenseitiger Zuneigung geprägte Ehe. Mit Herzog Max in Bayern verbindet Sissi im Film eine enge Beziehung, die wesentlich durch die frappierende Ähnlichkeit der beiden begründet ist. Auch ihr Vater liebt das ländliche, naturverbundene Leben fern ab von höfischen Zwängen. Die beiden gehen zusammen auf die Jagd, Sissi spricht ihn zärtelnd mit „Vati“ an. Der Stolz des Vaters auf seine ihm so ähnliche Tochter ist überdeutlich. Sie ist sein „schönste[s] Weihnachtsgeschenk“.74 Er ist überaus interessiert am Seelenhaushalt seiner Tochter und diskutiert diesen wiederholt mit seiner Frau, eine direkte Beteiligung an emotionalen Angelegenheiten vermeidet er jedoch. Deshalb ist er auch über weite Strecken der Trilogie, zumal im dritten Teil, ein papa absconditus. Hier liegt der Zuständigkeitsbereich von Sissis Mutter. Die Mutter-Tochter-Beziehung unterliegt zwar in den drei Teilen einer Wandlung, verliert aber nie an Intensität. Während im ersten Teil primär eine liebevolle Mutter-Kind-Verbindung existiert, wandelt sich die Beziehung in den Folgeteilen zu einer, in der Herzogin Ludovika als beratende Stütze für ihre Tochter da ist. Sissi weiß, dass ihre Mutter stets besorgt um sie ist. Daran ändert auch die Heirat nichts. So flieht die Kaiserin nach einem Streit mit ihrer Schwiegermutter zu ihren Eltern. Sie erzählt ihrer Mutter zunächst nicht die Wahrheit über ihren Besuch in Possenhofen, um diese nicht zu verstören.75 Sie muss jedoch einsehen, dass sich die Herzogin ihre Mutterpflichten nicht nehmen lassen will und kann. Als Ludovika von den Differenzen zwischen Elisabeth und der Erzherzogin erfährt, tritt sie dann umgehend als Unterstützerin ihrer Tochter auf.76 Im Gespräch mit ihrem Schwiegersohn vergisst sie sogar kurzzeitig jede Etikette. Sie formuliert ihre Kritik mit unverhohle70 Sissi (wie Anm. 6). 01:31:11. 71 Sissi (wie Anm. 6). 50:50; Die junge Kaiserin (wie Anm. 6). 01.06.44, 01:07:12; Schicksalsjahre einer Kaiserin (wie Anm. 6). 48:05. 72 Die junge Kaiserin (wie Anm. 6). 55:05. 73 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 1), S. 33. 74 Die junge Kaiserin (wie Anm. 6). 39:35. Prinzessin Elisabeth in Bayern wurde am 24. Dezember geboren: Joan Haslip, Elisabeth von Österreich, München 1972, S. 18. 75 Die junge Kaiserin (wie Anm. 6). 54:07. Herzogin Ludovika möchte wissen, wie es um das Verhältnis ihres Kindes mit der Schwiegermutter steht. Diese verschweigt ihr aber die nach wie vor großen Unstimmigkeiten zwischen ihr und Erzherzogin Sophie, um die Mutter nicht zu sorgen. 76 Die junge Kaiserin (wie Anm. 6). 01:04:04.



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ner Eindringlichkeit, ohne auf die Rangunterschiede zwischen ihnen Rücksicht zu nehmen. Die Herzogin erreicht schließlich, dass Franz Joseph Verständnis für seine Frau entwickelt.77 Im dritten Teil der Trilogie ist es ebenfalls Ludovika, die weite Entfernungen und hohen Zeitaufwand nicht scheut, um Sissi bei ihren Kuraufenthalten zur Seite zu stehen, und so entscheidend zur Genesung der Kaiserin beiträgt: Ich hab solche Sehnsucht nach dir gehabt, wollte dir nur nicht schreiben, dass du kommen sollst wegen dieser langen Reise! – Aber mein Kind, ich wär‘ doch zu dir gekommen, wenn du zehnmal so weit weg gewesen wärst, weil ich weiß, dass du mich jetzt brauchst.78

4. Elisabeth ist ein Inbegriff von zeitgemäßer Gottesfürchtigkeit. Sie ist nicht ostentativ gläubig, aber an ihrer tiefen Frömmigkeit kann kein Zweifel bestehen. Von ihrem Vater erbt sie einen stark pantheistisch geprägten Glauben: Wenn du einmal im Leben Kummer oder Sorgen haben solltest, dann geh‘, wie jetzt mit offenen Augen durch den Wald, und in jedem Baum, jedem Strauch und in jeder Blume wird dir die Allmacht Gottes zum Bewusstsein kommen und dir Trost und Kraft spenden.79

Später findet sie im Glauben immer wieder Halt und spricht auch während ihrer Krankheit im dritten Teil mit Gott. Bezeichnenderweise nimmt Marischka in der jeweils letzten Kameraeinstellung der drei Teile eine Kirche in den Fokus, im dritten Teil ragt sie im Hintergrund hervor; Glockengeläut wird zur Friedensmusik.80 Geistliche dominieren am Ende die Szenerie auf dem Markusplatz, wobei sie gütig, verständnisvoll und weise gezeichnet sind. Sie gehen bei der Versöhnung von Venezianern und Österreichern voran, Sissi und ihre Familie folgen ihnen in gottesfürchtiger Demut. 5. Elisabeth ist die ideale Mutter. So stark auch die Etikette sein mag – wenn es um ihr Kind geht, geht sie auf Konfrontationskurs. Sie setzt sich über monarchische Erwartungen hinweg und verlässt ihre Tochter im dritten Teil sogar zu deren eigenen Schutz. Am Ende ist es ihre große Mutterliebe gegenüber ihrer etwa fünfjährigen Tochter, die sie diplomatische Konventionen vergessen und das Herz der Venezianer gewinnen lässt („Viva la mamma!“). Um den Eindruck der strahlenden Mutterschaft nicht zu schmälern, blendet Marischka völlig aus, dass die historische Elisabeth vier Kinder hatte (Sophie Friederike, geboren 1855; Gisela, geboren 1856; Rudolf, geboren 1858; Marie, geboren 1868), wobei die Erst-

77 Die junge Kaiserin (wie Anm. 6). 01:04:11. 78 Schicksalsjahre einer Kaiserin (wie Anm. 6). 01:06:54. 79 Sissi (wie Anm. 6). 16:42. 80 Sissi (wie Anm. 6). 01:40:27; Die junge Kaiserin (wie Anm. 6). 01:40:30; Schicksalsjahre einer Kaiserin (wie Anm. 6). 47:50.

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geborene 1857 mit knapp zwei Jahren auf einer Ungarnreise verstarb.81 Seine Narration konterkariert gleichermaßen der Umstand, dass die historische Elisabeth nur wenig Interesse zumindest an ihren ersten drei Kindern hatte82 und sogar der Erstkommunion Giselas fern blieb83. 6. Elisabeth ist die populäre und menschennahe Herrscherin. Sie kann sehr gut mit einfachen Menschen umgehen und wird dafür von ihnen geliebt. In Possenhofen versorgt sie eine alte Frau, wobei der Standesunterschied überhaupt keine Rolle spielt.84 Im zweiten Film berichtet die Kaiserin selbst von der Freundlichkeit der Wiener, die sie auf dem Kohlmarkt traf.85 Ungarn und Italiener sind ihr nicht minder zugetan. Um die bewunderungswürdige Volksnähe Sissis zu akzentuieren, erfindet der Film auch Nebenfiguren wie den historisch nicht belegten Oberst Böckl.86 7. Elisabeth ist die ideale Herrschergattin. Sie ist ihrem Mann in untertäniger Liebe, Zärtlichkeit und Treue verbunden. Bezeichnenderweise ertönt bei fast jedem Aufeinandertreffen von Sissi und ihrem Franz romantische Geigenmusik.87 Sie geht jungfräulich in die Ehe und schenkt Franz voller Freude ein Kind. Begeistert putzt sie ihm im zweiten Film die Schuhe. Nie geht ein Streit der Eheleute auf ein Verschulden der beiden zurück, für gewöhnlich zeichnet hier Sophie als Archetyp der „bösen“ Schwiegermutter verantwortlich. Sissi mag ihre Probleme mit der Etikette haben und sie bezeugt keinerlei Ambitionen auf dem Gebiet der männlich determinierten Machtpolitik, ihrer symbolpolitischen Bedeutung als Kaiserin wird sie aber immer wieder auf beeindruckende Weise gerecht. Als erste Frau der Donaumonarchie stärkt sie dem Kaiser den Rücken und nimmt ihre Pflichten sehr ernst. Obwohl es ihr nicht gut geht, erscheint sie beim Empfang der ungarischen Delegation um Graf Andrássy,88 der Sissi für die „schönste und bezauberndste Frau“ hält89. Als politisches Paar harmonieren Kaiserin und Kaiser geradezu ideal, was beim ersten Tanz des noch kinderlosen Kaiserpaares auf dem Ball zu Ehren der aus dem Exil heimgekehrten ungarischen Rebellen auch musikalisch unterstrichen wird.90 Denn Marischka wählt den überaus beliebten Straussschen Kaiserwalzer, der in realiter freilich erst 1889 uraufgeführt wurde.91 Obwohl Sissi 81 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 1), S. 113, 601. 82 Gabriele Praschl-Bichler, Unsere liebe Sisi. Die Wahrheit über Erzherzogin Sophie und Kaiserin Elisabeth. Aus bislang unveröffentlichten Briefen, Wien 2008, S. 156. 83 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 1), S. 277. 84 Sissi (wie Anm. 6). 09:55. Die Prinzessin bringt einer alten Frau Franzbrandwein, um deren Gicht zu lindern. 85 Die junge Kaiserin (wie Anm. 6). 21:24. 86 Weigand, Geschichte im Spielfilm (wie Anm. 7), S. 100. 87 Sissi (wie Anm. 6). 45:55. 88 Die junge Kaiserin (wie Anm. 6). 08:57. 89 Schicksalsjahre einer Kaiserin (wie Anm. 6). 35:25. 90 Die junge Kaiserin (wie Anm. 6). 27:57. 91 www.imdb.com/title/tt0049762/trivia?tab=gf&ref_=tt_trv_gf [25.08.2012].



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gerade erst genesen ist, reist sie mit ihrem Mann auch nach Italien. Sie lässt sich nicht von dem Missfallen beeinflussen, dass dem Herrscherpaar etwa in der Mailänder Oper entgegenschlägt. Sie ist es, die einen Affront verhindert: Den Besuchern der Scala, die vor allem aus als Adelige verkleideten Dienstboten bestehen und zum Protest Verdis Gefangenchor anstimmen, applaudiert sie wider alle Vernunft und beim anschließenden Empfang begegnet sie ihnen überaus würdevoll.92 Ohne Sissi und ihre Mutterliebe hätte es keine Versöhnung mit den Italienern gegeben. Diese Versöhnung indes ist eine Erfindung von Marischka. Als Franz Joseph im Jahre 1866 zum ungarischen König erhoben wurde – die Schlusssequenz des zweiten Sissi-Films illustriert seine Krönung – kam Venedig mithin zum längst gegründeten Königreich Italien. Zudem berichtet Elisabeths Tochter Marie Valerie, dass ihre Mutter nur Antipathie für die Italiener empfand.93 Umso nachdrücklicher erscheint der von Marischka beschworene Vierklang von Mutterschaft, Familienzusammenhalt, Kirchentreue und Frieden.

2 Der Ludwig der 1970er Jahre – eine Analyse von Sissi Visconti zeichnet ein gänzlich anderes Bild Elisabeths. Es weist vor allem drei Codierungsebenen auf: 1. Elisabeth figuriert als einsam-gedrückte Kaiserin. Sie ist meist von wenig Menschen umgeben und erscheint als Gegenteil von Volkstümlichkeit. Ihre Vertraute, Gräfin Ferenczy, beschimpft sie ungeniert als „dumme Ferenczy“94. Dialogische Sequenzen beschränken sich im Wesentlichen auf Gespräche mit ihrer Schwester Sophie und ihrem kongenialen Cousin Ludwig. Sisi leidet unter der emotionalen Ferne zu den eigenen Kindern, deren Erziehung ihre Schwiegermutter übernommen hat.95 Die Entfremdung vom Ehemann, der sich in erster Linie um die Regierungsgeschäfte kümmert und seine Frau vernachlässigt,96 könnte kaum größer sein. Auch gegenüber Ludwig kann sie keine wirkliche Nähe aufbauen. Als er seine große Zuneigung für seine Cousine verbal zum Ausdruck bringt mit den Worten: „Ich habe nie eine andere Frau geliebt als dich“,97 ringt sie um Fassung. Sisi wirkt wie eine Gefangene der Einsamkeit, Intimität scheint sie nur schwer zulassen zu können. Die Beziehung zu ihrer Schwester Sophie ist zwar durchaus von emotionaler Nähe gekennzeichnet. Davon zeugt beispielsweise die liebevolle 92 Schicksalsjahre einer Kaiserin (wie Anm. 6). 01:30:51. 93 Martha Schrad/Horst Schad (Hrsg.), Marie Valérie von Österreich. Das Tagebuch der Lieblingstochter von Kaiserin Elisabeth 1878–1899, München 2010, S. 33. 94 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 1. 34:27. 95 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 1. 19:05. 96 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 1. 20:17. 97 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 2. 05:32. Vgl. Ludwig (wie Anm. 10). Teil 1. 23:31: König Ludwig wirkt hörig.

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Art, mit der sie einander begrüßen.98 Jedoch wird die Distanz zunehmend größer, als die Verlobung von Ludwig und Sophie nicht zuletzt aufgrund der besonderen Hingabe des Königs an Elisabeth scheitert. Als die kleine Schwester Elisabeth ihr Leid klagt, wird der Bruch manifest. Die Vorwürfe der jungen Sophie nicht ertragend, reagiert die ihr gegenüber sonst so liebevolle Schwester gewalttätig.99 2. Elisabeth ist die fliehende und damit unfähige Herrschergattin. Sie verabscheut das einengende Hof- und Gesellschaftsleben. Obschon sie ihre Mutter und Geschwister durchaus gern um sich hat,100 ist ihr die Inszenierung von Verwandtschaft ein Gräuel. Um einem Familientreffen zu entgehen, verwendet sie mitunter eine vorgeschobene Erkrankung. Sogar bei der Krönung ihres Cousins erscheint sie nicht, um der „versammelten Verwandtschaft“101 nicht begegnen zu müssen. Innere Distanzierung illustriert Visconti in diesem Kontext durch den Verzicht auf jegliche Hintergrundmusik, als Ludwig in einem ungeplanten Familientreffen auf seine Tante und seine Cousins und Cousinen trifft.102 Zu den bevorzugten Beschäftigungen Elisabeths gehört das nächtliche Ausreiten ohne Dienerschaft und auch ihr Engagement als Pferdeartistin trägt ebenso wie ihre Reiselust eskapistische Züge. Ihr Eskapismus lässt Elisabeth symbolpolitisch versagen. Sie begibt sich beispielsweise nach Bad Ischl, wo ein Treffen der gekrönten Häupter aus Russland, Deutschland und Österreich stattfindet. Sie verweigert sich jedoch der Pflichterfüllung, indem sie sich dem abendlichen Diner durch eine erneute Ausrede entzieht.103 3. Elisabeth ist die desillusioniert-realistische Kaiserin. Deswegen sagt sie auch „immer, ob […] [ihr] etwas passt oder ob es […] nicht passt“.104 Sie versteht das Bedürfnis ihres Cousins nach Erreichen eines absolut harmonischen Zustandes. Den utopischen Träumereien ihres Cousins kann sie jedoch nur wenig abgewinnen. Visconti treibt diesen Aspekt voran, indem er einen historisch höchst fragwürdigen Besuch Elisabeths auf Herrenchiemsee zeigt. Mit dezidierter Kritik an Ludwigs Engagement für Wagner nebst dem Verweis auf seine ausufernden Ausgaben will sie ihm vor Augen führen, dass er durch andere keine Unsterblichkeit erlangen kann. Sie möchte den König davon überzeugen, dass er sich aus seinen Illusionen löst und dem unausweichlichen Schicksal eines bedeutungsarmen Lebens hingibt. Daher auch ihr – die historische Überlieferung konterka-

98 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 3. 01:46. 99 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 3. 26:02. 100 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 1. 38:27. 101 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 1. 15:20. 102 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 1. 37:30. 103 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 1. 40:04. Neben der herzoglichen Familie aus Bayern weilten die Zarin von Russland und der deutsche Kronprinz Wilhelm in Ischl. Die Kaiserin berichtet zusätzlich von einem baldigen Eintreffen des Kaisers Franz Joseph. 104 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 3. 02:07.



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rierender – Einsatz für eine Hochzeit mit ihrer Schwester Sophie,105 von der die historische Elisabeth wohl überaus überrascht war.106 Umso getroffener ist sie, als sie einsehen muss, dass ihre persönliche Kraft und Bindung nicht ausreicht, um ihren Cousin zu retten. Melancholie breitet sich in ihr aus, wie die Fahrt von Schloss Berg nach der Empfangsverweigerung zeigt, als sie geistesabwesend aus der Kutsche blickt.107 Sie scheint zu ahnen, dass zur selben Zeit Ludwig verzweifelt nach ihr ruft.108 Um die realistische Attitüde zu unterstreichen, verleiht Visconti der österreichischen Kaiserin sogar in bitterer Ironie prophetische Züge: „Die Geschichte vergisst uns, es sei denn, jemand gibt uns Bedeutung, indem er uns ermordet.“109

V Der Elisabeth-Mythos und seine Zeit In ihrer Codierung als lebenslustiger und freiheitsliebender Wildfang, Kind ihrer Heimat und der Kirche, bezaubernde Tochter eines bezaubernden, klar nach Geschlechterrollen operierenden Paares sowie als aufopfernde Mutter und Ehefrau traf die Elisabeth-Darstellung der 1950er Jahre offenkundig den Nerv ihrer Zeit. Die Gesamtzahl der Kinobesucher dürfte für den deutschsprachigen Raum immerhin bei etwa 25 Millionen liegen. Hier wird augenscheinlich auf kollektive Befindlichkeiten und Sehnsüchte referiert: etwa eine unbändige „Lebenslust und […] den Drang nach dem Schönen“.110 Die Filme treffen sich mit Lilo Aureders 1955 veröffentlichtem, höchst erfolgreichem Ratgeber Schön sein, schön bleiben111 und den 1956 erstmals abgehaltenen Wahlen zur Miss Germany112. Es geht um Distanzierung gegenüber den kollektiven Erfahrungen von Verlust, Tod, Trauer, Fremdbestimmung und nicht zuletzt Schuldzuweisung in Krieg und Nachkriegszeit, mithin „schuldverdrängende[..] Verharmlosung“.113 Die Sissi-Filme wie auch die sehr erfolgreichen Fernwehund Heimatschlager der 1950er Jahre (Komm ein bisschen mit nach Italien, Am weißen Strand von Soerabaya, Der weiße Mond von Maratonga, Heimweh, Bei mir zu Haus, Eine Handvoll Heimaterde) vermochten die Sehnsucht der Menschen nach Stabilität, Sicherheit und positiver regionaler und nationaler Identität zu stimulieren. Angesichts immer noch zahlloser zerstörter Häuser und Straßen, aber auch auf der Nega105 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 2. 05:19. 106 Hüttl, Ludwig II. (wie Anm. 32), S. 104. 107 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 4. 37:08. 108 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 4. 36:57. 109 Ludwig (wie Anm. 10). Teil 2. 05:01. 110 Hermann Glaser, Die 50er Jahre. Deutschland zwischen 1950 und 1960, Hamburg 2007, S. 10. 111 Glaser, Die 50er Jahre (wie Anm. 110), S. 11. 112 Glaser, Die 50er Jahre (wie Anm. 110), S. 46. 113 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 1), S. 681.

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tivfolie nationalsozialistischer Kirchen- und Sexualpolitik114 sowie kriegsbedingt massenhaft zerschlagener oder geschädigter Familien war das Bedürfnis nach Selbstbestimmung, Entsexualisierung, Klarheit in den Geschlechterverhältnissen, Re-Etablierung der Kirchen und der Nation sowie einem konfliktfreien Leben sehr hoch. Viscontis Film dagegen erreichte im deutschsprachigen Raum lediglich ein größeres Nischenpublikum,115 wozu auch äußere Umstände wie ein Schlaganfall des Regisseurs kurz nach Drehschluss und der Wunsch der Produzenten nach einer Kürzung der Originalfassung beitrugen.116 Viscontis Bemühungen um „ästhetische[n] Protest“117 nebst einer Konturierung Elisabeths als einsam-bedrückte, flüchtende und desillusioniert-realistische Kaiserin trafen in einer von den Forderungen der 68er geprägten Zeit durchaus auf positive Resonanz. Die Antithese der MarischkaElisabeth passte in ein Umfeld, das gesellschaftliche Reformen, Transformationsstrategien, Alternativkulturen und Klischeebrechungen beschwor.118 Immerhin berichtete der italienische Regisseur selbst vom Niedergang konservativer Werte.119 Als Versinnbildlichung für die katastrophalen Ausmaße gesellschaftlicher Konventionen und das verzweifelte Bemühen um Flucht vor traditionellen Erwartungen konnte Sisi durchaus Sehnsüchte stimulieren. Allerdings war die Wirkungsmächtigkeit dieser Mythosmanifestation stark begrenzt. Die Zuschauerzahlen bei Fernsehübertragen der Sissi-Trilogie Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre belegen ähnlich wie der Umstand, dass Heintje mit Mama ausgerechnet im April 1968 Platz 1 der deutschen Schallplattencharts belegte: In den Geschichtsbüchern mögen die 60er und beginnenden 70er Jahre als „eine wechselvolle Phase des Übergangs, ja der Zeitenwende“ firmieren120 – Sissi und mit ihr die Sehnsüchte der 1950er Jahre bestimmten immer noch das Denken und Handeln der Menschen.

114 Zu letzterer, deren progressive Züge die Forschung lange Zeit verkannt hat: zum Beispiel Dagmar Herzog, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2005. 115 Enrico Medioli, Über LA CADUTA DEGLI DIE und LUDWIG, in: Storch, Götterdämmerung (wie Anm. 27), S. 39-42, hier S. 42. 116 Schifano, Visconti (wie Anm. 35), S. 526. Erst fünf Jahre nach Drehschluss konnten die Rechte für das Werk von Freunden und Verwandten sowie ehemaligen Mitarbeitern des mittlerweile verstorbenen Regisseurs erworben und die Originalversion rekonstruiert werden. 117 Knut Hickethier, Protestkultur und alternative Lebensformen, in: Werner Faulstich (Hrsg.), Die Kultur der 60er Jahre. Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2003, S. 11–30, hier S. 28. 118 Hickethier, Protestkultur (wie Anm. 117), S. 26. 119 Hickethier, Protestkultur (wie Anm. 117), S. 12. 120 Klaus Hildebrandt, Die totalitäre Erfahrung, München 1987, S. 445.

Susanne Barbara Schmid

Der Kini und das Kino Ludwig II. im Film

I Einführung Ludwig II. war als „Meister der Verrätselung“1 wesentlich an der Genese des eigenen Mythos beteiligt.2 Er lieferte mithin Schablonen, die bis heute die Erinnerung an ihn prägen: Er firmiert als anmutiger und jugendlicher Märchenkönig, als Visionär und Träumer, als Kunstförderer und Erbauer von Schlössern, deren Schönheit bis heute fasziniert. Zugleich gilt er als moderner Monarch, der den technischen Fortschritt begrüßte und förderte. Dann sind da die Bilder eines menschenscheuen, unverstandenen Regenten, der sich in seine Traumwelt flieht, den Bezug zur Realität verliert und der klischeehaft die Souvenirgeschäfte füllt. Außerdem ist er der unfähige, geisteskranke König, der seiner politischen Aufgabe nicht gerecht wurde. Ludwig gilt als Archetyp des Bayern – der Vergangenheit verhaftet und der Zukunft zugewandt, Traditionsliebhaber und Technikfreund, „einfach anders und manchmal fremd“, aber im Grunde wohlwollend und gutherzig.3 Es blüht die Vorstellung vom friedliebenden Herrscher, der die Souveränität seines Königreiches erhalten wollte, der jedoch aussichtslos umgeben war von machtgierigen Personen und Interessengruppen – wie Ministern, Generälen, Preußen und letztlich der eigenen Verwandtschaft. Ludwigs ungeklärter Tod im Starnberger See erscheint in jedem Fall als tragisch und treibt seine Verrätselung auf die Spitze. Es sind letzthin die Vorstellungen von Genie und Wahnsinn, von Glanz und Elend, von Macht und Anderwelt, die Ludwig II. bis heute – 127 Jahre nach seinem Tod – im kollektiven Gedächtnis präsent erhalten. Angesichts von diversen Postkarten, Bildern, Münzen, Postern, Ansteck- und Hutnadeln, Gläsern, Krügen, Deckchen, T-Shirts, Krönchenanhängern, Büchern, Ballettaufführungen, Musicals, Webseiten, Ludwig-Feiern und nicht enden wollender „Pilgerfahrten“ zu seinen Schlössern scheint sich bewahrheitet zu haben, was eine Münchner Zeitung zu seinem 12. Todestag verkündete:

1 Richard Loibl, Götterdämmerung. König Ludwig II. und Bayern – Mythos und Realität. Eine Einführung in die Ausstellung, in: Peter Wolf u.a. (Hrsg.), Götterdämmerung. König Ludwig II. und seine Zeit. Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2011, Augsburg 2011, S. 15–25, hier S. 20. 2 Bis heute ist eine qualifizierte und umfassende Biographie über den Wittelsbacher ein Desiderat. Hierauf hat schon verwiesen: Christof Botzenhart, „Ein Schattenkönig ohne Macht will ich nicht sein“. Die Regierungstätigkeit König Ludwigs von Bayern (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 142), München 2004, S. 200. 3 Loibl, Götterdämmerung (wie Anm. 1), S. 15.

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Die Zeit werde die Erinnerung an die herrliche Gestalt und die wahrhaft majestätische Persönlichkeit des einsamen Königs nicht verwischen oder gar auslöschen können. Denn die im heimischen Boden verwurzelten Söhne und Töchter unseres Vaterlandes, [...] sie fühlen und denken ganz anders als die [...] Machthaber, welche sich emsig, aber ebenso vergeblich bemühen, die ideale Lichtgestalt des unvergeßlichen Königs zu verdunkeln.4

Der Mythos des Königs erscheint im buchstäblichen Sinne überlebensgroß und fand doch bisher selten eine systematische wissenschaftliche Analyse. Es fehlt bis heute eine auf ausreichender Quellenbasis gestützte Untersuchung der Popularität des Königs von dessen Lebzeiten bis zur Gegenwart. Es ist zu konstatieren, dass häufig Darstellungen über den Herrscher mit dem Titel „Mensch und Mythos“5 irreführend sind, da sie nicht die Sichtweisen der Nachwelt auf den König betrachten, sondern selbst „Arbeit am Mythos“ (Blumenberg) betreiben und eine verklärte Schilderung seines Lebens bieten. Dietmar Schulze liefert immerhin einen Überblick der seit den 1860er Jahren geplanten und entstandenen Ludwig-Denkmäler, den Wandel der politisch-gesellschaftlichen Kontexte macht er aber nicht deutlich.6 Einen wichtigen Beitrag in der Forschung zum Ludwig-Mythos kann Alfons Schweigert mit seiner Untersuchung über die Entstehungsgründe und Ziele der König-Ludwig-Vereine leisten.7 Zumal das publikumsträchtige Medium des Films und sein Anteil an der (Re-) Produktion des Ludwig-Mythos wurde bisher nicht umfassend erforscht.8 Eva Warth9 und zuletzt Bernd Kiefer10 bieten zumindest eine Übersicht der Ludwig-Filme, eine ausreichende Analyse der Tiefenstrukturen bleibt hierbei jedoch aus. Christine N. 4 Franz Merta, „Und dieser König stirbt in Wahrheit nicht“. Das Herrscherethos König Ludwigs II, in: Wolf, Götterdämmerung (wie Anm. 1), S. 179–183, hier S. 183. 5 So beispielsweise: Rudolf Reiser, König Ludwig II. Mensch und Mythos zwischen Genialität und Götterdämmerung, Regensburg 2010. 6 Dietmar Schultze, Ludwig II. Denkmäler eines Märchenkönigs, München 2011. 7 Alfons Schweiggert, König Ludwig II. – Deine Treuen. Bayerns König Ludwig II.-Vereine und -Verehrer, St. Ottilien 2011. 8 Dabei wurde das Leben des Bayernkönigs Ludwig II. schon früh in der Filmgeschichte zum Thema und kaum ein Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts blieb ohne „seinen“ Film über Ludwig II. Bereits in den 1920er Jahren erschien der Stummfilm „Das Schweigen am Starnbergsee“ unter der Regie Rolf Raffeés. Ein Jahrzehnt später führte Wilhelm Dieterle 1930 Regie in der Verfilmung „Ludwig der Zweite, König von Bayern“. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ dann Helmut Käutner den „guten, alten Bayernkönig“ aus einer Zeit, „in der die Welt noch in Ordnung war“, in „Ludwig II. Glanz und Elend eines Königs“ 1955 wieder aufleben. 1972 nahm sich Luchino Visconti des Stoffes an und setzte die Geschichte des Medienmonarchen mit seinem „Ludwig II.“ fort. Weitere Verfilmungen wie „Im Ozean der Sehnsucht“ von Christian Rischert aus dem Jahre 1986 und „Ludwig 1881“ aus dem Jahre 1993 folgten. 2012 erschien unter der Regieleitung von Peter Sehr und Marie Noelle ein Ludwigfilm mit Sabin Tambrea in den Kinos. 9 Eva Warth, Das Melodram als Königsweg. Helmut Käutners Film Ludwig II. (BRD 1954), in: Katharina Sykora (Hrsg.), „Ein Bild von einem Mann“. Ludwig II. von Bayern. Konstruktion und Rezeption eines Mythos, Frankfurt am Main/New York 2004, S. 239–251. 10 Bernd Kiefer, „Vom Traum-König zum Illusions–Künstler. Das Nachleben Ludwigs II. in Literatur und Film“, in: Wolf, Götterdämmerung (wie Anm. 1), S. 246–256.



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Brinckmann stellte die Relevanz des Hauptdarstellers am Beispiel von Helmut Berger heraus.11 Doch während auch Giorgio Biancorosso12 und Claudia Breger13 Aspekte in einzelnen Streifen untersuchten, fehlt bisher eine qualifizierte vergleichende Perspektive. Dabei vermag eine diachron angelegte Filmanalyse Wesentliches für die Betrachtung eines Mythos zu leisten: Sie hilft zum einen, die Wandelbarkeit seiner „Mytheme“14 und damit seine – häufig unterbelichtete – Historizität – nachzuvollziehen. Zum anderen gibt sie Einblick in die Rezipientenseite und damit Aufschluss über die Wirkungsmächtigkeit der mythischen Erzählung. Eingedenk dessen sollen auf Grundlage des von der Gruppe „FUER Geschichts­ bewusstsein“15 entwickelten Leitfadens zur ‚De-Konstruktion‘ von historischen Narration im Folgenden die Ludwig-Verfilmungen von Helmut Käutner16 und Luchino Visconti17 Gegenstand der Betrachtung sein. Es soll eruiert werden, inwiefern die filmisch präsentierten Mytheme auf die Gesellschaftszustände ihrer jeweiligen Entstehungszeit hinweisen, sie einerseits beeinflussen und andererseits versuchen, ihnen gerecht zu werden.*

II Oberflächenstruktur 1 Die Regisseure Helmut Käutner wurde am 25. März 1908 in Düsseldorf als Sohn des Kaufmanns Paul Käutner und seiner Frau Claire geboren. Bereits in jungen Jahren trat er mit einer Laienschauspielgruppe, deren Leitung Käutner bald übernahm, auf die Schulbühne. Seinen Vater verlor er im Ersten Weltkrieg, seine Mutter kurz danach. Der junge Abiturient begann ein Studium an der Düsseldorfer Kunstgewerbeschule für Reklame, Innenarchitektur und Grafik. Kurze Zeit später allerdings wechselte er an * Für wichtige Hinweise bin ich Tobias Hirschmüller M.A. sehr dankbar. 11 Christine N. Brinckmann, Helmut Berger als Ludwig II. Erscheinungsbild, Körpersprache, Suggestivkraft, in: Sykora, „Ein Bild von einem Mann“ (wie Anm. 9), S. 252–273. 12 Giorgio Biancorosso, Ludwig’s Wagner and Visconti’s “Ludwig“, in: Jeongwon Joe/Sander L. Gilman (Hrsg.), Wagner and cinema, Bloomington u.a. 2010, S. 333–357. 13 Claudia Berger, Gewalt und Geschlecht im (dritten) Reich des Märchenkönigs. Syberbergs „Ludwig“, in: Hanno Ehrlicher (Hrsg.), Gewalt und Geschlecht. Bilder, Literatur und Diskurse im 20. Jahrhundert, Köln u.a. 2002, S. 43–60. 14 Hans Rudolf Wahl, Otto von Bismarck und der Prozess seiner Mythisierung, in: Markus Raasch (Hrsg.), Die deutsche Gesellschaft und der konservative Heroe. Der Bismarckmythos im Wandel der Zeit, Aachen 2010, S. 19–34, hier S. 19. 15 www.fuer-geschichtsbewusstsein.de [18.03.2013]. 16 Helmut Käutner, „Ludwig II. Glanz und Elend eines Königs“, 1955 (Film, 1 DVD, Kinowelt Home Entertainment). 17 Luchino Visconti, „Ludwig II“, 1972 (Film, 2 DVD, Arthaus Premium).

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die Universität in München und nahm das Studium der Germanistik, Philosophie, Kunstgeschichte sowie Psychologie auf. Er schloss sich außerdem dem literarischen Kreis des Theaterwissenschaftlichen Seminars an. Anfang der dreißiger Jahre startete Käutner seine Kabarettistenzeit. In diesem Zusammenhang begann er, Laienspiele zu schreiben, wie sein erstes Stück „Hier irrt Goethe“ aus dem Jahr 1932. Im gleichen Jahr gab er mit der Verfilmung „Kreuzer Emden“ sein Film-Debüt. Nach etlichen Schauspiel- und Regieauftritten unter anderem im Ensemble der Bayerischen Landesbühne in Wunsiedel, im Schauspielhaus in Leipzig, bei den Kammerspielen in München und am Staatstheater in Berlin, wurde Käutner dann Ende der dreißiger Jahre CoAutor der Bavaria-Filmgesellschaft und trat 1939 eine Stelle als Regie-Assistent in Berlin an. Goebbels hielt ihn für befähigt, mit amüsanten Unterhaltungsfilmen sein Propagandaprogramm zu verwirklichen. Käutner erfüllte Goebbels Erwartungen und schaffte es überdies – trotz strenger Kontrolle seiner Filme – seine anti-propagandistische Einstellung in diese hineinzuarbeiten. So drehte er Szenen, die seine klare anti-nationalsozialistische Haltung offenlegen, veröffentlichte diese freilich erst nach 1945. Hennig Harmssen bezeichnet sie deshalb als „Schmuggelware“18 und betont die Leistung Käutners, seine besten Filme unter der Diktatur Hitlers gedreht zu haben.19 Trotz einiger Schwierigkeiten gründete Helmut Käutner bereits 1946 die „CameraFilm GmbH“ in Hamburg und begann ein Jahr später, im Rahmen dieser zu drehen.20 Mit seiner Ludwig-Verfilmung kam auch Helmut Käutner auf einigen Umwegen bei dem Genre des Heimatfilms an und präsentierte dem Kinobesucher O.W. Fischer als „lustwandelnden, wehklagenden, musikvernarrten, versponnenen, traumatischen Rauschgold-Fantasten“21 und „Märchen-Monarch“22, der mit jener „überhöhten Leidenschaft“23 ausgestattet ist, die in den „fünfziger Jahren im deutschen Film gang und gäbe ist“.24 Für Hildegard Knef stand in Bezug auf Käutner dessen ungeachtet fest: „Er gehörte auf jeden Fall zu den ganz großen Künstlern seiner Generation, einer, der [...] in unschöner Zeit die schönsten Filme gedreht hat, die ich kenne. [...] Den jungen Regisseuren des neuen deutschen Films war er eine der wenigen Vaterfiguren. Er hat auf diesem zernarbten Boden Deutschlands [...] Meisterwerke geschaffen.“25 Luchino Visconti wurde am 2. November 1906 in eine Hochadelsfamilie hineingeboren. Seine Vorfahren herrschten 200 Jahre lang über Mailand. Gemäß seinem Stand wurde Luchino Visconti konservativ erzogen, aber auch das Künstlertum spielte von Anfang an eine Rolle. Da seine Eltern über eine private Loge in der Mailänder Scala verfügten, machte er früh Bekanntschaft mit dem Theater sowie seinen Künstlern 18 Peter Cornelsen, Helmut Käutner. Seine Filme – sein Leben, München 1980, S. 18. 19 Cornelsen, Helmut Käutner (wie Anm. 18), S. 23–35. 20 Cornelsen, Helmut Käutner (wie Anm. 18), S. 70. 21 Cornelsen, Helmut Käutner (wie Anm. 18), S. 95–96. 22 Cornelsen, Helmut Käutner (wie Anm. 18), S. 95. 23 Cornelsen, Helmut Käutner (wie Anm. 18), S. 96. 24 Cornelsen, Helmut Käutner (wie Anm. 18), S. 96. 25 Cornelsen, Helmut Käutner (wie Anm. 18), S. 16–17.



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und der Musik und lernte beides zu lieben: „Ich bin mit dem Bühnengeruch in der Nase auf die Welt gekommen.“26 Zusammen mit seinen fünf Geschwistern inszenierte er in der Villa seiner Eltern erste Bühnenstücke: „Schon früh begannen wir Kinder, zu Hause Theater zu spielen. In einem Garderobenzimmer. Ich war Regisseur und Schauspieler.“27 Mit 20 Jahren trat Luchino seinen Dienst in der Kavallerie an und lebte seine Leidenschaft für Pferde und die Reiterei. Zwei Jahre später wechselte er zum Pferdesport und glänzte mit zahlreichen Erfolgen. Visconti lagen – wohl aufgrund seines Reichtums, seiner Herkunft, aber auch seines Aussehens – die Frauen zu Füßen. Er aber machte kein Geheimnis um seine Homosexualität. Anders als Käutner kam Visconti erst vergleichsweise spät zum Medium Film. Obwohl er nach einer Deutschlandreise 1933 anfangs von den Nazis beeindruckt war, änderte er seine politische Meinung bald und erkannte die Gefahren des Faschismus: „Damals gingen mir wirklich die Augen auf. Ich kam aus einem faschistischen Land, wo man einfach nichts erfahren, nichts lesen, nichts wissen, noch persönliche Erfahrungen haben konnte.“ So wurde Visconti ein Anhänger der Linken und nahm Kontakt zu den Anhängern der verbotenen Kommunistischen Partei auf. Durch sie kam er zu der Gruppe um die antifaschistische Zeitung „Cinema“ und somit zum Film. Nachdem er 1935 als Regieassistent und Bühnenbildner in Frankreich seine filmische Karriere begonnen hatte, erschien 1942 Viscontis neorealistischer Film „Ossessione – Von Liebe besessen“. Da nach Erscheinen des Films viele Anhänger der „Cinema“-Gruppe in Haft kamen, ging er in die Geschichte ein als ein „Symbol des antifaschistischen Aufbegehrens“.28 Im weiteren Kriegsverlauf wurde Visconti von der Gestapo verhaftet und erst nach Ende des Krieges wieder freigelassen. Wenig später begann er weiter als Regisseur zu arbeiten, doch fiel ihm der Einstieg schwer. Ähnlich wie Käutner schrieb auch er für das Theater und sollte damit vorrübergehend erfolgreich sein. Er agierte als Opernregisseur und erlebte seine größten Erfolge dann doch wieder als Filmemacher: An erster Stelle ist hier seine „Deutsche Triologie“ zu nennen, „Die Verdammten“ (1969), „Tod in Venedig“ (1970) und „Ludwig II.“ (1972).29 Die auffallende Tatsache, dass seine Protagonisten darin allesamt scheitern, bestärkte Visconti mit den Worten: „Ich ziehe es vor, die Geschichte von Niederlagen zu erzählen, einsame Seelen und von der Wirklichkeit erschlagene Schicksale zu beschreiben. Vielleicht versteckt sich hinter jedem meiner Filme ein anderer: Der wahre, niemals gedrehte Film über die Viscontis gestern und heute.“30 Trotz seiner vergleichsweise späten filmischen Karriere mit 36 Jahren hat sich Visconti im Filmgeschäft einen Namen gemacht. Er gehört zu den Begründern des 26 www.arte.tv/de/biografie-filmo-bibliographie/2195070.html [05.03.2013]. 27 Aurelio Di Sovico, Ich, Luchino Visconti. Bekenntnisse und Erinnerungen, in: Wolfgang Storch (Hrsg.), Götterdämmerung. Luchino Viscontis deutsche Trilogie, Berlin 2003, S. 11. 28 www.arte.tv/de/biografie-filmo-bibliographie/2195070.html [05.03.2013]. 29 www.arte.tv/de/biografie-filmo-bibliographie/2195070.html [05.03.2013]. 30 Luchino Visconti, Ludwig II. Arthaus Premium 1972. Begleitheft zum Film.

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italienischen Neorealismus und seine Filme reihen sich ein in die Klassiker der internationalen Filmgeschichte.

2 Die Filme Käutners „Ludwig II. – Glanz und Elend eines Königs“ ist eine Produktion der AuraFilmproduktions-GmbH nach dem Drehbuch Georg Hurdaleks, Peter Berneis und Kadidja Wedekinds und wurde am 14. Januar 1955 – mitten in der Blütezeit des deutschen Kinos – in München uraufgeführt. Die Kameraführung übernahm Douglas Slocombe. Die musikalische Umrahmung basiert auf Werken Richard Wagners.31 Käutner besetzte seinen Ludwig-Film mit damals bereits bekannten Schauspielern. So präsentierte er Otto Wilhelm Fischer (kurz: O.W. Fischer) in der Rolle des bayerischen Königs Ludwig II. „Es war kein großer Film. Intellektuelle Filmkritiker haben ihn ein weiß-blaues Märchen genannt. Trotzdem hatte der Film etwas von der Unwirklichkeit des Schicksals, die Ludwig II. umgab. Man konnte ihr nur nachtwandelnd folgen, um ihr gerecht zu werden.“32, sagte der Hauptdarsteller über. Fischer wurde wesentlich für den „monumentalen Erfolg“33 des Ludwig-Films verantwortlich gemacht. Er brillierte mit „grenzenloser Identifikation“34 in der Rolle Ludwigs II. und wurde dafür sowohl mit dem deutschen Filmpreis als auch einem seiner insgesamt vier Bambis ausgezeichnet. Fischer überzeugte auch das Haus Wittelsbach und wurde von Kronprinz Rupprecht auf Schloss Nymphenburg empfangen: eine Erfahrung, die er zu den „unauslöschlichen Ereignissen“35 seines Lebens zählte. Ihm an die Seite stellte Käutner die damals als „ideale Frau“ geltende bekannte Schauspielerin Ruth Leuwerik. Sie verkörperte Ludwigs Seelenverwandte und Großcousine Elisabeth. Selbst Thomas Mann beschrieb Leuwerik als „eine Frau beträchtlicher Ansehnlichkeit“36 und der Kritiker Gunter Groll nannte sie eine „Darstellerin von beträchtlichem Reichtum der Mittel: beherrscht-lebendig, maßvoll-intensiv und auf das Liebenswürdigste gescheit“.37 Ruth Leuwerik erhielt für ihre schauspielerische Leistung insgesamt fünf Bambis. Einen bereits 1953, zwei Jahre vor Erscheinen von „Ludwig II. – Glanz und Elend eines Königs“. Als beliebteste deutsche Schauspielerin lag sie in den 1950er Jahren mit großem Abstand klar vor Romy Schneider, die sich erst mit der „Sissi“Trilogie in die Herzen der Zuschauer spielte.38 Weitere Charaktere übernahmen Klaus 31 Dorin Popa, O.W. Fischer. Seine Filme – sein Leben, München 1989, S. 186. 32 Popa, O.W. Fischer (wie Anm. 31), S. 78. 33 Popa, O.W. Fischer (wie Anm. 31), S. 79. 34 Popa, O.W. Fischer (wie Anm. 31), S. 79. 35 Popa, O.W. Fischer (wie Anm. 31), S. 80. 36 Peter Mänz u.a. (Hrsg.), Die ideale Frau. Ruth Leuwerik und das Kino der fünfziger Jahre, Berlin 2004, S. 7. 37 Mänz, Die ideale Frau (wie Anm. 36), S. 7. 38 Mänz, Die ideale Frau (wie Anm. 36), S. 83–86.



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Kinski als Ludwigs Bruder Otto von Bayern, Paul Bildt als Richard Wagner, Marianne Koch als Prinzessin Sophie, Erik Frey als Kaiser Franz, Friedrich Domin als Kanzler Bismarck und Wolfrid Lier als Ludwigs Lakai.39 Für das 115 Minuten lange Epos vom bayerischen Märchenkönig musste Helmut Käutner die Genehmigung des Hauses Wittelsbach einholen. So bekamen er und sein Filmteam auch die Erlaubnis, an den historischen Originalschauplätzen Schloss Hohenschwangau, Neuschwanstein und Herrenchiemsee zu drehen.40 Käutner setzte seinem Ludwig-Film keinen bewussten Schwerpunkt, er versuchte in ihm eine psychologische Studie des Königs, ein Volksstück, eine Romanze sowie ein Drama voller Intrigen zu vereinen. Das Ergebnis traf den Geschmack des Publikums: Käutners Ludwig-Film wurde sowohl bei den achten Internationalen Filmfestspielen von Cannes gezeigt und für die „Goldene Palme“ nominiert, als auch 1956 als geschäftlich erfolgreichster deutscher Film des Jahres 1955 mit einem Bambi sowie dem Deutschen Filmpreis und dem Filmband in Gold für Fischers schauspielerische Leistung ausgezeichnet.41 Die Kritikermeinungen fielen weitgehend positiv, aber nicht überschwänglich aus. Die „Süddeutsche Zeitung“ beispielsweise attestierte: Es ist ein würdiger Film. Das ist nicht wenig; [...] Vielleicht ist dieser König [...] unter Helmut Käutners Regie, der liebenswerteste von allen Königen des Films. [...] Es ist ein Film wie ein kostbares, altes, kunstvoll verziertes Album, das respektvoll aufgeblättert wird, halb stolz und halb scheu und nicht ohne Wehmut. Vielleicht geben die Albumblätter nur halbe Wahrheit, vielleicht sind manche allzu nachgestellt und manche allzu hintergrundlos – und dennoch steigt daraus, wie eine Sage [...], die alte Zeit auf.42

Käutners Ludwig-Film ist als Kinofilm der 1950er Jahre ein Heimat- und Unterhaltungsfilm für ein breites Publikumsspektrum, seine Rezipienten entsprachen der breiten Bevölkerungsmasse der jungen Bundesrepublik Deutschland. Die Altersfreigabe war auf 12 Jahre festgesetzt. Viscontis „Ludwig II.“ beschließt 1972 als dritter Film seine „Deutsche Trilogie“. Das „bildgewaltige Meisterwerk über das tragische Schicksal des bayerischen „Märchenkönigs“43 hat eine Laufzeit von ca. 247 Minuten und erschien sowohl auf Deutsch als auch auf Italienisch mit deutschem Untertitel. Das Buch schrieben – neben Visconti selbst – Enrico Medioli und Suso Cecchi D´Amico. Die Kameraführung übernahm Armando Nannuzzi. Entsprechend Viscontis musikalischer Vorliebe wurde sein Ludwig-Film mit Motiven Richard Wagners, Robert Schumanns und Jacques

39 Popa, O.W. Fischer (wie Anm. 31), S. 186. 40 Popa, O.W. Fischer (wie Anm. 31), S. 78. 41 Popa, O.W. Fischer (wie Anm. 31), S. 79. 42 Hilmar Hoffmann u.a. (Hrsg.), Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946–1962, Frankfurt am Main 1989, S. 374. 43 Luchino Visconti, Ludwig II. Arthaus Premium 1972. Klappentext zur DVD.

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Offenbachs untermalt.44 Seine Faszination für den bayerischen König, die ihn veranlasste, dessen Geschichte neu zu verfilmen, entwickelte sich während der Regiearbeit an „Die Verdammten“, einem weiteren Film seiner „Deutschland-Trilogie“: Als ich „Die Verdammten“ vorbereitete, habe ich die Idee gehabt, einen Film über Ludwig II. von Bayern zu machen. Zu dieser Zeit suchte ich ein Schloss in Bayern und stieß auf eine merkwürdige theatralische Atmosphäre, in der diese außergewöhnliche Persönlichkeit lebte und regierte. [...] Er hatte die außergewöhnliche Fähigkeit, außerhalb der Wirklichkeit zu leben und eine ebenso außergewöhnliche Unfähigkeit, sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden [...].45

Ähnlich wie Käutner besetzte auch Visconti seine Charaktere mit bereits berühmten und ausgezeichneten Schauspielern. So verkörperte den tragischen „Märchenkönig“ der Schauspieler und damalige Lebensgefährte Viscontis, Helmut Berger, der sich bereits in jungen Jahren als Fotomodell und durch Auftritte in Fernsehwerbespots sein Geld verdient hatte. Nach einem abgebrochenen Studium und vereinzelten Statistenrollen in italienischen Filmen wurde er 1969 von Luchino Visconti entdeckt und erhielt seine erste Glanzrolle in Viscontis „Die Verdammten“, für die er den Golden Globe als bester Nachwuchsschauspieler verliehen bekam.46 Auch in Viscontis „Ludwig II.“ überzeugte Berger als „gleichermaßen selbstbezogener wie feinsinniger Monarch“47. Es gelang ihm, den „seelischen und körperlichen Verfall Ludwigs in allen Nuancen“48 für den aufmerksamen Betrachter spürbar zu machen. Er selbst sagte über seine Rolle dies: Die tragische Geschichte um den Bayernkönig ist hinlänglich bekannt. Ich lernte wie verrückt für meine Rolle, mit der mich Luchino noch viel berühmter machte und mit der ich mich bis heute identifizieren kann. [...] In meinen Träumen und irgendwann auch im richtigen Leben wurde ich Ludwig. Wirklich. Gewisse Ähnlichkeiten lassen sich ja auch nicht abstreiten. Meine tiefe Angst vorm Leben, die große Einsamkeit inmitten einer Menschenmenge, diese Selbstbeobachtung während der verhassten Geschäfte, das Gefühl von den anderen einfach nicht verstanden zu werden. Und die hohe Sensibilität für Schönheit, Kunst, Kultur. [...] Ich musste mich nicht verstellen.49

Über seinen Lebensgefährten und Regisseur urteilte Berger: „Luchino kannte kein Pardon.“50 Als Ludwigs unerfüllte Liebe begab sich Romy Schneider ein letztes Mal in ihre Paraderolle als Kaiserin Elisabeth von Österreich. Anders als in der „Sissi“-Trilogie Marischkas der fünfziger Jahre, in der sie eine jugendliche Kaiserin wider Willen 44 Hans Helmut Prinzler, Filmografie, in: Peter W. Jansen u.a. (Hrsg.), Luchino Visconti. Reihe Film 4, Wien 1976, S. 160–161. 45 Visconti, Begleitheft zur DVD (wie Anm. 30). 46 Adolf Heinzlmeier u.a. (Hrsg.), Das Lexikon der deutschen Filmstars, Frankfurt am Main 2003, S. 48. 47 Visconti, Klappentext zur DVD (wie Anm. 43). 48 Visconti, Begleitheft zur DVD (wie Anm. 30). 49 Helmut Berger, Luchino kannte kein Pardon, in: Storch, Götterdämmerung (wie Anm. 27), S. 59. 50 Berger, Luchino (wie Anm. 49), S. 59.



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spielte, trat Schneider jedoch in Viscontis „Ludwig II.“ als selbstbewusste, gereifte, ernste und erwachsen gewordene Kaiserin auf. In ihr Tagebuch schrieb sie zu Beginn der Dreharbeiten: Ich werde diese Rolle, den Charakter dieser Frau zum erstenmal wirklich spielen [...]. Visconti hat als einziger die Sissi historisch authentisch porträtiert. [...] Ich war nie die leibhaftige Verkörperung der süßen, unschuldigen kaiserlichen Hoheit. Ich hab sie gerne gespielt, aber ich hab dieser Traumfigur nie geähnelt. Nie wieder wollte ich nach den Sissi-Filmen in ein historisches Kostüm steigen. Und nun tat ich es doch. [...] Zwischen der Sissi von einst und meiner heutigen Rolle gibt es nicht die geringste Gemeinsamkeit.51

Weitere Charaktere verkörperten Trevor Howard als Richard Wagner, Folker Bohnet als Josef Kainz, Marc Porel als Richard Hornig sowie Heinz Moog als Professor Gudden und Sonia Petrowa als Prinzessin Sophie.52 Für Viscontis „Ludwig II.“ musste erneut die Genehmigung der Familie Wittelsbach eingeholt werden. Durch ihre Zustimmung war ein Dreh in der Münchner Residenz, in den Schlössern Berg, Neuschwanstein, Linderhof, Hohenschwangau und Herrenchiemsee, am Starnberger See und auf der Roseninsel möglich. Authentisch wurde die Inszenierung auch durch die Leihgabe von Juwelen und Gemälden aus dem Privatbesitz der Familie Wittelsbach.53 Die Produktionskosten beliefen sich auf rund 12 Millionen Mark.54 Visconti hegte die Idee, das Leben des bayerischen Monarchen anhand einer Gerichtsverhandlung nach dessen Ableben zu inszenieren. Obwohl er diese wieder verwarf, sind Reste seiner Konzeption in Form von Stellungnahmen einiger Zeitgenossen über das Befinden ihres Königs, die sie an den Zuschauer richten, erhalten. Anders als in anderen Ludwig-Verfilmungen legte der Regisseur seinen Schwerpunkt klar auf die zwischenmenschlichen Beziehungen Ludwigs. Dabei treten vor allem Elisabeth und Richard Wagner in den Vordergrund. Die Uraufführung von Viscontis Ludwig-Film fand am 18. Januar 1973 in Bonn statt. Dies war die einzige Aufführung, in der „Ludwig II.“ nahezu vollständig und ungekürzt gezeigt wurde. Die Kinoversion, die zwei Monate später erschien, wurde um rund 45 Minuten gekürzt, was dem Film zur Unverständlichkeit, ja sogar Unkenntlichkeit gereichte.55 Gründe für diese Maßnahme waren einerseits „Beanstandungen einer kunstfremden Kritik“56, andererseits politischer Protest aus Bayern, bezogen auf Ludwigs homoerotische Neigungen. Im Ausland lief die nahezu ungekürzte Version Viscontis „Ludwig II.“ jedoch ohne den erhofften Erfolg. Aufgrund der Kürzungen und der damit einhergehenden Verzerrung seiner Inszenierung ließ Visconti die Ausstrahlung seines 51 Renate Seydel (Hrsg.), Ich, Romy. Tagebuch eines Lebens, München 1988, S. 273–275. 52 Prinzler, Filmografie (wie Anm. 44), S. 160–161. 53 Pierre J.-B Benichou, Romy Schneider. Ihre Filme – ihr Leben, München 1981, S. 124–125. 54 www.zeit.de/1973/14/wir-sind-nicht-als-pomp/seite-1 [27.02.2013]. 55 Wolfram Schütte, Kommentierte Filmografie, in: Jansen, Luchino Visconti (wie Anm. 44), S. 125–127. 56 Schütte, Kommentierte Filmografie (wie Anm. 55), S. 126.

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Films in der Bundesrepublik verbieten. Erst nach dessen Tod lief „Ludwig II.“ wieder in einer 130-minütigen Fernsehversion.57 Ähnlich wie für Käutners „Ludwig II. – Glanz und Elend eines Königs“ erntete auch Visconti für seinen „Ludwig II.“ verhalten positive Kritik. „Die Zeit“ urteilte etwa: Der lombardische Graf mit kommunistischem Parteibuch und theatralischer Lust an Dekadenz und Untergang präsentiert den bayerischen Musenfreund, Genieschwärmer und spätromantischen „Märchenkönig“ als anachronistisches Relikt feudalistischen Glanzes. Götterdämmerung in Weiß-Blau. […] Ständig reibt sich Ludwigs Traumwelt an der vulgären Realität. […] Ludwig II. ist in jenen Passagen überzeugend gelungen, in denen Visconti die fragilen Fieberträume seines Helden optisch umsetzt.“58

Bei allen Kritiken ist zu bedenken, dass Viscontis Ludwig-Film, anders als Käutners, kein Unterhaltungsfilm für die breite Bevölkerungsschicht war. Er ist neorealistisch und bewusst langatmig.59 Genaue Zuschauerzahlen des Films sind unbekannt. Viscontis Ludwig-Film wurde mit zwei herausragenden italienischen Filmpreisen ausgezeichnet: dem David di Donatello-Preis für den besten Film, die beste Regie und den besten Hauptdarsteller 1973 sowie dem Nastro d´Argento-Preis für die beste Kamera und das beste Szenenbild.60 Die Altersfreigabe war ebenfalls auf 12 Jahre festgesetzt.

III Tiefenstruktur I 1 Szenenbeispiel aus Käutners Ludwig-Film: „Überraschung in der Oper“ Das ausgewählte Kapitel behandelt die Einführung Sophies in das Leben Ludwigs kurz nach Bekanntgabe ihrer Verlobung am 22. Januar 1867. Hierbei lädt der Bayerische König Prinzessin Sophie in die Oper „Rheingold“ ein, doch entgegen Sophies Erwartungen, von der Besuchermenge angestarrt und bewundert zu werden, führt Ludwig sie in einen menschenleeren Opernsaal. Sophie reagiert geschockt und fühlt sich sehr unwohl in der ausgestorbenen Umgebung. Sie bittet Ludwig, sie nach Hause zu bringen. Sophie dominiert die ausgewählte Szene. Während sie ungeduldig und voller Hoffnung auf ihren Verlobten wartet, wird dem Zuschauer durch die amerikanische Kameraeinstellung61 nicht nur eine räumliche Vorstellung des Geschehens 57 Visconti, Begleitheft zur DVD (wie Anm. 30). 58 www.zeit.de/1973/14/wir-sind-nicht-als-pomp/seite-1 [27.02.2013]. 59 Visconti, Begleitheft zur DVD (wie Anm. 30). 60 de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_II._%281972%29#Auszeichnungen [05.03.2013]. 61 Die Amerikanische Einstellung ist eine Mittelung zwischen der nahen und halbnahen Einstellung. Durch sie ist es möglich, sowohl Personen als auch Requisiten im Detail erkennen zu können und einen Gesamteindruck zu erhalten.



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gegeben, sondern auch durch die ausdrucksstarke Mimik das Gefühlsleben der Protagonisten deutlich. Das gezeigte Zimmer ist mit Requisiten eines Ankleidezimmers des 19. Jahrhunderts ausgestattet und durch kleinere Lampen indirekt beleuchtet. Sophie sitzt an einem Schminktisch. Die Atmosphäre ist gemütlich und heimelig. Auf einem Beistelltisch im Hintergrund steht das Verlobungsfoto Sophies mit dem König. Die dominierende Farbe des Bildes ist blau, die Nähe zum bayerischen Königtum überdeutlich. Sophie als zukünftige Königin Bayerns trägt ein himmelblaues Seidenkleid. Außer der Prinzessin sind noch ihre Mutter Ludovika von Bayern und eine Bedienstete anwesend. Die Kamera, die meist auf die dominierende Person der Prinzessin gerichtet ist, fungiert zu Beginn der Szene als Spiegel, in dem sich Sophie aufgeregt betrachtet. Die Einstellung der Kamera wechselt, als die Mutter sie auf die Ernsthaftigkeit und Andersartigkeit Ludwigs anspricht. Hier fungiert Sophies Mutter als innerer Spiegel Sophies. Durch die Nahe ist das besorgte Gesicht der Mutter, aber auch die Erstarrung des Gesichtsausdrucks der bis dahin fröhlich wirkenden Sophie zu erkennen. Trotzdem verteidigt sie ihren Verlobten, während ihre Mutter ihre Besorgnis zum Ausdruck bringt: „Wir haben eine Kaiserin in der Familie und die is ned glücklich. Du sollst keine unglückliche Königin werden.“62 Veranschaulicht durch einen Over-ShoulderBlick dreht Sophie ihren Kopf von ihrer Mutter weg, als wenn sie die Wahrheit bereits kenne, aber nicht hören und wahrhaben wolle. Das Gespräch zwischen Mutter und Tochter wird durch ein Klopfen unterbrochen. Es erfolgt ein Schnitt, die Kamera ist nun auf die Zimmertür gerichtet, durch die ein Diener, ebenfalls in blau gekleidet, eintritt und verkündet: „Seine Majestät, der König“.63 Das Bild des Zimmers im Hause Sophies verblasst, während gleichzeitig ein neues aufgebaut wird. Über einen roten Teppich eilt Ludwig mit Sophie an der Hand eine Treppe zum Eingang des Opernhauses hinauf, während eine Reihe an Bediensteten sich im Spalier auf der Treppe befindet und vor dem Paar, gemäß der Etikette, verneigt. Weiße Rosen zieren das Bild. Auffällig hierbei ist, dass es keine roten Rosen sind, die im Zusammenhang mit Elisabeth von Österreich meist eingesetzt werden, sondern lediglich weiße Rosen, die Reinheit, aber keine Liebe symbolisieren. Durch einen sichtbaren Schnitt befinden sich in der folgenden Einstellung Ludwig und Sophie im Gang der Oper. Das Bild ist hell beleuchtet. Sophie kann ihre Unruhe und Aufgeregtheit vor der erwarteten Besuchermenge nicht verbergen. Sie ist nervös und hofft, die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zu ziehen. Die Einstellung der Kamera schafft eine Tiefenperspektive, indem die Protagonisten von einer Totalen vorwärts bewegen und sich nun in einer Halbtotalen befinden. Sophie eilt Ludwig voraus. Er hält kurz vor dem Eintritt in den Opernsaal inne und ermahnt sie, leise zu sein. Dies geschieht vor einem Spiegel, der sich am rechten Bildrand befindet. Ludwig steht mit dem Rücken zu diesem, um nicht hineinzusehen und der Wahrheit ins Auge blicken zu müssen. Er nimmt seine Verlobte an die Hand und führt sie an der Kamera vorbei zur geöffneten Tür des Opern62 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 11: „Überraschung in der Oper“. 57:37. 63 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 11: „Überraschung in der Oper“. 57:50.

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saals, in dem bereits das Orchester zu spielen begonnen hat. Sophie tritt vor Ludwig in die Loge ein. Er senkt seinen Blick zu Boden und scheint sich zu schämen für das, was sie erwartet. Die Kamera schwenkt und befindet sich hinter den beiden. Dadurch wird erneut eine Tiefenperspektive in dem sich auftuenden Opernsaal erzeugt. Als Sophies Blick den leeren Opernsaal trifft, sieht Ludwig sie an, um ihre Reaktion zu überprüfen. Sophie ist entsetzt, starrt ihn an und presst ein „Ludwig“64 hervor. Dieser aber nimmt sie behutsam am Arm und erwidert: „Wir hören Rheingold von Richard Wagner.“65 Die Kamera nimmt dabei eine erhöhte Perspektive ein, so dass sich die beiden Protagonisten am unteren Rand des Bildes befinden und von oben ein Blick auf die leeren Stühle, das versenkte Orchester sowie die Bühne vorgenommen wird. Dies akzentuiert die Sichtweise der überraschten und entsetzten Sophie. Nach einem unsichtbaren Schnitt wechselt die Kamera in die amerikanische Einstellung und vor die beiden Protagonisten. Ludwig führt Sophie zu ihrem Stuhl. Sie nimmt vorsichtig Platz, ohne den Blick von dem menschenleeren Raum abzuwenden. Ungläubig lässt sie ihre Augen hin und her schweifen. Ludwig gibt dem Orchester das Zeichen, mit dem Schauspiel zu beginnen, und setzt sich neben Sophie. Während er dies tut, folgt ein unsichtbarer Schnitt und die Kamera befindet sich wiederum in Vogelperspektive hinter den beiden, um damit über ihre Köpfe hinweg den Blick auf die Bühne zu ermöglichen. Sobald der Dirigent anfängt, den Takt vorzugeben, hebt sich Ludwigs Hand und führt ebenfalls taktangebende Bewegungen aus. Nach einem Schnitt befinden sich Ludwig und Sophie wieder vor der Kamera in einer nahen Einstellung, Ludwig trotz seines, von der Musik sichtbar erregten Gemüts, gefasst, Sophie dagegen scheinbar verwirrt. Durch einen weiteren Schnitt ist das Paar aus der Entfernung aber auf Augenhöhe in ihrer Loge sitzend zu erkennen. Umrahmt wird sie von zwei erdrückend wirkenden Statuen. Die Tiefenperspektive unterstreicht die vorherrschende Einsamkeit. Nach einem weiteren Schnitt und einer Close-Up-Einstellung auf Prinzessin Sophie lässt sie ihren Blick durch den Saal schweifen. Die Kamera nimmt dabei ihre Position ein, so dass der Zuschauer „durch ihre Augen hindurch“ durch den Saal blickt. Wieder mit einem Close-Up auf Sophie bricht dieses Schweigen und gesteht Ludwig, dass sie sich fürchtet. Das Bild wird währenddessen erweitert, die Kamera fährt zurück und schwenkt, so dass nun auch Ludwig zu sehen ist. An dieser Stelle beginnt der Höhepunkt der Szene. Ludwig sieht sie nicht an, sondern verteidigt sich nur in einem ruhigen Ton: Er wolle ihr zeigen, wie ihr Leben an seiner Seite aussieht. Er sieht sie nur kurz an und blickt dann wieder geistesabwesend zu Boden. Anschließend gesteht Ludwig seiner Verlobten, dass er einem Licht folge, das ihn führe. Er nimmt dabei ihre Hand, in der Hoffnung, von ihr verstanden zu werden. Sie versteht ihn aber nicht und gesteht ihm, dass sie ihn zwar liebe, aber nicht in der Einsamkeit mit ihm leben könne. Sophie bricht in Tränen aus, Ludwig hingegen zeigt kaum Regung und behält seinen starren, abwesenden Blick – auch, 64 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 11: „Überraschung in der Oper“. 58:32. 65 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 11: „Überraschung in der Oper“. 58:34.



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als Sophie ihren Kopf auf seinen Arm legt. Mit ruhigem Ton spricht er: „Jetzt ist es weg. Das Licht.“66 Sophie hebt ihren Kopf und fleht ihn an, nach Hause gebracht zu werden. Beschützend und verständnisvoll tätschelt Ludwig ihre Hand und führt sie aus dem Zimmer. Die Kameraeinstellung wechselt dabei nach einem unsichtbaren Schnitt zunächst in die Halbnahe, dann in die Halbtotale, so dass der Zuschauer die beiden Protagonisten aus der Loge gehen sieht.

2 Szenenbeispiel aus Käutners Ludwig-Film: „Unterschiedliche Ansichten“ Die ausgewählte Sequenz beschäftigt sich mit einer Begegnung zwischen dem bayerischen König und dem preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck. Ludwig empfängt Bismarck im Hinblick auf den drohenden Krieg zwischen Preußen und Österreich. Gleich zu Beginn der Sequenz ist eine Szene gesetzt, die einen Gang in der Münchner Residenz zeigt, umrahmt von Marmorsäulen und spalierstehenden Wachposten in blau-weißer Uniform. Kurz bevor Ludwig und Bismarck in das Bild treten, folgen sie einem kurzen Befehl und stehen stramm. Die weite Kameraeinstellung ermöglicht eine Tiefenperspektive, die die Länge des Gangs unterstreicht. Beide Protagonisten, Ludwig und Bismarck, schreiten nebeneinander – gefolgt von Ludwigs Ministern und seinem Offizier – frontal auf die Kamera zu. Dies erweckt den Eindruck, als gingen sie direkt dem Rezipienten entgegen. Bevor Ludwig sich mit dem preußischen Ministerpräsidenten in ein Zimmer zum Gespräch zurückzieht, hält er vor einem der stramm stehenden und sichtbar fiebrigen Wachposten inne und erkundigt sich nach dessen Gesundheitszustand. Die Kamera wechselt in eine Nahe und zeigt das erstaunte Gesicht des Mannes, der sofort bekräftigt, nicht krank zu sein, dann nach einem unsichtbaren Schnitt ist wieder Ludwig zu sehen, der sich erneut um das Wohl seines Wachpostens sorgt. Ein Dialog mit wechselnder Einstellung erfolgt. Ludwig befiehlt ein Fauteuil für den Wachmann herbeizubringen. Während er mit dem Wachposten spricht, verfällt Ludwig in den bayerischen Dialekt. Dies weist darauf hin, dass er keinen offiziellen Befehl erteilt, sondern sich als König um das Wohl seiner Untertanen sorgt und „einer von ihnen ist“. Bismarck, der ebenfalls mit dem König seinen Gang unterbrochen hat, beobachtet den Zwischenfall mit Staunen; ebenso Ludwigs Minister, die durch einen Kameraschwenk über Ludwigs Schulter hinweg ins Bild gerückt werden. Der Schwenk endet bei dem Offizier Graf von Holnstein, der mit strengem Blick, verdeutlicht durch eine Groß-Einstellung der Kamera, über die Anweisung des Königs irritiert ist. Nach einem weiteren unsichtbaren Schnitt befindet sich der kranke Wachtposten wieder in der Halbnahen und der Dialog mit der Einblendung der jeweils sprechenden Gesprächspartner wird fortgesetzt. Der Wachposten wirkt verunsichert und verwundert, gehorcht aber und setzt sich auf 66 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 11: „Überraschung in der Oper“. 01:00:26.

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den blauen Fauteuil. Der König befiehlt ihm, solange sitzen zu bleiben, bis er sich erholt hat. Nach einem unsichtbaren Schnitt auf Ludwig entschuldigt sich dieser bei Bismarck und bittet ihn mit einer Handgeste in einen kleinen Seitengang, der in das Gesprächszimmer führt. Die Protagonisten setzen ihren Gang an der Kamera vorbei fort. Eine neue Tiefenperspektive eröffnet sich. Ein Schnitt leitet eine neue Szene ein, in der Bismarck und Ludwig einen Dialog über den bevorstehenden Krieg führen. Die dominierende Farbe des Raums, in dem sie sich befinden, ist erneut blau. Es befindet sich eine Sitzgelegenheit mit Tisch, ein Schreibtisch sowie ein Klavier in ihm. Die Verbindung des Schreibtisches, den Ludwig für seine Regierungstätigkeit benötigt, mit dem Klavier, das seine Leidenschaft für die Musik und Kunst symbolisiert, weisen daraufhin, dass diese beiden Dinge für den bayerischen König untrennbar miteinander verbunden sind. Er will sein Land mit der Musik Wagners regieren und bereichern. Außerdem ist eine menschengroße Vase in der Form eines Schwans auffällig in der Mitte des Zimmers platziert. Sie ist ein Hinweis auf Ludwigs Begeisterung für den Schwanenritter Lohengrin, mit dem er sich identifiziert. Während Bismarck das Gespräch mit einem Vortrag seiner Vorstellungen über das neue geeinte Deutschland beginnt, befindet sich die Kamera in einer Halbtotalen und lässt ihn durch die Froschperspektive erhaben und mächtig wirken. Seine Gesten scheinen sicher und unterstreichen seine Aussage. Ludwig hingegen steht mit dem Rücken zur Kamera und senkt seinen Block hilflos zu Boden. Es wirkt, als ließe er die Rede Bismarcks über sich ergehen. Langsam bewegt er sich ein paar Schritte vorwärts und hält sich unsicher an seinem Säbel fest. Bismarck spricht in der Zwischenzeit von einem „physikalischen Gesetz“67 der Natur, das einem Aufträge erteile, denen man nicht entkommen könne: „Wir haben sie zu erfüllen oder unterzugehen.“68 Ludwig richtet seinen Blick hilfesuchend gen Himmel und senkt ihn bei Bismarcks Wort „unterzugehen“ erneut zu Boden, als kenne er bereits sein Schicksal. Bismarck lässt sich davon nicht aus dem Konzept bringen und setzt seine Rede zielstrebig fort, während Ludwig ihn anweist, sich niederzusetzen. Bismarck spricht von einer „neuen Form“69, einem „neue[n] Gefäß“70, das die deutschen Staaten suchen, und „Deutschland“71, das „Deutsches Reich“72 genannt werden soll. Durch die Intonation seiner Stimme markiert Bismarck das Ende seines Vortrages. An dieser Stelle beginnt der Höhepunkt der Szene. Jetzt erhebt auch Ludwig seine Stimme und fragt den Kanzler, wie er sich dieses Reich, von dem er spricht, vorstelle. Eine neue Kameraeinstellung der Nahe auf Bismarck markiert einen Schnitt. Er ant67 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 4: „Unterschiedliche Ansichten“. 13:18. 68 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 4: „Unterschiedliche Ansichten“. 13:21. 69 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 4: „Unterschiedliche Ansichten“. 13:33. 70 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 4: „Unterschiedliche Ansichten“. 13:35. 71 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 4: „Unterschiedliche Ansichten“. 13:39. 72 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 4: „Unterschiedliche Ansichten“. 13:41.



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wortet souverän und betont den technischen Fortschritt sowie die starke Kriegsmacht des neuen Reiches. Die Kamera wechselt mit Schuss-Gegenschuss zwischen den beiden Protagonisten. Ludwigs Gesichtsausdruck bei Bismarcks Argumentation wirkt erstarrt, fragend und blass. Erst nachdem Bismarck das Wort „Glück“73 in den Mund nimmt, unterbricht ihn Ludwig höflich und widerspricht ihm: „[…] in dem Arsenal ihrer kraftvollen Worte nimmt sich das Wörtchen Glück ein bisschen seltsam aus. Glück ist“74 – an dieser Stelle stockt Ludwig und setzt nach einer kurzen Stille fort – „eine große Gnade“.75 Bei diesem Ausspruch erwärmt sich der Gesichtsausdruck des Königs wieder. Er erhebt sich und bietet Bismarck eine Zigarre an. Bismarck tut es ihm gleich. Die Kameraperspektive wechselt erneut zur Froschperspektive. Dieses Mal blickt sie zu Ludwig auf; er wirkt im Folgenden als Herr der Szene, die sonst von Bismarck dominiert wird. Der König weist den Kanzler an, sich wieder zu setzen und wendet sich vortragend, was es für ihn bedeute, König zu sein, dem offenem Fenster zu – ein Zeichen seiner Offenheit und Herzlichkeit seinem Volk „vor dem Fenster“ gegenüber. Die Kamera schwenkt und begleitet Ludwig. Er bekräftigt energisch und bestimmend, dass er es für seine Pflicht halte, den Frieden zu bewahren. Während er vor dem offenen Fenster lehnt, nähert sich ihm die Kamera von der Perspektive des sitzenden Kanzlers aus bis zur Großaufnahme des stehenden Königs. Diese Einstellung hebt die innere Größe des Königs hervor, während er Bismarck gegenüber seine Vision, sein Volk auf den Gebieten der Kunst und Kultur „in den Kampf [zu] führen“76 kundtut. Dieser widerspricht Ludwig nicht, sondern weist ihn darauf hin, während er sich an einer brennenden Kerze seine Zigarre anzündet, dass seine Bestrebungen auch einem Gesamtdeutschland nützlich sein könnten. Das Anzünden seiner Zigarre verstärkt seine Entschlusskraft, die Entscheidung für einen Krieg ist bereits gefallen. Ludwig, auf dem nach einem Schnitt der Kamerafokus der Nahen liegt, senkt erneut den Blick zu Boden und äußert seine Besorgnis, dass ihm Gott ein paar glückliche Jahre geben möge, seine Vision zu erfüllen. Durch diese immer wiederkehrenden Hinweise auf Gott beweist Ludwig seine strenge Gläubigkeit. Ein weiterer Schnitt folgt mit einem Close-Up auf Bismarck, der Ludwig erwidert, dass nur durch einen Krieg ein Deutsches Reich möglich sei. Ludwig resigniert mit leerem Blick, löst sich symbolisch durch das Abnehmen seines Säbels vom Gedanken des Krieges und den Zwängen seines Amtes und wendet sich dem Klavier zu. Er spielt die Eingangsakkorde aus Wagners Musikdrama Lohengrin. Ludwig empfindet Bismarck offenbar als König Heinrich, der ihn dazu aufruft, für die Einheit des Reiches gegen den gemeinsamen Feind Österreich ins Feld zu ziehen. Er, als Gralsritter – so Ludwigs Vorstellung –, soll die heilende Kraft sein, die zur Errettung des Reiches, zum Sieg Bismarcks führt. Ludwig kann ihm diese Unterstützung aber nicht gewähren, denn 73 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 4: „Unterschiedliche Ansichten“. 14:08. 74 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 4: „Unterschiedliche Ansichten“. 14:12. 75 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 4: „Unterschiedliche Ansichten“. 14:20. 76 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 4: „Unterschiedliche Ansichten“. 14:16.

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er hält seinem Verbündeten, dem österrreichischen Kaiser Franz Joseph, die Treue. Außerdem sieht Ludwig seine rettende Kraft des Gralsritters nur in Form von Musik und Kunst, nicht im Kampfgeschehen. Ein sichtbarer Schnitt zeigt seine Minister, die im Vorzimmer auf das Ergebnis des Gesprächs warten. Sie wenden sich verwundert zur Tür. Ein weiterer sichtbarer Schnitt erfolgt und der Rezipient befindet sich wieder im Gesprächszimmer und erblickt Ludwig am Klavier, der Bismarck nach der Bedeutung der Klänge fragt. Das Close-Up auf den Kanzler zeigt dessen Ver-, gleichzeitig aber auch Bewunderung für den König. Mit den Worten: „Ich kenne Sie nicht, aber ich spüre wohl, was sie Ihnen bedeuten“77, erhebt sich Bismarck und geht gefolgt von der schwenkenden Kamera auf Ludwig zu. Auch Ludwig erhebt sich und reicht Bismarck hoffnungsvoll die Hand, während er ihm seine Hochachtung ausspricht und es bedauert, keine Freundschaft zu ihm zu pflegen. In diesem Bedauern greift der König Bismarcks Worte auf: „[...] wenn uns die Natur nicht verschiedene Aufträge erteilt hätte“78 und versetzt den Kanzler damit in Ehrfurcht. Bismarck senkt daraufhin sein Haupt und verlässt, die Brust zum König gewandt, rückwärts gehend das Zimmer in Richtung Flügeltür. Dort verharrt er nochmals und beweist ebenfalls Größe, indem er Ludwig bittet, sein Bild, das Bild eines „wirklichen Königs“79, in seinem Arbeitszimmer aufstellen zu dürfen. Die Kamera holt Bismarck dabei in eine Nahe und begibt sich in die Froschperspektive, um in diesem Fall Bismarcks innere Größe zu unterstreichen. Mit einer tiefen Verbeugung Bismarcks vor dem bayerischen König entfernt sich die Kamera und der preußische Ministerpräsident verlässt das Zimmer. Ein unsichtbarer Schnitt zeigt daraufhin Ludwig in einer Halbtotalen, wie er nachdenklich mit dem Rücken zur Kamera erneut zu seinem Piano Forte geht, seine Handschuhe auszieht, sie zu Boden wirft und somit die Strenge der Etikette durchbricht und sich von der Last, die auf ihm liegt, befreit. Die Einstellung der Halbnahen holt ihn näher in das Bild, während er sich auf seinem Klavierstuhl in einer kindlichen Pose mit angewinkeltem Knie niederlässt und das Piano Forte behutsam, wie einen zerbrechlichen Schatz, den es zu schützen gilt, schließt und seinen Blick bedächtig zu Boden senkt. Ein unsichtbarer Schnitt erfolgt und zwei seiner Minister treten durch die Tür in den Raum, durch die Bismarck hinausgeschritten ist. Mit hoffnungsund erwartungsvollen Blicken gehen sie zielstrebig auf ihn zu. Der voranschreitende Pfistermeister kann seine Fragen nach dem Ergebnis des Gespräches kaum zurückhalten, was sein halb geöffneter Mund und die angespannte Brust zeigen. Die Einstellung der Kamera ist dabei eine amerikanische, so dass sein ebenso angespannter Gesichtsausdruck gut zu erkennen ist, und befindet sich auf Bauchhöhe des voranschreitenden Pfistermeisters, was eine Untersicht zur Folge hat. Ein unsichtbarer Schnitt auf Ludwig, der immer noch auf seinem Klavierhocker sitzt und eine gebückte 77 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 4: „Unterschiedliche Ansichten“. 15:54. 78 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 4: „Unterschiedliche Ansichten“. 16:10. 79 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 4: „Unterschiedliche Ansichten“. 16:45.



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Haltung eingenommen hat, erfolgt. Ludwig blickt fragend auf den Ring des bayerischen Königs, den er sich vom Finger gezogen hat, als wünsche er sich, er müsse ihn nicht wieder anstecken. Er hebt langsam den Kopf und weist seine Minister mit einem Funkeln in den Augen an: „Bringen Sie mir Richard Wagner, Herr Pfistermeister.“80 Durch einen Schnitt zurück befinden sich erneut Pfistermeister und ein Minister aus der Perspektive der leichten Untersicht im Bild. Er dreht sich mit verstörtem und verwundertem Gesicht zunächst wortlos zu dem hinter ihm stehenden, völlig erstarrten Minister um. Sie tauschen einen kurzen Blick, bevor Pfistermeister unglaubwürdig und fragend den Namen Wagners zum König gewandt ausspricht, als hätte er ihn nicht deutlich verstanden. Das Bild verblasst.

3 Szenenbeispiel aus Viscontis „Ludwig II.“: „Liebesillusion“ Ludwig hat seine Großcousine und Seelenverwandte Elisabeth von Österreich zur Uraufführung der Oper „Tristan“ von Richard Wagner 1865 nach München eingeladen. Ihr zu Ehren befiehlt er zusätzliche Pracht, die er aus seiner Privatschatulle bezahlt und die den üblichen Prunk der Aufführung weit übersteigt. Doch Elisabeth erscheint nicht und äußert damit ihrem Cousin auf nachdrückliche Weise ihren Unmut. Diese Information erhält der Zuschauer bereits im Vorspann zur ersten Szene durch einen Erzähler, der im Close-Up und auf Augenhöhe des Zuschauers vor einer schwarz-blauen Wand von dem Vorfall berichtet. Er wirkt ernst und zornig über die hohe verschwendete Geldsumme. Ein unsichtbarer Schnitt leitet in die Eingangsszene der Sequenz über. Im ersten Bild wird die bayerische Königsfahne auf der Roseninsel gehisst. Währenddessen geschieht, fährt die Kamera aus der Froschperspektive immer näher an die Flagge heran, und Wagners „Tristan“-Overtüre setzt leise ein. Mit der Auswahl des Musikstückes nimmt der Regisseur bereits die Ausweglosigkeit und das Scheitern Ludwigs vorweg. Tristans und Isoldes Liebe scheitert und endet im Tod. Auch die Liebe Ludwigs zu Elisabeth bleibt eine unerfüllte Illusion. Beide finden am Ende ihres Lebens einen ungewöhnlichen Tod entsprechend der Figuren Tristans und Isoldes. Elisabeth wird Opfer eines Anschlages, Ludwig findet seinen Tod auf rätselhafte Art und Weise im Starnberger See. Entsprechend der aufziehenden Flagge benützt auch die Musik ein Crescendo. Das Licht ist gedämpft, das Wetter nebelig und diesig, die Stimmung wirkt gedrückt. Mit Einsetzen der Melodie und des Tristan-Akkordes folgen ein sichtbarer Schnitt und ein erneuter Anstieg der Lautstärke. Im Vordergrund des Bildes befindet sich eine Hecke, Äste hängen übers Wasser. Die Einstellung der Kamera ist eine Halbtotale. Sie nimmt die Position eines heimlichen Beobachters hinter der Hecke ein und unterstreicht den arkanen Charakter des Treffens. Ein Geplätscher sowie verschwommene Umrisse von Personen lassen erkennen, dass sich ein Ruderboot dem Ufer nähert. Die Kamera schwenkt mit dem fahrenden 80 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 4: „Unterschiedliche Ansichten“. 17:10.

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Boot, bis dieses an einem hölzernen Steg anlegt. Bereits als das Ruderboot hinter der Hecke zum Vorschein kommt, ist Elisabeth in diesem zu erkennen. An ihrer Seite eine Bedienstete, die ihr gegenüber sitzt, und drei Diener, welche die Ruder betätigen. Nach einem unsichtbaren Schnitt wechselt auch die Kameraperspektive. In einer Halbtotale blickt der Zuschauer nun vom Ufer auf das anlegende Boot. Ein Bediensteter eilt diesem entgegen. Er bewegt sich von der Kamera auf dem Steg entlang weg, was eine Tiefenperspektive bewirkt. Am rechten Uferrand wachsen Schilfpflanzen. Der Gesamteindruck des Bildes ist melancholisch und wird durch die Untermalung mit der „Tristan“-Overtüre verstärkt. Nach einem unsichtbaren Schnitt wird das Ruderboot der Kaiserin seitlich und in einer Halbnahen gezeigt. Mit Erreichen des Anlegestegs befindet sich das ansteigende Tonmotiv auf seinem Höhepunkt und verstummt kurz, bevor es mit abfallenden Tönen wieder einsetzt. Dadurch erzeugt der Regisseur eine Fallhöhe, die auch auf Ludwig zutrifft. Aus dem rechten Bildrand eilt ein weiterer Bediensteter herbei und nimmt Elisabeth in Empfang. Sie steigt selbstsicher auf den Steg und eilt mit zügigen Schritten Richtung Ufer. Hinter ihr die Gräfin Ferenczy sowie zwei Diener Ludwigs. Die Kamera schwenkt in einer Halbtotalen gemäß der Bewegungsrichtung der Kaiserin und befindet sich nach wenigen Sekunden erneut, durch Schilf und Uferböschung bedeckt, in der Position eines heimlichen, entfernten Beobachters. Ein sichtbarer Schnitt erfolgt. Die Kamera präsentiert die nahende Kaiserin nun durch das Geländer der Veranda eines Holzhauses. Im Vordergrund auf Bauchhöhe zeigt sie einen Diener, der in das Haus eilt, um Ludwig von der Ankunft Elisabeths zu berichten. Währenddessen begleitet die Kamera Elisabeth, die an der Veranda vorbeigeht und an der Lichtung auf einem Platz vor dem Haus innehält. In gebührendem Abstand folgt, ihre Bedienstete, die Gräfin Ferenczy. Das Bild ist nun durchzogen von herbstlichem Laub. Entsprechend der Jahreszeit ist die dominierende Farbe ebenso braun wie Elisabeths Kleid. Sie schaut sich mit suchenden Blicken um. Begleitet wird die Szene nach wie vor mit der Melodie von Wagners „Tristan“. Somit ist der Komponist auch in Begegnungen zwischen Ludwig und seiner Cousine Elisabeth präsent. Ludwig eilt aus dem Haus; während er dies tut, zieht er seine Lodenjacke an. Mit schnellen Schritten läuft er die Veranda hinab und auf Elisabeth zu. Kurz vor ihr hält er inne und begrüßt sie förmlich mit einem Handkuss. Ein unsichtbarer Schnitt lässt die Perspektive des Zuschauers wechseln. Er befindet sich auf der Veranda und blickt auf Kaiserin und König hinab. Die beiden Protagonisten befinden sich in der linken Bildhälfte. Elisabeth löst ihre Hand aus Ludwigs zärtlicher Berührung, bricht das Schweigen und entfernt sich mit den Worten: „Ich hasse es, wenn jemand auf mich wartet, hasse zu enttäuschen, falsche Hoffnungen zu erwecken.“81 Ludwig grüßt kurz, aber höflich per Kopfnicken Elisabeths Begleitung und folgt ihr nach. Die Kaiserin schreitet energisch die Treppe der Veranda zum Haus hinauf. Durch eine amerikanische Einstellung sieht der Zuschauer die Protagonisten an der Kamera vorbei ins Haus eilen. Bei den Worten „falsche Hoff81 Visconti (wie Anm. 17) 1. Teil 2. Kapitel 1. Titel 4: „Liebesillusion“. 02:58.



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nungen zu erwecken“ dreht sich Elisabeth kurz um und wirft Ludwig einen ernsten und tiefen Blick zu. Durch die Nahe, in welche die Kamera inzwischen gewechselt ist, lässt sich ihr Gesichtsausdruck und die darin verborgene Wut deutlich erkennen. Ludwig wirkt verwundert über diesen Zorn. Ein unsichtbarer Schnitt erfolgt, die Kamera befindet sich bereits innerhalb des Raumes, in den beide eintreten, den Fokus auf die Gesichter Elisabeths und Ludwigs gerichtet. Dabei steht Ludwig hinter Elisabeth und ist unscharf gezeichnet, dies unterstreicht seine Unsicherheit im Gegensatz zu Elisabeths Bestimmtheit. Trotzdem ergreift er das Wort und verteidigt sich: Er habe keine Hoffnung gehabt, sie auf der Insel anzutreffen, da sie nicht im Theater gewesen wäre, und schwärmt ihr von der erfolgreichen Premiere von Wagners „Tristan“ vor. Elisabeths Gesichtsausdruck zeigt Überlegenheit, sie scheint ihn zu belächeln wie ein Kind. Als Ludwig das Wort „Triumph“ ausspricht, dreht sie ihr Gesicht zu ihm und damit gleichzeitig weg von der Kamera und den Zuschauern. Ludwig wendet sich ebenfalls von der Kamera ab und schreitet in Richtung Kamin, auf dessen Sims er sich zufrieden aufstützt und Elisabeth eindringlich anblickt. Währenddessen erzählt er ihr voller Euphorie, die sich auch in seinem Gesicht widerspiegelt, vom tosenden Beifall für Wagner. Die Kamera folgt ihm dabei in der Nahen, blickt aber mit einem unsichtbaren Schnitt wieder zur Kaiserin, die überlegen und amüsiert ihren Schal abnimmt, geduldig auf den Boden blickt, als warte sie mit ihrer Erziehungsmaßnahme höflicherweise so lange, bis Ludwig seine freudige Ansprache beendet hat, und lässt sich auf einem Sofa nieder. Die Perspektive der Kamera entspricht dabei einem Over-Shoulder-Shot, bei dem lediglich Ludwigs gestikulierende Hand zu sehen ist, Elisabeth aber in der nahen Einstellung ins Bild gerückt ist. Auffallend in dieser Szene ist ein kleiner Holztisch im Hintergrund, auf dem eine blaue Vase mit ebenso blauen Hortensien dekoriert ist. Hortensien besitzen eine negativ gefärbte Bedeutung. Im gleichnamigen Dinggedicht Reiner Maria Rilkes steht die blaue Hortensie für einen Wendepunkt vom Leben in den Tod. Elisabeths Besuch hat keinen freudigen Anlass, so wie es Ludwig erwartet; sie wird ihm damit seine Illusionen rauben, an denen er sich festhält. Neben der Vase befinden sich außerdem zwei Fotografien sowie gläserne Schalen. Nachdem die Kaiserin Platz genommen hat, führt ein sichtbarer Schnitt hinaus auf die Veranda, auf der die Gräfin Ferenczy auf und ab schreitet, dem Gespräch lauscht und auf ihre Kaiserin wartet. Aus dem Off hört man die Stimme Ludwigs, der nach wie vor von Wagners Triumph schwärmt. Doch Elisabeth unterbricht ihren Cousin mit schroffem Ton und fragt eindringlich nach den Kosten dieses Aufzugs. Hier befindet sich sowohl der Höhe- als auch Wendepunkt der Sequenz. Die Gräfin nimmt auf einer Verandabank Platz und blickt über ihre Schulter zur Tür, als wüsste sie, dass das Gespräch zwischen den beiden Protagonisten an dieser Stelle zu eskalieren droht. Gleichzeitig spricht aus ihrem Gesicht, das durch die Nahe deutlich zu sehen ist, eine Genugtuung darüber, dass Elisabeth Ludwig widerspricht.

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Ein sichtbarer Schnitt erfolgt und die Kamera wechselt dialogisch in der Nahen zwischen Elisabeth und Ludwig. Die Kaiserin sitzt dabei immer noch. Hinter ihr etwas unscharf sind die blauen Hortensien, das Symbol des Wendepunkts, deutlich zu erkennen. Ludwig lehnt weiterhin am Kamin und blickt scheinbar erhaben auf Elisabeth hinab, obwohl sie eindeutig die Szene dominiert. Er verteidigt sich und seine Ausgaben für Wagner und seine Familie in Anbetracht von dessen Triumph. Bei der Aussprache dieses Wortes spricht erneut Dünkel aus Ludwigs Augen, die auf die Kaiserin hinabblicken. Diese reagiert spöttisch, rollt ihre Augen und legt den Kopf hämisch in den Nacken, während sie ihm nachspricht und ihre Ernsthaftigkeit innerhalb weniger Augenblicke zurückgewinnt. „Triumphe sind schnell vergessen oder sie rufen später sogar die heftigste Kritik hervor. Aber hier gab es die Kritik doch schon vor dem Triumph“, belehrt sie Ludwig mit energischer und zunehmend lauter werdender Stimme. Durch ein Close-Up zeigt ihr Gesicht ausdrucksstark die innere Gefühlslage. Ihre Mimik nimmt sich sehr lebendig aus. Sie wirkt aufgebracht, wütend, aber auch bedrückt und verzweifelt zugleich. Sie will Ludwig in die Realität des Lebens zurückholen, um ihn vor sich selbst zu beschützen, doch Ludwig, der sich vom Kamin löst, Elisabeth gegenüber niederlässt und somit auf Augenhöhe mit ihr befindet, kann nicht glauben, dass seine Seelenverwandte ihn nicht versteht. Ludwig sitzt halb im Schatten und wirkt nun nicht mehr über Elisabeth erhaben. Die Fallhöhe seiner Euphorie lässt ihn darüber verzweifeln, von seiner engsten Bezugsperson nicht verstanden zu werden. Die Kamera ist zu diesem Zeitpunkt auf Ludwig gerichtet. Elisabeth befindet sich nicht im Bild. Erst als sie Ludwigs Enttäuschung spürt, senkt sie ihre Stimme und beugt sich behutsam zu ihm vor und dabei ins Bild. Die nahe Einstellung legt den Fokus auf die Gesichter der Gesprächspartner. Elisabeth sieht Ludwig tief und vertraut in die Augen, wiederum wirkt es, als spreche sie mit einem scheuen Kind. Sie stützt ihr Kinn auf ihre Hand, tippt mit dem Zeigefinger, wie eine Lehrerin Ludwigs, auf ihre Lippen und fragt ihren „Schüler“ mit ruhiger Stimme: „Was wollen Sie eigentlich?“82 Ludwig blickt zu Boden, als könne er die Frage nicht beantworten. Elisabeth aber redet Ludwig weiter ins Gewissen, sie fragt ihn, ob er in die Geschichte eingehen möchte mit der Hilfe seines Freundes Richard Wagner – während sie dessen Namen ausspricht, liegt ein höhnischer Unterton in ihrer Stimme –, gibt sich im gleichen Atemzug die Antwort allerdings selbst und will Ludwig die Augen öffnen: „Wenn Ihr Richard Wagner wirklich so großartig ist, dann braucht er Sie nicht!“83 Ihre Stimme erhebt sich wieder, ebenso wie ihr energischer Gesichtsausdruck. Sie zerstört Ludwigs Illusion, indem sie ihm vorwirft, seine Freundschaft gäbe ihm lediglich selbst das Gefühl, schöpferisch tätig zu sein. Sie hält inne, beruhigt ihre Stimme und spricht das aus, wovor sich Ludwig fürchtet: „So wie ich Ihnen die Illusion von Liebe

82 Visconti (wie Anm. 17) 1. Teil 2. Kapitel 1. Titel 4: „Liebesillusion“. 04:10. 83 Visconti (wie Anm. 17) 1. Teil 2. Kapitel 1. Titel 4: „Liebesillusion“. 04:20.



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gebe.“84 Ludwig blickt erschrocken auf. Seine Augen verraten das Gefühl, dass er sich ertappt fühlt, gleichzeitig spiegeln sie ein trauriges Funkeln. Er blickt zur Seite, als wolle er der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen. Elisabeth fungiert dabei als innerer Spiegel Ludwigs. Währenddessen weist Elisabeth ihn an, er dürfe nicht allein bleiben, denn sie könne nicht seine unerfüllte Liebe bleiben, die ihm Selbstbestätigung gebe. Im Bild ist dabei nur Ludwig. Elisabeths Stimme kommt aus dem Off. Diese Inszenierung verdeutlicht, wie entfernt und fremd Elisabeth Ludwig durch diese Worte geworden ist. Sie spricht mit ihm, doch er hört sie nicht. Ludwig schluckt, die tragische Musik „Tristans“ erhebt sich wieder. Ebenso Elisabeth, gefolgt von Ludwig, der die Hand nach ihr ausstreckt. Sie nimmt sie aber nicht, sondern wendet sich von ihm ab, geht an der offenen Tür und ihrer Hofdame vorbei an das Fenster und blickt hinaus. Die Kamera wechselt von der Nahen zur Halbnahen. Elisabeth steht mit dem Rücken zu ihr. Bevor sie zu sprechen beginnt, befindet sich ihr Kopf in einem Close-Up. In der gläsernen Fensterscheibe spiegelt sich ihr ernstes, aber gleichzeitig besorgtes Gesicht. Sie sieht Ludwig somit nur indirekt an, während sie ihm befiehlt: „Heiraten Sie!“85 Das helle Fenster wirkt dabei, als wäre eine Heirat der Weg Ludwigs zurück ans Licht. Das Fenster, das als Spiegel fungiert, dient in dieser Inszenierung als Spiegel von Elisabeths innerem Gefühlsleben. Sie weiß aus eigener Erfahrung, dass eine Hochzeit ihren Cousin nicht glücklich machen wird, doch hat sie erkannt, dass es eine Notwendigkeit ist. Elisabeth dreht sich um und spricht Ludwig direkt an: „Heirate Sophie.“86 In diesem Ausspruch liegt ein Hauch von Geborgenheit. Sie duzt ihren Cousin zum ersten und einzigen Mal. Dies soll ihm Vertrautheit und Zuversicht bekunden. Ein unsichtbarer Schnitt erfolgt und die Kamera holt Ludwigs Gesicht in das Bild. Er schluckt und widerspricht Elisabeth mit ruhiger Stimme: „Aber – ich habe nie eine andere Frau geliebt“87 – er stockt – „als Dich“88. Auch Ludwig duzt in diesem Geständnis seine Cousine. Elisabeth, auf die durch einen weiteren unsichtbaren Schnitt der Fokus gerichtet wird, senkt ihren Kopf traurigen Blickes zu Boden. Ihr Gesichtsausdruck verrät, dass dieses Geständnis Schmerz in ihr hervorruft. Traurig blickt sie aus dem Fenster, das erneut als Spiegel fungiert. Ihr Gesicht lässt sich in ihm erahnen, während sie ihn belehrt, dass Liebe auch Pflicht bedeute und es seine Pflicht sei, aus seinem Traum zu erwachen und der Wirklichkeit ins Auge zu sehen. Elisabeth weiß, dass diese Wirklichkeit grausam ist. Sie kann Ludwig, der erschrocken aufblickt, als sie streng sagt „Vergessen Sie Ihre Träume!“, daher bei ihrer Anweisung nicht in die Augen blicken. Als sie sich seinem suchenden Blick zuwendet, gesteht sie Ludwig mit Tränen in den Augen, Herrscher wie er und sie 84 Visconti (wie Anm. 17) 1. Teil 2. Kapitel 1. Titel 4: „Liebesillusion“. 04:30. 85 Visconti (wie Anm. 17) 1. Teil 2. Kapitel 1. Titel 4: „Liebesillusion“. 05:11. 86 Visconti (wie Anm. 17) 1. Teil 2. Kapitel 1. Titel 4: „Liebesillusion“. 05:13. 87 Visconti (wie Anm. 17) 1. Teil 2. Kapitel 1. Titel 4: „Liebesillusion“. 05:16. 88 Visconti (wie Anm. 17) 1. Teil 2. Kapitel 1. Titel 4: „Liebesillusion“. 05:21.

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könnten keine Geschichte schreiben, sie seien nur „Pomp“89. Bedeutung bekämen sie lediglich, wenn sie jemand ermorde. Obwohl eine ernste Traurigkeit in Elisabeths Stimme liegt, hat sie bereits resigniert und sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Die dramatische Musik Wagners, die wieder an Gewichtung gewinnt, unterstreicht die Tragik des Bildes. Ein dissonanter Akkord symbolisiert das drohende Ende, das Elisabeth vorwegnimmt. Ein sichtbarer Schnitt erfolgt, das Bild Elisabeths verblasst, und Richard Wagner am Klavier erscheint.

4 Szenenbeispiel aus Viscontis „Ludwig II.“: „Nächtliches Vergnügen“ In der ausgewählten Sequenz feiert Ludwig mit jugendlich wirkenden Burschen eine nächtliche Orgie in einer vermutlich abgelegenen Berghütte und gibt sich unmoralischen Vergnügungen hin. Die Sequenz beginnt mit dem sichtlich amüsierten, aber auch betrunkenen König, dessen Gesicht durch eine Nahe und den dunklen Hintergrund gut zu erkennen ist. Seine Augen sind mit einem roten Halstuch verbunden, seine Zähne nahezu schwarz und seine Stirn verschwitzt. Die schwarzen Zähne des Königs sind ein äußerliches Zeichen seines innerlichen Verfalls. Aus dem Off sind lachende Männerstimmen zu hören. Durch einen langsamen Wechsel der Kamera in die Halbtotale erscheinen immer mehr Burschen im Bild, die einen Kreis um den sich drehenden König bilden und mit diesem das Kinderspiel „Blinde Kuh“ spielen. Dabei muss die Person, die in der Mitte des Kreises steht, hier Ludwig, mit verbundenen Augen eine im Kreis um ihn herum stehende andere Person nur durch das Abtasten seines Gesichtes erraten. Sobald die „Blinde Kuh“ eine Person erkannt hat, muss diese mit ihr den Platz wechseln, und das Spiel beginnt von Neuem. Die halbnahe Kameraeinstellung ermöglicht es dem Zuschauer außerdem, einen räumlichen Eindruck vom Geschehen zu erlangen. So lässt sich das Innere einer Holzhütte aus Rundhölzern mit fahlem Licht durch vereinzelt brennende Kerzen erkennen. Am linken Bildrand befindet sich ein Baumstamm, an dem ein junger Mann angelehnt liegt. Im Hintergrund sitzt ein weiterer an einem Holztisch und beobachtet das Spiel. Die Atmosphäre ist drückend. Der Zuschauer spürt beinahe die Hitze und riecht den modrigen Geruch nach Rauch, Alkohol und Schweiß. Der König trägt lediglich eine schwarze Hose und ein weißes verschwitztes Hemd, darüber eine offene schwarze Weste. Die restlichen Personen tragen kurze Lederhosen, manche sind außerdem oberkörperfrei. Nachdem Ludwig von den anderen Burschen zu einem der Umstehenden geschoben wurde, errät dieser unter Gelächter seiner Beobachter die zugewiesene Person. Er stammelt: „Du bist’s“90, nimmt sich die Augenbinde ab und tätschelt dem Burschen die Wange. Das Spiel wird stets von Stimmengewirr begleitet. 89 Visconti (wie Anm. 17) 1. Teil 2. Kapitel 1. Titel 4: „Liebesillusion“. 05:38. 90 Visconti (wie Anm. 17) 2. Teil 4. Kapitel 5. Titel 4: „Nächtliches Vergnügen“. 37:07.



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Die verbundenen Augen und Ludwigs hilfloses Herumirren in der Dunkelheit symbolisieren dabei Ludwigs blindes Treiben in den Zwängen seines Daseins als König. Nicht nur im Spiel, sondern auch in seinem Amt als Regent des bayerischen Staates ist er blind und hilflos, wird von seinen Ministern durch die Regierungsgeschäfte geführt und von ihnen sowie dem preußischen Ministerpräsidenten oder dem österreichischen Kaiser zu unfreiwilligen Entscheidungen getrieben. Ein unsichtbarer Schnitt folgt und Ludwig befindet sich mit dem Rücken zum Zuschauer, während er wankend zusieht, wie seinem Spielgefährten die Augen verbunden werden. Er setzt sich und beobachtet das Rangeln der Burschen. Im Hintergrund beginnen zwei weitere Männer mit einem Schuhplattler. Nach einem weiteren unsichtbaren Schnitt befindet sich Ludwig im unteren linken Bildrand, beugt sich und zieht einen Jüngling, der lediglich mit einer Lederhose bekleidet ist, von unten in das Bild, so dass sich dieser erhebt und den König gehorsam in Richtung eines Séparées begleitet. Es erfolgt erneut ein unsichtbarer Schnitt. Im Vordergrund sind immer noch die betrunkenen und umher wankenden Burschen zu sehen, während Ludwig mit seinem auserwählten Burschen im Hintergrund in das dunkle Nebenzimmer verschwindet. Die Inszenierung der Dunkelheit kann hierbei auf zweifache Art ausgelegt werden: Zum einen beschützt sie Ludwigs Geheimnis, seine homoerotischen Neigungen, verbirgt also vor der Öffentlichkeit das Unmoralische; zum anderen kann sie aber auch für das Dunkle in Ludwigs Innerem stehen und somit seine Schattenseite symbolisieren. Der Blick in das Nebenzimmer erweckt außerdem eine Tiefenperspektive des Raumes. Ludwig lässt sich torkelnd mit seinem Burschen auf einem mit Fell überworfenen Sofa nieder, während ein anderer das Séparée verlässt. Ein unsichtbarer Schnitt zeigt die Hände eines der Burschen im Close-Up, wie er die Melodie eines Schuhplattlers an der Zither zupft. Neben der Zither befinden sich zwei leere Glaskrüge. Zum Zitherklang ist außerdem das Schuhplatteln einiger junger Männer zu hören. Die Kamera schwenkt von der Zither aus nach links an einem halbvollen Glas Bier vorbei in einer amerikanischen Einstellung durch die Hütte. Sie zeigt dem Rezipienten dabei unverhüllt die morbide Atmosphäre: Die jungen Burschen liegen betrunken, erschöpft, verschwitzt und teilweise aufeinander auf Stühlen und dem Boden. Die Beine zweier Schuhplattler, die sich zur Melodie der Zither bewegen, sind zu erkennen. Durch den Einstellungswechsel zur Halbnahen erscheinen die schuhplattelnden Männer ganz im Bild. Sie sind umgeben von schlafenden und erschöpften jungen Männern. Sie scheinen aufgrund des überschwänglichen Alkoholgenusses „abwesend“ zu sein. Im Hintergrund sitzt ein Bursche auf einem Tisch, lehnt sich an der Wand an und qualmt eine Zigarre. Während die Zitherklänge weiter aus dem Off zu hören sind, zeigt ein Schnitt in der Nahen König Ludwig von der Seite. Auf seinem Schoß liegt der Kopf des jungen Mannes, mit dem er sich auf dem Sofa niedergelassen hat. Mit der rechten Hand streicht er diesem behutsam und zärtlich durchs Haar, mit der linken Hand hält er einen gläsernen Bierkrug mit offen stehendem Zinndeckel. Durch einen unsichtbaren Schnitt ist das Gesicht Ludwigs im Detail und frontal zu sehen. Die rechte Hälfte

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seines Gesichtes, aus der Sicht des Zuschauers, liegt im Schatten. Aus seinen glänzenden Augen spricht der Alkohol. Mit der linken Hand hebt er den gläsernen Bierkrug an den Mund, senkt seinen Blick in das Glas und versucht zu trinken. Dabei läuft das Bier links und rechts an seinen Mundwinkeln hinab und auf seine Kleidung. Mit halb geöffnetem Mund und weggetretenem Blick senkt er seinen Kopf. Auf seiner Stirn sammelt sich fiebriger Schweiß. Der Anblick König Ludwigs lässt seinen Verfall deutlich erkennen. Vom strahlend schönen Märchenkönig ist nur eine verfallene Schattengestalt übrig geblieben. Während Ludwig den Rezipienten diesen Anblick preisgibt, verstummt die Zither und die Männer beginnen das Tiroler Volkslied „Guter Rat“ anzustimmen, begleitet von einer Ziehharmonika. Ein Schnitt erfolgt und zeigt in der Halbnahen einen verzweigten Baum inmitten der Holzhütte. Auf diesem sitzen der Bursche, der die Ziehharmonika spielt, und andere unbekleidete junge Männer. Mit einem Kameraschwenk nach unten wird die Fallhöhe der Dramaturgie symbolisiert. Die am Boden liegenden Männer wirken wie „gefallene Engel“. Auffällig ist der junge Mann im Vordergrund des Bildes, der die Uniform eines Lakaien des Königs trägt. Das Bild gleicht dem Jüngsten Gericht, am Boden die unmoralischen Sünder, entsprechend der Offenbarung nach Johannes: „Sie wurden gerichtet, jeder nach seinen Werken.“91 Der Baum ist als Baum der Versuchung zu deuten. In dieser melancholisch-schwülen Atmosphäre tritt Ludwig, wieder mit Mantel und Hut bekleidet, aus dem Séparée in den Raum. Er bewegt sich sehr langsam und andächtig, während die Männer leise die erste Strophe des Tiroler Volksliedes „Fein sein, beinander bleiben. Mags regn oder windn oder abaschneibn. Fein sein, beinander bleiben“92 singen und ihrem König damit einen „guten Rat“ erteilen. Das Volkslied aus der Zeit um 1800 behandelt die Treue zueinander, die stets gehalten werden muss, auch in schwierigen Zeiten. Es rät dem Zuhörer, achtsam und gescheit zu sein sowie falschen Rat zu erkennen. Vor dem Fenster der Hütte wartet die Nacht; es schneit und der Schlitten des Königs wartet. Für Ludwig ist es Zeit, den nächtlichen Ausflug zu beenden und in die Welt der Zwänge zurückzukehren. Die Stimmen der Männer verstummen und die Ziehharmonika untermalt allein das traurige Bild. Ludwig nähert sich von rechts aus dem Hintergrund kommend der Kamera und steigt über die am Boden liegenden jungen Männer. Sein Blick ist ebenfalls zu Boden gerichtet, als schäme er sich vor dem Auge des Betrachters. Sein Gesicht ist größtenteils im Schatten, was wiederum als Schutz vor den Blicken der Zuschauer und somit der Öffentlichkeit dient. In der Mitte des Bildes angekommen, hält Ludwig für einen kurzen Moment inne und blickt in die Richtung, aus der er gekommen ist, zurück. Er kann sich nur schwer lösen und von der Illusion der Geborgenheit trennen. Die Kamera nimmt dabei die Position Ludwigs ein und schwenkt entsprechend seinem Blick durch den Raum. Ein Schnitt erfolgt und noch einmal erscheinen die nackten jungen Männer auf den Ästen des Baumes 91 Offb 20,12, www-alt.die-bibel.de/online-bibeln [18.März 2013]. 92 Visconti (wie Anm. 17) 2. Teil 4. Kapitel 5. Titel 4: „Nächtliches Vergnügen“. 38:43.



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– seine Versuchung – im Bild. Ludwig blickt dabei von oben nach unten – wieder ein Zeichen des hohen Falls seines Selbst. Er lässt anschließend seine Augen über die am Boden liegenden Männer schweifen. Nach einem letzten Schnitt kann der Rezipient den König mit dem Rücken zur Kamera gewandt langsam aus der Hütte gehen sehen. Er wankt dabei mit kleinen Schritten um den Baum, um die Versuchung, herum. Da dieser in der Mitte steht und Ludwig um ihn herum schreitet, kann die Inszenierung dahingehend gedeutet werden, dass sich Ludwigs Leben um die Versuchung seiner homoerotischen Neigungen dreht und die Unmöglichkeit, diese zu leben. Mit zwei kurzen traurigen – und verstohlen wirkenden – Blicken über die Schulter verlässt der König die Hütte des Vergnügens und tritt in die Nacht kalte und tiefverschneite Nacht. Die äußere Kälte steht in einem starken Kontrast zur inneren, beschützenden Wärme der Hütte. In der Tür wendet sich Ludwig erneut zurück. Dies verdeutlicht, wie schwer ihm der Abschied und der Schritt in die Kälte – im doppelten Sinn – fallen. Sobald Ludwig hinaustritt, setzt sich sein Schlitten in Bewegung und der Zuschauer sieht diesen aus dem Inneren der Hütte durch deren einziges Fenster vorbeifahren. Auffallend am Ende der Szene ist, dass die Tür, aus der Ludwig, gefolgt von seinen beiden Bediensteten, hinaustrat, von den Burschen in der Hütte nicht wieder geschlossen wird. Die Kälte kann ungehindert auch zu diesen hineinströmen. Vermutlich ein Zeichen der inneren Kälte, die der König – möglicherweise durch sein Verlassen – hinterlässt. Der Gesamteindruck dieses Kapitels ist begleitet von Dunkelheit, Schatten, melancholischer Stimmung und einem Exzess von Alkoholismus sowie unmoralischen Begebenheiten. Der Verfall des Königs ist eindrucksstark dargestellt.

IV Tiefenstruktur II und Überprüfung der historischen Narration 1 Frauenbilder Szenen wie „Überraschung in der Oper“ zeigen in markanter Weise eine Prinzessin Sophie der 1950er Jahre. Ihre kindlich, naive Art sowie ihre Begeisterung und Sympathie für den jungen König sind nicht zu übersehen. Schon während sie von ihrer Mutter und einer Bediensteten angekleidet und frisiert wird, kann sie vor Aufregung kaum ruhig auf ihrem Stuhl sitzen. Ihr kindliches Auftreten wird auch in der Oper selbst deutlich. Zunächst, indem sie fröhlich davon ausgeht, durch sämtliche Operngläser angestarrt zu werden und am folgenden Tag auf der Titelseite der Zeitung zu erscheinen, dann aber, indem sie sich fürchtet und ihren Kopf gleich einem furchtsamen Kind auf Ludwigs Arm legt und ihn bittet, sie nach Hause zu bringen.

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Mit dem Einblenden eines Zeitungsartikels, der die Lösung der Verlobung ankündigt, markiert Käutner das Ende der Beziehung Ludwigs zu Sophie. Um Sophies Trauer und Enttäuschung zu unterstreichen und damit ihr herzliches Wesen hervorzuheben, lässt er die Kaiserin Elisabeth nach Hause eilen, um ihrer liebeskranken Schwester beizustehen. Fürsorglich, gleich einer Mutter, nimmt Elisabeth ihre kleine Schwester wie ein Kind, das es zu trösten gilt, in den Arm. Sophie schluchzt dabei: „Sisi, Sisi, ich lieb ihn so, ich lieb ihn.“93 Dieses empfindsam-defensive Wesen Prinzessin Sophies inszeniert Käutner auch im Kapitel „Begegnung mit Kaiserin Elisabeth“ ausdrucksstark. Sophie, die bei einem Empfang in Kurpark von Bad Kissingen von Ludwig kaum beachtet wird, äußert dies traurig ihrer älteren Schwester gegenüber: „Er sieht mich nicht. Er sieht mich überhaupt nicht, Sissi.“94 Auch an dieser Stelle ist Sophies Unbeholfenheit und verliebte Begeisterung für den König spürbar. Elisabeth fungiert wiederum als beschützende ältere Schwester, der sich Sophie anvertraut. Ähnlich der Kaiserin besitzt auch Sophie einen natürlichen Drang zur Fürsorge. Dies zeigt sich etwa im Kapitel „Prinzessin Sophie zu Besuch“, in dem Sophie Ludwigs Einladung nach Hohenschwangau folgt. Käutner zeigt Sophies Freude, Aufgeregtheit und ihre Erwartungen, deutet aber gleichzeitig die Enttäuschung an, die ihr bevorsteht, indem beide bei einem Rundgang durch das Schloss im Musikzimmer verweilen und Sophie auf einem Piano Forte die traurige Melodie von Wagners „Tristan“ spielt. Ludwig wendet sich dabei von Sophie ab und blickt verträumt auf ein Gemälde Karl Theodor Pilotys aus dem Jahre 1853, auf dem Elisabeth auf ihrem Pferd vor dem Schloss in Possenhofen zu sehen ist. Hier spürt Sophie Ludwigs Abwesenheit und sie zeigt, wie es sich für eine Frau der 1950er Jahre ziemt, ihre Fürsorge gegenüber ihrem Zukünftigen: „Ludwig, schau mich doch an, lass Dir doch helfen!“95 An dieser Stelle inszeniert Käutner den ersten und letzten Kuss zwischen Sophie und Ludwig. Bereits im vorherigen Kapitel „Rückkehr in die Residenz“ sind sich beide mit Hilfe Ottos nähergekommen, den Sophie aufgeregt und erwartungsvoll um Unterstützung bittet: „Weißt Du, er sieht mich immer gar nicht, und da dacht ich, vielleicht könnst es Du einrichten?“96 Als Ludwig Sophie begrüßt, himmelt sie ihn mit funkelnden Augen an, während er überrascht feststellt: „Ach, Du bist die Sophie? Ich dachte, Du bist noch unser kleines Sopherl? Du hast dem Otto gsagt, er soll mich zu Dir bringen?“97 Sophies Verlegenheit ist nicht zu übersehen. Als Ludwig sie um einen Tanz bittet und sie anschließend auf sein Schloss Hohenschwangau einlädt, kann sie ihre überschwängliche Freude nicht verbergen. Sophie verschwindet schließlich als ein weinendes, trauerndes und von Liebeskummer geplagtes junges Mädchen aus dem Film. Käutner inszeniert ihre Figur also 93 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 12: „Elisabeth eilt herbei“. 01:01:28. 94 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 3: „Begegnung mit Kaiserin Elisabeth“. 10:46. 95 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 10: „Prinzessin Sophie zu Besuch“. 56:13. 96 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 9: „Rückkehr in die Residenz“. 48:30. 97 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 9: „Rückkehr in die Residenz“. 50:19.



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durchgehend als naive, unschuldige, kindliche Frau, deren Herz gebrochen wird und die an der Eigenart des Königs und dessen Lebensweise scheitert. Ihre Wünsche und Träume, ihre Illusion, die Königin an der Seite Ludwigs zu sein, gehen nicht in Erfüllung. Ludwig, der sie durch alle Auftritte hindurch „nicht sieht“, ermöglichte ihr kurzzeitig einen Einblick in seine Welt und damit auch in sein Herz, ließ sie aber nicht eintreten. Mit dieser Narration stützt sich Käutner nur bedingt auf die historische Überlieferung. Ludwigs und Sophies „Beziehung“ begann bereits in beider Kindheit, während sich der Kronprinz in Possenhofen, dem Schloss seiner Großtante Ludovica und des Herzogs Max in Bayern, aufhielt. Eine kindliche Freundschaft verband sie, bevor der Kontakt durch ihre gemeinsame Liebe zu den Musikdramen Wagners enger wurde und ein reger Briefwechsel über sechs Monate im Jahr 1867 begann. In diesen schwärmte der König meist von Wagners Werken und dessen großartiger Leistung. Vermutlich auf das Drängen von Sophies Mutters Ludovica von Bayern, die sich über die eifrige Korrespondenz des Königs mit ihrer Tochter echauffierte, bot Ludwig Sophie an, diese einzustellen: Meine liebe Sophie! Schwer kommt es mich an, diese Zeilen an Dich zu richten, aber ich halte es für meine Pflicht, gerade jetzt Dir zu schreiben. – Schmerzlich ist es mir, sollten Wir wirklich von nun an Unseren schriftlichen Freundschaftsverkehr auf immer unterbrechen, denn [...] nie wirst du aufhören, mir theuer zu sein, zeitlebens werde ich Dir die aufrichtigen und innigen Gefühle meiner treuen Freundschaft bewahren. [...] Der Hauptinhalt unseres Verkehrs war stets, Du wirst es mir bezeugen, R. Wagners merkwürdiges, ergreifendes Geschick. – Oh zürne mir nicht [...] dein Freund hat vielleicht nur mehr wenige Jahre zu leben, soll seine karg bemessene Lebenszeit ihm durch den qualvollen Gedanken verbittert werden, daß eines der wenigen Wesen, die ihn verstanden hat, [...] ihn nunmehr im Stillen haßt? [...] willst Du es, so schreibe ich nie wieder, lebe glücklich und gedenke mein. – In inniger Freundschaft Dein treuer, aufrichtiger Vetter Ludwig.98

Zwei Zusammentreffen mit Prinzessin Sophie folgten und ebenfalls per Brief bat Ludwig diese am 22. Januar um ihre Hand. Ein öffentliches und gemeinsames Auftreten in Ludwigs Loge im Theater galt als offizielle Ankündigung der Verlobung des Königs mit der Herzogin Sophie Charlotte.99 Käutner inszeniert die Vorgeschichte dieser Ankündigung mit einem naiven Anhimmeln Sophies und einem Schwärmen für den jungen König, der sie allerdings zunächst nicht wahrnimmt und erst auf einem Ball im Kapitel „Rückkehr in die Residenz“ als seine kleine Großcousine, „das Sopherl“, zu erkennen scheint. Selbst bei Sophies Besuch in Hohenschwangau ist nichts zu spüren von der innigen Verbundenheit der beiden durch ihre gemeinsame Vorliebe für Wagners Musik. Sophie spielt die Melodie der Prelude von „Tristan und Isolde“, 98 Wolfgang Müller, „Ein ewig Rätsel bleiben will ich…“. Wittelsbacher Schicksale. Ludwig II., Otto I. und Sissi, München 1999, S. 106–107. 99 Müller, Ein ewig Rätsel (wie Anm. 98), S. 104–107.

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doch dies ist kein Indiz ihrer Verbundenheit, sondern ein Verweis auf das Schicksal Ludwigs und das dramatische Ende ihres Beisammenseins. Ähnlich der historischen Begebenheit führt auch Käutners Ludwig Sophie in seine Loge, allerdings kündigt er damit nicht seine Verlobung an, wie von Sophie erwartet, sondern möchte sie auf die Unterschiede zwischen seiner Welt und Sophies Vorstellung hinweisen. Von Sophies Begeisterung für die Werke Wagners ist nichts zu spüren. Sie mimt die verliebte und überglücklich Verlobte, die mit gebrochenem Herzen schließlich zurückbleibt. Die Lösung der Verlobung mit dem bayerischen König allerdings ist möglicherweise Sophie selbst zuzuschreiben. Wie etliche Briefe bezeugen, pflegte diese eine Liaison mit dem Sohn eines Münchner Photografen. Laut der Darstellung Wolfgang Müllers soll sie Edgar Hanfstaengl mit hoher Wahrscheinlichkeit während der Aufnahme ihres Verlobungsfotos mit Ludwig kennengelernt haben. Eine heimliche Liebe zu diesem ist aus Zeilen wie „Warum mußte ich Dich kennenlernen, nun da meine Freiheit in Fesseln geschlagen ist“100 herauszulesen. Sophie traf sich unter den verschiedensten Vorwänden mit ihrem Liebhaber und weihte mehrere Personen aus ihrem nächsten Umfeld in das Geheimnis ein, um die Treffen zu ermöglichen. Es ist nicht auszuschließen, dass dadurch auch der bayerische König von der Liaison seiner Verlobten erfuhr und sich daraufhin am 7. Oktober 1867 von seinem Wort, das er Sophie gab, löste. In sein Tagebuch notierte er, angelehnt an ein Zitat aus Wagners Tannhäuser: „Sophie abgeschrieben, das düstre Bild verweht, nach Freiheit doch verlangte ich, nach Freiheit dürstet´s mich! Aufleben nach qualvollem Alp – und weckend mich aus düstrem Traum“.101 In Anbetracht ihrer Liebschaft zu Edgar Hanfstaengl ist es unwahrscheinlich, dass Ludwig Sophies Herz gebrochen hat. Käutner geht es offenkundig nicht um die Darstellung der Verbundenheit und der Freundschaft zwischen Sophie und Ludwig vor ihrer Verlobung und auch nicht darum, ihre Liebe zu ihm in Frage zu stellen. In seiner filmischen Konstruktion ist für eine mögliche Liaison Sophies zu dem Sohn eines Photografen kein Platz. Im Kino der 1950er Jahre überwog der Heimatfilm und mit ihm der Wunsch nach einer heilen Welt. Das Heimatgefühl, das sich nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges wieder verbreitete, etablierte sich auch auf der Leinwand. So stellte der Heimatfilm mit 23,8 % den Hauptanteil der Genres westdeutscher Filmproduktionen zwischen 1949 und 1964.102 Die ideale Frau darin war erfüllt von Herzlichkeit, eine vorzügliche Hausfrau, liebevolle Mutter und treue Ehegattin.103 Selbstbewusstsein, das der Herzogin Sophie durchaus zu eigen gewesen sein muss, wenn sie trotz ihrer Verlobung mit dem bayerischen Königs eine Liaison mit einem Bürgerlichem führte, sowie Untreue einem 100 Müller, Ein ewig Rätsel (wie Anm. 98), S. 108. 101 Müller, Ein ewig Rätsel (wie Anm. 98), S. 111. 102 Manuela Fiedler, Heimat im deutschen Film. Ein Mythos zwischen Regression und Utopie, Frankfurt am Main 1995, S. 45–46. 103 www.wirtschaftswundermuseum.de/frauenbild-50er-1.html [21.03.2013].



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versprochenen Mann gegenüber, passten nicht in dieses Bild. Eine liebenswürdige, kindliche Sophie allerdings, die ihren Zukünftigen nicht nur anhimmelt, sondern ihm auch noch helfen will und sich um sein Wohlbefinden sorgt („Ludwig, schau mich doch an, lass Dir doch helfen!“)104 beweist ein großes Herz und entsprach den Erwartungen an eine Vorzeige-Frau aus den 1950er Jahren. Ex aequo hätte es sich für Elisabeth, eine verheiratete Frau, nicht geziemt, Ludwig durch ihr Verhalten Hoffnungen zu machen oder ihm eine Illusion von Liebe zu geben. Dabei ist sie es, der Ludwig im Gegensatz zu ihrer Schwester nicht nur einen Einblick, sondern auch Eintritt in ihr Herz gewährt. Elisabeth erfüllt besonders im Punkt der Treue ihrem Ehegatten gegenüber das Bild einer idealen Frau der 1950er Jahre. Im Kapitel „Liebe ohne Perspektive“ zeichnet Käutner eine vernünftige und ebenso herzliche erwachsene Frau, die sich besonders während des Opernbesuchs sichtlich zu Ludwig hingezogen und mit ihm verbunden fühlt, doch ihn letztlich auf ihre Bestimmung hinweist und ihre Beziehung rein auf platonischer Ebene hält. Sie bleibt ihm bis über den Tod hinaus verbunden – die rote Rose, die sich als „roter Faden“ durch die gesamte Narration zieht, verdeutlicht dies – bricht aber nie aus ihren Schranken aus. Sie kennt ihre Grenzen und weiß von ihren Pflichten, die es zu erfüllen gilt. So weist sie ihn im Kapitel „Elisabeth eilt herbei“ darauf hin: „Nein, Ludwig, nein. Nein, Ludwig, so nicht. Wir brauchen den Tod nicht. Wir dürfen unser Unglück leben. Und unser Glück, denn nicht wahr, es ist doch ein Glück, zu wissen, dass irgendetwas in unser beider Leben rein bleibt.“105 In Anbetracht dessen spendet sie dem acht Jahre jüngeren Ludwig, ähnlich ihrer kleineren Schwester Sophie, ihre unermessliche und mütterliche Fürsorge. Dies zeigt sich vor allem im Kapitel „Böses Erwachen“, in dem Elisabeth von einem schrecklichen Alptraum aus dem Schlaf gerissen wird und wie durch eine böse Vorahnung kurz darauf erfahren muss: „König Ludwig von Bayern ist tot.“106 Geflissentlich verschweigt Käutner die anfängliche Kälte Elisabeths Ludwig gegenüber, die nicht dem warmen Wesen des gängigen Frauenbilds der Zuschauer entsprochen hätte. Besonders vor dem Hintergrund der Lösung der Verlobung mit ihrer Schwester war bei der historischen Elisabeth-Figur wenig von Käutners inszenierter Herzlichkeit zu spüren. Elisabeth suchte nicht Ludwigs Nähe, sondern mied sie, indem sie bei ihren Aufenthalten in München nicht das Angebot wahrnahm, in der Residenz zu verweilen.107 Käutner erfüllte somit mit der Inszenierung von Sophie und Elisabeth sowie der dementsprechenden Gestaltung beider Beziehungen zu Ludwig die Erwartungen der Rezipienten seiner Zeit und bot ihnen eine Vorzeige-Welt in der Realität der späten Nachkriegszeit. Gleichzeitig aber verstärkte er – angesichts von Millionen Zuschauern 104 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 10: „Prinzessin Sophie zu Besuch“. 56:13. 105 Käunter (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 12: „Elisabeth eilt herbei“. 01:05:30. 106 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 2: „Böses Erwachen“. 03:39. 107 Müller, Ein ewig Rätsel (wie Anm. 98), S. 118–121.

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– auch das ideale Frauenbild und trug zu seiner Verbreitung bei. Auf diese Weise fand eine gegenseitige Wechselwirkung statt. Visconti kreiert ein gänzlich anderes Frauenbild, was in erster Linie seine Darstellung der Kaiserin Elisabeth bezeugt. Sie erscheint als selbstbewusst, vernünftig und realitätsnah. Sie verweigert sich beispielsweise Ludwigs Einladung zur Premiere von Wagners Musikdrama „Tristan“, womit sie diesem ihren Unmut gegenüber seiner Verschwendungssucht offenbart, aber auch seinen Träumereien und Illusionen. Bei ihrem Besuch auf der Roseninsel macht sie ihrem Großcousin dies eindringlich klar. Selbstbewusst und herrisch fährt sie dem bayerischen König mehrmals über den Mund und unterbricht dessen kindliche Schwärmerei über Wagners Triumph. Sie beabsichtigt, Ludwig auf den Boden der Realität zurückzuholen und ihm zu verdeutlichen, dass in ihrer Welt kein Platz für derartige Träume ist („Wie viel hat das alles gekostet?)108. Visconti zeigte Elisabeth als Konsumkritikerin und referiert damit auf Strömungen seiner Zeit. So wie die Kaiserin Ludwig seine maßlose Verschwendungssucht und dessen verantwortungslosen Umgang mit der Staatskasse vorwirft, prangerte ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft der sechziger und siebziger Jahre den Kapitalismus nebst der Maßlosigkeit einzelner sowie der gesamten Regierung an. Elisabeth mimt eine verantwortungsvolle Herrscherin voller Pflichtgefühl. Von der fürsorglichen Mutterfigur der Käutner-Kaiserin ist wenig zu spüren, obgleich sie in einzelnen Einstellungen Verständnis und Mitgefühl Ludwig gegenüber zeigt und ihr eigenes Unglück, das sie auch ihrem Großcousin vorauseilen sieht, nicht verbergen kann. Trotz alledem bewahrt sie Haltung und Abstand zu Ludwig. Elisabeth ist nüchtern-pessimistisch in ihrer Weltsicht – undenkbar, dass sie wie Käutners Kaiserin das Glück des Lebens beschwört. Indem Visconti Elisabeth die Worte: „Die Geschichte vergisst uns, es sei denn, jemand gibt uns Bedeutung, indem er uns ermordet“109 in den Mund legt, nimmt er das Schicksal der beiden vorweg. Den Illusionen, denen Ludwig nachjagt, wird durch den Blick einer Realistin der Boden. Besonders deutlich wird das Selbstbewusstsein der Kaiserin, als sie den König mit der Haltlosigkeit seiner Träumereien und Schwärmereien konfrontiert („Ihre pathetische Freundschaft gibt Ihnen nur die Illusion, etwas Schöpferisches geleistet zu haben. So wie ich Ihnen die Illusion von Liebe gebe!“)110. Im Kapitel „Suche nach Wagner“ tritt Elisabeth selbstbewusst sowohl Ludwig als auch ihrer Bediensteten Gräfin Ferenczy gegenüber auf und verkündet, sie sei bei dem Gedanken vor der versammelten Verwandtschaft zurückgeschreckt und daher nicht zu Ludwigs Krönung erschienen. Außerdem komme und gehe sie vor aller Augen, wann immer sie wolle. Und da sie jetzt noch keine Lust habe, nach Hause zu fahren, möchte sie sich von Ludwig entführen lassen. Sie spielt mit Ludwig und umgarnt ihn mit ihren Blicken. Sie hat keine Scheu, vermeintliche Sittlichkeit und Geschlechterrollen in Frage zu stellen, wenn sie Ludwig im Kapitel „Das 108 Visconti (wie Anm. 17) 1. Teil 2. Kapitel 1: „Liebesillusion“. 03:30. 109 Visconti (wie Anm. 17) 1. Teil 2. Kapitel 1: „Liebesillusion“. 05:39. 110 Visconti (wie Anm. 17) 1. Teil 2. Kapitel 1: „Liebesillusion“. 04:25.



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Versprechen“ aus eigenem Antrieb den Arm um den Hals legt und ihn küsst. Elisabeth erscheint als Inkarnation sexueller Selbstbestimmung der Frau. Unverblümt beklagt sie die gesellschaftlichen Zwänge, die sie in ein Ehegefängnis gebracht haben. Sie macht deutlich, die Politik und die Wiener Hofburg zu hassen und sich mit ihrem Ehemann zu Tode zu langweilen. In ihrer Ansprache, die sie dem König hält, wirkt sie exzentrisch und betont, sie habe genug von der ständigen Kritik: „Ich kann tun und lassen, was ich will, sie kritisieren mich immer! Also warum soll ich nicht tun und lassen, was ich will?“111 Ihre Schwester fordert sie angesichts der Verlobung mit Ludwig auf: „Sophie, nun behaupte Dich mal!“112 An anderer Stelle nimmt sie den emanzipatorischen Duktus der beginnenden 1970er Jahre fast völlig auf: „Aber es ist auch Deine Schuld! Warum schließt Du Dich immer in dieses Haus ein und wartest, bis er sich zu einem Besuch herablässt? Geh aus! Führ ein ganz normales Leben! Geh ins Theater, wenn Dir danach ist, vereise und amüsiere Dich! Zeige ihm, dass Du unabhängig von ihm bist und viele eigene Interessen hast! Das wird ihn herausfordern. Und er wird Dich begehren!“113 Das glatte Gegenteil hatte die historische Elisabeth ihrer Schwester vorgeworfen, als deren außereheliche Liaison publik wurde: „Deinem guten Herr Gemahl hast die Treue gekündigt, Stiessest ihm ins Herz den Stahl, Ja, Du hast Dich schwer versündigt.“ Zu ihrer Schwester Sophie pflegte die historische Elisabeth nach dem Ende ihrer Verlobung mit Ludwig nur noch wenig Kontakt. Selbst als diese aufgrund der Affäre mit dem Münchner Nervenarzt Glaser in ein Sanatorium für Nervenkranke in Graz eingeliefert wurde, zeigte die Kaiserin kein Verständnis.114 Mit der quellenmäßig jenseits ihrer geschickten Körperpolitik115 nur partiell belegbaren Eigensinnigkeit und dem Drang nach (sexueller) Selbstbestimmung und Freiheit entspricht Elisabeth dem Wunsch der Jugend- und neuen Frauenbewegung der 1960/70er Jahre. Elisabeth symbolisiert die weibliche Emanzipation der Rezipienten-Gegenwart.116 Zugleich offenbart sie – in völliger Überzeichnung einzelner Aussagen in nicht veröffentlichten Gedichten117 – eine pazifistische Attitüde: Elisabeth bezeichnet ihren Mann nicht nur als langweilig, sondern prangert auch an, er habe nichts anderes im Kopf als Krieg zu führen. Vor dem historischen Hintergrund des Ost-West-Konfliktes sowie dem andauernden Vietnamkrieg vermag somit Elisabeths filmische Kritik kollektive Sehnsüchte von Kriegsgegnern zu stimulieren.

111 Visconti (wie Anm. 17) 1. Teil 2. Kapitel 1: „Liebesillusion“. 20:07. 112 Visconti (wie Anm. 17) 2. Teil 3. Kapitel 1: „Glückwünsche zur Hochzeit“. 02:28. 113 Visconti (wie Anm. 17) 2. Teil 3. Kapitel 5: „Unglückliche Sophie“. 23:46. 114 Müller, Ein ewig Rätsel (wie Anm. 98), S. 114. 115 Brigitte Hamann, Elisabeth. Kaiserin wider Willen, München 201012, S. 181 ff. 116 Dazu zum Beispiel: Thomas Etzemüller, 1968 – Ein Riss in der Geschichte? Gesellschaftlicher Umbruch und die 68er-Bewegungen in Westdeutschland und Schweden, Konstanz 2005, S. 175–194. 117 Hamann, Elisabeth (wie Anm. 115), S. 357ff.

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2 Männerbilder Besonders in der Sequenz „Unterschiedliche Ansichten“ ist Ludwig II. bei Käutner als nahezu vorbildhafter Monarch konturiert. Ludwig, der bereits im Kapitel „Begegnung mit Kaiserin Elisabeth“ seinem Verbündeten Kaiser Franz von Österreich die Bündnistreue bestätigt hat, empfängt den preußischen Kanzler Bismarck, um sich seine Argumentation für den bevorstehenden Krieg anzuhören. Damit leuchtet ein nahezu demokratisches Element auf, denn beide Konfliktseiten werden substantiell dargelegt. Ludwig erscheint als Rollenmodell eines großen Mannes, der es wert ist, dass man zu ihm aufsieht. Er beweist in seinem Gespräch mit Bismarck – trotz seines „Andersseins“ – Fürsorge für seine Untertanen, er wird inszeniert als demütiger (wiederholtes zu Boden schauen) Menschenfreund, der angefüllt ist mit Herzlichkeit. Während Bismarck ihm seine Sicht der Dinge darlegt, erwidert Ludwig, gleich einem fürsorglichen Vater, der seine Kinder, hier sein anvertrautes bayerisches Volk, beschützt, dass es seine heilige Pflicht sei, den Frieden zu wahren. Später im Kapitel „Kriegsausschreitung“ unterzeichnet Ludwig die Mobilmachung des bayerischen Heeres nur widerwillig und mit großer Sorge im Bewusstsein um die Folgen seiner Unterschrift. Außerdem zeigt er Mitgefühl mit seinen Soldaten und bittet sie, ihm zu verzeihen: Wollen Sie, dass ich sage, Soldaten, ihr zieht jetzt hinaus in einen Krieg, ihr werdet auf Eure Brüder schießen, Eure Brüder werden auf Euch schießen, weil das Schicksal es will? Das Schicksal und ein paar Herrn hüben und drüben. [...] Jetzt holt man Euch von Euren Äckern und Wäldern in Bayern wie in Preußen, morgen schießt Ihr aufeinander und Ich, der König, soll Euch aufmuntern. Ich soll Euch zurufen, habt kein Erbarmen mit Euren Brüdern, die Eure Feinde sind, Eure Feinde, die Eure Brüder sind. Ich will Euch nur eins sagen, wem von Euch bestimmt ist, zu sterben, dem möge sein Tod leicht sein. Er möge mir verzeihen, wenn Er kann.118

Mit dieser völlig anachronistischen Darstellung der Vorgeschichte des preußischösterreichischen Krieges119 trifft Käutner den Nerv seiner Zeit. Das deutsche Volk ist gezeichnet von Krieg und Trauer vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges. Es stellt an seine Regierung die Erwartung, Verantwortungsbewusstsein zu zeigen, Fürsorge walten zu lassen und – gleich dem bayerischen König – bis zuletzt für die Einhaltung des Friedens einzustehen. Dem Bemühen um Konfliktabbau und Versöhnung korrespondiert freilich auch die Stilisierung Bismarcks zum ebenfalls großen Mann, der nicht Machiavellismus, sondern Respekt gegenüber Ludwig und seinem Königreich demonstriert. Das bayerische Bemühen um Sonderstellung wird ebenso gewürdigt wie das schwierige Ringen um die deutsche Einheit. Bezeichnenderweise wird der Welfenfonds im Film nicht erwähnt und der Film-Bismarck führt das historische 118 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 8: „Kriegsausschreitungen“. 43:10. 119 Dazu zum Beispiel: Lothar Gall, Bismarck. Der weisse Revolutionär, Neuausgabe, Berlin 1997, S. 412ff.



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Verhältnis zwischen dem ersten deutschen Reichskanzler und Ludwig ad absurdum, wenn er ihn als „wirklichen König“120 bezeichnet. Und auch Ludwigs Aussage „Es ist merkwürdig Pfistermeister, eigentlich dürften die Leute, die den Krieg verhandeln, doch nicht auch den Frieden verhandeln“121 besitzt anachronistischen Charakter, trifft aber auf kollektive Befindlichkeiten der Deutschen nach 1945. Um Ludwigs positive Eigenschaften zu unterstreichen, lässt Käutner Elisabeth diese mehrmals betonen. Am deutlichsten zu erkennen ist dies im Kapitel „Liebe ohne Perspektive“: „Du wirst uns allen zeigen, dass man erst ein Mensch und ein König wird, wenn man Gutes tut und wenn man rein bleibt.“122 Im Sinne eines VorzeigeHerrschers zeigt Käutners König auch ein Herz für seinen Wachmann, der sichtlich erkrankt ist. Obwohl er sich in einem Regierungsgeschäft befindet und mit Bismarck auf dem Weg zu einer bedeutenden Besprechung ist, hält er inne und ist besorgt um dessen Wohlbefinden. Mit vornehmem französischem Ausdruck, ein Zeichen seiner Bildung, befiehlt Ludwig, ihm ein „Fauteuil“ herbeizuholen. Auch der Familie gilt Ludwigs besondere Wertschätzung. So stellt er die private Sorge um Otto vor den Empfang des preußischen Kronprinzen und zeigt damit den Primat des Privaten vor der Sphäre der Politik. Der Sonderling avanciert im Massenmedium Film zum Familienmenschen, was nur möglich ist vor dem Ringen um den Erhalt der Familie in den 1950er Jahren.123 Die homosexuellen Züge des historischen Ludwig werden ausgeblendet, der innig-schwärmerische Ton der Wagner-Ludwig-Korrespondenz124 wird in keiner Weise aufgegriffen, die Figur Richard Hornigs, Ludwigs Stallmeister, zu dem dieser homoerotische Gefühle hegte und diese wohl auch lebte, bleibt ausgespart. Dafür hebt Käutner Ludwigs Bemühen um Sittlichkeit und Anstand in Liebesdingen hervor. Ludwig entspricht nicht nur in politischen Angelegenheiten und der Fürsorge für die ihm Anvertrauten dem Rollenbild. Auch als (heterosexuell) liebender Mann weiß er, ähnlich wie Elisabeth, von der Unerfüllbarkeit und Perspektivlosigkeit seiner Liebe zu ihr. Während er mit Wagner im Kapitel „Die Berufung Wagners“ in Hohenschwangau 120 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 4: „Unterschiedliche Ansichten“. 16:46. 121 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 9: „Rückkehr in die Residenz“. 45:39. 122 Käutner (wie Anm. 16), Titel 1. Kapitel 6: „Liebe ohne Perspektive“. 29:04. 123 Axel Schildt, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, Bonn 2009, S. 105. 124 Ludwig bezeichnet Wagner überschwänglich als „Heißgeliebte(r)(n), Angebetete(r)(n)“ und „göttliche(r)(n) Freund“. Ihre Briefwechsel gleichen einer kitschigen Liebesszene: „Geliebter, Heiliger! – Einem Funken bin ich gleich, der sich sehnt, in Ihrer Strahlensonne aufzugehen, von ihr beschienen zu werden und die Erde zu verlassen, wenn sie ihr nicht mehr leuchtet. [...] In ewiger Liebe [...] Ludwig“. Wagner antwortet daraufhin: „[...] Oh mein König! Du bist göttlich! Aber auch nichts mehr in mir und um mich als dieses göttliche Element der erlösenden Liebe, wie es aus dem wunderbaren tiefen Brunnen des Herzens meines himmlischen Freundes sich in mich und über mich ergießt! [...]“: Robert Holzschuh, Das verlorene Paradies Ludwigs II. Die persönliche Tragödie des Märchenkönigs, Frankfurt am Main 2001, S. 14; Wilhelm Girrbach, Das Buch Ludwig. Vom Leben und Sterben des bayerischen Märchenkönigs Ludwig II., München 1986, S. 61.

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verweilt und dessen Klavierspiel hört, erzählt Käutner die Wiederfindung Ludwigs in Wagners „Tristan und Isolde“. Tristan sehnt sich nach der unmöglichen Liebe zu Isolde, die dem König versprochen ist, dem er seinen Treueschwur gegeben hat. Ludwig findet sich in der Figur Tristans wieder. Er liebt die Frau, deren Mann er seine Treue im Krieg gegen Preußen versichert hat. Nur im Tod können Tristan und Isolde vereint sein. Eine Möglichkeit im Leben „auszubrechen“ und das „Glas zu brechen“, das sich zwischen den Liebenden befindet, wozu Ludwig Elisabeth in dem darauffolgenden Kapitel „Liebe ohne Perspektive“ auffordert, besteht nicht. Nicht nur das Bild der treuen Ehegattin, die nicht zur Ehebrecherin werden kann, sondern auch das eines Mannes, der den Wunsch dieser Frau akzeptiert und sich ebenfalls nicht versündigt, ist somit ein Käutnersches Narrativ, welches das Gebot der Sittlichkeit unterstreicht. Anzügliches Verhalten ziemte sich nicht in der Öffentlichkeit der fünfziger Jahre. Ehebruch und Scheidung gehörten zu den Tabuthemen der Gesellschaft.125 So belässt Ludwig es bei seiner stillen Anbetung und hält sich an die Konventionen der Zeit. Sinnfälligerweise muss auch Wagner nicht, wie es überliefert ist, aus politischen Gründen,126 sondern wegen des Ehebruchs mit Cosima auf Anordnung des Königs Bayern verlassen127. Das von Visconti transportierte Männerbild steht dem Käutnerschen in etlicher Hinsicht antithetisch gegenüber. Visconti präsentiert in seiner Ludwig-Figur den gebrochenen Mann, ein weltabgewandtes Wesen, das viel zu stark mit sich selbst beschäftigt ist, als dass es Empathie für andere empfinden oder sogar Verantwortung für seine Untertanen übernehmen könnte. Deutlich wird dies unter anderem im Kapitel „Brief an Preußen“, als Ludwig von Holnstein, der ihm einen bedeutenden Bericht über das Schicksal seines Landes überbringen möchte, stundenlang warten lässt, bis er ihn empfängt, und sich dabei wegen seiner Zahnschmerzen selbst bemitleidet. Während ihm von Holnstein nahelegt, dass der Kaiserbrief in der derzeitigen Situation das Beste für Bayern wäre, herrscht er diesen voll Zorn an, während er immer wieder seine Selbstbezogenheit, symbolisch durch das Zeigen seines Fingers auf seine Brust, betont: „Ich soll Wilhelm bitten mir die Gnade zu erweisen, mein Königreich entgegenzunehmen […]? […] Ich werde es nicht! Ich könnte es nicht! Ich tue es nicht! Nein, ich tue es nicht! Ich tue es nicht! Ich tue es nicht! Ich kann nicht! Ich will nicht! Ich will nicht!“128 Ludwig ist ferner unfähig, sinnlichen Genüssen zu widerstehen. Er ist schwach und in seiner Andersartigkeit nicht in die menschliche 125 Schildt, Kulturgeschichte (wie Anm. 123), S. 103. 126 Dazu zum Beispiel: www.hdbg.eu/koenigreich/web/index.php/themen/pdf/herrscher_id/7/ id/42 [15.09.2013]. 127 Die historischen Abschiedsworte Wagners sprechen hier Bände: „Mein theurer Freund! So leid es mir ist, muß ich Sie doch ersuchen, meinem Wunsche Folge zu leisten, [...] – Glauben Sie mir – ich muß so handeln. Meine Liebe zu Ihnen währt ewig; [...] ich konnte nicht anders, seien Sie davon überzeugt; [...] Bis in den Tod. Ich treuer Ludwig“: Winifred Wagner (Hrsg.), König Ludwig II. und Richard Wagner. Briefwechsel, Bd. 1, Karlsruhe 1936, S. 237. 128 Visconti (wie Anm. 17) 2. Teil 3. Kapitel 7: „Brief an Preußen“. 40:42.



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Gesellschaft integrierbar, mithin von Anfang an dem Untergang geweiht. Den Kampf des gebrochenen Mannes mit sich selbst exemplifiziert Visconti vor allem am Thema Homosexualität: Während Ludwig im anfänglichen Verlauf seines Filmes den offensichtlichen homoerotischen Neigungen mit Mühe widersteht, inszeniert er im Kapitel „Nächtliches Vergnügen“ einen seinen Gefühlen ganz ergebenen König, der zusammen mit jungen Burschen in einer morbiden Atmosphäre – vom schrittweisen Verfall seiner selbst gekennzeichnet – seine Neigungen unverhüllt auslebt. Diesen emotionalen Ausbruch bereitete Visconti sorgsam vor: Im Kapitel „Am See“ beobachtet der König heimlich einen nackt badenden jungen Mann, seinen Reitknecht Völk. Als er sich zu erkennen gibt, weist er ihn darauf hin, dass es ihm nicht gestattet sei, seinen Platz zu verlassen und sich nachts an den See zu begeben. Der Reitknecht, der dabei war, sich im See zu erfrischen, läuft gehorsam aus dem Wasser und steht dem König Rede und Antwort. Dabei ist er unbekleidet. Ludwig, der mehrmals verstohlen und heimlich seinen Blick auf den nackten Körper des jungen Mannes richtet, bedeckt diesen nach einem kurzen Gespräch mit seinem Mantel zum Schutz vor der Kälte. Damit schützt er nicht nur den Jungen, sondern in erster Linie auch sich selbst. Dies wird deutlich, als Ludwig in der darauffolgenden Szene vor einem Jesusbild kniet und flehend um dessen Hilfe bittet, um den Reizen und der Sünde widerstehen zu können. Auch das Kapitel „Der neue Lakai“ macht die Anstrengung Ludwigs um Selbstbeherrschung deutlich. Auf der Roseninsel lernt der König seinen neuen Lakai Richard Hornig kennen. Während dieser Feuer macht, beobachtet ihn Ludwig verstohlen, erlaubt sich einen Blick auf dessen bloße Hände und bietet ihm schließlich an: „Du kannst heute Nacht hier schlafen, wenn du willst.“129 Im Kapitel „Appell an die Vernunft“ erklärt Ludwig in einem vertraulichen Gespräch mit seinem Beichtvater entschlossen, er wolle Sophie nicht heiraten, weil er sie weder liebe noch ihr treu sein könne. Der Beichtvater, der von Ludwigs Neigungen weiß, erwidert dem jungen König: Wenn der Teufel dir Versuchungen schickt, dann musst du sie gegen ihn kehren! Betrachte es als eine Prüfung Gottes! Im dunklen Deines Herzen verbergen sich die Verlockungen der Sünde und flüstern Dir zu. Du wirst sehen, ein Körper ist so reizvoll wie ein anderer.130

Nachdem Ludwig die Beichte abgenommen wurde, entfernt er sich und betritt das Zimmer, in dem eben jene Versuchung nur mit einem Fuchsfell bedeckt neben einem brennenden Kamin liegt. Ludwig beugt sich über Richard Hornig, seinen Lakai, und küsst diesen. Damit inszeniert Visconti das Ende von Ludwigs Entsagung gegenüber gleichgeschlechtlichen Partnern und beendet das verdeckte und indirekte Darstellen seiner Neigung.

129 Visconti (wie Anm. 17) 2. Teil 3. Kapitel 4: „Der neue Lakai“. 21:44. 130 Visconti (wie Anm. 17) 2. Teil 3. Kapitel 6: „Appell an die Vernunft“. 28:29.

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Mit dieser offenen Darstellung von Ludwigs Sexualität hält Visconti seinen Zuschauern einen Spiegel vor. Homosexualität war zu Lebzeiten des bayerischen Königs gemäß § 175 des Strafgesetzbuches rechtlich geächtet131 und in der Bundesrepublik zwanzig Jahre lang unter dem von den Nationalsozialisten verschärften § 175 gesetzlich verboten.132 Sie galt als eine „unmoralische Perversion und damit ein Verbrechen gegen die Natur“.133 Etwa 50.000 Männer wurden nach 1945 gemäß diesem Credo bestraft und verurteilt.134 Nach 1969 stellte immerhin noch der homosexuelle Kontakt mit nicht Volljährigen einen Straftatbestand dar. Homophobie war unverändert ein Massenphänomen, Franz Josef Strauß wollte „lieber ein kalter Krieger sein als ein warmer Bruder“, Helmut Schmidt beteuerte noch im Jahr 1980: „Ich bin doch kein Kanzler der Schwulen“.135 Visconti zeigt am markanten Beispiel von Ludwig, wie sexuelle Repression zu menschlichem Verfall und Tod führen muss. Ludwig ist weit deutlicher, als es die Forschung herauszuarbeiten vermag,136 der homosexuelle 131 Zur Homosexualität im Kaiserreich zum Beispiel: Hans-Georg Stümke, Homosexuelle in Deutschland. Eine politische Geschichte, München 1989, S. 21ff; Robert Beachy, To Police and Protect. The Surveillance of Homosexuality in Imperial Berlin, in: Scott Specter u.a. (Hrsg.), After The History of Sexuality. German Genealogies With and Beyond Foucault, New York/Oxford 2012, S. 109–123. 132 Zur Homosexualität in der DDR zum Beispiel: Josie McLellan, Love in the Time of Communism. Intimacy and Sexuality in the GDR, Cambridge u.a. 2011, S. 114ff. 133 Zit. nach Dagmar Herzog, Paradoxien der sexuellen Liberalisierung, Göttingen 2013, S. 35f. 134 Herzog, Paradoxien (wie Anm. 133), S. 36. 135 Zit. nach Franz X. Eder, Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität, München 20092, S. 230. 136 Belege der homoerotischen Neigungen des Königs können in Andeutungen in seinen Tagebuchaufzeichnungen gefunden werden. So notierte er im Jahr 1869: „[...] Verflucht sei ich u. meine Ideale, wenn ich noch fallen sollte Gott sei Dank, es ist nicht mehr möglich denn es schützt mich Gottes heiliger Wille, des Königs erhabenes Wort! – nur physische Liebe allein ist gestattet die sinnliche dagegen verflucht [...]“ und „Nicht mehr im Januar, nicht im Februar, überhaupt ist das Ganze so viel als nur irgend möglich abzugewöhnen; Mit Gottes u. Königs Kraft! – Die Unmöglichkeit wirklichen Falles ist somit ausgesprochen. – Geschworen, so wahr Gottes heiliger Wille nicht mich schütze u. des Königs erhabenes Wort“ sowie „[...] Stark ist der Zauber des Begehrenden, stärker der des Entsagenden [...]“ und „Das ganze Jahr nicht mehr küssen [...]“: Siegfried Obermeier (Hrsg.), Das geheime Tagebuch König Ludwigs II. von Bayern 1869–1886, München 1986, S. 14, 17, 22, 29, 20, 21. Richard Hornig wird wohl an folgenden Stellen angesprochen: „Durch den Fall entsühnt Durch den belebenden stärkenden Duft der Königlichen Lilie. Berg. 30 July 1871 Erlösungstag, Fest 24 5 Sept mit Niemanden mehr möglich Höchstens R. [...]“, „Nicht August, nicht September mehr, nicht Oktober Heute Lilien – Kuß, v. Königs–Lippen letzter! [...]“, „Am 21. dem Todes-Tage des reinen, u. erhabenen König Ludwig XVI. symbolisch-allegorisch letzte Sünde, durch jenen Sühnungstod u. jene Catastrophe vom 15. d. M. geheiligt, gereinigt von allen Schlamm, ein reines Gefäß v. Richards Liebe und Freundschaft. – In den Fluten wird der Ring geweiht geheiligt, verleiht mit dem Träger Riesenstärke, Entsagungskraft […] – Kuß heilig u. rein […] einziges Mal. Ich der König“, „3. Febr. – Hände kein einziges Mal mehr hinab, bei schwerer Strafe! [...] Im Jan. Richard dreimal bei mir, […]! [...] am 31. Hofball, Ritt mit R. in Nymphenburg [...]“, „Bei unserer Freundschaft sei es geschworen, auf gar keinen Fall mehr vor 3ten Juni…“, „am 21. Juli H. zum allerletzten Mal. [...] unter Richard´s Linde, [...] Auszug aus Döllingers Vortrag [...] gelesen R. gerudert, zurück, dann Berg Wagen Berg bis zum großen Ahorn“: Obermeier, Das geheime Tagebuch (wie Anm. 136), S. 20, 21, 23–28. Bei all diesen Tagebucheinträgen ist zu bemerken, dass sie



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und deshalb bis aufs Mark leidende Herrscher. Auch in den Worten, die Elisabeth an ihre Schwester Sophie wendet, wird das offene Geheimnis des Königs ausgesprochen: „Mich brauchst Du doch nicht zu fürchten. Mich nicht. Und keine andere Frau. Ludwig – die Gefahr bei Ludwig, wenn überhaupt – es geschieht mit vielen jungen Männern, wusstest Du das nicht?“137 Die Männerfiguren, die in diesem Zusammenhang in Viscontis Narration eine tragende Rolle spielen, sind neben dem jungen Reitknecht am See, der Schauspieler Josef Kainz, den Ludwig zu sich in seine Venusgrotte auf Schloss Linderhof bestellt und von dem er sich tagelang begleiten lässt sowie sein Lakai Richard Hornig. Obwohl die Schwärmerei Ludwigs für den Schauspieler Josef Kainz in erster Linie auf dessen Talent basiert, geht auch von ihm eine erotische Anziehung auf den König aus. Am deutlichsten inszeniert Visconti Ludwigs Homosexualität in Bezug auf Richard Hornig. So ist er es auch, den dieser kurz nach dem Gespräch mit seinem Beichtvater küsst und der ihn im Folgenden begleitet. Dass Ludwig nicht monogam veranlagt ist, wird in seinen nächtlichen Vergnügen mit einer Vielzahl junger Männer deutlich, wobei er sich letztlich mit einem ausgewählten jungen Mann von den restlichen zurückzieht. Am Ende der Sequenz „Nächtliches Vergnügen“ ist Ludwig freilich nurmehr ein Schattenwesen, das dem Tod entgegen sieht. Sexualität ist natürlicher Teil des Lebens und wenn die Gesellschaft ihre Ausübung behindert – so Viscontis Botschaft – erzeugt sie Angst, Verfall und Zerstörung.

V Schlussbetrachtung Der Frauenschwarm O.W. Fischer als Ludwig der 1950er Jahre fungiert als VorzeigeKönig, der gläubig und demütig ist, eine tiefe Heimatverbundenheit besitzt und es als seine erste Pflicht gegenüber seinem Volke ansieht, diese Heimat und deren Frieden zu bewahren. Er ist als Protagonist eines Heimatfilms mit historischem Inhalt derjenige, der das Bedürfnis der Gesellschaft seiner Zeit nach friedlicher Idylle stillt. Konsequenterweise ist Käutners „Ludwig II. – Glanz und Elend eines Königs“ durchzogen von idyllischen Landschaftsbildern und blühenden Parkanlagen. Besonders eindrucksvoll wird der Topos des heimatverbundenen „guten“ Herrschers im Kapitel „Rückkehr in die Residenz“ bedient. Ludwig, der sich auf einer Jagdhütte befindet, wird von seinen Ministern vom Sieg Bismarcks unterrichtet. Währenddessen sitzt der König, im Trachtenanzug gekleidet, auf einem Baumstamm und lockt eine Rehgeiß zu sich, mit der er behutsam spricht. Das scheue Reh mit seinen treuen Augen ist eine Symbolfigur des Heimatfilms. So pflegt auch die junge Elisabeth in der „Sissi“-Trilogie Marischkas einen jungen Jährlingsbock, dessen Vertrauen sie gewonnen hat. Auf-

zwar die Neigungen des Königs verdeutlichen, nicht aber eine intime sexuelle Beziehung dessen zu seinem Lakai beweisen. 137 Visconti (wie Anm. 17) 2. Teil 3. Kapitel 5: „Unglückliche Sophie“. 25:46.

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fallend an der Inszenierung Käutners ist weiterhin das stets sonnige Wetter, das seine idyllische Naturzeichnung untermalt. Dies ändert sich lediglich als Gefahr droht, symbolisiert beispielsweise durch ein aufziehendes Gewitter. So auch in dem Kapitel, als der König von der Niederlage seiner Armee erfahren muss und aufgefordert wird, zurück in die Residenz zu fahren und seine eigene „heile Welt“ zu verlassen. Käutners Ludwig ist zwar ein Sonderling, aber zugleich den Menschen zugewandt und ein sehr politischer Herrscher. Das von Käutner konstruierte Frauenbild trägt im Sinne der Konservativismus der 1950er Jahre stark mütterlich-fürsorgliche Züge. Die Frau ist auf den Mann fixiert, sie ist keusch und warmherzig. Visconti kreiert den Anti-Käutner. Schon die Besetzung der Ludwig-Rolle mit dem bekennenden Homosexuellen Helmut Berger spricht Bände. Seine politischen Töne referieren vor allem auf den Aspekt der sexuellen Selbstbestimmung. Ludwigs Homosexualität, seine damit verbundene Suche nach Individualität und sein zwangsläufiges Scheitern an repressiven sozialen Normen sind das bestimmende Thema. Der Mann ist bei ihm gebrochen und gefährdet, die Frau hingegen selbstbewusst und stark. Der Mann ist auf sie fixiert, sie versucht sich auszuleben und ihn zu leiten. Bei Visconti geht es im Geiste von „68“ um das Bewusstmachen von gefährlicher Fremdbestimmung, von Individualität und damit Menschen vernichtenden Sozialzwängen, die dringend der Abschaffung benötigen. Selbst die für die 1960er/70er Jahre typische Furcht vor einem Überwachungs- und Polizeistaat greift Visconti auf, um unzulässige Fremdbestimmung zu indizieren. Im Kapitel „Wahrheit über Wagner“, ereifert sich Ludwig: Was ist das für ein Land, in dem wir leben? Ein Polizeistaat? Pfistermeister lässt meine Gäste durch die Polizei einladen und wenn sie hier sind, lässt er sie bespitzeln und der gesamte Briefverkehr meiner Gäste wird hier her gebracht wie Trophäen! Es ist unerhört! Es ist unerhört! Wenn Richard Wagner kein Künstler wäre, er wäre ein Heiliger! Sein Genie hat eine Moral, die befreit und reinigt. Seine Kunst erleuchtet. Eine rettende Kraft, gegen die Übel unserer korrupten Gesellschaft!138

Der Publikumszuspruch legt indes nahe, dass Viscontis Botschaft vom Kampf wider das Unrecht der Fremdbestimmung seinerzeit nicht mehrheitsfähig war.

138 Visconti (wie Anm. 17) 1. Teil 2. Kapitel 3: „Wahrheit über Wagner“. 14:20.

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Hermann von Mallinckrodt, Datum unbekannt (Rechteinhaber: L. Haase, Berlin, entnommen aus http://upload.wikimedia.org/wikipedia/de/7/7c/WP_Hermann_von_ Mallinckrodt.jpg [13.03.2014]) Abbildung 2: Ludwig Windthorst und Johannes von Miquel (Rechteinhaber: Bundesarchiv, Kleine Erwerbungen Bild - Fotoalben (Bild 116), entnommen aus: http://upload.wikimedia.org/ wikipedia/commons/9/94/Bundesarchiv_Bild_116-121-103%2C_Mitglieder_des_Deutschen_ Reichstages.jpg [13.03.2014]) Abbildung 3: Kaiserin Elisabeth, Brust, halb links, Perlenkette; retouchierte Fotografie von Carl Pietzner nach Fotografie von Viktor Angerer (Signatur der Österreichischen Nationalbibliothek: P: Pf: E (68,2). N: KO 662 - B/C) Abbildung 4: Kaiserin Elisabeth, halbe Figur, halb links, schwarze Bluse, Brustkreuz; retouchierte Fotografie von Carl Pietzner nach Fotografie von Viktor Angerer (Signatur der Österreichischen Nationalbibliothek: P: Pf: E (70,1); Pf: E (70,2). N: NB 536.546 – B)

Namensregister Abel, Karl August von 181, 191, 200 Adenauer, Konrad 10, 265, 275–277, 280, 282, 284, 286 Albach-Retty, Wolf 333 Albert, Theodor von 89 Amade, Georg 293 Andrássy, Gyula Graf 321, 329, 352 Angerer, Ludwig 323, 325 Anton, Johann 245 Antonio, 165 Aquin, Thomas von 222, 223 Arco-Valley, Johann Maximilian Graf von und zu 204 Arenberg, Jean-Engelbert Prinz und Herzog von 285 Aretin, Anton Freiherr von 211 Aretin, Erwein Karl Freiherr von 9, 209, 211, 214–219, 222–224, 226–231, 262 Aretin, Familie 266 Aretin, Karl Maria Freiherr von 203 Aretin, Heinrich Freiherr von 222 Aretin, Johann Johann Baptist Christoph Freiherr von 209 Aretin, Ludwig Freiherr von 222 Aretin, Maria Freiherrin von 215 Aretin, Peter Carl Freiherr von 222 Aretz, Gertrude 327–332 Aristoteles 17 Asch, Ronald G. 40 Assmann, Aleida und Jan 3, 6, 298, 337 Auguste Victoria, Deutsche Kaiserin 155, 159, 160, 162 Aureder, Lilo 355 Ballestrem, Anna Gräfin von 129 Ballestrem, Berta Gräfin von 8, 86, 112, 114, 115, 122, 128, 129, 131 Ballestrem, Carl Wolfgang Graf von 79, 80, 113, 129 Ballestrem, Elisabeth Gräfin von 84 Ballestrem, Franz Graf von 8, 78–91, 93, 94, 96, 98–102, 104–106, 112, 113, 123, 129, 130, 132, 144, 148, 210 Ballestrem, Hedwig Gräfin von 129 Ballestrem, Valentin Graf von 103 Barker, Frederic 329 Bassenheim, Graf von Waldbott zu 43, 55

Bassenheim, Gräfin Isabella von (geb. Gräfin von Nesselrode) 43 Bastl, Beatrix 153 Baudissin, Wolf von 284 Baumgartner, Roland 292, 293 Bayern, Adalbert Prinz von 263 Bayern, Amalie Prinzessin in 154 Bayern, Elisabeth Marie von 154 Bayern, Helene in (später Erbprinzessin von Thurn und Taxis) 315, 322, 329 Bayern, Ludovika Wilhelmine Herzogin von 339, 341, 342, 350, 351, 367 Bayern, Ludwig I. von 171, 172, 176, 177, 181–183, 186, 197, 211 Bayern, Ludwig II. von 10, 158, 300–310, 316, 321, 328, 339, 340, 345, 346–348, 353–355, 357–394 Bayern, Maximilian III. Joseph von, Kurfürst 209 Bayern, Maximilian II. von Bayern 158, 172, 176, 177, 178, 183, 190–192, 194, 195, 197, 199–203, 207 Bayern, Max(imilian) Herzog in 332, 339, 341, 342, 349, 350, 383 Bayern, Rupprecht von, Kronprinz 230, 362 Bayern, Sophie Prinzessin von und Herzogin in (später Herzogin von Alençon-Orleans) 299, 301, 304, 310, 329, 353–355, 363, 365–369, 377, 381, 382–385, 387, 391, 393 Bayern, Sophie Prinzessin von 285 Bebel, August 164 Beck, Hans 5 Beck, Ludwig 256–259 Becker, Johann Nikolaus 47, 49 Beckermann, Ruth 294 Beisler, Hermann Ritter von 172, 187, 196, 201 Belgien, Stephanie von (später Kronprinzessin von Österreich-Ungarn) 311, 317 Benedikt, Heinrich 333 Bentheim-Tecklenburg-Rheda, Adolf Fürst zu 273 Bentzien, Hans 242 Beoneforte, Prinzessin 114 Berger, Helmut 339, 359, 364, 394 Berks, Franz von 171 Bernardis, Robert 250 Berry, Carolin von 159 Bettinger, Franziskus von 228 Beyer, Marcel 250

Namensregister 

Bhabha, Homi 75 Biro, Ludwig 306 Bismarck, Otto von (ab 1865 Graf, ab 1871 Fürst) 85, 149, 152, 164, 221, 336, 363, 369–372, 388, 389, 393 Blaschke, Olaf 3 Blumenberg, Hans 6, 348, 358 Blumenthal, Albrecht von 246 Boeselager, Georg Freiherr von 233 Boeselager, Philipp Freiherr von 233 Bogen und Schönstedt, Walter von 266 Böhm, Karlheinz 333, 339 Böll, Christoph 294 Bourbon, Charles Ferdinand de 159 Bourdieu, Pierre 6, 8, 9, 76, 78, 136, 235 Brägelmann, Bernhard 218 Brandenburg, Friedrich Wilhelm Graf von 202 Braunfels, Fürstin von 43 Bray, François Gabriel Graf von 188, 190 Bray-Steinburg, Otto Kamillus Hugo Gabriel Graf von 9, 171–175, 183, 184, 188–192, 197, 198, 200–207 Brentano, Heinrich von 284 Britzen, Angela von 278 Brusatti, Otto 297 Büchner, Fritz 227 Bülow, Carl Adolf Hans Graf von 202 Bülow-Schwante, Vicco von 285 Bürgel jun., von 53,54, 57 Buff, Charlotte 54, 57 Buß, Franz Joseph Ritter von 143, 144 Caracalla 22 Cetto, August Freiherr von 204 Cicero, M. Tullius 24, 26 Chamberlain, Houston Stewart 165 Charpentier, Johann Friedrich Wilhelm von 115 Clausbruch, Fräulein von 43, 45 Clausbruch, Arnold Heinrich Cramer von 44 Closen, Karl Friedrich Heinrich Freiherr von 199, 201 Conze, Eckart 3, 6, 10, 153, 235, 265, 279, 286 Cossmann, Paul Nikolaus 226, 227 Coudenhove-Kalergi, Richard Graf 246 Crassus, M. Licinius 19 Cressenstein, Baron Creß von 43 Dachroeden, Karoline Friederice von 66, 68, 71, 72, 74

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Decsey, Ernst 336 Degenfeld-Schomberg, Ferdinand Christoph Graf von 202 Delp, Alfred 237, 260 Denzler, Alexander 7 Dewitz, Jutta von 268 Dewitz in Roggenhagen, Friederike von 268 Diemel, Christa 153, 154, 163, 167 Dieterle, Charlotte 306 Dieterle, Wilhelm 306, 308, 309, 358 Dittmer, Friederike Amalie 185 Dittmer, Georg Friedrich 185 Droste-Hülshoff, Annette von 215 Droste zu Vischering, Familie 114 Droste zu Vischering, Clemens August Graf von 225 Droste zu Vischering, Klemens Heidenreich Graf 148 Dücker, Theodor Freiherr von 95 Dürckheim, Fräulein von 43 Eberlein, Tina 8 Ehrle, Franz 229 Elias, Norbert 39, 154 England, Victoria I. von 339 Essing, D. Domino 85, 94 Fahrner, Rudolf 236, 237, 239–241, 251, 252, 255 Falk, Max 305, 306 Ferenczy, Ida Gräfin 347, 353, 374, 375, 386 Fest, Joachim 235 Föhles, Eleonore 4 Förster, Heinrich 85 Fontane, Theodor 299 Foucault, Michel 61, 62, 64, 298 Franckenstein, Georg Arbogast Freiherr von und zu 143 Fromm, Friedrich 236, 240, 256, 258 Frosch, Christian 294 Fürstenberg, Familie 90, 91, 107 Fürstenberg, Franz Freiherr von 114 Fürstenberg, Max Egon II. Fürst zu 233 Funck, Marcus 111, 133-135, 152 Gablentz, Otto Heinrich von der 273 Gagern, Heinrich Wilhelm August von 198, 203 Gagern, Maximilian Joseph Ludwig von 197 Galen, Clemens Augustinus Graf von 9, 209–212, 215–223, 225, 226, 228, 23–233

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 Namensregister

Galen, Elisabeth Gräfin von 209, 212, 214 Galen, Ferdinand Graf von 209, 210, 212, 215, 220, 221 Galen, Franz Graf von 217, 218, 231, 232, 233 Galen, Hermann Graf von 209, 212 Galen, Paula Gräfin von 216 Galen, Rotger Graf von 209 Gallitzin, Amalie von 114 Gebler, Frau von 43, 44, 46 Gebler, von 46 Gemmingen auf Guttenberg, Philipp Freiherr von 43, 45, 46 Gemmingen-Guttenberg-Bonfeld, Henriette Friederike Sophie Freiherrin von 54 Gentz, Friedrich von 66 George, Stefan 241, 244–250, 252, 260, 261, 300 Gerlich, Fritz 209, 227, 229, 230, 233 Gerstner, Alexandra 246, 247 Gise, Friedrich August Theodor Freiherr von 188 Goebbels, Joseph 311, 360 Goerdeler, Carl Friedrich 241, 253, 257 Goethe, Johann Wolfgang von 45, 46, 51, 55, 114, 116, 165, 280, 346, 360 Goethe, Maximilian Wolfgang von 114 Goethe, Ottilie von 114 Grün, Fräulein Charlotte von 43, 46 Guderian, Heinz 258 Habermann, Fräulein von 43 Habermas, Jürgen 61 Habsburg, Otto von 277 Hackl, Annemarie 10 Haeften, Werner von 240, 241, 259, 260 Hähnle, Andrea 295 Haldane, Lord Richard Burdon 165 Hamann, Brigitte 293, 297, 304–306, 308, 309, 312–314, 320, 321, 324, 325, 331, 332 Hardenberg, Karl August Fürst von 66 Hardenberg, Carl-Hans Graf von 259 Hardenberg, Laura Gräfin von 85 Harling, Otto von 278 Hartmann, Andreas 5 Heigelin, Konsul 114 Heine, Heinrich 275 Heinemann, Paul 291 Heintz, Karl Friedrich 172, 188, 201 Henckel von Donnersmarck, Carl Joseph Graf 81

Henckel von Donnersmarck, Hugo Graf 8, 78, 80, 83–85, 89–94, 97–107 Henckel von Donnersmarck, Hugo 102 Henckel von Donnersmarck, Edgar Graf 104 Henckel von Donnersmarck, Guido Graf 8, 79, 81, 83, 84–87, 90–93, 95, 98, 100–105, 107 Henckel von Donnersmarck, Karl Lazarus Graf 80 Henckel von Donnersmarck, Lazarus III. Graf 80 Henckel von Donnersmarck, Lazarus IV. Graf 102 Henckel von Donnersmarck, Arthur Graf 102 Herbig, Michael 294 Herold, Ferdinand 91, 94, 97 Hertling, Georg Freiherr von 150f. Heuss, Theodor 284 Hiller, Kurt 246, 247 Hitler, Adolf 224, 237, 241, 244, 250, 255, 256, 259, 273, 318, 319, 324, 325, 329, 330, 332, 360 Horguelin, Marie Johanne de 114 Hofacker, Cäsar von 237, 239, 260 Hofmann, Michael 225 Hoffmann, Peter 256, 257 Hohenlohe-Öhringen, Hugo Fürst zu 86, 105 Holm, Gustav 336 Holstein, Heinrich 228 Holtz, Sabine 50 Hoth, Christiane 7 Hüttinger, Nadine 8 Humboldt, Alexander von 161 Humboldt, Wilhelm von 7, 58, 6, 63–66, 68–77 Humboldt, Johann Paul von 66 Jäger, Siegfried 61, 63 Jahns, Sigrid 48, 55 Jedeles, Helmut 293 Jerusalem, Karl Wilhelm 55 Iulia 26 Jung, Edgar 246, 247 Kästner, Erich 275 Kaffanke, Jakobus 242, 243 Kant, Immanuel 66 Kassner, Rudolf 227 Keller, Gustav Graf von 201 Keller, Gustav Ludwig Emil von 154 Keller, Johann Chrysostomus von 43–46 Keller, Mathilde Gräfin von 9, 154–156, 159–166 Kempen, Thomas von 212 Kerckerinck, Engelbert Freiherr von 232

Namensregister 

Kestner, Johann Christian 51–58 Kestner, Johann Hermann 52 Ketteler, Wilhelm Emmanuel Freiherr von 143, 144, 149, 222, 224, 225 Kielmansegg, Johann Adolf Graf von 284 Kleist, Ewald Heinrich von 240 Klindworth, Georg 202 Klopstock, Friedrich Gottlieb von 115 Knappitsch, Evelyn 296 Knuth, Gustav 339 Kocka, Jürgen 334 Koerner, Bernhard 246 Koller, Vanessa Rafaela 10 Kommerell, Max 245, 246 Korff genannt Schmising-Kerssenbrock, Familie 115 Koselleck, Reinhart 59 Kramarz, Joachim 256, 258, 259 Kritzinger, Hans Hermann 227 Kubrova, Monika 112, 153 Kuhlemann, Franz Michael 61 Kunze, Michael 292, 293 Kupfer, Harry 292, 293 Kraus-Kautzky, Peter 297 Kreppel, Antonia 293 Lagrange, Joseph Louis 115 Landsberg-Velen und Gemen, Ignaz Graf von 8, 78, 80–84, 89–91, 93, 94, 96, 99, 101, 102, 104–106 Landsberg-Velen und Gemen, Friedrich Graf von 103 Landsberg-Velen und Gemen, Johann Ignaz Graf von 143 Landsberg-Velen und Gemen, Paul Joseph Freiherr von 80–82 Lang, Julia 11 Laslowski, Ernst 79, 102 L’ Eau, Theodor Karl von 43, 44 L’ Eau, Frau von 43, 45 Leber, Julius 240, 253, 258, 260 Lechner, Günter 293 Lehrbach, Philipp Eugen Erwein Graf von 197 Leiningen, Karl Friedrich Wilhelm Emich Fürst zu 171 Leithold, Bertha von 113 Leo XIII., Papst 212 Leonrod, Ludwig Freiherr von 240 Lerchenfeld, Gustav Freiherr von 172, 195, 200

 399

Lest, Hilde R. 322, 324, 325, 330 Leuchtenberg, Herzogin 157 Levay, Sylvester 292, 293 Liebknecht, Karl 164 Löwenstein-Wertheim-Rosenberg, Alois Fürst von 231, 233 Löwenstein-Wertheim-Freudenberg, Hubertus Friedrich Prinz zu 276 Löwenstein-Wertheim-Rosenberg, Karl Heinrich Fürst zu 137 Loyola, Ignatius von 232 Lübke, Heinrich 284 Lüninck, Ferdinand Freiherr von 232 Lüninck, Hermann Freiherr von 232 Lugmayr, Saskia 296, 337 Maikler, Carolin 291, 297 Mallinckrodt, Hans Georg von 232, 233 Mallinckrodt, Hermann von 148–151 Mann, Klaus 340 Marischka, Ernst 295, 296, 315, 333, 336, 338, 339, 348–353, 356, 364, 393 Marischka, Hubert 336 Massenbach, Eveline Baronin von 9, 154–158, 160–166 Massenbach, Hermann Freiherr von 154 Mauchard, Friedrich 51 Maurer, Georg Ludwig Konrad von 181, 188 Maurer, Michael 50 Max, Herzogin 157 Mayer, Ulrich 63 Meding, Oskar (Pseudonym: Samarow, Gregor) 299 Mehnert, Frank 241 Merkatz, Hans-Joachim von 281, 284 Mertz von Quirnheim, Albrecht Ritter 237, 240, 259, 260 Merveldt, Familie 115 Metternich, Klemens Wenzel Nepomuk Lothar Fürst von 7, 60, 63–75, 77 Metternich-Winneburg, Franz Georg Karl Graf von 64 Metternich, Joseph Graf von 65 Metz, Markus 297 Metzger, Janett 11 Michels, Robert 29 Middleton, Bay 321 Molo, Trude von 306 Moltke, Helmuth James Graf von 257, 258

400 

 Namensregister

Mommsen, Theodor 12, 28 Montgelas, Maximilian Carl Joseph Graf von 176, 178 Montez, Lola (eigentlich: Gilbert, Elisabeth Rosanna) 171, 181, 182, 191 Montpellier, Familie 114 Müller, Jean 293 Münster, Herr von 43, 44 Muth, Doris 235, 242 Naab, Ingbert 230 Napoleon Bonaparte (Napoleon I.) 58, 65 Nagel, Familie 115 Nahowski, Anna 320 Neapel-Sizilien, Franz I. von 159 Neipperg, Adalbert Graf von 233 Neipperg, Anton Ernst Graf von 233 Neipperg, Attila Graf von 231 Nelsen Raffé, Carla (eigentlich Bäumler, Karolina Henriette) 300, 301 Nero 27 Nesselrode, Karl Robert von 70 Neumann, Therese 214, 229, 230 Noeggerath, Felix 227 Nostiz-Rieneck, Robert Graf von 229 Obmaier, Walter 296 Oertzen, Hans-Ulrich von 241 Österreich, Franz I. von 66 Österreich, Franz II. von 65 Österreich, Johann Erzherzog von 198, 199 Österreich-Ungarn, Elisabeth Amalie Eugenie von 10, 291–315, 319–332, 334, 336–356 Österreich-Ungarn, Franz Joseph I. von 163, 202, 310–314, 316–320, 322, 325, 331, 339, 342–345, 348, 350–354, 372 Österreich, Gisela Louise Marie Erzherzogin von, Prinzessin von Bayern 316, 317, 321, 351, 352 Österreich, Marie-Louise von, Ehefrau von Napoleon I. 65 Österreich, Marie Valerie Erzherzogin von 309, 318, 328–330, 351, 353 Österreich-Ungarn, Rudolf von 300, 313, 314, 321, 328, 330, 351 Österreich, Sophie Frederike Dorothea Erzherzogin von (geborene Prinzessin von Bayern) 310–313, 315, 320, 321, 327, 328, 332, 334, 342–345, 349, 350, 352

Österreich-Este, Franz Ferdinand Erzherzog von 114 Oettingen-Wallerstein, Eugen Fürst zu 226, 230, 282 Oettingen-Wallerstein, Ludwig Kraft Ernst Fürst von 171, 172, 177, 182 Olbricht, Friedrich 237, 240, 259 Oppenfeld, Carl-Daniel 97 Oppenfeld, Georg-Moritz 97 Oven, Margarethe von 243, 249 Pacelli, Eugenius (Papst Pius XII.) 228 Païva, Marquise de 85 Palmerston, Henry John Temple 204 Papen, Franz von 232 Pawlowna Bagration, Katharina Fürstin 73 Peucker, Eduard von 199 Pfordten, Ludwig Karl Heinrich von der 188, 205 Pieler, Franz von 93, 96, 99 Pietzner, Carl 323, 325 Pius X., Papst 220 Plinius d. J. 26 Plön, Herzog von 114 Pompeius, Cn. 24, 26 Portmann, Heinrich 212 Preußen, König Friedrich Wilhelm I. von 65 Preußen, König Friedrich Wilhelm III. von 65 Preußen, Friedrich Wilhelm IV. von 202 Preußen, Louise Prinzessin von 121 Preußen, Wilhelm von, Kronprinz 159 Preysing-Lichtenegg-Moos, Kaspar Graf von 209, 213, 215, 216, 221 Preysing-Lichtenegg-Moos, Hedwig von 209, 211, 213, 215 Preysing-Lichtenegg-Moos, Johann Konrad von 9, 209–211, 213, 215–221, 224, 226, 228–231 Prisingan, Gerunch de 209 Przywara, Erich 229 Raab, Nico 9 Raasch, Markus 8, 11 Raffé, Rolf 299, 300, 305, 334 Rathenau, Walter 246 Redern, Sophia von 112 Redern, Sigismund Ehrenreich von 114 Redtwitz, Herr von 43, 44 Redwitz, Alfons Freiherr von 231

Namensregister 

Redwitz, Marie Freiin von 9, 154–156, 158, 160, 162, 164–167 Redwitz, Oskar Maximilian Heinrich Freiherr von 154, 165 Rehberg, August Wilhelm 35 Reichensperger, August 115 Reif, Heinz 1, 6, 7 Reindl, Alwin 242, 248 Riefenstahl, Leni 330 Rilke, Rainer Maria 227, 228 Robiano, Familie 114 Röntgen, Wilhelm Conrad 163 Rohlfes, Joachim 63 Romanov, Alexander I. Pawlowitsch, Zar 64 Romanova, Wera Konstantinowna 156 Rüdt von Collenberg, Kurt Freiherr 269, 274 Rüsen, Jörn 3, 6, 10, 60, 63, 64 Rustimo, Rudolph, 308 Sachsen-Coburg und Gotha, Ernst I. von 299 Sagan, Wilhelmine Herzogin von 73 Sales, Franz von 122 Salewski, Michael 333 Sauerbruch, Peter 240 Saurma-Jeltsch, Maria Anna Gräfin von 84 Savigny, Elisabeth von 129 Savigny, Karl Friedrich von 113, 114, 116, 121, 122, 123, 129 Savigny, Karl von 129 Savigny, Marie-Freda von 129 Savigny, Marie von (geb. Arnim-Boitzenburg) 8, 112–114, 116, 120–122, 129 Schlabrendorff, Fabian von 257 Schlegel, Friedrich 87, 87 Schleicher, Peter 293 Schmerling, Anton Ritter von 203 Schmid, Susanne Barbara 10 Schneider, Magda 333, 339 Schneider, Romy 10, 295, 333, 336, 337, 339, 362, 364 Schöner, Alexander 64 Schramm, Percy Ernst 258 Schratt, Katharina 322, 325 Schraut, Sylvia 296 Schröcker, Alfred 53 Schröffer, Josef 277 Schubert, Franz 215 Schulenburg, Fritz-Dietlof Graf von der 240, 257 Schuler, Alfons 299

 401

Schumann, Robert 215, 345, 347, 363 Schwarz, Christiane 9 Schwarzenberg, Felix Prinz von 202, 203 Schwerin, Gerhard Graf von 284 Schwerin von Schwanenfeld, Ulrich Graf 239 Seckendorff, Christoph Albrecht Freiherr von 185 Seeßlen, Georg 297 Soden-Fraunhofen, Joseph Maria Graf von 230 Soden-Fraunhofen, Maximilian Freiherr von 10, 145 Solms-Braunfels, Sophia Christine Wilhelm Fürstin von 43, 44 Solms-Laubach, Friedrich Ernst Graf von 44 Spanien, Alfons XIII. von 163 Spaur, Pflaum und Valör, Franz Joseph Graf von 43, 44, 45 Spee, Familie 115 Spiegel, Benedicta von 230 Spies, Laura 11 Spitzemberg, Carl Baron von 161 Spitzemberg, Hildegard Baronin von 155, 161 Stadion, Johann Philipp Graf von 65 Stauffenberg, Alexander Schenk Graf von 239, 242, 246 Stauffenberg, Alfred Schenk Graf von 236, 239, 248, 260 Stauffenberg, Barbara Schenk von 236 Stauffenberg, Berthold Schenk Graf von 236, 237, 239, 241, 242, 244, 246, 251, 252, 260 Stauffenberg, Caroline Gräfin von (geb. Gräfin von Üxküll-Gyllenband) 239, 248, 260 Stauffenberg, Claus Schenk Graf von 9, 235–261 Stauffenberg, Franz Ludwig Philipp Schenk Freiherr/Graf von 238 Stauffenberg, Maria von 249 Stauffenberg, Nina Schenk Gräfin von (geb. Freiin von Lerchenfeld) 237, 239, 243, 245 Stobernack, Ricarda 8 Stockhammer, Franz Baron von 43 Stolberg-Stolberg, Agnes Gräfin zu 130 Stolberg-Stolberg, Andreas Otto Henning Graf zu 130 Stolberg-Stolberg, Ernst Christian Graf zu 130 Stolberg-Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 112–115, 120, 130–132 Stolberg-Stolberg, Henriette Louise Gräfin zu 130 Stolberg-Stolberg, Johannes Petrus Cajus Graf zu 131

402 

 Namensregister

Stolberg-Stolberg, Julia Gräfin zu 131, 133 Stolberg-Stolberg, Marie Agnes Caroline Gräfin zu 130 Stolberg-Stolberg, Sophia Gräfin zu 8, 112–114, 120, 122, 130–132 Storch, Ursula 297 Strauss, Johann 352 Studnitz, Hans-Georg von 269, 278 Syme, Ronald 29 Sztáray, Irma 332 Talbot 94 Tanne, Ebirhardus de 209 Thadden-Trieglaff, Reinhold von 270 Thalfingen, Albrecht Besserer von 188 Thielitz, Sabine 9 Thiersch, Urban 241, 258 Thon-Dittmer, Gottlieb Freiherr von 9, 171–175, 182, 183–189, 191–200, 206, 207 Thon-Dittmer, Karl Christian Freiherr von 185 Thormaelen, Ludwig 248 Thurn und Taxis, Familie 269 Thurn und Taxis, Marie Fürstin von 227 Thurn und Taxis, Carl Anselm Fürst von 186 Tourjansky, Viktor von 333 Trebsdorf, Marie (Pseudonym: Blank-Eismann, Marie) 315, 318–321, 333, 334 Tresckow, Henning von 241, 243, 249, 250, 255, 257, 260 Trott zu Solz, Adam von 240, 258 Trotz, Adolf 310–314 Üxküll-Gyllenband, Nikolaus Graf von 237, 239, 241, 258, 260 Uhland, Robert 154 Vaerting, Mathilde 312 Varro, M. Terrentius 24 Verdi, Guiseppe 353 Verger, Ferdinand Johann Baptist Freiherr von 197 Vetsera, Marie von 300, 313 Visconti, Luchino 297, 337–340, 347, 353–356, 358–361, 363–366, 373, 378, 386, 390–394 Vogel, Juliane 297

Wagner, Richard 354, 362, 363, 365, 368, 370, 371, 373–376, 378, 382–384, 386, 389, 390, 394 Waldburg-Zeil und Trauchburg, Familie 210 Waldburg-Zeil und Trauchburg, Alois Graf von 271 Waldburg-Zeil und Trauchburg, Constantin Graf von 105, 214, 222 Waldburg-Zeil und Trauchburg, Maria Erich Reichserbtruchsess Fürst von 9, 209, 214, 215, 218, 222–224, 227, 228, 230, 232, 233, 271, 277 Waldburg-Zeil und Trauchburg, Georg Fürst von 222 Waldburg-Zeil und Trauchburg, Wilhelm Fürst von 214 Waldkirch, Klemens August Graf von 172, 197 Wallersee, Marie Louise Elisabeth von (geborene Mendel, Marie Louise; verheiratete von Larisch-Moennich; in zweiter Ehe Brucks, Marie) 300, 321 Wedding 95 Weigand, Katharina 296, 337 Weishaupt, Karl 172 Wendel, Joseph 285 Westerholt und Gysenberg, Louise (Ludowika) Reichsgräfin von 84, 143 Westerstetten, Georg Dietrich von 236 Wienfort, Monika 13 Wilhelm II., Kaiser 85, 159, 162 Windthorst, Ludwig 149–151 Wirsching, Andreas 334 Wittgenstein, Ludwig 61, 62 Wrede, Carl Philipp Fürst von 67, 73–75 Wrede, Martin 52 Württemberg, Karl I. von 157 Württemberg, Olga (Nikolajewna Romanowa) von 154, 155, 159 Württemberg, Wilhelm I., von 154, 158, 164 Wutz, Franz Xaver 229 Yorck von der Wartenburg, Peter Graf 239, 240, 258, 260 Zech, Gräfin von 43, 44, 46 Zech, von 46 Zeller, Eberhard 252 Zu Rhein, Friedrich Carl Freiherr von 181

Die Autoren Alexander Denzler, Dr. des. Studium der Geschichtswissenschaft und Medienpädagogik auf Magister an der Universität Augsburg. Wissenschaftlicher Mitarbeiter und seit Sept. 2013 Akademischer Rat a.Z. an der Professur für Vergleichende Landesgeschichte und Geschichte der Frühen Neuzeit der Katholischen Universität EichstättIngolstadt Wohnhaft in Augsburg Tina Eberlein, B.A. Studium an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt auf Lehramt Grundschule mit Hauptfach Geschichte und den Didaktikfächern Deutsch, Mathematik und Sport Wohnhaft in Rothenburg o.d.T. Annemarie Hackl, B.A. Studium der Geschichtswissenschaft, Anglistik/Amerikanistik und Katholischen Religion auf Lehramt für Realschulen sowie Studium des lehramtsgeeigneten Zwei-FächerBachelors Realschule/Gymnasium in Anglistik/ Amerikanistik und Geschichtswissenschaft (Lehramt-plus) und Masterstudiengang Content and Language Integrated Learning an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Wohnhaft in Ansbach Andreas Hartmann, Dr. Studium der Geschichtswissenschaft, Klassische Philologie (Latein), Germanistik und Kunstgeschichte auf Magister an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und der Universität zu Köln. Von 2002–2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl an Alte Geschichte der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Auszeichnung der Dissertation „Zwischen Relikt und Reliquie. Objektbezogene Erinnerungspraxen in antiken Gesellschaften“ mit dem Bruno Snell-Preis der Mommsen-Gesellschaft. Seit März 2011 Akademischer Rat am Lehrstuhl für Alte Geschichte der Universität Augsburg Wohnhaft in Eichstätt

Christiane Hoth, B.A. Studium der Geschichtswissenschaft, Germanistik und Hispanistik auf Lehramt Gymnasium an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und der Universidad de Salamanca. Hilfskraft an der Professur für Geschichte Lateinamerikas an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Wohnhaft in Eichstätt Nadine Hüttinger, B.A. Studium: Bildung und Erziehung im Grundschulalter mit Unterrichtsfach Geschichte an der Katholischen Universität EichstättIngolstadt Wohnhaft in Treuchtlingen Barbara Jahn, Dipl.-Journ., M.A. Studium der Journalistik auf Diplom an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Studium der Neueren und Neuesten Geschichte auf Magister an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und der Université Catholique de Lille Wohnhaft in München Vanessa Rafaela Koller, B.A. Studium des Lehramts an Grundschulen mit dem Unterrichtsfach Geschichte (Didaktikfächer: Deutsch, Mathematik, Kunst) an der Katholischen Universität EichstättIngolstadt Wohnhaft in Ellingen Julia Lang, B.A. Studium der Geschichtswissenschaft und Germanistik auf Lehramt für Gymnasien an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Wohnhaft in Mühlhausen/Oberpfalz Janett Metzger, B.A. Studium der Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften mit den Schwerpunkten Englisch und Französisch an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Wohnhaft in Potsdam Nico Raab Studium der Geschichtswissenschaft, Klassischen Philologie und der Politikwis-

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 Die Autoren

senschaft auf Lehramt an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Wohnhaft in Oettingen i. Bay. Markus Raasch, PD Dr. Studium der Geschichtswissenschaften, Germanistik und Erziehungswissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Wissenschaftlicher Oberassistent am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Seit Oktober 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Zeitgeschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Wohnhaft in Mainz Susanne Barbara Schmid, B.A. Studium der Geschichtswissenschaft und Germanistik auf Lehramt Realschule an der Universität Regensburg sowie Studium des lehramtsgeeigneten Zwei-Fächer-Bachelors Realschule/Gymnasium in Germanistik und Geschichtswissenschaft (Lehramt Plus) an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Masterstudium der Geschichtswissenschaft an der Universität Regensburg Wohnhaft in Saal a.d. Donau

Christiane Schwarz, B.A. Studium der Geschichtswissenschaft und Grundschulpädagogik und –didaktik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Wohnhaft in Zolling Laura-Marie Spies, B.A. Studium der Geschichtswissenschaft und Germanistik auf Lehramt an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Hilfskraft am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Wohnhaft in Eichstätt Ricarda Stobernack, B.A. Studium: Bildung und Erziehung im Grundschulalter mit Unterrichtsfach Geschichte an der Katholischen Universität EichstättIngolstadt Wohnhaft in Ansbach Sabine Thielitz Studium der Geschichtswissenschaft, Germanistik und Sozialkunde auf Gymnasium an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Edition der Akten der Provisorischen Zentralgewalt der Revolution 1848/49“. Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Wohnhaft in Reichertshausen