Neue Phänomenologie im Widerstreit: Kritische Perspektiven auf Ertrag und Potential 3495994521, 9783495994528

Nach dem Tod von Hermann Schmitz möchte das Buch – auch über den engeren philosophischen Kontext hinaus – eine kritische

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Neue Phänomenologie im Widerstreit: Kritische Perspektiven auf Ertrag und Potential
 3495994521, 9783495994528

Table of contents :
Cover
Vorwort
I.
II.
III.
I. Biographisches
Lebenslauf
Mein wissenschaftlicher Werdegang
Erinnerung an Hermann Schmitz
Philosophieren in Briefen
1. Einführung
2. Formales
3. Die Situation der Schreibenden
4. Die unterschiedlichen Rollen im Briefwechsel
5. Begriff und Methode der Phänomenologie
6. Intersubjektivität
7. Stellungnahmen zum Zeitgeschehen
8. Phänomenologische Kernthemen
9. Diskussionen zu Klassikern
10. Dissense und Asymmetrien
11. Schluss
II. Methodisches
Über das Verhältnis des Phänomenologen zu seiner Theorie
1. Was ist ein Prinzip der Philosophie?
2. Phänomen, Methode und Geltung
3. Neue Phänomenologie als Hermeneutik
4. Intersubjektivität und Praxis in der Neuen Phänomenologie
Philosophie als »vage Wissenschaft«
1. Vom Traum der »strengen Wissenschaft« zum Trauma ihrer Verfehlung
2. Neue Phänomenologie auf dem Weg zu einem anderen Philosophieverständnis
3. Unscharfe Phänomene als Gegenstand der Neuen Phänomenologie
4. Philosophie als Wissenschaft vom Vagen
III. Kritisches
Durst
Phänomenologie und Naturphilosophie eines elementaren Verlangens
1. Die ökologische Natur
2. Der Leib und die ökologische Natur
3. Durst im Alltag
4. Der Durst in der Phänomenologie
5. Grundzüge einer Phänomenologie des Durstes
5.1 Durst ist Verlangen nach Wasser
5.2 Der Durst weiß etwas, der Durst ist wählerisch
5.3 Der Durst ist ein Sich-selbst-Erkennen
Die Weltlichkeit leiblicher Widerfahrnisse
1. Das eigenleibliche Spüren in der Neuen Phänomenologie
2. »Einleibung« oder »Einweltung«
3. Eine Phänomenologie der pathischen Wahrnehmung
Braucht der Leib einen Körper?
1. Einleitung
2. Leib und Körper bei Schmitz
3. Das psychophysische Problem
4. Braucht der Leib einen Körper?
4.1 Die physische Basis der leiblichen Ökonomie
4.2 Syntopie von Leib und Körper
4.3 Der Doppelaspekt von Leib und Körper
4.4 Das psychophysische Problem
5. Resümee
Hermann Schmitz und die Psychologie
1. Einleitung
2. Philosophische Psychologie
3. Deskriptive Psychologie
4. Tiefenpsychologie
5. Experimentalpsychologie
6. Psychopathologie
7. Phänomenologische Psychologie
8. Schluss: Schmitz als Erlebnispsychologe?
Das chaotische Mannigfaltige als Herausforderung für die Logik
1. Einleitung
2. Das chaotische Mannigfaltige bei Hermann Schmitz
3. Die prädikatenlogische Standardsprache PL
4. Mereologie
5. Plurallogik
6. Theorie der Quasimengen
7. Schmitz’ Postulate für eine Logik des chaotischen Mannigfaltigen
8. Fazit
Anhang: Zwei Anmerkungen
Begegnung im Unendlichen?
I. Einleitung zu einer Begegnung
II. Kritische Durchsicht
III. Parallelen
IV. Fortsetzendes
Erfahrung des Atmosphärischen im geschützten Raum
1. Eine (pathische) Ästhesiologie nach der Ästhetik?
2. Spielerische Identifikation, Kompensation und rahmendes Sehen
3. Ästhetische Andacht: die Gefahr des ästhetischen Genusses und die Unzulänglichkeit der Schönheit
4. Atmosphären: Distanz in der Ergriffenheit
5. Kultur (oder Manipulation?) der Gefühle
6. Eine leibliche Ekphrasis
7. Gibt es einen Michael Kohlhaas der Ästhetik?
8. To be continued
Leiberfahrung und eine Theorie des Sozio-Somatischen
1. Körperlichkeit und Leiberfahrung als Grundlagen menschlicher Sozialität
2. Elemente einer Theorie des Sozio-Somatischen
3. Kritische Möglichkeiten einer Theorie des Sozio-Somatischen
Gesellschaft als Atmosphäre
1. Schmitz’ Verständnis von Gesellschaft
2. Gesellschaft als Situation und Atmosphäre
3. Der Klimawandel: Gesellschaft als spürbare Atmosphäre
4. Fazit
Warum die Zukunft der Neuen Phänomenologie grün ist
1. Einleitung
2. Die Rolle von Atmosphären in der Naturästhethik: Ein Forschungsüberblick
3. Zentrale Erkenntnisse und offene Fragen
Neue Phänomenologie als Chiffre für die Gestaltung der pädagogischen Beziehung
Einleitung
1. Erste Interaktionen des Kindes – leibliche Kommunikation
2. Interaktion in pädagogischen Institutionen – Der pädagogische Takt
3. Persönliche und gemeinsame Situationen gestalten
4. Persönlichkeit unterstützen: Persönliche Eigenwelt – persönliche Fremdwelt
5. Fazit
Gemischte Gefühle in neophänomenologischer Sicht
1. Was sind »gemischte Gefühle«?
2. Die These von der Räumlichkeit der Atmosphären
3. Gefühle als Halbdinge und leiblich-affektive Betroffenheit
4. Gemischte Gefühle in neophänomenologischer Sicht. Kippphänomene und Verlegenheit
»Vitaler Stolz« statt Nihilismus?
1. Eine Diagnose: Der Nihilismus und die Flucht in die Zukunft
2. Zwei Gegenmittel: Das Einleben in die Gegenwart und der vitale Stolz
3. Eine bleibende Leerstelle: Formen des Lebens und Gestaltens
Übergänge
1. Annäherungen an Übergänge
2. Erfahrungsbereiche von Übergängen
3. Übergänge in der Neuen Phänomenologie
4. Übergänge im engeren Sinn
V. Fortsetzendes
Die Neue Phänomenologie in der Behandlung psychiatrisch kranker Menschen
1. Einführung – eine persönliche Annäherung an das Thema
2. Ein Fallbeispiel aus der praktischen Arbeit
3. Die Theorie zum praktischen Beispiel
3.1 Die Gefühle und Atmosphären
3.2 Die Sprache
3.3 Die Aufhebung des Innenwelt-Paradigmas
3.4 Das affektive Betroffensein
3.5 Die prospektive partielle Situation
3.6 Die Fassungen
4. Fazit
Systemische Phänomenologie
1. Einführung
2. Ist Aufstellungsarbeit phänomenologisch?
3. Systemaufstellung als unwillkürliches Phänomen
4. Die unwillkürliche Räumlichkeit der Gefühle
5. Aufstellung als spielerische Identifizierung
6. Das Fühlen fremder Gefühle?
7. Repräsentierende Wahrnehmungen?
8. Aufstellung als Resonanz- und Verschränkungsphänomen
9. Aufstellung zwischen sprachlichem Abbild und leiblicher Antwort
10. Leibliche und hermeneutische Kompetenz
11. Resümee. Auf dem Weg zu einer systemischen Phänomenologie
Bibliographie Hermann Schmitz
I. Bücher
II. Aufsätze
III. Rezensionen
Autoreninformationen
Sachregister
Namensregister

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Neue Phänomenologie

Steffen Kluck | Jonas Puchta [Hrsg.]

Neue Phänomenologie im Widerstreit Kritische Perspektiven auf Ertrag und Potential

| 38

Neue Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie Wissenschaftlicher Beirat Prof. Dr. phil. Michael Großheim Prof. Dr. phil. Hilge Landweer Prof. Dr. rer. nat. Jürgen Hasse Prof. Dr. phil. Barbara Wolf Prof. Dr. disc. pol. Charlotte Uzarewicz Prof. Dr. phil. Robert Gugutzer Prof. Dr. phil. Jens Soentgen Band 38

Steffen Kluck | Jonas Puchta [Hrsg.]

Neue Phänomenologie im Widerstreit Kritische Perspektiven auf Ertrag und Potential

Mit freundlicher Unterstützung der

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99452-8 (Print) ISBN 978-3-495-99453-5 (ePDF)

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1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de

in memoriam Hermann Schmitz 1928 – 2021 und Gernot Böhme 1937 – 2022

Steffen Kluck, Jonas Puchta

Vorwort

I. Es muss einen Autor, so meinte Friedrich Nietzsche, immer von Neuem überraschen, wie sich seine Werke von ihm lösen und ein eigenes Leben weiterführen. Ein Buch sucht sich »seine Leser, ent­ zündet Leben, beglückt, erschreckt, erzeugt neue Werke, wird die Seele von Vorsätzen und Handlungen – kurz: es lebt wie ein mit Geist und Seele ausgestattetes Wesen und ist doch kein Mensch.«1 Dieses Eigenleben führt das Buch aber nur bedingt. Wenn der Autor noch lebt, steht er insofern im Hintergrund seines Schaffens, als dass er zumindest theoretisch angesichts der Fragen »Wie meinst du das?« oder »Woher weißt du das?« Rechenschaft ablegen kann.2 Diese Mög­ lichkeit, sich und sein Werk durch Definition und Begründung zu erklären, kommt mit der Zäsur des Todes erst wirklich zu einem unhintergehbaren Ende. Dann stehen die Bücher eines Autors tat­ sächlich »für sich« und müssen sich gegenüber zukünftiger Kritik behaupten. Dadurch geraten die bereits vertrauten, aber auch die potentiellen neuen Leser in eine besondere Position der Verantwor­ tung. Sie dürfen den Autor daran messen, was er zu Papier gebracht hat, aber sie müssen es mit Besonnenheit tun, denn der Verstorbene kann auf Würdigung und Einwände nicht länger reagieren. Eine solche Auseinandersetzung darf ehrlich und schonungslos sein, aber sie muss gleichermaßen redlich geschehen, indem sie sich die Zeit nimmt, das hinterlassene Opus immer wieder zu durchleuchten und es auf die Berechtigung seines erhobenen Anspruches zu prüfen. Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches (=Kritische Studienausgabe. Bd. 2, hrsg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1999), S. 171. 2 Diese Fragen sind laut Hermann Schmitz insbesondere für eine philosophische Besinnung zentral (vgl. dazu Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phä­ nomenologie, Freiburg/München 2009, S. 10). 1

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Steffen Kluck, Jonas Puchta

Mit dem Tod des am 5. Mai 2021 in Kiel verstorbenen Hermann Schmitz steht die Nachwelt noch am Anfang dieser Aufgabe. Dank eines langen Lebens konnte Schmitz in über 50 Büchern, beinahe 170 Aufsätzen und zahlreichen Rezensionen sein philosophisches Denken entfalten, weiterentwickeln und verteidigen – eine Möglichkeit, deren Verwirklichung besonders in diesem Ausmaß nicht selbstverständlich ist. Schmitz’ Neue Phänomenologie ist nicht nur eine Herausforde­ rung, weil sie im Rahmen der monumentalen, altertümlich anmu­ tenden Form des Systems entwickelte wurde, sondern auch deshalb, weil sie auf Grundlage dieses Begriffsgebäudes nahezu keine zentrale philosophische Frage unbehandelt lässt. So befremdlich es angesichts seines Todes klingen mag, aber Schmitz wäre vermutlich gänzlich einverstanden, dass nun sein Werk, wie eingangs herausgestellt, ganz für sich sprechen muss. Den Leitspruch Francis Bacons, »de nobis ipsis silemus«, »von uns selbst schweigen wir«, hat sich Schmitz bereits früh im Verlauf seines Schaffens zu eigen gemacht.3 Dass ein Forscher auf private Erfahrungen, Meinungen und Wünsche zu sprechen kommt, sei nicht ausgeschlossen, aber es gehöre insgesamt nicht zu seiner öffentlichen Aufgabe.4 Diese Selbstverortung aus der Feder von Schmitz mag es tröstlich erscheinen lassen, dass ein Gedenken seiner Person im großen Kreis durch die im Jahr 2021 noch vorherrschende Corona-Pandemie erschwert, wenn nicht sogar unmöglich war. Orga­ nisiert durch die Gesellschaft für Neue Phänomenologie, konnte aber im Rahmen einer Tagung vom 8. bis 10. April 2022 in Rostock ein feierliches Erinnern und insbesondere eine Würdigung seines philo­ sophischen Werkes stattfinden. Der Titel des Symposiums lautete: »Die Zukunft der Neuen Phänomenologie. Zum Werk von Hermann Schmitz«.

3 Vgl. Hermann Schmitz: »Die Unentbehrlichkeit der Einzelforschung«, in: Kieler Universitätstage: Forschung an der Universität? 8 Vorträge, Kiel 1972, S. 95–109, hier 95. Kant hat diesen Spruch, darauf verweist Schmitz ebendort, als Motto über seine Kritik der reinen Vernunft gestellt. 4 Vgl. Schmitz: »Die Unentbehrlichkeit der Einzelforschung«, S. 95. Das hat wiede­ rum nicht verhindern können, dass Schmitz’ Stil an anderer Stelle auf seine Leserschaft »auftrumpfend« gewirkt hat (vgl. Jens Soentgen: Die verdeckte Wirklichkeit. Einfüh­ rung in die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz, Bonn 1999, S. 41), aber auch das betraf immer nur sein Werk, nicht seine Persönlichkeit (vgl. dazu Steffen Kluck/ Michael Großheim: »Philosophie als umfassende Besinnung«, in: Hermann Schmitz: Sich selbst verstehen. Ein Lesebuch, hrsg. v. Michael Großheim/Steffen Kluck, Frei­ burg/München 2021, S. 11–29, hier 23).

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Vorwort

Der eigentliche, eröffnende Festvortrag dieser Tagung war Ger­ not Böhme zugedacht. Kein anderer Philosoph der Gegenwart wäre für diese Aufgabe berufener gewesen. Aber plötzlich und unerwartet ist Böhme am 20. Januar 2022 im Alter von 85 Jahren in Darmstadt gestorben. Als eine der ersten, prominentesten und nachdrücklichsten Stimmen hat er auf die Neue Phänomenologie affirmativ wie kritisch Bezug genommen. Sein vorgesehener Beitrag mit dem Titel »Mit Hermann Schmitz philosophieren« verweist auf etwas, das Böhme selbst in zahlreichen Briefen, Publikationen, auf Tagungen und bei etlichen persönlichen Treffen getan hat. Seit den 1960er Jahren herrschte zwischen den beiden Philosophen eine enge, vornehmlich sachliche Beziehung, die sich besonders im brieflichen Kontakt nie­ derschlug. Am Beginn dieses Zusammentreffens steht Böhmes Rezension des zweiten Bandes von Schmitz’ System der Philosophie5. Dass diese mit »Leibsein«6 betitelte Besprechung den Namen eines Jahrzehnte später erschienenen programmatischen Buches7 von Böhme trägt, zeugt von einem nachhaltigen Einfluss. Beiden hat viel an einem kontinuierlichen, philosophischen Diskurs gelegen.8 Der für immer ungehaltene Vortrag Böhmes bleibt als Negativum Erinne­ rungsmal für den gemeinsamen Gedankenweg beider Denker. Es ist daher nur passend, dass im vorliegenden Sammelband die philoso­ phische Konstellation von Schmitz und Böhme immer wieder en pas­ Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. II: Der Leib, Freiburg/München 2019. 6 Gernot Böhme: »Leibsein als Aufgabe. Eine Besprechung des Buches ›Der Leib‹ von Hermann Schmitz«, in: Hippokrates. Wissenschaftliche Medizin und praktische Heil­ kunde im Fortschritt der Zeit 40, 1969, S. 186–191. In einer Online-Kondolenz zitiert Böhme in Erinnerung an Schmitz aus diesem Text, vgl. »Online-Kondolenzbuch der Gesellschaft für Neue Phänomenologie e.V.«, unter: https://www.gnp-online.de/di e-gnp/hermann-schmitz-kondolenz.html (Stand: 09.08.2023). 7 Vgl. Gernot Böhme: Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hin­ sicht, Kusterdingen 2003. 8 Im Jahr 1972 hat Böhme ausführlich den Bd. III/2 des Systems rezensiert, in dem Schmitz erstmals sein Verständnis von Gefühlen als Atmosphären darlegt (vgl. Gernot Böhme: »Der Gefühlsraum«, in: Philosophische Rundschau 18, 1972, S. 36–54). Wesentlich später erscheint Böhmes zahlreich neu aufgelegtes Buch Atmosphären. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt 1995. Abseits ihres Briefwechsels macht Schmitz in einer Festschrift für Böhme auf das unterschiedliche Verständnis der beiden Philo­ sophen von Atmosphären aufmerksam (vgl. Hermann Schmitz: »Situationen und Atmosphären. Zur Ästhetik und Ontologie bei Gernot Böhme«, in: Michael Haus­ keller/Christoph Rehmann-Sutter/Gregor Schiemann (Hrsg.): Naturerkenntnis und Natursein. Für Gernot Böhme, Frankfurt 1998, S. 176–190). 5

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Steffen Kluck, Jonas Puchta

sant thematisch wird. Dass das Buch ihnen beiden in memoriam gewidmet ist, versteht sich vor diesem Hintergrund von selbst. Der vorliegende Sammelband ist als ein Ort des Austausches im Sinne dieser beiden Philosophen konzipiert. Er versammelt die in Rostock diskutierten Vorträge und möchte durch ergänzende zusätz­ liche Beiträge auch die Intention der Tagung weiterführen. Die Neue Phänomenologie soll – auch über die Philosophie hinaus – eine kri­ tische Würdigung erfahren, d.h. ebenfalls unter Berücksichtigung derjenigen Wissenschaften und Praxisfelder, die von ihren Ideen pro­ fitiert haben oder es noch könnten. Hinsichtlich einer Würdigung ste­ hen diejenigen Perspektiven im Zentrum, die ausgehend vom neophänomenologischen Ansatz über die bereits vorliegenden theo­ retischen Angebote hinausführen. Welche Facetten des In-der-Weltseins kommen durch eine Besinnung auf die Dimensionen Leib und Gefühl, Situation, Atmosphären und Subjektivität ans Licht? Inwie­ fern können diese phänomenologischen Befunde zu einer neuen und reflektierteren Lebenspraxis beitragen? Immer wieder kam es Schmitz selbst darauf an, die Ergebnisse seines Nachdenkens zur Diskussion zu stellen. Wenn er ein zurück­ blickendes Spätwerk als Ausgrabungen zum wirklichen Leben bezeich­ net hat, dann spielt er damit auf eine nicht abgeschlossene Suchbe­ wegung an. In deren Zentrum steht die Freilegung der »unwillkürlichen Lebenserfahrung« als dasjenige, was den Menschen spürbar und oft unbemerkt widerfährt, ohne dass sie es absichtlich, z.B. durch Konstruktionen, zurechtgelegt haben.9 Schmitz hat nach seinem eigenen Verständnis »nur« Vorstöße in die Tiefe dieses Erfah­ rungsreichtums angeboten, die ergänzt und verbessert werden kön­ nen.10 Er spricht nicht von Ausgrabungen »des«, sondern hin »zum« wirklichen Leben. Deshalb sind die Neue Phänomenologie, ihre Methode und Begriffe auf eine kritische Prüfung angewiesen. Ein Ziel muss darin bestehen, nach denjenigen Ansprüchen zu fahnden, die Schmitz nicht einlösen konnte oder wollte. Welche Phänomene kamen zu einseitig in den Blick und inwiefern braucht es eine Ergänzung durch weitere Perspektiven, etwa aus anderen phänomenologischen Schulen und anderen wissenschaftlichen Disziplinen? Zudem kommt der Band Vgl. sinngemäß Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenolo­ gie, S. 7. 10 Vgl. Hermann Schmitz: Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz, Frei­ burg/München 2016, S. 39. 9

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Vorwort

auch dem – verständlichen, aber von Schmitz nicht akzeptierten – Impuls nach, im Angesicht seines Todes ihn als Person zumindest in gewissem Umfang näher kennenzulernen. Indem der Sammelband in diesen drei Hinsichten von Biographie, Kritik und Würdigung insge­ samt 22 Beiträge versammelt, möchte er die von Schmitz umfangreich begründete Suchbewegung fortführen und die Zukunft der Neuen Phänomenologie in einem gemeinsamen Dialog erkunden. Diese längst nicht erschöpfenden Erkundungen können, wie es bei Nietz­ sche hieß, für beglückende oder irritierende Momente sorgen, neue Lebensentwürfe motivieren oder weitere Werke erzeugen. Es kommt, um es mit Schmitz zu sagen, darauf an, den »begabten eigenwilligen Einzelforscher herauszufordern und zu fördern, indem ihm die gefährliche Ehre und Chance geboten wird, mit dem Wagnis seines ungesicherten Wurfs in eigener Verantwortung Erfolg zu haben oder zu scheitern.«11

II. Der Band hat, seinem erläuterten Vorhaben gemäß, das Ziel, die von Schmitz entwickelte Neue Phänomenologie kritisch in den Blick zu bekommen. Kritik meint dabei ein Herausstellen von Stärken und Schwächen, von Potentialen und Lücken, von Desideraten und von Anknüpfungspunkten. Es geht insgesamt um eine Korrektur der von Schmitz selbst zu Lebzeiten immer wieder bedauerten geringen dis­ kursiven Auseinandersetzung.12 Die Beiträge, welche sich hier ver­ sammelt finden, nehmen auf je eigene Weise den »Spielball« auf und verhandeln theoretische wie praktische Angebote, die die Neue Phä­ nomenologie gemacht hat. Es sind fünf thematische Schwerpunkte zu unterscheiden, anhand derer die Texte geordnet sind. Diese sind, wie alle solche Kategorisierungen, nur cum grano salis zu nehmen, jedoch gestatten sie eine sinnvolle Vorstrukturierung der Beispiele. Im Ein­ zelfall weist jeder der Beiträge auch in andere thematische Felder hin­ Schmitz: »Die Unentbehrlichkeit der Einzelforschung«, S. 109. Vgl. dazu die Bemerkungen etwa im Text »Mein wissenschaftlicher Werdegang« in diesem Band. Ob die dort gegebene Einschätzung heute noch ganz zutrifft, ist zumindest fraglich. Jedoch sind sicher viele Möglichkeiten der Kritik im oben genann­ ten Sinne noch keineswegs ausgeschöpft, weshalb der Impuls des vorliegenden Bandes berechtigt bleibt. 11

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über – ganz im Sinne dessen, was Schmitz über den systemartigen Zusammenhang des Philosophierens behauptet hatte.13 In einem ersten Block geht es um Biographisches. Dem geschil­ derten Anlass entsprechend – und wie bereits betont, ganz gegen Schmitz eigene Intention – finden sich vier Beiträge, die ein wenig Licht auf die Person werfen. Zunächst sind das zwei bisher unveröf­ fentlichte Texte von Schmitz selbst, in denen er seinen akademischen Werdegang schildert. Der erste dieser beiden Beiträge ist der im Anhang seiner nur hektographierten Dissertation abgedruckte Lebenslauf aus dem Jahr 1955. Hier legt Schmitz als noch nicht Drei­ ßigjähriger seine bisherige Schul- und Universitätslaufbahn dar. Im Kontrast dazu folgt als zweiter Beitrag ein nicht genau zu datierender Text, der kurz nach 2011 entstanden sein muss, also aus der Feder des über achtzigjährigen Schmitz stammt. Er bietet Einblick in die auto­ biographische Selbstdeutung, nennt wesentliche philosophische Bauund Meilensteine, referiert die wichtigsten philosophischen wie inter­ disziplinären Weggefährten – allen voran eben auch Böhme. Diese beiden Werke werden im ersten Block ergänzt durch zwei biographi­ sche Perspektiven anderer. Michael Großheim zeichnet anhand kleiner Anekdoten aus Gesprächen mit Schmitz’ Zeitgenossen eine, wie man wohl sagen kann, »biographische Miniatur«, die das konstellationis­ tische Gerüst der Lebensläufe durch Lebendigkeit bereichert. Erkenn­ bar wird in dieser Miniatur ein ganz auf die Sache blickender Schmitz, der zugleich aber gerade dadurch eine gewisse Unangepasstheit, ja Sperrigkeit bekommt. Gelegentlich taucht diese auch in der von Ute Gahlings nachgezeichneten brieflichen Interaktion zwischen Schmitz und Böhme auf. Allerdings erweist sich der Austausch als im Ganzen überaus fruchtbar und in der Sache wie im Ton doch weitestgehend harmonisch. Jedenfalls aber wird in dem Briefwechsel exemplarisch14 ganz konkret die Art von philosophischem Austausch vorgeführt, um dies es Schmitz immer gehen sollte. Im zweiten thematischen Block des Bandes kommen methodische Fragen zur Verhandlung. Immer wieder ist gegen die Neue Phäno­ 13 Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. I: Die Gegenwart, Freiburg/ München 2019, S. IX, 65–69. 14 Schmitz war ein überaus produktiver und fleißiger Briefeschreiber, so dass aus dem Nachlass noch gehaltvolle Editionen solcher Kommunikationen zu erwarten sind. Einen ersten kurzen Einblick bietet dazu schon neben dem hier abgedruckten Beitrag von Ute Gahlings auch Kira Meyer (Hrsg.): »Wie ist Naturphänomenologie möglich? Eine Debatte«, in: Rostocker Phänomenologische Manuskripte 38, 2022.

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Vorwort

menologie der Vorwurf der fehlenden oder zumindest unklaren Methode erhoben worden, übrigens auch aus der phänomenologi­ schen Bewegung selbst. Steffen Kluck versucht in seinem Beitrag nachzuzeichnen, dass dieser Vorwurf in der Sache verfehlt ist, wenn Schmitz sich aber durchaus selbst nicht immer an sein Konzept gehal­ ten haben mag. Am Ende ergibt sich jedenfalls ein klares Bild der neuphänomenologischen Methode. In anderer Hinsicht wiederum nimmt Damir Smiljanić einen Impuls auf, der methodische Konse­ quenzen hat. Er untersucht in seinem Beitrag die Rolle von Vagheit – d.h. von chaotisch-mannigfaltig Bleibendem – in und für Wissen­ schaft. Er will auf diese Weise zeigen, dass Phänomenologie, sofern sie Vagheit nicht als Makel, sondern als wirkliches Phänomen aner­ kennt, keineswegs einen starken Anspruch auf Wissenschaftlichkeit fahren lassen muss. Diese Überlegungen leisten somit den Versuch, die Neue Phänomenologie als rationales Unternehmen zu fassen und zu verteidigen. Der dritte Block versammelt fünf Aufsätze, die fundierte Kritik an Theoremen der Neuen Phänomenologie üben. Sie greifen Begriffe, Hypothesen oder Zusammenhänge auf und zeigen, in welcher Hin­ sicht bei diesen Defizite zu bestehen scheinen. In seiner kritischen Analyse des Durstes will etwa Jens Soentgen verdeutlichen, dass Schmitz’ Analyse von Gefühlen und leiblichen Regungen es zu Unrecht unterlassen hat, intentionale Gehalte zu bedenken. Am Bei­ spiel des Durstes stellt Soentgen die These zur Diskussion, dass dieser ohne Bezug auf ein konkretes Etwas – in diesem Fall Wasser – nicht phänomenologisch zutreffend erfasst ist. Er schlägt damit eine Ergän­ zung der Neuen Phänomenologie in Richtung auf materielle Bezüge vor. Ebenfalls auf dem Feld der Leiblichkeit und dem Bezug zu Außer­ leiblichem setzt Jens Bonnemanns Kritik an. Er beobachtet bei Schmitz eine gewisse Einseitigkeit der Thematisierung, insofern dort das eigenleibliche Spüren letztlich zu einer übermäßigen Subjektivierung und dem Verdrängen des Pathischen führe. Dagegen gelte es, für die Phänomenologie das Widerfahrnishafte stärker zu betonen. Thomas Fuchs wiederum verhandelt das zentrale Konzept des Leibes in seinem Verhältnis zum Körper. Er verweist darauf, dass der Leib in eine engere Beziehung zum Körper gerückt werden muss. Es sei gegen Schmitz’ Idealisierung des Leibes – trotz wichtiger und unbestreitbarer Ver­ dienste – eine Komplementarität von Körper und Leib zu verfechten. Fuchs’ Gegenthese geht somit auf ganz prinzipieller Ebene einen anderen Weg, so dass seine Einwände von besonderem Stellenwert

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Steffen Kluck, Jonas Puchta

sind. Alexander Nicolai Wendt will zeigen, dass Schmitz’ Philosophie zwar prinzipiell relevante Impulse für die Psychologie liefern kann, sie jedoch durch bestimmte methodische wie diskursive Weichenstel­ lungen eine unmittelbare Integration in das Bestreben um eine phä­ nomenologische Psychologie mindestens erschwert hat. Insbeson­ dere sei das Verhältnis von Phänomenologie zur Psychologie anders zu denken, als Schmitz dies in seinen Schriften getan habe. Auf ganz anderem Feld entwickelt Niko Strobach eine Kritik an Gedanken der Neuen Phänomenologie, und zwar analysiert er die bislang wenig beachteten formallogischen Theorieteile. Schmitz hatte dort etwa Überlegungen zur Mannigfaltigkeit, zur Vagheit und dergleichen angestellt. Gerade das Chaotisch-Mannigfaltige stelle eine noch nicht bewältigte Herausforderung für die Logik dar, von der Strobach zeigt, wie man ihr begegnen könnte, inwiefern aber auch umgekehrt Schmitz von der Logik hätte profitieren und welche Fehler er hätte vermeiden können. Die kritischen Perspektiven beschließt Steffen Kammler mit seinem Beitrag, der den Blick Schmitz’ auf Platon hin­ terfragt. Es wird versucht, den Nachweis zu erbringen, dass Platon weit weniger leibfeindlich gedacht hat, als dies Schmitz im Rahmen seiner Rekonstruktion der Antike behauptete. Am umfangreichsten ist der Teil der Beiträge, die Schmitz’ phä­ nomenologische Theorieangebote als Absprungpunkt für eigene Fort­ setzungen – im Sinne des Weiterdenkens – nutzen. Auf je eigene Weise wird ein Begriff oder ein Theorem aufgenommen, um fortge­ sponnen zu werden in neuen Kontexten oder in neuen Anwendungs­ bereichen. Dabei sind diese Erweiterungen disziplinär sehr heterogen – Ästhetik, Soziologie oder Pädagogik seien exemplarisch genannt. Tonino Griffero entwickelt ausgehend von Schmitz’ AtmosphärenDenken das Konzept einer pathischen Ästhetik. Zwar haben die neophänomenologischen ästhetischen Schriften kaum Widerhall gefunden, der Ansatz insgesamt sei jedoch fruchtbar. Griffero will dies unter Beweis stellen, indem er die Rolle der Atmosphären und der Leiblichkeit für eine am Leitmotiv des Pathischen orientierte Ästhetik stark macht. Von einen im weiten Sinne soziologischen Blick ausge­ hend operieren Undine Eberlein und Helmut Fallschessel, wobei es ihnen um die Einbeziehung des Konzepts der Leiblichkeit in Theorien des Sozialen zu tun ist. Sie versuchen zu zeigen, dass das Leibliche bei der Thematisierung menschlicher Sozialität zu Unrecht übergangen wurde und fordern im Anschluss an die Neue Phänomenologie eine grundsätzliche Korrektur ein. Insbesondere auch für eine Kritik sozia­

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Vorwort

ler Praktiken biete sich so ein besseres Fundament. Ebenfalls auf dem Feld der Soziologie setzen Robert Gugutzer und Felix Glenk Überle­ gungen von Schmitz fort. Ihnen kommt es darauf an, das Phänomen des Atmosphärischen als für Gesellschaftsanalysen relevant aufzu­ weisen. Gesellschaften seien als in Situationen eingebettete Atmo­ sphären verstehbar. Auf diese Weise deutet sich eine ganz anders als die de facto bestehende Soziologie an, insofern neue Begriffe und Zugangsweisen entwickelt werden müssen. Kira Meyer schließt in ihrem Beitrag ebenfalls an das Atmosphären-Konzept Schmitz’ an, allerdings geht es ihr einerseits um Fragen der Naturästhetik, ande­ rerseits um solche der Ökologie. Auch wenn Schmitz selbst vom Natur-Begriff Abstand gehalten hat, zeigt Meyer, wie man mit ihm phänomenologisch arbeiten und wie sich so ein anderes, nachhalti­ geres Verhältnis zur Umwelt ergeben kann. Dass daraus unmittelbar weitreichende lebensweltliche Konsequenzen resultieren, macht die lebenspraktische Relevanz der Neuen Phänomenologie exemplarisch deutlich. Um derartige praktische Konsequenzen geht es auch Barbara Wolf, allerdings zielt sie auf den professionellen pädagogischen Kon­ text ab. Sie versteht pädagogisches Handeln als das Gestalten von Situationen. Im Anschluss an Schmitz’ Situationsontologie zeigt sie, welche Differenzierungen begrifflicher Art möglich sind und wie ein derart geschulter Blick hilft, pädagogisches Agieren und Intervenieren zu reflektieren und in der Folge neu zu konzipieren. Auch Hilge Land­ weer nutzt ein Theorieangebot der Neuen Phänomenologie, um von diesem aus weiterzudenken. Sie knüpft an Schmitz’ Gefühlstheorie an, blickt jedoch auf sogenannte gemischte Gefühle, die sich als viel­ gestaltig und ambivalent zeigen. So ist etwa Verlegenheit zugleich bestehend aus einem Moment der Peinlichkeit wie der Freude oder sogar des Stolzes. Solche Phänomene analysiert Landweer und erwei­ tert auf diese Weise die Gefühlstheorie Schmitz’. Im Anschluss an das Motiv der »Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart«, womit vielleicht der lebenspraktische Kerngedanke der Neuen Phänomeno­ logie formuliert ist, analysiert schließlich Jonas Puchta das von Schmitz kritisch gesehene Motiv des Nihilismus. Letzterer wird unter anderem verstanden als der Rückzug aller subjektiven Bedeutsamkeit und Bindung aus der Welt. Aus dieser Tendenz resultieren, so Schmitz’ These, lebensweltliche Probleme für den Menschen. Puchta versucht, ausgehend von dieser Diagnose, zu zeigen, auf welcher Grundlage sich alternative Existenzformen im Hinblick auf ein »gelin­ gendes Leben« entwickeln lassen. Es beschließt Klemens Hilliger von

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Steffen Kluck, Jonas Puchta

Thile die Liste der fortsetzenden Beiträge. Er verhandelt das Phäno­ men von Übergängen – also den Umschlagsstellen in Biographien, in Situationen, bei Entscheidungen usw. – und will zeigen, dass man mit der Neuen Phänomenologie für solche Übergänge ein besseres Umge­ hen, eine regelrechte »Kultur der Übergänge« entwickeln und erler­ nen kann. Ein phänomenologisch kluger Umgang mit Übergängen hilft der Erkenntnis nicht weniger als der Lebenskunst. Der letzte Block an Beiträgen versammelt Texte, die eminent praxisorientiert sind. Es ist sicher nahezu ein Alleinstellungsmerkmal der Neuen Phänomenologie, dass sie unmittelbar in Austausch mit Praktikern und Anwendern aller Art getreten ist. Es gibt Kooperatio­ nen auf dem Feld der Pädagogik, Psychotherapeutik und Pflegewis­ senschaften ebenso wie im Bereich der Diabetologie, Psychopatholo­ gie oder etwa Architektur.15 Die zwei hier abgedruckten Beiträge zeigen ausschnitthaft, wie man mit dem von Schmitz entwickelten phänomenologischen Ansätzen gleichsam »in medias res« gehen kann. Petra Völz beschreibt in diesem Sinne, wie die psychotherapeu­ tische Arbeit – genauer: die prosopiatrische Arbeit – mit schwerst­ traumatisierten und psychiatrisch erkrankten Personen vor sich gehen kann. Dabei helfen phänomenologische Begrifflichkeiten sowohl der konkreten Arbeit als auch der Reflexion der Betroffenen und derjeni­ gen der Behandler. Zugleich kann die akademische Phänomenologie aus Problemen in der Praxis lernen, ihre Begriffe zu schärfen, zu kor­ rigieren und eventuell anzupassen. In ähnlicher Weise nutzt schließ­ lich Thomas Latka in seinem Beitrag das Begriffsinventar Schmitz’, um die Arbeit der systemischen Aufstellungsarbeit zu verstehen. Hier dient daher das phänomenologische Arbeiten der auch kritischen Reformulierung bestehender Therapieangebote, zugleich aber diese Therapiepraxis auch der Reformulierung philosophischer Thesen. Die im Vorstehenden nur sehr knapp dargestellten Beiträge zeichnen ein Panorama der Neuen Phänomenologie, das freilich immer unvollständig bleiben muss. Doch sind wesentliche Aspekte thematisiert und durch die fortsetzenden, kritischen und praxisori­ entierten Impulse wird die vom Band angestrebte diskursive Bewe­ gung in Gang gebracht. Um die Lektüre über die gehaltvollen Texte hinaus zu bereichern, ist dem Werk noch eine vollständige Bibliogra­

Vgl. für einige solche Anwendungen die Beiträge in Heinz Becker (Hrsg.): Zugang zu Menschen. Angewandte Philosophie in zehn Berufsfeldern, Freiburg/München 2013.

15

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Vorwort

phie der Werke Schmitz’ beigegeben, welche es gestattet, sich einen Überblick über dessen Œuvre zu verschaffen.

III. Die Herausgeber haben sich entschieden, die Texte in ihren Eigenarten – die meist nicht nur Ausdruck stilistischer Individualität, sondern oft auch des jeweiligen Fachdiskurses sind – weitestgehend unverändert zu lassen. Es gab nur drei wesentliche editorische Entscheidungen, die hier der Redlichkeit halber benannt seien. Alle Beiträge folgen einem einheitlichen Zitationssystem, so dass der Leser oder die Leserin sich in dieser Hinsicht in allen Texten schnell zurechtfinden kann. Es wur­ den die jeweils von dem Verfasser bzw. der Verfasserin benutzten Ausgaben unverändert übernommen und nicht vereinheitlicht. Schließlich wurde entschieden, ein Namens- und ein Sachregister dem Band beizugeben. Ein Namensregister erleichtert das Wieder­ finden von entsprechenden Stellen, das Sachregister orientiert grob über die wesentlichen Verhandlungsstellen zentraler Begriffe, wobei freilich das jeweilige Thema in der Regel auch nur in eben dem betref­ fen Aufsatz in aller Breite besprochen wird. Die Arbeiten am Band, den die Herausgeber hiermit der Öffent­ lichkeit übergeben, wurden institutionell von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie und – vor allem finanziell – durch die Stiftung Neue Phänomenologie unterstützt, wofür beiden Dank gebührt. Glei­ ches gilt für den Verlag Karl Alber und dort besonders Lukas Trabert, der die Publikationen verlagsseitig betreut hat. Schließlich möchten die Herausgeber auch Alexandra Sczesny danken, die beim Erstellen von Textvorlagen behilflich war. Es steht zu hoffen, dass die versammelten Texte dem Anlass des Bandes und dem philosophischen Impuls gerecht werden, der mit Hermann Schmitz und Gernot Böhme verbunden ist und bleibt. Das philosophische Besinnen darauf, was uns Menschen widerfährt, bleibt eine nie zu beendende und prinzipiell unabweisbare Aufgabe. Dazu möge dieses Buch seinen Beitrag leisten. Die Herausgeber Rostock im August 2023

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Inhaltsverzeichnis

I.

Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Hermann Schmitz Lebenslauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

Hermann Schmitz Mein wissenschaftlicher Werdegang . . . . . . . . . . . .

27

Michael Großheim Erinnerung an Hermann Schmitz . . . . . . . . . . . . . .

39

Ute Gahlings Philosophieren in Briefen Zur wissenschaftlichen Korrespondenz zwischen Hermann Schmitz und Gernot Böhme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

II. Methodisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

Steffen Kluck Über das Verhältnis des Phänomenologen zu seiner Theorie

79

Damir Smiljanić Philosophie als »vage Wissenschaft«

Ein neuphänomenologisch inspirierter Bestimmungsversuch . . . .

101

III. Kritisches

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121

Phänomenologie und Naturphilosophie eines elementaren Verlangens

123

Jens Soentgen Durst

19

Inhaltsverzeichnis

Jens Bonnemann Die Weltlichkeit leiblicher Widerfahrnisse Ein Gegenentwurf zu Hermann Schmitz’ Phänomenologie der pathischen Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

159

Thomas Fuchs Braucht der Leib einen Körper? Zur Ontologie der Verkörperung . . . . . . . . . . . . . . . . .

181

Alexander Nicolai Wendt Hermann Schmitz und die Psychologie . . . . . . . . . . .

201

Niko Strobach Das chaotische Mannigfaltige als Herausforderung für die Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

231

Steffen Kammler Begegnung im Unendlichen?

Schmitz und Platon parallel gelesen . . . . . . . . . . . . . . . .

257

IV. Fortsetzendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

287

Tonino Griffero Erfahrung des Atmosphärischen im geschützten Raum

Anmerkungen zu einer neuphänomenologisch-pathischen Ästhetik .

289

Undine Eberlein, Helmut Fallschessel Leiberfahrung und eine Theorie des Sozio-Somatischen . .

325

Robert Gugutzer, Felix Glenk Gesellschaft als Atmosphäre

Hermann Schmitz und die Soziologie . . . . . . . . . . . . . . .

349

Kira Meyer Warum die Zukunft der Neuen Phänomenologie grün ist Über Atmosphären in der Naturästhetik . . . . . . . . . . . . . .

373

20

Inhaltsverzeichnis

Barbara Wolf Neue Phänomenologie als Chiffre für die Gestaltung der pädagogischen Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

395

Hilge Landweer Gemischte Gefühle in neophänomenologischer Sicht . . . .

425

Jonas Puchta »Vitaler Stolz« statt Nihilismus?

Perspektiven einer phänomenologisch fundierten Lebenskunst . . .

451

Klemens Hilliger von Thile Übergänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

479

V. Fortsetzendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

505

Petra Völz Die Neue Phänomenologie in der Behandlung psychiatrisch kranker Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

507

Thomas Latka Systemische Phänomenologie

Systemaufstellungen im Lichte der Neuen Phänomenologie . . . . .

531

Bibliographie Hermann Schmitz . . . . . . . . . . . . . . .

561

Autoreninformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

575

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

583

Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

589

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I. Biographisches

Hermann Schmitz

Lebenslauf1

Ich, Hermann Franz Heinrich Schmitz, wurde geboren in Leipzig am 16. Mai 1928 als Sohn des Reichsgerichtsrates Hermann Schmitz und seiner Ehefrau Magdalene, geb. Malkwitz. Meine Staatsangehörigkeit ist deutsch, mein Glaubensbekenntnis römisch-katholisch. Ich besuchte in Leipzig drei Jahre lang die katholische Volks­ schule, anschließend dort von 1937–38 das humanistische Gymna­ sium »Thomasschule« und von 1939–42 sowie von 1945–48, mit einer durch Krankheit bedingten Pause, das Staatliche Beethoven­ gymnasium in Bonn, das ich im Frühjahr 1948 mit dem Zeugnis der Reife verließ. Anschließend war ich als Bücherwart im philosophi­ schen Seminar der Universität Bonn tätig und studierte von 1949–53 acht Semester lang an den Universitäten Bonn und Köln Philosophie, Geschichte und neuere deutsche Literatur. Meine akademischen Leh­ rer waren die Herren Professoren: Rothacker, Litt, Thyssen, Oskar Becker, Heimsoeth, Martin, Liebrucks (Philosophie); Oertel, Holtz­ mann, Braubach, Hübinger (Geschichte); Günther Müller, Hoffmeis­ ter (neuere deutsche Literatur). Im Frühjahr 1953 übersiedelte ich nach Berlin (West) und widmete mich dort der Anfertigung der vor­ liegenden Arbeit. Im Sommersemester 1953 war ich an der Freien Universität Berlin zugleich immatrikuliert und vom Studium beur­ laubt. Ich gehöre der Studienstiftung des deutschen Volkes an. Während meines Studiums habe ich von vielen Dozenten freund­ liche Förderung und wichtige, manchmal richtungweisende Anregung empfangen. Ich danke dafür von Herzen. Mein Dank gilt besonders Herrn Professor Rothacker sowie den Herren Professoren Litt, Gün­ ther Müller und Heimsoeth.

1 Im Original aus: Hermann Schmitz: Goethes Altersdenken in Begriff und Symbol (=Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde an der Universität Bonn), Bonn 1955 (unveröffentlicht). Bd. 2, S. 1294f.

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Hermann Schmitz

Mein wissenschaftlicher Werdegang1

Ich habe mich nie entschlossen, den Beruf eines Philosophen zu ergreifen. Mein Deutschlehrer in der Oberprima war zugleich außer­ planmäßiger Professor an der Universität, ein Spezialist für deutsche Stilistik. Er nahm anscheinend auf Grund meiner Beteiligung am Unterricht als selbstverständlich an, dass ich Philosophie studieren würde, und wandte sich, ohne mich zu fragen, an seinen Kollegen, Professor Erich Rothacker, den Direktor des Philosophischen Semi­ nars. Damals galt die Regel, dass zum Studium nur zugelassen wurde, wer ein Jahr lang im »Bautrupp« gearbeitet hatte, damit beschäftigt, Kriegsschäden an der Universität zu beseitigen. Die Intervention bei Rothacker hatte den Zweck, die Bautrupptätigkeit für mich durch eine Beschäftigung im Philosophischen Seminar zu ersetzen. Dieser Zweck wurde erreicht. Rothacker hat mich bei der ersten Begegnung, obwohl ich ihn – was er mit Humor nahm – ziemlich taktlos und ungeschickt ansprach, anscheinend sozusagen ins Herz geschlossen und fortan geradezu väterlich wohlwollend und segensreich durch mein Studium begleitet, was mit einem so eigenwilligen und sonderbaren jungen Mann wie mir gewiß nicht einfach war. Ich hatte ein Jahr Zeit zu einer Art Vor­ studium in der Rolle als Bücherwart für die Ausgabe von Büchern im Philosophischen Seminar, nahm die Rolle aber nicht sehr ernst, son­ 1 Über den Hintergrund dieses Textes, vor allem seinen Anlass, liegen keine Infor­ mationen vor. Ausweislich des Hinweises auf die nur kurz zurückliegende Japan-Reise ist der Text nach 2011 und sicher nicht später als 2014 entstanden. Es gibt einige wenige Überschneidungen zu Passagen aus dem Werk Hermann Schmitz: Ausgra­ bungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz, Freiburg/München 2016, S. 24–39. Es sind beides dennoch erkennbar verschiedene Texte, wenn auch mit vergleichbarer Inten­ tion. Wenn beide Texte doch zusammengehören, dann muss das hier erstmals abge­ druckte Werk die frühere Fassung sein. Die Herausgeber haben den Text möglichst unverändert gelassen, nur offensichtliche orthographische Fehler korrigiert. Die zahlreichen Bücher, auf die Schmitz verweist, lassen sich anhand der Bibliographie am Ende dieses Bandes gut nachvollziehen.

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Hermann Schmitz

dern widmete mich eifrig philosophischer Lektüre – das erste Buch, das ich den Regalen entnahm und durcharbeitete, war Johannes Rehmke »Philosophie als Grundwissenschaft«, Husserl, Kant, Plotin und andere folgten – und fast noch mehr der leidenschaftlichen Dis­ kussion mit den etwas älteren Studenten, namentlich Karl-Otto Apel, Karl-Heinz Ilting und Ernst Konrad Specht. Die Gesprächspart­ ner waren meist Soldaten gewesen, die nun mit enormer Offenheit und Spontaneität, wie ich sie später nicht mehr gefunden habe, manchmal lautstark, philosophisch diskutierten. Dabei drehte es sich um den Gegensatz der philosophischen Konzepte von Nicolai Hart­ mann und Heidegger. Heidegger fesselte die Geister, besonders Apel. Sammelplatz der Diskussion war das Seminar von Erich Rot­ hacker, daß ich, nach einem Jahr zum Studium zugelassen, zu Rotha­ ckers Bedauern erst gar nicht besuchte, sondern erst vom zweiten Semester an. Philosophische Vorlesungen habe ich während meines ganzen Studiums nie zusammenhängend gehört, nur probeweise gelegentlich eine Vortragsstunde. Stattdessen habe ich in den ersten drei Semestern intensiv Aristoteles gelesen, »Metaphysik«, »Physik« und »De anima«. Ich hielt auch sogleich eine Art Lektürekurs über das 7. Buch der »Metaphysik« mit Ernst-Konrad Specht und Klaus Hart­ mann (später ordentlicher Professor in Tübingen) ab; dieses Buch habe ich später in meinem Seminar in Kiel viele Semester lang durch­ kommentiert und das Ergebnis 1985 als Kommentar und ersten Band meines dreibändigen Aristoteleswerks veröffentlicht. Mein philoso­ phischer Leitstern zu Beginn meines Studiums war aber Husserl. Ich zog ihn allen anderen Philosophen vor, weil er nicht speku­ lierend über das Gegebene flüchtig hinwegging, sondern ganz gewis­ senhaft analysierte, was er in der Reflexion beobachtete. Das verband ihn in gewisser Weise mit Aristoteles. Daß ich später über Husserl kritisch denken würde, daß es überhaupt Anlaß zu grundlegender Kritik an ihm geben könnte, konnte ich mir damals nicht vorstellen. Später während meines Studiums in Bonn von 1949–1952 traten Heidegger, Hegel und Goethe ins Zentrum meines Interesses und meiner Aneignung. Unentbehrliche Gelegenheiten zum philosophi­ schen Kontakt waren für mich die Seminarübungen der Professoren Rothacker, Theodor Litt und später Oskar Becker. Sie alle haben mei­ nen damals manchmal schwer einzuhaltenden Rededrang mit großem Wohlwollen quittiert, wie auch Heinz Heimsoeth in Köln, dessen Seminar ich gelegentlich besuchte. Von Rothacker, meinem wichtigs­ ten Lehrer, habe ich inhaltlich wenig übernommen, desto mehr aber

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Mein wissenschaftlicher Werdegang

die Blickrichtung. Er zog meine stark introvertierte und formale Ein­ stellung hinüber zur Extraversion, zur Offenheit des Blickes für die Breite der Erfahrung und die Genauigkeit der Orientierung im Stoff­ lichen. Bei ihm war es hauptsächlich eine geschichtliche Erfahrung; er war Spezialist für die Entwicklung der Geisteswissenschaften seit der Romantik, hatte aber darüber hinaus eine ganz ungewöhnliche Fähigkeit, das Bedeutende vorurteilslos zu würdigen, auch wo es ihm fremd war. Nach dem Tod meines Vaters bin ich 1952 für zwei Jahre nach Berlin gegangen, um eine Dissertation über Goethe zu verfassen; ich wollte mir dabei von niemand in die Karten schauen lassen. In die Berliner Zeit fällt das einzige politische Engagement meines Lebens.2 Nach der Rückkehr wurde ich in Bonn 1955 bei Rothacker mit ausgezeichnetem Ergebnis und einer Dissertation unter dem Titel »Goethes Altersdenken in Begriff und Symbol« – sie ist 1293 Seiten lang und wurde nur hektographiert; ich besitze ein Exemplar – pro­ moviert. Ich strebte nun die Habilitation in Bonn an und erhielt dafür auch ein kleines Stipendium des Landes Nordrhein-Westfalen. Rot­ hacker war inzwischen emeritiert und bezeichnete es als den »Witz seines Lebens«, dass er mich nicht mehr habilitieren könne. Ich benutzte die nächsten beiden Jahre, um ein Buch mit dem Titel Hegel als Denker der Individualität zu schreiben und meine Dissertation so umzuarbeiten, dass nach Ausscheidung des Symbolteils ein rein phi­ losophisches Werk mit dem Titel Goethes Altersdenken im problem­ geschichtlichen Zusammenhang entstand. Mein Antrag auf einen Druckzuschuß wurde für beide Manuskripte von der Deutschen For­ schungsgemeinschaft abgelehnt, im Fall des Hegelbuches mit der Begründung, die frühe Jenenser Logik Hegels sei so konfus, dass es sich nicht lohne, etwas darüber zu schreiben. Diese Ablehnungen waren für mich einschneidend. Mir war fortan klar, dass ich auf För­ derung nicht mehr bauen konnte und meinen Weg allein gehen mußte. Ich habe nie wieder einen solchen Antrag gestellt, hatte es auch nicht nötig. Überhaupt schien mir, dass das große Wohlwollen, das mich durch mein Studium begleitet hatte, verflog, seit ich als mögli­ cher Bewerber um ein Amt in Betracht kam. Ich lernte Gadamer ken­ nen, mit dem ich nicht auf einen stimmigen Ton kam; auch der Kreis um ihn sagte mir nicht durchaus zu. Die beiden Bücher wurden trotz­ Schmitz ist in Berlin in die SPD eingetreten (laut im Nachlass befindlichen Partei­ buch war er Mitglied von Dezember 1953 bis zum Februar 1958).

2

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Hermann Schmitz

dem gedruckt, das Hegelbuch nach einem empfehlenden Gutachten von Heinz Heimsoeth von Anton Hain in Meisenheim, das Goethe­ buch von Herbert Grundmann, dem Inhaber der Verlagsbuchhand­ lung Bouvier in Bonn. Dieser großartige Mann kam eines Tages unversehens auf mich zu mit der Frage, ob ich nicht ein Buch bei ihm verlegen lassen wolle. Er ließ sich dann auch durch die Ablehnung des Druckzuschusses nicht schrecken und hat mir mehr als zwei Jahr­ zehnte lang bis zu seinem Tod als Verleger unerschütterlich beige­ standen. Meine Stellung in Bonn wurde aber prekär. Der Lehrstuhl Rothackers blieb jahrelang vakant; als Nachfolger stand Gottfried Martin vor den Toren, den mit Rothacker höchstens gegenseitige Abstoßung verband. Ich hatte bei Martin mit Ernst Konrad Specht in einem Dreimännerseminar gesessen, aber es hatte sich keine Sym­ pathie eingestellt. Meine Habilitation in Bonn drohte zwischen Rot­ hacker und Martin zerrieben zu werden. Da kam mir ein unerwarteter Zufall zu Hilfe. Walter Bröcker in Kiel war von meinem Hegelbuch so begeistert, dass er an den Verlag einen Brief schrieb, der mit den Wor­ ten endete: »Vielleicht könnte ich für Herrn Schmitz sogar etwas tun.« Der Brief kam an mich; als ich ihn Oskar Becker zeigte, schrieb dieser an seinen Freund Bröcker, den er aus gemeinsamer Arbeit bei Hei­ degger kannte, für mich einen Empfehlungsbrief, worauf mir Bröcker eine Stelle als wissenschaftlicher Assistent am Philosophischen Semi­ nar in Kiel anbot und meine Habilitation dort mit solchem Eifer betrieb, dass ich schon zu Ende des Jahres 1958 für Philosophie habi­ litiert war, übrigens mit dem schon gedruckten Buch Hegel als Denker der Individualität als Habilitationsschrift. Das Assistentenjahr 1958 benutzte ich, um mich in die mathematische Logik einzuarbeiten. Das folgende Jahr brachte die Wende in meiner philosophischen Entwick­ lung. In das Jahr 1959 fällt die Konzeption meiner Philosophie. Ich saß in der Bibliothek der psychiatrischen Klinik der Universität und las in einem Band der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychi­ atrie, der französische Psychiater Eugène Minkowski habe den Begriff »moi-ici-maintenant« gebraucht. Da schoß mir durch den Kopf, das Hier, Jetzt und Ich mit dem Sein und dem Dieses (ich sage dafür jetzt »absolute Identität«, zur Unterscheidung von der relativen Identität von etwas mit etwas) zur primitiven Gegenwart des Betroffenseins von der plötzlichen Ankunft des Neuen zu verschmelzen. Damit war der Kristallisationspunkt gefunden, an den sich teilweise vorbereitete Gedankenmassen anschlossen. Ich konzipierte in rascher Folge den

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Mein wissenschaftlicher Werdegang

(vom Körper unterschiedenen) Leib mit eigentümlicher Ausdeh­ nungsweise und Dynamik, mit der Verschränkung von Engung und Weitung als Achse, das affektive Betroffensein mit der Ergriffenheit durch Atmosphären, die Gefühle sind, die Schichten der Räumlichkeit (Weiteraum, Richtungsraum, Ortsraum) und der Zeitlichkeit (reine Modalzeit, modale Lagezeit, reine Lagezeit), die Mannigfaltigkeits­ lehre in einer Form, die jedenfalls schon das chaotische Mannigfaltige enthielt, und anderes mehr. Als meine philosophische Lebensaufgabe erkannte ich, »die Winde aus dem Schlauch des Äolus zu lassen«, aus dem Versteck in der durch Introjektion überfüllten Seele die dort gebundenen Massen unwillkürlicher und unbedachter Lebenserfah­ rung für die Besinnung freizusetzen und so die doppelte Spaltung sowohl der Welt in abgeschlossene private Innenwelten und eine reduzierte Außenwelt als auch des Menschen in Seele und Körper zu überwinden. Die Sammlung und Ordnung der Gedanken, die Durch­ arbeitung eines großen empirischen und historischen Materials zwecks Prüfung und Ergänzung der eigenen Reflexion nahmen einige Jahre in Anspruch, bis ich 1963 in der Lage war, einen Plan zur umfas­ senden Ausführung des Projekts und auch schon das Manuskript des ersten Bandes dieser Ausführung vorzulegen. Ich wählte für das Ganze den altertümlichen Titel »System der Philosophie« mit Beru­ fung darauf, dass Philosophie als Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung nur rundum und daher, wissenschaft­ lich betrieben, nur als System möglich sei. Für die Ausführung sah ich fünf Bände in zehn Teilen – zwei im 2. Band, fünf im 3. Band – vor, weil ich mir nicht klar war, ob die Teile je ein Buch füllen würden oder zwischen zwei Buchdeckeln Platz finden könnten. Tatsächlich sind es zehn Bücher geworden. Der Plan, den ich dem ersten Band mitgab, ist zwar nicht in allen Einzelheiten, aber in der großen Linie getreu aus­ geführt worden. Für die Ausführung des Projekts bot sich mir zuerst der Verlag de Gruyter an, der schnell wieder absprang, weil ihm das Vorhaben unübersehbar und unverständlich vorkam. Ich hatte auch ein Angebot vom Athenäum-Verlag. Zum Glück engagierte sich aber auch diesmal Herbert Grundmann, mit dem ich schnell einig wurde, was ich nie zu bereuen hatte. Der Bouvier-Verlag hat die 10 Bücher regelmäßig nach Einlieferung der Manuskripte in sehr guter Ausstattung herausge­ bracht, ohne einen Pfennig Geld dafür zu nehmen. 1979 konnte ich Grundmann anrufen mit der Mitteilung: »Das System der Philoso­ phie ist fertig.« Seine Reaktion am Telephon: »Donnerwetter!« Nicht

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Hermann Schmitz

ebenso erfreulich war die Reaktion des Publikums. Als gerade Band I »Die Gegenwart« erschienen war, kam Karl-Heinz Ilting von einem Philosophenkongreß in Heidelberg und fuhr mich an: »Herr Schmitz, was haben Sie getan! Ich habe Äußerungen der bittersten Feindschaft gehört. Man hat gesagt: Heidegger hat sich an einem System der Phi­ losophie versucht und ist damit gescheitert, und nun kommt dieser junge Mann daher und will es besser machen.« Man habe das intel­ lektuelle und stilistische Niveau des Buches anerkannt, aber der Zorn über das Wagnis habe überwogen. Die Folge war eine teilweise insze­ nierte Abwendung. Ich gebe ein Beispiel. Eine Kollegin aus einem anderen Fach hielt einen Vortrag, der bei den Zuhörern nicht gut ankam, am nächsten Tag kam der für Philosophie zuständige Redak­ teur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Herr Jürgen Busche, zu ihr und tröstete sie, das mache nichts, ihr Ansehen habe nicht gelitten, sie habe nur einen Fehler gemacht, nämlich, Hermann Schmitz zu erwähnen, von dem rede man doch nicht. Einige bedeutende Männer nahmen lebhaft eingehenden Anteil an meiner Arbeit, so Johannes Heinrich Schultz, der Erfinder des autogenen Trainings, der mit mir über den Leib korrespondierte, der Staatsrechtler Carl Schmitt, der sich für mein Buch Der Rechtsraum (System der Philosophie Band III Teil 3) begeisterte, Horst Mittelstaedt, Direktor des Max-PlanckInstituts für Verhaltensphysiologie in Seewiesen, der zunächst von meinen Ausführungen zur Wahrnehmungslehre fasziniert war und sein Interesse dann mit dem schönen Satz begründete: »Es ist gut, wenn wir endlich eine vernünftige Phänomenologie haben; dann wis­ sen wir Physiologen wenigstens, was wir für Fragen stellen sollen.« Er lud mich mehrfach nach Seewiesen ein, wo ich u.a. mit seinem Kollegen Konrad Lorenz aneinandergeriet. Ich nenne unter den ver­ ständnisvoll Aufhorchenden noch Hans Schaefer, Professor für Phy­ siologie und Sozialmedizin in Heidelberg. Unter den philosophischen Fachkollegen steht in dieser Beziehung Gernot Böhme voran, der mich seit 1969 mit eingehend durchdachter, verständnisvoller, aber auch kritischer Resonanz überraschte und die Aufnahmebereitschaft des fachphilosophischen Publikums wesentlich forderte. Die »alte« Phä­ nomenologie in der Tradition von Husserl bis Merleau-Ponty stellte sich taub bis Bernhard Waldenfels 2000 etwas Polemisches über den Leib veröffentlichte, worauf ich geantwortet habe. Die breite Gleichgültigkeit meiner Fachkollegen hat mich nicht erschüttert. Ich hatte genug zu tun. Mir war, wie Goethe wenige Tage vor seinem Tod an den Grafen von Sternberg schrieb: »Eine Dämme­

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Mein wissenschaftlicher Werdegang

rung von Einsicht, der ich schon lange gefolgt bin, wie man in dunkler Nacht auf einen fernen Lichtschein zureitet, in Hoffnung, es werde kein Irrlicht sein, scheint mich auch hier weiterzuführen.« Bei mir war diese Hoffnung, während ich mich von Buch zu Buch weitertertastete, feste Zuversicht. Die akademische Laufbahn habe ich wie eine Och­ sentour durchlaufen, über die Stufen des Privatdozenten, Diätendo­ zenten, außerplanmäßigen Professors und Professors auf Lebenszeit, bis ich 1971 in Hausberufung, ohne mich beworben zu haben, als ordentlicher Professor zum Direktor des Philosophischen Seminars der Universität Kiel ernannt wurde. In diese Zeit um 1968 fällt auch die Rebellenbewegung der Studenten und Assistenten, die mit teil­ weise sehr unkonventionellen Mitteln die Universität zu einer »modernen« machen wollten, d.h. zu einer Art Ständestaat mit Dau­ erpalaver gleichberechtigter Gruppen. Ich habe mich damals als Ver­ handlungsleiter des Konsistoriums, des Universitätsparlaments, um Besänftigung des Aufstandes im Interesse des Vorrangs ruhiger wis­ senschaftlicher Arbeit vor allem Verwaltungsaufwand bemüht, mit dem Erfolg, dass das Konsistorium in mehrtägiger Sitzung des Regie­ rungsentwurfs eines Hochschulgesetzes mit vielen durchdachten Bedenken und Anregungen, aber grundsätzlicher Zustimmung ver­ abschiedete. Während der Entstehung meines Systems der Philosophie profi­ tierte ich vom Kontakt mit einem Mann, der meiner Denkrichtung eher fernstand, mich aber achtete und in merkwürdigem Zwiespalt anmaßende Überzeugungen mit dem Charme unprätentiöser menschlicher Nähe verband. Es handelt sich um den Mathematiker, Logiker und Philosophen Paul Lorenzen, an dessen Seite ich in Kiel jahrelang tätig war, bis er nach Erlangen ging. Mit seiner operativen Mathematik und deren Ausgestaltung zu einer dialogischen Inter­ pretation der logischen Konstanten hat er mich nicht überzeugt, aber mit seinem unerbittlichen Drängen auf genaue Sinnbestimmung jedes irgend des Schillerns und Flatterns verdächtigen Wortes hat er eine entsprechende Tendenz bei mir zwar nicht geweckt oder auch nur angestachelt, aber bestätigt und gefördert, wobei ich freilich mehr Gewicht auf empirische Sicherung des Bodens der Begriffsbildung lege. Nicht schlecht meinte mein Freund Hans Werhahn, meine wich­ tigste philosophische Leistung sei das Angebot von Definitionen. Eine tiefe direkte Einwirkung auf die Entwicklung meines Denkens ging aber von einer schlichten, zufälligen Bemerkung Lorenzens aus. Als ich ihm 1967 den ersten Teil des 3. Bandes meines Systems der Phi­

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Hermann Schmitz

losophie, worin anfangs meine phänomenologische Methode erörtert wird, nach Erlangen geschickt hatte, schrieb er mir, meine Phänomene seien Sachverhalte. Das veranlasste mich zum Nachdenken über Sachverhalte, und daraus gingen zwei neue Säulen meines Denkens hervor. Meinen noch recht unklaren Vorbegriff von Subjektivität, der in § 1 des Systems den Anfang macht, konnte ich nun durch den Begriff der subjektiven Tatsache präzisieren und dadurch dem Sinn der Wör­ ter »subjektiv« und »objektiv« eine neue Dimension verschaffen. Die andere Neuerung betrifft die Situationen. Bei der Konzeption des Systems hatte ich der zu überwindenden Introjektion hauptsächlich den Leib und die Gefühle als Atmosphären abgewonnen. Von den Sachverhalten kam ich auf die bei der Introjektion ebenso vergessenen Situationen mit einer integrierenden binnendiffusen Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen. Das wurde zum Bezugspunkt meiner Analyse und Ordnung von Phänomenen, gleich­ sam als Gegengewicht der primitiven Gegenwart und in der Zeitkritik zur Warnung davor, über den Konstellationen als Netzen von Bezie­ hungen zwischen einzelnen Knoten die Situationen zu vergessen. Nach Vorlage des abgeschlossenen Werkes System der Philoso­ phie habe ich mich zunächst der Geschichte der Philosophie zuge­ wandt. Mich trieb das warnende Beispiel Husserls, der ganz direkt zu den Sachen selbst vordringen wollte, sich dabei aber ahnungslos in den Netzen der Tradition verfing und also der Introjektion und Welt­ spaltung zum Opfer fiel. Es sind eben nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten. Um sich den unwillkürlichen Suggestionen des Hergebrach­ ten zu entwinden, muß man dieses bis an die geschichtlichen Quellen aufgeschlossen und kritisch verfolgen. Daher habe ich zumindest drei Werke zur antiken Philosophie verfaßt, die gleichfalls im Verlag Bou­ vier, aber nach dem Tod von Herbert Grundmann nun unter Leitung seines Sohnes Thomas, erschienen sind: drei Bücher über die Ideen­ lehre des Aristoteles, worin Platon mitbehandelt wird; sodann ein Buch über den vorplatonischen Ursprung des Gegenstandes in der Entwicklung von Parmenides zu Demokrit; schließlich ein kleines Buch über Anaximander, den frühesten historisch fassbaren Philoso­ phen. Ab 1989 habe ich über neuere Philosophie publiziert, zuerst mit den Büchern Was wollte Kant und Hegels Logik, sodann mit der Tri­ logie, die der Geschichte der Entdeckung und zugleich Entfremdung der strikten (nicht bloß positionalen) Subjektivität seit Fichte gewid­ met ist: Die entfremdete Subjektivität. Von Fichte zu Hegel; Husserl und

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Mein wissenschaftlicher Werdegang

Heidegger.3 Diese Spezialarbeiten liefern die Voraussetzungen für die beiden Darstellungen des großen Bogens der Geschichte: das Buch Adolf Hitler in der Geschichte von 1999, das die vier Verfehlungen des abendländischen Geistes von Homer über ihre Verknotung bei Hitler bis zur Gegenwart verfolgt und dafür die religiöse, politische und soziale Geschichte einbezieht, und entsprechende gründliche Durch­ arbeitung der Philosophiegeschichte in dem 2007 erschienenen zwei­ bändigen Werk: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewis­ senserforschung. Neben meinem historischen Studium verlief die Weiterbildung meines Systems der Philosophie. Zehn Jahre nach dessen Abschluß in 10 Büchern fasste ich deren etwas unordentlich organisierten Inhalt in einer nach philosophischen Disziplinen geordneten und begrifflich geschärften Gestalt unter dem Titel Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie eleganter zusammen. Danach beginnen sich mit Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie (1994) neue Gedan­ ken zu entwickeln, die aber erst in meinen Publikationen seit der Jahrtausendwende ausreifen. Der wichtigste ist wohl die Unterschei­ dung zwischen Identität und Einzelheit (eine Anzahl um 1 zu ver­ mehren) sowie zwischen relativer Identität (mit etwas) und absoluter (dem Dieses der primitiven Gegenwart). Erst dadurch kann das Ver­ hältnis von präpersonalem und personalem Leben (die Entfaltung der Gegenwart zur Welt) und damit die Struktur des Sichbewußthabens (Selbstbewusstseins) durchsichtig gemacht werden. Grundlegend ist auch die Entwicklung meiner Mannigfaltigkeitslehre, indem das zwiespältige (instabile, ambivalente) Mannigfaltige aus dem chaoti­ schen herausgenommen und dieses in das konfuse und das diffuse, Mannigfaltige differenziert wird, gegenüber dem bisher bekannten numerischen Mannigfaltigen, das aus lauter Einzelnem besteht. Wichtig ist die Entdeckung der Halbdinge, die auf 1978 (System der Philosophie Band III Teil 5) zurückgeht, aber erst 1990 (Der uner­ schöpfliche Gegenstand) begrifflich präzisiert wird und mir erst im dritten Jahrtausend dazu dient, der Verdinglichung von Gefühlen, der ich gefährlich nahe gekommen war, vorzubeugen. Meine jüngste Errungenschaft sind die unspaltbaren Verhältnisse. Alle Beziehungen sind gerichtet (von etwas zu etwas) und entstehen durch Spaltung 3 An dieser Stelle hat Schmitz das folgende Buch nicht aufgezählt, das die Trilogie vollständig macht: Hermann Schmitz: Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorpho­ sen der entfremdeten Subjektivität. Bonn 1995.

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ungerichteter Verhältnisse, wozu der Fluß der Zeit nötig ist; unter diesen Verhältnissen gibt es unspaltbare, deren Auflösung in Bezie­ hungen während ihres Bestehens nicht möglich ist. Diese sind der Schlüssel zu wichtigen Erkenntnissen. Durch solche Verbesserungen des begrifflichen Zugriffs wird die Ausführung meines 1959 konzi­ pierten Programms wesentlich erleichtert, so dass ich auf manche Inhalte von System der Philosophie schon mit Skepsis zurückblicke; schon 1999 habe ich meinem Buch Der Spielraum der Gegenwart eine kritische Revision dieses Werkes angefügt. Im Herbst 1993 wurde ich wegen Erreichung der Altersgrenze von den amtlichen Verpflichtungen entbunden (emeritiert). Ungefähr um diese Zeit beginnt eine breitere Wirkung meiner Philosophie. Deren wichtigste Manifestation ist die 1992 in Kiel gegründete Gesell­ schaft für Neue Phänomenologie e.V., die seit 1993 jährlich um ein Thema zentrierte Tagungen abgehalten hat, auf denen sich durch Beteiligung von Fachleuten aus sehr verschiedenen Gebieten die große Breite vielfältiger Anwendung meiner Gedanken abzeichnet. Die Initiative zur Gründung kam aus dem Kreis meiner Mitarbeiter in Kiel sowie von Psychotherapeuten; den entscheidenden Beitrag, sowohl für das materielle Fundament als auch als Motor, leistete aber mein Freund Hans Werhahn, ein Gefährte aus der Studiumszeit, der seither mein Leben in bald lockerer, bald engerer Vernetzung mit warmer Sympathie und vielen auch streitigen, aber im Grunde ein­ vernehmlichen Gesprächen begleitet hat. Durch seine großzügige Schenkung und das Entgegenkommen der Universität Rostock unter ihrem Rektor Hans-Jürgen Wendel gelang dort die Errichtung eines Hermann-Schmitz-Lehrstuhls für phänomenologische Philosophie, der mit meinem Schüler Michael Großheim besetzt wurde. An der staatlichen japanischen Universität in Kyoto entwickelte sich ein Interesse an meiner phänomenologischen Philosophie, das zu meh­ reren Publikationen in japanischer Sprache und für mich zu drei Vor­ tragsreisen nach Japan (1996, 2002 und gerade wieder 2011) führte. Eine ähnliche Verbindung ergab sich nach Polen. In Rom griff Pro­ fessor Griffero meine Phänomenologie der Atmosphären auf und veröffentlichte eine italienische Übersetzung meines Buches Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. 1988 wandte sich ein ange­ sehener französischer Mediziner, der Anästhesiologe Jean Lassner, an mich, an dessen farbenreichem Leben sowohl die Politik (Freund­ schaft mit de Gaulle) als auch die Philosophie (Gespräche mit Hus­ serl) beteiligt waren. Er hatte gleich nach Erscheinen des ersten Ban­

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Mein wissenschaftlicher Werdegang

des des Systems an meiner Phänomenologie des Schmerzes Gefallen gefunden und nach vielen Jahren auf die Anfrage bei der deutschen Buchhandlung in Paris, ob das Werk fertig vorliege, eine bejahende Antwort erhalten, die ihn zum Kauf veranlasste. Er kam zu mir, und ich habe ihn dreimal in Paris und in Aquitanien besucht, wodurch sich mir etwas von Frankreich erschlossen hat. Meine bis zu seinem Tod 2007 geführte Korrespondenz mit ihm füllt mehrere Aktenordner. Andere Kontakte mit der Medizin ergaben sich für mich mehrfach in der Diabetologie (in dem Handbuch »Diabetes mellitus« hg. v. Michael Berger, stammt ein Aufsatz von mir), in der Schmerzmedizin und in der Psychotherapie. Seit 1987 kommt 3–4 mal im Jahr ein Kreis von Psychotherapeuten, inzwischen zur Psychiatrie erweitert, in mit den Jahren stark wechselnder Besetzung zusammen, um Krankheitsfälle im Licht der Neuen Phänomenologie zu überprüfen.

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Michael Großheim

Erinnerung an Hermann Schmitz

Hermann Schmitz hat, wie diejenigen wissen, die ihn erlebt haben, die Fähigkeit besessen, Tatsachen unerschrocken ins Auge zu sehen und sie auch unerschrocken auszusprechen. Das ist eine weitaus sel­ tenere Begabung als man gemeinhin annimmt. Die meisten Men­ schen sehen an erschreckenden, aber auch schon an unangenehmen oder unbequemen Tatsachen gekonnt vorbei und sind noch weniger geneigt, solche zu artikulieren. Viel lieber lassen wir uns von Pro­ grammen leiten, also von Wünschen, Zwecken, Idealen, und zwar sowohl im Leben wie auch in der Wissenschaft. Häufig ist es nicht nur verlockender, sondern auch einfacher zu sagen, wie etwas sein soll, als zu sagen, wie etwas ist. In dieser Hinsicht hatte Schmitz dagegen etwas Schonungsloses. Er hat weder sich selbst noch seine Umgebung geschont, wenn es darum ging zu sagen, was der Fall ist. Bei meinem letzten Besuch in Kiel empfing er uns nach einer kurzen Begrüßung mit der nüchtern vorgetragenen Bemerkung: »Ich befinde mich ja inzwischen im Vor­ hof des Todes.« Wir waren einen Augenblick verblüfft und wussten nicht recht, was wir darauf sagen sollten. Es zu bestreiten oder in Zweifel zu ziehen, so wie man etwa jemandem höfliche Komplimente macht, der sich über sein Alter bedauernd äußert, erschien uns unpas­ send. Ich glaube, wir haben schließlich gar nichts dazu gesagt, sondern sind leicht verlegen mit unserem Anliegen herausgerückt. Bei einer anderen Begegnung in den letzten Jahren äußerte er – ebenfalls ziemlich unvorbereitet –, der Tod eines Menschen sei ja weniger ein Problem für denjenigen, der sterbe, als für diejenigen, die zurückbleiben. Auch diese Bemerkung hatte etwas Verblüffendes und war ohne Zweifel auch pro domo gesprochen. Allgemein hat Schmitz dieses Problem in einem wenig bekannten Aufsatz zum Thema »Tod und Grab« früher schon einmal behandelt. Dort heißt es: »Durch den Tod eines Menschen werden gemeinsame (aktuelle und nament­ lich zuständliche) Situationen zerrissen, und die in diesen bis dahin

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Michael Großheim

gebundenen Gefühle werden frei und gewissermaßen heimatlos.«1 So hat er praktisch unsere Erfahrung nach seinem Tod gedanklich bereits vorweggenommen. Es soll an dieser Stelle jedoch nicht um eine Würdigung des phi­ losophischen Werkes von Schmitz gehen; deshalb ist von einer »Erin­ nerung« die Rede, obwohl gerade das in seinem Fall mit charakteris­ tischen Schwierigkeiten verbunden ist. Das eben betonte Zerreißen der gemeinsamen Situation durch den Tod ist ein Anlass zur Besin­ nung auf die persönliche Situation des Verstorbenen und auf die gemeinsame Situation, die andere Menschen mit ihm verbunden hat. Das ist in diesem Fall nicht einfach, denn Schmitz hat stets erklärt, es gehe nur um sein Werk und nicht um seine Person. »De nobis ipsis silemus« – diesen Satz von Francis Bacon könnte man ihm ohne Abstriche in den Mund legen. In der Laudatio zur Verleihung des Egnér-Preises im Jahr 2014 an Schmitz heißt es z.B. vom Laudator bezeichnenderweise: »Ueber das private wirkliche Sein unseres hoch­ verehrten Preisträgers kann ich Ihnen nichts erzählen, denn er hat mir darüber auch nichts erzählt – mit der durchaus berechtigten Begrün­ dung, dass er für sein wissenschaftliches Werk, nicht für sein Privat­ leben geehrt werde.«2 Abgesehen von einigen wenigen Stellen in seinen Büchern, in denen persönliche Erinnerungen am Rande einfließen, gibt es nur den persönlich gehaltenen Teil der Vorrede zu Ausgrabungen zum wirkli­ chen Leben sowie einen weiteren Text, in dem geschlossen autobio­ graphische Notizen konzentriert sind, aber bezeichnenderweise trägt dieser den Titel »Mein wissenschaftlicher Werdegang«3 und beschränkt sich also auf diese wissenschaftliche Seite seines Lebens. Zu Beginn dieser bisher m.W. unveröffentlichten Aufzeichnungen geht er ganz kurz auf die Schulzeit ein, um dann etwas ausführlicher die Situation am Bonner Philosophischen Seminar bei Professor Erich Rothacker (1888–1965) darzustellen. Darauf komme ich gleich noch zu sprechen.

1 Hermann Schmitz: »Tod und Grab«, in: ders./Gabriele Marx/Andrea Moldzio: Begriffene Erfahrung. Beiträge zur antireduktionistischen Phänomenologie, Rostock 2002, S. 137–147, hier 145. 2 o.V.: »Laudatio für Professor Hermann Schmitz«, in: Dr. Margrit Egnér-Stiftung (Hrsg.): »Zeit und Zeitgeist.« Festschrift zur Preisverleihung 2014, Zürich-Meilen 2014, S. 15ff., hier 16. 3 Vgl. den entsprechenden Text in diesem Band.

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Zur Schulzeit möchte ich vorher noch ein auf den ersten Blick unerhebliches, aber letztlich doch aufschlussreiches Detail ergänzen, das seine ältere Schwester Isabella einmal erzählte und das sowohl auf die Arbeitsweise wie auf die Themen der späteren Zeit verweist. Die Lektüre des zwölfjährigen Schmitz bestand nicht in dem, was Alters­ genossen üblicherweise konsumierten (die Abenteuerromane von Karl May etwa); er nahm sich stattdessen das im Kröner Verlag erschienene Wörterbuch der Antike vor, nutzte es aber nicht als Nach­ schlagewerk, sondern las es einfach Artikel für Artikel vom Anfang bis zum Ende durch – und das Ende des eng bedruckten Buches ist erst nach fast 900 Seiten erreicht. Hinzu kommt, dass Schmitz mit einem eidetischen Gedächtnis begabt war, so dass er Texte im Grunde nur einmal lesen musste und danach jederzeit wieder auf ihren Inhalt zugreifen konnte – bis hin zum seitenlangen Zitieren etwa aus Werken von Goethe, wie man aus den frühen Kieler Jahren erzählt. Der Kant-Forscher Reinhard Brandt aus Marburg hat einmal am Rande einer Tagung in Halle im Jahr 1992 gesagt: »Herr Schmitz, was ich an Ihnen so bewundere, ist, dass Sie sich alle die Dinge, die sich merken wollen, auch merken können.« Das ist eine gute Zusammenfassung jenes Talentes, das Schmitz für seine wissenschaftliche Tätigkeit so hilfreich war. Es ist immerhin Platon, der in seiner Politeia (482c-d) fordert, der Philosoph müsse auch ein gutes Gedächtnis haben. Zu den auffälligen Begabungen gehört bei Schmitz auch die Lesegeschwindigkeit. Während eines Rückfluges von Japan nach Deutschland im Jahr 2001 saß Gernot Böhme neben Schmitz. Beide haben stundenlang gelesen. Hinterher meinte Böhme: »Herr Schmitz, ich habe während des Fluges festgestellt, dass Sie genau doppelt so schnell lesen wie ich. In der Zeit, in der ich eine Seite umblättere, sind es bei Ihnen zwei gewesen.« Das sind ungewöhnliche Fähigkeiten, aber sie sind eher techni­ scher Art. Einem Menschen, der diese Möglichkeiten hat, muss noch nicht unbedingt etwas einfallen, aber das war bei Schmitz bereits früh angelegt. Aus der Bonner Studienzeit von 1949 bis 1953 kursieren viele Gerüchte über den Einfallsreichtum und die Diskussionsfreu­ digkeit des jungen Schmitz. Er muss für die Professoren in seiner Studienzeit eine besondere Herausforderung gewesen sein. Verschie­ dene Zeugen aus der Bonner Zeit überliefern eine ganze Reihe von Anekdoten, deren Wahrheitsgehalt natürlich dahingestellt bleibt, die aber alle in eine Richtung zielen. Um zumindest einen kleinen Ein­

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Michael Großheim

druck dieser intellektuellen Ausnahmeerscheinung zu vermitteln, sei hier eine kleine Auswahl dieser Anekdoten öffentlich gemacht:4 Während der spätere Doktorvater Rothacker Schmitz immer habe reden lassen, soll Theodor Litt (1880–1962) der einzige gewesen sein, der ihn bändigen konnte. Das berichtete mir 1997 der inzwischen auch verstorbene Philosoph Otto Pöggeler (1928–2014). Wenn Schmitz in Litts Vorlesung zu reden begann, schlug dieser mit der Faust auf den Tisch, Schmitz bekam einen Schreck und brach ab, wäh­ rend Litt von da an bis zum Ende der Zeit ohne Punkt und Komma redete. Weiterhin erzählte Pöggeler: Professor Oskar Becker (1889– 1964) soll Schmitz einmal einen Brief geschickt haben: »Lieber Her­ mann Schmitz, ich mache im nächsten Semester ein Seminar über Hegel, bitte Sie aber, nicht zu kommen, da Sie nichts mehr lernen können.«5 Der 2008 verstorbene Philosoph Karl Albert (1921–2008) erzählte mir Folgendes: Rothacker hat zu einer Seminarstunde auf­ gegeben, das Verhältnis von Aristoteles zu Platon darzustellen; die meisten reden einige Minuten dazu, Karl-Otto Apel immerhin eine Viertelstunde, Schmitz jedoch eine Dreiviertelstunde. Apel muss hin­ terher getröstet werden. In einem Seminar von Professor Gottfried Martin (1901–1972) über Husserl widerspricht Schmitz nach jedem Satz von Martin, worauf dieser schließlich die Geduld verliert und gereizt fragt: »Wer sind Sie eigentlich?« »Hermann Schmitz.« »Und was sind Sie? Sind Sie ein Kollege?« »Nein, ich bin Student.« »Und in welchem Semester, wenn ich fragen darf?« »Im ersten.«6

Vgl. dazu Michael Großheim/Steffen Kluck: »Philosophie als umfassende Besin­ nung. Eine Einführung in die Lektüre von Hermann Schmitz«, in: Hermann Schmitz: Sich selbst verstehen. Ein Lesebuch, hrsg. v. Michael Großheim/Steffen Kluck, Frei­ burg/München 2021, S. 11–29, hier 15ff. 5 Gesprächsprotokoll, angelegt von Michael Großheim nach einer Begegnung mit Otto Pöggeler (1928–2014) am 07.06.1997 in Hannover. Pöggeler äußert sich zum Rothacker-Seminar auch in einem Interview mit der Zeitschrift »Information Philo­ sophie« (Otto Pöggeler: »Hegel, Heidegger und Gadamer. Erinnerungen von Otto Pöggeler«, in: Information Philosophie 34, 2006, S. 30–35, hier 30f.). In seinem Lebensbericht wird das Thema kürzer behandelt (ders.: Wege in schwieriger Zeit. Ein Lebensbericht, München 2011, S. 102f.). 6 Gesprächsprotokoll, angelegt von Michael Großheim nach einer Begegnung mit Karl Albert (1921–2008) am 06.06.1997 in Hannover. 4

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Erinnerung an Hermann Schmitz

Schmitz selbst erinnert sich, dass Professor Heinz Heimsoeth (1886–1975) beim ersten Mal aus dem Seminar gelaufen sei, als Schmitz zu reden anfing, danach habe er sich jedoch wie ein Vater um ihn bemüht.7 Im bereits genannten Manuskript »Mein wissenschaft­ licher Werdegang« denkt Schmitz besonders an die drei Genannten, Rothacker, Litt und Becker dankbar zurück: »Sie alle haben meinen damals manchmal schwer einzuhaltenden Rededrang mit großem Wohlwollen quittiert«. Ein letztes, bereits publiziertes Zeugnis soll dieses kleine Porträt eines ungewöhnlichen Studenten abrunden. Kurz nach der Bonner Studienzeit begegnet der klassische Philologe Rudolf Schottlaender (1900–1988) dem jungen Doktoranden Schmitz. In seinen Erinne­ rungen berichtet Schottlaender später: »Der erste Studienstiftler, den ich kennenlernte, war Hermann Schmitz aus Bonn […]. Überragend war er in doppelter Hinsicht: durch kör­ perlichen Wuchs und durch geistige Fähigkeiten. […] Gedächtnis und Redegabe waren bei ihm dermaßen stark, daß ihm beim Sprechen der Stoff schier unhemmbar zuströmte. […] Wenn jemand gehaltvolle, aber nicht endenwollende Ausführungen macht und obendrein erst die Mitte Zwanzig erreicht hat, schafft er sich leicht einen Ruf, der nur die Minutenzahl, aber nicht die Substanz des Diskussionsbeitrags in Betracht zieht. Schmitz war unter den jungen Philosophen der origi­ nellste Kopf, den ich je kennengelernt habe.«8

Schmitz selbst wiederum erklärt in seinem »Wissenschaftlichen Wer­ degang«, dass er im Studium Lehrveranstaltungen eher unregelmäßig besucht habe, vor allem zu dem Zweck, um Anregungen zu bekom­ men; im Wesentlichen habe er das einsame Arbeiten vorgezogen. Gleichwohl hat dieser eigenständige Arbeitsstil den späteren Dok­ torvater Rothacker nicht zur Ablehnung des jungen Studenten geführt, denn in einem Gutachten für die Studienstiftung des deut­ schen Volkes aus dem Juni 1954 heißt es: »Der cand. phil. Hermann Schmitz ist vielleicht der begabteste Philosophiestudent, der mir je

7 Gesprächsprotokoll, angelegt von Michael Großheim nach einer Begegnung mit Hermann Schmitz am 21.06.1997 in Kiel. 8 Rudolf Schottlaender: Trotz allem ein Deutscher. Mein Lebensweg seit Jahrhundert­ beginn, Freiburg 1986, S. 73f.

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begegnet ist.«9 Rothacker bittet die Studienstiftung jedoch, dem Betreffenden dies nicht mitzuteilen. Es gibt eine Stelle in Band 2 von Schmitz’ Werk Die Ideenlehre des Aristoteles, bei der ich unwillkürlich immer an Schmitz selbst den­ ken musste, der dort in seiner Art wie gespiegelt scheint. Schmitz schreibt hier über Aristoteles, mit dem er sich ja die ersten Studien­ jahre vornehmlich beschäftigt hat, aber es klingt, nach allem, was man über ihn aus der Bonner Zeit weiß, wie eine Art Selbstporträt, aller­ dings ein nicht intendiertes. Charakterisiert wird das Verhältnis des jungen Aristoteles zu seinem älteren Lehrer Platon: »Ein ungeduldiger junger Mann mit überragender intellektueller Spannkraft und analytischer Intelligenz, der alles ganz genau wissen will und keine Ausflüchte duldet, trifft auf einen sinnenden Alten, der in seinen manchmal verschwommenen Visionen eine großzügige Selbstsicherheit bewahrt hat, die er aber nicht mehr in eine dem Inqui­ renten gewachsene Schlagfertigkeit umzusetzen versteht.«10

Ich glaube, man kann ohne Bedenken sagen, Schmitz selbst war ein solcher »ungeduldiger junger Mann mit überragender intellektueller Spannkraft und analytischer Intelligenz, der alles ganz genau wissen will und keine Ausflüchte duldet«. Wer Schmitz noch aus den 1990er Jahren auf Tagungen in Erin­ nerung hat, weiß, dass er dieses ungestüme Auftreten damals auch im Alter von 60 Jahren noch nicht ganz verloren hatte. In manchen Dis­ kussionen, die sich etwa an Vorträge anschlossen, schien er in seiner Kritik über das gebotene Maß hinauszuschießen. Sein Freund Hans Werhahn und seine Schwester Isabella haben nach solchen Äußerun­ gen überschießender Kritik versucht, ihn davon zu überzeugen, dass man es in Diskussionen nicht nur mit philosophischen Positionen zu tun hat, sondern auch mit verletzbaren Menschen, die hinter diesen Positionen stehen und die mit einer so vehement vorgebrachten Kritik selbst auch möglicherweise vernichtend getroffen werden. Schmitz hat sich das damals durchaus zu Herzen genommen, und es ist in der Folgezeit immer seltener zu solchen Szenen gekommen. Es bleibt aber bezeichnend, dass er seinerzeit die in der Antike vor allem von Sokra­

9 Erich Rothacker: »Gutachten«, in: Universitätsbibliothek Bonn. NL Rothacker XVII, Mappe 9d. 10 Hermann Schmitz: Die Ideenlehre des Aristoteles. Bd. 2: Platon und Aristoteles, Bonn 1985, S. 323.

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tes entworfene strikte Trennung von Person und Position in philoso­ phischen Auseinandersetzungen so genau befolgte. Damit hängt auch seine Nicht-Beachtung aller Gebote und Ver­ bote im Sprechen zusammen. Mit einem »Aber das sagt man doch nicht!« war er nicht zu erschrecken. Das betrifft Themen wie Formu­ lierungen. Was sich in den gemeinsamen Situationen der Menschen an common sense etabliert, kann, wenn es um die Frage geht, über welche Themen in welcher Weise gesprochen werden darf, in einem Spannungsverhältnis stehen zum Geschäft der Wissenschaft, nämlich der Explikation von Tatsachen, relevanten Programmen und Proble­ men aus Situationen. Schmitz war in dieser Hinsicht sozusagen »rei­ ner« Wissenschaftler, von Rücksichten auf mögliche soziale Folgen seines Sprechens nicht beeindruckbar. Als ich Schmitz einmal den Vorwurf machte, etwas Provozieren­ des ohne Rücksicht auf seine Wirkung beim Publikum geäußert zu haben, berief er sich sofort auf Sokrates. Dieser habe doch immer wieder erklärt, die Aufgabe des Philosophen sei, die Wahrheit zu sagen, d.h. im Sinne von Schmitz Sachverhalte als Tatsachen auszu­ zeichnen, wenn sie die entsprechende kritische Prüfung überstanden haben. Und nichts anderes habe er getan. Man kann das noch verlän­ gern: Die angemessene Reaktion wäre nach Sokrates, die Tatsächlich­ keit des eben Behaupteten zu bestreiten, nicht jedoch emotional und empört den Diskurs über Tatsächlichkeitsfragen zu transzendieren, weil jemand etwas gesagt hat, was sich nicht gehört. In diesem Zusammenhang ist auch eine Kritik angesiedelt, die Schmitz früher öfter an den Umgangsweisen übte, die in der scientific community des Universitätsfaches Philosophie herrschten. Schmitz beschrieb das in einem Bild: Die Vertreter des Faches sitzen an einem Tisch und werfen sich oberhalb des Tisches lauter Komplimente zu (»Ein brillanter Vortrag! Ich habe sehr viel gelernt!«), während sie jedoch unterhalb des Tisches damit beschäftigt sind, sich gegenseitig zu treten und zu behindern, ohne dass diese Aktionen transparent werden und zuzuordnen sind. Schmitz hat dagegen immer nach­ drücklich verlangt, dass die Uneinigkeit, soweit sie Sachfragen betrifft, oberhalb des Tisches auszutragen ist, mit Worten und in Diskussio­ nen, die durchaus auch einmal heftig werden durften – dagegen hatte er nichts. Freilich liegt man nicht falsch, wenn man festhält, dass Diplomatie in Sachfragen nicht seine Stärke war.

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In einem Brief an seinen langjährigen Korrespondenzpartner Professor Jean Lassner (1913–2007) schreibt er 1998: »Kritisieren Sie mich ruhig ohne Sorge. Ich ärgere mich nicht so leicht. […] Kritik ist mir grundsätzlich erwünscht als Herausforderung, etwas abermals zu durchdenken und vielleicht zu korrigieren oder besser zu formulieren. Nur wenn ich bösen Willen oder grobe Rücksichtslosig­ keit zu treffen glaubte, würde ich einschnappen. Sonst ist, wenn ich mich nicht irre, meine Toleranz gegen persönliche Eigenarten ziemlich groß.«11

Tatsächlich hat er auch solche Reaktionen aus bösem Willen erfahren müssen, aber das gehört natürlich zum akademischen Leben dazu. Wenn man nach einer Zusammenfassung des eben über Schmitz Ausgeführten sucht – ein Wissenschaftler, der sich weniger um Rück­ sichten auf Menschen als vielmehr um die Sachen kümmert –, dann kann man bei Schopenhauer fündig werden. Dieser (Schmitz sonst nicht unbedingt nahestehende) Philosoph macht nämlich eine inter­ essante Bemerkung über ungewöhnliche Geister: »Weil ihre Erkenntniß sich zum Theil dem Dienste des Willens entzo­ gen hat, werden sie im Gespräche nicht sowohl an die Person denken, zu der, sondern mehr an die Sache, wovon sie reden, die ihnen lebhaft vorschwebt: daher werden sie für ihr Interesse zu objektiv urtheilen oder erzählen, nicht verschweigen, was klüger verschwiegen bliebe u.s.w. Daher endlich sind sie zu Monologen geneigt und können über­ haupt mehrere Schwächen zeigen, die sich wirklich dem Wahnsinn nähern.«12

In dem Text der Todesanzeige, die drei Tage nach Schmitz’ Tod in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist, habe ich geschrieben: »Hermann Schmitz hat sein Leben im Ganzen der Philosophie gewid­ met und ist damit weit über alles hinausgegangen, das zu einer beruf­ lichen Existenz als Professor gehört.«13 Das verdient vielleicht noch einige Erläuterungen, damit klarer wird, was damit gemeint ist. Brief Hermann Schmitz an Jean Lassner v. 11.10.1998. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band (=Werke in fünf Bänden, hrsg. v. L. Lütkehaus, Bd. 1), Zürich 1988, S. 258. 13 Der vollständige Text der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienenen Anzeige lautet: »Hermann Schmitz hat sein Leben im Ganzen der Philosophie gewid­ met und ist damit weit über alles hinausgegangen, das zu einer beruflichen Existenz als Professor gehört. Es ist ihm vergönnt gewesen, die großen wissenschaftlichen Vorhaben, die er schon früh für sich entwickelt hat, in unermüdlicher, über 60 Jahre 11

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Ich ziehe dazu den umfangreichen wissenschaftlichen Briefwech­ sel von Schmitz heran, der zur Zeit in der Hermann Schmitz-For­ schungsstelle in Rostock liegt. Damit man sich vorweg schon ein Bild des Umfangs machen kann, füge ich noch den Hinweis hinzu, dass es sich um rund 50 vollgepackte Leitz-Ordner handelt. Wenn man nun darin liest, lässt sich bei den interessanteren Korrespondenzen ein gewisses Muster erkennen, und zwar gerade bei denjenigen, die bereit sind, sich auf einen Briefwechsel mit Schmitz einzulassen. Die fol­ genden Beobachtungen – das sei vorausgeschickt – verfolgen keiner­ lei Wertungsinteresse, es geht allein darum, einen weiteren Aspekt der Erinnerung an den Verstorbenen angemessen zum Ausdruck zu bringen. Bisher habe ich bei meinen Recherchen im Briefwechsel nieman­ den gefunden, der ihm längerfristig gewachsen gewesen wäre, d.h. auf seine stets rasch erfolgenden und sich über viele handgeschriebene Seiten erstreckenden Antworten in demselben Tempo zu reagieren vermochte. (Fast) alle Korrespondenten kapitulieren früher oder spä­ ter, weil sie nicht mit der geistigen Energie mithalten können, die Schmitz aufzubieten in der Lage ist, während andere einfach höf­ lich »mauern«, d.h. jederzeit ihren Respekt zu bekunden bereit sind, während sie es aber konsequent vermeiden, sich inhaltlich auf Schmitz-Ausführungen einzulassen, geschweige denn diese in ihren eigenen thematisch naheliegenden Forschungen zu berücksichtigen. Öfter stößt man auf das Geständnis eines Briefpartners, man könne leider wegen der sonstigen beruflichen Belastung jetzt keine ange­ messene Antwort geben. Es zeigt sich also auch im Briefwechsel, dass ein »reiner« Philosoph wie Schmitz die Menschen, die neben der Phi­ losophie auch noch ein nach vielen Richtungen hin entfaltetes »gewöhnliches« Leben führen, überfordert. Das ist jetzt ausdrücklich nicht bewertend gemeint, ich konstatiere lediglich und versuche zu verstehen, woher manche der Schwierigkeiten kommen, die Schmitz in der Rezeption hat.

dauernder Arbeit auch zu verwirklichen. Wer sein Denken aufmerksam verfolgte, konnte nicht anders als tief beeindruckt sein von der Konsequenz, mit der hier jemand das Gesetz befolgte, nach dem er angetreten war. Wer das Glück hatte, ihn persönlich zu kennen, begegnete jemandem, der dem Leben der Menschen durch Nachdenken zu dienen versuchte. Wir sind dankbar für das gewaltige Werk, das er uns hinterlässt, weil es Begriffe und Perspektiven bietet, die Menschen dabei helfen, das, was sie erfahren, besser zu verstehen.«

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Auf die Probleme in der Schmitz-Rezeption möchte ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen. Ich begnüge mich, was die Aussichten angeht, mit einer Bemerkung, die ich einmal bei Diderot gefunden habe: »Das Verdrießlichste dabei ist dieses, daß den Menschen nicht eher Gerechtigkeit widerfährt, als bis sie nicht mehr sind. Erst muß man ihnen ihr Leben sauer gemacht haben, ehe man eine Handvoll geruchloser Blumen auf ihr Grab streuet.«14 Bevor ich diese Erinnerung beende, soll das philosophische Prob­ lem, das mit dem Tod eines Menschen deutlich wird, noch einmal aus einer anderen Perspektive ins Auge gefasst werden. Dazu übergebe ich das Schlusswort quasi an Schmitz selbst. In seinem 1999 erschie­ nenen Buch Der Spielraum der Gegenwart heißt es: »Die Zeit quält die Menschen durch die Grausamkeit des Abschieds von dem, was nicht mehr ist.«15 Natürlich ist die Qual gering, wenn es nur um ein paar schöne Tage geht, die schließlich vorbei sind. Schmerzhafter ist der Abschied schon, wenn Menschen sich endgültig trennen; dann bleibt nur die Erinnerung an die Person und im Falle von Schmitz auch das Werk, an dem er – das charakterisiert ihn gut – noch bis wenige Tage vor seinem Tode gearbeitet hat.

Literaturverzeichnis Diderot, Denis: Das Theater des Herrn Diderot, übers. v. Gotthold Ephraim Les­ sing, Stuttgart 1986. Großheim, Michael/Steffen Kluck: »Philosophie als umfassende Besinnung. Eine Einführung in die Lektüre von Hermann Schmitz«, in: Hermann Schmitz: Sich selbst verstehen. Ein Lesebuch, hrsg. v. Michael Großheim/Steffen Kluck, Freiburg/München 2021, S. 11–29. o.V.: »Laudatio für Professor Hermann Schmitz«, in: Dr. Margrit Egnér-Stiftung (Hrsg.): »Zeit und Zeitgeist.« Festschrift zur Preisverleihung 2014, Zürich-Mei­ len 2014, S. 15ff. Pöggeler, Otto: »Hegel, Heidegger und Gadamer. Erinnerungen von Otto Pög­ geler«, in: Information Philosophie 34, 2006, S. 30–35. Pöggeler, Otto: Wege in schwieriger Zeit. Ein Lebensbericht, München 2011. Rothacker, Erich: »Gutachten«, in: Universitätsbibliothek Bonn. NL Rothacker XVII, Mappe 9d.

Denis Diderot: Das Theater des Herrn Diderot, übers. v. Gotthold Ephraim Lessing, Stuttgart 1986, S. 292. 15 Hermann Schmitz: Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 161.

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Schmitz, Hermann: Die Ideenlehre des Aristoteles. Bd. 2: Platon und Aristoteles, Bonn 1985. Schmitz, Hermann: Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999. Schmitz, Hermann: »Tod und Grab«, in: ders./Gabriele Marx/Andrea Moldzio: Begriffene Erfahrung. Beiträge zur antireduktionistischen Phänomenologie, Ros­ tock 2002, S. 137–147. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band (=Werke in fünf Bänden, hrsg. v. L. Lütkehaus, Bd. 1), Zürich 1988. Schottlaender, Rudolf: Trotz allem ein Deutscher. Mein Lebensweg seit Jahrhun­ dertbeginn, Freiburg 1986.

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Philosophieren in Briefen Zur wissenschaftlichen Korrespondenz zwischen Hermann Schmitz und Gernot Böhme

1. Einführung Nicht einmal ein Jahr liegt zwischen dem Tod von Hermann Schmitz am 5. Mai 2021 in Kiel und dem von Gernot Böhme am 20. Januar 2022 in Darmstadt. Während Schmitz sich allmählich aus der Öffent­ lichkeit zurückgezogen hatte, kam Böhmes Ableben eher unerwartet, denn er wirkte noch aktiv als Direktor des von ihm 2005 initiierten Instituts für Praxis der Philosophie in Darmstadt. Am Abend seines Todestages standen die Teilnehmer*innen seines Kurses »Zeiterfah­ rung und Zeit-Sein« am Darmstädter Literaturhaus vor verschlosse­ nen Türen – eine Situation, die zu dem Thema »Zeit-Sein« passt. So sollte Böhme auch zu dem Symposion der Gesellschaft für Neue Phänomenologie im April 2022 nach Rostock kommen und zum Andenken an seinen wichtigsten Lehrer sprechen. Er sollte gleichsam abschließen, was er zu Lebzeiten von Schmitz schon früh und fleißig getan hatte: ihn würdigen, die Neue Phänomenologie historisch ein­ ordnen und ihre Zukunftsfähigkeit ausleuchten. Dieses Mal sollte es aber eine Besonderheit geben, denn nicht Schmitz allein sollte im Fokus stehen, sondern das Philosophieren mit ihm, und zwar anhand ihres langjährigen Briefwechsels – kein gewöhnliches Vorhaben, aber die Idee ist keineswegs abwegig und leuchtet nach Kenntnis der Kor­ respondenz vollends ein. In Böhmes nachgelassenen Unterlagen fan­ den wir nichts Schriftliches zu diesem für Rostock vorgesehenen Vor­ trag und so wissen wir nicht, was genau er vorhatte, noch dazu als ein an der Korrespondenz Beteiligter. Doch eines ist klar: Dieser Brief­ wechsel zwischen Schmitz und Böhme ist in weiten Teilen eine phi­ losophische Auseinandersetzung. Er ist Dokument eines Dialogs, der in dieser persönlich adressierten Verschriftlichung eine teilweise

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Ute Gahlings

ungewöhnliche Dichte aufweist. Das Medium des Briefes ermöglicht ja andere Zugangsweisen als die Zwiesprache vis à vis oder der aka­ demische Diskurs. Die beiden doch recht unterschiedlichen Persön­ lichkeiten, die Schmitz und Böhme zweifellos waren, sind hier eigen­ tümlich präsent. Indem sie miteinander umgehen, auf Fragen, Bedenken und Kritik eingehen, kommt auch ihre philosophische Hal­ tung zum Ausdruck, geeint von einem eindringlichen Interesse am anderen und einer Zugewandtheit, die letztlich im Streben nach Erkenntnis fundiert ist. So dokumentiert der Briefwechsel das Wach­ sen und Reifen einer Beziehung, ja Freundschaft, die atmosphärisch intensiv und vielschichtig angereichert ist.

2. Formales Es ist bemerkenswert, dass Böhme, was seinen eigenen Nachlass anging, nur in diesem einen Fall selbst eine Vorsorge getroffen hat, indem er nämlich die Briefe von Schmitz an die Hermann-SchmitzForschungsstelle nach Rostock gegeben hat, dazu etliche Kopien sei­ ner eigenen Briefe – ein ordentliches Konvolut von 156 Briefen mit ein paar zugeordneten Korrespondenzen anderer. Der mir in Form von Scans zur Verfügung gestellte Briefwechsel beginnt am 12. Mai 1969 mit einem Brief von Schmitz an Böhme, in dem er sich für die »ausführliche und eindringliche Besprechung« seines Buches Der Leib1 bedankt, die Böhme ihm geschickt hatte. Das letzte Dokument aus dem Rostocker Schmitz-Archiv ist ein Brief von Schmitz an Böhme vom 18. Januar 2006. Nimmt man zwei von mir noch am Institut für Praxis der Philosophie in Darmstadt gefundenen Origi­ nalbriefe von Schmitz aus dem Jahr 2014 hinzu, die ich dem Rostocker Bestand als Ergänzung übergeben habe, dann können wir für die briefliche Freundschaft eine beachtliche Zeitspanne von 45 Jahren definieren. In der mir vorliegenden Sammlung gibt es keinen handschriftli­ chen Brief von Böhme, wohingegen von Schmitz vor allem nach seiner Emeritierung fast nur noch Handschriftliches überliefert ist. Die Kopien der Briefe von Böhme liegen auch nicht vollständig vor. Doch selbst wenn einige Briefe fehlen, deren Originale vermutlich im Schmitz-Archiv sind und noch nicht digitalisiert wurden, so ist doch 1

Das ist Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. II/1: Der Leib, Bonn 1965.

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festzuhalten, dass Schmitz der eifrigere und ausführlichere Briefe­ schreiber gewesen ist. Er antwortet meist umgehend und scheint sich geradezu in der Pflicht zu sehen, den Gedankenaustausch unmittelbar fortzusetzen. Angesichts der häufig artikulierten Freude daran, folgt er aber sicher auch einer Neigung. Dabei sind seine Briefe in eine Atmosphäre wohlwollender Verbindlichkeit getaucht: Schmitz bringt zum Ausdruck, wie ihn der Dialog anregt und ihn zu weiterem Aus­ tausch ermutigt. Der Strom affirmativer Bezogenheit reißt auch dann nicht ab, wenn Differenzen im Philosophieren deutlich werden. Schmitz schreibt einmal treffend, dass man in einem solchen Aus­ tausch auch etwas aushalten und mit Widersprüchen leben muss. Böhme lässt sich in der Regel etwas Zeit mit seinen Antworten, schreibt auch nicht so viele Seiten und hält sich keinesfalls mit einer persönlichen, gleichsam rituellen Rahmung auf. Meist geht er gleich in medias res. Dabei wirkt Böhme eher distanziert, keineswegs so verbindlich und zugewandt wie Schmitz, vor allem am Anfang des Briefwechsels. Dieser Umstand ist sicher eine Frage des persönlichen Stils, aber, bezogen auf die Länge und Häufigkeit der Briefe, wohl auch der Lebensumstände. Böhme pflegte ein Familienleben mit fünf Töch­ tern, später auch 13 Enkelkindern, während Schmitz in einer Lebens­ form des einsamen Denkers ganz auf sein Werk gerichtet war, was er in einem Interview einmal als eine Art persönliches Opfer bezeichnet hat;2 eine der wenigen Bemerkungen des sonst in privaten Dingen so zurückhaltenden Schmitz. So ist auch für den Briefwechsel durchweg bezeichnend, dass er weitgehend freigehalten wird von Themen des Privatlebens. Wenn man hin und wieder doch einmal von Schmitz erfährt, dass er etwa nach Sylt auf Urlaub geht oder sich einem kurzen medizinischen Ein­ griff unterziehen muss, dann nur, um eine mögliche Verzögerung sei­ ner Antworten vorab anzukündigen. Nachdem sich die beiden viele Male persönlich getroffen haben und sich offenbar auch aus ihrem Leben erzählt haben, findet man ab und zu eine besondere Anteil­ nahme von Schmitz an Ereignissen in Böhmes Leben, so z.B. in einem 2 Schmitz sagt im Interview mit Inna Barinberg und Simone Miller (Hermann Schmitz: »Gefühle sind keine Privatsache«, in: Philosophie Magazin 2, 2017, S. 70– 75, hier 75): »Ich sehe mein Leben […] wie eine gerade Linie des Vorwärtskommens. So geradlinig konnte mein Leben auch deshalb nur sein, weil ich mich nicht familiär gebunden habe. Daher war es auch mit großen Verlusten verbunden, denn es wäre schön gewesen, eine Familie zu haben. Es hat sich aber erwiesen, dass ich die Ein­ samkeit brauche zum Denken.«

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wunderschönen Brief zur Geburt der jüngsten Tochter Rebecca (Schmitz an Eheleute Böhme, 13.3.1986). Jedoch zeichnet sich diese Korrespondenz im Ganzen dadurch aus, dass sie ein Philosophieren ist.

3. Die Situation der Schreibenden Dieser philosophische Charakter hängt sicher damit zusammen, dass er überwiegend in den beruflichen Kontexten entstanden ist, in den Gebäuden, Räumen und individuellen Büros der Institute an den Uni­ versitäten. Bei Böhme waren dies Hamburg, Heidelberg, dann Starn­ berg und München, schließlich Darmstadt, bei Schmitz ausschließlich Kiel. Den Gepflogenheiten entsprechend waren auch Sekretärinnen in die Korrespondenz involviert. Ich weiß nicht, wie Schmitz es gehandhabt hat, aber es findet sich einmal eine Stelle, wo er sich dafür entschuldigt, den Brief auf die Schnelle direkt in die Maschine der Sekretärin diktiert zu haben – das war also eine Ausnahmesituation. So wird er entweder handschriftliche Vorlagen angefertigt oder aber in ein Diktiergerät gesprochen haben. Dies war jedenfalls bei Böhme der Fall, spätestens als er in Darmstadt Professor wurde. Seine Sekre­ tärin hat immer vom Band abgetippt. Anfangs hat Böhme wohl auch manchmal selbst getippt und später den Computer verwendet, ein Schritt, den Schmitz nicht gegangen ist. Im dienstlichen Kontext durchläuft das Briefeschreiben einen mehrstufigen Prozess: nachdenken, formulieren, als Vorlage auf­ schreiben oder diktieren, ins Sekretariat geben, das Getippte erneut lesen, eventuell noch handschriftliche Korrekturen anbringen, unter­ schreiben und den Versand veranlassen. Im Gegenzug dazu entsteht ein handschriftlicher Brief gewöhnlich anders: Man sitzt an einem Tisch, hat ein Blatt Papier mitsamt Schreibwerkzeug zu Händen und besinnt sich auf den Adressaten und den Anlass des Briefes. Der andere kommt dadurch in die Sphäre des Schreibenden hinein. In die­ ser Vergegenwärtigung formt man mit den Gedanken die Sätze und mit dem Stift die Wörter auf dem Papier. Das Schreiben ist ein hoch­ komplexer dynamischer Vorgang der Einleibung mit Schreibwerk­ zeug, Papier und Tisch unter fokussierter Beteiligung der Schreib­ hand. Ist etwa noch flüssige Tinte im Spiel, ist besondere Achtsamkeit vonnöten. Letztlich koagieren beide Hände und Arme, und darin liegt eine Herausforderung für die gesamtleibliche Lotung. Als lange ein­

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geübte Kulturtechnik kann dieses Procedere vollends in den Hinter­ grund treten, so dass dem Schreibenden seine Gedanken gewisser­ maßen in die Feder fließen. Darin kann sich eine ungeheure Dynamik entfalten, zuweilen auch ein Zugang zu sonst ungewohnten Gedan­ ken- und Ausdruckswelten. Nicht umsonst hat André Breton dem automatischen Schreiben einen hohen Stellenwert für die Öffnung des Unbewussten eingeräumt.3 Nicht selten – wer kennt das nicht – wird ein Blatt zerknüllt und neu angesetzt, wenn man sich verschrieben hat oder das Schriftbild nicht gut aussieht oder weil man eben doch dem anderen nicht das präsentieren möchte, was einem so in die Feder eingeflossen ist. Schließlich kommt der Brief mit den atmosphärischen Anhaftungen dieser Situation in die Hände des Empfängers. Gewiss ist diesem also: dieses Papier hat sich einmal in den Händen des Schreibers befunden – das hatte früher große Bedeutung, z.B. bei Liebesbriefen. In der Briefkultur waren die Schreibenden mit privaten und individuellen Zeugnissen sehr erfinderisch. Briefpapier unterschied sich immer von normalem Papier und hat sich ästhetisch vielfältig präsentiert, es war oder wurde teilweise sogar parfümiert, um beim Lesen eine oder die persönliche Duftnote zu unterbreiten. Und es kursierten abenteuer­ liche Briefbeigaben, wie abgeschnittene Haarsträhnen und anderes mehr.4 Doch schon die Handschrift ist ja ein unverwechselbarer Aus­ druck der Persönlichkeit. Sie hat selbst eine eigentümliche Ästhetik, verfügt über synästhetische Qualitäten und erwirkt Bewegungssug­ gestionen, und sie bleibt sich selbst prinzipiell gleich. Auch wenn sie sich im Lebensverlauf etwas verändert, ist sie doch individuell immer identifizierbar. Situativ kann die Handschrift jedoch auch Nuancen im Ausdruck von Gefühlen verraten. So wird die Hand im Zorn anders schreiben als in Liebe oder Trauer. Ludwig Klages wusste Charakter­ züge, mitunter sogar momentane Stimmungen aus dem Schriftbild Vgl. André Breton: Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek 2004. Die Klassik Stiftung Weimar hat in der Ausstellung »Allerlei Mitgeschicktes. Briefe an Goethe und ihre Beilagen« im Jahr 2018 Briefe an Goethe und einige ihrer Beilagen aus verschiedenen graphischen, numismatischen, mineralogischen und naturwissen­ schaftlichen Sammlungen zusammengeführt. Darunter befanden sich Urkunden, Münzen, Medaillons, Mineralien und andere Naturprodukte, zwei Faschingsorden und ein in Russland gebackenes Stück Brot. Zur Briefkultur allgemein vgl. Marie Isabel Matthews-Schlinzig/Jörg Schuster/Gesa Steinbrink/Jochen Strobel (Hrsg.): Hand­ buch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Bd. 1: Interdisziplinarität – Sys­ tematische Perspektiven – Briefgenres, Berlin/Bosten 2020. 3 4

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einer Person zu rekonstruieren und verschaffte der Graphologie im Kontext der Charakterologie und Ausdrucksdeutung wissenschaftli­ che Geltung.5 Wie viel Persönliches geht doch verloren, wenn wir nur noch über den Computer normiert kommunizieren. Böhme hat sich viel mit den Auswirkungen der Digitalisierung beschäftigt.6 Er wollte analoge Kompetenzen stärken und fing zuletzt wieder an, handschriftliche Briefe zu verfassen. Bei getippten Briefen ist die Unterschrift das ein­ zige Signum persönlicher Anwesenheit. In der internetbasierten Kommunikation wird selbst dieser Ausdruck individueller Präsenz mittlerweile durch eine digitale Signatur per Mausklick ersetzt. Als ich den eingescannten Briefwechsel gelesen habe, war es ein völlig anderes Gewahrwerden, als ich dann am Ende die vielen handschrift­ lichen Briefe von Schmitz vor mir hatte. Sie hatten eine andere Aura und vermittelten viel mehr persönliche Anmutung. Und als ich dann am Institut für Praxis der Philosophie noch die beiden Origi­ nalbriefe von Schmitz in der Hand hielt, konnte ich diese sogar hap­ tisch erfahren. Ich konnte mit den Fingern über die Schriftzüge fahren und die hauchdünnen Vertiefungen erspüren, die sie auf dem Papier hinterlassen hatten. Und ich fühlte die eigentümliche Schwere des Briefpapiers – eine ganz andere Erfahrung als meine Lektüre am Bild­ schirm oder mit den Ausdrucken der Scans auf gewöhnlichem Dru­ ckerpapier.

4. Die unterschiedlichen Rollen im Briefwechsel Was nun unsere beiden Briefschreiber angeht, so besteht von Anfang an eine gewisse Asymmetrie der Verhältnisse. Sie liegen im Alter immerhin fast neun Jahre auseinander, Schmitz wurde am 16. Mai 1928 in Leipzig und Böhme am 3. Januar 1937 in Dessau geboren. Sie unterscheiden sich auch hinsichtlich der erreichten Qualifikation und Position. Schmitz wurde 1955 bei Erich Rothacker (1888–1965) pro­ moviert, Böhme 1966 bei Hermann Krings (1913–2004). Im Mai 1969, am Beginn des Briefwechsels, war Schmitz bereits als habili­ Vgl. Ludwig Klages: Der Mensch und seine Handschrift, Bouvier 1983. Vgl. Gernot Böhme/Ute Gahlings (Hrsg.): Kultur der Privatheit in der Netzgesell­ schaft, Bielefeld 2018; Gernot Böhme (Hrsg.): Analoge Kompetenzen im digitalen Zeit­ alter, Darmstadt 2022. 5

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tierter Assistent am Philosophischen Seminar in Kiel tätig und hatte dort ab 1971 einen der beiden Lehrstühle für Philosophie übernom­ men. Böhme war wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. Assistent bei Carl F. von Weizsäcker (1916–2007) in Hamburg, später bei Georg Picht (1913–1982) in Heidelberg. Schmitz begleitet Böhme also auf seinem Karriereweg, ans Max Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt, bei seiner Habilitation in München, schließlich zur Professur nach Darmstadt. Er gratuliert später zur Berufung auf die C4-Professur nach Dort­ mund, die Böhme jedoch ausschlug. Dieser wiederum hat nur einmal Anlass, Schmitz zu einem Karriereschritt zu beglückwünschen, als er 1988 in der Nachfolge Kurt Hübners (1921–2013) mit dem Ordinariat auch die Leitung des Philosophischen Instituts in Kiel übernahm. Nur für die ersten Briefe ist charakteristisch, dass beide sich mit ihren akademischen Titeln ansprechen. Aus dem »sehr geehrter Herr Dr.« bzw. »Herr Professor« wird schnell ein »lieber Herr Böhme« bzw. »Schmitz«. Bis zuletzt siezen sie sich. Schmitz verabschiedet sich immer verbindlich mit »Ihr Hermann Schmitz«; Böhme schließt sich dem – soweit ersichtlich – nach einer Weile an und ist dann auch stets »Schmitzens« Böhme. Beide schicken gern Sonderdrucke, Manu­ skripte oder Bücher zur Vertiefung des in den Briefen Erörterten mit. Die Rollenverteilung ist zu Beginn eindeutig: Böhme tritt als derjenige auf, der durch Schmitz Denkanstöße erhält und sein Ver­ ständnis für die Eigentümlichkeiten seiner Philosophie schärft. Zugleich sieht er eine große Kongruenz mit der Neuen Phänomeno­ logie. Schmitz wiederum entdeckt sofort, dass Böhme ihn versteht und in Grundzügen mit ihm übereinstimmt. Er bestärkt ihn in dieser Auseinandersetzung und vor allem erkennt er in Böhme einen wich­ tigen Multiplikator. Der Briefwechsel dient also einer Verständi­ gung. Böhme wird durch seine eigenen Bemühungen und durch den Austausch mit Schmitz in die Lage versetzt, zum Bekanntwerden von Schmitz in der philosophischen Welt beizutragen. Er verweist in sei­ nen Werken beharrlich auf Schmitz, in Zeiten, als das sonst fast nie­ mand »wagte«, und schreibt den ersten englischsprachigen Aufsatz über ihn.7 Durch den verständigen, aber auch eigenwillig agieren­ den Böhme werden der Ausbreitung und Anerkennung der Neuen Vgl. Gernot Böhme: »A Characterization of Hermann Schmitz’s Phenomenology. Rezension zu Schmitz: System der Philosophie«, in: Man and World 5, 1972, S. 363– 372. 7

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Phänomenologie die Wege gut bereitet. Der Briefwechsel ist ein inter­ essantes Dokument dieser von ungeheurer Fleißarbeit getragenen Mission Böhmes. Schon in den ersten Briefen zeichnen sich Grundthemen der Korrespondenz und eben diese Grundkonstellation des Verhältnisses ab. Da ist zunächst die Würdigung: Was Böhme zum Buch Der Leib8 schreibe, sei, so Schmitz, nicht bloß eine Besprechung, vielmehr würde er »den Aufsatz jedermann als Einführung in meine Gedan­ kengänge empfehlen können« (SaB, 12.5.1969).9 Es folgt die Aner­ kennung eigener Anknüpfungspunkte: Schmitz ist nämlich »durchaus einverstanden« mit Böhmes existenzialer Auffassung »des Leibes als Möglichkeit und Aufgabe«. Offenbar hat Böhme bereits 1969, inspi­ riert durch das Leibbuch von Schmitz, sein eigenes Werk Leibsein als Aufgabe10 von 2003 keimhaft vorausgedacht – die Rezension trägt diesen Titel.11 Schließlich ermutigt Schmitz Böhme zu weiteren Besprechungen: Schon in seinem ersten Brief kündigt Schmitz die Veröffentlichung seines Buches Der Gefühlsraum12 mit den Worten an: »Sie scheinen mir in meine Gedanken so gut eingearbeitet zu sein, daß ich Ihnen das Vermögen zu einer angemessenen Besprechung […] zutraue.« (SaB, 12.5.1969) Böhme sieht dies durchaus als Wagnis bzw. Herausforderung, erwidert dann aber folgsam: »Es würde mir auf jeden Fall Spaß machen, der Diskussion Ihres Werkes in Philoso­ phischen Fachkreisen zu dienen.« (BaS, 8.6.1969) Die Rezension erschien 1971.13 – Es ist ein typisches Muster des Briefwechsels, dass Schmitz auf Böhmes Rezensionen mit ihren durchaus kritischen Ein­ würfen ausführlich reagiert, seine Gedanken schärft und Bedenken zerstreut. Darin werden Korrekturen, aber auch Dissense sichtbar.

8 Vgl. Schmitz: System II/1. Die Rezension, die Böhme veröffentlicht hatte, ist Gernot Böhme: »Leibsein als Aufgabe. Rezension von Hermann Schmitz: System der Philo­ sophie Bd. II/1«, in: Hippokrates 40, 1969, S. 185ff. 9 Für die Referenzen der Briefe werden durchweg die Abkürzungen »SaB« für Schmitz an Böhme sowie »BaS« für Böhme an Schmitz verwendet. 10 Gernot Böhme: Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Kusterdingen 2021. 11 Vgl. Gernot Böhme: »Leibsein als Aufgabe«. 12 Das ist Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. III/ 2: Der Gefühlsraum, Bonn 1969. 13 Vgl. Gernot Böhme: »Der Gefühlsraum. Rezension von Hermann Schmitz: System der Philosophie Bd. III/2«, in: Philosophische Rundschau 18, 1971, S. 36ff.

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5. Begriff und Methode der Phänomenologie In einem Brief vom Juni 1969 schreibt Böhme, wie tief er von der Übereinstimmung mit Schmitz bezüglich eines zentralen Ausgangs des Philosophierens getroffen ist, nämlich dem Thema der Gegen­ wart. Er hatte den ihm von Schmitz zugesandten Vortrag »Ein Beitrag der Philosophie zur ärztlichen Selbstkritik« gelesen. Was Schmitz dort »über den Verlust der Gegenwart durch projizierende Lebenshaltung« sagt, trifft offenbar Böhmes eigene Bemühungen (BaS, 8.6.1969). Er fühlt sich ermutigt, ihm einen eigenen Text zu übermitteln, »Versuche da zu sein«, der erneut vorwegnimmt, was Böhme später nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch qua Einübung aufgreift: die Rück­ gewinnung der Gegenwart im Gegenzug zu den Lebensmodi der Ent­ rückung durch projizierende Haltung, vor allem durch technische Apparate. Schmitz liest den Text mit »lebhaftem Interesse«, ist im Grundsatz einverstanden und doch sieht er eine Schwäche des Ansat­ zes darin, dass er nur »private Erfahrungen«, wie z.B. die »leibliche Liebe« verarbeite (SaB, 16.6.1969). Schmitz eröffnet daraufhin ein wichtiges Themenfeld des Briefwechsels: Begriff und Methode der Phänomenologie. Dabei tritt er flammend verteidigend auf: »An dieser Stelle darf ich wohl einen Augenblick apologetisch werden.« (SaB, 16.6.1969) Er wehrt sich gegen den von Böhme in der Besprechung des Leibbuches vorgebrachten Vorwurf an ihn und Jean-Paul Sartre, sie hätten nicht das richtige »Verständnis für die Geschlechtsliebe und ihre Manifes­ tation im Geschlechtsakt« aufgebracht. Böhmes Behandlung »der leiblichen Liebe« in dem Text »Versuche da zu sein« sei aber doch allzu sehr auf intime Zweisamkeit eingeschränkt. Vom »phänomenologi­ schen Standpunkt aus ist es immer ratsam, bei einer möglichst allge­ meinen Gattung anzusetzen«, die dann ein »breites Spektrum mög­ licher Spezialisierung unter sich hat«. Schmitz findet die »Hinsichten«, mit denen beide »an diesen Phänomenkreis herange­ hen«, doch sehr verschieden, indes artikuliert er klar, dass beide von ordinären Auffassungen der Gegenwart abweichen, ist also gleich wieder zum Anschluss bereit. Böhme erwidert, dass er »das Problem des Leibes in seiner Abhängigkeit von der Lebenspraxis betrachte« (BaS, 29.4.1970), eine Feststellung, die erneut in dieser frühen Phase vorausweist auf Böh­ mes Weg der Leibphilosophie auch hin zur Lebenskunst und Praxis der Philosophie. Er möchte dazu ein Projekt am Starnberger Max

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Planck-Institut einbringen und wünscht ein persönliches Treffen und Beratungen dazu mit Schmitz. Auch wenn Böhme am Ende keine Mehrheit für sein Vorhaben findet, ist dieses doch der Anlass einer ersten Begegnung der beiden Philosophen in Kiel. Viele weitere per­ sönliche Treffen und eine gemeinsame Reise nach Japan werden fol­ gen. Die Besprechungen Böhmes verleiten Schmitz dazu, seine eige­ nen Gedanken noch einmal zu komprimieren. Dies wird auch in einem Brief deutlich, in dem Schmitz den Unterschied seiner phänomeno­ logischen Methode zu der von Edmund Husserl auf folgenden Punkt bringt: Sie unterscheide sich dadurch, »daß die drei Ideen der apodik­ tischen Evidenz, der intersubjektiven Verbindlichkeit und der natür­ lichen Weltanschauung nur noch als regulative Prinzipien gelten«. (SaB, 3.11.1970) Damit hat Böhme nun aber Schwierigkeiten und der Antwort ist eine deutliche Irritation zu entnehmen. Sie berührt Grundsätzliches in der Bestimmung von Phänomenologie und Wis­ senschaft, später wird es auch speziell um das Verhältnis von Phäno­ menologie und Naturwissenschaft gehen. Hier sieht Böhme die Phä­ nomenologie in gewisser Spannung zum Anspruch der Wissenschaftlichkeit: »Wie aber sollte man für Ihre Phänomenologie den regulativen Gebrauch der Ideen der Apodiktizität und der intersubjektiven Allge­ meinheit systematisch begründen? Oder welchen Sinn haben sie, wenn man das nicht tut, oder gar aus systematischen Gründen nicht kann? Sie folgen doch wohl aus der kontingenten Forderung, daß Phänome­ nologie als Wissenschaft auftreten soll. Aber warum das? Warum über­ haupt Phänomenologie? Der Phänomenologie ist, glaube ich, heute die Aufgabe gestellt, den Totalitätsanspruch der Wissenschaft einzu­ schränken. Sie hat dieser gegenüber das Recht des Subjektiven, des Unbestimmten, des Chaotischen, der Nicht-Identischen (Adorno), kurz: des Ephemeren zu verteidigen. Um diesem ephemeren Charakter der Phänomene gerecht zu werden, muß sie die Bedingungen der All­ gemeinheit und der Apodiktizität abschütteln. Freilich muß sie sich gerade wegen ihrer historischen und sozialen Aufgabe den Bedingun­ gen wissenschaftlicher Disziplin unterwerfen. Aber diese Bedingungen entsprechen doch nicht ihren immanenten Prinzipien. Soll man denn, indem man sich auf Kants Rede vom regulativen Gebrauch beruft, unterstellen, daß das Ideal der Wissenschaft, nämlich Notwendigkeit und Allgemeinheit ihrer Erkenntisse, das ihre ist? So daß die phäno­ menologische Forschung sich der Maxime unterwürfe, sich diesem Ideal unendlich anzunähern? Aber würde dann nicht gerade, wessen

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sie sich annimmt, das unbestimmte, singuläre, chaotische Phänomen, wieder verschwinden?« (BaS, 1.12.1970)

Ein mutiges und interessantes Plädoyer von Böhme. Es wäre ihm »lieb«, Schmitz’ens Meinung zu erfahren, und so lange wolle er die in Arbeit befindliche Besprechung zurückhalten. Solche Momente geben dem Briefwechsel eine unnachahmliche Spannung. Was wird Schmitz nun antworten? Muss er sich mit seinen – vermeintlich – eigenen Waffen geschlagen geben? – Mitnichten. Das Bedenken interessiere ihn sehr, schreibt Schmitz taktvoll, er könne »es allerdings nicht tei­ len« (SaB, 4.12.1970). Das von Böhme vermisste Telos gebe es sehr wohl. So schreibt Schmitz: »Ich verstehe Philosophie als den Versuch, eine gespürte Beirrung des Sichfindens in der Umgebung durch Anknüpfung an ein Prinzip der Philosophie zu überwinden. Die Beirrung selbst bringt mit sich einen gebieterischen Impuls, sich zurechtzufinden, und schon dabei klingen jene Ideen mindestens an. Das Bedürfnis nach ihnen verstärkt sich gewaltig, wenn zum Gespräch übergegangen wird, um die Beirrung zu bewältigen. Daß sich dann die Idee der intersubjektiven Verbindlich­ keit aufdrängt, ist selbstverständlich. Darüber hinaus könnten die Gesprächspartner aber auch gar nicht wissen, worum sie sich eigentlich bemühen sollten, wenn ihnen nicht gemeinsam die Idee der apodikti­ schen Evidenz als Leitstern vorschwebte. Der Einzelne, der monolo­ gisch philosophiert, mag mit dem Aperçu auskommen; ein geregeltes Gespräch läßt sich aber ohne Vorblick auf das regulative Prinzip der apodiktischen Evidenz m. E. nicht führen. Ihre Sorge vor der Möglich­ keit, daß im Zeichen solchen Vorblicks die Hinsicht auf ›das unbe­ stimmte, singuläre, chaotische Phänomen wieder verschwinden‹ könnte, scheint mir unberechtigt.« (SaB, 4.12.1970)

Dazu zitiert Schmitz einen Satz aus seinem Buch Die Gegenwart: »Der Begriff des Verschwommenen muß nicht selbst verschwommen sein.«14 Dann heißt es weiter in dem Brief: »Das verschwommene Phänomen selbst wird sich allerdings dem wissenschaftlichen Zugriff von einer gewissen Schwelle abwärts entziehen; dadurch wird aber nicht ausgeschlossen, daß sich an ihm gewisse begriffliche Merkmale, wie z.B. seine Verschwommenheit oder anderes, scharf abheben las­ sen. Damit allein hat meine Phänomenologie zu tun. Die verschwe­ benden Andeutungen muß ich den Dichtern überlassen.« Er wolle das 14 Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. 1: Die Gegenwart, Bonn 1964, S. 243.

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Recht eines »vorwissenschaftlichen, aphoristischen Philosophierens« keineswegs bestreiten, bloß sei es nicht seine Art, so zu verfahren: »Ich ziehe die wissenschaftliche Methode vor, und als theoretische Einsicht möchte ich nur soviel in Anspruch nehmen, daß diese Methode sinnvoll und widerspruchsfrei mit dem phänomenologi­ schen Ansatz verträglich ist.« (SaB, 4.12.1970) Soweit Schmitz. Lässt sich Böhme damit befrieden? Keineswegs. Die Antworten von Schmitz provozieren sogar neue Fragen, jedoch geht die Rezension, durch welche die Debatte ausgelöst wurde, in die Publikation, ohne dass das Problem ausgebreitet wird.15

6. Intersubjektivität Diese neuen Fragen betreffen dann vertiefend, ob »die Gegenwart als Prinzip der Philosophie geeignet ist, die Intersubjektivität zu begrün­ den.« (BaS, 11.12.1970) Hier gelangt Böhme an einen neuralgischen Punkt, den Schmitz eilig zu zerstreuen sucht: »Keine philosophische Konzeption ist meinem Ansatz schroffer entgegengesetzt als die Monadenlehre. Intersubjektivität überhaupt gibt es schon dank jener Bildung übergreifender Leiber im spontanen, auch alltäglichen Zusammensein, die ich als Einleibung […] beschrieben […] habe.« (SaB, 5.1.1971) Auch das Problem der »intersubjektiven Identifizier­ barkeit« sei von ihm hinlänglich abgedeckt: »Ist doch die Gegenwart als principium individuationis gemäß meinen Nachweisen das UrDieses, durch das allein Identifizierung überhaupt, also auch inter­ subjektive Identifizierung, möglich wird.« Solche Auseinanderset­ zungen um die Intersubjektivität und weitere in Böhmes Sicht erweiterungsfähige Themenfelder finden sich mit den verschiedens­ ten Nuancen und Pointen in dem Briefwechsel. Doch ungebrochen bleibt die Schmitz’sche Anerkennung von Böhmes Arbeit für die Verbreitung seines Ansatzes. Mit dem Aufsatz »A Characterization of Hermann Schmitz’s Phenomenology«16 sei er dabei, »Pionierarbeit zu leisten«, schreibt Schmitz an Böhme (SaB, 8.6.1971). Es bleibt auch Böhmes Hochachtung vor dem Schmitz’schen Philosophieren, indes schlägt Böhme in seinen Bespre­ chungen wiederholt kritische Töne an. So erörtert er Schmitz zu seiner 15 16

Gemeint ist Böhme: »Der Gefühlsraum«. Vgl. Gernot Böhme: »A Characterization«.

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Rezension von Der Gefühlsraum: »Sie werden ihr wohl entnehmen, daß ich etwas Mühe habe, meine Selbständigkeit gegenüber der Fas­ zination durch Ihre Philosophie zu bewahren. Ich hoffe aber selbst dort noch, wo ich mich kritisch äußere, ihrem Fortgang zu nützen.« (BaS, 17.9.1961, mit falscher Jahreszahl, richtig ist 1971) Den kriti­ schen Äußerungen und »Meinungsdifferenzen«, die sich schließlich doch als recht massiv erweisen, wirkt Schmitz mit einem siebensei­ tigen Brief entgegen. Im Fokus stehen dabei die leiblichen Regungen und die atmosphärisch ergossenen Gefühle, die Böhme durch einen dritten Typus, dem der aus personalem Selbstbewusstsein entsprin­ genden Affekte, ergänzt sehen möchte. Es geht um den Subjektivi­ tätsbegriff, der nicht mehr als Eigenschaft von Subjekten, sondern von subjektiven Tatsachen eingeführt wird usw. Schmitz äußert gegenüber Böhme gerade hinsichtlich einer kritischen Anmerkung zur Methode bei der Neufundierung von Subjektivität: »Ich habe das Gefühl, daß Sie sich auf die Stringenz meines Gedankengangs nicht ganz einlas­ sen.« (SaB, 23.9.1971) Selbstverständlich geht die Diskussion über diese Themen daraufhin noch eine ganze Weile kontrovers weiter – ihre Darstellung würde den Rahmen dieses Aufsatzes weit über­ schreiten. Böhme formuliert in seiner Antwort aber zwei wichtige Bemer­ kungen, gleichsam auf einer Metaebene der Beziehung. Er schreibt gerade auf diese eindringliche Erwiderung von Schmitz erstens: »Schon der Brief als solcher war eine Freude für mich, habe ich doch oft mit Bedauern verzeichnet, daß die Kunst, Briefe zu schreiben, wie insbesondere das Interesse an wissenschaftlicher Korrespondenz aus­ zusterben scheint.« Böhme ist also schon nach zwei Jahren die Bedeu­ tung des Briefwechsels bewusst. Und zweitens findet Böhme es wohl­ tuend, »mit welcher Leichtigkeit Sie bei aller Bestimmtheit Ihrer Position meine Kritik aufgenommen haben.« (BaS, 28.9. 1971) Er würdigt also die Offenheit für Kritik.

7. Stellungnahmen zum Zeitgeschehen Das ermutigt Böhme, sich das eine oder andere Mal weiter aus dem Fenster zu lehnen, als das Schmitz gegenüber vielleicht geboten erscheinen mag. Böhme kann dabei durchaus »bissig« werden. So hat

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er 1972 die Schmitz’sche Antrittsvorlesung17 gelesen und meldet trotz vielerlei Übereinstimmung »doch eine gewisse Beunruhigung«. Es geht um den weiblichen Typus der Hausfrau, also offenbar um Geschlechterfragen, und um die Studentenbewegung, also eine Stel­ lungnahme zum politischen Zeitgeschehen. Böhme schreibt, er sei darüber irritiert, »daß Sie einerseits nicht bemerken, wie tief heute das hausfräuliche und mütterliche Dasein seiner Selbstverständlich­ keit verlustig gegangen ist, und insbesondere darüber, daß Sie eine Tendenz zeigen, sich mit den Studenten anzulegen, – was Ihrer Arbeit höchst schädlich sein könnte.« Nun belehrt der – ich will einmal sagen: selbsterklärte – Feminist Böhme weiter: »Das erste ist vielleicht nur ein unnützer Romantizismus, den Sie in Bezug auf die Sphäre des Weiblichen mitschleppen, und den Sie wohl nach einer kurzen Durchsicht der einschlägigen Literatur von dem Emanzipationsschrifttum bis zu heute gängigen Frauenzeitschriften (Brigitte) einerseits nach einigen nachfragenden Gesprächen von der Studentin oder Kollegin bis zur Sekretärin oder Putzfrau andererseits schnell seines Status einer allgemeinen These entkleiden können.« (BaS, 10.4.1972)

So forsch und mit derartigen persönlichen Konnotationen ist Böhme bisher nicht aufgetreten – da stockt einem ja fast der Atem! Wie weit wagt er sich denn hier vor? Schmitz nimmt dann diese Ratschläge auch »mit ein wenig Verwunderung« zur Kenntnis und meint, dass Lektüre und Gespräche der genannten Art seine These von der Bedeutung des »Hausmütterchens« nicht ändern würden. Die »unterstellte roman­ tische Anhänglichkeit an solche Mütterlichkeitsidole«, so ergänzt er, »ämüsiert mich fast« (SaB, 12.4.1972). Was nun den zweiten Punkt, die Studentenbewegung angeht, ist Böhmes Kritik von »grundsätzlicherer Natur« (BaS, 10.4.1972), wie er selbst geradezu warnend schreibt, denn er sieht in der Schmitz’schen Deutung einen gewissen Reduktionismus. Böhme glaubt, »[…] daß Sie die Probleme, die die Studentenschaft bewegen, doch zu sehr auf die – sicherlich jeweils auch immer mitspielende – Proble­ matik reduzieren, die sich aus dem Mangel an Möglichkeiten einer Selbstbestätigung, einer aktiven Selbstverwirklichung gegen Wider­ stände, in einer sich perfektionierenden Welt ergibt. Mir scheint, daß 17

Vgl. Hermann Schmitz: Nihilismus als Schicksal?, Bonn 1972.

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Sie zu sehr auf die sich selbst organisierende Wohlfahrt vertrauen.« (SaB, 12.4.1972)

Böhme hält eine »grundsätzliche Thematisierung der Fragen des Zusammenlebens, der Gesundheitsversorgung, des militärischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bereichs, wie sie von den Studenten gewünscht wird«, für unumgänglich. Diese findet auch Schmitz in seiner Antwort äußerst wichtig und er sieht seine eigenen Bemerkungen sogar »als Apologie der Studentenunruhen«, jedoch störe ihn, dass jeder Versuch, »das überall gespürte Reformbedürfnis primär an der Gesellschaft und am ›System‹ auszulassen, gewisser­ maßen im Regelkreis an der Perfektionierung der Humanität mitwirkt und in dieses System mühelos integriert werden kann.« (SaB, 12.4.1972) Es handele sich ja keineswegs um eine schroffe »Gegen­ überstellung des finster-mächtigen Kapitals und der emanzipatori­ schen Kritik«, dieses Schema sei »mehr oder weniger faule Mytholo­ gie«. »Das Kapital« ist, so Schmitz, »m. E. ein im wesentlichen ohnmächtiger und abhängiger – ständig von Konkursen bedrohter – Vollstrecker der privaten Expansionswünsche, die die Nihilismuspro­ blematik extensiv statt intensiv bewältigen wollen.« Unser »kapitalistisches« System, sei »gar nicht so schlecht, wie seine merkwürdig undialektisch denkenden marxistischen Gegner es malen wollen«, vielmehr sorgten »eingebaute Stabilisatoren des Sys­ tems […] für einen Spielraum der Elastizität und gut angepaßten Steuerung im Regelkreis.« Als solche Stabilisatoren nennt Schmitz die frühe Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, das Arbeitsrecht, die emanzipatorische Kritik an Hochschulen und Kirchen, ja die Stu­ dentenunruhen selbst und sogar den Neomarxismus. Von der »Hip­ pie-Bewegung« hätte er sich einiges erhofft, wenn deren »Gestal­ tungskraft nicht am Rauschgift erlahmt wäre«. Schmitz sieht »durchaus wichtige, konkrete Ansätze des Lebens und Zusammenle­ bens«, er selbst wolle aber »nicht als Prophet auftreten« und »um diese Zurückhaltung zu begründen«, habe er seine Antrittsvorlesung ver­ fasst (SaB, 12.4.1972). Damit schließt Schmitz den Brief, nicht ohne Dank für Böhmes Bemühungen um Mitdenken mit ihm.

8. Phänomenologische Kernthemen Nach der Geschichte um das »Hausmütterchen« und die »Studenten­ unruhen« kommt der Briefwechsel wieder in ruhigere Fahrwasser. So

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freut Böhme sich, bei Schmitz unter dem Topos »Aufhebung der Gegenwart« inzwischen auch die Thematik der zwischenmenschli­ chen Beziehungen zu finden, die nach seiner Ansicht bisher zu kurz gekommen war. Zudem ist Böhme dabei, den Begriff der Atmosphäre für sich zu entdecken und weiter zu entwickeln. Dabei steht in meh­ reren Briefen das Phänomen des Blicks im Fokus, für das Böhme erneut phänomenologische Feinjustierung anfragt, denn Schmitz habe »das Phänomen des Blicks als leibliche Regung eingeführt«, später habe der Blick »den Rang eines Halbdinges« erhalten. »Man müßte wohl sagen«, schreibt Böhme, »daß Blick eine Atmosphäre ist, die man, wie andere, in leiblicher Regung erfährt« (BaS, 3.12.1980). Diese These bietet Schmitz Gelegenheit, anhand seines Werks die verschiedenen Aspekte des Blicks darzulegen und am Ende scheint es ihm »gar nicht sonderbar, daß eine leibliche Regung direkt sichtbar und wahrnehmbar (als Halbding) ist und zugleich eine Atmosphäre verbreitet.« (SaB, 10.12.1980) Hier liegen die Dinge also klar. Anders sieht es da schon bei Böhmes Kritik am Dingbegriff in einer Besprechung18 des Buchs Die Wahrnehmung19 aus. Schmitz schreibt: »Es wäre ein schlimmes Missverständnis, wenn Sie meine Ausführun­ gen über Einleibung so aufgefaßt haben sollten, als wäre dabei dem Partner durch ein aktives Projizieren oder ›Leihen‹ vonseiten des viel­ mehr Betroffenen die Rolle einer exzentrischen Enge zugespielt […].« (SaB, 25.3.1981)

Vielmehr handele es sich »um das Geschehen von Leibbildungen, die den Einzelnen übergreifen, aber außerordentlich flüssig und schwer fixierbar sind«. Hier rekurriert Schmitz erneut auf die Ausrichtung der phänomenologischen Methode: »Solche überpersönlichen ›Momentanleiber‹ […] kann ich als Phäno­ menologe aber nur vom eigenen leiblichen Befinden her charakteri­ sieren. Ich kann nicht wie ein Gott von oben auf den Gesamtprozess schauen, neutral gegen den Unterschied von ich und du.«

In Demut vor den Möglichkeiten sprachlich adäquater Einfassung wird Schmitz selbstkritisch, wenn er dann von »heiklen Metaphern« 18 Vgl. Gernot Böhme: »Hermann Schmitz: System der Philosophie Bd. III/5: Die Wahrnehmung«, in: Philosophische Rundschau 3/4, 1980, S. 264–269. 19 Das ist Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. III/5: Die Wahrnehmung, Bonn 1978.

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spricht, die man schon einmal wählen muss. Böhmes kritische Bemer­ kung zum Dingbegriff erscheinen ihm »durchaus bemerkenswert«, und Schmitz führt weiter aus: »Ähnliche Sorgen habe ich mir schon bei der Niederschrift gemacht, aber ich habe geglaubt, auch die Dinge als mindestens latent fesselnde Ansprechpartner nach Art der Halbdinge charakterisieren zu dürfen, wenn auch diese fesselnde Kraft dank der durch die Fähigkeit der Dinge zum Charakterwechsel eintretenden Distanz nicht mehr so unmittelbar wie bei den Halbdingen ist. Vom Sozialkontakt unterscheide ich den Wahrnehmungskontakt mit Dingen nur dadurch, daß hier die Einlei­ bung nicht wechselseitig ist. Da gibt es aber fließende Übergänge […].« (SaB, 25.3.1981)

Solche Stellen zeigen wieder deutlich, wie ernst Schmitz Böhmes Bedenken und Anmerkungen nimmt und wie er sich sein eigenes Ringen um adäquate Einfassung des Phänomenalen zu Herzen nimmt.

9. Diskussionen zu Klassikern Selbstverständlich kreist die Korrespondenz häufig um die Klassiker der Philosophie, allen voran Platon und Kant, aber auch Goethe, mit dem sich beide Philosophen eingehend befasst haben. Ein besonders schöner und interessanter Brief handelt von Schmitz’ens Lektüre des Buchs Das Andere der Vernunft20 der Böhme-Brüder Gernot und Hartmut, das der akademischen Welt einen Skandal beschert hat. Schmitz ist hingerissen und freut sich geradezu diebisch: »Ich kann mich kaum daran erinnern, ein Buch […] mit so viel Freude und Spannung gelesen zu haben. Es handelt sich um einen ganz neuen Typ kritisch-analytischer philosophischer Biographie mit tiefem geschichtlichen Hintergrund und einer sehr ernsten Lehre für die Gegenwart, die doch in einer geradezu heiteren – vielleicht auch im Sinne eines gewissen Galgenhumors heiteren – und jedenfalls anspre­ chenden und spannenden Weise dargeboten wird; die Einführung eines solchen Buchtyps ist mit diesem ersten Exempel meines Erachtens nach glänzend gelungen […].« (SaB, 21.11.1983) Gernot Böhme/Hartmut Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt 1983.

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Selbstverständlich kommt die Reaktion auf das Kant-Buch nicht ohne kritische Bemerkungen aus. Gegenüber dem Ideal einer »Entwicklung neuer, angstfreier Umgangsformen« hegt Schmitz Zweifel. Er sei zwar »damit einverstanden«, empfinde aber »eine gewisse Berührungs­ angst angesichts der gespürten Nähe des Rousseauismus, dessen Erbe soviel Illusionen und Unglück über die Menschen gebracht hat«. Er erläutert dies so: »Gewiß ist es wünschenswert, die Angst namentlich als inferiore Angst des Menschen, der sich seine eigenen Wünsche nicht zutraut und sie deshalb verdrängt, zu überwinden, und die gründliche Besinnung auf die Bedeutung des Leibes kann da befreiend wirken; man soll aber nicht hoffen, dadurch der Grausamkeit zu entgehen, die sich höchstens in andere Formen verlagern kann, denn sie ist die Einheit des Leibes […] und die Wurzel der für bewußtes Leben unentbehrlichen Negation […].«

Hier knüpft Schmitz an Band IV, § 269 des Systems21 an, wo er an einer Stelle sogar auf Freuds Todestrieb Bezug nimmt. Weiter heißt es im Brief: »Ich empfinde eine starke Abneigung gegen alle Utopien einer Idylle im Sinne der vierten Ekloge Vergils und im Geiste einer universellen ›Friedensbewegung‹, um ein aktuelles Schlagwort sinnvoll weiterfüh­ rend aufzunehmen; ein ernsthaftes Sicheinleben in die eigene Leib­ lichkeit wird nicht umhin können, dieser wesentlichen Grausamkeit ins Auge zu sehen und ihr in ähnlicher Weise Platz zu lassen, wie er am Ende der Orestie den Erinnyen eingeräumt wird.« Er wolle mit diesen Bemerkungen »nur leichtsinnigen Entspannungsidealen vor­ beugen«, die sich, wie er meint, »als verführerisches Gift ausbreiten«. (SaB, 21.11.1983)

Insgesamt aber ist Schmitz »stolz darauf, daß in einem so gut gelun­ genen und vielleicht bahnbrechenden Werk« seine »Philosophie als fruchtbarer Nährboden dient«. Im Unterschied zu vielen Fachkol­ leg*innen empfiehlt Schmitz das Buch als »Einführung in Kant«. Über seine Phänomenologie schreibt er auch bezogen auf andere fruchtbare Rezeptionen: »Ich freue mich sehr, wenn sie sich in wichtigen geschichtlichen Zusammenhängen als so gut anwendbar herausstellt, weil Phänome­ 21 Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. IV: Die Person, Bonn 1980, S. 266–286, zu Freuds Todestrieb v.a. 282, 284.

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nologie nicht Spekulation als Selbstzweck ist, sondern Herstellung eines Werkzeugs für die jeweils eigene Rechenschaft im Leben.« (SaB, 21.11.1983)

Im Briefwechsel tritt allmählich eine Wende ein, insofern Böhme zwar weiterhin die Werke von Schmitz in seinem akademischen Umfeld verbreitet, aber jetzt häufiger auch mit eigenen Büchern an Schmitz herantritt. Der davon inspirierte Dialog kommt nicht ohne gewisse Spannungen aus: Einerseits begrüßt Schmitz, wie stark sich Böhme auf ihn bezieht, andererseits bekümmert ihn so manche – wie er sie nennt – »eigenwillige Gedankenführung« seines Schützlings (SaB, 13.6.1985). So ist ihm z.B. in Böhmes Anthropologie in pragmati­ scher Hinsicht22 u.a. das dort entwickelte Ideal des souveränen Men­ schen zu kurz geraten, vor allem im Hinblick auf das, was er selbst mit dem Begriff der Autorität entwickelt hat. Schmitz schreibt: »Ich möchte Ihr Ideal des souveränen Menschen ergänzen um das Desiderat eines Bescheidwissens darüber, was man zu tun, zu lassen und zu fordern hat, ohne sich auf die Krücke einer vermeintlich abso­ luten Vernunft oder eines vermeintlich absoluten Wertes zu stützen, ohne auch die eigene Vernunft einem irrationalen Rausch zu opfern, vielmehr mit ständigem Prüfen der Verbindlichkeit an der eigenen Wachsamkeit darüber, ob sie sich auch vor der jeweils erreichten eige­ nen Erwachsenheit in Kritik und Besinnung behauptet.«

Für diese Kompetenz des Bescheidwissens führt Schmitz als Beispiel das Musterbild der Mutter an, die »ohne Strammstehen vor einem ewigen Wert oder Vernunftgesetz oder Gottesgebot die Sorge für ihre Kinder und übrigen Angehörigen mit unwillkürlicher Sicherheit als für sie […] verbindlich auf sich nimmt.« Schmitz ergänzt: »Mein Interesse am Gefühl und am affektiven Betroffensein zielt wesentlich auf Autorität in diesem Sinn« (SaB, 13.6.1985) – ein interessanter Gedankengang für die Konstitution moralischer Integrität. Böhme stimmt dieser Kritik von Schmitz zu und auch dies sind schöne Momente im Briefwechsel.

22 Gernot Böhme: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Darmstädter Vorlesun­ gen, Frankfurt 1985.

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10. Dissense und Asymmetrien Unter den vielen Schauplätzen dieser Korrespondenz ragen am Ende ein paar Themen heraus, die beharrlich im Dissens bleiben und wie­ derholt Einspruch herausfordern. Böhme ist fortlaufend und hartnä­ ckig kritisch bei so mancher Schmitz’schen Einschätzung historischpolitischer Lagen, auch bei Spezialfragen der Naturwissenschaft sowie beim Zeit- und Zahlverständnis – worauf hier nicht weiter eigens eingegangen werden kann. Auch in den Deutungen der Klassiker weichen beide manches Mal deutlich voneinander ab. Schmitz wie­ derum lässt mit seinen Bedenken nicht locker, wenn es um den Natur­ begriff geht, der mit Böhmes Definition vom Leib als »die Natur, die wir selbst sind«23 prominent in die Leibphilosophie Eingang gefunden hat und das Spätwerk von Böhme auch im Hinblick auf Initiativen der Praxis dominiert. Schmitz schreibt, es sei gefährlich, »mit dem Natur­ begriff zu arbeiten, der fast immer zu ›unnatürlichen‹ Einteilungen führt.« (SaB, 5.7.1989)24 Auch bezüglich der Wahrnehmungslehre, namentlich der Ästhetik, gehen die Auffassungen »mehr oder weniger auseinander« (SaB, 9.12.1992). Das findet Schmitz aber »gar nicht schlimm, weil eine Vielseitigkeit von Perspektiven sehr hilfreich sein kann, auch für Selbstbesinnung und mögliche Selbstkorrektur.« Die beiden Philosophen wissen sich offenbar in ihrem kritischen Dialog gut zu nehmen. Schmitz schafft dafür gekonnt eine rahmende Atmosphäre des Wohlwollens und der Würdigung, er umfängt und umspielt seinen Briefpartner mit verbindlicher Zuwendung. Böhme ist wie erwähnt zurückhaltender, doch einmal spricht er von der »wechselseitigen Sympathie«, die »durch unsere jeweiligen Bemü­ hungen« »doch über die Jahre deutlich geworden ist« (BaS, 19.6.1985). Obwohl der Rolle des Verstehers längst entwachsen, wen­ det Böhme sich gelegentlich noch mit Verständnisfragen an Schmitz, und dabei zeigt sich dann, wie Schmitz seine Begriffe durch eigenes Nachdenken und die Einlassungen anderer schärft, modifiziert und weiterentwickelt. Böhme steht inzwischen fest in seiner eigenen Phi­ losophie und empfindet sich – bei anhaltender Hochachtung für den Lehrer – als ebenbürtigen Gesprächspartner. Das Verhältnis bleibt indes bis zuletzt asymmetrisch, u.a. darin, wie sich Schmitz und Vgl. Böhme: Leibsein als Aufgabe, S. 63. Vgl. dazu auch die Hinweise in Kira Meyer (Hrsg.): »Wie ist Naturphänomeno­ logie möglich? Eine Debatte«, in: Rostocker Phänomenologische Manuskripte 38, 2022. 23

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Böhme im öffentlichen Diskurs und in ihren Werken aufeinander beziehen. Dies zeigt sich einmal mehr im Kontext der Initiativen Böhmes in die Praxis und den moralischen Diskurs hinein. Die Neue Phäno­ menologie ist auch für die Philosophische Praxis von großer Bedeu­ tung.25 Ohne sie wäre das Darmstädter Institut für Praxis der Philo­ sophie nie entstanden, das Böhme initiierte und 2005 mit einem kleinen Kreis von Mitstreiter*innen als gemeinnützigen Verein grün­ dete. Die Verlängerung in die Praxis hinein, mit Blick auf Philosophie als Lebensform und Weltweisheit, gespeist von Kritik an den Lebens­ bedingungen der technischen Zivilisation, war ein Ansatz Böhmes, der erstaunlich früh in diesem Briefwechsel auftaucht und von Schmitz als bedeutend anerkannt wird.26 Obwohl Schmitz sich gegen die Einbettung der Leibphilosophie in die Begrifflichkeit von Natur verwahrt, so fördert diese Pointierung doch in der Öffentlichkeit das Verständnis für die Notwendigkeit, der leiblichen Existenz in Zeiten zunehmender Virtualisierung mehr Gewicht einzuräumen. Und auch die breite Rezeption von Böhmes »eigenwilliger« Ästhetik zeigt die Zukunftsfähigkeit einer neophänomenologischen AtmosphärenLehre nicht zuletzt für die in der Philosophischen Praxis zum Tragen kommende Begegnungskunst. Böhme hatte in »seinem« Institut für Praxis der Philosophie für Schmitz eine aktive maßgebliche Rolle vorgesehen. Eine an ihn her­ angetragene Mitgliedschaft kam für Schmitz indes nicht in Frage. Es halten ihn vor allem »materiale Bedenken« ab, nämlich, bezogen auf das gesellschaftliche und politische Engagement des Instituts, dass er »indirekt (als Mitglied) für die Vertretung von Standpunkten, die ich nicht verantworten kann, in Anspruch genommen werde« (SaB, 4.1.2006). Hier erinnert Schmitz Böhme daran, dass er an seinem Buch Adolf Hitler in der Geschichte27 »Anstoß genommen« hat, »nicht am Faktischen, sondern im Zusammenhang eines moralischen Dis­ kurses«. Zugleich kommt er auf den früheren Austausch über die Stu­ dentenbewegung zurück. Schmitz urteilt im Jahr 2006 schärfer: »Die mentalen Folgen der 68er Studentenrevolte halte ich im Wesentlichen (nicht durchgängig) für fatal und verhängnisvoll.« Bezogen auf eine 25 Vgl. Ute Gahlings: Philosophische Praxis. Grundlagen – Situationen – Ethik, BadenBaden 2023. 26 Vgl. Gernot Böhme: Einführung in die Philosophie. Weltweisheit – Lebensform – Wissenschaft, Frankfurt 1994. 27 Das ist Hermann Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999.

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mögliche Mitarbeit am Institut für Praxis der Philosophie schließt Schmitz: »Vielleicht würde ich damit der Einmischung des Instituts in moralische Diskurse hinderlich sein.« (SaB, 4.1.2006) Diese Absage von Schmitz war für Böhme bitter, weil sie die Asymmetrie der Beziehung fortschrieb: Böhme war über Jahrzehnte für das Schmitz’sche Werk eingetreten und in eine persönliche Aus­ einandersetzung mit Schmitz auch über kritikwürdige Aspekte seiner Philosophie gegangen. In dem Moment aber, wo Schmitz ein persön­ liches Anliegen von Böhme, die Praxis der Philosophie, aktiv, sub­ stanziell und mit öffentlicher Anerkennung hätte unterstützen kön­ nen, entzog er sich. Die Enttäuschung Böhmes bezog sich weniger auf die konkret versagte Mitgliedschaft als vielmehr auf die damit zum Ausdruck gebrachte Verfestigung der Standpunkte. Vor allem in Bezug auf aktuelle politische Fragen und die Aufarbeitung deutscher Geschichte hatte Böhme immer wieder Kritik geäußert und intensiv das Gespräch mit Schmitz gesucht, doch zuletzt traten die Differenzen deutlich zu Tage. Gleichwohl blieben beide Philosophen zeitlebens einander gewogen und Schmitz ließ es sich auch nicht nehmen, das Institut für Praxis der Philosophie in Darmstadt das ein oder andere Mal zu besuchen und mit seinem eindringlichen Philosophieren einen bleibenden Eindruck bei den Gästen der Veranstaltungen zu hinter­ lassen.

11. Schluss Der Briefwechsel macht in seiner langen Geschichte sichtbar, wie Schmitz u.a. durch Böhmes zahlreiche Rezensionen, durch Einladun­ gen in seine Seminare und weitere umfangreiche Initiativen allmäh­ lich in der akademischen Welt wahrgenommen und wohl auch per­ sönlich gestärkt wurde. In einem denkwürdigen Brief vom 22. Mai 1993, entstanden rund um seine Emeritierung, bemerkt Schmitz zu seinem Weg und Böhmes Rolle darin: »[…] [D]ie Spur meines Weges als Philosoph habe ich allein gezogen, und anfangs mehrere Jahre lang, waren es nur ganz wenige persönlich befreundete Menschen, die mir im Gespräch folgten. […] Unter den Menschen, die von außen kommend, ohne persönliche Bekanntschaft und ohne von mir angesprochen zu sein, meine Anregungen aufgriffen und eigenständig weiterführten, waren Sie meiner Erinnerung nach der erste. Die Veröffentlichung meines Buches ›System der Philosophie

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Band I: Die Gegenwart‹ hatte mich im Fach völlig isoliert. […] Sie sind der einzige Fachkollege, mit dem ich so genossenschaftlich seit Jahr­ zehnten verbunden bin und auf dem Hintergrund solcher Gemein­ samkeit in der Auslegung meiner Gedanken gern folge, mich an ihrer Metamorphose im Medium eines anderen Denkens freuend, wenn auch mit gewissen Ausnahmen; namentlich einige Ausführungen von Ihnen über das Schöne haben mich den Kopf schütteln lassen. Das befremdet mich aber keineswegs, denn auch solcher Widerspruch, solange er nicht bis in den Kern geht, gehört zur Gemeinsamkeit unter selbständig denkenden, im Denken verbundenen Männern.« (SaB, 22.5.1993)

Die Neue Phänomenologie hat, ähnlich wie der phänomenologische Aufbruch bei Husserl, eine Öffnung und Bewegung in die Philosophie gebracht. Anlässlich des 70. Geburtstags von Schmitz schreibt Böhme, »daß Sie durch Ihr Werk Ihren Lesern die Welt neu erschlos­ sen haben.« (BaS, 13.5.1998) Das gelte auch für ihn selbst, und hier wird Böhme erstaunlich persönlich: »[…] [I]ch wüßte nicht, wie sich mein eigenes Leben und meine Phi­ losophie weiterentwickelt hätten, wenn ich nicht 1966 Ihr Buch Der Leib entdeckt hätte. Mein Glückwunsch enthält deshalb zugleich den Dank dafür, was Sie mir nicht nur an Denkmöglichkeiten, sondern auch an Lebensmöglichkeiten gegeben haben.«

Mit der Gründung der Gesellschaft für Neue Phänomenologie im Jahr 1992 konnte Schmitz das Gedeihen seiner unermüdlichen philoso­ phischen Bemühungen noch über einen langen Zeitraum miterleben und als streitbare, aber immer ansprechbare und um Verständnis bemühte Person weiterhin imponieren. Viele Wissenschaftler*innen finden in ihren eigenen disziplinären Fragen Antworten und Anre­ gungen. Schmitz war Systemphilosoph und Universalgelehrter der alten Schule: Man entdeckt zu jedem Thema und jeder philosophi­ schen Disziplin eine Einlassung von ihm. Das liegt nicht zuletzt an seiner genialen Definition von Philosophie, die nichts Denkwürdiges und keine Nuance existenzieller Betroffenheit ausschließt: »Philoso­ phie ist: Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung.«28 Der Briefwechsel zwischen Schmitz und Böhme dokumentiert die Entstehung und Kultivierung einer philosophischen Freundschaft. Er ist ein schönes, einzigartiges Beispiel für einen fruchtbaren Dialog, 28

Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. 1: Die Gegenwart. Bonn 1964, S. 15.

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der unermüdlich auf das Denken des anderen reagiert und auch Widersprüche auszuhalten vermag. Er sollte veröffentlicht werden.

Literaturverzeichnis Böhme, Gernot: »Leibsein als Aufgabe. Rezension von Hermann Schmitz: Sys­ tem der Philosophie Bd. II/1«, in: Hippokrates 40, 1969, S. 185ff. Böhme, Gernot: »Der Gefühlsraum. Rezension von Hermann Schmitz: System der Philosophie Bd. III/2«, in: Philosophische Rundschau 18, 1971, S. 36ff. Böhme, Gernot: »A Characterization of Hermann Schmitz’s Phenomenology. Rezension zu Schmitz: System der Philosophie«, in: Man and World 5, 1972, S. 363–372. Böhme, Gernot: »Hermann Schmitz: System der Philosophie Bd. III/5: Die Wahrnehmung«, in: Philosophische Rundschau 3/4, 1980, S. 264–269. Böhme, Gernot/Hartmut Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt 1983. Böhme, Gernot: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Darmstädter Vorlesun­ gen, Frankfurt 1985. Böhme, Gernot: Einführung in die Philosophie. Weltweisheit – Lebensform – Wis­ senschaft, Frankfurt 1994. Böhme, Gernot/Ute Gahlings (Hrsg.): Kultur der Privatheit in der Netzgesell­ schaft, Bielefeld 2018. Böhme, Gernot: Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Kusterdingen 2021. Böhme, Gernot (Hrsg.): Analoge Kompetenzen im digitalen Zeitalter, Darmstadt 2022. Breton, André: Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek 2004. Gahlings, Ute: Philosophische Praxis. Grundlagen – Situationen – Ethik, BadenBaden 2023. Klages, Ludwig: Der Mensch und seine Handschrift, Bonn 1983. Matthews-Schlinzig, Marie Isabel/Jörg Schuster/Gesa Steinbrink/Jochen Stro­ bel (Hrsg.): Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Bd. 1: Interdisziplinarität – Systematische Perspektiven – Briefgenres, Berlin/Bosten 2020. Meyer, Kira (Hrsg): »Wie ist Naturphänomenologie möglich? Eine Debatte«, in: Rostocker Phänomenologische Manuskripte 38, 2022. Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Bd. 1: Die Gegenwart, Bonn 1964. Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Bd. II/1: Der Leib, Bonn 1965. Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Bd. III/2: Der Gefühlsraum, Bonn 1969. Schmitz, Hermann: Nihilismus als Schicksal?, Bonn 1972. Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Bd. III/5: Die Wahrnehmung, Bonn 1978. Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Bd. IV: Die Person, Bonn 1980.

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Philosophieren in Briefen

Schmitz, Hermann: Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999. Schmitz, Hermann: »Gefühle sind keine Privatsache«, in: Philosophie Magazin 2, 2017, S. 70–75.

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II. Methodisches

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Über das Verhältnis des Phänomenologen zu seiner Theorie

Geisteswissenschaft insgesamt, Philosophie im Speziellen und die Phänomenologie noch in ganz besonderer Weise sehen sich dem Vor­ wurf ausgesetzt, nicht wissenschaftlich zu sein im Sinne des heute von den Naturwissenschaften abgeleiteten Paradigmas.1 Die Inhalte der­ artiger Einwände sind sehr verschieden, wahlweise wird auf unklare Methoden verwiesen, fehlende Überprüfbarkeit, mangelnde Inter­ subjektivität und dergleichen. Phänomenologie, insofern sie sich als wissenschaftskritisches Unternehmen versteht und zudem die Unver­ tretbarkeit einer Erste-Person-Perspektive behauptet, ist solchen Invektiven zumal ausgesetzt. Zwei wirkmächtigen Einwänden aus diesem Kontext sieht sich auch die Neue Phänomenologie gegenüber, nämlich dem der Idiosynkrasie und dem des praktischen Widerspruchs. Ersteren hat Friedrich Nietzsche im Rahmen seiner »fröhlichen« Wissenschaftskritik gegen die Gelehrsamkeit allgemein formuliert, denn diese sei in ihren vielen Gestalten nichts anderes als die verba­ lisierte Eigenheit des jeweiligen Denkers. Damit würde sie freilich ihren überindividuellen Geltungsanspruch verlieren und in eine bloß subjektiv relevante Meinungsäußerung umgedeutet. Nietzsche spricht in diesem Sinne von der »intellektuelle[n] Idiosynkrasie des Gelehrten«.2 Hinter dieser verbergen sich zwar noch verstehbare 1 Vgl. als Beispiele für viele derartige Kritiken die explizit gegen Schmitz gerichteten Aussagen bei Joachim Schröter: »Naturwissenschaft im Spiegel der Neuen Phänome­ nologie«, in: Erwägen Wissen Ethik 15, 2004, S. 198–201 und Karl-Heinz Lembeck: »Von falschen und richtigen Erfahrungen«, in: Erwägen Wissen Ethik 15, 2004, S. 182ff. Zur Kritik an Schröter und Lembeck vgl. Hermann Schmitz: »Phänomeno­ logie als Anwalt der unwillkürlichen Lebenserfahrung«, in: Erwägen Wissen Ethik 15, 2004, S. 215–228, v.a. S. 219, 222f. 2 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft (=Kritische Studienausgabe. Bd. 3, hrsg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1999), S. 343–651, hier 583 (§ 348).

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Zusammenhänge mit den jeweiligen biographischen und sozialen Herkunftsumständen,3 die aufgeklärt werden können, jedoch bleibt es bei einer grundsätzlichen Geltungsbereichsbeschränkung der theo­ retischen Angebote. Auf eine alltagssprachliche Rede gebracht, wäre im Anschluss an solche Überlegungen zu fragen, ob ein Philosoph4 nicht »bloß subjektive«, allein für ihn relevante und gültige Aussagen mittels seiner Philosophie tätigt,5 die für andere Menschen bedeu­ tungslos sind. Philosophie würde so gesehen zu einer folgenlosen Meinungsäußerung – folgenlos für alle außer vielleicht den jeweili­ gen Denker selbst. Der zweite Einwand ist schon in der Antike in verschiedenen Gestalten auffindbar und geht im Wesentlichen darauf, die Abwei­ chung des Philosophen von seiner Lehre in seiner je eigenen Alltags­ praxis als Widerspruch zu markieren. Prägnant wird dies im Rahmen der für die Stoa belegten antiken Diskussionen um die Frage getan, ob es je einen stoischen Weisen gegeben habe bzw. geben könne. Die Anforderungen, die an diese Figur aus der Theorie heraus gerichtet werden, sind so hoch (und zudem vielleicht widersprüchlich), dass sie vermutlich inhuman sind, für keinen Menschen ertragbar.6 Folgt nun aber aus dem Umstand, dass niemand je praktisch so gelebt hat, dass die Theorie falsch ist? Manch philosophische Tradition hat dies bejaht, indem sie einen engen Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis als Bedingung für legitime Gültigkeitsforderungen postulierte,7 exemplarisch Diogenes von Sinope, während andere Denker dies dezidiert ablehnten, etwa Kant, der in dem Umstand, dass noch womöglich kein Mensch gemäß den von ihm entdeckten apriorischen Ethikgrundlagen gelebt haben mag, überhaupt keinen Einwand gegen seine Sittenlehre sehen kann.8 Vgl. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, S. 583ff. (§ 348f.). Im Folgenden kommt das generische Maskulinum zum Einsatz, womit über Dimen­ sionen der Geschlechtlichkeit jenseits des grammatischen Feldes nichts entschieden sein soll. 5 Dies ist ein Vorwurf, der gerade an Nietzsche selbst aufgrund seiner spezifischen Lebens- und Leidensumstände in auffallendem Ausmaß gerichtet worden ist. 6 Vgl. zur Relevanz der Praxis vor der Theorie Epiktet (vgl. Rainer Nickel (Hrsg.): Antike Kritik an der Stoa, Berlin 2014, S. 289), zur Behauptung der letztlichen Uner­ reichbarkeit der Weisheit im stoischen Sinne Cicero (vgl. ebd., S. 43). 7 Vgl. dazu die Reflexionen zum Zusammenhang von Theorie und Praxis in der Phi­ losophie bei Pierre Hadot: Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philoso­ phie?, übers. v. Heiko Pollmeier, Frankfurt 1999. 8 Vgl. Immanuel Kant: GMS, AA 407f., 427. 3

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Über das Verhältnis des Phänomenologen zu seiner Theorie

Beide nur in aller Kürze vorgestellten Kritiken verweisen auf ein prinzipielles Problem dahingehend, wie sich ein Philosoph zu seiner Theorie verhält, einmal im Hinblick auf den Umfang des Erkenntnis­ wertes über ihn selbst hinaus, einmal im Hinblick auf seine eigene Lebenspraxis. Diese Einwände stellen sich, wie angedeutet, besonders an die Phänomenologie, die, weil sie sowohl eine Lebensweltnähe und (vermeintliche) Unmittelbarkeit suggeriert als auch den jeweiligen Denker als Erkennenden nicht übergehen kann, scheinbar danach verlangt, subjektiv genommen und »gelebt«9 zu werden. Läuft Phä­ nomenologie damit auf bloß individuelle Meinungsbekundung hinaus und muss der Phänomenologe auf der Höhe seiner Theorie sein und leben? Solche Perspektiven werden zudem dann virulent, wenn der Phä­ nomenologe selbst seine Theorie gar nicht mehr verteidigen kann. Wäre sie nur Meinungsäußerung, verlöre sie spätestens mit dem Tod des Denkers jedwede übersubjektive Relevanz, könnte nur noch als beliebiges Angebot an andere oder als historisches Zeugnis genom­ men werden. Wäre sie notwendig an Lebenspraxis zu binden, erfor­ derte dies eine fortwährende (auto-)biographisch-praxeologische Begleitung und Dokumentation, der mit dem Ende der Lebenspraxis des Denkers ebenfalls der Boden entzogen schiene. Daher bietet es sich an, die Neue Phänomenologie vor dem Hintergrund derartiger Einwände einmal zu lesen und zu fragen, welchen Geltungsanspruch sie erheben kann auch ohne den Bezug auf den Autor Hermann Schmitz als Person. Was geschieht mit der Neuen Phänomenologie als Theorie und dem mit ihr verbundenen Geltungsanspruch, wenn der Autor als Person weggefallen ist? Um diesen Fragen nachzugehen, ist zunächst darauf hinzuwei­ sen, dass Schmitz selber einen solchen Blick auf Philosophie als bio­ graphisch bedingte Idiosynkrasie ein wenig Vorschub geleistet hat, und zwar durch den Rückgriff auf das Konzept des »Prinzips der Phi­ losophie«. Dieses muss daher in den Blick kommen und in seinem Stellenwert im Gesamtgebäude der Theorie10 Schmitz’ zum Thema werden. Zweitens ist der Phänomen-Begriff als entscheidende Mit »gelebt« ist dabei im weiten Sinne eine lebensweltliche Reaktion – veränderte Erfahrungen etwa, aber auch andere Wertorientierungen oder Handlungen – gemeint. 10 Mitunter wird behauptet, Phänomenologie sei gar keine Theorie, sondern nur Beschreibung. Diese Auseinandersetzung soll hier jedoch nicht berührt werden. Im Folgenden wird unter »Theorie« nur allgemein die Summe der in Konstellationen von Begriffen gesammelten Behauptungen verstanden. 9

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Schnittstelle von Methode und Geltungsunterstellung zu bedenken. Hier wird sich drittens ergeben, dass man die Neue Phänomenologie als hermeneutische Philosophie lesen sollte, wodurch sogleich die besondere Rolle des Phänomenologen erklärt und verteidigt wird. Abschließend ist viertens aus den so gewonnenen Einsichten eine kritische Bestandsaufnahme möglich, die zeigt, in welcher Hinsicht die Neue Phänomenologie umfassendere Geltungsansprüche stellen kann, in welcher jedoch auch nicht.

1. Was ist ein Prinzip der Philosophie? Ausgehend von seiner Bestimmung der Philosophie als ein Besin­ nungs-Projekt, das nach etwas sucht, was der Irritation Widerstand zu leisten vermag,11 kommt Schmitz auf das »Prinzip der Philoso­ phie« zu sprechen. Darunter versteht er Folgendes: »Wenn der philosophischen Besinnung etwas begegnet, das der Beir­ rung des Menschen in seinem Sichfinden in seiner Umgebung uner­ schüttert standhält und obendrein den beiden […] Forderungen [d.i. Zugänglichkeit und Unverwechselbarkeit; S.K.] genügt, bezeichne ich dieses Standhaltende als ein Prinzip der Philosophie. […] Das Prinzip der Philosophie als immer zugängliches, unverwechselbar sich prä­ sentierendes Standhaltendes wird im Zusammenhang der philosophi­ schen Besinnung nur dadurch sinnvoll und fruchtbar, daß die Umge­ bung des Menschen und er selbst, der sich in ihr findet, so darauf bezogen werden können, daß die Beirrung des Sichfindens in der Umgebung überwunden wird.«12

Damit zeichnet sich systematisch ein Bild ab, in welchem Philosophie aus einer Irritation heraus beginnt und sich auf die Suche nach einem hinreichend stabilen Bezugspunkt macht, von dem aus das Selbst und die Welt hinreichend fest organisiert und verstanden werden können. Das Prinzip der Philosophie ist so gesehen der Ausgangspunkt des Verstehens, Erklärens und Deutens. Es schillert dahingehend in einer epistemologisch-ontologischen Doppelheit, weil es einerseits als Stand­ punkt des Verstehens zu lesen ist, andererseits aber konkrete Welt­ Vgl. dazu z.B. Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. I: Die Gegenwart, Bonn 2005, S. 1–37 und als Überblick auch ders.: Kurze Einführung in die Neue Phä­ nomenologie, Freiburg/München 2009, S. 7–18. 12 Schmitz: System I, S. 65, 71. 11

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bestände mindestens ontisch, wenn nicht ontologisch als relativ stabil auszeichnet gegenüber anderen (womöglich nur scheinbaren) Vor­ kommnissen. Schmitz sagt deutlich, dass das Prinzip selbst Auswirkungen hat auf den systematischen Aufbau einer Theorie und auf die Methode.13 Dies ergibt sich schon daraus, dass es nicht ein Prinzip gibt, sondern viele, und dies deshalb, weil »die Eigenart des standhaltenden Prinzips […] abhängig [ist] von der Eigenart der Beirrung […].«14 Damit aber wird klar, dass die Beirrung zumindest mitbestimmt, wenn nicht gar determiniert, was als Prinzip gelten kann. Diese ist jedoch eine Sache je des einzelnen Menschen, kann ihm nicht durch neutrale, objektive Erkenntnisse und Einsichten abgenommen werden.15 Folglich ergibt sich aus der Beirrung als Beirrung des je eigenen Lebens ein je spe­ zifisches Prinzip – oder jedenfalls eine je spezifische »Zutat« zum Prinzip. Was als standhaltend sich erweist, kann nicht gedacht und verstanden werden ohne in Beziehung gesetzt zu sein zu den Umstän­ den – persönlich, kulturell, sozial usw. –, aus denen es sich ergab. Diese Einsicht nutzt Schmitz auch in diesem Sinne aus, wenn er kanonische philosophische Positionen auf ihr Prinzip hin analysiert. Er nimmt eine derartige Betrachtung für Parmenides, Plotin, Descar­ tes, Fichte, Hegel und Husserl vor.16 Um den eben erläuterten syste­ matischen Gedanken zu verdeutlichen, sei exemplarisch die Deu­ tung Descartes’ angesprochen. Bei dem ist das »Ich denke, also bin ich« das Standhaltende. Es gibt dem von der Umgebung irritierten Philosophen Halt, von ihm aus kann er als stabilem Fundament seine Theorie entwickeln.17 Warum aber muss es das »Ich« sein? Hierfür macht Schmitz das bei Descartes’ und seinen (philosophischen) Mit­ streitern und Zeitgenossen leitende Motiv der Weltbemächtigung geltend.18 Die spezifischen Irritationsbedingungen präfixieren mög­ liche Prinzipien. Wenn es Descartes darum zu tun ist, den Menschen einen Zugriff auf die Welt – im Sinne letztlich technisch-apparativer Konstruktion und Manipulation – zu sichern, erfordert dies ein eben autark gesetztes Machtzentrum, ein »Ich«. Vgl. Schmitz: System I, S. 69f. Schmitz: System I, S. 66. Vgl. auch ebd., S. 64. 15 Vgl. dazu Schmitz: System I, S. 35. 16 Vgl. Schmitz: System I, §§ 9–13. 17 Vgl. dazu Schmitz: System I, S. 84f., 88–91 und ders.: Der Weg der europäischen Philosophie. Bd. 2: Nachantike Philosophie, Freiburg/München 2007, S. 236–242. 18 Vgl. Schmitz: Weg Bd. 2, S. 228. 13

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Mit dem Konzept eines Prinzips der Philosophie wird ein syste­ matisch zentraler Punkt jeder philosophischen Theoriebildung auf­ gezeigt, zum anderen sogleich ein Verstehenszugang ermöglicht.19 Aber die Gefahren, die das Konzept heraufbeschwört im Sinne der beiden eingangs vorgestellten Einwände, sind offensichtlich. Wenn das Prinzip vom Anlass der Beirrung abhängt, wird dann nicht der theoretisch-philosophische Ertrag, der sich eben durch Ausgang von einem Prinzip erst überhaupt ergibt, in grundsätzlicher Hinsicht rela­ tiviert? Wird Philosophie so gesehen nicht zu einer nur noch im Sinne des Historismus betrachtbaren Meinungsäußerung von spezifischen Individuen in spezifischen Zeit- und Kulturkontexten? Bevor darauf eine Antwort formuliert werden kann, gilt es, am Beispiel der Neuen Phänomenologie selbst ihrem Prinzip und dessen Bedingungen und Folgen im Ansatz nachzugehen, wobei es sich zei­ gen wird, dass die genannten Fragen zwar letztlich irreführen, aber doch auf eine wesentliche Eigenart des phänomenologischen Philo­ sophierens hinweisen. Für die Neue Phänomenologie gibt Schmitz konsequenterweise klar das Prinzip an, welches der philosophischen Besinnung als Standhaltendes Basis sein soll: »Ich führe nun als Prin­ zip der Philosophie die Gegenwart ein. Sie soll also im Gefüge meiner Untersuchung das leisten, was für Platon vom Guten, für Descartes vom Ich, für Hegel vom Absoluten übernommen war […].«20 Diese Gegenwart – deren Eigenart hier dahingestellt bleiben kann – ergibt sich auch für Schmitz aus ganz konkreten Beirrungsanlässen. Er kommt in dieser Hinsicht zum Beispiel darauf zu sprechen, dass die atmosphärische Aufladung und darauf folgende kollektive Entglei­ sung in der Zeit des Nationalsozialismus für ihn ein solches Irritati­ onsmoment war.21 Gegen die daraus resultierende Desorientierung, Es sei auf die interessante, noch nicht erklärte Besonderheit hingewiesen, dass das Konzept des Philosophieprinzips bei Schmitz nur im ersten Band des »Systems« brei­ tere Anwendung gefunden hat. In den vielen dezidiert philosophiehistorischen Stu­ dien – etwa zu Kant, Fichte, Husserl und Heidegger oder zur Gesamtbetrachtung des Werdens der Philosophie – kommt es nicht vor. Dabei hat Schmitz den Gebrauch des Begriffs im Rahmen seiner Revision des »Systems« (vgl. Hermann Schmitz: Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, v.a. S. 184ff.) nicht als korrigierenswert erachtet. Diese Leerstelle ist auffällig, vielleicht hat Schmitz den Begriff gerade wegen der möglichen, aber nicht intendierten relativistischen oder psychologisierenden Impli­ kationen beiseitegelassen. 20 Schmitz: System I, S. 149. Zur Gegenwart als Prinzip vgl. generell ebd., S. 142, 149–152. 21 Vgl. dazu Hermann Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 9f. 19

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die gerade, so Schmitz’ Einsicht, aus einem begrifflich-konzeptuellen Selbst- und Weltmissverstehen herrührt, setzt er mit der Gegenwart ein Prinzip, das wieder eine kultur-, wissenschafts- und begriffskriti­ sche Dimension eröffnet, insofern sie jedem – im Grundsatz genom­ men – immer zugänglich ist, sie also der Prüfung heteronomer Zugriffe sei es kognitiver oder affektiver Art dienen kann. Freilich deutet schon der geschilderte Hintergrund der atmosphärischen und politischen Aufladung an, dass Schmitz ein Prinzip entwickelt, wel­ ches in seiner Eigenart diesen Vorkommnissen theoretisch Rechnung tragen will. Anders als bei Descartes, dem es um konstruktiv-techni­ sche Weltbemächtigung gegangen sein soll, rückt bei Schmitz der Befund subkognitiver Beeinflussbarkeit und der Umgang damit in den Fokus. Betroffenwerdenkönnen22 ist es, was an die Stelle des cartesi­ schen Ich-tue-etwas (Denken) rückt. Wie aber ist diese Einführung eines neuen Prinzips legitimiert? Und legt Schmitz nicht damit selbst schon neue – hintergrundbedingte – Einseitigkeiten als überzeitlich Standhaltendes aus? Wiederholt er die Fehler der Vorgänger nur mit anderen Gehalten? Um sich darauf Antwort zu verschaffen, muss die Neue Phänomenologie in ihren methodischen Entscheidungen in den Blick kommen, denn Gegenwart wird deshalb zum Prinzip, weil sie sich als methodisch gewonnenes Phänomen herausstellt.

2. Phänomen, Methode und Geltung Es ist sicher zutreffend, festzuhalten, dass Schmitz’ Stärke gerade nicht die methodologische Reflexion ist. Jens Soentgen hält die neophäno­ menologischen Methodenreflexionen für »unbefriedigend«.23 Dieses Urteil kann man insofern nachvollziehen, als sich zweierlei Beobach­ tungen manifestieren: Erstens hat Schmitz methodische Überlegun­ 22 Es ist hier nicht der Raum, die sich auf diese Weichenstellung der schmitz’schen Phänomenologie beziehenden häufigen Fehldeutungen des Betroffenwerdens als tier­ gleicher, unmenschlicher Passivität einzugehen. In aller Deutlichkeit stellt Schmitz immer wieder heraus, dass Betroffenwerdenkönnen nur Anlass oder gleichsam Beginn ist, der Mensch aber gerade als Person dazu aufgefordert ist, sich aus diesem Betrof­ fensein herauszuarbeiten. Passivität ist nicht das Ziel, sondern nicht zu streichender Teil der conditio humana. 23 Jens Soentgen: Die verdeckte Wirklichkeit. Einführung in die Neue Phänomenolo­ gievon Hermann Schmitz, Bonn 1998, S. 158.

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gen nur sehr peripher angestellt, oft nur kurz abgehandelt;24 zweitens wird die explizit in Anschlag gebrachte Methode in der Regel im Rah­ men der konkreten Phänomenanalysen nicht expressis verbis ange­ wendet. Hier hat somit das Vorgehen Schmitz’ gewisse Kritiken gera­ dezu heraufbeschworen, die dann von drohender Beliebigkeit und fehlender Wissenschaftlichkeit einerseits25 und letztlich inhaltslee­ ren, nichtssagenden Erträgen andererseits sprechen.26 Schmitz hätte stärker die methodologischen Überlegungen in den Mittelpunkt stel­ len sollen. Allerdings – im Sinne des principle of charity – lässt sich sagen, dass er dies unter einer anderen Kategorie dann doch getan hat. Seine Erwägungen darüber, was ein Phänomen ist, sind im Grunde genom­ men immer auch eine Form methodologischen Nachdenkens. Ein Phänomen definiert Schmitz wie folgt: »Phänomen ist für jemand zu einer Zeit ein Sachverhalt, dem der Betreffende dann nicht im Ernst den Glauben verweigern kann, dass es sich um eine Tatsache handelt.«27 Mit diesem Verständnis weicht er stark von viel apodiktischeren und vor­ derhand universalistischen Konzeptionen, wie sie Edmund Husserl und stärker noch Max Scheler verfochten haben, ab.28 Ein Phänomen ist etwas immer nur für jemanden zu einer Zeit, was bedeutet, für andere und zu anderen Zeiten kann es dies auch gegebenenfalls nicht (mehr) sein. Damit ist schon ersichtlich, dass ein Phänomen keine Die wesentlichen Hinweise auf die Methode der Neuen Phänomenologie finden sich bei Schmitz: System I, § 14; ders.: System der Philosophie. Bd. III/1: Der leibliche Raum, Bonn 2005, S. XVII-4; ders.: System der Philosophie. Bd. III/2: Der Gefühls­ raum, Bonn 2005, S. XIff.; ders.: System der Philosophie. Bd. III/4: Das Göttliche und der Raum, Bonn 2005, S. 1–5; ders.: »Die phänomenologische Methode in der Phi­ losophie«, in: ders.: Neue Phänomenologie, Bonn 1980, S. 10–27 und ders.: Der uner­ schöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, S. 33f. 25 Vgl. Hans-Joachim Pieper: »Die ›Aufklärung‹ in der Notaufnahme. Zur Rhetorik und Ideologie der ›Neuen Phänomenologie‹«, in: Erwägen Wissen Ethik 15, 2004, S. 192ff., hier v.a. S. 194. 26 Vgl. Schröter: »Naturwissenschaft im Spiegel der Neuen Phänomenologie«, S. 201. Schröter hat allerdings offensichtlich die hier zuvor in einer Fußnote benannten methodologischen Reflexionen nicht zur Kenntnis genommen, sonst hätte er ein sol­ ches Urteil kaum redlich fällen können. 27 Schmitz: Einführung, S. 12. Als wichtigste Arbeit zum Phänomen-Begriff vgl. auch ders.: »Was ist ein Phänomen?«, in: ders.: Sich selbst verstehen. Ein Lesebuch, hrsg. v. Michael Großheim/Steffen Kluck, Freiburg/München 2021, S. 71–82. 28 Zu dieser Selbstdeutung vgl. als Überblick Hermann Schmitz: »Alte und Neue Phänomenologie«, in: ders.: Sich selbst verstehen. Ein Lesebuch, hrsg. v. Michael Großheim/Steffen Kluck, Freiburg/München 2021, S. 45–51. 24

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ewige, überzeitliche Entität darstellt, es ist selbst kontextrelativ. Frei­ lich bedeutet das nicht den Verzicht auf gleichsam fortdauernde Gül­ tigkeit des Phänomens, sondern verweist nur darauf, dass Apodikti­ zität für phänomenologische Einsichten29 nicht von vornherein unterstellt werden darf, sondern sich nur diachron in der Zeit nach und nach herausstellen kann. Weiterhin steckt in dem Hinweis, es handle sich um einen Sachverhalt, nicht um eine Sache, eine wichtige Einsicht. Gegen Heideggers Verständnis des Phänomens als das »Sich-an-ihm-selbst-zeigende, das Offenbare«30 will damit nämlich gesagt sein, dass nicht das Phänomen als Sache sich selbst als es selbst zeigt, sondern es dazu der Kategorisierung bzw. Konzeptualisierung bedarf. Etwas wird als etwas erst zum Phänomen, die »Dinge« sind es nicht schon von sich aus.31 Ein Sachverhalt ist eine Sache mindestens in einer Beziehung zu einem Konzept, mitunter auch in Beziehung zu anderen Sachen usw. Phänomene sind nicht begriffsfreie, »urtümli­ che«, »reine« Begebenheiten, an irgendwelchen abstrakten Vorgriffen führt auch für die Neue Phänomenologie kein Weg vorbei.32 Schließ­ lich verweist die Rede von dem »Ernst« darauf, dass es um eine die ganze Person betreffende Prüfung geht. Jemand muss das Begegnende unter Aufbietung aller kognitiven, moralischen, sinnlichen, leiblichen usw. Integrität auf seine Qualität, seine (aktuale) Unleugbarkeit hin untersuchen. Solch ein Verständnis des Phänomens als relativ auf Person und Zeitpunkt – und daher mittelbar ebenso auf Geschlecht, Kultur, sozia­ len Status usw. – sowie als immer notwendig »theoriebeladen« zeigt schon, dass der Zugang zu ihm nicht naiv und direkt erfolgen kann, 29 Hinter diesem Impuls, Apodiktisches finden zu wollen, steckt womöglich ein Wan­ del, vielleicht sogar ein Verfehlen des rechten phänomenologischen Ethos. Dazu vgl. die klugen Beobachtungen und Überlegungen bei Michael Großheim: Ludwig Klages und die Phänomenologie, Berlin 1994, S. 131–142. 30 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 2001, S. 28. 31 An dieser Stelle hat Schmitz seine früheren Annahmen, die praktisch auf der Linie Heideggers lagen (vgl. Schmitz: System I, S. 139), entsprechend revidiert (vgl. dazu ders.: Spielraum, S. 17). 32 Vgl. dazu Schmitz: Einführung, S. 12f. und ders.: »Was ist ein Phänomen?«, S. 72– 76. Damit ist auch klar, dass Phänomene nicht nur für sich stehen, sondern insgesamt eingeordnet werden müssen. Schmitz ist aus diesem Grunde am Systemdenken inter­ essiert, das eben Beziehungen herstellt. Gegen eine bei unverbundenen Einzelbe­ schreibungen stehenbleibende »Bilderbuchphänomenologie« fordert er zusammen­ hängende Systematisierung (vgl. ders.: »Die phänomenologische Methode in der Philosophie«, S. 23ff.).

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es also unbedingt einer Methode bedarf. Um zu einem derartig gekennzeichneten Phänomen zu gelangen, ist nach Schmitz eine wesentliche Vorgehensweise sinnvoll, nämlich die phänomenologi­ sche Revision. Darunter versteht er den »Umdenkversuch, bezüglich des gestellten Themas [oder Phänomens; S.K.] Annahmen zu variie­ ren, bis sich etwas herausstellt, das der Variierende gelten lassen muss, weil er sich selbst nicht mehr glauben könnte, wenn er das bestritte.«33 Durch Ändern der konzeptuellen Vorgriffe – der »Filter«, der »Abstraktionsbasis«, wie es bei Schmitz heißt34 – kommt der Phänomenologe dazu, zu prüfen, ob das, was ihm als Phänomen unbestreitbar erscheint, über seinen eigenen Lebenshorizont hinaus dieses Standhaltende bleibt. Damit wird die phänomenologische Prü­ fung über den Rahmen idiosynkratischer Weltzugänge hinweggeho­ ben, die Revision fordert nämlich den Einbezug der Zeugnisse anderer, Dritter ganz explizit ein.35 Mittels des so dargelegten Phänomen-Konzepts reagiert die Theorie der Neuen Phänomenologie auf methodischer Ebene auf die philosophischen Weichenstellungen im 20. Jahrhundert. Sie nimmt Impulse der Hermeneutik auf wie desgleichen kulturalistische Ein­ sichten, denn als Phänomen wird ein jedweder Sachverhalt zu einem immer prinzipiell fraglichen und hinterfragbaren Bestand, der seinen »Standort« notwendig mit sich trägt. Damit wird die epoché – die radikale Urteilsenthaltung – Husserls ausgeweitet und auf Dauer gestellt, sozusagen prozessualisiert. Gleichwohl scheint dies dem ein­ gangs erläuterten Vorwurf Vorschub zu leisten, Philosophie bzw. kon­ kreter Phänomenologie werde »subjektiv« im Sinne der bloßen Mei­ nungskundgabe eines spezifischen Individuums. Wird Phänomenanalyse letztlich im negativen Sinne relativ und damit absolut wissenschaftsfern? Schmitz: »Was ist ein Phänomen?«, S. 80. Vgl. dazu z.B. Schmitz: Einführung, S. 12f. 35 Vgl. etwa Schmitz: »Die phänomenologische Methode in der Philosophie«, S. 22 und ders.: System I, S. 140. Betrachtet man unvoreingenommen die von Husserl und von Schmitz über das je eigene Erfahren hinausgehenden Quellen, auf die beide zurückgegriffen haben, wird ersichtlich, um wieviel mehr Schmitz der richtigen Auf­ forderung, der Tendenz nach alle Erfahrungen – nicht nur die eigenen – ernst zu neh­ men, im Vergleich zu Husserl nachgekommen ist. Vgl. zu Schmitz’ Quellenarbeit auch einige (mitunter kritische) Hinweise in Steffen Kammler/Steffen Kluck: »Ad fontes. Zu den Quellen des Phänomenologen«, in: Michael Großheim (Hrsg.): Neue Phäno­ menologie zwischen Praxis und Theorie. Festschrift für Hermann Schmitz, Freiburg/ München 2008, S. 59–78. 33

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Ihrem Selbstverständnisnach ist das nicht der Fall, Schmitz ver­ steht sich als Universalist, aber eben gerade nicht als apodiktischen, sondern »tentativen«36. Wie kann die Behauptung eines Anzielens universeller Geltung mit der Relativierung des Phänomens zusam­ mengedacht werden? Gibt es nicht gerade im Hinblick auf die Inter­ subjektivität der Erträge der Neuen Phänomenologie ein erhebliches Defizit? Hier gilt es wiederum, sachangemessen zu differenzieren. Was die geschilderte Methode zentriert um das dargelegte Phäno­ men-Verständnis nicht zu leisten vermag, ist, apodiktisch und vor­ wegnehmend Intersubjektivität ihrer Erkenntnisse und Beschreibun­ gen zu unterstellen. Dies ist schon deshalb nicht möglich, weil starke Objektivität im Sinne des naturwissenschaftlichen Paradigmas ganz explizit eine hohe Theoriebeladenheit der empirisch zulässigen Welt­ bestände impliziert,37 was freilich dem phänomenologischen Impuls einer tunlichst freien Variation der Vorannahmen zuwiderläuft. Phä­ nomenologie ist gerade »ein Lernprozess der Verfeinerung der Auf­ merksamkeit und Verbreiterung des Horizontes für mögliche Annah­ men.«38 Wissenschaftlichkeit mit ihren spezifischen Eigenschaften – starke Objektivität, Reduktion der Empirie auf ausgewählte Merk­ male usw. – ist daher auch keineswegs absolute Notwendigkeit für sie, sondern nur eine unter mehreren möglichen methodischen Optio­ nen, »ein Werkzeug des Durchdenkens und der Verständigung, aber kein letztes Ziel, in dem sie [die Philosophie; S.K.] Erfüllung fände.«39 Damit verbindet sich die Phänomenologie inhaltlich mit einer Kritik an der Wissenschaft, wie sie aktuell (oder historisch) besteht. Hierin ist kein Skandalon zu sehen, sondern nur die konse­ quente Umsetzung der geschilderten Methode, alles redlich durch Variation von Annahmen zu prüfen – sowohl wissenschaftliche wie nicht-wissenschaftliche. Eine stillschweigende Voraussetzung eines ganz spezifischen Erkenntniswegs und -ideals wäre geradezu ein Selbstwiderspruch der Phänomenologie. Schmitz: »Phänomenologie als Anwalt der unwillkürlichen Lebenserfahrung«, S. 219. 37 Vgl. dazu z.B. Hermann Schmitz: »Naturwissenschaft und Phänomenologie«, in: Erwägen Wissen Ethik 15, 2004, S. 147–154 und ders.: Jenseits des Naturalismus, Frei­ burg/München 2010, S. 24–77. 38 Schmitz: Einführung, S. 14. 39 Schmitz: System I, S. 17. Vgl. auch die Hinweise ebd., S. 18. An anderer Stelle (ders.: »Phänomenologie als Anwalt der unwillkürlichen Lebenserfahrung«, S. 215) spricht Schmitz davon, die Phänomenologie sei nur »zu Gast« bei der Wissenschaft. 36

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Gleichwohl verbindet sich diese Absage oder Kritik nicht mit dem Verzicht auf überindividuelle Gültigkeit der Einsichten.40 Diese kann allerdings nicht einfachhin behauptet werden, sondern erweist sich immer nur bis auf Weiteres im kritischen Prüfen: »Die Voraussetzung, dass man sich mit den anderen Menschen über die Phänomene wird einigen können, hat […] nur heuristischen Sinn, ist als heuristisches Prinzip dem Phänomenologen freilich auch unent­ behrlich. Ohne sie verlöre er den Antrieb, aus dem Schneckenhaus sei­ ner eigensinnigen Sichtweise herauszugehen, und damit die Kompe­ tenz für den Umdenkversuch. Zum Glück zeigt die Erfahrung, dass bei ernsthafter Aufgeschlossenheit der Beteiligten der Spielraum für fruchtbare Einigung breit ist. […] Die phänomenologische Aufgaben­ stellung ist jedoch nicht auf unbeschränkte Intersubjektivität der Ergebnisse angewiesen.«41

Es besteht dem Ansatz nach also das Bestreben, überindividuelle Gel­ tung sicherstellen zu können, doch dafür gibt es keine apriorische Garantie.42 Schon die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen, aber erst recht mit psychopathologischen Erlebniswelten kann erklär­ lich machen, was Schmitz vor Augen hat, wenn er von der heuristi­ schen, aber immer unsicheren Prämisse redet. Intersubjektive Gel­ tung ist eine Auszeichnung, die phänomenologisch erst durch prüfendes Erarbeiten errungen werden kann – und dann auch immer nur auf »Bewährung«.43 Zu erreichen ist dieser Geltungsanspruch nur, auch das wird im vorgehend Zitierten deutlich, dadurch, dass der Phänomenologe gleichsam den Dialog44 sucht. Dies hilft ihm, seine eigenen Beschrän­ kungen zumindest tendenziell abzulegen, zugleich erweitert es den Vgl. dazu Schmitz: System I, S. 67. Schmitz: »Was ist ein Phänomen?«, S. 81. 42 Vgl. so Schmitz: »Phänomenologie als Anwalt der unwillkürlichen Lebenserfah­ rung«, S. 216. 43 Vgl. dazu Schmitz: System I, S. 137f. 44 Es ist daher nur konsequent, dass Schmitz den sogenannten hermeneutischen Zir­ kel – also die problematische Beziehung zwischen den je eigenen (oder je kultur- bzw. sozialspezifischen) Vorgriffen und den von diesen abhängigen Erkenntnissen – gerade nicht als Zirkel, sondern als Dialog versteht. In der Bewährung der vorweggehenden Annahmen an der Erfahrung anderer (und der variierten eigenen) kommt es zu einem Dialog zwischen den Beteiligten und damit letztlich zu einer phänomenadäquateren Erkenntnis (vgl. dazu Hermann Schmitz: »Hase und Igel. Vom Pech des unbeschei­ denen Analytikers«, in: ders.: Sich selbst verstehen. Ein Lesebuch, hrsg. v. Michael Großheim/Steffen Kluck, Freiburg/München 2021, S. 83–89, hier 89). 40 41

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ihm zur Variation und Prüfung zugänglichen Erfahrungsraum.45 Dia­ logpartner sind dabei sowohl Zeitgenossen als auch historisch über­ lieferte Erfahrungsberichte und Zeugnisse unterschiedlichster Art. Und doch, dies gilt es zu beachten, bleibt im Zuschnitt der Phä­ nomenologie insgesamt, der Neuen Phänomenologie zumal die Rolle des Phänomenologen eine besondere. Er als Konstatierender, als ernsthaft Prüfender kann nicht ersetzt werden. Aus dieser Sonder­ rolle, die in den Naturwissenschaften dem Modell und dem Selbst­ verständnis nach kein Äquivalent hat – denn dort kann prinzipiell jeder die Konstatierung der Messwerte vornehmen, egal wer (oder was) er ist –, resultiert vermutlich der Vorwurf der Subjektivität. Allerdings ist dies, wie klargeworden sein sollte, ein Missverständnis, denn nicht in die vermeintliche Konstruktion der phänomenologi­ schen Einsichten geht der Konstatierende ein, sondern vielmehr in die Rolle desjenigen, der die ernsthafte Prüfung vornimmt. Phänomen­ analysen bleiben in gewissem Sinne auf die unvertretbare Basis eines je eigenen Urteils angewiesen.46 Aber indem das Zustandekommen des Urteils im geschilderten Sinne methodisch errungen wird, ist es schon dem Anspruch nach notwendig weit mehr als die Verbalisierung einer Idiosynkrasie.

3. Neue Phänomenologie als Hermeneutik Um dem Vorgehen der Neuen Phänomenologie noch einmal aus anderer Perspektive Kontur zu geben, lohnt ein Seitenblick auf die Hermeneutik, hier insbesondere der phänomenologisch (über Heidegger) inspirierten Theorie Hans-Georg Gadamers. Dies lohnt schon deshalb, weil Schmitz Hermeneutik insgesamt positiv wahr­ nimmt, wenn er auch für eine radikale Erweiterung derselben plä­ diert.47 Von Heidegger und Gadamer ist zu lernen, dass Menschen nichts begegnen kann, wenn sie nicht schon Vorgriffe tätigen: 45 Vgl. dazu Schmitz: Einführung, S. 12, 14; ders.: System I, S. 21, 67, 140 sowie ders.: »Die phänomenologische Methode in der Philosophie«, S. 22. 46 Vgl. Schmitz: »Was ist ein Phänomen?«, S. 80. 47 Zu Schmitz’ Perspektive vgl. Hermann Schmitz: »Zur Rehabilitierung des Verste­ hens als wissenschaftlicher Aufgabe«, in: ders.: Sich selbst verstehen. Ein Lesebuch, hrsg. v. Michael Großheim/Steffen Kluck, Freiburg/München 2021, S. 118–125. Für eine Deutung des Phänomenbegriffs der Neuen Phänomenologie als einen herme­ neutischen vgl. auch Steffen Kluck: Pathologien der Wirklichkeit. Ein phänomenologi­

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»[…] [D]ie Auslegung hat sich je schon endgültig oder vorbehaltlich für eine bestimmte Begrifflichkeit entschieden; sie gründet in einem Vorgriff. Die Auslegung von Etwas als Etwas wird wesenhaft durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff fundiert. Auslegung ist nie vorausset­ zungsloses Erfassen eines Vorgegebenen.«48

Indem Schmitz das hermeneutische Motiv des »Etwas als Etwas«49 mittels seines Sachverhaltsbegriff des Phänomens auf eben dieses selbst überträgt, macht er die Phänomenanalyse zu einem herme­ neutischen Vorgang. Kerngedanke ist dabei, dass die Vorgriffe zwar – wie zumeist betont wird – Dinge oder Einsichten verstellen, weshalb Kritik an ihnen notwendig ist, sie aber andererseits auch überhaupt erst etwas als etwas sehen lassen. Es gibt daher zum Vorteil der Men­ schen keine Freiheit von Standpunkten und Konzepten, wohl aber die Möglichkeit der präzisierenden, anpassenden Arbeit an diesen. In Gadamers Worten: »Alle rechte Auslegung muss sich gegen die Willkür von Einfällen und die Beschränktheit unmerklicher Denkgewohnheiten abschirmen und den Blick ›auf die Sachen selber‹ richten […]. Denn es gilt, den Blick auf die Sache durch die ganze Beirrung hindurch festzuhalten, die den Ausleger unterwegs ständig von ihm selbst her anfällt. Wer […] ver­ stehen will, vollzieht immer ein Entwerfen.«50

Ein Clou des Hermeneutischen nach Gadamer liegt dann darin, diese Entwürfe zu prüfen, wobei der von ihm geschilderte Prozess prima facie demjenigen der von Schmitz entworfenen Phänomenologie nahezu zu entsprechen scheint: »Die Ausarbeitung der rechten, sach­ angemessenen Entwürfe, die als Entwürfe Vorwegnahmen sind, die sich ›an den Sachen‹ erst bestätigen sollen, ist die ständige Aufgabe

scher Beitrag zur Wahrnehmungstheorie und zur Ontologie der Lebenswelt, Freiburg/ München 2014, S. 108–116. 48 Heidegger: Sein und Zeit, S. 150. Die Differenzierung von Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff kann hier dahingestellt bleiben, weil es allein um den vorwegnehmendsehenlassenden Charakter geht, dem alle drei zuträglich sind. 49 Heidegger selbst hat diese Struktur als »apophantisch« im Rahmen seiner Beschäf­ tigung mit Aristoteles eingehend entdeckt. Vgl. dazu Martin Heidegger: Die Grund­ begriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (=GA 29/30, hrsg. v. Fried­ rich-Wilhelm von Hermann), Frankfurt 1983, z.B. S. 447, 492f. 50 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1965, S. 251.

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des Verstehens.«51 Indem durch Variation der Vorannahmen die Kon­ zeptualisierung des unwillkürlichen Erlebens als etwas Bestimmtes geprüft wird, schälen sich Phänomene heraus. Da dabei konzeptuellbegriffliche Vorgriffe leitend sind – die Schmitz häufig als Abstrakti­ onsbasis summarisch erfasst –, ist die Neue Phänomenologie sachlich adäquat als eine (auch) hermeneutische Philosophie zu denken. Dem entspricht der schon geschilderte Rückgriff auf die Erfah­ rungen (bzw. Erfahrungsschilderungen) Dritter. Dieser nämlich erlaubt es, den eigenen Entwurfshorizont mit anderen Horizonten52 – anderer Individuen ebenso wie anderer Zeiten und Kulturen – zu konfrontieren und zu korrigieren. Schmitz’ Vorgehen kann dann so gesehen in zweierlei Richtungen gelesen werden: Einerseits ist er selbst hermeneutisch Prüfender, andererseits bietet er für andere geprüfte Vorgriffe an. Als selbst Prüfender kommt Schmitz dem kri­ tischen Impuls der Hermeneutik nach, bestehende Vorgriffe auf ihre Phänomenadäquatheit zu bewerten. Dazu dienen ihm die geschilder­ ten methodischen Schritte. Spannender aber ist der zweite Aspekt, dass Schmitz selbst mittels seiner Neuen Phänomenologie ein Begriffs­ raster zur Verfügung stellt, welches Menschen als Vorgriff, als Zugang Dienste leisten soll, aber natürlich wieder durch diese dann auf die Probe zu stellen ist. Schmitz will seine Rezipienten das Sprechen leh­ ren, aber auch das Rechenschaft-Geben.53 Sprechen lehren im Sinne einer angemesseneren (oder im Grenzfall: überhaupt möglichen) Bezugnahme auf die unwillkürliche Lebenserfahrung setzt voraus, dass es bessere (oder eben: überhaupt) Konzepte gibt, die die bishe­ rige Abstraktionsbasis hinter sich lassen. Genau dies glaubt nun Schmitz geleistet zu haben, indem er von sich behauptet, einen neuen Rahmen zu stiften, innerhalb dessen die prüfende Besinnung agieren

Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 252. Der wesentliche Unterschied zwischen Hermeneutik und Neuer Phänomenologie liegt darin, dass Erstere an Texten orientiert bleibt, während Letztere den Anwendungsbereich der Hermeneutik letztlich auf nahezu alles, was dem Menschen begegnet, ausweitet. Vgl. dazu Schmitz: »Zur Reha­ bilitierung des Verstehens als wissenschaftlicher Aufgabe«, v.a. S. 47f. 52 Zum Konzept des Horizontes vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 286: »Der Horizont ist der Gesichtskreis, der all das umfaßt und umschließt, was von einem Punkte aus sichtbar ist.« 53 Vgl. Schmitz: »Die phänomenologische Methode in der Philosophie«, S. 25. 51

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kann.54 Somit erweist sich das Vorgehen der Neuen Phänomenologie als sowohl eine kritische als auch produktive Hermeneutik. Mit dieser teilt sie zudem den Anspruch, zwar nicht apodiktisch, aber eben doch tentativ universell gültige Einsichten zu erlangen, ohne prinzipiell frei zu werden von einem Standpunktrelativismus. Noch jede Phänome­ nologie reagiert in ihrer Methode und, wie Schmitz selbst gezeigt hat, ihrem Prinzip auf konkrete historische Lagen,55 die sie bei aller Red­ lichkeit hermeneutisch nie vollständig hinter sich lassen kann.

4. Intersubjektivität und Praxis in der Neuen Phänomenologie Mit dem Gesagten ist das Zustandekommen des universellen Anspruchs vor dem Hintergrund des Prinzips der Philosophie wie auch der phänomenologischen Methode erhellt. Wie aber ist von die­ ser Warte aus auf die eingangs referierten zwei Kritiken – Idiosyn­ krasie, praktischer Widerspruch – zu reagieren? Gegen den Vor­ wurf, Phänomenologie laufe auf eine Verbalisierung bloßer Idiosynkrasien hinaus, hat sich die besondere Relevanz gerade der individualtranszendenten Bezugnahmen mittels Variation erwiesen. Wiewohl streng individual-spezifische Phänomene nicht ausge­ schlossen werden können, bleibt doch die Möglichkeit – und: hohe Wahrscheinlichkeit56 – überindividueller, gar überkultureller Gemeinsamkeiten bestehen. Jedenfalls aber darf eine solche Gemein­ samkeit so wenig vorausgesetzt wie vorauseilend ausgeschlossen werden, sie muss sich erweisen oder im Erweisen gerade ausbleiben. Es kann gegen den Einwand als Verteidigung an den Umstand erinnert 54 Vgl. dazu das Selbstbild in Hermann Schmitz: »Die Unentbehrlichkeit der Einzel­ forschung«, in: Forschung an der Universität? 8 Vorträge, Kiel 1972, S. 95–109, dort v.a. S. 99f., 108. Man kann Schmitz’ Selbstverständnis lesen als das eines Paradig­ menwechslers im Sinne Thomas Kuhns, der eine wissenschaftliche Revolution her­ beiführt, indem er einen neuen Rahmen, also ein neues Paradigma, stiftet, innerhalb dessen dann wieder »Normalwissenschaft« ausgeübt werden kann. Vgl. dazu Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, übers. v. Hermann Vetter, Frankfurt 1976, v.a. S. 49–56 (normale Wissenschaft), 123–146 (wissenschaftliche Revolution als Erlernen neuen Sehens). Allerdings ist mit Kuhn gesprochen freilich ein Paradigmenwechsel nur durch das Tun eines Einzelnen nicht zu bewerkstelligen. 55 Dazu vgl. auch Großheim: Ludwig Klages und die Phänomenologie, S. 132. 56 Vgl. dazu Schmitz: System I, 67 und ders.: »Phänomenologie als Anwalt der unwillkürlichen Lebenserfahrung«, S. 217.

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werden, dass sich der Kritik manche Phänomenbeschreibungen frü­ herer Autoren als Idiosynkrasien erwiesen haben. Genau das ist das angestrebte Ziel – ein fortgesetztes Prüfen und Revidieren. Keines­ wegs ist Idiosynkrasie eine in der Logik der Phänomenologie oder Philosophie liegende Konsequenz, sondern ein – menschenmöglicher – Fehler, den zu korrigieren leistbar ist. Und doch, wie die vorherge­ hende Deutung der Neuen Phänomenologie als Hermeneutik zeigte, gibt es unhintergehbare Grenzen der Intersubjektivität. Schmitz, der als Person hinter seinem Werk verschwinden möchte,57 bleibt doch sichtbar. Trotz seinem Bestreben, einen über ihn hinausgehenden Rahmen zur Besinnung seinen Lesern und Mitdenkenden zu eröff­ nen, wird sein Werk den Autor notwendigerweise nicht los. Solche Aspekte hat Soentgen kritisch betrachtet, wenn er von gewissen autorgebundenen Eigenheiten des Werkes spricht,58 aber sie stehen dem universellen Anspruch nicht prinzipiell im Weg. Um solche Grenzen der Geltung zu explizieren, seien einige genannt: Schmitz rekurriert im Rahmen seiner ästhetischen Wertun­ gen und Beispiele sowie seines Literaturfundus letztlich auf das, was man wohl einen bildungsbürgerlichen Kanon nennen könnte mit all den positiven wie negativen Bahnungen desselben. Weiterhin ver­ folgt er jenseits seines systematischen Blicks doch auch sehr spezielle Erkenntnisinteressen, die mitunter seine Vorgriffe zu verengen schei­ nen, etwa sein Interesse an Rechts- und Religionsphilosophie.59 Auch die konkrete Lebensumwelt von Schmitz schlägt sich nieder, die derjenigen vieler heutiger Leser fremd sein dürfte, insofern Compu­ ter, Handys, 3D-Filme und dergleichen keine nennenswerte explizite Rolle spielen. Schließlich spricht Schmitz zudem als Mann, allerdings bekundet er diese Grenze deutlich.60 Diese Standpunktrelativierun­ gen sind entdeckbar und können korrigiert werden, sie gestatten nicht, Idiosynkrasie zu deduzieren. Vgl. dazu die Anekdote in o.V.: »Laudatio für Professor Hermann Schmitz«, in: Dr. Margrit Egnér-Stiftung (Hrsg.): »Zeit und Zeitgeist.« Festschrift zur Preisverleihung 2014, Zürich-Meilen 2014, S. 15ff., hier 16. 58 Vgl. dazu Soentgen: Die verdeckte Wirklichkeit, z.B. S. 171–176. 59 So schreibt Schmitz schon früh im Rahmen seiner philosophischen Arbeit, es habe ihn von »Anfang an […] die Aufgabe kritischer Rehabilitierung von Recht und Reli­ gion gefesselt […].« (Hermann Schmitz: »Mein System der Philosophie. Absicht, Methode, Grundgedanke«, in: ders.: Sich selbst verstehen. Ein Lesebuch, hrsg. v. Michael Großheim/Steffen Kluck, Freiburg/München 2021, S. 66f., hier 67). 60 Vgl. auch die Hinweise bei Ute Gahlings: Phänomenologie der weiblichen Leiber­ fahrung, Freiburg/München 2006, S. 69–72. 57

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Der zweite Vorwurf, der Phänomenologe bzw. Philosoph »lebe« in der Praxis nicht (immer) nach seiner Theorie, ist weniger relevant als der erstgenannte, verdient jedoch im Hinblick auf die Neue Phä­ nomenologie eine Erwiderung. Einerseits nämlich ist Schmitz auffäl­ lig bestrebt, als Person gerade nicht zu erscheinen. Es gibt kaum Bezüge zu erkennbar autobiographischen Erfahrungen und auch ansonsten weisen seine Werke eigentlich nicht auf ihn als Person.61 Daher ist von dieser Seite her offensichtlich, dass die Philosophie Schmitz’ nicht auf ihn selbst in argumentativer Hinsicht angewiesen ist. Und doch wird das Argument, Schmitz komme seiner eigenen Philosophie in der Praxis nicht nach, gelegentlich geäußert, etwa wenn aus seiner Kritik an bestimmten naturwissenschaftlichen Einseitig­ keiten der Medizin unterstellt wird, Schmitz bevorzuge doch wohl selbst bei einem medizinischen Leiden die gegenwärtige Medizin gegenüber obskuren Vorformen, woraus die Hinfälligkeit der Kritik folge.62 Das ist freilich unzulässig, nicht nur ist zwischen Genesis und Geltung zu scheiden, sondern auch zwischen Praxis und Geltung. Die phänomenologischen Einsichten können trotz der Weigerung des Phänomenologen, lebenspraktische Konsequenzen zu ziehen, zutref­ fen. Freilich kommt der Praxiseinwand gegenüber Phänomenologie vermutlich leichter zum Zug, weil sie von sich selbst ja eine engere Beziehung zur Lebenswelt behauptet. Tatsächlich wäre es daher auch überraschend, wenn Phänomenologie gar keine Veränderungen beim Phänomenologen zeitigen würde, im Einzelfall jedoch folgt daraus nichts. Phänomenologie ist Einladung zum Gespräch über das, was sich als unhintergehbar gibt – wie diese Einsicht dann aber wirksam wird, steht auf einem anderen Blatt. Mit diesen knappen Erwiderungen vor dem Hintergrund der Aufhellung des Zugangs und der Methode der Neuen Phänomeno­ logie ist die Beziehung, die der konkrete Phänomenologe ihr zufolge zu seiner Theorie hat, aufgeklärt. Keineswegs sind auf die geschilderte Weise gewonnene Einsichten idiosynkratische Einsichten, sondern Erkenntnisse, die prinzipiell Anspruch auf objektive Gültigkeit erhe­ 61 Auffällige Ausnahme ist der Bezug auf die irritierenden Erfahrungen des Natio­ nalsozialismus, auf die damalige atmosphärische Aufladung, auf die schon hingewie­ sen worden war (vgl. Fußnote 21), und zum anderen die Widmung seiner Rechtsphi­ losophie an seinen Vater und Großvater, die beide Richter in höheren Positionen waren. 62 Vgl. so Geert Keil: »Die Neue Phänomenologie hält Gericht«, in: Erwägen Wissen Ethik 15, 2004, S. 177ff., hier 178.

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ben dürfen, wenngleich diese aber immer fraglich bleibt. Einher mit dieser Möglichkeit geht aber eine besondere Stellung des Phänome­ nologen innerhalb der Theorie, insofern er als redlich Bekundender und Prüfender unersetzlich ist. Dank der Chance, das eigene Erleben an dem Erleben anderer zu eichen, folgt daraus jedoch keine Subjek­ tivität im Sinne nur individueller Geltung. Vielmehr erarbeitet Schmitz speziell, der Phänomenologe allgemein eine Alternative der Weltbetrachtung, gewonnen aus einer Kritik am Bestehenden und Üblichen, die fruchtbar auf alle anderen Menschen wirken kann. Daher können solche Arbeiten universell beachtenswert sein, »wenn der Philosoph, gleichsam als Pionier der Selbstbesinnung, exempla­ risch Wege zeigt, auf denen andere etwas entdecken können, das ihnen für ihr Welt- und Selbstverständnis bedeutsam wird.«63

Literaturverzeichnis Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1965. Gahlings, Ute: Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrung, Freiburg/ München 2006. Großheim, Michael: Ludwig Klages und die Phänomenologie, Berlin 1994. Hadot, Pierre: Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie?, übers. v. Heiko Pollmeier, Frankfurt 1999. Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Ein­ samkeit (=GA 29/30, hrsg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann), Frankfurt 1983. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 2001. Kammler, Steffen/Steffen Kluck: »Ad fontes. Zu den Quellen des Phänomeno­ logen«, in: Michael Großheim (Hrsg.): Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie. Festschrift für Hermann Schmitz, Freiburg/München 2008, S. 59– 78. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Hamburg 2016. Keil, Geert: »Die Neue Phänomenologie hält Gericht«, in: Erwägen Wissen Ethik 15, 2004, S. 177ff. Kluck, Steffen: Pathologien der Wirklichkeit. Ein phänomenologischer Beitrag zur Wahrnehmungstheorie und zur Ontologie der Lebenswelt, Freiburg/München 2014. Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, übers. v. Her­ mann Vetter, Frankfurt 1976. Schmitz: »Phänomenologie als Anwalt der unwillkürlichen Lebenserfahrung«, S. 219.

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Lembeck, Karl-Heinz: »Von falschen und richtigen Erfahrungen«, in: Erwägen Wissen Ethik 15, 2004, S. 182ff. Nickel, Rainer (Hrsg.): Antike Kritik an der Stoa, Berlin 2014. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft (=Kritische Studienausgabe. Bd. 3, hrsg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari), München 1999, S. 343–651. o.V.: »Laudatio für Professor Hermann Schmitz«, in: Dr. Margrit Egnér-Stiftung (Hrsg.): »Zeit und Zeitgeist.« Festschrift zur Preisverleihung 2014, Zürich-Mei­ len 2014, S. 15ff. Pieper, Hans-Joachim: »Die ›Aufklärung‹ in der Notaufnahme. Zur Rhetorik und Ideologie der ›Neuen Phänomenologie‹«, in: Erwägen Wissen Ethik 15, 2004, S. 192ff. Schmitz, Hermann: »Die Unentbehrlichkeit der Einzelforschung«, in: Forschung an der Universität? 8 Vorträge, Kiel 1972, S. 95–109. Schmitz, Hermann: »Die phänomenologische Methode in der Philosophie«, in: ders.: Neue Phänomenologie, Bonn 1980, S. 10–27. Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990. Schmitz, Hermann: Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999. Schmitz, Hermann: Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999. Schmitz, Hermann: »Naturwissenschaft und Phänomenologie«, in: Erwägen Wissen Ethik 15, 2004, S. 147–154. Schmitz, Hermann: »Phänomenologie als Anwalt der unwillkürlichen Lebens­ erfahrung«, in: Erwägen Wissen Ethik 15, 2004, S. 215–228. Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Bd. I: Die Gegenwart, Bonn 2005. Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Bd. III/1: Der leibliche Raum, Bonn 2005. Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Bd. III/2: Der Gefühlsraum, Bonn 2005. Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Bd. III/4: Das Göttliche und der Raum, Bonn 2005. Schmitz, Hermann: Der Weg der europäischen Philosophie. Bd. 2: Nachantike Philosophie, Freiburg/München 2007. Schmitz, Hermann: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg/ München 2009. Schmitz, Hermann: Jenseits des Naturalismus, Freiburg/München 2010. Schmitz, Hermann: »Alte und Neue Phänomenologie«, in: ders.: Sich selbst ver­ stehen. Ein Lesebuch, hrsg. v. Michael Großheim/Steffen Kluck, Freiburg/ München 2021, S. 45–51. Schmitz, Hermann: »Hase und Igel. Vom Pech des unbescheidenen Analytikers«, in: ders.: Sich selbst verstehen. Ein Lesebuch, hrsg. v. Michael Großheim/Stef­ fen Kluck, Freiburg/München 2021, S. 83–89. Schmitz, Hermann: »Mein System der Philosophie. Absicht, Methode, Grund­ gedanke«, in: ders.: Sich selbst verstehen. Ein Lesebuch, hrsg. v. Michael Großheim/Steffen Kluck, Freiburg/München 2021, S. 66f.

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Schmitz, Hermann: »Was ist ein Phänomen?«, in: ders.: Sich selbst verstehen. Ein Lesebuch, hrsg. v. Michael Großheim/Steffen Kluck, Freiburg/München 2021, S. 71–82. Schmitz, Hermann: »Zur Rehabilitierung des Verstehens als wissenschaftlicher Aufgabe«, in: ders.: Sich selbst verstehen. Ein Lesebuch, hrsg. v. Michael Großheim/Steffen Kluck, Freiburg/München 2021, S. 118–125. Schröter, Joachim: »Naturwissenschaft im Spiegel der Neuen Phänomenologie«, in: Erwägen Wissen Ethik 15, 2004, S. 198–201. Soentgen, Jens: Die verdeckte Wirklichkeit. Einführung in die Neue Phänomeno­ logie von Hermann Schmitz, Bonn 1998.

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Damir Smiljanić

Philosophie als »vage Wissenschaft« Ein neuphänomenologisch inspirierter Bestimmungsversuch

1. Vom Traum der »strengen Wissenschaft« zum Trauma ihrer Verfehlung Philosophie steht seit der Neuzeit unter dem Druck, sich als Wissen­ schaft begründen zu müssen, um ernst genommen zu werden, doch scheint sie bis in unsere Zeit hinein diesem hohen Anspruch nicht gerecht geworden zu sein. Alle großen Versuche, wie diejenigen René Descartes’ oder Immanuel Kants, dies zu vollbringen, sind gescheitert oder haben nicht mehr viele Anhänger in der späteren Philosophiegeschichte gefunden. Entweder sieht man die Philosophie über oder unter der Wissenschaft1 – man hält sie entweder für eine »Metawissenschaft« oder (eher abwertend) für eine »Schein-« bzw. »Pseudowissenschaft«. Die Rede von der »strengen Wissenschaft« ist uns aus einem neueren Diskussionszusammenhang bekannt. Sie wurde als Kampfparole während der Psychologismus-Debatte in der Logik und Erkenntnistheorie Anfang des vorigen Jahrhunderts ein­ gesetzt. Es war Edmund Husserl, der Begründer der phänomenologi­ schen Bewegung, der nach einer grundlegenden Selbstbesinnung der Philosophie verlangt hat, um ihrem Selbstzersetzungsprozess, der mit dem Aufkommen des Naturalismus und Weltanschauungsrelati­ vismus eingesetzt hat, Widerstand zu leisten.2 Husserl sah sich in einer Linie mit Kant und Johann Gottlieb Fichte, die auf der Idee der Wissenschaftlichkeit der Philosophie bestanden und ihre Begrün­ dungsansprüche hochgehalten haben. Doch trotz anfänglichem Vgl. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt 1963, Satz 4.111 (S. 41). 2 Vgl. als geradezu programmatisches Dokument dieser radikalen Selbstbesinnung Edmund Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft, Frankfurt 1981. 1

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Enthusiasmus setzte sich gegen Ende seines Lebens die Ernüchterung durch, gipfelnd in jener berühmten Aussage: »Philosophie als Wis­ senschaft, als ernstliche, strenge, ja apodiktisch strenge Wissen­ schaft – der Traum ist ausgeträumt.«3 Der Traum von einer wissen­ schaftlichen Philosophie wurde schnell zum Albtraum und es musste wohl einer Erleichterung gleichkommen, aus ihm aufzuwachen. Was ist vom ehemals reklamierten Wissenschaftsanspruch in der heutigen Philosophie geblieben? Auf der akademischen Tagesord­ nung sind Analyse von Argumenten, Interpretation von Texten und Spiele mit Metaphern entsprechend den vorherrschenden Strömun­ gen in der Gegenwartsphilosophie (analytische Philosophie, Herme­ neutik, Postmoderne). Aber kaum einer der Vertreter dieser Denk­ richtungen würde von der Philosophie als einer »Wissenschaft« sprechen. Die analytischen Philosophen würden allenfalls auf die Rolle hinweisen, die die Argumentation als Methode in den meisten Wissenschaften spielt, weswegen man sie auch in der Philosophie hoch veranschlagen sollte. Das ist nichts Neues – bereits seit Sokra­ tes’ und Platons Zeiten hat man die Wichtigkeit des lógon didónai in der Philosophie hervorgehoben. Das ist auch die Grundlage für eine gesunde Diskussionskultur – auf die Gründe antwortet man mit Zustimmung oder mit Gegengründen, falls man anderer Meinung ist. Eine besondere Schwierigkeit, die Philosophie für eine Wissen­ schaft zu halten, liegt im Charakter ihres Gegenstands. Weder ist die Anzahl ihrer Gegenstände begrenzt noch ist ihre Sicht auf einen dieser Gegenstände auf bloß eine Perspektive eingeengt. Philosophie kann buchstäblich über alles Mögliche, ja selbst über das Nichts sprechen – bereits dadurch ist der enge disziplinäre Rahmen einer Einzelwis­ senschaft gesprengt. Über einen und denselben Gegenstand kann man wiederum die verschiedensten – nicht selten die gegensätzlichsten – Ansichten vertreten. Alles in allem keine günstigen Aussichten, um die Schwelle der Wissenschaftlichkeit zu erreichen. Eine zusätzliche Schwierigkeit kommt noch hinzu. Klarheit und Verständlichkeit werden meistens ebenfalls als Merkmale eines wis­ senschaftlich überprüfbaren Sprechens und Denkens ausgegeben. Der Weg zu Einsichten ist zwar auch auf wissenschaftlichem Gebiet mit Unklarheiten, Umwegen und Irrungen verbunden, aber wenn man 3 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (=Gesammelte Werke. Bd. VI), Den Haag 1962, S. 508.

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einmal zu jenen gelangt, so werden sie klar und unmissverständlich formuliert. In der Philosophie klagt der Vertreter einer philosophi­ schen Richtung oder Position über die Unklarheit oder Unverständ­ lichkeit der anderen: analytische Philosophen vermissen bei den Her­ meneutikern und postmodernen Philosophen sprachliche Klarheit und methodisches Denken, diese werfen wiederum jenen Seichtheit und Formalismus vor. Der Kampf philosophischer Strömungen und Schulen ist auch ein Kampf der Denk- und Schreibstile. Es ist in der Philosophie alles umstritten – ihre Methoden, ihr Gegenstand, ihre Sprache. Sowohl ihr theoretischer Charakter als auch ihre praktische Rolle im Leben ist nicht eindeutig bestimmt. Aber der eigentliche Skandal der Philosophie besteht nach einem Ver­ gleich Kants darin, dass sie einem »Kampfplatz« ähnelt, auf dem es keiner der Spieler (Fechter) bislang vermocht hat, »sich auch den kleinsten Platz […] erkämpfen und auf seinen Sieg einen dauerhaften Besitz gründen [zu] können«.4 Der Mangel an Konsens und Kontinui­ tät dürfte wohl das stärkste Argument gegen die Wissenschaftlichkeit der Philosophie sein. Kontinuität in der Gegenstandserforschung kann es nur dort geben, wo bestimmte Anhaltspunkte vorgegeben sind, an die innerhalb der Forschung weiter angeschlossen werden kann. Aber in der Philosophie gibt es solche Anhaltspunkte nicht – in jeder weiteren Epoche des philosophischen Denkens können sie ver­ worfen oder hintergangen werden und es können neue vorgeschlagen werden. Die Empiristen werden sich an andere Punkte (Autoren, Begriffe, Theorien etc.) halten als Rationalisten, die materialistisch orientierten Denker werden anders ansetzen als die idealistisch gesinnten, die Realisten werden vom Primat der Wirklichkeit ausge­ hen, während Konstruktivisten oder Fiktionalisten gerade dies hin­ terfragen werden usw. Die Philosophiegeschichte ist eine Geschichte von radikalen Richtungswechseln, Umbrüchen und Neuansetzungen. Natürlich ist auch die Geschichte verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen keineswegs eine lineare Kontinuitätsgeschichte, wo sich eine Theorie nahtlos an die vorangegangene anschließt und wo es nur stetiges Fortschreiten in der Erkenntnisgewinnung gibt – Thomas S. Kuhns und Michel Foucaults Rekonstruktion der Wissenschaftsge­ schichte zeigen ein anderes Bild, geprägt von Paradigmenwechseln und Diskontinuitäten. Man kann zumindest auf dem Gebiet der 4 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (=Sämtliche Werke. Erster Band), Leipzig 1919, B XV.

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Naturwissenschaften von einem Erkenntnisfortschritt sprechen, aber auf dem Gebiet der Philosophie ist es wesentlich schwieriger zu sagen, inwieweit man im Laufe ihrer Geschichte weitergekommen sei. So kann man schwerlich sagen, dass man Platon, David Hume oder Kant »überwunden« habe. Erst recht scheint der Wissenschaftlichkeitsanspruch der Philo­ sophie an dem Dauerdissens zu scheitern, der nicht nur ein äußerlicher Aspekt ihrer geschichtlichen Gestalt ist, sondern dessen tiefere Gründe hier in der Art des Denkens zu liegen scheinen. Philosophi­ sches Denken ist multioptionales Denken:5 ein Denken in »Weltal­ ternativen«, wie Heinrich Rickert zu sagen pflegte.6 Zu einer Ansicht wird notwendigerweise eine andere (alternative), nicht so selten gegensätzliche Ansicht angeboten und mit mehr oder minder guten Gründen verteidigt. Deswegen ist es schwer, einen Konsens in der Philosophie zu erzielen – die Philosophen gehen in ihrem Denken nicht nur von gegensätzlichen Aussagen, sondern vor allem von gegensätzlichen Voraussetzungen aus. Und die Voraussetzungen mit­ einander in Einklang zu bringen, scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Nimmt man all die vorhin erwähnten Gesichtspunkte zusam­ men, so scheint keine Aussicht auf die Etablierung einer philosophi­ schen Wissenschaft zu bestehen. Philosophie ist wohl keine Wissen­ schaft – und selbst wenn man sie für eine solche halten würde, so wäre sie sicherlich keine strenge Wissenschaft. Aber was ist sie dann? Viel­ leicht kann uns hier eine wichtige Strömung der Gegenwartsphiloso­ phie wie die Neue Phänomenologie weiterhelfen.

2. Neue Phänomenologie auf dem Weg zu einem anderen Philosophieverständnis Hat sich auch die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz dem Wissenschaftlichkeitsprogramm der »alten« Phänomenologie Hus­ serl’scher Prägung verschrieben? Will auch Schmitz in seinem System Vgl. zu dieser These Damir Smiljanić: Philosophische Positionalität im Lichte des Perspektivismus. Ein metaphilosophischer Versuch, Marburg 2006, S. 49–68. 6 Vgl. Heinrich Rickert, »Thesen zum System der Philosophie«, in: Hans-Ludwig Ollig (Hrsg.): Neukantianismus. Texte der Marburger und der Südwestdeutschen Schule, ihrer Vorläufer und Kritiker, Stuttgart 1982, S. 174–181, hier 175f. 5

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der Philosophie letzterer zur wissenschaftlichen Gestalt verhelfen? Soll auch hier das philosophische Denken »streng« verfahren? Oder wird hier eine andere Orientierung angestrebt, die dann ein anderes Selbstverständnis der Philosophie nach sich zieht? Dass von einer »neuen« Phänomenologie die Rede ist, dürfte wohl auf ein Umdenken hinweisen. Worin manifestiert sich dieses? Hier seien einige wichtige Gesichtspunkte genannt, die den Unterschied beider Formen des phä­ nomenologischen Denkens betreffen. Rein äußerlich gesehen lässt sich der Unterschied in der »Dichte« des Systems bemerken: Bei Hus­ serl liegt der Fokus auf der theoretischen Philosophie; Logik, Erkennt­ nistheorie, (philosophische) Psychologie und Wissenschaftstheorie sind die Hauptdisziplinen, wohingegen die Themen der praktischen Philosophie und der Ästhetik von ihm weniger behandelt werden. Man kann sagen, dass Husserls Schüler(innen) oder ihm naheste­ hende Denker(innen) den Rest des »Aufbaus« des phänomenologi­ schen Systems besorgt haben: Martin Heidegger hat die Ontologie phänomenologisch begründet und ergründet, Hedwig Conrad-Mar­ tius die Naturphilosophie, Max Scheler die Ethik und Wertphiloso­ phie, Adolf Reinach die Rechtsphilosophie, Roman Ingarden die Ästhetik, die französischen Phänomenologen haben den Blickpunkt auf leibphilosophische und anthropologische Themen gelenkt usw. Bei Schmitz ist dagegen die Themen- und Disziplinenvielfalt breiter angelegt als beim Begründer der »alten« Phänomenologie – man schaue sich nur sein mehrbändiges Hauptwerk7 an oder nehme als Beispiel dafür dessen kompakten Abriss Der unerschöpfliche Gegen­ stand.8 Weit wichtiger als der Unterschied in der systematischen Dar­ stellungsdichte ist der Aufgabenbereich der als fundamentaler Diszi­ plin begriffenen Phänomenologie. Bei Husserl ist die Hauptaufgabe der Phänomenologie die Freilegung einer eidetischen Gegenstands­ region mit eigenen Gesetz- und Regelmäßigkeiten und die möglichst vorurteilsfreie Beschreibung der Phänomene in der Region des reinen Bewusstseins. Schmitz bringt die Hauptaufgabe mit folgenden (gera­ dezu parolenartigen) Worten zum Ausdruck: Philosophie ist »Sich­

7 Hermann Schmitz: System der Philosophie (5 Bände in 10 Büchern), Bonn 1964– 1980 (Neuauflage: Freiburg/München 2019). 8 Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990.

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besinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung«.9 Es scheint, als ob der »Altphänomenologe« seiner transzendentalphi­ losophischen Ausrichtung gemäß die Situationsgebundenheit des Erkenntnissubjekts überwinden will, der »Neuphänomenologe« dagegen gerade bei der Situativität des Erkennens und Lebens ver­ weilen will. Husserls transzendentale Phänomenologie geht vom Bewusstseinsparadigma aus – sie ist hauptsächlich eine Bewusstseins­ philosophie; Schmitz’ Phänomenologie setzt dagegen auf das Para­ digma des Leibes – sie ist im Großen und Ganzen eine Leibphiloso­ phie. Husserls Phänomenologie scheint sich vor allem an die Experten zu richten (sieht man einmal von der wissenschaftskritischen Moti­ vation der Krisis-Schrift ab); Schmitz’ »neue« Phänomenologie will alle Menschen ansprechen, damit diese sich über ihr eigenes Leben im Klaren sind. Auch in methodischer Hinsicht differieren die phä­ nomenologischen Ansätze. In der älteren Variante dominieren Ein­ klammerung der (natürlichen) Einstellung und Wesensschau, in der neueren lässt sich eine häufige Verwendung von Definitionen und Illustration des Gesagten an Beispielen beobachten. Der Zusatz »neu« im Namen der Neuen Phänomenologie scheint berechtigt zu sein und ist kein bloßer Zierrat. Trotz dieser Differenzen sollte man nicht die Gemeinsamkeiten aus dem Blick verlieren: Sowohl Husserl als auch Schmitz widersetzen sich einerseits dem Naturalismus, andererseits dem Weltanschau­ ungsrelativismus. Außerdem finden sie im Psychologismus densel­ ben Gegner (bei Schmitz in Form des Introjektionismus und Projek­ tionismus). In methodischer Hinsicht dreht sich bei ihnen wie bei ihren Anhängern der Großteil der Bemühungen um die Deskription von Bewusstseinserlebnissen und Leiblichkeitserfahrungen. Beim späten Husserl gibt es eine Hinwendung zur lebensweltlichen Erfah­ rung – bei Schmitz ist sie von vornherein der Ausgangspunkt der Untersuchung. Phänomenologie bemüht sich um die begriffliche Erfassung der subjektiven Erfahrung (derjenigen der ersten Person gegenüber der dritten, wie man in der heutigen analytischen Philo­ sophie zu sagen pflegt). Wenngleich die phänomenologischen Ansätze bei Husserl und Schmitz – also in Schmitz’ Worten: die »alte« und die »neue« Phäno­ 9 Hermann Schmitz: »Wozu Neue Phänomenologie?«, in: ders.: Sich selbst verstehen. Ein Lesebuch, hrsg. v. Michael Großheim/Steffen Kluck, Freiburg/München 2021, S. 33–44, hier 35. Vgl. dazu auch Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 5–16.

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menologie – besonderen Nachdruck auf die Eigenständigkeit philo­ sophischen Nachsinnens über die Stellung des Menschen in seiner Lebenswelt legen, so spielt der Wissenschaftlichkeitsgedanke eine unterschiedliche Rolle hier und dort. In der frühen Phase ist Husserls Phänomenologie vom Gedanken der Annäherung der Philosophie an die begrifflichen und methodischen Standards der exakten Wissen­ schaften (vor allem der Mathematik) durchsetzt, die spätere distan­ ziert sich davon – die Neue Phänomenologie besteht dagegen von vornherein auf der Eigenständigkeit des philosophischen Forschens und stemmt sich gegen die objektivistische Ausrichtung der Wissen­ schaften. Letzteres lässt sich auch so verstehen, dass Schmitz eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der abendländischen Wissenschaft hegt, da sie seiner Ansicht nach ihren Anteil an den »Verkünstelun­ gen« der unwillkürlichen Lebenserfahrung hat, die zu einer Selbst­ entfremdung des Menschen von seiner Leiblichkeit als Grundlage seines Selbstgefühls geführt haben. Das heißt natürlich nicht, dass Schmitz eine wissenschaftsfeindliche Haltung einnehmen würde, sondern dass ein Übergriff des wissenschaftlichen Denkens auf die Art und Weise, wie die Menschen im Alltag denken und sich selbst verstehen, zu verhindern oder zumindest einzugrenzen ist. Die Wich­ tigkeit der einzelwissenschaftlichen Forschung samt ihrer Methoden und Absichten wird damit nicht in Abrede gestellt. Ähnlich wie Hus­ serl versucht Schmitz die Engpässe eines einseitigen Szientismus zu vermeiden. Aber das heißt nicht, dass man in der Philosophie nicht streng denken solle. Demjenigen oder derjenigen, der sich bzw. die sich durch die unzähligen Schriften von Schmitz hindurchgearbeitet hat, dürfte die Schärfe aufgefallen sein, mit der der Begründer der Neuen Phä­ nomenologie bei der begrifflichen Erfassung der Finessen des Leib­ lichkeitserlebens nachgegangen ist, ohne dabei die Tiefe des dem Menschen eigenen Wirklichkeitsgespürs zu vernachlässigen. Schmitz zeigt im konkreten Denkvollzug, dass sich Begriffsschärfe und Gefühlstiefe in der philosophischen Darstellung keineswegs auszu­ schließen brauchen. Ein Manko der heutigen akademischen Philoso­ phie ist, dass ihr diese Einheit von scharfsinnigem und tiefgründigem Denken abhandengekommen ist: Entweder herrscht ein dünner Argumentationslogizismus vor wie in der Gestalt der dominierenden analytischen Denkrichtung oder ein schillernder Metaphernmysti­ zismus, der vor allem in der postmodernen Denkszene zum Zuge kommt.

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Philosophie ist nach Schmitz zwar keine strenge Wissenschaft, wie sich dies der Begründer der alten Phänomenologie vorgestellt hat, aber sie muss sich bei ihrem Unterfangen, die »unwillkürliche Lebens­ erfahrung« freizulegen, um Strenge des begrifflichen Ausdrucks bemühen, so dass diejenigen, die sich mit den Einsichten der Neuen Phänomenologie vertraut machen möchten, bei der Erfassung der relevanten Phänomene klar und deutlich wissen, wovon die Rede ist, wenn die entsprechenden Phänomene beschrieben werden. Das ist umso bemerkenswerter, als ausgerechnet die Neue Phänomenologie mit unscharfen Phänomenen zu tun hat, um deren möglichst distinkte begriffliche Erfassung sie sich bemüht. An einigen Beispielen soll gezeigt werden, was darunter zu verstehen ist.

3. Unscharfe Phänomene als Gegenstand der Neuen Phänomenologie Im Eindruck werden wir auf bestimmte Weise einer Wirklichkeit gewahr, die uns nicht in eindeutiger Weise präsent ist. Dass wir von etwas nur einen Eindruck haben, soll heißen, dass wir etwas so wahr­ nehmen, wie es uns erscheint, im Widerschein unserer Vermutung, Ahnung oder vielleicht auch nur unserer Wünsche. Dass ich den Ein­ druck habe, dass mir jemand suspekt vorkommt, liegt in dem nicht völlig bestimmten bzw. undeutlichen Ausdruck der Sache (in diesem Falle: dem Erscheinungsbild einer Person). Ausdrucksbilder sind nie völlig transparent, weil sie uns unterschiedlich affizieren. Wir sind uns einer Sache sicher, wenn wir wissen, wie es um sie bestellt ist – überhaupt, wie sie beschaffen ist. Aber wenn sie uns in einer bestimm­ ten Situation auf eine bestimmte Weise erscheint, dann haben wir nur einen Eindruck von ihr. Wir wissen dann nur ungefähr etwas von ihrem Sein. Zwar vermitteln uns Eindrücke keine sichere Erkenntnis, aber so manche Einsicht in den Stand der Dinge kann gerade durch den entsprechenden Eindruck eingeleitet werden. Eindrücke sind zudem in Korrelationsverhältnisse mit Ausdrücken eingespannt, so dass einem bestimmten Ausdruck bzw. Ausdrucksbild ein entspre­ chender Eindruck korrespondiert. Auf dieses strukturelle Verhältnis hat bereits Ludwig Klages mit seiner These von der Polarität von Ausdruck und Eindruck hingewiesen und Schmitz hat dieses Verhält­

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nis noch näher gefasst – bei ihm wird der Ausdruck als »Eindruck in leiblicher Kommunikation« bestimmt.10 Die Menschen sind auf ihre Umgebung nicht nur kognitiv oder interessegeleitet eingestellt, sondern auch emotional. In der Schmitz’schen Phänomenologie wird dies als affektives Betroffensein thematisiert. Gefühle waren in der philosophischen Tradition eher stiefmütterlich behandelt – und selbst wenn sie im Fokus des philo­ sophischen Interesses standen, wirkten sich bei ihrer begrifflichen Erfassung introjektionistische Vorurteile aus. Sie wurden meistens als »innere Zustände« des Subjekts begriffen, etwas, was es gleichsam »von innen« packt und auf sein Handeln und Verhalten (meistens negative) Auswirkungen hat. Gefühle machen Menschen unbere­ chenbar und sie lassen sich schwer unter die Macht des Verstandes bringen, was ihnen vor allem im ethischen Kontext ein negatives »Image« gebracht hat. Aber deswegen ist ihre Thematisierung eine Herausforderung für die philosophische Begriffsarbeit. Wie fasse ich adäquat dasjenige, was mich aus der Fassung bringt? Besonders die Neue Phänomenologie hat sich jener Herausforderung gestellt, nach Abräumung introjektionistischer und rationalistischer Scheuklappen das Gefühlsphänomen als solches zu beschreiben. Die Perspektive wird hier völlig gewechselt – Gefühle sind keine inneren Zustände, sondern buchstäblich Mächte, die den Menschen von außen ergreifen (mit Schmitz’ Worten: »räumlich ergossene Atmosphären und leiblich ergreifende Mächte«). Um diese ungewöhnliche Perspektive unserem Verständnis näherzubringen, verwendet Schmitz den Begriff der Atmosphäre, der somit auch auf affektive und emotionale Phänomene passt und nicht nur auf wettermäßige (meteorologische) begrenzt ist. Dabei wird Atmosphäre als »die ausgedehnte Besetzung eines flä­ chenlosen Raumes im Bereich dessen, was als anwesend erlebt wird«,11 verstanden. Wir leben auch in einem Gefühlsraum, dessen Annahme dem dominierenden Raumverständnis der Naturwissen­ schaft widerspricht (Schmitz bezeichnet letzteres als »Dogma vom geometrischen Raum«). Es gibt eben auch flächenlose Räume, Räume, die buchstäblich erlebt werden bzw. in denen man sich auf bestimmte Weise selbst erlebt. Vgl. etwa Hermann Schmitz: Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Phi­ losophie, Berlin 1997, Kapitel 8. 11 Hermann Schmitz: Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz, Freiburg/ München 2016, S. 227. 10

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Schmitz geht noch einen Schritt weiter und bezeichnet Gefühle als »Halbdinge«: »Gefühle kommen und gehen, ohne eines stetigen Zusammenhangs in der Zwischenzeit zu bedürfen.«12 Dass Schmitz hier auf den Begriff des Halbdings zurückgreift, weist gerade auf eine Spezifik der neuphänomenologischen Begriffsbildung hin – es gibt nicht nur Dinge und Undinge, sondern eben auch Halbdinge, die sich durch folgende Merkmale auszeichnen: unterbrechbare Dauer und Zusammenfallen von Ursache und Einwirkung. Durch die Zeitlichkeit und Kausalität unterscheiden sich Halbdinge von den »Volldingen« und »substanzlosen« Vorgängen. Der Wind ist beispielsweise weder rein materiell noch rein temporal – er ist eine bestimmte Art von »Luftströmung«, die aber diskontinuierlich (in Schüben, von Zeit zu Zeit) auftritt. Man könnte daher auch von unscharfen Entitäten spre­ chen – sie sind mal so, mal anders, sie kommen und gehen, sie machen sich gelegentlich (dann aber oft intensiv) bemerkbar. Sie oszillieren zwischen Sein und Nichtsein, sind aber dennoch bemerkbar und des­ wegen auch beschreibbar. Aber man braucht angemessene Begriffe, um sich die genannten Phänomene zu Bewusstsein zu bringen. Und der Begriff des Halbdings ist gerade solch ein Versuch, das sich der begrifflichen Erfassung Entziehende dem Begreifen näherzubrin­ gen.13 12 Schmitz: Ausgrabungen, S. 227. – Man müsste einem solchen Verständnis des Gefühls ein weiteres hinzufügen, das für eine hermeneutische Logik von Bedeutung wäre: Gefühle als Weisen der Bewusstwerdung bestimmter (verdeckter) Sachverhalte. Wenn wir sagen, dass wir von etwas bloß eine Ahnung haben, so umschreiben wir das oft auch so: »Ein Gefühl sagt mir, dass …«. Das wäre ein kognitiver Sinn von Gefühl als imprägnierter Erkenntnis, die nach einer zusätzlichen Explikation verlangt – durch die sprachliche Auseinanderlegung des in diesem Gefühl eingeschlossenen Sinnes werden wir uns der Sache allererst voll bewusst. Wir klären damit etwas auf, was uns im eben genannten Gefühl unklar und wenig deutlich gegeben ist. Aber immerhin ist es uns im Gefühl gegeben und daher kann es nicht einfach wegerklärt werden. Man sieht, dass dies auch Folgen für den Umfang der philosophischen Sprachanalyse hat. 13 Josef König, der oft als Vertreter einer hermeneutischen Logik genannt wird, sprach von Ausdrücken in mittlerer Eigentlichkeit (vgl. dazu Josef König: Sein und Denken. Studien im Grenzgebiet von Logik, Ontologie und Sprachphilosophie, Tübingen 1969, S. 21, 41 (Anm. 1), 67 f. (Anm. 1)). Solche Ausdrücke sind weder rein buchstäblich noch rein metaphorisch zu nehmen. »Halbding« ist solch ein Ausdruck – damit ist keines­ wegs ein unvollständiges Ding gemeint, wie der Torso einer antiken Skulptur als archäologischer Fund (reine Eigentlichkeit), noch ein imaginäres Ding wie der Zentaur als antikes Fabelwesen (ein Ding bzw. Wesen zwischen Mensch und Pferd – das wäre ein »uneigentlicher« Wortgebrauch). Ausdrücke in mittlerer Eigentlichkeit bezeich­ nen somit in ontologischer Hinsicht schillernde Phänomene, die sich einer eindeuti­

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Schmitz wehrt sich nicht nur gegen den Introjektionismus und Projektionismus, wie er in der abendländischen Philosophiege­ schichte ausdrücklich oder unterschwellig vertreten wird, sondern auch gegen den sogenannten Singularismus, also »die Überzeugung, dass alles ohne Weiteres einzeln ist, d.h. eine Anzahl um 1 ver­ mehrt«.14 Er geht davon aus, dass es neben absoluter Identität auch relative Identität gibt, und ferner – was noch wichtiger ist – dass sich die Wirklichkeit nicht aus lauter Einzelgegenständen und Einzelpro­ zessen – gleichsam summarisch – zusammensetzt. Weder sind Gegenstände einfach singuläre Entitäten noch sind die Bestimmun­ gen des (scheinbar einzelnen) Gegenstands sämtlich einzeln: »Alle einzelnen Bestimmungen sind in einen Nebel nicht vereinzelter ein­ gebettet.«15 (Dass Schmitz hier von »Nebel« spricht, deutet auf die Vagheit der angesprochenen Bestimmungen hin.) Aber nicht nur der Begriff der Einzelheit muss einer Revision unterzogen werden – auch derjenige der Mannigfaltigkeit bedarf einer Neufassung. Ausgehend von der Dominanz des quantitativen Begriffs der Mannigfaltigkeit, schlägt Schmitz ein qualitatives Mannigfaltigkeitskonzept vor. Er bricht mit drei Dogmen: mit dem Grundsatz der durchgängigen Bestimmung jeglichen Gegenstands, der Absolutsetzung der num­ merischen Mannigfaltigkeit und dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Um zur eigenen Position zu gelangen, muss er sich durch die Probleme und Paradoxien der Mengenlehre hindurcharbeiten, was insgesamt den Komplexitätsgrad seiner Überlegungen steigert. Man kann mit einigem Recht behaupten, dass die Schmitz’sche Identitätsund Mannigfaltigkeitslehre vermutlich der theoretisch anspruchs­ vollste, somit auch schwierigste Teil seines Systems ist. Hinsichtlich der Rezeption müsste man sich noch mehr mit diesem Teil des Sys­ tems beschäftigen, als dies bisher der Fall war. Schmitz unterscheidet drei Arten der Mannigfaltigkeit: die numerische, die chaotische und schließlich noch der (werkgenetisch späte) Typus der zwiespältigen Mannigfaltigkeit. Unter numerischer Mannigfaltigkeit wird jene Art von Mannigfaltigkeit verstanden, die sich als Menge von abzählbaren (vereinzelten) Elementen präsentiert. Einzeln ist ein Gegenstand dann, wenn er einerseits absolut identisch gen Kennzeichnung entziehen, aber, wie die Beispiele von Schmitz zeigen, durchaus real spürbar sind. 14 Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg/ München 2010, S. 24. 15 Schmitz: Einführung, S. 52.

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ist, und andererseits, wenn durch seine Hinzunahme eine bestimmte Menge von Gegenständen um 1 vermehrt wird. Ein Fußballteam besteht aus elf Spielern – jeder der Spieler ist identisch mit sich selbst (soll heißen: kann nicht mit einem anderen verwechselt werden), und verlässt er etwa während des Spiels das Feld (z.B. wegen einer roten Karte), so wird die betreffende Menge um 1 verringert. Aber laut Schmitz ist nicht alles einzeln und somit ist nicht alles Mannigfaltige numerisch. Bei der Konzipierung der sogenannten chaotischen Man­ nigfaltigkeit war ihm angeblich das Bild des Verschwommenen (aber nicht dasjenige des Verworrenen oder Unordentlichen) leitend. Dieser Typ von Mannigfaltigkeit zerfällt in zwei Untertypen: den konfusen und den diffusen Typ. Beim ersteren fehlt es an absoluter Identität, Verschiedenheit und Einzelheit, so etwa beim erfahrenen Schwimmer, wenn er sich durch ruhiges, wellenarmes Wasser nach vorwärts bewegt, dabei nicht zwischen den jeweils neu hinzukommenden Flu­ ten unterscheidend. Beim diffusen Mannigfaltigkeitstyp fehlt es nicht an absoluter Identität und Verschiedenheit, wohl aber an Einzelheit, was durch das Beispiel eines Menschen veranschaulicht werden kann, der an fester Nahrung kaut: Er unterscheidet den Bissen im Mund von seiner Zunge, denn wenn er dies nicht täte, so würde er seine eigene Zunge zerkauen; aber dies kann er auch automatisch tun, ohne Unter­ scheidung der einzelnen Nahrungsteile, z.B. während er mit anderen Menschen kommuniziert oder während er sich einen Film im Fern­ sehen anschaut. Es gibt aber noch andere Formen der nicht-numerischen Man­ nigfaltigkeit, etwa die unspaltbaren Verhältnisse, die man sowohl im Bereich des numerischen wie des chaotischen Mannigfaltigen wie­ derfindet. Das Beispiel mit den zwei Sägenden, das Schmitz oft anführt, gehört hierher (wenn es sich um abzählbare Interaktions­ teilnehmer handelt), aber ebenfalls sind Affektbesessenheit und Eksta­ sen als Fälle des unspaltbaren Verhältnisses zu nennen. Während sich der vom Affekt betroffene Mensch seiner selbst noch bewusst ist (daher haben wir es hier noch mit numerischem Mannigfaltigen zu tun), sind sich die Partner im Falle des ekstatischen Liebespaars ihrer selbst nur durch den anderen bewusst, d.h. sie treten in Beziehung zu etwas anderem nur als ganzes Paar und nicht als einzelne Menschen (hier handelt es sich um einen Fall von chaotischem Mannigfaltigen). Schließlich gibt es auch das zwiespältige Mannigfaltige, innerhalb des­ sen zwei oder mehrere Erscheinungsbilder miteinander als Identi­ tätsmuster konkurrieren, so dass nicht gleich zu erkennen ist, worum

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es sich im konkreten Fall jeweils handelt. Das Beispiel der »Hus­ serl’schen Puppe«16 illustriert diesen Fall: Husserl war sich nicht sicher, ob er in einem Panoptikum einer Dame oder einer Puppe begegnet ist. Die Identität der problematischen Sache wird durch einen Zwiespalt bestimmt (nicht aber durch Widerspruch). Mit dem­ selben Fall von zwiespältiger Mannigfaltigkeit haben wir es bei der Bestimmung der personalen Identität zu tun, denn es zeigt sich, dass ein »ganzer Mensch« sowohl einen einzelnen Menschen bedeuten kann, der alle Lebensphasen durchlaufen hat, was dann ein Fall num­ merischer Mannigfaltigkeit ist, aber auch jenen Menschen, bei dem verschiedene Versionen seiner selbst, die sich in unterschiedlichen Phasen seines Lebens ausbilden, um Identität mit diesem Menschen konkurrieren, ohne dass eine von ihnen den Sieg davontrüge – das ist dann der Fall eines zwiespältigen Mannigfaltigen. Wie man sieht, sind die Verhältnisse hier ziemlich komplex. Schmitz hat immerhin ver­ sucht, das Knäuel, bestehend aus vielfältigen Beziehungen und Ver­ hältnissen, einigermaßen zu entwirren. Als letztes Beispiel eines »unscharfen« Phänomens, um dessen begriffliche Fassung sich die Neue Phänomenologie Schmitz’scher Prägung in immer neuen Anläufen bemüht hat, ist die Situationsge­ bundenheit des Menschen (gewissermaßen sein »Verstricktsein« in Situationen) zu nennen. Die Situation wird ebenfalls im Rahmen sei­ ner Mannigfaltigkeitslehre thematisiert und näher bestimmt. Hier eine Definition dieses Begriffs: »Eine Situation ist Mannigfaltiges irgend welcher Art, das ganzheitlich (d.h. in sich zusammenhängend und nach außen mehr oder weniger abgehoben) zusammengehalten wird durch eine binnendiffuse (d.h. im Inhalt chaotisch mannigfaltige) Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme und/oder Probleme sind.«17

Wie man aus diesem Zitat herausliest, spielen in die Bestimmung der Situation all jene Elemente hinein, die in der Mannigfaltigkeitslehre von Bedeutung waren: Ganzheitlichkeit, (innerer) Zusammenhang, Vereinzelung (äußere »Abgehobenheit«), chaotische Mannigfaltig­ keit, binnendiffuse Bedeutsamkeit. Mit der Situationstheorie ist viel­ leicht der wichtigste Grundstein von Schmitz’ Theorie der »unwill­ kürlichen Lebenserfahrung« gelegt, der aber so fundamental ist, dass 16 17

Vgl. zu diesem Beispiel Schmitz: Ausgrabungen, S. 75f. Schmitz: Ausgrabungen, S. 136f.

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eigentlich mit ihm der Aufbau seines Systems der Philosophie hätte beginnen können.18 In der menschlichen Erfahrung sind nicht ein­ zelne Gegebenheiten wie Sinnesdaten, Dinge, Körper, mathematische oder physikalische Messgrößen das Primäre, sondern eben Situatio­ nen, denn dank ihrer konfus- bzw. diffus-pluralen Verfasstheit eignen sie sich dazu, als wahre Schatzgruben der Bedeutsamkeit zu fungieren, aus denen die Menschen es dank ihrer Sprachfähigkeit vermögen, konkrete Bedeutungen (bei Schmitz sind dies durch Gattungen ver­ einzelte Sachverhalte) herauszuholen. Dabei ist interessant, dass der Gedanke der Sprachabhängigkeit des menschlichen Welt- und Selbst­ bezugs – eine der Haupterrungenschaften der Philosophie nach dem sogenannten linguistic turn – hier variiert wird: Die Sprache selber gibt eine Situation ab, in der die Menschen leben, so wie Tiere in ihrem situationsgebundenen Lebensmilieu. Die Menschen sind zwar in die­ ser Sprach(situations)gebundenheit »gefangen«, »aber«, so Schmitz, »sie benützen diese Gefangenschaft zur Explikation einzelner Bedeu­ tungen aus binnendiffuser Bedeutsamkeit«.19 Schmitz bleibt aber nicht bei diesen allgemeinen Bemerkungen stehen, sondern gewährt uns noch konkretere Einsichten in die chaotisch-bedeutungspräg­ nante Welt der Situationen. Abhängig von ihrem zeitlichen Verlauf und ihrer Gegebenheit im aktuellen Moment, lassen sich seiner Ansicht nach vier Spielarten der Situation unterscheiden: aktuelle, zuständliche, impressive und segmentierte Situationen. Die Einteilung ist aber nur provisorisch (man könnte auch sagen: »idealtypisch«), denn diese Situationsarten vermischen sich und können auf unter­ schiedliche Art und Weise kombiniert werden. Schließlich ist es mög­ lich, sich aus den Situationen herauszulösen (meistens dank sprach­ licher Mittel), um aus ihren explizierten Bedeutungssegmenten nach Belieben Begriffsnetze zu knüpfen und immer von Neuem zu kom­ binieren, wodurch Konstellationen entstehen. Und wenngleich der Eindruck erweckt wird, als ob mittels dieser die Menschen Herrschaft über die Situationen bekommen, können Konstellationen wiederum in Situationen übergehen, in die sich bestimmte Menschen gleich dem Auf diese Relevanz des Situationsbegriffs hat übrigens Michael Großheim in sei­ nem Beitrag zum Themenschwerpunkt Neue Phänomenologie in der kroatischen Zeit­ schrift Synthesis philosophica hingewiesen: Michael Großheim: »Zu den Situationen selbst! Ein Vorschlag zur Reform der Phänomenologie«, in: Synthesis philosophica 66, 2018, S. 303–325. 19 Vgl. Schmitz: Ausgrabungen, S. 21. 18

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Fisch im Wasser20 (Schmitz’ beliebtes Gleichnis) einleben. Man kann daher von einer geschichtlich wirksamen Dialektik von Situationen und Konstellationen sprechen.

4. Philosophie als Wissenschaft vom Vagen Was lehrt uns die neuphänomenologische Analyse von Eindrücken, Atmosphären, Halbdingen, Mannigfaltigkeitstypen und Situationen über den Charakter der Philosophie? Dass sich die Philosophie beson­ ders um die begriffliche Erfassung jener Phänomene bemühen sollte, die gerade unser Kategoriensystem auf die Probe stellen, sich also nicht einfach mit den im Alltag, aber auch den in der Wissenschaft erprobten Kategorien einfangen lassen, weshalb es eventuell auch neuer, ungewöhnlicher, buchstäblich gewöhnungsbedürftiger Begriffe bedarf. (Ein großes Verdienst von Schmitz ist es, eine Reihe solcher Begriffe in die Diskussion eingeführt zu haben: leibliche Kom­ munikation (Einleibung, Ausleibung), leibliche Inseln, primitive Gegen­ wart, Halbdinge, binnendiffuse Bedeutsamkeit, chaotische Mannigfal­ tigkeit, unspaltbare Verhältnisse u.a.) Dass uns die Welt nicht transparent ist, sieht man gerade an solchen Phänomenen, welche uns im Widerschein unserer Leiberfahrungen, Impressionen, Gefühle und Stimmungen Aspekte dieser Welt zeigen, die durch streng wis­ senschaftliche Begriffsapparaturen nicht adäquat zum Bewusstsein zu bringen sind. Der Reduktionismus leugnet dann diese Phänomene oder versucht, sie auf bekanntere (begrifflich bereits fixierte) Erschei­ nungen zurückzuführen. Das »Etwas kommt mir ungefähr so vor, als ob …« passt nicht in das Schema der »strengen Wissenschaft«: Wis­ senschaft will Gewissheit und eindeutige Begriffe und Aussagen, keine Vagheit und Ungenauigkeit. Aber vielleicht ist dann gerade dies die Aufgabe der Philosophie: das, was uns nur so oder so vorkommt, von dem wir nur einen Eindruck oder ein Gefühl haben, das, was uns irritiert und gerade aus dem Konzept bringt, auf den Nenner zu brin­ gen. (In der neueren dialektischen Philosophie nannte man es das Nichtidentische – aber man könnte es ebenso gut das Halbidentische,

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Vgl. Schmitz: Ausgrabungen, S. 139.

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das Ungefähre oder bloß Erfühlte nennen.21) Oder wir nennen es schlicht das Vage. Wenn wir das akzeptieren, dann können wir behaupten, dass die Philosophie eine vage Wissenschaft sei, was wir durchaus auch so ausdrücken könnten – sie ist die Wissenschaft vom Vagen. Damit soll keineswegs gesagt werden, dass Philosophie auf einem laxen und beliebigen Umgang mit Begriffen beruht und dass es egal wäre, wie Philosophen ihre Gedanken ausdrücken. Im Gegen­ teil – Philosophie bemüht sich (oder sollte sich zumindest darum bemühen), die oft undeutlichen (eben: vagen) Sachverhalte, um die es ihr geht, möglichst scharf und präzise zu formulieren. Dass man sich mit Vagem beschäftigt, heißt natürlich nicht, dass man selber darüber vage und undeutlich sprechen sollte. Aber über diese Sach­ verhalte kann eben auch anders gesprochen werden und das ist das Los der Philosophie, dass sie mit ihnen nie fertig wird, sie müssen immer von neuem begrifflich gefasst und geklärt werden. In diesem Sinne ist Philosophie eine vage Disziplin des Denkens und Sprechens – ihr Gegenstand kann nie völlig bestimmt und erschöpft, sein Bild kann immer aus neuen Blickwinkeln vervollständigt werden. Genau aus diesem Grund hat Schmitz vom »unerschöpflichen Gegenstand« gesprochen. Vagheit ist keineswegs ein unbeschriebenes Blatt in der Philoso­ phie. Besonders in der Logik wird seit einiger Zeit – vor allem im angelsächsischen Sprachraum22 – munter über dieses Konzept debat­ tiert. Unter der Kategorie der Vagheit werden jene strittigen Fälle behandelt, in denen es nicht so leicht möglich ist, präzise Begriffsdis­ kriminierungen durchzuführen, wo also Unschärfe das logische Geschäft des Definierens zu vereiteln scheint (man nehme das berühmte Beispiel eines Sorites bei Aristoteles: wann nennt man einen 21 Und man kann selbst die Philosophie unter diesem Gesichtspunkt als etwas zugleich Bestimmtes und Unbestimmtes betrachten. So ist die Situation der Philoso­ phie als einer selbstständigen Theorieform selber eine chaotische. Sie zerfällt in unzählige Positionen und Richtungen des Denkens, aber es herrscht wenig Klarheit darüber, welche von ihnen der Wirklichkeit entsprechen und welche nicht. Stattdessen verschaffen wir uns selber Klarheit dadurch, dass wir uns aus dieser chaotischen Man­ nigfaltigkeit von theoretischen Ansichten jene heraussuchen und weiter extrapolieren, die uns selber (unserem »Gefühl«) am meisten passen – selbst das Herausgreifen von treffenden Argumenten geschieht auf der Grundlage dieses »Gefühls«, man hat dann eben ein Gespür für die nötigen Argumente. 22 Vgl. als Beispiele unter der mittlerweile unübersichtlichen Literatur zu diesem Thema Rosana Keefe: Theories of Vagueness, Cambridge 2003 und Giuseppina Ron­ zitti (Hrsg.): Vagueness. A Guide, Dordrecht/Heidelberg/London/New York 2011.

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Menschen kahl – oder das Problem der Abgrenzung von Farbtönen). Aber was Schmitz hier vermutlich zu monieren hätte, ist, dass man in diesen Diskussionen meistens von singularistischen Voraussetzun­ gen ausgeht und in der Regel der Mannigfaltigkeit bloß numerischen Charakter zuspricht. Außerdem wird nicht die Wichtigkeit des Begriffs der Situation für solche Fälle eingesehen. Das gibt der ganzen Debatte über vagueness einen stark formalistischen und logizistischen Anstrich. Das gilt es zu korrigieren. Umso vager die Phänomene erscheinen, umso mehr sieht sich die Philosophie vor die Aufgabe gestellt, an den eigenen Begriffsmitteln zu feilen, um zu einem ange­ messenen Ausdruck der behandelten Sache zu gelangen. Das darf aber nicht in der Weise geschehen, dass man unter dem scheinbar adäquat herausgearbeiteten Begriff der Sache deren Unschärfe zum Ver­ schwinden zu bringen sucht, um dann angebliche Exaktheit zu simu­ lieren. Selbst einer der Gründungsväter der modernen (mathemati­ schen) Logik, der aber zugleich einer der wichtigsten Repräsentanten der Metaphysik des vorigen Jahrhunderts war, nämlich Alfred N. Whitehead, behauptete, Exaktheit sei nichts anderes als »Schwindel« (fake).23 Man muss sich bemühen, das Sperrige und Störrische der unwillkürlichen Lebenserfahrung auf den Begriff zu bringen, ohne ihm seinen widerspenstigen Charakter zu nehmen. Man muss daher eine »vage Wissenschaft« betreiben, wie dies z.B. Schmitz in seiner Neuen Phänomenologie getan hat. Und nachdem im vorliegenden Band neue Perspektiven dieser Art von Philosophie in der Zukunft aufgezeigt werden sollen, möchte ich am Ende meines Beitrags ein paar Vorschläge zur Thematisierung bestimmter Gegenstände machen. In der Erkenntnis- und Wahrneh­ mungstheorie sollte man sich besonders der Erforschung von Ambi­ guitäten widmen, also von Doppelgestalten und mehrdeutigen Phä­ nomenen, und diese nicht einfach als »Grenzerscheinungen« unter den Teppich kehren, sondern auch dort, wo man sie nicht vermuten würde, zum Vorschein bringen. Es kann sich um scheinbar banale Dinge des Alltags handeln wie z.B. um Flecken, an bestimmten Sub­ straten auffallende Entitäten, deren Gestalt fließend ist, die aber durchaus im Laufe der theoretischen Reflexion als bestimmte Formen erkannt werden können (und damit meine ich nicht einfach, dass man bestimmte Formen in sie hineininterpretiert). Eine fruchtbare Koope­ ration mit Ansätzen der Gestalttheorie könnte hier von Nutzen sein. 23

Vgl. Alfred North Whitehead: Modes of Thought, New York 1968, S. 96.

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Eine leibtheoretisch orientierte Philosophie wie die Neue Phänome­ nologie könnte des Weiteren ihren Blick für bestimmte leiblich fun­ dierte Erscheinungen schärfen, die uns trotz ihrer Unschärfe buch­ stäblich zu denken geben, besonders solche die mit Leibesinseln zusammenhängen: Man denke etwa an das gelegentliche Taubheits­ gefühl in den Händen oder Füßen oder extremere Formen wie Phan­ tomschmerzen – Phänomene, die man auch in der Neuen Phänome­ nologie thematisiert. Und hier könnte eine fruchtbare Zusammenarbeit mit der Medizinischen und Philosophischen Anthro­ pologie denkbar sein (das Verhältnis zu diesen Formen des Denkens scheint mir in der bisherigen historischen Sicht der Phänomenologie ein Desiderat zu sein). Schließlich möchte ich – wie bereits in einer Fußnote angedeutet – eine sprachphilosophische Initiative vorschla­ gen, die die Entwicklung des Sprachgefühls beim Menschen eigens zum Thema der neuphänomenologischen Forschung machen würde. Das Sprachgefühl kann uns dabei helfen, adäquatere Ausdrücke von den weniger adäquaten zu sortieren und noch mehr an ihnen zu arbei­ ten. Solche gefühlsbetonte Spracharbeit leisten insbesondere die Schriftsteller bzw. Dichter, die somit zu Verbündeten der Neuen Phä­ nomenologie werden, worauf man beim Lesen der vielen Schriften von Schmitz immer wieder aufmerksam wird – denn auch er (und vor allem er) fand viele interessante Sachverhalte bei jenen treffend beschrieben, weswegen es naheliegend ist, dass in literarischen und dichterischen Werken eine Fundgrube phänomenologischer Einsich­ ten zu finden sei.24 Man müsste daher auf zweierlei Art und Weise vorgehen: neuphänomenologische Erkenntnisse anhand von literari­ schen Texten veranschaulichen und, umgekehrt, evokative Potentiale der neophänomenologischen Terminologie intensiver nutzen. Eine »vage Wissenschaft« wie die Philosophie wird somit eine Inspirati­ onsquelle für ihre Untersuchungen auch in der dichterischen Sprache finden, ohne dabei die Feinarbeit an ihrer eigenen Sprache zu ver­ nachlässigen.25 24 Schließlich bemerkt auch Schmitz: »Davon [gemeint ist das Versagen der Abs­ traktionsbasis als »Fundament der Rechenschaft von der faktischen Lebenserfah­ rung«; D. S.] ist die Folge, dass von allen Menschen höchstens die Dichter, die nicht auf diese Basis verpflichtet werden, ohne Stammeln sagen können, wie ihnen zumute ist.« (Schmitz, »Wozu Neue Phänomenologie?«, S. 37.). 25 Schmitz spricht so von der »begreifenden Sensibilität«, in der sich (Neue) Phäno­ menologie übt, »um sich an die unwillkürliche Lebenserfahrung mit scharfen, aber geschmeidigen Begriffen heranzutasten, geschmeidig dadurch, dass hoch abstrakte

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Literaturverzeichnis Großheim, Michael: »Zu den Situationen selbst! Ein Vorschlag zur Reform der Phänomenologie«, in: Synthesis philosophica 66, 2018, S. 303–325. Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzen­ dentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (=Gesammelte Werke. Bd. VI), Den Haag 1962. Husserl, Edmund: Philosophie als strenge Wissenschaft, Frankfurt 1981. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (=Sämtliche Werke. Erster Band), Leipzig 1919. Keefe, Rosana: Theories of Vagueness, Cambridge 2003. König, Josef: Sein und Denken. Studien im Grenzgebiet von Logik, Ontologie und Sprachphilosophie, Tübingen 1969. Rickert, Heinrich, »Thesen zum System der Philosophie«, in: Hans-Ludwig Ollig (Hrsg.): Neukantianismus. Texte der Marburger und der Südwestdeutschen Schule, ihrer Vorläufer und Kritiker, Stuttgart 1982, S. 174–181. Ronzitti, Giuseppina (Hrsg.): Vagueness. A Guide, Dordrecht/Heidelberg/ London/New York 2011. Schmitz, Hermann: System der Philosophie (5 Bände in 10 Büchern), Bonn 1964– 1980 (Neuauflage: Freiburg/München 2019). Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990. Schmitz, Hermann: Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philoso­ phie, Berlin 1997. Schmitz, Hermann: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg/ München 2010. Schmitz, Hermann: Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz, Freiburg/ München 2016. Schmitz, Hermann: »Alte und Neue Phänomenologie«, in: ders.: Sich selbst ver­ stehen. Ein Lesebuch, hrsg. v. Michael Großheim/Steffen Kluck, Freiburg/ München 2021, S. 45–51. Schmitz, Hermann: »Wozu Neue Phänomenologie?«, in: ders.: Sich selbst ver­ stehen. Ein Lesebuch, hrsg. v. Michael Großheim/Steffen Kluck, Freiburg/ München 2021, S. 33–44. Smiljanić, Damir: Philosophische Positionalität im Lichte des Perspektivismus. Ein metaphilosophischer Versuch, Marburg 2006. Whitehead, Alfred North: Modes of Thought, New York 1968. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt 1963.

Ansetzungen reichhaltige Differenzierung gestatten«. Vgl. Hermann Schmitz: »Alte und Neue Phänomenologie«, in: ders.: Sich selbst verstehen. Ein Lesebuch, hrsg. v. Michael Großheim/Steffen Kluck, Freiburg/München 2021, S. 45–51, hier 47.

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III. Kritisches

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Durst Phänomenologie und Naturphilosophie eines elementaren Verlangens

Im Folgenden versuche ich, ein allseits bekanntes leibliches Phäno­ men, den Durst, sowohl phänomenologisch zu beschreiben als auch naturphilosophisch zu interpretieren. Dabei gehe ich so vor, dass ich zunächst, anknüpfend an allseits bekannte Erfahrungen, eine eher impressionistische Beschreibung des Durstes vorlege. Dann werden die beiden umfangreicheren Darstellungen des Durstes innerhalb der neueren Phänomenologie, diejenige von Hermann Schmitz und von Albert Grote, kritisch gewürdigt. Auf den Ergebnissen aufbauend, versuche ich anschließend, die Grundzüge des Durstes in Thesen her­ auszuarbeiten, wobei ich mich, ergänzend zu der Alltagsphänomeno­ logie des Durstes, dann auch auf Erfahrungen extremen Durstes beziehe. Meine Grundintuition läuft darauf hinaus, dass er als Erfah­ rung einer tiefen, sich hart meldenden Verbundenheit mit der ökolo­ gisch verstandenen Natur gedeutet werden kann. Um diese Richtung meiner Überlegungen von vorn herein verständlich zu machen, schi­ cke ich einige grundlegende Erläuterungen voraus, die deutlich machen sollen, was ich unter Natur und unter Leib verstehe.

1. Die ökologische Natur Mit den Worten »Ökologie« und »ökologisch«, die im Folgenden immer wieder auftauchen, beziehe ich mich nicht nur und nicht einmal überwiegend auf die Naturwissenschaft »Ökologie«, sondern auf ein Gedanken- und Handlungssystem, das weit über die Wissenschaften hinausgeht und ihnen auch vorangeht. Die ökologische Grundeinsicht kann folgendermaßen formuliert werden: Es gibt außer dem uns wohlbekannten Gemeinwesen noch ein anderes und älteres Gemein­

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wesen,1 aus dem unseres hervorgegangenen ist und dem es weiter verbunden bleibt. Mit dem schönen, wenn auch etwas diffusen Wort »Gemeinwesen« soll hier nicht unterstellt werden, dass in der Natur eine durchgehende Harmonie bestünde; die Natur ist von Antago­ nismen durchzogen; diese fehlen aber auch im politischen Gemein­ wesen nicht. Auch gibt es keine expliziten gemeinsamen Ziele. Wohl aber gibt es in der Natur ein gewisses Miteinander-Auskommen, ein grundlegendes Zusammenstimmen, und dieses Miteinander-Aus­ kommen trotz aller Gegenläufigkeit, selbst Feindschaft stellt sich immer wieder neu ein. Und es gibt auch in allen Ökosystemen und in dem sie übergreifenden globalen Ökosystem der Biosphäre eine gemeinsame Geschichte. Insofern ist das Wort »Gemeinwesen« nicht ganz unpassend. Und unzweifelhaft ist auch: Dieses andere und ältere Gemeinwesen trägt unser Gemeinwesen, wird aber zugleich bekannt­ lich von diesem zunehmend beeinträchtigt. In unserem Grundgesetz findet sich jenes ältere Gemeinwesen nur ganz am Rande und in einer stark neutralisierten Form. Artikel 20a des Grundgesetzes sagt, dass der Staat die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere schützt, und zwar weniger um ihrer selbst willen, sondern mehr in Verantwortung für zukünftige Generationen und natürlich, wie hinzugefügt wird, im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung.2 Dieser Schutz der natür­ lichen Lebensgrundlagen kam erst 1994 in die Verfassung und er klingt recht unverbindlich, doch man darf getrost damit rechnen, dass unsere Verfassung sich in dieser Beziehung bald weiterentwickeln wird; die Diskussion ist schon seit längerem im Gange.3 Der Münch­ ner Rechtswissenschaftler Jens Kersten etwa schlug einen ökolo­ gischen Liberalismus vor,4 der, anschließend an eine längere rechts­ philosophische Diskussion,5 auch Tieren und vielleicht sogar Flüssen den Status von Rechtssubjekten zuspricht. Wer glaubt, dass dies skan­ Die Formulierung variiert einen Satz von Christian Enzensberger: Nicht Eins und Doch. Geschichte der Natur, Berlin 2013, S. 70. 2 Nachzulesen etwa auf den Seiten des Bundesministeriums für Justiz [online] (Stand: 15.6.2022). 3 Vgl. Jens Kersten: »Die Rechte der Natur und die Verfassungsfrage des Anthropo­ zän«, in: Jens Soentgen/Ulrich M. Gassner/Julia von Hayek/Alexandra Manzei (Hrsg.): Umwelt und Gesundheit, Baden-Baden 2020, S. 87–120. 4 Vgl. Kersten: »Die Rechte der Natur«. 5 Beginnend spätestens mit Christopher Stone: »Should Trees Have Standing? Towards Legal Rights for Natural Objects«, in: Southern California Law Review 45, 1972, S. 450–501. 1

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dalös oder wenigstens lächerlich sei, sollte sich umschauen, in Neu­ seeland,6 in Indien und auch in Kolumbien haben bestimmte Flüsse bereits jetzt Rechtsstatus, ihre Rechte können ebenso eingeklagt wer­ den wie bei uns die Rechte von Personen oder Familienstiftungen oder Unternehmen, die ja ebenfalls nicht für sich selbst sprechen, was nicht verhindert, dass sie Rechte haben. Doch selbst wenn man solche Entwicklungen und Gedanken ablehnt und nur die Einsicht der modernen Ökologie akzeptiert, die lehrt, dass Menschen und ihr menschliches Gemeinwesen unaufheb­ bar Teil der Biosphäre, des globalen Ökosystems sind, das sie mit Wasser, mit atembarer Luft, mit Nahrung versorgt und zugleich fort­ laufend unsere Abfälle, unsere Abgase, unser Abwasser entsorgt und das ungezählte weitere »ökologischen Dienstleistungen« verrichtet, reicht das schon für mein Argument.

2. Der Leib und die ökologische Natur Mit dem Leib und den täglichen leiblichen Vollzügen sind wir nicht nur Teil der menschlichen Gesellschaft, sondern auch Teil jenes älte­ ren Gemeinwesens, stehen irgendwie in ihm drin, und der Leib ist auch meiner Überzeugung nach ein ausgezeichneter Weg, um jenes ältere Gemeinwesen von innen heraus zu erkunden, uns in ihm wie­ derzuentdecken, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Ein philosophisches Denken, das beim Leib ansetzt, statt sich nur auf geistige Vollzüge zu konzentrieren, kann sich auf eine längere Tradition beziehen. Schon Paracelsus befasste sich nicht nur als Arzt mit der menschlichen Leib­ lichkeit, sondern arbeitete ganz explizit die Verbundenheit des Men­ schen mit der ihn umgebenden Natur heraus in expliziter Absetzung vom Menschenbild der Antike. Auch bei Denkern, die von Paracelsus unabhängig sind, wird die Verbundenheit des Leibes mit der Natur herausgestellt. Ludwig Feuerbach wies als einer der ganz wenigen neueren anthropologischen Denker, indem er eine Formulierung Friedrich Schleiermachers aufgriff, explizit auf die existentielle Abhängigkeit des Menschen von der Natur hin und befasste sich auch ausführlich mit dem Essen und dem Trinken – wir kommen darauf 6 Siehe dazu die Analyse von Martin Kment: Die Neujustierung des Nachhaltigkeits­ prinzips im Verwaltungsrecht. Lückenschluss in der Nachhaltigkeitsdogmatik nach neu­ seeländischem Vorbild, Tübingen 2019.

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zurück. Jean-Paul Sartre, der sich ansonsten, wie fast der gesamte Existentialismus, nicht weiter um die Natur kümmerte, thematisierte doch immerhin den Leib und nannte ihn die Natur-für-uns,7 und Gernot Böhme8 pointierte dies in seiner Aussage, dass der Leib die Natur ist, die wir selbst sind.9 In einer neueren Veröffentlichung wies die französische Philosophin Corine Pelluchon, die vom Hunger aus­ ging, darauf hin, dass der Mensch nicht nur isoliert lebt, sondern stets »von etwas« lebt,10 und zog aus dieser Sicht weitreichende ethische und politische Schlüsse. Dem Leib dürfte bei allen künftigen philosophischen Diskussio­ nen über das Mensch-Natur-Verhältnis eine Schlüsselrolle zukom­ men, was nicht überraschend ist, denn wie fortgeschritten auch immer die digitale und biochemische Technik sein mag, immer noch werden die Menschen nicht aus Molekülen hergestellt, sondern geboren. Unser Leib ist zudem im Wesentlichen derselbe wie schon vor zehn­ tausend Jahren, als die Menschen vielerorts zwar bereits Landwirt­ schaft betrieben, aber weder Geld noch Schrift noch Städte kannten. Er ist ohne Zweifel selbst ein Stück Natur und wie andere Naturge­ bilde Produkt der Evolution. Er ist der Natur zeitlebens verbunden. Und diese Verbundenheit lässt sich nicht nur mit chemischen Metho­ den feststellen (als Stoffwechsel), sie ist auch spürbar, lässt sich also phänomenologisch, aus einer Innenperspektive heraus, fassen. Leib möchte ich dabei das nennen, womit und als das wir geboren werden. In manchen Sprachen kennt man dafür nur den Ausdruck Körper (»the body«, »le corps«, »el cuerpo«). Die deutsche Sprache erlaubt durch die beiden Wörter, die sie zur Verfügung stellt, eine schlüssige Diffe­ 7 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Onto­ logie, übers. v. Hans Schöneberg/Traugott König, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 576. Im Original: »nature-pour-nous« (ders.: L’être et le néant. Essai d’ontologie phénomé­ nologique, Paris 1973, S. 390). 8 Böhme gelangte in seinem Spätwerk zu der Einsicht, dass die schmitzsche Leib­ philosophie mit seinen eigenen ökologischen und naturphilosophischen Intuitionen weitgehend unvereinbar ist. Vgl. Gernot Böhme: Leib. Die Natur, die wir selbst sind, Berlin 2019, S. 10, 12. 9 Vgl. Böhme: Leib. Schon vor Böhme hat Traugott Koch den Leib als Natur, die wir selbst sind, aus theologischer Perspektive beschrieben (vgl. Traugott Koch: »Der Leib und die Natur. Zum christlichen Naturverhältnis«, in: Neue Zeitschrift für Systemati­ sche Theologie 20, 1978, S. 294–316). 10 Corine Pelluchon: Les nourritures. Philosophie du corps politique, Paris 2015, S. 13. Der Durst taucht in ihrem Werk nicht auf und auch ihre Phänomenologie beschränkt sich weitgehend auf Zitate aus Schriften von phänomenologischen Autoren.

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renzierung: Mit unserem Wort »Leib«, das mit dem Wort »Leben« verwandt ist,11 akzentuieren wir die Lebendigkeit sowie die Innen­ perspektive. Es ist also nicht nur der sichtbare, hörbare, tastbare, riechbare Leib gemeint, sondern eben auch der gespürte, die leiblichen Regungen wie Schreck, Angst, Hunger, Durst, Ekel, Müdigkeit. Die­ sen Regungen korrespondieren elementare Vollzüge, die zwar kultu­ reller Prägung unterliegen, aber ebenfalls schon bei Neugeborenen vorhanden sind wie das Atmen, das Trinken, das Schlafen. Diese leib­ lichen Regungen und Vollzüge zeichnen sich nun dadurch aus, dass sie »einfach da sind« oder sich in bestimmten Situationen oder Lebensphasen »von selbst« einstellen; dass man sie als etwas hin­ nehmen muss, das zum eigenen Leben einfach dazugehört. Und wenn der Leib das ist, womit und als das wir geboren sind, dann kann man mit Blick auf diese Regungen und Vollzüge sagen: Leiblich ist das Nichtgelernte und Dochgekonnte. Mit dieser Aussage schließe ich an den Mediziner Jürg Zutt an, der treffend sagte: »Wir zivilisierten Menschen haben so vieles gelernt, daß wir darüber vergessen haben, was wir je schon können.«12 Dieses Je-schon-Können von Dingen, die wir nie gelernt haben, trägt uns durch den Alltag, und daher spricht Zutt auch vom »tragenden Leib«. Er schließt dabei an Maurice Mer­ leau-Ponty an, der ebenfalls, wenn auch manchmal recht diffus, auf dieses im Leib steckende Wissen hinwies und den Leib als Mittel des »Zur-Welt-Seins«13 konzipierte. Der Mediziner Rudolf Bilz hat den Begriff der »archaischen Funktionsreserve« eingeführt,14 der ebenfalls in diese Richtung weist. Das bedeutet nicht, dass zwischen dem kulturell vermittelten Wissen und Können und dem angeborenen leiblichen Wissen und Können ein absoluter Gegensatz besteht, ihr Verhältnis ist vielmehr eine offene Forschungsfrage. Es ist davon auszugehen, dass auch die 11 Vgl. Wolfgang Pfeifer: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Berlin 1993, S. 783f. 12 Jürg Zutt: »Über den tragenden Leib«, in: ders.: Auf dem Wege zu einer Anthropo­ logischen Psychiatrie. Gesammelte Aufsätze, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1963, S. 416–426, hier 423. 13 Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. v. Rudolf Boehm, Berlin 1966, S. 103. Vgl. auch ebd., S. 278: »Ich nehme wahr mit meinem Leib, mit meinen Sinnen, wobei mein Leib und meine Sinne nichts anderes sind als eben dieses habituelle Wissen von der Welt, diese implizite oder sedimentierte Wissen­ schaft […].« 14 Rudolf Bilz: Paläoanthropologie. Der neue Mensch in der Sicht einer Verhaltensfor­ schung. Erster Band, Frankfurt 1971, S. 94.

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leiblichen Vorgänge und Regungen eben keine immer gleichen Vor­ gänge und Regungen sind, sie sind vielmehr in gewissem Grade durch Erfahrungen und Ereignisse wandelbar. Inwieweit, das allerdings ist eine offene Frage, die sich beim Ekel,15 der sich teilweise auch lernen und verlernen lässt, z.B. anders darstellt als beim Durst. Unser Leib steht in der sozialen und kulturellen Welt und bleibt doch mittendrin in der ökologischen Natur. Er ist und bleibt mit der Erde verwachsen. Das bedeutet: Er mag vielfältig medizintechnisch und kosmetisch verändert, durch die kulturelle Evolution beeinflusst sein; es mag uns gelungen sein, unsere Umwelt weitgehend technisch zu strukturieren und z.B. an jeder beliebigen Weltstelle jederzeit ein beliebig helles Licht leuchten zu lassen und damit die Nacht, wann wir wollen, zum Tag zu machen. Es ist unbestritten, dass wir mit unseren Kalendern rein soziale, oft religiös begründete Zeitordnungen, wie etwa die Woche, etabliert haben, die es in der Natur ursprünglich nicht gibt – und doch bleibt es dabei, dass wir hungrig werden und diesen Hunger nicht durch rein chemische Produkte stillen können, dass wir durstig werden und zum Stillen dieses Durstes auf Wasser angewie­ sen sind, und dieses Wasser ist gerade nicht das chemisch reine Was­ ser der Laboratorien, sondern das ökologische Wasser der Bäche und Quellen, das irgendwann irgendwo niedergeregnet ist. Es bleibt dabei, dass wir abends müde werden und im Winter weniger munter als im Frühjahr sind; es bleibt dabei, dass Schichtarbeit, die sich an den Bedürfnissen der Produktion, aber nicht am Leib orientiert, für die­ jenigen, die sich ihr unterziehen (müssen), eine spürbare Belastung darstellt und statistisch gut nachweisbar das Risiko, z.B. an Depres­ sionen, Magengeschwüren, Bluthochdruck und auch Krebs zu erkran­ ken, deutlich steigert.16 Und auch unser allgemeines leibliches Wohl­ befinden hängt nicht nur an sozialen Faktoren, sondern ist auch eng mit unserer ökologischen Umgebung verbunden, wir sehnen uns nach Sonnenschein, freuen uns über offene, leicht bewaldete Landschaften, und auch wenn dieses Wohlbefinden, dieses ästhetische Gefallen in

Vgl. hierzu jüngst die sehr gute Untersuchung von Valerie Curtis: Don’t look, don’t touch. The Science Behind Revulsion, Oxford 2013. 16 Vgl. z.B. DGUV-Forum: »Schichtarbeit«, in: Heft 4, 2011 [online] (Stand: 15.6.2022). 15

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vielfacher Weise kulturell modelliert werden kann, ist es doch so, dass sich in ihm auch ökologische Beziehungen aussprechen.17 Unser leibliches Befinden ist auch ein Sich-Einfinden auf Erden. Deshalb können wir, indem wir unserem leiblichen Befinden nach­ spüren, auch unseren Naturbezug von Innen her erkunden.18 Der Durst ist insofern nicht nur eine Möglichkeit, uns selbst zu erfahren, er ist auch eine Chance, Wasser nicht nur als objektives Phänomen in der »Außenwelt«, das irgendwie »gegeben ist«, mit naturwissen­ schaftlicher Methodik zu analysieren, sondern Wasser von Innen zu erkunden, im eigenleiblichen Spüren auch unsere Verbundenheit mit ihm auf neuem Wege kennenzulernen.

3. Durst im Alltag »Der Durst ist das intensivste und gebieterischste Gefühl im Leben«, schrieb schon Anfang des 19. Jahrhunderts ein französischer Medizi­ ner und fasst damit eine Einschätzung zusammen, die bis heute sehr verbreitet ist.19 Der normale Durst wirkt wie eine harmlose Empfin­ dung, die man sogar genießen, die genüsslich zelebriert werden kann, die viel und oft besungen wurde – bei Aussicht auf einen sicheren, vielleicht auch alkoholhaltigen Trunk. Diese normale, alltägliche Empfindung soll zunächst betrachtet werden. 17 Vgl. Joachim Rathmann: »Gesundheitsressource Landschaft«, in: Jens Soentgen/ Ulrich M. Gassner/Julia von Hayek/Alexandra Manzei (Hrsg.): Umwelt und Gesund­ heit, Baden-Baden 2020, S. 165–196. 18 Man kann dies in den Kontext einer hermeneutischen Naturwissenschaft stellen, die sich von der normalen naturwissenschaftlichen Forschung dadurch unterscheidet, dass sie nicht mathematisch modellierend, sondern verstehend vorgeht, und deren Besonderheit gegenüber der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik darin besteht, dass sie nicht nur Menschen oder Menschenwerk zum Ausgangspunkt hat, sondern sich mit den Gefühlen und Handlungen von Tieren und, unter Umständen, auch von Pflanzen befasst. Eine solche Hermeneutik von Innen ist in den Biowissenschaften an sich nichts Neues, sondern ist etabliert, sie wird aber aufgrund der für unsere Wis­ senschaftskultur kennzeichnenden Verachtung der Geisteswissenschaften und ihrer Methoden meist anders genannt. Bekanntlich hieß eine der wichtigsten Fachzeit­ schriften in diesem Gebiet ursprünglich Zeitschrift für Tierpsychologie, benannte sich dann aber 1986 in Ethology um mit dem Untertitel International Journal of Behavioural Biology. Vgl. hierzu Jens Soentgen: Ökologie der Angst, Berlin 2018. 19 Siehe Jean Cottet: La soif, Paris 1976, S. 5. Trotz mancher Neuerscheinungen ist das Buch des Nephrologen Cottet immer noch, soweit ich sehen kann, die vielseitigste Monographie zu dem Thema.

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Durst muss nicht in erster Linie dem Wasser gelten, es gibt auch den Kaffeedurst oder den Bierdurst oder schließlich – bei fortgeschrit­ tenem Alkoholismus – den Durst auf »Wässerchen«, auf konzentrier­ tere alkoholische Substanzen. Wird ein solches Verlangen chronisch und gesundheitsschädlich, dann kann von Sucht gesprochen werden, und eine solche Sucht hat schon einiges mit dem normalen Durst zu tun, der auch dann ein chronisches Verlangen nach Wasser ist, wenn kein »reines« Wasser, sondern wässrige Substanzen wie Kaffee oder Tee oder Limonaden genossen werden. Mögen wir aber am Tag auch gern alle möglichen aromatisierten Lösungen zu uns nehmen, nachts stellen sich doch die allermeisten weder Bier noch Limonade ans Bett, sondern ein Glas schlichtes Wasser. Anders als der Hunger, der eher in der Magengegend zentriert ist, hat der Durst seinen Schwerpunkt im Mund, in der Kehle, er geht mit Trockenheit der Lippen, des Gaumens, des Rachens einher und kann daher, wenn auch nur kurzfristig, gelindert werden, wenn der Mundraum mit wenig Wasser bepinselt oder besprüht wird, wie es etwa in der Palliativpflege oder Palliativmedizin gelegentlich prakti­ ziert wird. Durst wird man eher als brennend bezeichnen, Hunger dagegen bohrt. Er macht auch aggressiv, während Durst auf die Dauer vor allem schwächt. Hält Durst länger an, steigert er sich immer wei­ ter, während Hunger, der über mehrere Tage anhält, durchaus in der Aufmerksamkeit zurücktreten kann. Sprachlich ergibt sich die Merk­ würdigkeit, dass der Zustand, dass Hunger gestillt ist, mit »ich bin satt« anzeigt wird, während man im analogen Fall beim Durst keine solche Entsprechung kennt, was vielleicht auch damit zu tun hat, dass der mit Speisen gefüllte Bauch eine viel aufdringlichere, müder machende Erscheinung ist als der Zustand nach reichlichem Trinken. Da kann es zwar im Bauch ebenfalls gluckern, doch macht sich vor allem eine Stärkung, keine Schwächung infolge der Verdauung bemerkbar. In unserem Alltag ist leichter Durst eine immer wiederkehrende Empfindung, die bei den meisten häufiger als Hunger auftritt, sie wird gestillt, kommt aber in recht kurzen Abständen zurück. Diese regelmäßige Wiederkehr verbindet den Durst mit dem Hunger und unterscheidet den Durst von anderen leiblichen Empfin­ dungen, etwa vom Schmerz, vom Ekel oder auch von der Angst, die zwar ebenfalls chronisch, also regelmäßig wiederkehrend sein kön­ nen, bei denen es aber auch möglich und sogar normal ist, dass sie nur hin und wieder auftauchen und lange ausbleiben. Von einer Krankheit,

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die ebenfalls schwächt und in bestimmten Körperbereichen unange­ nehme oder schmerzhafte Empfindungen auslöst, unterscheidet sich der Durst durch seine Gewöhnlichkeit. Er taucht innerhalb eines nor­ malen Tages mehrmals auf und verschwindet, wenn man etwas trinkt, die Wiederherstellung ist spontan und vollständig. Beim Durst sieht man auch gleich Bilder vor sich, wie er gelöscht werden kann, während bei Erkrankungen das Heilmittel jedenfalls nicht so intuitiv bekannt ist, wenn es auch zweifellos Fälle gibt, in denen es sich bildhaft oder auch in Träumen meldet. Durst wird mit einem Getränk gelöscht – es muss nicht Wasser sein, doch Wasser ist der normalste und wirksamste Durstlöscher, und zwar klares, kühles, gern auch kaltes Wasser. Dieses Wasser nehmen wir normalerweise aus Gläsern oder auch direkt aus Flaschen zu uns, die frühen Menschen dürften direkt, sich bückend, aus Bächen und Quellen getrunken haben, wie es die Tiere heute noch tun, und waren in diesen Momenten natürlich in besonderem Maße der Gefahr eines Überfalls ausgesetzt. Von einem solchen erzählt bekanntlich die Nibe­ lungensage. Bei Tieren kann man heute noch beobachten, dass sie sich beim Trinken immer wieder sichernd umsehen.20 Bei uns ist das Trin­ ken überhaupt nicht mehr mit Angst verbunden, weil wir es dank unserer Gläser und unserer Flaschen sitzend oder stehend in voller Aktionsbereitschaft tun können. Ein Glas Wasser stillt den Durst – oft ist es ein gekauftes, leicht oder auch stärker sprudelndes Wasser, wenn nicht gar eine Limonade oder auch ein Bier. Wir greifen also gern zu Waren, und diese Waren sprechen uns in erster Linie durch Bilder an, z.B. Plakatwerbung, die im Sommer meist kalte Berge oder Waldesquellen zeigt. Durch solche und ähnliche Bilder, die meist die leichte Bewegung des Wassers, seine typischen Geräusche, auch eine bestimmte Kühle darstellen, wird eine Brücke zu unserem leiblichen Bedürfen gebaut und wir werden ver­ anlasst, unseren Durst statt mit Leitungswasser auf eine für den Her­ steller und den Händler vorteilhaftere Weise zu stillen. Es gibt eine wohlbekannte Verbindung von Durst und körperli­ cher Anstrengung. Nach Sport oder körperlicher Arbeit ist der Durst in der Regel gesteigert. Auch Hitze und Sonnenstrahlung vergrößern bekanntlich den Durst, weil der Körper, wie man spüren und sehen kann, im Schweiß Wasser verliert. Auch schwere Verletzungen, die 20 Donald M. Broom: Biology of behaviour. Mechanisms, functions and applications, Cambridge 1981, S. 105.

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mit hohen Blutverlusten einhergehen, sollen zu starkem Durst füh­ ren. Und nicht zuletzt gibt es auch eine deutliche Verbindung von Speisen und Durst. Wer isst, pflegt auch zu trinken, schon allein, um trockene Speisen besser schlucken zu können. Markant ist auch die Verbindung von Salz und Durst, denn nach dem Genuss gesalzener Speisen pflegt sich recht bald ein erheblicher Durst einzustellen. Auch gewisse scharfe Gewürze, vor allem Chilischoten, führen zu einem gesteigerten Bedürfnis, zu trinken, das sich jedoch vom eigentlichen Durst unterscheidet und eher dazu dient, die brennende Empfindung im Mund wegzuspülen. Das Hervorkitzeln von Durst durch entspre­ chende, meist stark gesalzene, trockene Speisen, gesalzene und gerös­ tete Erdnüsse oder auch salzige Brezeln ist in unserer Kultur verbreitet und üblich. Umgekehrt ist es so, dass bei sehr starkem Durst eine besondere Abneigung gegen Salz zu beobachten ist, die sich auch auf salziges Wasser – Meerwasser zum Beispiel – erstreckt. Ein wenig Durst kann Genuss bereiten, kann zelebriert und sogar besungen werden, vor allem, wenn man sicher ist, dass dieser Durst rasch und vollständig gelöscht werden kann durch einen kühlen Trunk, der auch ein kühles wässriges Getränk wie Limonade, Radler oder Bier sein kann. Viele Bergwanderer empfinden es auch als Hoch­ genuss, sich an einer klaren Quelle zu erfrischen, wobei das Trinken dann gern kombiniert wird mit dem Waschen der Arme und des Gesichts, bisweilen wird der ganze erhitzte Kopf unter Wasser gehal­ ten. Durst ist zunächst lästig, auf die Dauer wird er zur Qual, und dann schwächt er auch, wenn er nicht gelöscht wird. Man merkt, dass man »erstmal was trinken muss«, ehe man »weitermachen kann«. Dann ist das Wasser, das man trinkt, wie eine in ihrer Wirkung nahezu magische Medizin, die einen wiederherstellt. Ein Glas Wasser, diese geringste aller Gaben,21 kann zur größten, zur wichtigsten werden. Trinken ist wie Essen ein Handeln, und dadurch vom Atmen unterschieden, das zwar ebenfalls bewusst und absichtlich vollzogen werden kann – Sprechen ist ein Beispiel, denn es ist tönendes Ausat­ men –, das aber normalerweise automatisch geschieht und auch wäh­ rend des Schlafes weitergeht. Um zu trinken, müssen wir hingegen wach sein, wenigstens halbwach, ebenso wie für das Essen. Notge­ Siehe auch über das Glas Wasser Francis Ponge: La verre d’eau, Paris 1949. Vgl. dazu Philippe Met: »Les censures du Verre d'eau«, in: Genesis (Manuscrits-RechercheInvention) 12, 1998, S. 49–66.

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drungen führt das Trinken auch zum Urinieren; ein Ablauf, der dem Kind noch nicht klar ist, der den Erwachsenen aber so bewusst ist, dass viele, die lange Bahnstrecken fahren, vermeiden, zu trinken, um nicht genötigt zu sein, die Zugtoiletten zu benutzen. Jeder Mensch trinkt mehrmals am Tag und oft auch nachts. Von Beginn an trinken wir, der neugeborene Mensch heißt geradezu Säug­ ling und versteht sich von Anfang an aufs Saugen, aufs Schlucken und kann auch reagieren, wenn er sich verschluckt hat. Allerdings gibt es dabei keine Anzeichen, dass Durst und Hunger schon unterschieden werden, vermutlich ist es ein und dasselbe Gefühl, auf das der Säug­ ling reagiert und das seine Mutter (oder auch der das Fläschchen gebende Vater) stillt. Hunger und Durst differenzieren sich erst ab einem Alter von eineinhalb Jahren, jedenfalls legt das Kleinkind erst dann ein Verhalten an den Tag, das es seinen Eltern erlaubt, zu ent­ scheiden, ob es durstig oder hungrig ist. Von da an bleiben Hunger und Durst, die auch meist gemeinsam genannt werden, obgleich sie sich deutlich unterscheiden, eng verbunden. Im Alter, so liest man bisweilen, trinken die Menschen weniger, als sie sollten. Es scheint, als trete der Durst dann zurück, was aber auf eine allgemeine Schwä­ chung hinweist. Man kann Durst eine Weile hintenanstellen, aber das geht nur für einige Stunden. Durst zählt zu den Bedürfnissen, die sich nicht unterdrücken lassen oder vielmehr deren Unterdrücken sie nicht ver­ schwinden lässt, sondern immer stärker macht, bis schließlich klar wird, dass es um Leben oder Tod geht. Das unterscheidet den Durst vom Hunger, denn ohne Nahrung hält man es viel länger aus, zumin­ dest einige Wochen. Und es unterscheidet den Durst auch von der sexuellen Begierde, die viel beweglicher ist und deren Genuss sich manche Menschen freiwillig für immer versagen und deren Befriedi­ gung vielen unfreiwillig versagt ist. Es unterscheidet den Durst auch von der Angst, denn auch wenn Fälle bekannt geworden sind, in denen Menschen oder auch Tiere in extremer Angst plötzlich sterben, ist dies doch sehr selten. Man kann verdursten, aber nicht ebenso »verangs­ ten«. Im Durst lauert der Tod. Je tiefer wir abrutschen im Trichter des Durstes, desto näher rückt der Tod, und der Tod hockt dort unten ganz ruhig, er wartet. Nicht nur Menschen trinken, alle Tiere bedürfen des Tranks, wie jeder weiß und wie man täglich sehen kann, auch bei den Tieren, die nicht näher mit uns verwandt sind, nicht zu den Säugetieren zählen wie etwa die Vögel oder die Insekten. Tatsächlich sind im Sommer

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Pfützen oder seichte Ufer, an denen Tiere problemlos ans Wasser gelangen können, besondere Gelegenheiten, sie aus der Nähe zu beobachten, und hier sind oft auch Tiere, die sonst verfeindet sind, recht friedlich miteinander. Man sieht, wie Amseln aus Pfützen kleine Schlucke entnehmen, erblickt auch Hummeln, Bienen, Wespen, Flie­ gen und Schmetterlinge, die sich auf glitzernd feuchter Erde nieder­ lassen, um zu trinken. Besonders eindrucksvoll ist das schlabbernde, schmatzende und prustende Trinken durstiger Hunde im Sommer. Auch den Pflanzen sprechen wir Durst zu, wir sehen es, wenn sie Wasser brauchen, sie winseln dann nicht, aber sie lassen ihre Blätter und ihre Zweige hängen, schließlich verdorren sie. Zimmerpflanzen zu gießen ist für sehr viele Stadtbewohner der einzige unmittelbare, regelmäßige Kontakt mit nichtmenschlichen Lebewesen. Dieses Gie­ ßen ist eine nur scheinbar simple Tätigkeit, denn Pflanzen unterschei­ den wir nach ihrem Wasserbedarf, sie sind wählerisch, wie auch unser Leib wählerisch ist. Das Gießen der Pflanzen drückt auch ein Verste­ hen aus. Wir kommen den Pflanzen näher, wenn wir sie gießen, denn ihr Wasserbedarf hat viel damit zu tun, wie diese bestimmte Pflanze lebt, woher sie eigentlich kommt. Orchideen zum Beispiel benötigen Regenwasser oder ersatzweise destilliertes Wasser, weil sie in ihrer Heimat, dem tropischen Regenwald, fast immer auf Bäumen leben und dort kein nährstoffreiches Grundwasser, sondern eben Regen­ wasser und Tau trinken und an dieses gewöhnt sind. Kakteen hinge­ gen, deren kompakte Form den Wasserverlust minimiert, stammen aus der Wüste, einer sehr trockenen Zone, und dürfen deshalb nicht zu oft gegossen werden. Sie können, wie andere Pflanzen auch, regel­ recht ertrinken, indem man ihnen zu viel Wasser gibt. Soweit eine relativ unspezifische Phänomenologie des Durstes. Wie kann man sie nun philosophisch vertiefen? Wie kann man in dieser Vielfalt von Einzelheiten eine übergreifende Struktur heraus­ arbeiten? Hierzu liegen zwei Ansätze vor, diese möchte ich zunächst diskutieren, um aus der Kritik meine dann folgenden, eigenen Über­ legungen zu entwickeln.

4. Der Durst in der Phänomenologie Obwohl der Durst ein so intensives Gefühl ist, haben sich, soweit ich sehen kann, mit ihm nur zwei Phänomenologen, Schmitz und Grote, ausführlich befasst. Auf ihre Positionen sei daher etwas näher einge­

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gangen, wobei zudem auch einige Bemerkungen von Merleau-Ponty und wenige Sätze von Feuerbach ergänzend hinzugezogen werden. Schmitz, der die insgesamt umfangreichste und im deutschspra­ chigen Raum derzeit wirkmächtigste Leibphänomenologie vorgelegt hat, glaubt, dass die »gedankliche Bewältigung eigener Leiblichkeit für den Menschen heute nicht nur eine systematische, sondern auch eine historische Aufgabe« sei.22 Diese Aussage steht nicht isoliert da. Schon vor Schmitz haben diejenigen Philosophen, die seit dem frühen 19. Jahrhundert den Leib als philosophisches Thema propagierten, mit ihren leibphilosophischen Positionen auch eine gewisse Kulturkritik verbunden. Zu erinnern wäre an Feuerbach, an Arthur Schopenhauer und an Friedrich Nietzsche. Nietzsche, dessen Leibphilosophie von Schmitz nicht gerade angemessen dargestellt wurde, um den er eher herumformuliert – auf Feuerbach geht er überhaupt nicht ein –, nennt den Leib bekanntlich die »große Vernunft«, die er gegen die »kleine Vernunft« zur Geltung bringen will.23 Schon er, beziehungsweise sein Zarathustra, redet den »Leibverächtern« ins Gewissen. Und er ver­ weist mit dem Leib immer wieder auch auf die Erde, mit der der Leib, wie Nietzsche ausführlich darstellt, verbunden bleibt und die man wertschätzen solle. Die Leibphilosophie vertieft bei ihm nicht nur unser Selbstverständnis, indem sie weitgehend unbewusste Bereiche unserer Existenz erschließt, sie erweitert zugleich unser Weltverständnis, denn sie zeigt uns, dass Welt für uns nicht nur das abstrakte »Woraufzu«24 unserer Existenz ist, wie es die bekannten Weltbegriffe etwa von Helmuth Plessner oder auch von Schmitz nahelegen, sondern ebenso ein Woheraus, ein Womit und ein Wovon unserer Existenz. Um den Leib phänomenologisch zu erkunden, betrachtet ihn Schmitz nicht von außen, sondern verlässt sich auf das »eigenleibliche Spüren«. Dieser konsequente Ansatz beim leiblichen Spüren ist eine seiner wesentlichen Leistungen, denn er bricht mit der in der Phäno­

Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. II/1: Der Leib, Bonn 1965, S. XIV. So in Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra (=Kritische Studienausgabe. Bd. 4, hrsg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari), München 2002, S. 39ff. Zu Nietzsches Leibphilosophie siehe Heinrich Schipperges: Kosmos Anthropos. Entwürfe zu einer Philosophie des Leibes, Stuttgart 1981, S. 339–469. 24 Hans Lipps: Die menschliche Natur, Frankfurt 1941, S. 19. Vgl. auch ebd., S. 63. 22

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menologie üblichen Dominanz des Sehens25 und erkundet ein Erfah­ rungsgebiet, das ebenso alltäglich wie unerschlossen ist. Schmitz wendet die Aufmerksamkeit den gespürten Empfindungen Durst, Hunger, Müdigkeit, Frische, Angst, Schmerz, Ekel usw. zu. Dabei ist er keineswegs ohne Vorläufer,26 wohl aber kann er beanspruchen, sowohl in der Breite der Darstellung als auch in der systematischen Durchdringung einen neuen Forschungsstand erreicht zu haben. Zurecht wurde daher sein Konzept gerühmt und vielfach aufgegriffen, zu erinnern wäre etwa in der Nachfolge von Schmitz und Gernot Böhme an die wichtigen Arbeiten von Ute Gahlings zur Phänome­ nologie weiblicher Leiberfahrung.27 Zu den bleibenden methodischen Errungenschaften zählt daneben auch der vergleichende Ansatz,28 der die Regungen immer wieder miteinander kollationiert und so zu wichtigen Resultaten kommt. Angesichts ihrer bedeutenden und herausragenden Vorzüge mag es naheliegen, die Arbeit von Schmitz einfach »zugrunde zu legen« und auf ihr auf- und weiterzubauen. Doch so notwendig es ist, den von Schmitz erreichten Forschungs- und Reflexionsstand gründlich zu rezipieren und von ihm zu lernen – en bloc lässt sich seine Leib­ philosophie nicht übernehmen. Das liegt zum einen daran, dass er seine Methode absolut setzt und damit zu einem wenig plausiblen 25 Vgl. mit derselben Wertung Gesa Lindemann: »Zeichentheoretische Überlegun­ gen zum Verhältnis von Körper und Leib«, in: Stefan Volke/Steffen Kluck (Hrsg.): Körperskandale. Zum Konzept der gespürten Leiblichkeit, Freiburg/München 2017, S. 65–95, hier 82. Den übrigen Thesen des Aufsatzes, auch den Schmitz betreffenden, kann ich freilich nicht beipflichten. 26 Ähnlich sowohl in der Methodik als auch in der Auswahl der leiblichen Empfin­ dungen ist z.B. die 1784/1785 erstmals erschienene Anthropologie des Aufklärers Johann Karl Wezel, den Schmitz nicht erwähnt und vielleicht nicht kannte. Siehe Johann Karl Wezel: »Versuch über die Kenntniss des Menschen«, in: ders.: Gesamtausgabe in Acht Bänden. Bd. 7, hrsg. von Jutta Heintz, Heidelberg 2001, S. 7– 281. Wezel analysiert die leiblichen Regungen unter dem Titel Gefühl, er diskutiert u.a. Müdigkeit, Schläfrigkeit, »venerischen Reiz«, das Krankheitsgefühl, das Gesund­ heitsgefühl, Zittern, Kälte und Hitze. Ein genauerer Vergleich von Wezel und Schmitz wäre lohnend, kann hier aber nicht durchgeführt werden. Zum Kontext der Wezel­ schen Anthropologie siehe Hans Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Auf­ klärungsanthropologien im Widerstreit, Berlin/New York 2003, S. 165–369. 27 Vgl. Ute Gahlings: Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen, Freiburg/ München 2016. 28 Schon Schmitz’ Lehrer Erich Rothacker hat die vergleichende Methode klar her­ ausgearbeitet und empfohlen. Vgl. dazu Erich Rothacker: Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, Bonn 1947, S. 91–106.

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Dualismus zwischen dem gespürten und dem sichtbaren Leib kommt. Zudem beruht sein Ansatz auf einer weiteren problematischen Vor­ aussetzung, über die man bereits beim ersten Lesen stolpert und die sich bei tieferem Eindringen als unhaltbar erweist. Schmitz glaubt nämlich nicht nur, dass ein Zugang allein über das Spürbare, das Erlebbare hinreichend ist, er ist auch der Überzeugung, dass sich in diesem Erlebbaren eine Struktur aufweisen lasse, die man kombina­ torisch erschließen könne. Deshalb ist seine Phänomenologie dadurch gekennzeichnet, dass er nicht einfach beschreibt, sondern eine ana­ lytisch-kombinatorische Methodik ins Werk setzt. Schmitz geht nach einer von ihm so benannten »Dreistadienmethode« vor, die er u.a. am Eingang seiner Leibphänomenologie folgendermaßen umschreibt: »Das erste Kapitel umreißt definitorisch den gemeinten Phänomenbe­ zirk. Das zweite Kapitel liefert das Gerüst für die Charakteristik der Phänomene dieses Bezirks durch Ausarbeitung eines Kategoriensys­ tems, das ein Alphabet der Leiblichkeit bilden soll, mit dessen Hilfe die komplexen leiblichen Phänomene nachbuchstabiert werden kön­ nen.«29

Gerade diesen analytischen Ansatz sieht er als »beachtliche Neue­ rung« an.30 Dabei werden die ersten beiden Stadien durch eine dritte, kombinatorische Phase vervollständigt, nämlich: »Die Anwendung dieses Kategoriensystems durch ›Nachbuchstabieren‹ vielfältiger leiblicher Phänomene mit Hilfe der gefundenen, unter einander struk­ turell verknüpften Kategorien […].«31 Seiner Ansicht nach ist der Erfolg seiner Dreistadienmethode im Bereich der Phänomenologie des Leibes durchschlagend und vollständig, wie er in einer späteren Veröffentlichung schreibt: »Die Polarität von Enge und Weite liefert das Bauprinzip einer Dyna­ mik, die mit wenigen Ergänzungen zu einem übersichtlichen Katego­ riensystem eine durchdringende Analyse und Rekonstruktion aller leiblichen Regungen gestattet […]. Eine so einfache und durchsichtige Struktur der leiblichen Dynamik, die z.B. Angst, Schmerz, Beklom­ menheit, Wollust, Entzücken, Erleichterung, Bestürzung, Hunger, Durst, Ekel, Frische, Müdigkeit und alle Weisen leiblich affektiven Betroffenseins von Gefühlen umfasst, hat etwas Verblüffendes […].«32 29 30 31 32

Schmitz: System II/1, S. XV. Schmitz: System II/1, S. XV. Schmitz: System II/1, S. XV. Hermann Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 25.

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Diese Selbsteinschätzung verblüfft nun allerdings ihrerseits durch ihre Apodiktik. Man ist geneigt, sie kritisch zu befragen. Schon spon­ tan fragt man sich, weshalb in dem leiblichen Kategoriensystem z.B. die traditionsreichen Polaritäten von feucht und trocken, von heiß und kalt keine Rolle spielen. Der Grund dürfte darin zu finden sein, dass diese Kategorien sich nicht immateriell rekonstruieren lassen. Zudem wird die Übersicht, die die Elementarisierung ermöglicht, mit einer Verengung der Aufmerksamkeit erkauft, z.B. werden die typischen Bilder, die mit den Regungen einhergehen, in den Einzelstudien kaum beachtet, weil alle Aufmerksamkeit dem kombinatorischen Nach­ buchstabieren im Rahmen des einmal festgelegten und dann nicht mehr geänderten Alphabets gilt. Bilder sind aber, neben den von Schmitz thematisierten Bewegungssuggestionen,33 wichtige Mög­ lichkeiten, wie das leibliche Befinden modifiziert und wie bestimmte Regungen und Bedürfnisse geweckt werden können. In solchen Bil­ dern meldet sich, worauf sich die Regungen beziehen, sie sind Reprä­ sentanten des Woraufs dieser Regungen. Die Bilder der Angst etwa zeigen die vorgestellten Gefahren, die Bilder von kühlem Wasser ori­ entieren den Dürstenden usw. Wo solche Bilder, die doch immerhin zu einem spontanen Erleben von Durst, Angst, Ekel, Hunger usw. gehören, ganz oder weitgehend übergangen werden, da bricht auch der eigentliche Bezug dieser Regungen, ihr materielles Wovor oder Worauf weg. Die kombinatorische Methode entfernt zudem alle innere Teleologie der untersuchten Regungen. Mit seiner radikalen Immaterialität und seiner Abweisung aller Teleologie setzt Schmitz, wie mir scheint, eine Tendenz in der Phä­ nomenologie fort, die sich bereits bei Martin Heideggers Angstphä­ nomenologie nachweisen lässt und die bereits von Aurel Kolnai kurz nach der Publikation von Sein und Zeit benannt und kritisiert wurde.34 Schon Heidegger nämlich unterschied die teleologische Furcht von der eigentlichen Angst, die erst durch seine Philosophie 33 Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. II/2: Der Leib im Spiegel der Kunst, Bonn 1966, S. 37–69 und passim. 34 Kolnai sagte nämlich in seiner bedeutenden und wirkmächtigen Untersuchung über den Ekel, die neuerdings von Axel Honneth in einem sehr wichtigen und ver­ dienstvollen Sammelband wieder herausgegeben wurde: »Sollte eingewandt werden, die eigentliche instinktive Angst kenne überhaupt keine Sorge um sich selbst, viel­ mehr nur ein unmittelbares ›Erschrecken‹ vor dem Furchterregenden, die Furcht sei kein ›abgekürzter Schluss‹ auf das Bedrohtsein der eigenen Wohlfahrt, – so halten wir diese Meinung für eine Ausgeburt des koketten modischen Irrationalismus, der in seiner Scheu vor aller ›kausalen Bestimmung‹ und vor aller ›utilitaristischen Flach­

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aufgedeckt worden sei und sich dadurch auszeichne, dass sie angeblich keinen Gegenstand habe. Wären leibliche Regungen ohne materiellen Bezug – der gerade das ist, was wir im Alltag damit verbinden –, dann freilich könnte man daran denken, sie durch Kombinatorik darzustel­ len. Doch rein kombinatorisch könnte man allenfalls den Schluckauf rekonstruieren als Spiel von Enge und Weite, nicht aber die Regungen, die uns wirklich beschäftigen. Es fällt jedenfalls auf, dass die von Schmitz im Rahmen seiner Dreistadienmethode rekonstruierten Regungen oft kaum mehr wie­ dererkennbar sind, was für eine phänomenologische Untersuchung, die ihr Maß an der Lebenserfahrung nehmen will, doch zumindest begründungsbedürftig ist. Die leiblichen Regungen wirken in ihrer schmitzschen Rekonstruktion wie aus einer anderen Welt kommend. Ihnen fehlt der innere Sinn, alle Zweckmäßigkeit, alles Zielende ist getilgt, wodurch die Beschreibungen aufregender wirken, aber zugleich auch künstlicher. Was dabei entsteht, wirkt am Ende weniger wie eine phänomennahe Beschreibung, sondern eher wie ein system­ konformes Präparat, das so bearbeitet ist, dass es fürs analytischrekombinatorische Verfahren zugänglich wird. Schmitz selbst freilich ist der Auffassungen, er könne nur auf diese Weise die leiblichen Regungen beschreiben, wie sie eigentlich sind: »Zwar weiß jeder, daß Hunger ein Bedürfnis nach Aufnahme fester Stoffe durch den Mund ist, Durst in gleicher Weise ein Bedürfnis nach Flüssigkeit. […] Aber dieser Gemeinplatz sagt nur, wie man Hunger und Durst befriedigt, und nicht, was sie ihren eigenen, qualitativ ver­ schiedenen Naturen nach sind.«35

Mir scheint eher, dass die Amputation der materiellen Bezüge, die zum Phänomen nun einmal dazugehören, die Regungen nicht deut­ licher, sondern unkenntlich macht.36 heit‹ nichts hören will von einem Zusammenhang zwischen Geschlechtslust und Zeu­ gung oder zwischen Hunger und Speise.« (Aurel Kolnai: »Der Ekel«, in: ders.: Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle, Frankfurt 2007, S. 7–65, hier 13 (zuerst abgedruckt in: Jahrbuch für Philosophie und Phänomenologische Forschung 10, 1929, S. 515–569)). 35 Schmitz: System II/1, S. XIII. 36 »Was nicht passt, wird passend gemacht«, dieses Handwerkerwort würde die methodische Praxis dieser Phänomenologie vielleicht auch nicht schlechter treffen als Goethes Mahnung, sich ans Phänomen zu halten, die der eifrige Goethe-Leser Schmitz über die Eingangstüre seines Systems gehängt hat. Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. I: Die Gegenwart, Bonn 1964, S. IX.

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Betrachten wir nach diesen Vorbemerkungen die Ausführungen von Schmitz zum Durst. Durst gilt allgemein als die stärkste leibliche Empfindung. Er ist im Alltagsverständnis geradezu prototypisch für das, was man Begierde nennen kann, daher wird ja das Wort auch metaphorisch für erotisches Verlangen verwendet.37 Bei Schmitz ist der Durst kein Verlangen, hat nichts mit Wasser zu tun. Vielmehr handelt es sich laut Schmitz beim Durst um »das Ganze leiblicher Enge, Weite und Richtung in rhythmusloser Innigkeit – die unrhyth­ mische Gestalt par excellence der Leiblichkeit«.38 Dem Durstenden fehlt also nicht Wasser, sondern Rhythmus. Wenn man diese Beschreibung Menschen vorlegt, die das schmitzsche System nicht kennen, sind diese nicht in der Lage, anzugeben, welche leibliche Regung wohl hier gemeint ist. Denn das normale Verständnis, dass Durst Verlangen nach einem Getränk ist, wird zugunsten der Kom­ binatorik beiseite gestellt. Dass es beim Durst irgendwie ums Trinken geht, wird nur ganz indirekt zugegeben: »Die Enge des Leibes drängt sich dem Dürstenden als beklemmende, zusammenschnürende Spannung in Mund und Kehle auf, unterstützt durch die gierigen Kontraktionen der Zunge und der Kehle. Die Weite, wohin der Sog der saugenden Richtung führt, ist die abgründige Tiefe, in die eingesaugt werden soll.«39

Diese Rekonstruktion des Trinkens ist allerdings vor allem verwir­ rend, weil der Leib des Einzelnen hier nicht als Enge, sondern als Weite dargestellt wird, sie ist auch unverständlich, weil sie ein Trinken 37 Auch im Buddhismus, um auf eine außereuropäische Perspektive hinzuweisen, gilt der Durst als Sinnbild der zu überwindenden Begierde und der leidvollen und daher zu überwindenden Weltverbundenheit des Menschen insgesamt. Ganz ausdrücklich spricht der Buddha davon, dass durch das Erlöschenlassen des Dürstens die Befreiung, die Erlösung erlangt werden könne. So bereits in der ersten Predigt. Vgl. Hermann Oldenberg (Hrsg.): Reden des Buddha. Lehre, Verse, Erzählungen, München 1922, S. 141–151 sowie 86f. (Gleichnis vom Brunnen). Vgl. zudem Erich Frauwallner: Geschichte der indischen Philosophie. 1. Band, Salzburg 1953, S. 181–200 (und öfter) sowie Wilhelm Karl Essler/Ulrich Mamat: Die Philosophie des Buddhismus, Darm­ stadt 2006, S. 126–130. 38 Schmitz: System II/1, S. 237. Vgl. kritisch Jens Soentgen: Die verdeckte Wirklichkeit. Einführung in die neue Phänomenologie von Hermann Schmitz, Bonn 1998 sowie ders.: »Probleme des Schmitz’schen Leibkonzeptes«, in: Stefan Volke/Steffen Kluck (Hrsg.): Körperskandale. Zum Konzept der gespürten Leiblichkeit, Freiburg/München 2017, S. 58–64. 39 Schmitz: System II/1, S. 237.

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ohne Getränk zu denken versucht. Wenn hier überhaupt noch etwas vom Durst erkennbar ist, dann deshalb, weil in die Beschreibung einige Elemente eines sonst von Schmitz vermiedenen körperlichen Vokabulars sozusagen eingeschmuggelt werden, die aus der Alltags­ erfahrung von Durst bekannt sind, wie etwa die Wörter »Zunge«, »Kehle« oder »einsaugen«. Ansonsten handelt es sich gerade nicht um eine Analyse, sondern nur um ein verbales Nachformen, das ein phi­ losophisches Verständnis des Durstes kaum weiterführt. Schmitz’ Durst ist, so könnte man sagen, ein Durst ohne Wasser, ein »paper-thirst«. Ähnlich ließe sich argumentieren, dass seine Angst – wie schon die Angst Heideggers – eine Angst ohne Feind, ohne Gefahr ist, sein Hunger ein Hunger ohne Nahrung, sein Atem ein rein dynamischer Vorgang, bei dem nichts eingeatmet wird, und seine Müdigkeit und Frische haben ebenfalls nichts mit den kosmi­ schen Rhythmen von Tag und Nacht und den Jahreszeiten zu tun, sondern sind rein interne Abläufe. Die von Schmitz vollzogene Abwendung vom Materiellen und von der Handlungsstruktur des Alltags hat den positiven Sinn, neue Perspektiven zu bahnen, sie führt aber andererseits den schmitzschen Ansatz in eine Antinomie, denn dessen steter Bezugspunkt ist gerade die gewöhnliche Lebenserfahrung, die Schmitz methodisch als Richt­ schnur dient. Sie blockiert zugleich naheliegende und produktive Bezüge zu den Naturwissenschaften, insbesondere zur Ökologie. Gerade typische Bezugspunkte vieler leiblicher Regungen können nämlich ökologisch vielleicht nicht abgeleitet, aber doch interpretiert werden, worauf unter anderen der Biologe Edward O. Wilson hinge­ wiesen hat. Nach ihm stecken in unserem Sich-Befinden viele Erin­ nerungen an das einstige Zusammenleben mit anderen Lebewesen. Er verwies u.a. darauf, dass Phobien vor Spinnen, Schlangen usw. auch in hochtechnisierten Zivilisationen, in denen diese Tiere keine stän­ dige Gefahr mehr darstellen, häufig sind, nicht aber Phobien vor modernen Geräten wie Autos, Steckdosen, Messern oder Pistolen, auch wenn diese viel gefährlicher sind. Auch die Wahl des bestmög­ lichen Wohnortes, der für die meisten Menschen idealerweise leicht erhöht, in der Nähe eines Gewässers und in parkartiger Landschaft liegt, kann durchaus auf der Grundlage der Ökologie verständlich

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gemacht werden.40 Die typischen Gegenstände des Ekels und typische Hochphasen des Ekelempfindens im menschlichen Lebenslauf (z.B. im ersten Trimester der Schwangerschaft) lassen sich auf ähnliche Weise verstehen, ohne dass dadurch automatisch einem naturwis­ senschaftlichen Reduktionismus Tür und Tor geöffnet würde oder auch nur die unübersehbare, kulturell modifizierbare Vielfalt von Ekelanlässen negiert werden müsste.41 Der menschliche Leib ist eingeregelt in eine lebendige Welt, auch in zeitlicher Hinsicht, nicht nur in dem Mitgehen mit dem Zyklus von Tag und Nacht und Jahreszeiten, sondern, bei Frauen, auch im (unge­ fähren) Gleichtakt des Menstruationszyklus mit dem Mondzyklus.42 Solche Bezüge wahrzunehmen wird ohne Not erschwert oder gar unmöglich gemacht, wenn die phänomenologische Analyse die Untersuchung der Bezüge der leiblichen Regungen ausschließt. Wenn die hier vorgetragenen Vorbehalte gegen die ausschließ­ lich am eigenleiblichen Spüren orientierte, analytisch-kombinato­ risch vorgehende Analyse des Durstes überzeugen, wird es sich loh­ nen, sich nach anderen Ansätzen umzusehen. Wie schon erwähnt, findet sich innerhalb der Phänomenologie ein zweiter Versuch, den Durst phänomenologisch und philosophisch zu analysieren, wobei gerade dessen Bezogenheit herausgearbeitet wird. Diesen hat der Mediziner und Phänomenologe Grote vorgelegt, der ein Schüler von Edmund Husserl und Hans Lipps war. Grote zählt den Durst zu den »animalischen Appetenzen«,43 zu denen er (ohne Anspruch auf Voll­ ständigkeit für seine Liste zu erheben)44 neben dem Hunger auch die »erotische Gespanntheit«45 rechnet. Sein wesentliches Argument ist, dass erst diese Appetenzen den Dingen innere Gewichtigkeit und eigentliche Materialität geben. Erst sie führen zu so etwas wie Gegen­ Siehe Edward O. Wilson: Der Wert der Vielfalt. Die Bedrohung des Artenreichtums und das Überleben der Menschen, München 1996, S. 426f. Siehe auch die sehr gute Darstellung von Joachim Rathmann: Therapeutische Landschaften. Landschaft und Gesundheit in interdisziplinärer Perspektive, Wiesbaden 2020, S. 23–26 und öfter. 41 Vgl. Curtis: Don’t look, don’t touch, S. 41–59. Dieses Buch verbindet auf eine über­ zeugende Weise kulturwissenschaftliche und naturwissenschaftliche Ansätze. 42 Vgl. Charlotte Helfrich-Förster et al.: »Women temporarily synchronize their menstrual cycles with the luminance and gravimetric cycles of the Moon«, in: Sciences Advances 7, 2021 (DOI: 10.1126/sciadv.abe1358). 43 Albert Grote: Die Grundlagen einer Phänomenologie der Erkenntnis, Hamburg 1972, S. 86. 44 Vgl. Grote: Grundlagen, S. 438. 45 Grote: Grundlagen, S. 438. 40

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weltlichkeit und haben deshalb für die Konstitution der menschlichen Welt eine fundamentale und insoweit auch metaphysische Bedeu­ tung. Grotes Phänomenologie stellt also auf die Bezogenheit des Durs­ tes ab, sie arbeitet heraus, dass dieser sich auf etwas richtet, was der Leib nicht selbst ist, dass er in erster Linie ein Verlangen, ein Bedürfen ist, welches als solches zu unterscheiden ist von einem passiven Erwarten. Grote führt dies folgendermaßen aus: »Statt eines Andrän­ gens aus der Zukunft her wie beim Erwarten ist hier ein Hindrängen und Geöffnetsein auf die Zukunft hin konstitutiv.«46 Das »sich-Absät­ tigen des Bedürfens [geschieht] durch das Einfallen eines Anderen«. Damit wird wiederum betont, dass der Durst von sich aus Weltbezug hat. Und darauf gründet Grote dann auch seine Aussagen zur meta­ physischen Bedeutung des Durstes. Denn wenn auch damit, dass jemand Durst hat, noch nicht gesagt ist, dass er eine Quelle mit Was­ ser findet, so ist doch mit dem Durst gesetzt, dass es überhaupt etwas in der Welt gibt, das ihn löscht. Grote argumentiert: »Auch wenn diese Sphäre als solche gegenständlich leer bleibt, ist sie als bloßes Korrelat des in seinem Bedürfen lebenden Ich dennoch da«.47 Für den Medi­ ziner Grote ist es klar, und es wird auch im Durst evident, dass der Mensch nicht autonom ist, sondern fortwährend angewiesen auf Nah­ rung und Wasser. Diese Bedürftigkeit, die im Hunger und Durst spürbar wird, hat für Grote nicht nur einen körperlich-physischen Sinn, der sich naturwissenschaftlich beschreiben lässt, sondern auch einen anthropologischen, insofern der Mensch fundamental durch seine Bedürftigkeit gekennzeichnet ist. Sie hat nach ihm darüber hinaus sogar einen metaphysischen Sinn, weil sich bestimmte grund­ legende Konzepte wie Materialität und Gegenweltlichkeit nicht ange­ messen erläutern lassen, ohne auf solche Erfahrungen zurückzuge­ hen. Sie haben hier gewissermaßen ihren »Sitz im Leben«, um einen Ausdruck aus der Hermeneutik aufzugreifen. Grote erläutert dies fol­ gendermaßen: »Die Gegenweltlichkeit im hier gemeinten Sinn geht nicht einfach in der Nichtzugehörigkeit zum Ich auf. Es ist nicht nur etwas, das neben oder gegenüber dem Ich in einem bloßen neutralen Getrenntsein zu

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Grote: Grundlagen, S. 86. Grote: Grundlagen, S. 87.

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finden wäre; sondern das darüber hinaus in einer vitalen Beziehung dem Ich entgegen liegt«.48

Die Tatsache, dass Wasser im Durst intendiert ist, gewinnt bei Grote übergreifende Bedeutung: »Bedürfen ist auf Absättigung hin angelegt; es geht auf ein anderes hin […] von sich aus, seinem Sosein nach. Unter ihm wird das Begegnende zu etwas, das jeweils dem Genüge zu tun vermag oder nicht; und das mit dieser dynamischen Position von dem in jedem Bedürfen herauf­ scheinenden und in ihm aufbrechenden Ich abgesetzt ist als ein gegen­ weltlich Selbstständiges.«49

Dass in der Welt »etwas« da ist, dass sie kein bunter, aber zuletzt leerer Phänomenzusammenhang ist, sondern eine vitale Gewichtigkeit hat, dass ihr Materialität zukommt und sie insofern nicht nur neutrale Welt ist, dies alles wüssten wir laut Grote nicht, wenn im Hunger und insbesondere im Durst nicht der Weg dorthin eröffnet wäre. Die Welt erfährt also auf Grund dieser leiblichen Regungen eine existentielle Aufladung, die sie sonst nicht hätte. Sie geht uns etwas an, auf sie sind wir leiblich bezogen. Mit dieser Wendung erneuert Grote, wie mir scheint, auf phänomenologischer Grundlage ein Argument, das erst­ mals von Feuerbach, dessen Werk Grote vielleicht kannte, aber jeden­ falls nicht zitiert, sehr ähnlich formuliert wurde, denn Feuerbach schreibt in seiner Studie über Leibniz: »Der Mensch […] bringt nichts auf die Welt als Hunger und Durst, d.h. eine Leere, aber eine Leere mit dem Gefühl der Leere […]. Hunger und Durst sind allen Empirikern zum Trotz zwei Philosophen a priori; sie anticipiren und deduciren a priori das Dasein ihrer Gegenstände; sie entspringen nicht aus der sinnlichen Erfahrung und Wahrnehmung der begehrten Objekte, sondern gehen ihnen voraus, vermissen sie, ohne sie weder schon besessen, noch verloren zu haben.«50

Ganz ähnlich formuliert Feuerbach noch in einer seiner letzten Schrif­ ten: »›Ich empfinde nur mich selbst‹, sagt der Idealist. Ja wohl empfinde ich mich, auch wenn ich Durst empfinde, aber als ein ohne Wasser höchst mangelhaftes, unglückliches, elendes Ich, also als ein wasserbedürfti­ Grote: Grundlagen, S. 87. Grote: Grundlagen, S. 86f. 50 Ludwig Feuerbach: Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnitz’schen Philoso­ phie (=Ludwig Feuerbach’s sämmtliche Werke. Bd. 5), Leipzig 1848, S. 144f. 48

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ges, die Nothwendigkeit des Wassers, wenn auch nur für mich, emp­ findendes und beweisendes Wesen. […] Ich empfinde Durst, weil das Wasser ausser mir ein wesentlicher Bestandtheil in und von mir [ist].«51

In den leiblichen Regungen steckt also ein altes, sedimentiertes Wis­ sen. Und genau diesem Wissen nachzuspüren, das freilich keinen einfür allemal feststehenden, statischen Besitz darstellt, der sich nicht weiterentwickeln könnte, und zugleich die Verflechtung des Leibes mit der Welt herauszuarbeiten, könnte man im Anschluss an die Skizzen Grotes als eine der Aufgaben einer Phänomenologie des Durstes bezeichnen.

5. Grundzüge einer Phänomenologie des Durstes Es dürfte sich, wenn das Dargelegte überzeugt, lohnen, den Durst nicht nur kombinatorisch zu rekonstruieren, sondern nachzuspüren, worauf sich der Durst bezieht. Dabei müssen wir nicht gleich zu bor­ nierten Behavioristen werden, die nunmehr nur noch das sichtbare Verhalten von Dürstenden untersuchen, wir können die phänomeno­ logische Innenperspektive weiterhin in Ehren halten, allerdings dür­ fen dann nicht nur dynamische Regungen wie Enge und Weite beach­ tet werden, sondern es sind auch die bei allen Regungen spontan begleitenden bildhaften Vorstellungen zu beachten. Gerade beim Durst ist die Betrachtung der Bilder, die mit ihm einhergehen, auf­ schlussreich. Folgende Thesen stelle ich zur Diskussion: (1) Durst ist Verlan­ gen nach Wasser; (2) Der Durst weiß etwas, der Durst ist wählerisch; (3) Durst ist ein Sich-Selbst-Erkennen. Um diese Punkte klar her­ auszuarbeiten, müssen wir die Ausführungen der Alltagsphänome­ nologie des Durstes etwas vertiefen und Erfahrungen extremen Durs­ tes untersuchen. Unser Weg führt in die Wüste. 51 Ludwig Feuerbach: »Ueber Spiritualismus und Materialismus, besonders in Bezie­ hung auf die Willensfreiheit«, in: ders.: Ludwig Feuerbach’s sämmtliche Werke Bd. 10, Leipzig 1890, S. 33–180, hier 172f. Feuerbachs Bedeutung für eine Theorie der Sub­ jektivität hat erstmals Alfred Schmidt herausgearbeitet, der auch bereits klar die Ver­ bindungen zur Leibphilosophie verdeutlicht. Vgl. Alfred Schmidt: Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus, München 1973, besonders S. 121–127 und passim.

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5.1 Durst ist Verlangen nach Wasser Ein Reisender des 20. Jahrhunderts schreibt über die Sahara: »Der Durst, den du hier erfährst, ist mit nichts zu vergleichen, was du kennst, er ist unaufhörlich, immer gleich, die Vorstellung von einem Glas Wasser, rein und kalt, wird zur schrecklichen Empfindung, wie in einem Alptraum.«52 Nüchterner sagt der französische Biologe Théodore Monod, der die Wüste aus ungezählten Forschungsreisen kannte, dass er mit den aktuellen Tendenzen, spirituelle Erleuchtung durch Gehen in der Wüste zu erlangen, wenig anfangen könne, denn man hätte in der Wüste zwar Zeit, über vieles nachzudenken, doch tatsächlich würden die Gedanken vor allem um Gläser von Limonade und um Camembert kreisen.53 Ganz konkret erleben die Dürstenden, dass sie austrocknen, besonders in Kehle und Hals macht sich der Durst bemerkbar, diese trocknen so weit aus, dass man nicht einmal mehr sprechen kann. Aber es stellt sich auch ein quälender, natürlich ergebnisloser Harndrang ein.54 Die Sonne setzt ihnen immer mehr zu, jeder noch so kleine Schatten wird genutzt. Die ganz konkrete Vorstellung von kühlem Wasser – als beschla­ genes Glas auf einem Tisch, als leise gluckernde Quelle im Schatten eines Waldes, als donnernder Wasserfall – wird, je länger der Durst ungelöscht bleibt, desto intensiver. Alle anderen Bilder und Phanta­ sien verschwinden, was an unwillkürlichen Phantasien und Tagträu­ men bleibt, dreht sich ums Wasser. Der Flieger Bill Lancaster, der in der Nacht des 11. April 1933 in der Sahara abstürzte und neben seinem Flugzeug, wo er vergeblich auf Rettung wartete, schließlich starb, schrieb in sein Notizheft, das man neunundzwanzig Jahre später neben seinem mumifizierten Leichnam fand, dass er pausenlos an Wasser denke. Am fünften Tag des Dürstens redete er seine Mutter an: »Mutter, du kannst es dir nicht vorstellen. Oh wenn ich mich nur in deine Küche legen könnte und den Wasserhahn mit kaltem Wasser aufdrehen könnte und das kalte Wasser über mich laufen lassen könnte, Cottet: La soif, S. 9. »Je ne crois pas que la frequentation des deserts favorise la vie spirituelle. […] On peut méditer, réfléchir à beaucoup de choses, mais on pense surtout à des verres de citronnade et à des portions de camembert.« (Maguy Vautier: Paroles de Désert, Paris 2002, S. 38f.). 54 Vgl. dazu als einzige Beschreibung Gustav Nachtigal: Sahara und Sudan. Ergeb­ nisse sechsjähriger Reisen in Afrika. Erster Theil, Berlin 1879, S. 242. 52

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fühlen könnte, wie das Wasser in meinen Mund gluckert, wie die kalte Flüssigkeit über mich rinnt: das wäre das Paradies.«55

Die Verbindung der Mutter mit dem ersehnten Wasser ist auffallend; wir kommen darauf zurück. Der Flieger und Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry, der beim Versuch, einen Geschwindigkeitsrekord zu brechen, mit seinem Mechaniker André Prévot wenig später, nämlich 1935, in der Libyschen Wüste, an der Grenze zu Ägypten, abstürzt, schildert hingegen die optischen Halluzinationen von Seen, die in unmittelbarer Entfernung zu liegen scheinen. Und es ist ganz konkret Wasser, um das es den Dürstenden geht, es geht keineswegs um »Flüssigkeit«. Der Durst ist ein sehr spezifi­ sches Bedürfnis. Wie der Magnet auf ein ganz bestimmtes Metall und nur dieses in allen seinen Maskierungen reagiert, so verlangt es den Dürstenden letztlich nur nach Wasser. Ausführlich hat ein viel spä­ terer Wüstenwanderer, der Graphiker Otl Aicher, die Frage diskutiert: »Zu hause trinken wir so gut wie kein wasser mehr. […] man trinkt kaffee, säfte, limonade, colas, wein, bier – alles, was aroma und geschmack vermittelt. Hier [in der Sahara; J.S.] gibt es für wasser keine steigerung. Gerade die neutralität des geschmacks macht die beson­ derheit des wassers aus. Es ist maßstab für alles zu trinkende. Es ist ein absoluter wert. Alles andere sind ableitungen. Nicht einmal der alkohol als alkohol, als tranquilizer, als äquivalenz zum zivilisationsdruck bleibt als bedürfnis. Der anlaß für alkohol verflüchtigt sich.«56

Hier zeigt sich eine eigenartige Symmetrie zwischen Durst und Angst, denn so wie der sich panisch Ängstigende denkt »Nur weg von hier, weg von der Gefahr!«, so schwebt dem Dürstenden ein positives Bild vor Augen, er möchte nicht nur einfach einer Gefahr entrinnen, er möchte nicht einfach nur weg, er möchte vielmehr hin, dahin näm­ lich, wo kühles Wasser gluckert, rauscht, fließt und strömt. Dass es solche Orte gibt auf dieser Erde, ist jedem Dürstenden gewiss, deshalb laufen die meisten Dürstenden immer weiter, so schwach sie auch sein mögen. Der Durst verrückt den Dürstenden, indem er ihn bei etwas sein lässt, das ihm gerade fehlt. Er führt vor etwas Nicht-Gegebenes und doch Irgendwo-Vorhandenes, das dem Dürstenden oft zum Greifen Zitiert nach Cottet: La soif, S. 56. Otl Aicher: Gehen in der Wüste, Frankfurt 1982, S. 100. Die Kleinschreibung des Originals wurde beibehalten. 55

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nahe scheint und das ihn gerade durch diese Nähe besonders quält, nämlich vor das Wasser, das auf Erden alles belebt und erquickt. Der Durst ist Verlangen nach Wasser. Er ist ein Bedürfnis, ein Begehren,57 das, wenn es nicht rasch gestillt wird, zur Qual wird. Er ist also mehr als ein Wunsch, denn mit dem Wort »Wunsch« bezeich­ nen wir ein weniger elementares Verlangen. Als Verlangen unter­ scheidet er sich auch vom bloßen »Erwarten« von Wasser, so wie wir etwa einen Regenschauer erwarten als etwas, das auf uns zukommt und auf das wir uns gefasst machen, indem wir den Regenschirm auf­ spannen. Hier kommt nicht etwas auf uns zu, wir wollen vielmehr mit aller Macht zu etwas hin, wir streben aus unserer Mitte heraus danach, zu trinken. Wo extremer Durst in letzter Minute doch noch gelöscht wird, da stellt sich ein Hochgefühl ein, als werde man wiedergeboren. Saint-Exupéry ruft: »Jetzt trinken wir […] Wasser! Wasser, du hast weder Geschmack noch Farbe, noch Duft, man kann dich nicht definieren, man schmeckt dich, ohne dich zu kennen. Du bist zum Leben nicht nötig – du bist das Leben. Du durchdringst uns wie ein Lustgefühl, das sich den Sinnen nicht erschließt. Mit dir kehren alle Kräfte in uns zurück […].«58

Das Wasser regeneriert, gibt unmittelbar neues Leben, erneuert den ganzen Leib, beseitigt mit einem Mal die Schmerzen, und jeder Schluck Wasser scheint sich direkt in lebendiges Leben zu übersetzen, in neue Zuversicht, ein sich überkugelnder Optimismus stellt sich ein.

5.2 Der Durst weiß etwas, der Durst ist wählerisch Durst ist nicht nur ein Erlebnis, nicht nur eine Regung, er enthält auch wesentliche kognitive Anteile, er wäre sonst weniger quälend. Wer dürstet, hat eine Gewissheit über die Welt, ein synthetisches Apriori, Vgl. den Artikel von Samuel Stosch: »Begehren. Verlangen. Wünschen. Lust haben. Sich gelüsten lassen. Lüstern seyn. Sich sehnen«, in: ders.: Versuch in richtiger Bestim­ mung einiger gleichbedeutenden Wörter der deutschen Sprache. Erster Theil, Berlin 1780, S. 413–418. 58 Antoine de Saint-Exupéry: Wind, Sand und Sterne (Terre des Hommes. Neu über­ setzt von Klaus Völker und Mirko Bonné), Düsseldorf 2019, S. 184f. Vgl. ders.: »Terre des Hommes«, in: ders.: Oeuvres complètes I, hrsg. v. Michel Autrand/Michel Quesnel, Paris 1994, S. 173–296, hier 268 (zur Entstehung des Kapitels vgl. die Anmerkungen auf S. 1045–1050). 57

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wenn man so will, denn der Dürstende weiß, dass es in dieser Welt Wasser gibt – irgendwo. Er sagt sich: »Es gibt Wasser, irgendwo plät­ schert, gluckert, rauscht es auf dieser Erde. Oh wäre ich dort!« Und der Durst ist nicht nur das plumpe, monolithische Wissen: »Ich brauche Wasser.« Der Dürstende kann die Wässer unterscheiden, ganz unabhängig von ihrem Aussehen und ihrem Geruch, oder bes­ ser: Nicht der Dürstende unterscheidet die Wässer, sondern sein Leib. Fast alle Dürstenden berichten, dass sie ungute Flüssigkeiten trinken – Blut von geschächteten Tieren, Kamelurin, Alkohol aus dem Verbandskasten. Ihr Verstand, ihre »kleine Vernunft« (Nietzsche) sagt ihnen: Das ist doch flüssig, es fällt unter den Begriff, trinken wir es. Doch der Leib rebelliert. Das führt auf eine Frage, wieso rebelliert der Leib, obwohl doch der Durst alle anderen Bedürfnisse auslöscht? Warum ist der Durst wählerisch? Die Ekelschwelle wird selbstverständlich gesenkt, auch brackiges Wasser, auch faulig riechendes Wasser wird getrunken, sogar die Flüssigkeit aus dem Kühler eines Autos. Und doch kann Durst nie so stark sein, dass er jeden Ekel überwindet. Die leiblichen Regungen bilden ein System, das irgendwie koordiniert ist. Tritt eine Regung hervor, können andere deutlich zurücktreten. Und solche Effekte lassen sich auch verstehen. Wenn etwa in sehr starkem Durst der Hunger auf Deftiges verschwindet, dann ist das sinnvoll, weil das Essen salziger Speisen bekanntlich durstig macht. Betrachtet man den Ekel, so wird er zwar schwächer, aber er erblindet nicht. Und auch das kann man gut verstehen, denn es hilft nichts, den Durst mit einem giftigen oder unzuträglichen Getränk zu löschen. Um nur bei SaintExupéry zu bleiben: Er und sein Mechaniker Prévot kommen auf die Idee, mit der Fallschirmseide nachts Tau aufzufangen, doch aufgrund einer minimalen toxischen Beimischung, vermutlich ein arsenhalti­ ges Insektizid, mit dem die Fallschirmseide beschichtet war, bringen sie das gesammelte Wasser, das ganz klar aussieht, aber chemisch riecht, nicht herunter. Als sie es hinunterzwingen, übergeben sie sich – wohl zu ihrem Glück. Der Durst zeigt, wie auch andere leibliche Regungen, dass wir mit einem ziemlich klugen Autopiloten geboren werden, der uns von Beginn unseres Lebens begleitet wie ein guter Engel und in Krisen­ situationen die Steuerung übernimmt. Zu diesem Autopiloten, der kein mechanisches, absolut fest verdrahtetes System ist, sondern durchaus eine gewisse Plastizität, eine gewisse Entwicklungsfähigkeit

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hat, wieder Kontakt zu bekommen, scheint mir eine wichtige Aufgabe der phänomenologischen Leibphilosophie zu sein. Als Prévot und Saint-Exupéry von einem Beduinen im letzten Moment gerettet werden, da gibt dieser den Verschmachtenden nicht aus einem Becher zu trinken, sondern füllt ein für Tiere gedachtes Becken mit Wasser: »Jetzt trinken wir, flach auf dem Bauch liegend, den Kopf im Becken, wie Kälber.«59 Hier nutzt der Beduine, um den völlig Dehydrierten, deren Kehle verschlossen und verklebt ist, das Trinken zu ermöglichen, einen Reflex, der das Schlucken fast zwin­ gend auslöst und den der Bonner Mediziner und Physiologe Ulrich Ebbecke erstmals beschrieben hat.60 Wenn wir den Kopf oder auch nur die untere Gesichtshälfte in kaltes Wasser tauchen, setzt ein Schluckreflex ein, der kaum zu unterdrücken ist. Bilz,61 dem ich den Hinweis auf das Phänomen und den Erstbeschreiber verdanke, bezeichnet dies als Beispiel einer »archaischen Funktionsreserve«62 und vermutet, dass es sich hier wohl um Verhaltensreste, also sedi­ mentierte Erfahrung handelt, die aus viel früheren Entwicklungspe­ rioden des Menschen stammen, als dieser nämlich noch nicht das Wasser mit der hohlen Hand oder einem Gefäß entnahm, sondern wie die Tiere die untere Kopfhälfte in den Bach oder die Quelle oder das Wasserloch steckte, um zu trinken. Damit zeigt sich: Irgendetwas in uns weiß, dass es Quellen gibt und wie wir uns an ihnen verhalten sollen – und das, nachdem wir schon viele Generationen in hoch­ technisierten Umgebungen leben, in denen es weder nötig noch üblich ist, ohne ein Gefäß zu trinken.

59 Antoine de Saint-Exupéry: Wind, Sand und Sterne, S. 184f. Vgl. ders.: »Terre des Hommes«, S. 268. 60 Vgl. Ulrich Ebbecke: »Reflexgesetzmäßigkeiten des menschlichen Schluckreflexes bei seiner Auslösung von der Gesichtshaut her«, in: Pflügers Archiv 246, 1943, S. 675– 692. 61 Vgl. Bilz: Paläoanthropologie, S. 96. 62 Bilz: Paläoanthropologie, S. 94.

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5.3 Der Durst ist ein Sich-selbst-Erkennen Im Durst erkennen wir, dass wir bedürftig sind,63 nicht nach jeman­ dem, sondern nach etwas. Wir brauchen keinen Trost, keine Erläute­ rungen, keinen Rechtsbeistand, wie in üblichen sozialen Problemla­ gen, sondern wir brauchen Wasser. Im Durst zerfällt die Autonomie, bewusst wird die absolute Abhängigkeit. Diese Abhängigkeit ist keine Abhängigkeit von Gott, auch keine Abhängigkeit von sozialen oder technischen Strukturen, vielmehr eine Abhängigkeit von der Erde. Auch auf der Raumstation ISS stammt alles Wasser von irdischen Brunnen. Diese Brunnen sind alle Teil der irdischen Biosphäre. Wir können nur leben als Teil jenes älteren Gemeinwesens, das uns Was­ ser gibt, Wasser einer ganz bestimmten Qualität.64 Saint-Exupéry hat diese Zusammenhänge in einem vielsagenden Bild ausgesprochen: »Ich war mir nicht darüber im Klaren gewesen, so abhängig von den Brunnen zu sein. Ich ahnte ja nicht, wie kurz sie währt, die Autonomie. Man glaubt, der Mensch könne einfach geradeaus laufen. Und glaubt, der Mensch sei frei… Man sieht das Seil nicht, dass ihn an die Brunnen bindet, das ihn wie eine Nabelschnur mit dem Bauch der Erde verbin­ det. Macht er einen Schritt zu viel, so stirbt er.«65

Mit diesen Zeilen verlassen wir nun den Bereich des phänomenolo­ gisch Aufweisbaren und gehen über in eine naturphilosophische Interpretation. Diese Interpretation versucht, einen größeren Zusam­ menhang einzubeziehen. Dabei bedient sie sich eines Bildes. Bilder sind für die Philosophie, auch für die Leibphilosophie unerlässlich, denn sie ergänzen die analytische Kraft von Begriffen durch eine Zusammenschau. Worauf weist das Bild hin? Der Mensch schwebt, ähnlich wie der Protagonist des Kleinen Prinzen, er schwebt, hängt aber mit der Nabelschnur nicht an der Plazenta, die ihn mit dem Blut­ kreislauf der Mutter verbindet, sondern an der Erde, an den Brunnen. Die Erde wird als Mutter gesehen, die den Dürstenden versorgt. Die Brunnen sind etwas, das sich im Inneren der Erde bildet, tief unten entsteht das reine und kühle Wasser, nach dem es uns verlangt. Was­ 63 So lautet das Axiom der zu unrecht vergessenen Anthropologie von Wilhelm Kamlah (vgl. Wilhelm Kamlah: Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grund­ legung und Ethik, Mannheim 1973). 64 Die feministische Phänomenologin Astrida Neimanis spricht von den »Hydro­ commons«. Vgl. Astrida Neimanis: Bodies of Water. Posthuman Feminist Phenome­ nology, London 2019. 65 Saint-Exupéry: Wind, Sand und Sterne, S. 176.

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serquellen sind ja nicht nur geologische, anorganische Phänomene, sondern entstehen in ökologischen Kontexten, wie wir intuitiv wissen, denn beim Wort »Quelle« denken wohl die meisten an einen schat­ tigen Ort im Wald. Und tatsächlich spielen Bäume für das Entstehen von Quellen eine aktive Rolle, wo Wälder gefällt werden, versiegen bald auch die Gewässer. Umgekehrt sind wir in stabilen ökologischen Kontexten auch mit trinkbarem Wasser versorgt – Waldschutz ist immer auch Gewässerschutz. Menschliches Dasein ist nicht nur In-der-Welt sein, sondern immer ein Sein-auf-Erden. Noch in völlig technischen Strukturen erinnert uns das Wasser daran, und in dieser Rolle taucht es auch öfter in Science-Fiction Filmen auf, wenn den Cyborgs erstmals Regen­ tropfen aufs Gesicht fallen. Wir können uns frei über die Erde bewe­ gen. Doch immer wieder müssen wir uns zum Wasser beugen oder bücken. Aber können Menschen die Erde denn nicht im Raumschiff verlassen? Gewiss, doch nur für begrenzte Zeit, und auch dann müs­ sen sie irdisches Wasser mitnehmen, das in der Raumfähre dann immer wieder aus den Ausscheidungen zurückgewonnen werden muss.66 So synthetisch und hochtechnisiert alles in der Raumfähre oder in der Raumstation ist, das Wasser, das sie trinken werden, ist erdgeboren, wie auch die Leiber der Astronautinnen und Astronauten alle von menschlichen Müttern geboren wurden. Wir sind förmlich eingewachsen in einen übergreifenden Zusam­ menhang, nicht nur in ihn »geworfen« oder irgendwie in ihn »her­ eingestellt« wie auf einen fremden Planeten, mit dem wir sonst nichts zu tun hätten. Unser Leib ist ähnlich mit der Erde verwurzelt, wie es Bäume sind, nur fällt diese Verwurzelung weniger auf, weil sie weni­ ger starr ist, als es bei Pflanzen der Fall ist. Wir brauchen die besondere Luftmischung, die von der Biosphäre hervorgebracht wurde (und ständig erneuert wird), wir brauchen das irdische, ökologische Wasser (und kein chemisch reines Wasser, das gesundheitsschädlich ist), wir benötigen gewachsene Nahrung, denn von reinen Syntheseprodukten können wir nicht leben. Wir brauchen das von der irdischen Atmo­ sphäre gemilderte Sonnenlicht ebenso wie die spezifische irdische Schwerkraft. Diese Liste ließe sich erweitern. Der Mensch kann nur leben, indem er in einem anderen »Leib«, oder sagen wir vorsichtiger: in einem lebendigen Zusammenhang lebt. Klar ausgesprochen wur­ den diese Zusammenhänge insbesondere von Feuerbach und schon 66

Vgl. den Bericht der NASA: »Water Recycling« [online] (Stand: 16.06.2022).

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vor ihm hat im 16. Jahrhundert Paracelsus darauf hingewiesen, als er schrieb: »Also is nit genug, daß der Mensch auß seiner Mutter geboren ist, sondern gleich so wol auß der Nahrung.«67 Und in einem schönen Vergleich meint er, dass »unser leib wie ein See ist, und die Glider dorin, wie die fisch«.68 Ein Teich aber bedarf ständigen Zuflusses, sonst besteht er nicht mehr. Und dies ist es auch, was wir im Ruf des Durstes vernehmen. Es ist eine Verbindung, die älter ist als die Men­ schen. Schon jene unbekannten Affen, von denen die Menschen abstammen, hatten Durst und liefen zum Wasser. Und schon deren Vorfahren, Tiere, die noch keine Säugetiere waren, hatten Durst. Daraus ergeben sich einige Schlussfolgerungen. Denn es zeigt sich: Durst ist nicht nur die intensivste leibliche Regung, er scheint auch die allgemeinste zu sein. Denn alle Landlebewesen brauchen Wasser, auch die wenigen Tiere, die es mit der Nahrung aufnehmen. Und weil das so ist, gilt auch, dass Durst nicht nur einzelne, sondern in der Regel mehrere, manchmal sehr viele betrifft. Dass es sich ursprünglich nicht nur um eine individuelle, sondern um eine kollek­ tive Situation handelt, zeigt die Etymologie, denn Durst hängt ety­ mologisch mit Dürre zusammen. Eine Dürre ist ein allgemeiner Was­ sermangel, der sich einstellt, wenn in einem bestimmten Landstrich für lange Zeit kein Regen fällt. Im Durst erkenne ich: Ich bin bedürftig nach Wasser – aber nicht nur ich allein, auch andere sind bedürftig,69 darunter Tiere und Pflanzen. Die meisten Landlebewesen kennen den Durst. Und das stiftet einen spontanen Kontakt zwischen Menschen und nichtmenschlichen Lebewesen. Ausgehend vom Durst oder all­ gemeiner von den leiblichen Regungen haben wir einen Schlüssel, der uns einen Weg zu den inneren Zuständen, zum Befinden auch nicht­ menschlicher Organismen verschafft. Wir kennen eine Empfindung, die sie auf ganz ähnliche Weise haben müssen. Und das heißt prak­ tisch: Wir können ihnen, wenn wir wollen, durch eine Gabe Wasser Gutes tun. So banal es sein mag, für viele Stadtmenschen ist es der letzte Rest eines spontanen Naturbezugs, dass sie ihre Zimmerpflan­ zen gießen, und viele werden doch zumindest einen Anflug von Trauer 67 Theophrastus Paracelsus: Volumen Paramirum und Opus Paramirum, hrsg. v. Franz Strunz, Jena 1904, S. 122. 68 Paracelsus: Volumen Paramirum, S. 25. Das Bild erinnert an das schmitzsche Kon­ zept der Leibesinsel. 69 Die Anerkennung der Bedürftigkeit anderer Menschen bildete das zentrale Anlie­ gen der Ethik Kamlahs (vgl. Kamlah: Philosophische Anthropologie, S. 95). Sie wäre auf nichtmenschliche Lebewesen zu erweitern.

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empfinden, wenn sie bei der Rückkehr aus einem Sommerurlaub fest­ stellen, dass ihre Zimmerpflanzen verdurstet sind. Gerade in ariden Gegenden ist das Wissen um den Wert des Wassers auch für nichtmenschliche Lebewesen sehr präsent. In den islamisch dominierten Teilen der Sahara gilt das so genanntes Gesetz des Durstes, und in Quellentexten des islamischen Rechts wird gebo­ ten, dass man jedem, der Wasser braucht, zu trinken geben soll, wenn man dazu in der Lage ist. Ausdrücklich werden dabei auch dürstende Tiere genannt. Ganz detailliert führen die islamischen Rechtsquellen aus, wer wann und in welcher Reihenfolge mit dem kostbaren Gut versorgt werden soll. Das Recht des Durstes überwindet nicht nur den Gegensatz von Freund und Feind, sondern auch den Gegensatz von Mensch und Tier.70 Das Schenken von Wasser wird hier wie auch in anderen Traditionen als ein elementarer Akt angesehen, der Men­ schen verbindet, der aber über die Menschenwelt hinausführt und auch Menschen und Tiere und Menschen und Pflanzen verbinden kann. Damit erreichen wir den Punkt, an dem unsere Überlegungen zu normativen und auch politischen Fragen führen, zu jenen Fragen nämlich, die damit zu tun haben, wie jenes ältere Gemeinwesen, von dem eingangs schon die Rede war, in unserem hochorganisierten menschlichen Gemeinwesen Anerkennung und Berücksichtigung fin­ det.

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70 Ṣaḥīḥ al-Buḫārī: Nachrichten von Taten und Aussprüchen des Propheten Muham­ mad, übers. v. Dieter Ferchl, Stuttgart 1991, S. 263. Vgl. auch die vollständige franzö­ sische Ausgabe der Sammlung von Ṣaḥīḥ al-Buḫārīs Texten ders.: El Bokhâri. Les Tra­ ditions Islamiques. Bd. 2, übers. v. Octave Houdas/William Marcais, Paris 1977, vgl. insbesondere S. 106 (Tränken des durstigen Hundes) und S. 108 (Sünde des Verwei­ gerns von Wasser).

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Die Weltlichkeit leiblicher Widerfahrnisse Ein Gegenentwurf zu Hermann Schmitz’ Phänomenologie der pathischen Wahrnehmung

Wenn die sinnliche Wahrnehmung zum Thema der Philosophie gemacht wird, dann wird sie zumeist als Vermittlung von Erkennt­ nissen über die empirische Welt in Betracht gezogen. Hieran knüpfen sich dann ausgedehnte Debatten darüber, wie verlässlich jene der Sinneswahrnehmung zu verdankenden Erkenntnisse sind, ob auf die­ sem Weg also tatsächlich eine zutreffende Auskunft über das Sein der Welt erteilt wird, die eine valide Grundlage für wahre Aussagen bereitzustellen vermag. Es ist daher kein Zufall, dass die abendländi­ sche Philosophie vor allem die Gesichtswahrnehmung in den Mittel­ punkt ihrer Untersuchungen gerückt hat, denn zweifellos verdanken wir dem Sehsinn die differenziertesten und umfassendsten Erkennt­ nisse über die Welt, in der wir leben. Hans Jonas hat in diesem Sinn von einem »Adel des Sehens« gesprochen: Das Sehen ist von allen Sinnen am meisten für die Erkenntnis geeignet, weil es eine Distanz zu seinen Objekten ein­ nimmt; es erfasst sie bereits aus der Ferne, bevor es sich mit ihnen einlassen muss und von ihnen kompromittiert werden kann. Das Sehen selbst erlaubt also ein »Zurücktreten von der Aggressivität der Welt«;1 es ist der »theoretische« Sinn, weil er der das Affiziertwerden durch die Objekte der Welt, also die subjektive bzw. leibliche Erfah­ rung von Wirkung und Kraft, aus dem Blick geraten lässt. Genau aus diesem Grund ist die Gesichtswahrnehmung nach Jonas seit der grie­

1 Hans Jonas: »Der Adel des Sehens. Eine Untersuchung zur Phänomenologie der Sinne«, in: ders.: Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Frank­ furt 1997, S. 233–264, hier 253.

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chischen Antike das »Model der Wahrnehmung überhaupt und damit […] der Maßstab für die anderen Sinne.«2 Die folgende Untersuchung beabsichtigt, auf dem Wege einer Diskussion von Hermann Schmitz’ Phänomenologie des eigenleibli­ chen Spürens eine alternative Position zu entwickeln. Dabei geht es also – mit Jonas gesprochen – nicht um die adlige, sondern vielmehr um die plebejische Dimension der Wahrnehmung, in der Distanz und Unparteilichkeit unmöglich werden. Während das Sehen adlig ist, insofern es das Gesehene in ein Erkenntnisobjekt verwandelt, wird in Abgrenzung hierzu der Versuch unternommen – mit Maurice Mer­ leau-Ponty gesprochen –, tiefer ins »lebendige Dickicht der Wahr­ nehmung«3 einzudringen. Um in dem Bild zu bleiben: Anders als der Thron des Adligen, von dem aus das wahrnehmende Subjekt souverän und distanziert auf seinen Gegenstand herabsieht, ist es in einem sol­ chen Dickicht vielmehr dem Wahrgenommenen ausgesetzt: Was mir im Dickicht begegnet, stellt meine neutrale Erkenntnishaltung in Frage, weil es mir zustößt und auf mich einwirkt. Und diese Einwir­ kungen werden wiederum nicht einfach nur interesselos als bloße Fakten der Erkenntnis registriert, denn es handelt sich hierbei um angenehme und unangenehme Ereignisse, welche die leibliche Ver­ fasstheit des wahrnehmenden Subjekts in Mitleidenschaft ziehen. Was in diesem Aufsatz unternommen werden soll, lässt sich also als eine Phänomenologie der pathischen Wahrnehmung charakteri­ sieren, die einerseits zwar inspiriert ist von Schmitz, sich andererseits aber als Alternative zu dessen eigenem Ansatz versteht: Es geht um die Wahrnehmung, insofern sie als ein leibliches Widerfahrnis erlebt wird. Genauer gesagt, in der Wahrnehmung geschieht eine Einwir­ kung des Wahrgenommenen auf den Wahrnehmenden, also eine angenehme oder unangenehme Einwirkung des Wahrnehmungsob­ jekts auf das Wahrnehmungssubjekt, die sich als phänomenaler Bestand erfassen lässt. Das Widerfahrnis gehört daher selbst zum Wahrnehmungsgehalt des wahrnehmenden Subjekts, und nur inso­ weit ist es das Thema einer Phänomenologie der pathischen Wahr­ nehmung.4 Hans Jonas: »Adel des Sehens«, S. 235. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. v. Rudolf Boehm, Berlin 1966, S. 61. 4 Siehe hierzu ausführlich Jens Bonnemann: Das leibliche Widerfahrnis der Wahr­ nehmung. Eine Phänomenologie des Leib-Welt-Verhältnisses, Münster 2016. 2

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Sicher bin ich betroffen von meinem eigenen Leib, betroffen bin ich aber auch von den Dingen, die behaglich oder ekelhaft, schmerz­ haft oder lecker sind. In der pathischen Wahrnehmung geschieht mir etwas durch Dinge außerhalb meines Leibes. Es handelt sich also um Widerfahrnisse nicht der interozeptiven (proprio- und viszerozepti­ ven), sondern der exterozeptiven Wahrnehmung. Im Bereich der pro­ priozeptiven oder viszerozeptiven Wahrnehmung ist das Widerfahr­ nis von Schmerz eine zweistellige Beziehung (»mir widerfährt ein Bauchschmerz oder ein Wadenkrampf«). Wenn ich einen Stich in der Brust spüre, macht die Unterscheidung zwischen dem, was sticht, und dem, was gestochen wird, keinen Sinn. Dagegen handelt es sich im Bereich der exterozeptiven Wahrnehmung beim Widerfahrnis von Schmerz um eine dreistellige Relation: Hier widerfährt mir etwas durch etwas. Meine Hand tut nicht einfach nur weh, sondern etwas tut meiner Hand weh – und dieses etwas ist selbst ein Objekt meiner Wahrnehmung. Es gibt also ein von mir Unterschiedenes, das mir etwas zufügt, und dieser Zusammenhang gehört zum augenblickli­ chen phänomenalen Gehalt meiner Wahrnehmung. Bei einer Wahr­ nehmung als Widerfahrnis liegt phänomenologisch demzufolge nicht nur das Erleben der Wirkung, sondern in eins auch das der Ursache vor. Nur diejenigen Bewusstseinserlebnisse kommen deshalb in Betracht, in denen ich auch erlebe, wie etwas auf mich einwirkt. Das Ziel dieser Untersuchung besteht darin, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Qualitäten der Wahrnehmungsobjekte zu richten, wel­ che in einer jeden Wahrnehmungsphilosophie unter den Tisch fallen, welche sich üblicherweise an epistemischen Fragestellungen orien­ tiert und die Wahrnehmung deshalb primär als sinnliche Erkenntnis befragt. Das Gesehene kann zu hell sein; das Gehörte kann zu laut sein; das Getastete kann stechen, brennen, schneiden, stoßen und das Gerochene und Geschmeckte schlichtweg ekelhaft sein. Das Wahr­ genommene ist also nicht nur grün oder rund, es ist nicht nur nützlich oder hinderlich, sondern auch lecker, stechend, schneidend oder ekel­ haft. Eine entscheidende Hürde, die einer Phänomenologie der pathi­ schen Wahrnehmung im Wege steht, ist nun jene bereits erwähnte und in Philosophie und Wissenschaft weit verbreitete Auffassung, Wahrnehmung sei sinnliche Erkenntnis und sonst gar nichts – zumin­ dest nichts, was einer philosophischen Untersuchung wert sei. Aller­ dings ist dies nicht die einzige Hürde, die es zu überwinden gilt, um die Philosophie weiter ins Dickicht der Wahrnehmung zu führen.

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Denn im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Leiblichkeit der Wahrnehmung paradoxerweise auch durch einen Primat des Leibes verstellt werden kann. Hierbei wird die häufige Leibvergessenheit der Wahrnehmungsphilosophie geradezu durch eine Leibversessenheit überkompensiert. So stehen zwar pathische Qualitäten im Mittel­ punkt, sie werden jedoch lediglich als eigenleibliche Zustände ver­ standen und damit von jeglicher Wahrnehmung weltlicher Objekte abgetrennt. In den nun anschließenden Überlegungen soll zunächst eine Kritik am eigenleiblichen Spüren vorgenommen werden, so wie es in der Neuen Phänomenologie beschreiben wird. Nach dieser kri­ tischen Auseinandersetzung folgt dann der positive Gegenentwurf, in dem anhand von konkreten Beispielen die Skizze einer Phänomeno­ logie der pathischen Wahrnehmung vorgelegt wird.

1. Das eigenleibliche Spüren in der Neuen Phänomenologie Wenn man an dieser Stelle einen Blick auf die Position von Schmitz wirft, so besitzt dessen Phänomenologie gegenüber einer reinen Erkenntnistheorie der Wahrnehmung zunächst den unbestrittenen Vorzug, das affektive Betroffensein und das leibliche Widerfahrnis ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Dies führt jedoch – wie im Folgenden gezeigt werden soll – zu einer Überbetonung der Subjek­ tivität und zu einer Evakuierung des Pathischen aus dem Weltver­ hältnis. Dies hat vor allem mit Schmitz’ Verständnis der Gegenüber­ stellung von Leib und Körper zu tun. Innerhalb der Phänomenologie ist es üblich, Leib und Körper zu unterscheiden. Der Leib ist mein Leib, den ich erlebe und spüre, mit dem ich mich bewege und der als Wahrnehmungs- und Handlungs­ zentrum meine absolute Orientierung in der Welt ist. Mein Körper hingegen ist der Gegenstand der Anatomie und Physiologie; er ist ein Ding in der Welt wie andere Dinge, die sich wiegen und messen lassen. Während mein Körper sich nach Schmitz dadurch auszeichnet, dass ich ihn mit meinen Sinnen wahrnehme, d.h., dass ich ihn sehen und tasten kann, werde ich meines Leibes im eigenleiblichen Spüren gewahr. Genauer gesagt, im eigenleiblichen Spüren erfahre ich aus­ schließlich meinen eigenen Leib. Was ich im eigenleiblichen Spüren

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erfahre, sind verschiedene »Leibesinseln«5 (z.B. die Engung und Wei­ tung beim Atmen, Kribbeln im Fuß, Wärme in der Hand, die Bewe­ gung der Zunge im Mund usw.): »Leiblich ist, was jemand in der Gegend (keineswegs, wie z.B. am Blick deutlich wird, immer in den Grenzen) seines materiellen Körpers von sich selber (als zu sich selber, der hier und jetzt ist, gehörig) spüren kann, ohne sich der fünf Sinne (Sehen, Tasten, Hören, Riechen, Schme­ cken) und des aus ihrem Zeugnis abgeleiteten perzeptiven Körper­ schemas (der habituellen Vorstellungen vom eigenen Körper) zu bedie­ nen.«6

Wenn Wahrnehmen und eigenleibliches Spüren auf diese Weise strikt getrennt werden, verbleiben die Leibesinseln konsequent in der Innerlichkeit, da das eigenleibliche Spüren nichts anderes als ein Sich-Spüren ist. Wie Bernhard Waldenfels nicht zu Unrecht bemerkt, wird die Differenz zwischen Leib und Körper bei Schmitz so zuge­ spitzt, dass »die Dualität von res cogitans und res extensa sich in Form einer Dualität von spürbarem Leib und wahrnehmbarem Körper erneut etabliert, und dies mit all den Problemen, die wir seit langem kennen.«7 Dies liegt daran, dass ich Schmitz zufolge meinen Körper nur wahrnehme, ohne ihn zu spüren, und meinen Leib nur spüre, ohne ihn wahrzunehmen. Das philosophische Denken von Schmitz legt zwar das Schwer­ gewicht auf das affektive Betroffensein, aber es verfehlt die pathischen Wahrnehmungsqualitäten, weil das Widerfahrnis hier nur als ein lei­ bimmanentes Gewitter verstanden wird. Während das Primat der Erkenntnis also die Wahrnehmung ohne Widerfahrnis untersucht, kennt das Primat des Leibes nur das Widerfahrnis ohne Wahrneh­ mung: Von geradezu entgegengesetzten Wegen aus stellt sich damit also eine Blindheit für das Widerfahrnis der Wahrnehmung ein. So wie Schmitz will nun auch Gernot Böhme das affektive Betrof­ fensein und das leibliche Widerfahrnis in den Mittelpunkt seiner Hermann Schmitz: Der Leib, Berlin/Boston 2011, S. 7–12. Schmitz: Der Leib, S. 5. Bei den leiblichen Regungen denkt Schmitz an »Schreck, Schmerz, Angst, Hunger, Durst, Jucken, Kitzel, Ekel, Behagen, Wollust, Müdigkeit, Frische, Mattigkeit und viele andere. An zweiter Stelle stehen alle leiblichen Regungen der Ergriffenheit von Gefühlen, z.B. Frohsein, Traurigsein, Zürnen, Sichärgern, Sich­ schämen, Lieben, Hassen, Entzücktsein, Bestürztsein, Fürchten, Bangigkeit, Sehn­ sucht usw.« (ebd., S. 4). 7 Bernhard Waldenfels: »Eigenleib und Fremdkörper«, in: ders.: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt 1999, S. 33–52, hier 47f. 5

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Untersuchungen rücken: Während Schmitz’ Leibphilosophie gene­ rell die Natur eher auf Distanz hält,8 spricht Böhme davon, dass es im leiblichen Spüren gerade die Natur ist, die mir widerfährt: »Das SichSpüren muss einen überfallen können, uns fremdartig berühren, wenn wir es sinnvoll als Naturerfahrung bezeichnen wollen.«9 Aber die Natur, die mir im Spüren widerfährt, ist bei Böhme primär die eigene Natur.10 Das Wesen des Leiblichen ist das betroffene Sich-Spüren, und Böhmes Beispiele sind die Mündigkeit, der Schmerz oder auch die Atemnot.11 Es geht hier um eigenleibliche Regungen, die allerdings nicht als Einwirkungen eines Wahrnehmungsobjekts zum Thema gemacht werden. Das Korrelat des Spürens ist also gerade kein »Ein­ griff in die eigene leibliche Anwesenheit«12, denn was bei Böhme und Schmitz gespürt wird, bin immer nur ich selbst, insofern ich Leib oder Böhme selbst räumt ein, dass Schmitz’ Leibphilosophie »vornehmlich am leiblichen Spüren interessiert ist und ausdrücklich eine Distanz zum Thema Natur wahren möchte« (Gernot Böhme: Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hin­ sicht, Kusterdingen 2003, S. 281). Deutlichere Töne schlägt Philipp Thomas an: »Wenn der Leib bei Schmitz auch geradezu zu einem neuen Paradigma der Philosophie wird, so spielen doch die ›eigene Natur‹, der Leib als Naturseite des Menschen und die Natur insgesamt doch kaum eine Rolle« (Philipp Thomas: Selbst-Natur-sein. Leib­ phänomenologie als Naturphilosophie, Berlin 1996, S. 123). Der Leib ist erstens eine Weise der Welthabe, also der Wahrnehmung sowie der praktischen Bewältigung, zweitens wird er gespürt. Thomas versteht das Natur-sein des Leibes als Widerfahrnis, aber auch hier widerfährt mir nur der eigene Leib – und insofern er genau das tut, ist er Natur. Wenn der Leib die Welthabe beschreibt und der Körper meine Natur ist, die mir widerfährt, dann lässt sich streng genommen allerdings gar nicht sagen, dass es der eigene Leib ist, der gespürt wird. Ob es nun konsequenterweise bei Thomas eigentlich heißen müsste, dass der Körper und nicht der Leib gespürt wird, es bleibt jedenfalls dabei, dass es wiederum nicht die Dinge sind, die mir – leiblich oder kör­ perlich, das sei hier einmal dahingestellt – widerfahren. 9 Böhme: Leibsein, S. 66. 10 Edmund Husserl betont bereits den Widerfahrnischarakter des eigenen Leibes, wenn er schreibt: »Während ich allen anderen Dingen gegenüber die Freiheit habe, meine Stellung zu ihnen beliebig zu wechseln und damit zugleich die Erscheinungs­ mannigfaltigkeiten, in denen sie mir zur Gegebenheit kommen, beliebig zu variieren, habe ich nicht die Möglichkeit, mich von meinem Leibe oder ihn von mir zu entfernen« (Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, Den Haag 1952, S. 159). 11 Böhme: Leibsein, S. 61. 12 Böhme, »Das Ding und seine Ekstasen. Ontologie und Ästhetik der Dinghaftig­ keit«, in: ders.: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt 1995, S. 155–176, hier 167. 8

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– darin geht Böhme wiederum über Schmitz hinaus – insofern ich Körper, also selbst Natur bin. Zum eigenleiblichen Spüren gehört demnach bei den genannten Autoren nicht der Sinn, dass hier ein Objekt eingreift bzw. auf meinen Leib einwirkt. So soll zwar das Objekt von seinem In-sich-Verschlossen-sein befreit werden, aber umge­ kehrt drängt sich von Anfang an der Eindruck auf, als würde das Spü­ ren in einer weltlosen Immanenzsphäre stattfinden, und man kann wohl bezweifeln, ob eine solche Beschreibung den phänomenalen Gegebenheiten gerecht wird. Was sich in der Wahrnehmung, so wie sie in der vorliegenden Untersuchung betrachtet werden soll, aufdrängt, ist nicht die Natur, die ich selbst bin, sondern die Natur, die ich nicht bin – also die Dinge der Welt. Gefragt wird deshalb nach einem leiblichen Spüren, das nicht nur den eigenen Leib, sondern in eins auch die auf ihn wirkenden Dinge erschließt. Dies wäre ein Spüren, das auch, aber eben nicht nur ein Sich-Spüren wäre. Pathische Wahrnehmungen, so wie sie hier zum Thema gemacht werden, wären – in Böhmes und Schmitz’ Sprache – als ein »eigenleibliches Spüren« zu beschreiben, in dem sich gerade nicht nur mein Leib, sondern auch eine bestimmte Dimension der Welt enthüllt. Das Spüren bleibt jedoch bei den genannten Autoren rein leibimmanent. Zwar würde Böhme sicher insistieren, dass es auch den eigenen Körper entdeckt, weil mir etwas widerfährt. Denn es ist ja gerade das Widerfahren, das es erlaubt, von einer Natur, die ich bin, zu sprechen. Mein Leib ist bei Böhme also Körper, insofern er mir im Spüren widerfährt.13 Da aber genaugenommen doch jede Leibesinsel – insofern sich hier etwas, von dem ich unmittelbar betroffen bin, ohne meinen Willen und sogar gegen meinen Willen bemerkbar macht – ein Widerfahrnis ist, liegt die Frage auf der Hand, ob dieser Versuch einer Vermittlung von Leib und Körper nicht eigentlich zu viel leistet. Um zu verdeutlichen, in welche Richtung diese Kritik zielt, bietet sich noch einmal der Vergleich mit Schmitz an, der die unterschiedli­ chen Gegebenheitsweisen von Leib und Körper geltend macht: Es ist nach ihm der Leib, der gespürt, und der Körper, der gesehen und ertastet 13 Wenn mir mein eigener Körper auf naturwissenschaftliche Weise über genetische, hormonelle, neurophysiologische usw. Wissensbestände erschlossen wird, so handelt es sich um eine »indirekte Selbstgegebenheit« (Böhme: Leibsein, S. 170), denn wir ver­ stehen uns hier als Natur durch ein Wissen, das uns »mit dem eigenen Fremden [kon­ frontiert], also mit dem, als was ich mich objektiv bestimmt vorfinde« (ebd., S. 172).

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wird. Wenn das Gespürte jedoch so wie bei Böhme die widerfahrende Natur ist, die ich bin, dann dürfte es sich hierbei also streng nach Schmitz gerade nicht um den Leib handeln, denn insofern mir der Leib widerfährt, ist er Körper und gerade nicht Leib, und demzufolge ist bei Böhme im Unterschied zu Schmitz nicht der Leib dasjenige, das gespürt wird, sondern der Körper. Und der Leib wäre infolgedessen nichts anderes als nur das Spüren des Körpers. Ein Schmerz wäre für Schmitz etwas Leibliches, für Böhme etwas Körperliches. Alles deutet also darauf hin, dass der Phänomenbereich des Leibes zwischen diesen beiden Autoren verschwimmt. Um diesen Gedanken noch einmal kurz zusammenzufassen: Insofern der Leib widerfährt, ist er nach Böhme Körper. Da jedoch jede Leibesinsel ein Widerfahrnis ist, ist mir infolgedessen im eigenleiblichen Spüren – anders als Schmitz meint – gerade nicht der Leib, sondern immer nur der Körper gegeben. Dann stellt sich allerdings umgekehrt nun die Frage, auf welche Weise mir jetzt überhaupt noch der Leib gegeben sein kann. Diese Problematik geht einher mit dem Vorzug einer Leibphilo­ sophie, die das affektive Betroffensein von der eigenen Leiblichkeit von Anfang an ins Zentrum ihrer Überlegungen rückt, denn auf diese Weise hebt Böhmes Konzeption mit Erfahrungen an, in denen die beiden Dimensionen des Leibes (das Spüren) und des Körpers (das Gespürte) zusammenfallen, welche in anderen leibphilosophischen Ansätzen zunächst getrennt untersucht werden. Von diesen Überlegungen einmal abgesehen, steht jedenfalls fest, dass Böhme sich zwar im Vergleich zu Schmitz einen großen Schritt auf die Naturseite des Menschen zubewegt, aber sich trotzdem doch kaum dafür interessiert, ob ich im Spüren nicht auch realisiere, wie die Natur, die ich nicht bin, auf jene Natur einwirkt, die ich bin. Mein Leib, so gilt es demgegenüber festzuhalten, ist nicht nur Kör­ per, weil er mir im Spüren widerfährt, sondern auch deswegen, weil er den Einflüssen anderer Körper ausgesetzt ist. Dieser ekstatische Charakter der Dinge, der Böhme in seiner Wahrnehmungsphiloso­ phie so wichtig ist, spielt in seiner Leibphilosophie hingegen keine große Rolle.14 Zweifellos richtet Böhme nicht das Hauptaugenmerk auf Widerfahrnisse, die von der Natur, die ich nicht bin, herrühren, dennoch finden sich, wie man zugeben muss, auch gegenläufige Tendenzen. So erklärt er etwa, »dass im Atmen eine der intensivsten und empfindlichsten Formen unserer Teilnahme an der Welt sich vollzieht. Diese Teilnahme ist zuallererst eine Teilnahme am physischen Zustand unserer Umgebung: 14

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Demgegenüber soll hier nun geltend gemacht werden, dass schon das leibliche Spüren nicht nur Selbst-, sondern bereits Fremderfahrung einschließt, weil der eigene Leib nicht einfach nur etwas Innerliches ist, sondern in seinem Spüren und Leiden der Welt ausgesetzt und daher selbst weltlich, d.h. körperlich ist. Kurz, das Gespürte ist nicht nur das Eigene und Spüren nicht nur ein Sich-Spü­ ren. Die Erfahrung meiner Weltlichkeit und Körperlichkeit – verstan­ den als ein den anderen weltlichen und körperlichen Dingen Ausge­ setztsein – gehört wesentlich zur Erfahrung des eigenen Leibes. Wenn der Schmerz leiblich gespürt wird, so ist mir Böhme zufolge der eigene Leib als widerfahrende Natur, also als Körper gege­ ben. Aber zu dieser Erfahrung gehört bei ihm gerade nicht die Qualität eines wahrnehmbaren Objekts – wie die Schärfe eines Messers oder die Härte und das Gewicht eines Steins. Affektion und Spüren sind jeweils rein immanent und werden streng vom Bereich der Wahrneh­ mung geschieden. Eine solche Evakuierung des Pathischen aus der Welt geht an der Erfahrung vorbei, dass das Wahrgenommene selbst Spüren und Affektion bewirkt. Was ich leiblich spüre, ist also nicht die Sonne auf meiner Haut oder der Wind in meinem Gesicht. Es stellt sich jedenfalls der Eindruck ein, dass sich die Leibesinseln, so wie sie bei Schmitz und auch noch bei Böhme in Erscheinung treten, durch einen gewissen Autismus auszeichnen.15 Spüre ich denn wirklich nur Teile – Inseln – meines Leibes? Schließt das Spüren nicht auch die Erfahrung des Berührt- und Angerührtwerdens ein? Spüre ich wirk­ lich nur mein brennendes Auge als eine Leibesinsel und nicht zugleich die schmerzhafte Helligkeit des Lichts? Wenn ich still daliege und plötzlich einen Stich in meinem Fuß spüre, gehört zum Gehalt dieses Erlebnisses dann wirklich nur mein Fuß als Leibesinsel, in der sich ein Stechen vollzieht? Oder findet sich hier nicht auch der phänomenale

frische Luft lässt uns aufatmen und steigert die Lebenslust oder bringt sie allererst hervor, stickige und schwüle Luft bedrückt und lässt das Leben zu einer Last werden« (Böhme: Leibsein, S. 281). 15 Was Schmitz betrifft, kommt Thomas zu einem ganz ähnlichen Ergebnis. So ist, wie kritisch hervorgehoben wird, »eine Wollust und ist ein Durst nur zur Hälfte beschrieben, wenn nicht gesagt wird, was Wollust macht, bzw. worauf man, wenn auch vielleicht nur in der Phantasie, durstig ist. Ob Kratzen oder Begehren, ob Wasser oder Kräutertee, diese Unterschiede sind lebensweltlich relevant. Vielleicht kann ein Gefühl, ein Bedürfnis, ein Verlangen gar nicht verstanden werden, wenn man es nur ›am eigenen Leibe‹ aufsucht« (Thomas: Selbst-Natur-sein, S. 134).

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Sinngehalt, dass mich etwas sticht, vor dem ich mich vielleicht in Acht nehmen sollte?16

2. »Einleibung« oder »Einweltung« Eine Leibesinsel zu spüren, schließt in vielen Fällen auch zu spüren ein, dass sie das Ergebnis einer weltlichen Einwirkung ist. Die Lei­ besinseln sind also nicht vom Festland, d.h. der Welt getrennt, von der her ganz im Gegenteil jederzeit sogar Unwetterfronten über sie hinweg rollen können. Das eigenleibliche Spüren, so wie es Schmitz und Böhme begreifen, erweist sich in letzter Konsequenz als weltlos, und es stellt sich die Frage, ob die beiden Autoren nicht gleichermaßen in Gefahr geraten, »Innerlichkeitsfanatiker« zu sein, wie Schmitz es Michel Henry – übrigens ja gar nicht zu Unrecht – vorhält.17 Wenn ein Widerfahrnis eine phänomenale Gegebenheit ist, in der ich in eins eine Einwirkung eines Dings erfahre, die ich als ange­ nehm oder unangenehm erlebe, dann muss es eine Gegebenheits­ weise geben, die weder nur ein Spüren ist, in dem mir ausschließlich mein Leib (oder Körper) angenehm oder unangenehm widerfährt, noch nur eine – epistemische – Wahrnehmung, in der mir Dinge gegeben sind. Insofern allerdings eigenleibliches Spüren und Wahr­ nehmung auf einerseits Leib und andererseits Welt säuberlich verteilt werden, verbaut sich eine solche Leibkonzeption das Verständnis eines so alltäglichen Augenblicks, in der ich erlebe, wie ein außer­ leibliches Objekt auf meinen Leib einwirkt. Während das Spüren zwar die teilheitlichen leiblichen Regungen,18 aber nicht die Dinge erfasst, Im Grunde klingt dies auch schon bei Böhme selbst an, wenn er über die »leibliche Liebe« schreibt: »Die Leibesinseln werden lebendig, und im Spüren des Anderen spürt man sich« (Böhme: Leibsein, S. 147). Das bedeutet doch, dass ich den anderen, der mich berührt, spüre, indem ich mich spüre. 17 Schmitz: Der Leib, S. 169. 18 Schmitz versteht offenbar die teilheitlichen leiblichen Regungen, in denen ich eine bestimmte Leibesinsel spüre, ähnlich wie Max Scheler die Lebensgefühle, welche in Schmitz’ Terminologie als ganzheitliche leibliche Regungen bezeichnet werden (z.B. Müdigkeit, Vitalität usw.). Während bei Scheler die Leibgefühle ohne Weltbezug sind (vgl. Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, Bern/München 1980, S. 340), gilt dies bei Schmitz aller­ dings nicht nur für diese ganzheitlichen, sondern auch für die teilheitlichen leiblichen Regungen, in denen z.B. ein Stechen im Fuß oder ein Brennen in der Hand erfasst wird. Schmitz kritisiert gerade Schelers Auffassung von einer Identität zwischen Leib 16

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die jene Regungen hervorrufen, sind in der Wahrnehmung zwar diese Dinge, aber nicht mehr die Leibesinseln gegeben. Der Schmerz gehört nach Schmitz wie der Wind, ein Blick oder eine Stimme zu den Halbdingen. »Als zudringlicher Widersacher ist der Schmerz, besonders der chro­ nische, ein Halbding, das sich von Volldingen durch zwei Merkmale unterscheidet: Die Dauer eines Dinges im Vollsinn ist ununterbrochen, die eines Halbdinges dagegen durch Pausen unterbrechbar.«19

Der Schmerz ist, wie Schmitz weiter ausführt, »ein Halbding in zwiespältiger Stellung zum betroffenen Leib: einer­ seits dessen eigene Regung, andererseits wie die reißende Schwere ein zudringlicher, in den Leib eindringender Widersacher, mit dem der Betroffene sich auseinandersetzen muss, statt sich ihm einfach auslie­ fern zu können, wie der Geängstete der Angst in panischer Flucht.«20

Schmitz’ Überlegungen zum Schmerz zeigen, dass er den Schmerz einerseits als eigenleibliche Regung, andererseits aber auch als etwas begreift, das dem Leib selbst widerfährt. Jedenfalls begrenzt sich nichtsdestotrotz in beiden Fällen der Objektbezug der Schmerzerfah­ rung auf leibliche Geschehnisse; ein Objekt, das mir diesen Schmerz zufügt, gehört nicht mehr dazu. Während der Schmerz bei Schmitz ein bloß leibliches Geschehen ist, wird er innerhalb der Philosophie des Geistes als ein bloß mentales Geschehen verstanden.21 In beiden Fällen wird der Schmerz also in eine Immanenzsphäre (Geist oder Leib) eingeschlossen und verliert seine welterschließende Qualität. Die vorliegende Studie versucht hingegen, Phänomene wie Schmerz, Genuss, Behaglichkeit oder Ekel als eine bestimmte Dimension des Leib-Welt-Verhältnisses zu und Körper mit dem Hinweis, dass es Leibesinseln gebe, denen keine Körperteile (mehr) zugehören (z.B. Phantomglieder), und umgekehrt Körperteile existieren, die niemals als Leibesinseln auftauchen können (z.B. die Haare). Auf diese Weise insis­ tiert Schmitz auf einer strikten Trennung zwischen dem eigenleiblichen Spüren und der Wahrnehmung durch äußere Sinne (Schmitz: Der Leib, S. 161f; siehe hierzu auch Böhmes Kritik an Schmitz’ allzu schroffer Gegenüberstellung zwischen Leib und Kör­ per bei Böhme: Leibsein, S. 219f). 19 Schmitz: Der Leib, S. 29. 20 Schmitz: Der Leib, S. 65. 21 Vgl. zur gängigen Auffassung der Qualia exemplarisch die folgende Überblicks­ darstellung Ansgar Beckermann: Das Leib-Seele-Problem. Eine Einführung in die Phi­ losophie des Geistes, München 2008.

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beschreiben: Diese Dimension soll hier als »Als-Körper-von-derWelt-Gehabtwerden« bzw. »Als-Körper-von-der-Welt-Getroffen­ werden« – kurz: als »Getroffensein« – bezeichnet werden. Indem Schmitz die Schmerzerfahrung als bloßes eigenleibliches Spüren ohne Weltbezug begreift, reißt er auseinander, was alltäglich als eine komplexe Einheit bzw. als ein Strukturzusammenhang erfah­ ren wird. Die Wahrnehmung eines Objekts als leibliches Widerfahr­ nis findet aus diesem Grund keinen Platz in einer Philosophie, die meinen Leib solcherart von seiner Weltlichkeit, d.h. von seiner Kör­ perlichkeit abschirmt. Die schlichte Erfahrung, dass mein Leib welt­ lich ist, weil es weh tut, wenn mich ein Ding stößt, fügt sich nicht so recht in die Leibkonzeption von Böhme und Schmitz.22 Das Verhältnis des Leibes zur Welt lässt sich nicht nur mit Schmitz als »Einleibung«23 oder mit Henry als »Erdeinverleibli­

Gegenüber dieser Lesart von Schmitz könnte der Einwand erhoben werden, dass sich beispielsweise in Der unerschöpfliche Gegenstand durchaus Passagen finden las­ sen, wo davon die Rede ist, dass wir das Wetter spüren oder auch einen elektrischen Schlag als eine eindringende feindliche Macht. Dennoch lässt sich nicht von der Hand weisen, dass Schmitz beim eigenleiblichen Spüren die Subjektseite fokussiert – wohingegen in dieser Untersuchung gerade der Objektbezug betrachtet werden soll: Auf welche Weise ist das eklige oder das schmerzende Objekt gegeben? Im Übrigen sprengen Schmitz’ verstreute Bemerkungen über das eigenleibliche Spüren des Wet­ ters oder des elektrischen Schlags seinen leibkonzeptionellen Rahmen: Wenn man den Leib als dasjenige bestimmt, was wir spüren, dann kann ich nicht das Wetter spüren, das ja gerade kein Teil meines Leibes ist. Schmitz hat auf den Vorwurf der Nabelschau, der von verschiedenen Seiten geäußert worden ist, in einem Aufsatz zu antworten versucht, in dem er diese Schieflage seiner Philosophie zu korrigieren ver­ sucht (vgl. Hermann Schmitz: »Situationen und Atmosphären. Zur Ästhetik und Ontologie bei Gernot Böhme«, in: Michael Hauskeller (Hrsg.): Naturerkenntnis und Natursein. Für Gernot Böhme, Frankfurt 1998, S. 176–190). 23 Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 2007, S. 138. »Einleibung« bedeutet, dass mir beim Wahrnehmen eines Objekts zugleich mein eigener Leib als Körperschema gewahr wird, so dass ich einem Auto ausweichen und einen Ball fangen kann. Was hiermit gemeint ist, sprengt jedoch nicht die Innerlichkeit des Leibes bei Schmitz, sondern ist – wie insbesondere Waldenfels hervorgehoben hat – eher als eine Assimilation zu verstehen, in der auch noch das Andere des Leibes in diese Innerlichkeit integriert wird: »›Den Anderen am eigenen Leibe spüren‹ ist gewiß eine schöne Formulierung, doch so, wie sie angewandt wird, läuft sie hinaus auf eine Erweiterung des Eigenen durch das Fremde und auf eine Auf­ hebung des Fremden in einem übergreifenden Ganzen, wobei einmal das eine Moment, das andere Mal das andere überwiegt« (Bernhard Waldenfels: »Eigenleib und Fremdkörper«, S. 49). 22

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chung«24, sondern – die Spielerei mit solchen Neologismen sei hier einmal gestattet – umgekehrt auch als »Einweltung« oder »Leibein­ vererdlichung« beschreiben. Platt gesagt, wenn das Subjekt sich mit dem Objekt einlässt, wird nicht nur das Objekt subjektiv, sondern auch das Subjekt objektiv. Ich organisiere das Wahrgenommene in Bezug auf meinen Leib, aber gleichzeitig erfahre ich meinen Leib als etwas in der Welt. Während »Einleibung« hervorhebt, dass ich alle Dinge auf meinen eigenen Leib beziehe, bedeutet »Einweltung«, dass ich zwischen die Dinge geraten bin, dass ich selber Ding unter Dingen bin, ohne aufzuhören, Leib zu sein. Wenn es keine Einleibung gäbe, könnte ich den Dingen, die auf mich zukommen, nicht ausweichen; wenn es keine Einweltung gäbe, müsste ich diesen Dingen gar nicht ausweichen. In dem, was Böhme und Schmitz Spüren nennen, erscheint mein eigener Leib, aber zugleich – und in diesem Punkt soll hier von der Leibkonzeption von Böhme und Schmitz entschieden abgewichen werden – ist er mir auch gegeben, insofern er den Einwirkungen der Wahrnehmungsobjekte ausgesetzt ist. Das bedeutet aber, dass das Spüren auch den Leib erfährt, insofern er ein Körper ist, auf den andere Körper auf eine Weise einwirken, die ich als angenehm oder unange­ nehm erlebe. Betroffen bin ich darum nicht nur von meinem Leib, sondern auch von den Dingen, die behaglich oder ekelhaft, schmerz­ haft oder lecker sind. Die vorliegende Untersuchung plädiert also dafür, den Gegenstandsbereich des leiblichen Spürens – auch wenn dieser Terminus hier nur vorübergehend für den Vergleich mit der Neuen Phänomenologie aufgenommen werden soll – noch um eine weitere Dimension zu erweitern: Was ich spüre, ist nicht nur der eigene Leib (Schmitz) und nicht nur die eigene Natur bzw. der eigene Körper (Böhme), sondern auch die Natur, die ich nicht bin. Mein Leib ist nicht nur Körper, weil er widerfährt, sondern auch, weil er ein welt­ liches Ding ist, dem etwas von anderen weltlichen Dingen widerfährt. Auf diese Weise wird Böhmes Leibphilosophie dem Buchstaben nach durch dasjenige ergänzt, was dem Geist nach in seinem Gedanken von der Ekstase der Dinge innerhalb seiner Wahrnehmungsphilosophie bereits angelegt ist.

Michel Henry: Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, übers. v. Rolf Kühn/Isabelle Thireau, Freiburg/München 1994, S. 165f.

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3. Eine Phänomenologie der pathischen Wahrnehmung Die phänomenalen Gegebenheiten sprechen eher dafür, dass jene Leibesinseln gar nicht so weit vom Festland, d.h. von der außerleib­ lichen Welt getrennt sind, wie es bei Schmitz den Anschein hat. Wenn ein Widerfahrnis eine phänomenale Gegebenheit ist, in der ich eine angenehme oder unangenehme Einwirkung eines Dings auf mich erfahre, dann muss eine Gegebenheitsweise existieren, die nicht nur wie das Spüren auf den eigenen Leib und nicht nur wie die epistemi­ sche Wahrnehmung auf reine Erkenntnisobjekte gerichtet ist. Die schlichte Erfahrung, dass mein Leib weltlich ist, weil es weh tut, wenn mich ein weltliches Ding stößt, passt nicht so recht in die Leibesim­ manenz bei Henry und Schmitz. Dass das Wahrgenommene pathische Qualitäten besitzt, ist ein phänomenologischer Sachverhalt, den nicht nur eine Wahrneh­ mungsphilosophie nicht in den Blick bekommt, für die die Wahrneh­ mung nichts weiter als eine sinnliche Erkenntnis ist und die der leib­ lichen Verankerung des Wahrnehmenden keinerlei Aufmerksamkeit schenkt. Auf umgekehrte Weise verliert auch eine Philosophie, die sich ganz und gar auf den Leib konzentriert, solche Phänomene aus dem Blick, wenn sie hierbei den Kontakt mit der Welt vernachlässigt. Der erstere Ansatz sieht nicht, dass der Weltbezug pathisch ist, der zweite Ansatz ignoriert, dass das Pathische auch einen Weltbezug hat. Jene alltägliche und banale Erfahrung, dass Wahrnehmungsobjekte angenehm oder unangenehm auf uns einwirken, wird demzufolge nicht nur durch eine Theorie der Wahrnehmung zum Verschwinden gebracht, die kein Pathos, sondern auch durch eine Theorie des Pathos, die keine Wahrnehmung kennt. Wenn eine Phänomenologie des leiblichen Widerfahrnisses der Wahrnehmung vorgenommen werden soll, ist es natürlich unum­ gänglich, die Leiblichkeit des Wahrnehmenden zu betonen. Hierbei sollte allerdings, wie die vorangegangenen Überlegungen deutlich machen, die Gefahr vermieden werden, dass das Widerfahrnis seinen Wahrnehmungsscharakter, d.h. seine welterschließende Relevanz ver­ liert und sich auf ein rein eigenleibliches Spüren verkürzt. Das Ziel einer pathischen Wahrnehmung besteht darin, das Wahrgenommene zu beschreiben, insofern es und wie es auf meinen Leib einwirkt und auf diese Weise Genuss und Leiden hervorbringt. Dabei gilt es vorab zu berücksichtigen: In der pathischen Wahrnehmung nehme ich zwar leiblich wahr, aber damit ist gerade nicht gemeint, dass ich vor allem

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den eigenen Leib wahrnehme. Denn zunächst ist auch die pathische Wahrnehmung wie jede andere auf die Welt gerichtet, d.h. sie inten­ diert das Objekt und nicht das Subjekt der Wahrnehmung. Es kommt daher darauf an, die pathische Wahrnehmung auf jener ursprünglich präreflexiven Ebene zu beschreiben, also das Augenmerk auf ihre welterschließende Dimension zu konzentrieren, welche verloren geht, wenn das Widerfahrnis mit einem bloßen Spüren des Eigenleibs gleichgesetzt wird, wie das bei Henry und Schmitz geschieht. Als Musterfall einer pathischen Wahrnehmung lässt sich das Beispiel des Ekels anführen. Hier leuchtet intuitiv ein: Auf der ursprünglichen präreflexiven Wahrnehmungsebene wäre es verfehlt, den Ekel nur als ein eigenleibliches Spüren, als Würgereiz, Übelkeit, Gänsehaut usw. zu beschreiben, denn auf diese Weise geht das Wovor des Ekels verloren. Es gibt das Ekelhafte als eine Qualität des inten­ dierten Objekts: Das Wahrgenommene ist nicht nur grün oder rot, hinderlich, widerspenstig oder nützlich – es kann auch schlichtweg ekelhaft sein. Genau an dieser Stelle lässt sich sehr anschaulich zwi­ schen der präreflexiven und der reflexiven Ebene der pathischen Wahr­ nehmung unterscheiden. Auf der präreflexiven Ebene ist der Ekel die Wahrnehmung ekelhafter Objekte, auf der sekundären und reflexiven Ebene schließt der Ekel außerdem noch die Wahrnehmung meiner eigenen leiblichen Zustände und Reaktionen ein. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass wir einen Gegenstand ekelhaft finden, bevor wir unseren eigenen Würgereiz, die Übelkeit und die Gänsehaut selbst zum Thema unseres Bewusstseins machen. Präreflexiv nehme ich den ekelhaften Gegenstand und nicht meinen Ekel wahr. Sobald ich dagegen ein reflexives Bewusstsein von meinem Ekel habe, ist mir auch mein Eigenleib gegeben, der dann aktuell aus dem Sich-Ekeln geformt ist. Der Ekel hat damit aufgehört, ausschließlich die Qualität eines Wahrnehmungsobjekts zu sein und ist zu einem Zustand mei­ nes Körpers geworden. Wenn man sich also an die Reihenfolge der phänomenalen Gege­ benheiten hält, dann sind Qualitäten wie genussvoll, ekelhaft, ange­ nehm, unangenehm oder lecker ursprünglich nicht innere leibliche Zustände oder eigenleibliches Spüren, sondern objektive Qualitäten der Wahrnehmungswelt. Der Schmerz in meinem Auge ist präreflexiv eine Wahrnehmung, in der das Sonnenlicht den pathischen Sinn »zu hell« besitzt – erst auf der reflexiven Ebene wird dieser Augenschmerz zur Qualität eines Körperteils: Zunächst ist einfach die Sonne zu hell;

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man könnte sagen, dass erst die Sonne eine unangenehme Wahrneh­ mung ist, bevor mein Auge schmerzt. Wenn die Betrachtungsweise jedoch von Anfang an zu hoch ansetzt, kommt es zu einer subjektiven Verzerrung, d.h. man erfasst die Phänomene erst auf der reflexiven Ebene und hält diese für ihre ursprüngliche Erscheinungsweise. Das Angenehme ist dann keine Qualität des Wahrgenommenen, sondern ein subjektiver Zustand des Wahrnehmenden. Infolgedessen ist das Wahrgenommene nicht mehr der Zweck, in dem meine Wahrnehmung sich verliert, sondern ein Mittel, um bestimmte Qualitäten im Wahrnehmenden hervorzubrin­ gen: Wenn ich einen Sonnenuntergang betrachte, dann tue ich das nicht, weil er schön ist, sondern weil er bestimmte Gefühle in mir auslöst; ich verliebe mich in einen Menschen, nicht weil er liebenswert ist, sondern weil ich den Zustand der Verliebtheit genießen will. So ist auch das Essen nicht mehr ein Zweck meines Lebens, sondern ein Mittel des Überlebens: ich esse nicht, weil das Essen lecker ist, sondern um mein eigenes Überleben zu sichern. Wenn die reflexive Wahrnehmung also an den Anfang gesetzt wird, dann ist das Resultat ein ebenso egozentrisches wie instrumen­ talistisches Weltverhältnis. So verschiebt die Reflexion das Ange­ nehme vom Bereich des Objektiven in den Bereich des Subjektiven, wodurch die Phänomene zu bloßen Mitteln werden, um eigenleibliche Zustände hervorzurufen. Unter diesem Blickwinkel ist es dann auch rätselhaft, warum bestimmte Wahrnehmungsobjekte, die eigentlich ganz und gar neutral gegeben sind, solche Gefühle des Angenehmen oder Unangenehmen auslösen können. Eine solche Auffassung wird allerdings, wie sich zeigen lässt, den jeweiligen Phänomenen ganz und gar nicht gerecht. Die pathische Wahrnehmung ist zunächst unre­ flektiert und objektbezogen – und daher sind das Angenehme und das Unangenehme Qualitäten des Wahrgenommenen. Und folglich kommt es darauf an, den Sinn der pathischen Wahrnehmung auf der präreflexiven Ebene aufzuklären. Das bedeutet, dass wir die Inhalte des Lebens genießen, bevor derjenige, um dessen Überleben es hier gehen könnte, überhaupt selbst schon erfahren ist. Hierauf hat auch schon der französische Phänomenologe Emmanuel Levinas aufmerksam gemacht: »Wir atmen, um zu atmen, essen und trinken, um zu essen und zu trinken, behausen uns, um uns zu behausen, studieren, um unsere Neugier zu befriedigen, gehen spazieren, um spazieren zu gehen. Das alles ist

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nicht, um zu leben. Das alles ist Leben.«25 Ist es aber zulässig, hier von Unmittelbarkeit zu sprechen? Unterliegt man damit nicht einem naiven Realismus und dem dazugehörigen Mythos des Gegebe­ nen?26 Angesichts dieses Einwands ist es erforderlich, den phänome­ nalen Sachverhalt noch einmal genauer zu fassen. Genau genommen ist diese »Unmittelbarkeit« natürlich durch die bereits erwähnte Ver­ letzlichkeit und Bedürftigkeit unseres Leibes vermittelt. Aber das ändert nichts daran, dass jede Wahrnehmung sich primär auf die Dinge hin orientiert, bevor sie sich reflexiv auf sich selbst richtet. Wenn also von der Unmittelbarkeit der präreflexiven Wahrnehmung berechtigterweise die Rede ist, so ist damit gemeint, dass die Objektorientierung einer jeden reflexiven Subjektorientierung vor­ ausgeht. Natürlich wäre das Objekt nicht schmerzhaft, wenn ich nicht schmerzempfindlich wäre, trotzdem sind in einem phänomenalen Sinne angenehme und unangenehme Qualitäten unmittelbar, weil sie auch erscheinen, ohne dass explizit auch jene leiblichen Bedürfnisse zum Thema meines Bewusstseins werden müssen. Die präreflexive pathische Wahrnehmung richtet sich auf das Angenehme oder Unan­ genehme des Objekts selbst als einen Zweck – das Objekt ist lecker oder ekelhaft – und nicht auf die leiblichen Bedürfnisse, die es befrie­ digt oder gefährdet: Genau deswegen erscheint das präreflexiv wahr­ genommene Objekt »zunächst« eben als ein Zweck und keineswegs als ein Mittel zur Befriedigung meiner leiblichen Bedürfnisse. In der reflexiven pathischen Wahrnehmung taucht aber schließlich mein Leib selbst als ein Phänomen auf, und zwar ist er mir als mein Leib gegeben, insofern er die Einwirkungen eines Wahrgenommenen erleidet. Gerade durch solche wahrgenommenen Widerfahrnisse, die nicht aus der Leibsphäre selbst, sondern aus der Welt kommen, stellt sich heraus, dass auch der Leib ein Teil der Welt ist und nicht ohne den Körper gedacht werden kann. Daher muss auch schon der Leib mehr als nur das Korrelat des Spürens sein: Indem ich erlebe, dass ein 25 Emmanuel Levinas: Vom Sein zum Seienden, übers. v. Anna Maria Krewani/Wolf­ gang Nikolaus Krewani, Freiburg/München 1997, S. 52. Siehe hierzu auch Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übers. v. Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/München 1993, S. 190: »Die Biologie lehrt die Verlän­ gerung der Nahrung bis hin zur Existenz – das Bedürfnis ist naiv.« 26 Seit der wegweisenden Kritik, die Wilfried Sellars am Empirismus geübt hat, ver­ steht man unter dem Mythos des Gegebenen jede philosophische Position, die eine sozusagen »rohe«, d.h. prä-konstitutive oder auch prä-interpretative Schicht der Wahrnehmung voraussetzt (vgl. Wilfried Sellars: Der Empirismus und die Philosophie des Geistes, übers. v. Thomas Blume, Paderborn 2002).

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wahrgenommenes Objekt nicht nur körperliche Veränderungen – z.B. Risse in der Haut –, sondern auch leibliche Veränderungen – nämlich Schmerzen – hervorruft, ist mir mein Leib zugleich als Teil der Welt gegeben. Wäre nur mein Körper den Auswirkungen der realen Welt ausgesetzt, dann könnten zwar meine Beine brechen, aber dies wäre ohne jegliche Auswirkung auf die reflexiv pathischen Wahrnehmun­ gen, in denen mein Leib gegeben ist. Mein Körper wäre in diesem Fall ein reines Erkenntnisobjekt, und mein Leib verbliebe wie bei Henry und Schmitz in der reinen Immanenz. Wenn jedoch die Einwirkungen des Wahrgenommenen dazu führen, dass nicht nur mein Körper Schäden, sondern auch mein Leib Schmerzen aufweist, dann muss ebenfalls der Leib der Welt und dem Kausalverkehr der weltlichen Dinge unterworfen sein. Das lässt sich sehr gut an einer konkreten Phänomenbeschrei­ bung veranschaulichen. Mein Körper ist mir als Leib gegeben, weil der Stein, der auf das körperliche Ding »Hand« fällt, Schmerzen her­ vorruft. Wenn der Körper leiden kann, dann muss er leiblich sein. Gleichzeitig ist mir aber auch mein Leib als Körper gegeben, weil der Schmerz von realen Ereignissen in der Welt, also z.B. von einem anderen Körper wie dem Stein, verursacht wird. Wäre mein Körper nicht leiblich, dann würde es nicht wehtun, wenn ein anderer Körper auf ihn fällt. Wäre aber umgekehrt der Leib nicht körperlich, dann könnte gar kein anderer Körper auf ihn fallen. Mein Leib ist also Kör­ per, weil ich mit einer Nadel hineinstechen kann; und der Körper ist Leib, weil dieses Hineinstechen weh tut. Wenn die Welt auf mich ein­ wirkt, dann wird erstens deutlich, dass mein Körper ein Ding ist, auf das andere Dinge einwirken. Und zweitens zeigt sich, dass diese Ein­ wirkungen nicht nur körperliche, sondern auch leibliche Veränderun­ gen hervorrufen, insofern sie angenehm oder unangenehm sind. In diesen Beispielen erweist sich das Verhältnis zwischen Leib und Körper nicht als eine Kluft wie bei Schmitz, sondern vielmehr als eine unauflösliche Verschränkung, in der eins unentwegt ins andere hineinspielt. Der Leib, insofern ihm etwas widerfährt, realisiert eine andere Dimension des Leib-Welt-Verhältnisses als der Leib, insofern er Dinge erkennt oder mit ihnen praktisch umgeht. Er ist weder nur das Medium der sinnlichen Welterfahrung noch nur das Werkzeug praktischer Interventionen, sondern immer auch als ein Medium des Weltausgesetztseins ein Objekt, dem weltliche Einwirkungen zusto­ ßen, die es als angenehm oder unangenehm erlebt.

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Der Leib ist hier einerseits passiv, andererseits erlebt er diese Passivität auf eine unhintergehbar wertbezogene Weise, insofern diese Einwirkungen als explizite Erlebnisgehalte eben angenehm oder unangenehm sind. Sicher vollzieht sich hier etwas, das man mit Böhme als ein leibliches Sich-Spüren bezeichnen könnte – aber dieses leibliche Sich-Spüren macht nicht einfach beim eigenen Leib halt: Es lässt sich vielmehr ganz im Gegenteil von einer Dimension der Wahr­ nehmungswelt sprechen, die es nur gibt, weil ich leiblich spüre. Und was ich hier spüre, ist darum nicht nur mein widerfahrender Leib, sondern auch die Dinge, so wie sie diesem Leib widerfahren. Um auch terminologisch deutlich zu machen, welches leibliche Weltverhältnis hier gesucht ist, erweist sich die Begrifflichkeit in Hel­ muth Plessners Leibphilosophie als hilfreicher Ausgangspunkt: Wäh­ rend das »Körper-sein« oder »Leib-sein« den Körper bezeichnet, inso­ fern er das Medium der Welterfahrung ist, charakterisiert das »Körper-haben« den Körper, insofern er Werkzeug des Handelns oder selbst Objekt des Erkennens ist. Er ist nicht nur etwas, das mir den Umgang mit den Dingen ermöglicht, sondern selbst auch etwas, mit dem ich umgehen bzw. dessen Gebrauch ich lernen muss (Laufen ler­ nen usw.). Mit dem »Vom-Körper-Gehabtwerden« oder genauer: dem »AlsKörper-von-der-Welt-Gehabtwerden« soll nun in Abgrenzung vom Leib-sein und Körper-haben jene grundlegende Struktur des LeibWelt-Verhältnisses hervorgehoben werden, in der der Leib ange­ nehme oder unangenehme Einwirkungen von der Welt erleidet. Hier fällt das Erscheinen der Dinge mit einer Einwirkung auf mich zusam­ men, d.h. ihre Qualitäten werden nach Böhme als Ekstasen erlebt, insofern sie auf mich übergreifen. Der Begriff des Gehabtwerdens, der eine wesentliche Hauptform des Leib-Welt-Verhältnisses charakteri­ siert, soll dem Umstand Rechnung tragen, dass die Wahrnehmungs­ objekte dem wahrnehmenden Subjekt nicht nur als Gegenständlich­ keiten erscheinen, sondern sich gleichermaßen auch auf seine Zuständlichkeit auswirken – und gerade hierdurch wiederum eine bestimmte Dimension der Gegenständlichkeit erst erschließen. Vor allem wird schließlich deutlich: Nicht nur mein Leib, sondern auch mein Körper ist als ein Phänomen gegeben. Die Einsicht, dass ich ein Teil der Welt bin, ist nicht die Grenze des Erlebens, sondern selbst in phänomenalen Gegebenheiten verwurzelt. Vermittels des leiblichen Widerfahrnisses der Wahrnehmung erfahre ich die Ver­ schränkung von Leiblichkeit und Körperlichkeit, d.h. es ist mir phä­

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nomenal gegeben, dass mein Leib nicht nur eine Sphäre des eigen­ leiblichen Spürens oder der Selbstaffektion, sondern vielmehr ein Teil der Welt ist, der ihrem Kausalverkehr ausgesetzt ist. Für jene banale Erfahrung, dass mein Leib weltlich ist, weil es weh tut, wenn mich ein Ding stößt, ist jedoch schlichtweg kein Platz in den Leibkonzeptionen von Henry und Schmitz, weil beide Philosophen den Leib strikt von jeglicher Weltlichkeit und Körperlichkeit abschirmen. Am Ende der hier vorgelegten Phänomenologie der pathischen Wahrnehmung sollen nun noch einmal, um Missverständnisse zu vermeiden, eigenleibliches Spüren, präreflexive pathische und reflexive pathische Wahrnehmung in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt werden. In der präreflexiven pathischen Wahrnehmung sind ange­ nehme oder unangenehme Dinge gegeben, während das eigenleibliche Spüren ein reiner Selbstbezug ist, in dem ich lediglich angenehme oder unangenehme Zustände meines Leibes erfahre. Im Unterschied dazu taucht in der reflexiven pathischen Wahrnehmung nicht nur ein Ding auf, das mir auf angenehme oder unangenehme Weise widerfährt, sondern zugleich auch mein Leib, dem dieses Ding widerfährt. Anders als bei der präreflexiven pathischen Wahrnehmung ist mir nun expli­ zit auch mein Leib und im Unterschied zum eigenleiblichen Spüren aber auch nicht nur mein Leib gegeben, insofern der Weltbezug kei­ neswegs aufgekündigt ist, d.h. auch die reflexive pathische Wahrneh­ mung nimmt immer noch widerfahrende Dinge wahr. Also steht die reflexive pathische Wahrnehmung genau zwischen der präreflexiven pathischen Wahrnehmung, die zwar leiblich inten­ diert, aber nicht den Leib intendiert, und dem eigenleiblichen Spüren, dem überhaupt kein außerleibliches Objekt gegeben ist. Sicher hat die Akzentuierung des eigenleiblichen Spürens bei introspektiven Wahr­ nehmungen – Bauchschmerzen, Hungergefühl, Kribbeln im Fuß usw. – ihre Berechtigung. Wenn eine jede leibliche Zuständlichkeit jedoch auf diese Weise verstanden wird, dann führt ein solcher Ansatz zu phänomenaler Blindheit, weil damit vorab all jene Widerfahrnisse ausgeklammert oder zumindest nur verkürzt berücksichtigt werden, die von der Welt her auf das Subjekt hereinbrechen. Während im eigenleiblichen Spüren keine Welt und im präreflexiven pathischen Wahrnehmen kein Leib gegeben ist, sind von einer Phänomenologie der reflexiven pathischen Wahrnehmung, in der der Leib in der Kon­ frontation mit einem Wahrnehmungsobjekt zur Erscheinung kommt,

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Die Weltlichkeit leiblicher Widerfahrnisse

entscheidende Auskünfte über das fundamentale Leib-Welt-Verhält­ nis zu erwarten.

Literaturverzeichnis Beckermann, Ansgar: Das Leib-Seele-Problem. Eine Einführung in die Philosophie des Geistes, München 2008. Böhme, Gernot: »Das Ding und seine Ekstasen. Ontologie und Ästhetik der Dinghaftigkeit«, in: ders.: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt 1995, S. 155–176. Böhme, Gernot: Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Kusterdingen 2003. Bonnemann, Jens: Das leibliche Widerfahrnis der Wahrnehmung. Eine Phäno­ menologie des Leib-Welt-Verhältnisses, Münster 2016. Henry, Michel: Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, übers. v. Rolf Kühn/Isabelle Thireau, Freiburg/München 1994. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitu­ tion, Den Haag 1952. Jonas, Hans: »Der Adel des Sehens. Eine Untersuchung zur Phänomenologie der Sinne«, in: ders.: Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biolo­ gie, Frankfurt 1997, S. 233–264. Levinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übers. v. Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/München 1993. Levinas, Emmanuel: Vom Sein zum Seienden, übers v. Anna Maria Krewani/ Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/München 1997. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. v. Rudolf Boehm, Berlin 1966. Scheler, Max, Der Formalismus in der Ethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, Bern/München 1980. Schmitz, Hermann: »Situationen und Atmosphären. Zur Ästhetik und Ontolo­ gie bei Gernot Böhme«, in: Michael Hauskeller (Hrsg.): Naturerkenntnis und Natursein. Für Gernot Böhme, Frankfurt 1998, S. 176–190. Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 2007. Schmitz, Hermann: Der Leib, Berlin/Boston 2011. Sellars, Wilfried: Der Empirismus und die Philosophie des Geistes, übers. v. Thomas Blume, Paderborn 2002. Thomas, Philipp: Selbst-Natur-sein. Leibphänomenologie als Naturphilosophie, Berlin 1996. Waldenfels, Bernhard: »Eigenleib und Fremdkörper«, in: ders., Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt 1999, S. 33–52.

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Braucht der Leib einen Körper? Zur Ontologie der Verkörperung

1. Einleitung Mit den Arbeiten von Hermann Schmitz liegt die bislang wohl umfas­ sendste phänomenologische Analyse der Leiblichkeit vor. Kein ande­ res Werk der Phänomenologie weist eine vergleichbare Differenziert­ heit der Beschreibung der interozeptiven, aber auch der sinnlichmotorischen Leiblichkeit auf, ebenso wie der leiblichen Kommunikation mit dem Umraum. Durch sein originelles, an der gespürten Dynamik leiblicher Regungen gewonnenes Vokabular hat Schmitz dem leiblichen Erleben, das bis dahin weitgehend im diffusen Hintergrund des Bewusstseins verborgen blieb, zu einem in der Phä­ nomenologie bisher nicht gekannten Ausdruck verholfen. Diese uneingeschränkte Anerkennung sei vorausgeschickt, wenn es im Folgenden um die kritische Untersuchung einer Problematik des Schmitz’schen Werkes geht, nämlich des letztlich ungeklärten Ver­ hältnisses des gespürten Leibes zum Körper – also dem physischlebendigen Körper, der auch Gegenstand medizinischer oder allge­ mein naturwissenschaftlicher Erforschung ist. Es ist Schmitz zuzugestehen, dass er selbst keinen Versuch macht, diese Problematik zu verbergen, und wiederholt einräumt, dass ihm »das Zusammen­ gehören des spürbaren Leibes mit dem sicht- und tastbaren Körper in gewisser Weise problematisch« bleibe.1 Auch in seiner letzten größe­ ren Monographie zum Leib von 2011 behandelt er das Verhältnis von Hermann Schmitz: »Der vergessene Leib. Phänomenologische Bemerkungen zu Leib, Seele und Krankheit«, in: Zeitschrift für klinische Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie 35, 1987, S. 270–278, hier 272. Vgl. auch ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1995, S. 116: »[…] ein Stein des Ansto­ ßes […] ist der sicht- und tastbare Körper, sofern er dem spürbaren Leib in vielen (wenngleich nicht allen) Hinsichten dem Lokal und der Funktion nach sehr genau 1

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Leib und Körper nur auf zwei Seiten mit dem Eingeständnis, dass er nicht wisse, wie ein kausaler Zusammenhang von Leib und Körper vorzustellen sei, obgleich ein solcher bereits in jeder Bewegung erfolge, nämlich als Überspingen des gespürten Bewegungsimpulses auf die entsprechenden Teile des Körpers. »Wie so etwas geschehen kann, weiß ich nicht; bis auf weiteres vermute ich an dieser Stelle einen kausalen Einfluss des Leibes auf den Körper.«2 Ich werde im Folgenden zunächst diese Aporie des Leib-KörperVerhältnisses näher zu fassen versuchen, und zwar zum einen anhand der Frage, ob der Leib bei Schmitz überhaupt einen Körper benötigt oder hier eine Art Leibidealismus zu konstatieren ist; zum anderen anhand des psychophysischen Problems und einer Kritik des von Schmitz entwickelten Lösungsversuchs. Dann untersuche ich das Ver­ hältnis von Leib und Körper unter dem Aspekt ihrer Verschränkung, die besonders anhand der Doppelempfindung in der Selbstberührung deutlich wird. Damit tritt an die Stelle der letztlich dualistischen Tren­ nung von Leib und Körper bei Schmitz ein dialektisch ineinander­ greifendes Verhältnis. In einem eigenen Lösungsvorschlag fasse ich schließlich Leib und Körper als zwei komplementäre Aspekte der organismischen Einheit des Lebewesens auf. Dies erlaubt auch die Konzeption einer spezifischen Kausalität des Lebendigen, die die dua­ listische Aporie des psychophysischen Problems zu überwinden ver­ mag.

2. Leib und Körper bei Schmitz Das nun schon angedeutete Problem des Leib-Körper-Verhältnisses ist im Werk von Schmitz nicht nur eine aus Zeit- oder Interessens­ gründen ungelöste Frage geblieben. Es ergibt sich, wie ich meine, als Konsequenz aus seinem Grundansatz beim subjektiven leiblichen Spüren. Im Bemühen, diesem Phänomenbereich nicht nur Raum und Aufmerksamkeit, sondern auch Eigenständigkeit und autonome Wirkmächtigkeit zu verschaffen, koppelt Schmitz den subjektiven Leib weitgehend vom sicht- und tastbaren Körper ab. Immer wieder betont er, dass die leiblichen Regungen keineswegs Prozessen oder entspricht, obwohl dafür keine einsichtige Notwendigkeit zu entdecken ist. Man muß sich wohl damit begnügen, das Faktum der Entsprechung zu konstatieren.« 2 Hermann Schmitz: Der Leib, Berlin/Boston 2011, S. 144.

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Braucht der Leib einen Körper?

Strukturen in körperlichen Organen entsprechen müssen, ja nicht einmal an sie gebunden seien.3 Insbesondere opponiert er – in dieser Hinsicht zweifellos zu Recht – gegen einen naturwissenschaftlichen Reduktionismus, der die physiologischen Körperprozesse als die eigentliche Grundlage eines nur epiphänomal verstandenen Leiber­ lebens betrachtet.4 Hinzu kommt, dass der primäre Ansatz beim subjektiven leibli­ chen Spüren die Intersubjektivität und damit den von anderen wahr­ genommenen Körper erst sekundär ins Spiel bringt. Das Bewusstsein, als leibliches Wesen notwendig auch für andere sichtbar und damit ein Körper zu sein, der einer gemeinsamen Welt von intersubjektiv konstituierten Gegenständen angehört – dieses von Helmuth Pless­ ner5 als »exzentrisch« bezeichnete Selbstverhältnis, das die Dialektik von Leib-Sein und Körper-Haben impliziert, taucht so bei Schmitz nicht auf. Auch die von ihm eingehend analysierte leibliche Kommu­ nikation beginnt primär beim Subjekt und dessen eigenem Leib.6 Das Schmitz’sche Leibsubjekt verbleibt trotz aller Erfahrung des sicht- und tastbaren Körpers ebenso wie der leiblichen Kommunikation letztlich in einem Binnenverhältnis; es wird sich selbst nicht äußerlich. Unter diesen Voraussetzungen muss das Leib-Körper-Problem, so meine These, bei Schmitz aporetisch bleiben, da der Ausgangs­ punkt bei der leiblichen Subjektivität nicht dialektisch aufgehoben wird, sondern letztlich in einem Erscheinungsmonismus oder einem subjektiven Leibidealismus verbleibt. Darin tritt der Körper nur als ein sekundäres, letztlich rätselhaftes Dingphänomen in Erscheinung, das auf unerklärliche Weise denselben Ort besetzt wie der Leib und nach dessen zugrundeliegender Einheit mit dem Leib nicht gefragt werden kann. Denn das würde einen Plessnerschen Blick auf das Lebewesen erfordern, welches allein in der Lage ist, diese Einheit von Leib und Körper buchstäblich zu »verkörpern«, nämlich das Lebewe­ 3 Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. II/1: Der Leib, Bonn 1965, S. 54f., 116 und ders.: Der Leib, S. 143. 4 Vgl. Hermann Schmitz: Bewusstsein, Freiburg/München 2010, S. 77ff. 5 Vgl. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/New York 1975. 6 Unter dem bezeichnenden Titel »Die Partnerfindung« fragt Schmitz in Der Uner­ schöpflichen Gegenstand: »Wie kommen wir an andere Bewussthaber heran? Woraus entspringt die Du-Evidenz, in anderen Menschen und in Tieren Partner zu haben […]?« (Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 147) Die Antwort sieht er in der »Möglichkeit, den Anderen am eigenen Leibe zu spüren.« (ebd., S. 149)

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sen Mensch. Bei Schmitz jedoch gibt es keine intelligible Brücke zwi­ schen Leib und Körper, wir treffen nur auf das »Faktum der Entspre­ chung«, für das »keine einsichtige Notwendigkeit zu entdecken ist.«7 Die ontologische Entkoppelung der Leiblichkeit vom Körper, insbesondere vom biologischen Körper mit seinen Prozessen und Funktionen, hat zur Folge, dass Schmitz’ Leibphänomenologie mit­ unter eigentümlich esoterisch anmutet.8 Sie folgt streng der Eigen­ dynamik der »leiblichen Ökonomie«, also von Engung, Weitung, Spannung oder Schwellung, und gelangt dabei zu faszinierenden Beschreibungen, jedoch unter konsequenter Ausblendung der kör­ perlichen Grundlagen ebenso wie Funktionen leiblicher Prozesse. Dies nimmt manchmal kuriose Züge an, etwa wenn Schmitz die Redeweise kritisiert, Hunger sei das Bedürfnis nach Essen oder Durst das Bedürfnis nach Trinken.9 Solcher Funktionalität der Triebe ent­ zieht Schmitz den Boden und sieht in ihr nur eine nachträgliche Asso­ ziation.10 Hunger beschreibt Schmitz stattdessen als »Zwiespalt zwi­ schen Spannung und protopathischer Tendenz«,11 und das Packen, Zerbeißen und Verschlingen fester Nahrung wirke diesem Zwiespalt entgegen.12 Doch Hunger wird ja nicht nur durch das Kauen und Schlucken fester Brocken gestillt, die der leiblichen Engung durch Schwellung entgegenwirken – dann könnte man auch Wellpappe oder Styropor essen, wie Jens Soentgen13 ironisch bemerkt –, sondern in erster Linie durch physiologische Prozesse, die durch die spezifische Zusammensetzung der Nahrung ermöglicht werden. Auch das euphorische oder »High«-Gefühl, das bei andauern­ dem Hungern oder Fasten entstehen kann, führt Schmitz als »Hun­ gerschweben« auf eine »privative Weitung« in Reaktion auf die Engung des Hungers zurück,14 also auf eine rein leibliche Dynamik statt auf den medizinisch gut erklärbaren Effekt der Unterzuckerung auf den Organismus einschließlich des Gehirns. Das wäre dem Ver­ such vergleichbar, die bei Sektgenuss entstehende Beschwingtheit Vgl. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 116. Vgl. zur Kritik an dieser Entkoppelung auch Jens Soentgen: Die verdeckte Wirklich­ keit. Einführung in die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz, Bonn 1998, S. 58ff. 9 Vgl. Schmitz: System II/1, S. 230, 236. 10 Vgl. Schmitz: System II/1, S. 234. 11 Schmitz: System II/1, S. 233. 12 Vgl. Schmitz: System II/1, S. 235. 13 Vgl. Soentgen: Die verdeckte Wirklichkeit, S. 59. 14 Schmitz: System II/1, S. 131f., 231. 7

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Braucht der Leib einen Körper?

nicht mit der physiologischen Wirkung des Alkohols zu erklären, sondern mit der epikritisch anregenden Wirkung der perlenden Flüs­ sigkeit im Mundraum – auch wenn es diese zweifellos gibt. Es ist freilich nicht möglich, die Wirkung von Alkohol, Koffein oder Hypo­ glykämie auf die Stimmung phänomenologisch auszuweisen – hier liegen intrinsische Grenzen des Ansatzes –, doch es mutet absonder­ lich an, solche alltäglichen konditionalen Zusammenhänge durch eine rein leibimmanente Dynamik ersetzen zu wollen. In seiner späteren Leib-Monographie von 2011 unterscheidet Schmitz nun deutlicher zwei Formen des Körpers: ●



den sinnfälligen, also sicht- und tastbaren Körper, der mit dem Leib das Lokal, also den relativen Raum teile, der an der Einlei­ bung teilnehmen könne und mit Halbdingen wie Blick, Stimme, Gang ausgestattet sei;15 den Körper im Sinn der Naturwissenschaft, eine Sammlung von Daten, die »durch Messungen in der Nähe des sinnfälligen Kör­ pers«16 auf der reduktionistischen Abstraktionsbasis der Physik erhoben und zu Theorien verarbeitet würden, die sich dann bei Prognosen und z.B. medizinischen Interventionen bewähren.

Der Körper im ersten und der Körper im zweiten Sinn seien jedoch, so führt Schmitz an anderer Stelle aus, durch eine radikale, »dualisti­ sche Kluft« voneinander getrennt, die auch nicht »aus irgend einer Differenzierung herzuleiten sei«.17 Nun besteht beispielsweise zwischen der gespürten Atmung und den Vorgängen des Sauerstoffaustauschs in den Lungenbläschen sicher ein kategorialer Unterschied. Doch erklärt Schmitz damit den organischen, medizinisch und physiologisch erforschbaren Körper zu einem rein naturwissenschaftlichen Konstrukt. Das erscheint proble­ matisch, denn schon vor der Entstehung der neuzeitlichen Naturwis­ senschaften haben Menschen die Vorgänge im Inneren des Körpers anatomisch und medizinisch erforscht. Und gibt es nicht einen Zusammenhang zwischen dem in der Angst als leibliche Regung gespürten Herzklopfen, dem dabei sicht- und tastbaren Pochen auf der Brust und der Tätigkeit des Herzmuskels, der über eine bloße »Ent­ sprechung« hinausgeht? Schmitz trennt zwei Erscheinungsformen 15 16 17

Vgl. Schmitz: Der Leib, S. 143. Schmitz: Der Leib, S. 143. Hermann Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 410, 412.

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des Körpers, deren Zusammenhang zu offensichtlich ist, als dass man sie nicht in eine einheitliche Konzeption des lebendigen Organismus integrieren müsste. Doch Schmitz geht noch weiter und hält auch den Zusammen­ hang zwischen dem gespürten Leib und dem alltäglich erfahrbaren Körper nicht für notwendig. »Die Annahme einer Identität des Leibes mit dem sinnfälligen Körper ist nicht haltbar. […] Ihr auch nur räum­ licher Zusammenhang ist ohne einsichtige Notwendigkeit.«18 Schmitz verweist auf das Phänomen des Blicks, der spürbar den Kör­ per verlasse, ebenso wie auf die Phantomglieder, um dafür zu argu­ mentieren, dass auch der ganze Leib im Prinzip aus dem Körper aus­ treten könne.19 Dies sei etwa bei außerkörperlichen Erfahrungen, Nahtodeserlebnissen, Heautoskopien oder Seelenreisen der Fall. Ja schon der der Zusammenhang zwischen dem leiblichen Blick und den körperlichen Augen sei kein notwendiger20 – was nahezu grotesk anmutet. Wir sehen, dass der Leib bei Schmitz eine autonome, aus sich selbst heraus hinreichend beschreibbare und erklärbare Dynamik auf­ weist. Damit aber wird er zu einem von der Biologie ebenso wie von der ökologischen Umwelt isolierten, ja letztlich esoterischen Phäno­ menbereich. Auch wenn Schmitz’ Werk durchaus fruchtbare Rezep­ tionen in der Psychosomatik oder in der Gestalttherapie erfahren hat – soweit sich diese Disziplinen dem subjektiven Erleben zuwenden –, letztlich verschließt sich sein Werk physiologischen, neurowissen­ schaftlichen oder medizinischen Forschungsansätzen und lässt keine integrierende naturphilosophische Konzeption des Lebendigen zu.

3. Das psychophysische Problem Dies sei noch an einer weiteren Aporie verdeutlicht, die sich aus Schmitz’ Versuch zu einer Lösung des psychophysischen Problems ergibt,21 nämlich der Frage, wie es zu einer vom leiblichen Subjekt veranlassten Bewegung des Körpers kommen kann. Aufgrund der Überlagerung von Leib- und Körperraum am gleichen Ort, so 18 19 20 21

Schmitz: Der Leib, S. 143. Vgl. Schmitz: Der Leib, S. 143. Vgl. Schmitz: Was ist?, S. 411. Vgl. Schmitz: System II/1, S. 66f.

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Schmitz, sei es auch »plausibel, daß das Geschehen an einem Ort alles, was sich dort befindet, in Mitleidenschaft zieht«. Das Problem würde sich also dadurch auflösen, »daß der Wille zum Zweck der Eigenbewegung gar nicht unmittelbar in das anatomisch-physiologische Geschehen einzugreifen braucht, sondern nur in das Gefüge und Geschehen im körperlichen Leib; von dort überträgt sich der vom Willen gesandte Impuls wegen der ange­ zeigten Übereinstimmung des relativen Ortes auf den reinen Kör­ per.«22

Damit freilich kehrt der cartesianische Interaktionismus von Seele und Körper im Gewand der Interaktion von Leib und Körper wieder. Während bei René Descartes die Seele aber auf die Epiphyse wirkte, müsste der Leib, da Schmitz den physiologischen Weg über das Gehirn nicht gehen will, als eine Art Feld wirken, das den physi­ schen Körper in seinen Bahnen lenkt. Diese These kann allerdings aus mehreren Gründen nicht überzeugen. Zunächst ist schon im eigenen Handlungserleben in den meisten Fällen gar keine auf den Leib gerichtete Willensintention gegeben, sondern eine Intention eben auf die Handlung: Um zu trinken, richte ich mich auf das Glas vor mir, nicht aber auf die Hand, die es ergreifen soll. Noch fragwürdiger erscheint aber der angenommene »Übergang von den Leibesinseln zu den Körperteilen«.23 Denn hier wendet Schmitz die Überlagerung leiblicher und körperlicher Räumlichkeit in ein kausales Prinzip um, was jedoch phänomenologisch nicht mehr gedeckt ist. Gerade weil er sich unermüdlich gegen den Begriff der Organempfindungen ausspricht, der eine falsche Beziehung zwischen gespürtem Leib und reinem Körper herstelle, nimmt es umso mehr wunder, daß nun umgekehrt der Bewegungsimpuls in einer Leibinsel sich unmittelbar auf das ihr entsprechende Körperorgan auswirken soll. Es wäre zudem auch nicht erfindlich, welche Rolle dem motori­ schen Nervensystem noch zukäme, wenn die Übereinstimmung von Leib und Körper im relativen Ort für die Übertragung des gespürten Bewegungsimpulses genügen soll. Es liegt nicht in meiner Absicht, die räumliche Überlagerung von Körper und Leib zu einer Projektion oder Illusion zu erklären –

22 23

Schmitz: System II/1, S. 67. Schmitz: System II/1, S. 67.

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sie ist zweifellos unabweisbare Erfahrung.24 Zum Verständnis des psychophysischen Problems trägt sie aber nur bei, wenn der Leib und der Organismus als Ganzheiten aufgefaßt werden, deren Beziehung zueinander weiter zu klären ist. Es zeigt sich dann nämlich, daß auch dem Organismus eine unteilbare Ausdehnung zukommt, die Schmitz nicht erkennt, da er den Körper ganz cartesianisch nur als Konglome­ rat von Teilen auffaßt (»Körperlich ist, was teilbar […] ausgedehnt und örtlich ist.«25). Doch als lebendiges Funktionsganzes ist der Körper eben nicht teilbar. Was bei Schmitz ebenso wie bei Descartes fehlt, ist das Konzept einer Einheit des Lebendigen, das Leib und Körper als zwei unterschiedliche, aber doch homologe Aspekte eines integralen Geschehens zu fassen erlaubt. Auf die notwendige Einbettung des Leibes in eine holistische Theorie des Organismus werde ich noch zurückkommen.

4. Braucht der Leib einen Körper? 4.1 Die physische Basis der leiblichen Ökonomie Im Folgenden gehe ich noch einmal von Schmitz zentraler Konzeption der »leiblichen Ökonomie« aus, um zu zeigen, dass sie ohne einen Körper nicht denkbar ist. Ich nehme eine beliebige Schilderung aus der neueren Leib-Monographie: »Ein Übergewicht der Weitung über die Engung ist für spürbare Wallungen charakteristisch, mit den Mus­ tern Wollust und Zorn; dann schwillt ein weitender Antrieb mächtig gegen spannende Engung an […].«26 Doch was heißt es nun eigent­ lich, dass ein »Antrieb gegen eine Engung anschwillt«? Der leibliche Antrieb ist ja selbst wieder nur ein Gebilde aus Engung und Weitung, das Schmitz auch als »leibliche Ökonomie« bezeichnet. Von einer körperlichen oder biologischen Basis des Antriebs will Schmitz nichts wissen. Seine Begriffe beruhen auf der Vorstellung, es könnte eine gleichsam unstoffliche, immaterielle Enge, Weite oder Spannung geben, als reine Dynamik, die sich ohne ein Substrat vollziehen kann. Vgl. zu dieser »Koextensivität« von gespürtem Leib und organischem Körper Thomas Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, Stuttgart 2021, S. 33ff. 25 Schmitz: System II/1, S. 52. 26 Schmitz: Der Leib, S. 3. 24

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Doch was heißt »Spannung«? Woher gewinnen wir die Anschauung für diesen Begriff? Zunächst einmal von elastischen Dingen wie etwa einem Gummi, einem Ballon oder einer Bogensaite. Spannung spüren wir z.B. am elastischen Widerstand eines Bogens, den wir zu spannen versuchen. Freilich, diese am Bogen gespürte Spannung nehmen wir nur wahr, weil ihr eine leibliche Spannung entspricht, nämlich in der Lei­ binsel im Arm, die bei der Kraftentfaltung anschwillt und dabei eine der Schwellung zunehmend widerstreitende Spannung erzeugt. Doch Schmitz’ Beschreibung leiht sich ihre Anschaulichkeit vom Schwellen des (Bizeps-)Muskels, der sich dabei anspannt, und zwar zugleich sichtbar, tastbar und propriozeptiv spürbar. Der Begriff der Spannung ist also nicht denkbar ohne ein elastisches Material wie den Bogen, der seiner Verformung zunehmenden Widerstand entgegensetzt und in seine Ausgangslage zurückstrebt, wobei wir dieses »Streben« wie­ derum primär anhand unserer eigenen leiblich-muskulären Strebe­ tendenzen erfahren – auch der Muskel strebt ja zurück zur Ruhe­ lage. Spannung ist also primär Muskelspannung und damit nicht nur leiblich, sondern auch körperlich. Nun könnte man mit Schmitz einwenden, dass wir ja nur die Leibinsel des Oberarms spüren und der Bizeps eine anatomische Struktur mit Fasern, Blutgefäßen und Nerven darstellt, die wir als solche gar nicht wahrnehmen können. Schmitz spricht daher auch auf recht künstliche Weise von Spannung und Schwellung »in den Mus­ kelgebieten«, wenn es um die gespürte Muskelanstrengung geht, denn Organempfindungen von Muskeln gebe es nicht.27 Doch sollte die spürbare Schwellung der Leibinsel nicht in einer notwendigen Beziehung zur sicht- und tastbaren Schwellung des Muskels stehen, nämlich in dem Sinn, dass sie eben diese physische Verformung spü­ ren lässt? Und wenn wir beim Einatmen die Schwellung der Leibinsel der Brust bemerken, sollte dies nicht das Einziehen der Luft voraus­ setzen, die sich dabei in den Lungen ausbreitet? Das erscheint kaum plausibel. Es handelt sich hier offensichtlich nicht nur um einen not­ wendigen Parallelismus, gewissermaßen um eine prästabilierte Har­ monie von Leib und Körper. Vielmehr ist das, was wir beim Spannen des Bogens im Arm spüren, nicht nur eine Leibinsel, sondern zugleich das Körperorgan, also der sich anspannende Muskel des Oberarms 27

Vgl. Schmitz: System II/1, S. 116.

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selbst. Und wenn wir einatmen, ist die dabei anschwellende Leibinsel nichts anderes als der sich hebende und ausdehnende Brustkorb. Nun könnte man weiter argumentieren, es sei doch ein rein leib­ liches, also sich nur leiblich spürendes Wesen zumindest vorstellbar, das von keinem Körper weiß, das niemals eine flächige Widerstands­ erfahrung gemacht hat und nur im Gewoge leiblicher Regungen, in den Engungen und Weitungen seines leiblichen Daseins dahinlebt. Und so argumentiert Schmitz ja auch, wenn er den Körper als nicht notwendigen Begleiter des spürbaren Leibes ansieht, der vom Leib auch verlassen werden könnte – womit wir letztlich in eine Art Lei­ bidealismus geraten. Was der Möglichkeit eines solchen reinen Leibwesens jedoch widerspricht, ist der Tastsinn, denn dieser lässt sich nicht alleine dem Körper zuteilen, wie Schmitz meint. Im Tastsinn treffen leibliches Spüren und körperliches Berühren zusammen, und zwar in dem, was bereits Edmund Husserl28 als Doppelempfindung hervorgehoben hat. Berühren wir eine Stelle des eigenen Körpers, z.B. die eine Hand mit der anderen, so spüren wir sie in gleicher räumlicher Lokalisation einerseits »von innen«, tasten sie andererseits »von außen« ab. Mit anderen Worten, wir spüren sie primär als Leibinsel, nun aber durch das Berühren mit der anderen Hand auch als »berührt«, d.h. zuständ­ lich affiziert, und zugleich als »widerständig«, d.h. als gegenständlich. Fremde Oberflächen haben diese ambivalente Qualität nicht. Die Doppelempfindungen haben damit eine zentrale Funktion für die Konstitution des Eigenleibes. Er zeigt sich in ihnen zugleich von innen und von außen, als ein empfindendes Ding oder als ein »subjektives Objekt«. Nehmen wir noch einmal das Beispiel der Atmung. Wir können zur Bestätigung, dass es sich bei der empfundenen Schwellung der Leibinsel der Brust tatsächlich um die Bewegung des Körpers handelt, auch die Hand auf die Brust legen, und es wäre absurd zu bestreiten, dass die dort gespürte Schwellung und die dort getastete Hebung ein und demselben organischen Vorgang gelten. Die tastende Hand tastet den Brustkorb, also den gegenständlichen Körper, doch zugleich emp­ findet eben dieser (Leib-)Körper den Druck der Hand. Die als solche noch unscharf gespürte Leibinsel der atmenden Brust erhält damit eine Begrenzung, und diese Grenze bildet den Ort, an dem gespür­ 28 Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologi­ schen Philosophie II (=Husserliana. Bd. 4), Den Haag 1952, S. 144ff.

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ter Leib und getasteter Körper ineinander umschlagen. Die Selbstbe­ rührung ist also eine Grenzerfahrung, die die diffuse Dynamik des gespürten Leibes begrenzt und zugleich die absolute Räumlichkeit der Leibinsel im Ortsraum, also im Raum relativer Orte mit umkehrbaren Richtungen lokalisiert. Dass Leib und Körper »das Lokal teilen« kön­ nen,29 wie Schmitz es ausdrückt, beruht eben auf diesem Umschlag – sonst wäre die »Syntopie« gar nicht feststellbar, da beide Räumlich­ keiten nur in absoluter Parallelität erfahren werden könnten. Der Leib selbst erfährt also an der Doppelempfindung seine Außenseite, er ist nie nur spürender Binnenleib. Es ist überdies die gleiche Außen­ seite, die für andere ebenso tast- und sichtbar ist. Das heißt, auch in der Intersubjektivität erscheint das leibliche Subjekt als Körper, selbst wenn die leibliche Kommunikation die empathische Beziehung zwi­ schen den Subjekten begründet. Eine grundsätzliche Trennung oder eine auch nur kontingente Beziehung von Leib und Körper lässt sich also nicht aufrechterhalten. Vielmehr braucht der Leib den Körper: zum einen, weil die leiblich gespürte Dynamik von Engung und Weitung nicht frei schwebt, son­ dern an die physischen Bewegungen und Prozesse des Körpers gebun­ den ist; zum anderen, weil der Leib im Tasten, im Betastet- und Erblicktwerden eine Außenseite erfährt, die notwendig zu ihm gehört, wenn er nicht als ein solipsistisches Spüren gedacht wird, sondern den begrenzenden Widerstand und die Fremdheit der Dinge ebenso erfah­ ren soll wie die engende Wirkung des fremden Blicks. Zum Selbst­ verhältnis der Person gehört das Bewusstsein, als leibliches Wesen notwendig auch für andere sichtbar und damit ein Körper zu sein, der einer gemeinsamen Welt von intersubjektiv konstituierten Gegen­ ständen angehört.

4.2 Syntopie von Leib und Körper Freilich sind die beiden Phänomenbereiche von Leib und Körper nur homolog, sie entsprechen einander nicht exakt. Der Körper besteht aus organischen Mikrostrukturen, die wir sämtlich weder tasten noch spüren können, so etwa der anatomische Muskel aus Fasern, diese aus Filamenten, diese aus organischen Molekülverbindungen usw. Dem­ gegenüber weist das leibliche Spüren ebenso wie der gesamte sub­ 29

Schmitz: Der Leib, S. 143.

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jektive Leib eine globale, unscharfe Ausdehnung auf. Er folgt nicht streng den anatomischen Strukturen oder den Körpergrenzen, schon gar nicht den mikroskopischen Strukturen des Körpers.30 Der Leib bildet einen eigenen Raum diffuser Ausdehnung und Dynamik, der aber doch dem makroskopischen Raum des lebendigen Organismus entspricht und mit ihm weitgehend koextensiv ist. Anders ausge­ drückt, es besteht eine Syntopie von Leiblichem und Körperlichem oder eine Übereinstimmung des Lokals. Diese grundsätzliche Syntopie hat bereits Husserl analysiert, nämlich an folgendem Beispiel: Streift eine Nadel objektiv sichtbar über meine Hand oder sticht sie, so empfinde ich dies zu gleicher Zeit und an gleichem Ort als Berührungsverlauf bzw. als Schmerz. Kör­ perlicher Vorgang und leibliches Spüren fallen zeiträumlich zusam­ men. Die Hand ist damit erneut durch einen Doppelaspekt charakte­ risiert, als eine »physisch-aesthesiologische Einheit«, wie Husserl es ausdrückt.31 In der »Kompräsenz«32 des in der subjektiven und in der objektiven Einstellung Gegebenen konstituiert sich der Leib somit als die koextensive Einheit beider Erfahrungsweisen. Zunächst ließe sich der Zusammenhang auch als bloß konditio­ nale »wenn-dann«-Beziehung ausdrücken: »Wenn die Hand von der Nadel gestochen wird, tritt auch ein Schmerzerleben auf.« Dennoch besteht hier offenbar kein Parallelismus zweier verschiedener Welten, von denen die eine prinzipiell auch ohne die andere vorstellbar wäre, im Sinne einer prästabilierten Harmonie. Vielmehr ist der Nadelstich in den Körper offenbar die Ursache des leiblichen Schmerzes an der gleichen, durch den genannten Umschlag intermodal ausgezeichneten Stelle. Die sich daran anschließende Frage lautet: Wie lässt sich ein nicht nur konditionales, sondern auch kausales Verhältnis zwischen dem Körperlichen und dem Leiblichen denken, ein Verhältnis, dass der offensichtlichen Einheit beider Erfahrungen gerecht wird? Wir haben gesehen, dass Schmitz bei dieser Frage in eine Aporie gerät, und ich will nun zu ihrer Beantwortung einen anderen Weg beschrei­ ten.

30 Vgl. auch Schmitz: System II/1, S. 66: »Die Teile des reinen Körpers scheinen wesentlich reicher zu sein als die Inseln des körperlichen Leibes.« 31 Husserl: Ideen II, S. 161. 32 Husserl: Ideen II, S. 161.

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4.3 Der Doppelaspekt von Leib und Körper Betrachten wir zunächst den Umschlag von Leib und Körper noch einmal aus einer anderen Perspektive, nämlich aus der einer anderen Person. Der Umschlag geschieht beispielsweise ganz alltäglich bei einer ärztlichen Untersuchung. Der Arzt begrüßt einen Patienten, er sieht vielleicht kurz seinen freundlichen oder ängstlichen Blick; er nimmt ihn wahr als Person, als lebendigen, beseelten, ausdrucksvol­ len Leib, in leiblicher Kommunikation. Dann aber führt der Arzt eine körperliche Untersuchung durch, z.B. nimmt er den Augenspiegel zur Hand und untersucht die Augen des Patienten. Was geschieht? – Der freundliche oder ängstliche Blick ist verschwunden. Der Arzt sieht jetzt nur noch ein Organ des Körpers. Eine unauffällige Veränderung, so scheint es – und doch ein tiefgreifender Wechsel der Einstellung, nämlich in Husserls Terminologie von der »personalistischen« zu einer »naturalistischen« Einstellung.33 Einmal sieht der Arzt den beseelten Leib, das andere Mal den physischen Körper. Dieser physische Körper lässt sich natürlich noch weiter erfor­ schen, besonders hinsichtlich seines Inneren, etwa der Netzhaut, des Sehnervs, des Gehirns und der Neuronen. Man sieht gewissermaßen immer genauer hin, vom makroskopischen Organismus zu mikro­ skopischen Teilen und Teilchen. Nirgends finden wir dabei freilich noch einen Ausdruck von Subjektivität, leiblichem Erleben oder Bewusstsein. Gleichwohl aber richten sich beide Einstellungen, die personalistische und die naturalistische, auf den gleichen lebendigen Organismus. Auch er zeigt den Umschlag vom Leib in den Körper. Das heißt: So wie die gespürte Schwellung der Leibinsel in der Atmung die subjektiv erlebte Ausdehnung des physischen Brustkorbs ist, so ist auch der gesamte erlebte und beseelte Leib, der Leib als Medium des Lebensvollzugs ebenso wie des Ausdrucks, nichts ande­ res als der Organismus selbst, wahrgenommen in personalistischer Einstellung. Ich habe argumentiert, dass Schmitz den Dualismus von Men­ talem und Physischem nicht überwindet, sondern durch einen Dua­ lismus von Leib und Körper ersetzt. Dem will ich nun eine andere Konzeption gegenüberstellen, in der das Lebewesen oder der lebendige Organismus die primäre Einheit darstellt.34 Am Lebewesen lassen sich 33 34

Husserl: Ideen II, S. 63. Vgl. Fuchs: Das Gehirn.

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dann einerseits bewusste (leibliche, seelische, geistige) Lebensäußerun­ gen feststellen, andererseits physiologische Prozesse in beliebiger Detailliertheit. Dem einen Aspekt entspricht der subjektiv erlebte bzw. der in personalistischer Einstellung wahrgenommene Leib, dem physiologischen Aspekt der in naturalistischer Einstellung beobacht­ bare Körper als Gesamtheit aller organischen Prozesse. Das Lebewe­ sen erscheint also unter einem Doppelaspekt, und das Gleiche gilt für die menschliche Person.

Integrale Lebensäußerungen

Lebewesen Leib

Bewusstes Erleben

Personalistische, lebensweltliche Einstellung

Physiologische Körper Prozesse

Person

Organismus

Naturalistische, objektivierende Einstellung

Abb. 1: Doppelaspekt von Leib und Körper35

Anstelle einer Kluft zwischen dem subjektiven Leib und dem organi­ schen Körper haben wir nun die Dualität zweier Aspekte, jedoch mit einer gemeinsamen Beziehung auf das Lebewesen oder auf die Per­ son. Denn die Person meint immer ein Lebewesen, ein verkörpertes Subjekt. Die Komplementarität der Aspekte lässt sich auch mit den zwei Seiten einer Münze vergleichen, von denen immer nur eine ohne die andere sichtbar wird. Es wäre daher falsch zu fragen, welche Seite die »eigentlich wirkliche« ist und die andere »hervorbringt«. Der lebendige Organismus ist die Mitte, die wir zwischen erlebten und physiologischen Prozessen einsetzen müssen, ihre zugrundeliegende Einheit, denn alles Erleben ist ein Prozess des Lebens. 35

Nach Fuchs: Das Gehirn, S. 108.

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4.4 Das psychophysische Problem Doch lässt sich aus dieser Sicht eine Lösung für das psychophysische Problem finden? Warum bewegt sich der Körper bei einer intentio­ nalen Handlung, und warum entsteht der Schmerz beim Nadelstich? Ein möglicher Lösungsweg kann hier nur angedeutet werden.36 Grundlegend für diesen Weg ist die Annahme, dass das klassi­ sche Leib-Seele- als ein Leib-Körper-Problem neu gefasst werden muss. Doch statt einer Interaktion oder Wechselwirkung zwischen Leib und Körper erfordert eine Lösung eine holistische Sicht auf den Organismus als ein Funktionsganzes, das seine Teile in eine organi­ sierende Dynamik einbezieht. Es sind demnach nicht lokale Wech­ selwirkungen, sondern immer den ganzen lebendigen Organismus erfassende Prozesse, die sich in subjektiven Erfahrungen und Hand­ lungen manifestieren. Zu diesen Prozessen gehören unabdingbar, aber keineswegs ausschließlich Gehirnprozesse – dass z.B. auch die reale Bewegung des Brustkorbs für die Erfahrung der Engung und Weitung in dieser Region erforderlich ist, habe ich ja schon betont. Der Zusammenhang von Leib und Körper setzt also voraus, dass sowohl der Leib als einheitliche Subjektivität als auch auch der Körper als einheitliches Funktionsganzes betrachtet werden; der lebendige Körper ist ebensowenig teilbar wie der Leib. Statt der Vorstellung einer interaktiven Kausalität bedarf es nun einer organisierenden Kausalität, die sich dem Organismus als Gan­ zem zuschreiben lässt und die ich auch als zirkuläre Kausalität des Lebendigen charakterisiere.37 Dieser Begriff bezeichnet zunächst die Wechselbeziehung zwischen dem Ganzen und den Teilen eines leben­ digen Systems. Ein Lebewesen lässt sich als ein sich selbst organisie­ rendes (autopoietisches) System betrachten, das fortwährend die Komponenten reproduziert, aus denen es selbst besteht (Organe, Zel­ len, Makromoleküle), während umgekehrt diese Komponenten das System als Ganzes ausmachen und erhalten. Das Ganze ist also die Bedingung seiner Teile, aber es wird umgekehrt auch von ihnen rea­ lisiert. Zirkuläre Kausalität bedeutet nun, dass der Organismus seine 36 Vgl. ausführlich Thomas Fuchs: »The circularity of the embodied mind«, in: Fron­ tiers in Psychology 11, 2020, S. 1707 und ders.: Das Gehirn, S. 125ff. 37 Der Begriff stammt aus Hermann Haken: Synergetik. Eine Einführung, Berlin/ Heidelberg 2013; siehe dazu ausführlich Evan Thompson: Mind in Life. Biology, Phe­ nomenology, and the Sciences of Mind, Harvard 2007, S. 417ff. und Fuchs: Das Gehirn, S. 121ff.

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Komponenten strukturiert und in übergeordnete Funktionen einbin­ det (»abwärts«-Kausalität), zugleich wirken die Komponenten ihrer­ seits so zusammen, dass die übergreifenden Prozesse zustande kom­ men (»aufwärts«-Kausalität). Eine solche zirkuläre Kausalität charakterisiert z.B. die Bezie­ hungen zwischen den Genen und dem Organismus. Die genetische Struktur des einzelnen Zellkerns steuert den Aufbau spezialisierter Zellorgane und -funktionen (»aufwärts«-Kausalität). Umgekehrt bestimmen jedoch die Konfiguration und die Funktionen des gesam­ ten Organismus, welche Gene überhaupt Relevanz für die Entwick­ lung und Regulation einer bestimmten Einzelzelle erhalten, ob sie sich zum Beispiel zu einer Muskel- oder einer Nervenzelle entwickelt (»abwärts«-Kausalität). Ein anderes Beispiel, nun schon näher am Psychophysischen, bildet ein körperlicher Vollzug wie das Gehen. Verschiedenste Muskeln, Agonisten und Antagonisten, müssen dabei vom Organismus in ein koordiniertes Bewegungsgeschehen einge­ bunden werden, das sie doch zugleich erst ermöglichen. Mit der zirkulären Kausalität treten nicht etwa neuartige, den physikalischen Erhaltungsgesetzen widersprechende Naturkräfte auf. Vielmehr sind Makro-Strukturen in der Lage, durch ihre Form und Konfiguration bestimmte Eigenschaften ihrer Komponenten zu selek­ tieren und andere zu blockieren.38 Damit erhalten diese Komponenten neue, emergente Qualitäten. So ist das in Hämoglobin eingebettete Eisen in der Lage, Sauerstoff aus der Atemluft reversibel zu binden, also an geeigneter Stelle im Organismus wieder freizugeben, während anorganisches Eisen irreversibel rostet. Für solche emergenten Eigen­ schaften bedarf es keines physikalischen Wunders, sondern nur einer höheren Ordnungsstruktur (in diesem Fall des Hämoglobins), die ihre eigenen Aufbauelemente in spezifische Verhaltensmuster einbindet. Man kann die »abwärts«-Kausalität auch in Entsprechung zur aristo­ telischen causa formalis sehen. In dieser Weise können nun auch Erlebnis- und Bewusst­ seinsprozesse als übergeordnete Dynamiken im physischen Verhalten des Lebewesens formierend wirksam sein. Sie wirken freilich nicht als externe Kraft auf Hirn- oder Körperprozesse ein, sondern als organi­ sierende oder formende Prinzipien. Wenn ich zum Beispiel spreche, 38 Vgl. Alvaro Moreno/John Umerez: »Downward causation at the core of living organisation«, in: Peter Bogh Andersen/Clause Emmeche/Niels Ole Finnemann/ Peder Voetmann Christiansen (Hrsg.): Downward causation. Minds, bodies and mat­ ter, Aarhus 2000, S. 99–117.

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zeigen die Muskeln meiner Zunge und meines Kehlkopfs bestimmte, geordnete Bewegungsmuster. Ihre unmittelbare (Wirk-)Ursache oder causa efficiens ist die neuronal ausgelöste Acetylcholin-Freisetzung an den motorischen Endplatten der Muskelfasern. Dennoch ist es ebenso richtig zu sagen, dass sich meine Zunge und mein Kehlkopf genau so bewegen, weil ich bestimmte Worte spreche und mich dabei auf ihren geistigen Gehalt richte. Die übergeordnete, formierende oder orga­ nisierende Ursache der Muskelaktionen ist mein Sprechen (»abwärts«), das seinerseits durch eine Reihe von physiologischen Mechanismen realisiert wird (»aufwärts«). Doch das Gleiche gilt für die dazu erforderlichen neuronalen Prozesse in den motorischen oder anderen Arealen meines Gehirns. Sie verlaufen in dieser bestimmten Weise, weil ich diese Worte spre­ che, denn es gäbe gar kein übergeordnetes Zentrum im Gehirn, das dieses Sprechen hervorbringen oder steuern könnte. Alle neuronalen Teilsysteme und -prozesse sind wie Zunge und Kehlkopf nur notwen­ dige, nicht hinreichende Bedingungen für die Realisierung meiner Sprechhandlung – die hinreichende Bedingung ist nichts anderes als der lebendige Organismus mit seinen Muskeln, Sehnen, Nerven und Neuronenverbänden, der ich bin. Die vollständige Ursache für mein Sprechen ist also weder meine Zunge noch mein Gehirn (auch wenn beide notwendig sind, um es zu realisieren), sondern ich bin es selbst. In jeder bewussten Tätigkeit (sprechen, schreiben, laufen, denken) wirkt die lebendige Person selbst als formende, selektierende und organisierende Ursache dieser Tätigkeit. Als verkörperte Lebensvoll­ züge können Bewusstseinsprozesse daher im Verhalten eines Men­ schen wirksam sein, ohne »von außen« auf Gehirn oder Körper ein­ zuwirken. Angewandt auf die beiden Beispiele von Bewegung und Schmerz lässt sich die damit skizzierte Konzeption so spezifizieren: ●



Intentionale Handlungen mit den von ihnen implizierten Kör­ perbewegungen sind als Selbstorganisation und Selbststeuerung des Organismus als Ganzen aufzufassen – nicht auf Basis eines Interaktionismus zwischen Geistigem und Physischem, sondern auf der Basis organisierender, zirkulärer Kausalität. Der Schmerz in der Hand entsteht nicht lokal, er wird auch nicht vom Nadelstich erzeugt – der Stich ist nur der lokale Reiz, den das Lebewesen bzw. der betreffende Mensch als Ganzer mit einer Schmerzäußerung beantwortet. Die Kausalität verläuft in diesem Fall »aufwärts«, das heißt von einem Teil zum Ganzen. Das heißt,

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physische, lokale Ereignisse können Erleben veranlassen, nicht aber selbst verursachen.

5. Resümee Ich schließe die Skizze einer Konzeption des Leib-Körper-Zusam­ menhangs hier ab und komme zu einem Resümee. Schmitz gelingt es, so haben wir gesehen, dem von ihm erforschten Phänomenbereich des gespürten Leibes Eigenständigkeit und Autonomie zu verschaf­ fen, jedoch um den Preis, ihn weitgehend vom sicht- und tastbaren Körper abzukoppeln. Damit bleibt das Leibsubjekt trotz aller leibli­ chen Kommunikation mit dem Umraum und mit den anderen letztlich in einem Binnenverhältnis; es wird sich selbst nicht äußerlich. Daraus resultieren Aporien des Leib-Körper-Konnexes, die Schmitz selbst einräumt und die im Hinblick auf das philosophische Bemühen um eine einheitliche Konzeption des Menschen als gravierend anzusehen sind. Eine philosophische Anthropologie lässt sich auf Basis der Schmitz’schen Phänomenologie nicht entwickeln, auch wenn er die menschliche Person in verschiedener Weise in den Blick genommen hat. Ich habe zu zeigen versucht, dass die »leibliche Ökonomie«, also die leibliche Dynamik des vitalen Antriebs, nicht ohne einen Körper zu denken ist, an dem sich diese Dynamik vollzieht. Was wir spüren, wenn wir einatmen oder uns das Herz vor Freude klopft, sind freilich nicht die physiologischen Mikroprozesse des Organismus, wohl aber die global empfundenen, makroskopischen Prozesse an den körperli­ chen Gliedern und Organen. Darüber hinaus vermittelt die Erfahrung des Tastsinns, sei es in der Selbstberührung oder im Berührtwerden von anderen, eine Begrenzung und Außenseite des Leibes, die unab­ dingbar zu ihm gehört, wenn wir uns nicht als reine Leibwesen denken wollen. Das Subjekt ist nicht nur über den leiblichen Raum ausge­ dehnt, sondern es ist zugleich eingebettet in den lebendigen Körper als mit ihm koextensive verkörperte Subjektivität. Der Körper, mit dem der subjektive Leib zur Deckung kommt, weil er aus ihm hervorgeht und ihn in gewissem Sinn manifestiert, ist freilich nicht mehr der teilbare Körper einer mechanistischen Physio­ logie und Medizin. Der Einheit des subjektiven Leibes entspricht viel­ mehr die unteilbare Einheit des lebendigen Organismus als eines

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autopoietischen, sich selbst fortwährend erhaltenden und organisie­ renden Systems.39 Das Leib-Körper-Problem bedarf insofern einer Neubegründung des Lebensbegriffs, nämlich auf der doppelten Basis der leiblichen Selbsterfahrung und einer systemischen Konzeption des Organismus. Leib und Körper werden dann zu Aspekten oder Erscheinungsweisen des Lebendigen, die uns unter verschiedenen Einstellungen zugänglich werden. Auch wenn sich die Dualität und Komplementarität der Aspekte von Leib und Körper nicht auflösen lässt – sie ist dem naturalistischen Reduktionismus von Gehirn und Geist ebenso vorzuziehen wie dem Schmitz’schen Idealismus des Lei­ bes.

Literaturverzeichnis Fuchs, Thomas: »The circularity of the embodied mind«, in: Frontiers in Psychol­ ogy 11, 2020, S. 1707. Fuchs, Thomas: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-öko­ logische Konzeption, Stuttgart 2021. Haken, Hermann: Synergetik. Eine Einführung, Berlin/Heidelberg 2013. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie II (=Husserliana. Bd. 4), Den Haag 1952. Moreno, Alvaro/ John Umerez: »Downward causation at the core of living orga­ nisation«, in: Peter Bogh Andersen/Clause Emmeche/Niels Ole Finnemann/ Peder Voetmann Christiansen (Hrsg.): Downward causation. Minds, bodies and matter, Aarhus 2000, S. 99–117. Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/New York 1975. Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Bd II/1: Der Leib, Bonn 1965. Schmitz, Hermann: »Der vergessene Leib. Phänomenologische Bemerkungen zu Leib, Seele und Krankheit«, in: Zeitschrift für klinische Psychologie, Psychopa­ thologie und Psychotherapie 35, 1987, S. 270–278. Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1995. Schmitz, Hermann: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003. Schmitz, Hermann: Bewusstsein, Freiburg/München 2010. Schmitz, Hermann: Der Leib, Berlin/Boston 2011. Soentgen, Jens: Die verdeckte Wirklichkeit. Einführung in die Neue Phänomeno­ logie von Hermann Schmitz, Bonn 1998. Thompson, Evan: Mind in Life. Biology, Phenomenology, and the Sciences of Mind, Harvard 2007.

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Vgl. dazu Fuchs: Das Gehirn.

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1. Einleitung1 Die Frage, wie der Philosoph Hermann Schmitz zur Psychologie steht, welche Bedeutung sie für ihn und welche Wirkung er auf sie gehabt hat oder weiterhin hat, erzwingt für den Blick der Psychologin oder des Psychologen eine Gegenfrage: Welche Psychologie? Mag es auch keine Besonderheit sein, dass eine Forschungsart aus extradiszipli­ närer Perspektive einheitlicher erscheint, als sie tatsächlich ist, so ist die Psychologie doch in besonderem Maße ein heterogenes Fach. Das zeigt sich bereits daran, dass der Gegenstand der Psychologie seit mehr als einem Jahrhundert infrage steht und ihr Diskurs, statt einer Beantwortung der Gegenstandsfrage näher zu kommen, sie vielmehr aus der Forschungspraxis ausklammert.2 Schmitz’ Werk enthält ohne Zweifel sowohl psychologische Ideen als auch Gedanken, die für die psychologische Forschung von Bedeutung sind. Für einen Überblick dieser Beziehung, den dieser Aufsatz zu bieten anstrebt, muss indes spezifiziert werden, mit wel­ cher Art der psychologischen Forschung Schmitz ins Verhältnis getre­ ten ist. Es wird sich zeigen, dass seine Philosophie jeweils eine andere Wirkung entfaltet und die Potenziale der Neophänomenologie in der Psychologie nur durch die Berücksichtigung der entsprechenden Dis­ kurskulturen entfaltet werden können. Wie die Disziplin der Psychologie zu gliedern sei, ist keine tri­ viale Frage. Ferner stehen zu ihrer Beantwortung verschiedene Zugänge zur Verfügung. Ein doxografischer Ansatz würde die ver­ meintlichen Paradigmen der Psychologiegeschichte, wie Behavioris­ Für Kommentare zu einer früheren Version des Textes danke ich Wolf Langewitz, Josh Joseph Ramminger, Hannes Wendler und Uwe Wolfradt sowie für wertvolle Literaturhinweise Steffen Kluck. 2 Vgl. hierzu Alexander N. Wendt/Joachim Funke: Wohin steuert die Psychologie? Ein Ausrichtungsversuch, Göttingen 2022, v.a. S. 60–67. 1

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mus und Kognitivismus, unterscheiden. Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie folgt hingegen einer Aufteilung in Sachgebiete wie allgemeine, pädagogische und klinische Psychologie. Sachdienlicher ist an dieser Stelle eine Gliederung, die es gestattet, die unterschied­ lichen Diskurskulturen, mit denen Schmitz in Dialog gebracht werden kann, zu akzentuieren. An erster Stelle steht die philosophische Psychologie (2.). Damit ist – um es holzschnittartig zu sagen – gemeint, dass unter dem Namen der Psychologie an den philosophischen Fakultäten der Welt, aber auch schon vor der ersten Universitätsgründung, etwa in der klassischen Antike, Erkenntnisse über die Seele und das Seelenleben gewonnen worden sind (in generischer Verwendung dieser Begriffe). Allerdings ist philosophische Psychologie mehr als die Vorläuferin der sich Ende des 19. Jahrhunderts emanzipierenden Psychologie als wis­ senschaftlicher Disziplin. Auch noch heute lässt sich philosophisch über die Fragen der Psychologie nachdenken. Gleichsam ist von Schmitz’ Denken ohne Kontroverse zu behaupten, dass es vielfach psychologische Philosophie sei, also Philosophie, die sich mit den Themen auseinandersetzt, die im weitesten Sinne psychologisch genannt werden. Es folgen drei Arten der psychologischen Forschung, die im Anschluss an Jochen Fahrenberg, der von »Strömungen«3 spricht und sie auf ihre Gründungsväter zurückführt, geschieden werden können. Damit meint er erstens Franz Brentano als Vater der deskriptiven im Sinne einer empirischen Psychologie (3.). Hier wird dieser Begriff ohne detaillierte Berücksichtigung der Brentanoschule verwendet und meint schlichtweg diejenige Forschung, die eine Bestimmung des Seelenlebens durch Fremd- und vor allem Selbstwahrnehmung betreibt. Die zweite Strömung geht auf Sigmund Freud zurück und ist die Tiefenpsychologie mit ihren oft widerstreitenden Schulen, etwa der Psychoanalyse, die pars pro toto für diese Denkart steht (4.). Der gemeinsame Nenner der Tiefenpsychologie ist nicht unstrittig und liegt weder im Begriff des Unbewussten noch dem davon abhängigen Schichtenmodell (Es, Ich, Überich). Heutzutage verstehen sich tie­ fenpsychologische Ansätze vielfach als hermeneutische Formen der Psychologie. Jochen Fahrenberg: Theoretische Psychologie. Eine Systematik der Kontroversen, Len­ gerich 2015, S. 132. 3

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Hermann Schmitz und die Psychologie

Die dritte Strömung hat ihren Pionier in Wilhelm Wundt, wobei er keinesfalls der erste experimentell das Verhalten untersuchende Philosoph gewesen ist. Nichtsdestoweniger steht seine Laborgrün­ dung symbolisch für die Entstehung einer prospektiven, Vorhersagen formulierenden und Hypothesen testenden Forschungsart, die in der Gegenwart den diskursiven Großteil der Psychologie genannten Dis­ ziplin ausmacht. Diese Strömung kann als Experimentalpsychologie im engeren Sinne adressiert werden (5.). Anschließend gilt es zwei spezifischere Teilbereiche der Psycho­ logie anzusprechen. Schmitz hat seine größte Wirkung auf die For­ schung am Psychischen bisher in der Psychopathologie und den mit ihr befassten Arbeits- und Forschungsformen entfaltet, also für die Psychiatrie und Psychotherapie in der Anwendung sowie in der kli­ nischen Psychologie als Grundlagenforschung (6.). Der letzte The­ menkomplex ist die phänomenologische Psychologie, die innerhalb der disziplinären Geistesgeschichte keinen den oben genannten Strö­ mungen gleichwertigen Rang eingenommen hat, aber für den Kontext der Neuphänomenologie eine offensichtliche Bedeutung trägt (7.). Hat Schmitz selbst diese sechs Diskursfelder voneinander geschieden? Er war ein Kenner der Psychologie und hat in seinen Werken seine Kennerschaft wiederholt durch den anspruchsvollen Bezug auf die Psychologiegeschichte unter Beweis gestellt. Insbeson­ dere die deutschsprachige Psychologie bis zur Mitte des 20. Jahrhun­ derts ist ihm gut vertraut gewesen, was sich an zahlreichen Bezügen auf die namhaften Schulen, wie die Berliner Gestaltpsychologie, die Würzburger Denkpsychologie oder die Leipziger Ganzheitspsycho­ logie, erkennen lässt. Nichtsdestoweniger findet sich auch die Ten­ denz zur Pauschalisierung, nämlich dort, wo er sich gegen die intro­ jektionistische Tradition der Psychologie ausspricht – und ihr die Idee einer neophänomenologisch fundierten Alternative gegenüberstellt.4 Diese Tradition ist es, die gelegentlich fehlgeneralisiert als »die Psy­ chologie« schlechthin angesprochen wird. Er schreibt etwa: »Die moderne Psychologie orientiert sich am Vorbild der Naturwissen­ schaft mit einer Methode, die für Experiment und Statistik intermo­ mentan und intersubjektiv bequem identifizierbare, quantifizierbare und selektiv variierbare Merkmalssorten ihres Datenvorrates benö­ Zu dieser Alternative vgl. Alexander N. Wendt: »Empirisch ernüchterte Phänome­ nologie des Leibes – Über die Fissur in der phänomenologischen Psychologie«, in: Psychologie & Gesellschaftskritik 39, 2015, S. 97–114. 4

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tigt«.5 Dieser Satz markiert durch die subtile polemische Anklage der Bequemlichkeit die Fronten in Schmitz’ Denken und übergeht so die Komplexität des kritisierten Diskurses. Nichtsdestoweniger ist sein Werk ohne Zweifel dank des ihm eigenen enzyklopädischen Umfangs reich genug, um eine differenzierte Bezugnahme zu rechtfertigen.

2. Philosophische Psychologie Die Kehrseite der Forschungsfrage nach Schmitz’ Verhältnis zur Psy­ chologie ist diejenige nach Schmitz’ eigener Psychologie. Was heißt es aber, als Philosoph eine »Psychologie zu haben«? Grundsätzlich gilt, dass das Werk einer systematischen Philosophin oder eines Phi­ losophen qua Systemcharakter gegliedert werden kann. Beispiels­ weise ist der vierte Band im System der Philosophie die Choriologie. Nach Schmitz’ Psychologie zu fragen, entspricht dem Irrealis eines sechsten Bandes mit eigenständiger Funktion im System. Dabei ist sicherlich der Zweifel begründet, ob es die entsprechenden System­ stelle überhaupt gebe. Vielmehr könnte seine Psychologie schlichtweg ein Bestandteil von oder eine bloße Konsequenz aus Schmitz’ Anthro­ pologie sein. Doch der Zweck der folgenden Überlegung ist die Mög­ lichkeit solch einer Psychologie zu erwägen, nicht ihre Wirklichkeit zu behaupten. Der Irrealis von Schmitz’ Psychologie ist keine Tagträumerei. Entsprechende Überlegungen finden sich auch in der Exegese anderer philosophischer Systeme. Ein Beispiel ist der Neukantianer Her­ mann Cohen, zu dessen »nicht geschriebener Psychologie« unlängst (im September 2022) durch die Hermann-Cohen-Gesellschaft ein Symposion an der Goethe-Universität Frankfurt am Main abgehalten worden ist. Im Fall von Cohens »System der Philosophie« ist eine Psychologie allerdings tatsächlich als vierter Teil vorgesehen gewesen. Dieser ist, wie Kurt Walter Zeidler in seinem Frankfurter Vortrag betonte,6 eine Leerstelle geblieben, die zu füllen sodann von Paul Natorp in Angriff genommen worden ist. Dass Schmitz analog die Zeit gefehlt habe, sein System um einen psychologischen Band zu 5 Hermann Schmitz: »Psychologie als Wanderschaft zwischen zweimal zwei Wel­ ten«, in: Jan-Peters Janssen (Hrsg.): Wie ist Psychologie möglich?, Freiburg/München 2008, S. 21–34, hier 25f. 6 Vgl. Kurt Walter Zeidler: »Zwischen Begründungs- und Abschlussreflexion. Die Psychologie im System Cohens« (unveröffentlichter Vortrag).

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ergänzen, ist unwahrscheinlich. Daher ist der Vergleich nur beschränkt gültig, doch nichtsdestoweniger hilfreich, um zu illustrie­ ren, dass die entsprechende Rekonstruktionsbemühung eine gängige philosophiegeschichtliche Methode ist. Dass Schmitz offenbar keine Psychologie zu schreiben gedachte, könnte Anlass zum Urteil geben, sie habe in seinem Denken eine nachrangige Rolle gespielt, doch das Gegenteil scheint zu gelten: Statt ein bloßer Teil des Systems zu sein, durchziehen psychologische Topoi passim sein gesamtes Werk. Schmitz hat eine eminent psychologische Philosophie entwickelt. Die vielfältigen Beiträge zum psychologi­ schen Diskurs, die im Folgenden zu diskutieren sein werden, gründen systematisch auf seiner philosophischen Psychologie, in der drei Kerngedanken bestimmt werden können: 1. Schmitz formuliert eine Ideengeschichte der Psychologie, deren Grundmotiv die Opposition von Monismus und Dualismus ist. Gleichsam ergeben sich drei psychologiehistorische Phasen. Am Anfang steht »die sogenannte homerische Psychologie«,7 die unter anderem von Empedokles und Parmenides entwickelt worden ist. Sie gründet sich noch nicht auf den Begriff der Seele, sondern handelt von »der Betroffenheit des Menschen von atmosphärischen Mächten«.8 Diese Auffassung wird in der folgenden Phase verdrängt und bleibt lediglich im Frühchristentum erhalten. Die zweite Phase reicht von Platon und Demokrit bis in die Gegenwart. Ihren Mittelpunkt bildet ein naiver Körper-Seele-Dualismus, der sich durch die »psychologis­ tisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung«9 als Paradigma10 ergibt, von der sich Schmitz beständig abgrenzt. Das Herzstück des Dualismus bezeichnet er etwa als »Innenwelthypo­ these« bzw. »-glauben«11 und »Immanenzdogma«12 oder adressiert es 7 Hermann Schmitz: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserfor­ schung. Bd. 1: Antike Philosophie, Freiburg/München 2007, S. 22. 8 Hermann Schmitz: »Leib und Seele in der abendländischen Philosophie«, in: Phi­ losophisches Jahrbuch 85, 1978, S. 221–241, hier 234. 9 Hermann Schmitz: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserfor­ schung. Bd. 2: Nachantike Philosophie, Freiburg/München 2007, S. 307 und ders.: Atmosphären, Freiburg/München 2014, S. 10. 10 Dazu vgl. Tonino Griffero: Places, Affordances, Atmospheres. A Pathic Aesthetics, Oxon/New York 2020, S. 21–28 und Hans-Joachim Waschkies: »Paradigmen als Situationen«, in: ders./Michael Großheim (Hrsg.): Rehabilitierung des Subjektiven. Festschrift für Hermann Schmitz, Bonn 1993, S. 129–142. 11 Schmitz: »Leib und Seele«, S. 222, 234. 12 Schmitz: Weg Bd. 2, S. 824.

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als Psychologismus, also »die Lehre, die jedem Bewussthaber eine abgeschlossene Innenwelt (z.B. Seele) beilegt«13 – ein Psychologis­ mus,14 der dualistisch mit Physiologismus korrespondiert. Die dritte Phase ist hingegen der Entwurf einer neophänomenologisch gerei­ nigten Psychologie der Zukunft, die sich aus Schmitz’ Kritik an »psy­ chosomatischem Dualismus« bzw. »Anthropologie«15 ergibt. So beansprucht er: »Ich habe die Innenwelthypothese und die Introjek­ Schmitz: Weg Bd. 2, S. 826. Schmitz’ Verwendung des Ausdrucks »Psychologismus« unterscheidet sich wesentlich von derjenigen in der weiteren phänomenologischen Tradition, wobei der Unterschied zu Edmund Husserl von maßgeblicher Bedeutung ist. Für diesen ist mit »Psychologismus« die Überzeugung bezeichnet, dass die Psychologie die theoretische Grundlage der Logik sei. Die Prolegomena der Logischen Untersuchungen (Edmund Husserl: Logische Untersuchungen (=Gesammelte Werke. Bd. XVIII), Den Haag 1975) attestieren diesen Zustand der Wissenschaften des beginnenden 20. Jahrhunderts nicht nur, sondern registrieren zudem, dass im vorigen philosophischen Diskurs bereits einige – vornehmlich rationalistische – Argumente gegen den Psychologismus aufgekommen seien, die Husserl einerseits relativiert und andererseits erweitert. In Der Weg der Philosophie (vgl. Schmitz: Weg Bd. 2, S. 673–678) geht Schmitz nicht auf Husserls Anti-Psychologismus ein (der sich vom neukantianischen Logizismus unter­ scheidet), sondern behauptet, dieser perpetuiere das Immanenzdogma. Entsprechend ergibt sich eine Frage, die an Schmitz eigene Logische Untersuchungen (ders.: Logische Untersuchungen, Freiburg/München 2008) zu stellen ist, nämlich, welches Verhältnis Psychologie und Logik in seinem Denken einnehmen. Schmitz’ Ablehnung von Hus­ serls Evidenz-Begriff und von dessen Selbstgegebenheit-Konzept (vgl. ders.: System der Philosophie. Bd. IV: Die Person, Bonn 1980, S. 547–551) gibt dem Zweifel Anlass, ob sich vielmehr nach Husserls zum transzendentalen Idealismus neigenden Kriterien nicht auch Schmitz des Psychologismus schuldig mache – etwa wegen seines Tatsa­ chen-Begriffs. Dieser Zweifel lässt sich zum Beispiel dadurch rechtfertigen, dass der Schmitz’sche Anti-Psychologismus auf Martin Heidegger zurückgeht (vgl. dazu Michael Großheim: »Phänomenologie gegen Psychologismus, Reduktionismus, Introjektionismus«, in: Dieter Thomä (Hrsg.): Heidegger-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2013, S. 420ff., hier 420), Husserl aber die Philosophie der »phä­ nomenologischen Bewegung« (Edmund Husserl: »Phänomenologie und Anthropo­ logie (Vortrag in den Kantgesellschaften von Frankfurt, Berlin und Halle 1931)«, in: ders.: Aufsätze und Vorträge 1922–1937 (=Gesammelte Werke. Bd. XXVII), Den Haag 1989, S. 164–181, hier 164), sofern sie sich – wie im Falle Heideggers – gegen seine transzendentale Forschung stellte, gleichermaßen als »Anthropologismus oder Psy­ chologismus« (ebd.) zurückwies (auch wenn er dabei vor allem Max Scheler im Sinn hatte). Zum vielschichtigen Verhältnis zwischen Heidegger und der Phänomenologie mit Blick auf den Psychologismus siehe ferner Walter Biemel: »Heideggers Stellung zur Phänomenologie in der Marburger Zeit«, in: Phänomenologische Forschungen 6/7, 1978, S. 141–223. Zur allgemeinen Geschichte des Psychologismus vgl. Werner Loh/ Margret Kaiser-el-Safti: Die Psychologismus-Kontroverse, Göttingen 2011. 15 Schmitz: »Leib und Seele«, S. 234f. 13

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tion nicht nur widerlegt, sondern aus dieser Widerlegung auch pro­ duktive Folgerungen gezogen«. Weiter: »Vielleicht beginnt damit ein drittes Zeitalter menschlichen Selbstverständnisses, nach dem vor­ platonischen und dem zweiten, das mit den besprochenen Ausnah­ men von Platon bis zur Gegenwart reicht.«16 2. Die konstruktive Basis für den Anspruch auf ein neues Zeit­ alter der Psychologie bildet Schmitz’ Subjektphilosophie, die als »Rehabilitierung des Subjektiven«17 einen der Schwerpunkte der Schmitz-Rezeption bildet. Eine konzise Zusammenfassung findet sich in dem Aufsatz »Personale und präpersonale Subjektivität“.18 Im Geiste seiner Kritik an der Introjektion stellt er auch den Begriff des Bewusstseins infrage. So wendet er sich gegen die husserlianische Tradition der Phänomenologie, in der die Konzeption von »Bewusst­ sein« einer »Begriffsverwirrung«19 unterliege, insofern die vermeint­ liche Innenwelt mit der Relation des Bewussthabens, für deren Dar­ stellung sich Schmitz auf Hans Driesch bezieht, gleichgesetzt werde. Lediglich das Bewussthaben bleibt in Schmitz’ Subjektphilosophie erhalten, während die Einheit der Subjektivität ihren Ausgang vom affektiven Betroffensein nimmt: »Ich entdeckte als die Heimstätte der Subjektivität die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffen­ seins“.20 Maßgeblich sind dabei gleichermaßen die Verteidigung der epistemischen Dignität subjektiver Tatsachen sowie die Annahme des atmosphärischen Charakters der Affektivität, die ferner den Aus­ gangspunkt für Schmitz’ vielbesprochene Emotionstheorie bietet.21 3. Schmitz’ Subjekttheorie begründet außerdem eine Antwort auf die – oben bereits angesprochene – Gegenstandsfrage der Psycholo­ gie. Seine wissenschaftstheoretische Analyse stützt sich auf den Begriff der Abstraktionsbasis, die er für die Psychologie der zweiten Phase als reduktionistisch bestimmt: »Zur Weltbemächtigung bietet Schmitz: »Leib und Seele«, S. 241. Vgl. Hans-Joachim Waschkies/Michael Großheim (Hrsg.): Rehabilitierung des Subjektiven. Festschrift für Hermann Schmitz, Bonn 1993. 18 Vgl. Hermann Schmitz: »Personale und präpersonale Subjektivität«, in: Logos. Zeitschrift für systematische Philosophie 6, 1999, S. 52–66. 19 Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, S. 194. 20 Schmitz: Atmosphären, S. 10. 21 Vgl. Hilge Landweer: »Zur Geschichte anthropologischer und phänomenologi­ scher Emotionstheorien«, in: Hermann Kappelhoff/Jan-Hendrik Bakels/Hauke Leh­ mann/Christina Schmitt (Hrsg.): Emotionen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stutt­ gart 2019, S. 48–55. 16

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sich der Reduktionismus an, weil die auf der Abstraktionsbasis belas­ senen Merkmalsorten für Statistik und Experiment optimal geeignet sind.«22 Eine alternative Abstraktionsbasis bilden hingen »standardi­ sierte vielsagende Eindrücke (impressive Situationen) auf der Grund­ lage leibnah gespürter Kräfte«.23 Dadurch ergibt sich Schmitz’ Ant­ wort auf die Gegenstandsfrage: »An die Stelle der Seele, die als Substanz und Sphäre (›Innenwelt‹) ausgespielt hat, könnte als legiti­ mer Erbe vielleicht treten, was ich als persönliche Situation bezeichnet und gründlich durchmustert habe.«24 Diese drei Pfeiler würden es gestatten, eine schmitzianische Psy­ chologie zu tragen. Sie träte sodann mit dem Anspruch einer neophä­ nomenologischen Rechtfertigung auf. Das ist angesichts des philoso­ phischen Hintergrunds nicht verwunderlich, aber denkwürdig. Die Patronage der Wissenschaften durch die Philosophie – der soge­ nannte epistemologische Fundamentalismus – ist nämlich eine Argu­ mentationsfigur, die Schmitz mit dem von ihm ansonsten abgelehn­ ten Husserl verbindet, der davon sprach, dass die Psychologie sich zur Phänomenologie wie die Physik zur Geometrie verhalte.25 In ähnli­ cher Weise spricht Schmitz von »Angebote[n] der philosophischen Phänomenologie an die Psychologie«,26 um diese vor dem Reduktio­ nismus zu bewahren. Zwar ist Husserls Argumentation auf die Tran­ szendentalphänomenologie zugespitzt,27 doch auch in der Neophä­ nomenologie besteht die Tendenz, die Autonomie der disziplineigenen Diskursdynamik lediglich nach philosophischen Maßstäben zu beurteilen. Diese Tendenz zu philosophischer Bevormundung der intradis­ ziplinären Diskurse lässt das Widerspruchspotenzial erkennen, das Schmitz’ Verhältnis zur Psychologie auch im Allgemeinen kennzeich­ net. So wäre es etwa denkbar gewesen, seine ideengeschichtlichen Schmitz: Weg Bd. 2, S. 212. Schmitz: Weg Bd. 2, S. 211. 24 Hermann Schmitz: »Herkunft und Zukunft der Seelenvorstellung«, in: Urs Bau­ mann/Heinrich Berbalk/Gerhard Seidenstücker (Hrsg.): Klinische Psychologie. Trends in Forschung und Praxis, Bern/Stuttgart/Wien 1981, S. 78–96, hier 92. 25 Dazu vgl. Alexander N. Wendt: »Auf dem Rückweg zu einer phänomenologischen Psychologie«, in: Hans Werbik/Uwe Wolfradt/Alexandra Lailch-Hennrich/Lars Allolio-Näcke (Hrsg.): Historische Entwicklung und aktuelle Perspektiven des Verhält­ nisses von Philosophie und Psychologie, Würzburg 2021, S. 159–178. 26 Schmitz: »Psychologie als Wanderschaft«, S. 32. 27 Zu Husserls Verhältnis zur Psychologie vgl. Hermann Drüe: Edmund Husserls System der phänomenologischen Psychologie, Berlin 1963. 22

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Auffassungen im Dialog mit den Psychologiehistorikerinnen und -historikern seiner Zeit zu entwickeln. Um nur ein Beispiel zu nennen, wäre Ludwig Pongratz mit seiner Ideengeschichte der Psychologie28 von 1967 ein sowohl sachlich differenzierter als auch disziplinär aner­ kannter Gesprächspartner gewesen. Stattdessen liest Schmitz die Psy­ chologiegeschichte unter den Vorzeichen der Antike und droht dabei den Tiefgang der jüngeren Probleme zu übersehen. Folglich wird – trotz beachtlicher Kenntnis der Psychologie seitens Schmitz – der verpasste oder zumindest unvollständige Dialog zu einem Leitmotiv der hier infrage stehenden Beziehung.

3. Deskriptive Psychologie Unter den drei von Fahrenberg identifizierten Hauptströmungen der Psychologie steht Schmitz der deskriptiven Psychologie am nächsten. Mit diesem Begriff wird an dieser Stelle, wie bereits erwähnt, keine spezifische Theorietradition oder Schule angesprochen, sondern die Denominationen deskriptive (Brentano), beschreibende (Wilhelm Dilthey) oder verstehende Psychologie (Alexander Pfänder) promis­ cue verwendet. Die allgemeinste methodologische Identität dieser Forschungsart ist die immanente Bestimmung der Selbst- oder Fremdwahrnehmung. So sagt Pfänder: »Die intuitive Erkenntnis durch Einfühlung liefert dem Psychologen vor allem das Material sei­ ner Untersuchung«.29 Eine korrespondierende Bestimmung der Psy­ chologie als Geisteswissenschaft findet sich bei Schmitz: »Die Abs­ traktionsbasis des Geisteswissenschaftlers […] kann daher nicht auf ganze Situationen verzichten, insbesondere nicht auf vielsagende Ein­ drücke«.30 Naheliegender Weise besteht in Schmitz’ Situationstheo­ rie ein Berührungspunkt, vor allem aber in der Theorie personaler Situationen, aus der sich eine Persönlichkeitspsychologie ableiten lässt, denn die »persönliche Situation macht im Wesentlichen aus, was man sonst als Persönlichkeit, Eigentümlichkeit, Individualität pp. eines Menschen ausgibt«.31 Die Leibphänomenologie des Kieler Philosophen entwickelt den Begriff der personalen Situation auf Grundlage präpersonaler Dyna­ 28 29 30 31

Vgl. Ludwig Pongratz: Problemgeschichte der Psychologie, Bern 1967. Alexander Pfänder: Einführung in die Psychologie, Leipzig 1904, S. 29. Schmitz: »Psychologie als Wanderschaft«, S. 25. Schmitz: System IV, S. 287.

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miken, genauer: anhand eines Prozesses von »personaler Emanzipa­ tion und Regression, d.h. der objektivierenden Abstandnahme von primitiver Gegenwart auf einem Niveau mit einem Stil und Entwurf einerseits, und der Hinfälligkeit an primitive Gegenwart unter dem Einfluß eines affektiven Betroffenseins oder anders motivierter Ein­ buße erlangter Fassung andererseits.«32 Die resultierende Dynamik enthält ein »Inventar«,33 zu dem insbesondere die leibliche Disposi­ tion und der persönliche Charakter gehören. Mit dem Psychiater Ernst Kretschmer differenziert Schmitz die leibliche Disposition als Konstitutionstypen. Seine Persönlichkeitspsychologie ist folglich eine Typenlehre, wobei sie philosophisch durch dihairetische Reflexionen gerechtfertigt wird. Darum, dass die Typenlehre in der jüngeren Psychologiege­ schichte in Kritik geraten ist, weiß Schmitz und reflektiert auf die »Leistung und Gefahr der typologischen Methode«.34 So weist er die »korrelationsstatistischen Bedenken«35 zurück: »In geradezu drasti­ scher, eklatanter Weise fehlt dieser Kritik jedes Verständnis dafür, daß ein Typus nicht auf die Orientierung am Eindruck verzichten und auf die Ergebnisse der Korrelationsrechnung für einzeln identifizierte Merkmale warten kann […].«36 Schmitz’ Apologie des typologischen Denkens insistiert also auf seiner eigenen Methodologie, nämlich die phänomenologische Bestimmung impressiver Situationen. Dass die Diskurslogik der Differenzialpsychologie zu ihrer Anerkennung nicht imstande ist, erwägt er unterdessen nicht. So zielen beide Denkarten, die psychometrische und die »Phänomenologische Diagnostik«37, aneinander vorbei. Mit seiner Haltung gegenüber der Typenlehre bezieht Schmitz implizit Stellung in der »Kontroverse zwischen ›Phänomenologen‹ und ›Operationalisten‹«,38 die in der deutschen Persönlichkeitspsy­ chologie der 1950er Jahre ausgetragen worden ist. Dieser Umstand wird im Aufsatz »Herkunft und Zukunft der Seelenvorstellung« noch Schmitz: System IV, S. 287. Schmitz: System IV, S. 290. 34 Schmitz: System IV, S. 262. 35 Schmitz: System IV, S. 262. 36 Schmitz: System IV, S. 263. 37 Paul Kielholz: Diagnose und Therapie der Depression für den Praktiker, Heidelberg 1966 (zitiert nach: Schmitz: System IV, S. 265). 38 Georg Eckardt: Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie. Quellen zu ihrer Ent­ stehung und Entwicklung, Wiesbaden 2017, S. 115. 32

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deutlicher, da Schmitz hier die psychologischen Beiträge von Felix Krüger und Albert Wellek als »letzten repräsentativen Versuch, mit psychologischen Methoden hinter die ›Psychologie ohne Seele‹ zurückzugehen«,39 lobt. Ähnliche Anerkennung für den Gründer der Ganzheitspsychologie Krüger findet sich im System.40 Schmitz schlägt sich auf die Seite des phänomenologischen Lagers, das in die­ ser Kontroverse jedoch nach wissenschaftssoziologischem Urteil langfristig die historisch unterlegene Partei werden sollte. Diese Nähe hat einen wissenschaftsbiografischen Hintergrund, denn auch sein Doktorvater Erich Rothacker pflegte in Bonn die Verbindung zur Ganzheitspsychologie, etwa zu Friedrich Sander. Es war letztlich die operationalistische Psychologie Hans Jürgen Eysencks, die seitdem den Diskurs bestimmte. Das bedeutet freilich nicht, dass sie inhaltlich überlegen wäre, doch erklärt, wie schwierig es ist, hier eine konstruk­ tive Perspektive zu entwickeln. Diese Schwierigkeit, einen Dialog herzustellen, wird an Schmitz’ eigener Argumentation sichtbar, wie ein Beispiel verdeutlicht: »Jungs Unterscheidung des extravertierten und des introvertierten Men­ schentyps hat in der amerikanischen, statistisch-faktorenanalytisch orientierten Psychologie mehr Gunst und Boden als die anderen klas­ sischen Typenlehren deutscher Herkunft gewonnen«.41 Zwar ist es richtig, dass die Denomination Introversion-Extraversion für die mit lexikalischer Methode induktiv generierten Persönlichkeitsmodelle weiterhin Verwendung findet, doch ist sie dabei jeder inhaltlichen Konnotation beraubt – es besteht keinerlei theoretische Kontinuität zu Carl Gustav Jung. Die Vorgehensweise, mit der in kognitivistischen Modellen Persönlichkeitsdimensionen beschrieben werden, zielt nicht auf intensionale Begriffsbestimmung ab, sondern gründet sich vollständig auf empirische Korrelationsmuster. Wenn Schmitz also, »phänomenologisch betrachtet, erhebliche Korrektur«42 der Konzep­ tion anmeldet, so entgeht ihm, dass eine inhaltliche Korrektur unter den gegebenen methodologischen Bedingungen über keine Angriffs­ fläche verfügt – lediglich formale Korrekturen (etwa messtheoretische und messmethodische) finden Gehör. Schmitz: »Herkunft und Zukunft«, S. 90. Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. III/2: Der Gefühlsraum, Bonn 1981, S. 324. 41 Schmitz: System III/2, S. 392. 42 Schmitz: System III/2, S. 392. 39

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Neben der Anerkennung von Wellek und Krüger artikuliert Schmitz beispielsweise die Wertschätzung von Philipp Lersch, eines weiteren schichtentheoretisch arbeitenden Charakterologen, der weniger experimentell als deskriptiv forschte, oder Otto Friedrich Bollnow, dessen psychologisches Denken durch seinen Bezug zu Dil­ they in verwandter Tradition steht. Diese und weitere Beispiele – her­ vorzuheben ist auch William James, der zu den seltener behandelten englischsprachigen Autorinnen und Autoren gehört, mit denen sich Schmitz auseinandersetzt – lassen erkennen, dass sein Plädoyer für die geisteswissenschaftliche Seite der Psychologie mit Positionen der traditionellen deskriptiven Psychologie korrespondiert. Einen her­ ausragenden Rang in der vornehmlich deskriptiven Psychologie nimmt für Schmitz zuletzt Ludwig Klages ein, der – laut Schmitz darin Aristoteles ähnelnd – »das unwillkürlich strömende, schauend emp­ fängliche Leben gegen die Willkür des geistigen Tuns«43 verteidige: eine Haltung, die Schmitz imponiert und ihn davon sprechen lässt, dass er sich »als Erbe von Ludwig Klages«44 fühle. Folglich steht Schmitz der deskriptiven Psychologie nahe; genau besehen bleibt diese Verwandtschaft jedoch allgemeiner Natur, nämlich konvergent in inhaltlicher Hinsicht, denn zu Detailfragen der psychologischen Deskription – zwischen Introspektionsfrage und Prozeduren der qua­ litativen Forschung – finden sich allenfalls verstreute Bemerkungen. Mit der Öffnung zur deskriptiven Psychologie ist ferner eine metho­ dologische Schließung verbunden, die es mit Blick auf die folgenden Diskursarten zu evaluieren gilt.

4. Tiefenpsychologie Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten und eingedenk des Schmitz eigentümlichen enzyklopädischen Wissensvorrats ist es nichts weni­ ger als verwunderlich, dass er auch zu einer Einschätzung der Tiefen­ psychologie gekommen ist. Allerdings spricht er von den »Lehrmei­ nungen der psychoanalytischen Schulen«45 und somit gewissermaßen pars pro toto, wobei die Begünstigung des Teils auch Schmitz: »Leib und Seele«, S. 239. Hermann Schmitz: »Sexus und Eros bei Ludwig Klages«, in: Hestia 10, 1981, S. 9– 20, hier 20. 45 Schmitz: System IV, S. 24. 43

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für die Schlüsselfiguren der Bewegung gilt, insofern als sich Schmitz vorrangig auf Freud bezieht. Eine Kenntnisnahme der theoretischen Verzweigungen in der Tiefenpsychologie sowie ihrer immanenten Diskursspannungen – man denke etwa an Jacques Lacan – lässt sich in Schmitz’ Werk zumindest nicht prominent ausfindig machen. Genau besehen ist der tiefenpsychologische Diskurs Schmitz also in dessen Umfang und Tiefe nicht vertraut. Über seinen Gründervater Freud kommt Schmitz nichtsdestoweniger zu einem klaren Urteil in Form der eindeutigen Einordnung in sein ideengeschichtliches Schema, denn er spricht von Freuds Denken als einem modernen Pla­ tonismus: »Freud setzt den Bewussthaber als das Ich ganz fest und förmlich in eine Mittelschicht der Seele, zwischen das Es als den Inbegriff der unwillkürlichen Regungen und ein Überich, ein dem Ich eingeprägtes Normensystem. Dieses Ich entspricht ungefähr der Vernunft als obers­ ter Schicht in der gleichfalls dreischichtigen Seele Platons«. Weiter: »Die unwillkürlichen Regungen sollen von besonnener Vernunft über­ wunden und aufgesaugt werden, so dass sie keine oder nur eine ganz untergeordnete Rolle spielen. Freud ahnt nicht, dass er mit dieser Absage an die Autonomie des Präpersonalen, an den Antagonismus und die Aufrührbarkeit des vitalen Antriebs, an die zwar kontrollier­ bare, aber nie in die Herrschaft der Kontrolle personaler Emanzipation ganz einfangbare personale Regression das Ich selbst zerstören will, nämlich die personale Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, zur Rechen­ schaft, zur Übernahme der Verantwortung, zur Wahl des eigenen Plat­ zes in der Umgebung«.46

Unter diesen Vorzeichen muss sich Schmitz der Tiefenpsychologie, die gemäß seiner Analyse den platonischen Dualismus reproduziere, grundsätzlich entgegenstellen. Eine entsprechende Ablehnung der freudianischen Metapsychologie findet sich in Schmitz’ Kommentar zur Psychotherapie: »Diese Parteinahme für Vernunft und Souverä­ nität des personal emanzipierten Subjekts gegen das Diktat der unwillkürlichen Regungen hat den Nachteil, daß Vernunft ein bloß formales Vermögen ist«.47 An Stelle dieser psychopathologischen Metapsychologie entwickelt Schmitz ein Plädoyer für »[d]ie Veran­

Hermann Schmitz: Der Leib, Berlin/Boston 2011, S. 80. Hermann Schmitz: Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Thera­ peutik, Paderborn 1992, S. 98.

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kerung des Lebenswillens in der Gegenwart«,48 die Michael Großheim als das »Prinzip Gegenwart«49 anspricht. Zugleich greift Schmitz allerdings auch konstruktiv Elemente der Tiefenpsychologie auf. Ein Beispiel ist sein positives Urteil über Freuds Theorie des Humors bzw. der »meisterhaft analysierten Witztechniken«.50 Es ist dem Umstand, dass die Tiefenpsychologie mehr Blüten als Freuds Psychoanalyse hervorgetrieben hat, zu danken, dass sie mit Neophänomenologie trotz des grundsätzlichen Platonismus-Vor­ wurfs in konstruktive Beziehung treten konnte. Die Verschränkung beider Denkarten nimmt insbesondere in der therapeutischen Praxis konkrete Züge an. Wolf Langewitz’ Werk zeugt davon, dass die Inte­ gration zum Nutzen der psychiatrischen und psychosomatischen Arbeit gelingen kann.51 Idealtypisch ist die Anwendung der Leibphä­ nomenologie in der Balintarbeit zu nennen,52 deren Ausgangspunkt die Ideen des Tiefenpsychologen Michael Balint gewesen sind. Die theoretische und empirische Bedeutung dieser Konvergenz zwischen Tiefenpsychologie und Neophänomenologie tritt jedoch hinter die (eklektische) Zusammenarbeit in der Praxis zurück und findet ihre eigentliche Perspektive daher in der allgemeinen Psycho­ pathologie (s.u., 6.), deren Bezug auf die Tiefenpsychologie kontin­ gent ist. Eine Kontaktaufnahme mit der Tiefenpsychologie in einer ihrer Formen, etwa der Tiefenhermeneutik, ist nichtsdestoweniger möglich. Hinsichtlich dieses Potenzials ist von Schmitz zu sagen, was auch für das Verhältnis zwischen phänomenologischer Bewegung im Allgemeinen und Tiefenpsychologie gilt: Eine Verbindung ist, so zeigt das Beispiel Paul Ricœurs,53 möglich, doch nicht ohne Konflikt.

Schmitz: Leib und Gefühl, S. 100. Michael Großheim: »Das Prinzip Hoffnung und das Prinzip Gegenwart«, in: ders./ Hans-Joachim Waschkies (Hrsg.): Rehabilitierung des Subjektiven. Festschrift für Her­ mann Schmitz, Bonn 1993, S. 143–178. 50 Schmitz: System IV, S. 152. 51 Vgl. Wolf Langewitz: »Der Ertrag der Neuen Phänomenologie für die Psychoso­ matische Medizin«, in: Michael Großheim (Hrsg.): Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie. Festschrift für Hermann Schmitz, Freiburg/München 2008, S. 126– 140. 52 Wolf Langewitz/Michael Großheim: »Balintarbeit und ›die Gefühle‹. Phänome­ nologische Überlegungen zum Begriff der Gefühle in der Arbeit von Balintgruppen«, in: Balint 18, 2017, S. 41–46. 53 Vgl. Paul Ricœur: Hermeneutik und Psychoanalyse. Der Konflikt der Interpretationen II, übers. v. Johannes Rütsche, München 1974. 48

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5. Experimentalpsychologie Zwar sind deskriptive und Tiefenpsychologie vor allem historisch bedeutungsvolle Beiträge zum Fach und – aus Perspektive der theo­ retischen Psychologie betrachtet – wichtige konzeptuelle Kontra­ punkte, doch es kann kein Zweifel bestehen, dass es die prospektiv Hypothesen generierende und testende Forschungsart der Experi­ mentalpsychologie ist, die de facto den Kern der disziplinären Iden­ tität bestimmt. Das ist nicht als normative Behauptung zu verstehen, sondern als deskriptiver Sachverhalt: Was akademische Psychologie in den letzten beiden Jahrhunderten geworden ist, gründet auf das Verhaltensexperiment. Es ist die Idee des Labors, die der weltan­ schauliche Träger dieser Forschungsart, der Experimentalpsycholo­ gie, ist und nur sekundär die Quantifizierung. Das bedeutet, dass erst eine bestimmte anthropologische Auffassung der Experimentalsitua­ tion ihre Nutzung ermöglichte. Hervorzuheben ist der Begriff der Störvariable, die zu beherrschen das Labor dient. Dieser Begriff ist an einen methodologischen Elementarismus gebunden, also die For­ schungsdoktrin, dass sich einzelne Mechanismen, Faktoren oder Variablen in der Verhaltensentstehung isolieren und manipulieren lassen. Es wäre falsch, hinter dem methodologischen den ontologischen Elementarismus der Assoziationspsychologie zu vermuten, denn Wundts Erklärungen haben sich keines reduktionistischen Physiolo­ gismus schuldig gemacht. Im Gegenteil steht der Begriff der Apper­ zeption, dessen holistischer Ansatz der Gestaltpsychologie den Weg bereitete, im Zentrum seiner Theorie. Indes, diese psychologiege­ schichtliche Komplexität wird in Schmitz’ scharfem Urteil allenfalls indirekt gewürdigt, wenn er von Wundts Seelenbegriff schreibt, dass er »vermeintlich nur der wackeren Verteidigung des Empirischen und Phänomenalen gegen die Metaphysik-Gespenster Seele und Substanz dient, hauptsächlich aber bewirkt, dass achtlos oder insgeheim über Bord geworfen wird, was zwar die bloss registrierende Beobachtung stört und foppt, für die beobachteten Menschen (und Tiere) aber erst Gewicht und Farbe in ihr Leben bringt: die Subjektivität der subjektiven Tatsachen.«54 54

Schmitz: »Herkunft und Zukunft«, S. 89.

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In anderen Worten, Schmitz wirft Wundt und damit der »registrie­ renden« Experimentalpsychologie Naturalismus und Objektivismus vor. Es entsteht ein Antagonismus der Neophänomenologie, der sich beständig in verschiedenen Formen durch Schmitz’ gesamtes Werk erhält. Die Schlüsselrolle besitzt dabei aus Perspektive der theoreti­ schen Psychologie die methodologische Kritik. Sie einnehmend kommt Schmitz zu einer Skepsis gegenüber quantitativer Forschung: »In der modernen Entwicklung des psychologischen Experiments zeigt sich diese Verengung namentlich an der zunehmenden Bevor­ zugung gebundener Wortwahl der Versuchspersonen zu Gunsten der Möglichkeit statistisch-mathematischer Auswertung.«55 Im Hintergrund identifiziert Schmitz eine Opposition zwischen den »positive[n] Wissenschaften«56 und der Orientierung an Phäno­ menen – für die impressive Situationen als Abstraktionsbasis erfor­ derlich sind. Hier hat Schmitz’ Begriff der reduktionistischen Verge­ genständlichung seinen Platz: »Die zwischen den Innenwelten verbleibende empirische Außenwelt wird bis auf wenige Merkmal­ sorten und deren hinzugedachte Träger abgeschliffen.«57 Der Reduk­ tionismus ergibt sich aus der Wahl der Abstraktionsbasis: »Zur Welt­ bemächtigung bietet sich der Reduktionismus an, weil die auf der Abstraktionsbasis belassenen Merkmalsorten für Statistik und Expe­ riment optimal geeignet sind.«58 Allein, die Beschränkung auf »Merk­ malssorten« ist gleichbedeutend mit dem methodologischen Elemen­ tarismus, der gerade die mereologische Vorbedingung der Experimentalforschung ist. Gleichwohl wird für Schmitz die Ent­ scheidung zwischen impressiven Situationen und der Quantifizierung zur Schicksalswahl, die er mit der Dilthey-Ebbinghaus-Kontroverse illustriert. Hatte Dilthey für die psychologische Beschreibung des Lebens selbst plädiert, stellt ihm Hermann Ebbinghaus die pragma­ tische Wirklichkeit des Experiments entgegen: »Der Psychologe in der Art von Ebbinghaus, der sich besondere Ver­ dienste durch Experimente über das Behalten von Reihen sinnloser Silben erwarb, benützt die ganzheitlichen Situationen mit binnendif­ fuser Bedeutsamkeit, in denen Dilthey das Leben ansiedelt, nur als Steinbruch zur Ausbeutung für die Umdeutung in Konstellationen, Vernetzungen einzelner Faktoren, während Dilthey mit Recht auf die 55 56 57 58

Schmitz: System III/2, S. XII. Schmitz: System III/2, S. XII. Schmitz: Weg Bd. 1, S. 408. Schmitz: Weg Bd. 2, S. 211.

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Künstlichkeit dieses Verfahrens verweist, das Exaktheit durch Lebens­ ferne erkauft, und wenigstens eine Anerkennung des Schadens ver­ langt, der sich zwar nicht eine völlige Beseitigung, wohl aber die Suche nach Heilmitteln zur Linderung mit immer noch rationalen Mitteln anschließen könnte.«59

Durch diese Zuspitzung auf die Wahl der Abstraktionsbasis mutet die Problematik – im Sinne Diltheys – weltanschaulich an. Diltheys Weltanschauungslehre ist historistisch und bietet Naturalismus sowie objektiven und subjektiven Idealismus als drei absolute Optio­ nen an. Schmitz’ Argumentation scheint auf einen ähnlich dezisio­ nistischen Entschluss für impressive Situation oder aber für den Kon­ stellationismus hinauszulaufen. Diese Denkweise erschwert konstruktive Bezugnahmen jedoch erheblich. Schmitz’ diplomatische Beziehungen zur Experimentalpsychologie ähneln einer Kampfan­ sage. Im Austausch mit einem Vertreter der Experimentalpsycholo­ gie, Robert Kirchhoff (s.u.), zieht Schmitz sich auf seinen Standpunkt zurück und schmettert seinem Kontrahenten in einer selbstbewussten Geringschätzung der epistemischen Dignität des Empirischen entge­ gen: »Was er vorbringt, ist machtlos gegen das Phänomen.«60 Schmitz’ methodologische Schließung gegenüber der von ihm als naturwissenschaftlich kategorisierten Psychologie hat nicht verhin­ dert, dass er die empirischen Ergebnisse des Faches zur Kenntnis genommen, ausgewertet und teilweise anerkannt hat. Ein ideales Bei­ spiel ist die ausführliche Besprechung empirischer Befunde im zwei­ ten Teil seiner Choriologie, also in der Arbeit über den Gefühlsraum. Detailliert werden die Befunde des Denkpsychologen Johannes Lind­ worsky besprochen sowie dessen Gefühlstheorie kritisiert.61 Im Falle des US-Amerikaners John Paul Nafe findet Schmitz seine eigenen Gedanken über »[d]ie atmosphärische Ergossenheit persongebunde­ ner Gefühle« empirisch bestätigt: »Eine Versuchsperson von Nafe fand eine Geruchsunlust ›unbestimmt ausgebreitet. Sie scheint grö­ ßer als mein Körper, und mein Körper ist in ihr‹.«62 So wird ersichtlich, dass die Schmitz konvenierende Form psychologischer Methodologie diejenige des illustrierenden Einzelfalls ist – also deskriptive Psycho­ Schmitz: Weg Bd. 2, S. 642. Hermann Schmitz: »Ausdruck zwischen Empirie und Spekulation. Bemerkungen zu dem gleichnamigen Aufsatz von R. Kirchhoff«, in: Zeitschrift für Klinische Psycho­ logie und Psychotherapie 23, 1975, S. 359–366, hier 363. 61 Vgl. Schmitz: System III/2, S. 156–188. 62 Schmitz: System III/2, S. 110. 59

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logie, als die er (am Sinn der Psychometrie vorbei) die experimental­ psychologischen Ergebnisse liest. Insgesamt besteht ein Hiatus zwischen Neophänomenologie und Experimentalpsychologie, denn Methodologie ist ab ovo die Hauptproblematik dieser Art von empirischer Psychologie. Wegen der ideengeschichtlich motivierten Zurückweisung von formalen Pro­ zeduren in Versuchsplanung oder Dateninterpretation bleibt Schmitz die Eigenkomplexität dieser Sachgebiete verschlossen und seine Ein­ schätzung von statistischen Vorgängen, wie der Faktorenanalyse,63 – was nicht anders zu erwarten ist – äußerlich. Für den Brückenbau zwischen beiden Denkarten ist der Untergrund nicht fest genug und die Strömung zu stark. Theoretische Angebote wie Schmitz’ Subjektund Emotionstheorie allein sind indessen nicht ausreichend, um die Experimentalpsychologie zu befruchten, denn der Status der Theorie schlechthin ist in der Psychologie nicht derselbe, wie es für die Phi­ losophie gilt. Ist Theorie in dieser Königin, muss sie sich in jener gemeinschaftlich mit der Psychometrie beweisen. Erforderlich wäre eine Öffnung der (neo-)phänomenologischen Denkart in Richtung der Strukturlogik formalisierter Wissenschafts­ theorie. Wegen des für die phänomenologische Bewegung charakte­ ristischen Anti-Formalismus, der zu den Sachen selbst strebt, besteht in diesem Schritt jedoch eine große Herausforderung, die im Diskurs der phänomenologischen Psychologie (7.) zu bewältigen versucht wird.

6. Psychopathologie Eine größere methodologische Passung besteht zwischen Neophäno­ menologie und klinischer Psychologie, insofern in dieser Einzelfall­ analysen und deskriptive Psychologie selbst unter dem Einfluss des Kognitivismus ihre Bedeutung nicht vollständig eingebüßt haben. Ferner ist der übergeordnete Diskurs der Psychopathologie nicht auf die klinische Psychologie beschränkt, sondern enthält ihren offenen Austausch mit der Psychiatrie und Psychosomatik als Gebieten der Medizin. In diesen Teildisziplinen ist – im Gegensatz zur Psychologie – eine phänomenologische Tradition erhalten geblieben, weswegen 63

Vgl. z.B. Schmitz: System III/2, S. 359.

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die Argumentationsweise der Neophänomenologie unmittelbar anschlussfähig ist. Der Briefwechsel zwischen Schmitz und Thomas Fuchs ist dafür ein lebendiger Beweis.64 Schmitz’ eigener Beitrag zur Psychopathologie entwächst aus seinem systematischen Denken. Beispielsweise bemüht er sich im § 275 seines Systems um eine Deutung und Erklärung der Schizo­ phrenie. Allerdings erhebt er dabei nicht den Anspruch, vom Stand­ punkt der Psychopathologie zu sprechen, sondern macht die Schizo­ phrenie »zum Thema der philosophischen Anthropologie«.65 Die gewählte Vorgehensweise ist erneut stark durch die Ideengeschichte geprägt, da die Begriffsgeschichte von dementia praecox und Schizo­ phrenie mit Blick auf Emil Kraepelin und Eugen Bleuler ausgebreitet wird, bevor Schmitz sie um modernere Positionen der deutschspra­ chigen Psychiatriegeschichte ergänzt. Es folgen symptomatologische Betrachtungen, die Schmitz anhand von Patientenfremd- und -selbst­ berichten entwickelt. Seine Ätiologie bleibt gänzlich mit der Philoso­ phie der Persönlichkeit und persönlichen Situation kongruent: »Daher ist die Explikation von Sachverhalten, Programmen und Pro­ blemen aus der persönlichen Situation bei Schizophrenie mehr oder weniger […] gehemmt«.66 Auf den psychopathologischen Teildiskurs der phänomenologi­ schen Psychiatrie nimmt Schmitz auch bei der Diskussion der Schi­ zophrenie oder anderer Störungsbilder Bezug.67 Wiederholt führt er die Heidelberger Phänomenologie an, insbesondere Karl Jaspers und Hans Walter Gruhle, ferner Hubertus Tellenbach und Wolfgang Blan­ kenburg. Der sog. Wengener Kreis (Ludwig Binswanger, Eugène Minkowski, Victor Emil Freiherr von Gebsattel und Erwin Straus) bleibt hingegen randständig. Indes, für eine neophänomenologische Positionierung im lebendigen Diskurs der Gegenwart ist es inzwi­ schen erforderlich, die jüngere und internationale phänomenologi­ sche Theoriebildung in der Psychopathologie zu berücksichtigen (z.B. Shaun Gallagher, Josef Parnas, Louis Sass, Giovanni Stanghellini). Weil der Diskurs der Psychopathologie in geringerem Maße als derjenige der Psychologie durch (Experimental-)Methodologie geprägt ist, ist die Integration neophänomenologischer Theorieele­ Vgl. Hermann Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 175– 204. 65 Schmitz: System IV, S. 415. 66 Schmitz: System IV, S. 447. 67 Vgl. beispielsweise den Bezug auf Depression in Schmitz: System IV, S. 322–330.

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mente auch ohne entsprechende Vermittlung möglich. Mithin ist der theoretische Diskurs der Psychotherapie grundsätzlich, wie es sich etwa in der sog. dritten Welle der Kognitiven Verhaltenstherapie zeigt, offen und neigt, geleitet von pragmatischen Kriterien des Therapie­ erfolgs, zu Eklektizismus. Eine neophänomenologische Psychopatho­ logie ist daher diskurslogisch denkbar und entsprechende Ansätze sind mit der sog. Prosopiatrie68 und der »Perspektive der Neuen Phä­ nomenologie«69 in Psychiatrie und Psychotherapie bereits vorhan­ den. Eine bedeutsame Hürde für den Erfolg neophänomenologischer Psychopathologie ergibt sich nichtsdestoweniger durch die methodo­ logische Verfassung der sog. Psychotherapieforschung. Ähnlich wie es für die humanistische Psychologie und Psychotherapie gilt, bedeu­ ten die Forschungspraktiken, wie die Paarung von Behandlungs- und Kontrollgruppen, einen institutionellen Maßstab für Therapieerfolg, der weltanschaulich mit den etablierten Formen der Therapie im Objektivismus konvergiert.70 Deswegen verweist schlussendlich selbst die günstige Perspektive für die Neophänomenologie in der Psychopathologie auf den psychologischen Diskurs zurück. Erforder­ lich ist eine phänomenologische Integration in die Psychologie, der das spezifisch Psychologische, insbesondere also die Frage der Metho­ dologie, nicht äußerlich bleibt. Damit ist der Sachbereich der phäno­ menologischen Psychologie erreicht.

7. Phänomenologische Psychologie Zu unterscheiden ist zwischen Phänomenologinnen und Phänome­ nologen, die sich mit psychologischen Themen auseinandersetzen, einerseits – zu ihnen gehört Schmitz, aber auch eine Vielzahl weiterer Mitglieder der phänomenologischen Bewegung, insofern sie selbst in ihren häufigsten Sachfragen eng mit der Psychologie verbunden ist – Vgl. Robby Jacob: »Psychiatrie ohne Psyche«, in: Heinz Becker (Hrsg.): Zugang zu Menschen. Angewandte Philosophie in zehn Berufsfeldern, Freiburg/München 2013, S. 152–177. 69 Wolf Langewitz: »Leib und Körper in der Psychotherapie. Die Perspektiven der Neuen Phänomenologie«, in: Psychotherapie im Dialog 17, 2016, S. 22–28. 70 Vgl. Jürgen Kriz: »Methodologische Aspekte von ›Wissenschaftlichkeit‹ in der Psychotherapieforschung«, in: Psychotherapie und Sozialwissenschaft 6, 2004, S. 6– 31. 68

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und andererseits phänomenologischen Psychologinnen und Psycho­ logen. Weil bei Husserl jene Denkart ohne Differenzierung als »phä­ nomenologische Psychologie« bezeichnet wird, ist hervorzuheben, dass es, insbesondere seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, einen wesentlichen Unterschied gibt. Von der psychologischen Phänomenologie nimmt Schmitz Kenntnis und wiederholt auf sie konstruktiv Bezug. Ein glückliches Beispiel für einen (in erster Linie) philosophischen Kollegen, dessen psychologische Arbeit er würdigt, ist Moritz Geiger. Schmitz kom­ mentiert verschiedene Arbeiten, die Geiger zur Emotionsphilosophie vorgelegt hat. Zu einer Diskussion der Rolle, die die Psychologie in der Phänomenologie allgemein einnimmt, kommt es allerdings nicht. Der Bezug bleibt auf Sachebene und anerkennend. So nennt Schmitz Geigers Forschung »feinsinnig« und »subtil«.71 Geiger lässt sich gemeinhin als realistischer bzw. Gegenstandsphänomenologe beschreiben. So zeigt sich eine gewisse innere Verwandtschaft zwi­ schen der Neophänomenologie und dem Münchner Lager der Phä­ nomenologie, auf das Theodor Lipps einen prägenden Einfluss gehabt hat. Diese Verwandtschaft wird auch an Schmitz’ ambivalentem Ver­ hältnis zu Max Scheler deutlich, der der Münchner Gruppe zeitweise angehört hat. Einerseits präferiert Schmitz Schelers Konzept der Wesensschau gegenüber Husserls Ansatz, lobt es sogar als »gute Phänomenologie«.72 Andererseits weist Schmitz den Kerngedanken in Schelers Philosophie, nämlich seine Wertlehre, als »Hypostasie­ rung«73 zurück, unterstellt mithin einen Idealismus. Hier sei in Par­ enthese lediglich gesagt, dass in dieser Frage interpretatives Potenzial besteht. Schelers Philosophie muss nicht als Idealismus gelesen wer­ den und eine wechselseitige Bezugnahme zwischen Schelerianischer und Neophänomenologie ist als konstruktive möglich.74 Gegenüber Schmitz: System III/2, S. 24, 149. Schmitz: Weg Bd. 2, S. 705. 73 Schmitz: Weg Bd. 2, S. 714. 74 In diesem Sinne argumentiert etwa Volker Schürmann: »Von Schelers Dualismus beispielsweise führt ein mehr oder weniger direkter Weg über Klages’ Dualismus von Geist und Leben zur Erlebnis-Hermeneutik und zum unmittelbaren Spüren bei Her­ mann Schmitz.« (Volker Schürmann: »Max Scheler und Helmuth Plessner. Leiblich­ keit in der Philosophischen Anthropologie«, in: Emmanuel Alloa/Thomas Bedorf/ Christian Grüny/Tobias N. Klaas (Hrsg.): Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen 2019, S. 241–258, hier 250) 71

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Schelers psychologischen Einsichten kommt Schmitz hingegen auch zu positiven Urteilen. Das gilt zum Beispiel für Schelers Auffassung der Fremdwahrnehmung, die »viel Richtiges«75 enthalte. Dennoch läuft dieses Kommentar auf in Schmitz’ Gefühlslehre begründete Kor­ rekturversuche hinaus. Während Schmitz’ Bezugnahme auf die psychologische Phäno­ menologie kursorisch bleibt, nimmt er von der phänomenologi­ schen Psychologie als innerpsychologischer Forschungsart keine gesonderte Kenntnis. Gemeint ist der Versuch, auf phänomenologi­ sche Weise empirisch in der Psychologie zu forschen. Er wurde wie­ derholt unternommen und hat mindestens fünf Gruppierungen des 20. Jahrhunderts bewegt. Ihre Wirkungsstätten sind Kopenhagen, Louvain, Utrecht, Heidelberg und Pittsburgh.76 Schmitz sind die Arbeiten der entsprechenden Forscherinnen und Forscher teilweise vertraut. Beispielsweise findet der Protagonist der Utrechter Schule, Johannes Linschoten, Erwähnung: »Sowie die Spannung empfindlich nachlässt, zerfällt daher der Leib in nur noch locker oder kaum ver­ bundene Inseln, wie es für das Einschlafen der holländische Psycho­ loge Johannes Linschorten [sic] beschrieben hat.«77 Dafür, dass Lin­ schotens methodologische Bemühung Auf dem Wege zu einer phänomenologischen Psychologie78 auf Schmitz gewirkt habe, gibt es indessen keine offenkundigen Hinweise. Der Fall der Heidelberger phänomenologischen Orientierung in der Psychologie wiegt in dieser Hinsicht noch schwerer. Ihr Gesicht war Carl Friedrich Graumann, der ebenso wie Schmitz in den 1950er Jahren an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn (bei Rothacker; Ralph Stöwer erwähnt Graumann und Schmitz nur beiläufig)79 studiert und geforscht hat. Graumanns Habilitations­ schrift ist den Grundlagen einer Phänomenologie und Psychologie der Perspektivität80 gewidmet. Zwar sind Schmitz verschiedene Arbeiten 75 Hermann Schmitz: »Über leibliche Kommunikation«, in: Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie 20, 1972, S. 4–32, hier 10. 76 Dazu vgl. Wendt: »Rückweg«, S. 166ff. 77 Schmitz: Der Leib, S. 25. 78 Vgl. Johannes Linschoten: Auf dem Wege zu einer phänomenologischen Psycholo­ gie, Berlin 1961. 79 Vgl. Ralph Stöwer: Erich Rothacker. Sein Leben und seine Wissenschaft vom Men­ schen, Göttingen 2012. 80 Vgl. Carl F. Graumann: Grundlagen einer Phänomenologie und Psychologie der Per­ spektivität, Berlin 1960.

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Hermann Schmitz und die Psychologie

Graumanns bekannt gewesen, doch beschränkt sich der Verweis erneut nur auf sachliche Detailfragen. Dass Graumanns Ideen zur phänomenologischen Psychologie nicht systematisch auf ihr Anschlusspotenzial geprüft worden sind, ist ein Versäumnis, weil es sich um eine bedeutsame Gelegenheit handelt, Schmitz auch in methodologischen Fragen in die Psychologie einzubringen. Graumann bemühte sich nämlich, im Anschluss an Linschoten,81 um die Idee einer Situationsanalyse als grundlegende Methode der phänomenologischen Psychologie.82 Weil sie letztlich Entwurf geblieben ist, besteht hier auch weiterhin eine Entwicklungs­ gelegenheit einer (neo-)phänomenologischen Psychologie im Sinne der Bewegung »zu den Situationen selbst«.83

8. Schluss: Schmitz als Erlebnispsychologe? Es bedeutet, die Diskurslogik der Philosophie auf die Psychologie zu übertragen, wenn man vermutet, die Gebiete dieser Disziplin seien vornehmlich durch Unterschiede in der Theorie geschieden. Zwar ist es nicht falsch, dass sich zum Beispiel Kognitivismus und Gestaltpsy­ chologie durch ihre Theoriebildung voneinander abgrenzen lassen. Die tragende Differenz findet sich jedoch in der Methodologie, sodass die Philosophie einen wissenschaftstheoretischen Vermittlungs­ schritt leisten muss, wenn sie zu intrapsychologischen Problemen Stellung nimmt. Solange dieser Schritt nicht genommen wird, ist nicht zu erwarten, dass die neophänomenologische Kritik fruchtet. Dass es sich nicht um eine Überforderung der Philosophie handelt, diese Anforderung zu stellen, zeigt sich daran, dass die Wissenschaftsphi­ losophie durchaus imstande ist, die intradisziplinären Argumentati­ onsformen zu adressieren. Ein Beispiel der phänomenologischen

81 Vgl. Carl F. Graumann: »Johannes Linschoten und die Analyse der primären Erfah­ rung«, in: Gerd Jüttemann (Hrsg.): Wegbereiter der Psychologie. Der geisteswissen­ schaftliche Zugang von Leibniz bis Foucault, Weinheim 1995, S. 310–315. 82 Vgl. dazu Carl F. Graumann/Alexandre Métraux: »Die phänomenologische Ori­ entierung in der Psychologie«, in: Klaus A. Schneewind (Hrsg.): Wissenschaftstheo­ retische Grundlagen der Psychologie, München 1977, S. 27–54. 83 Michael Großheim: »Zu den Situationen selbst! Ein Vorschlag zur Reform der Phänomenologie«, in: Synthesis philosophica 66, 2018, S. 303–325.

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Bewegung ist die von Joseph Kockelmans ausgehende – und auf die Psychologie bezogene – Forschung.84 Dass bei Schmitz die entsprechende Anpassung noch nicht in ausreichendem Maße erfolgt ist, ist mit einem abschließenden Bei­ spiel zu illustrieren. Es handelt sich um die (oben erwähnte) »Gelehr­ tenfehde«85 zwischen Schmitz und Kirchhoff. Schmitz hatte sich 1972 mit der Veröffentlichung zweier Vorträge unter dem Titel »Über leib­ liche Kommunikation« in der Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie in das Territorium der seinerzeit in der deutschspra­ chigen Psychologie noch wortmächtigen Ausdruckspsychologie bege­ ben und sich über ihren Schlüsselbegriff, den Ausdruck, im Geiste der Neophänomenologie geäußert. Drei Jahre später kam es zu einer zweiteiligen Erwiderung durch den damaligen Wortführer der Aus­ druckspsychologie Kirchhoff unter dem Titel »Ausdruck zwischen Empirie und Spekulation«,86 die »antikritisch«87 zu retournieren Schmitz direkt anschließend gestattet war. Ohne über die Sachfrage ins Detail zu gehen, lässt sich sagen, dass Schmitz in seinem ursprünglichen Artikel den Ausdrucksbegriff an seine eigene Einfühlungstheorie bindet, also als Form der leibli­ chen Kommunikation, als Einleibung bestimmt: »Durch Einfügung des Ausdrucksverständnisses in das Leistungsspektrum der leiblichen Kommunikation gewinnt der Vorblick auf einen sympathischen, reso­ nanten, mitschwingenden Charakter dieses Verständnisses […] phä­ nomenologisch präziseren Umriß.«88 Es ist hervorzuheben, dass Schmitz diese Erklärung beinahe aus­ schließlich – abgesehen von Klages und Lipps – auf Grundlage seiner eigenen Forschung darstellt, sodass sein Text ohne wohlwollende Lesehaltung wie neophänomenologische Hermetik wirken muss. Dieser Umstand wird in der Polemik zwischen beiden Forschern zum Thema. Kirchhoff ordnet Schmitz in eine psychologisch reaktionäre Tradition »ebenso selbstherrlicher wie selbstgefälliger wie autisti­ scher Spekulation« ein, der er eine neue »Gestalt und Haltung im Vgl. z.B. Joseph J. Kockelmans: Phenomenological Psychology, Dordrecht 1987. Schmitz: »Ausdruck zwischen Empirie und Spekulation«, S. 359. 86 Vgl. Robert Kirchhoff: »Ausdruck zwischen Empirie und Spekulation. Teil 1«, in: Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie 23, 1975, S. 265–275 und ders.: »Ausdruck zwischen Empirie und Spekulation. Teil 2«, in: Zeitschrift für Klinische Psy­ chologie und Psychotherapie 23, 1975, S. 343–358. 87 Schmitz: »Ausdruck zwischen Empirie und Spekulation«, S. 359. 88 Schmitz: »Über leibliche Kommunikation«, S. 17. 84

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Verband anderer empirischer Disziplinen«89 gegenüberstellt. Diese Einschätzung ist nicht fernliegend, wenn die Geschichte der Aus­ druckspsychologie berücksichtigt wird. In dieser sind Klages und Lipps nämlich »Gewährsleute […], die auch nicht eben mehr zu den jüngsten zählen«.90 Schmitz ist, dieses Urteil lässt sich schlecht abweisen, der eigent­ liche Diskurs der empirischen Ausdruckspsychologie der Nachkriegs­ zeit allenfalls oberflächlich vertraut gewesen. So ergibt sich eine erhebliche Diskrepanz zwischen beiden Beteiligten, die im Verlauf der Polemik nicht geheilt werden kann. Kirchhoff versucht Schmitz dabei in bemerkenswerter Schärfe zum Vorwurf zu machen, dessen Beitrag sei »1. nicht neu, 2. überflüssig, 3. nicht haltbar, 4. nicht brauchbar und daher, zumal wegen 3. und 4., schädlich.«91 Dieses sicherlich überzogene Urteil krankt hingegen an der mangelnden Kenntnis der Neophänomenologie auf Seiten Kirchhoffs – sicherlich auch ein Man­ gel an Interesse, dessen persönlicher Grund sich womöglich darin findet, dass der Phänomenologe Graumann ein Jahrzehnt zuvor die Heidelberger ausdruckpsychologische Tradition, zu der auch Kirch­ hoff gehört, gebrochen hatte. Schmitz kontert mit dem analogen Vorwurf der »unzulängli­ che[n] Literaturbenützung«,92 wobei er Kirchhoff nahelegt, die »2257 Druckseiten«,93 die er in seinem Literaturverzeichnis aus seinem eige­ nen Werk angeführt habe, zu konsultieren. Auf die Ebene der Sach­ frage wechselt Schmitz’ Antikritik hingegen nicht mehr. Für Schmitz schien mit seinem ursprünglichen Beitrag zur Frage des Ausdrucks alles gesagt worden zu sein. Dieser Umstand ist für Schmitz’ Verhält­ nis zur Psychologie repräsentativ, denn Kirchhoff war als Vertreter der Ausdruckspsychologie, die in großer Nähe zur Ganzheitspsychologie steht, gewissermaßen ein inhaltlicher Verbündeter und zudem dia­ logbereit. Da Schmitz jedoch nur eine rhetorische Antwort lieferte, ist die Chance eines Dialogs ungenutzt verstrichen. Daran trägt Kirch­ hoff eine Mitschuld, doch seitens Schmitz’ ist entscheidend, dass er die Psychologie eher an der neophänomenologischen Theorie teilha­ ben ließ, als den perspektivenpluralen Austausch zu suchen, in dem 89 90 91 92 93

Kirchhoff: »Ausdruck. Teil 1«, S. 265. Kirchhoff: »Ausdruck. Teil 2«, S. 350. Kirchhoff: »Ausdruck. Teil 2«, S. 355. Schmitz: »Ausdruck zwischen Empirie und Spekulation«, S. 359. Schmitz: »Ausdruck zwischen Empirie und Spekulation«, S. 360.

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reziprok auch die Philosophie von der Psychologie mehr als nur empi­ risch lernen kann. Das offenkundige Misslingen von Interdisziplinarität in der Kon­ troverse Schmitz-Kirchhoff spiegelt das neophänomenologische Potenzial in der Psychologie wider. Anerkennenswert ist sicherlich, dass sich Schmitz auf die Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psy­ chotherapie zubewegt hat, während Kirchhoff die unliebsame Philo­ sophie bloß diskreditierte, doch die Ausgangslage ist nicht symme­ trisch. Es ist Schmitz, der mit seinen ideengeschichtlichen Überlegungen einen Geltungsanspruch für das Fach der Psychologie artikuliert. Die Bringschuld liegt nicht auf Seiten der empirischen Disziplin, sondern ist Auftrag für die Weisheit der Philosophie. Um an dieser Front Fortschritte zu machen, wird mehr erforderlich sein, als über die innerpsychologische Theoriebildung mit dem überlege­ nen Pathos des philosophischen Systems hinwegzureden. Die Zukunft des neophänomenologischen Dialogs mit der Psychologie erfordert Diskurskultur auf Augenhöhe – und inhaltlich ist zur Erneuerung der phänomenologischen Psychologie die Entwicklung von wissenschaftstheoretischen und methodologischen Beiträgen zur theoretischen Psychologie und Messtheorie erforderlich. Von einem Dialog würde die empirische Psychologie profitieren. Ihre Schwächen als positive Wissenschaft liegen im Diskurs ihrer Theorien und eine philosophische Denkart wie die Neophänomeno­ logie, die sich zur empirischen Forschung öffnet, wäre dazu imstande, diesem Diskurs Orientierung zu verschaffen. Wünschenswert ist ein neophänomenologischer Beitrag zur theoretischen Psychologie, deren Bedeutung in den letzten Jahrzehnten zusehends schwächer geworden ist – wobei dieser Bedeutungsschwund inzwischen in eine »Theoriekrise«94 geführt hat. Zu einseitigen Standpunkten wie dem Biologismus kann mit Schmitz’ Leibphänomenologie eine Diskurs­ spannung aufgebaut werden, die zur »Systematik der Kontrover­ sen«95 etwa durch Begriffsbestimmung und -klärung beiträgt. Ziel sollte sein, die beiden Extreme, epistemologischen Fundamentalis­ mus und Szientismus, gleichermaßen zu vermeiden. Mit einer ver­ mittelnden wissenschaftstheoretischen Haltung kann es gelingen, den Untergrund für den philosophisch-psychologischen Brückenbau zu befestigen. 94 Vgl. Klaus Oberauer/Stephan Lewandowsky: »Addressing the theory crisis in psychology«, in: Psychonomic Bulletin & Review 26, 2019, S. 1596–1618. 95 Vgl. Fahrenberg: Theoretische Psychologie.

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Hermann Schmitz und die Psychologie

Am Ende steht der Irrealis von Schmitz’ Psychologie. Zwar ist Schmitz kein Experimental- oder Tiefenpsychologe gewesen, doch seine kontinuierliche Beschäftigung mit den Problemen des Faches lassen die Konturen einer eigenständigen psychologischen Position erkennen. Diese ist trotz biografischer und argumentativer Nähe nicht ganzheitspsychologisch, denn Schmitz’ Anti-Animismus wider­ spricht der »Wiederherstellung der Seelenwissenschaft«96 in dieser Forschungsart. Dieselbe Zäsur trennt Schmitz auch von seinem aka­ demischen Lehrer Rothacker, dem es »um die Seelensubstanz, die überdauernde Seelenstruktur, die substantialistisch, essentialistisch aufgefaßte Persönlichkeit«97 ging. Schmitz’ Verdikt ist unmissver­ ständlich: »Die Psychologie hat recht daran getan, dem Aufruf Fried­ rich Albert Langes zu einer ›Psychologie ohne Seele‹ zu folgen, aber weil sie nur von objektiven Tatsachen wissen wollte, ist daraus eine Psychologie ohne Subjektivität geworden.«98 Mit einer Psychologie der subjektiven Tatsachen folgt Schmitz seinem Vorbild Klages.99 Demnach ähnelt Schmitz’ Philosophie einer Erlebnispsychologie. Dabei ist der Begriff nicht im Sinne der Frühmoderne zu verstehen, also so, wie ihn Karl Bühler 1927 verwendet hat, nämlich als intro­ spektive oder gar solipsistische Reflexion. Vielmehr ist im Wort »Erlebnis« das Leben zu betonen und Psychologie im Geiste von Kla­ ges’ Lebensphilosophie zu verstehen: »Im ›Erlebnis des Momentes‹ einer impressiven Situation ist das Leben in einer Anschauung gegen­ wärtig, die in nuce alles umfasst, was irgendwo und irgendwann als Leben Geschehen möglich macht«.100

96 Albert Wellek: Die Wiederherstellung der Seelenwissenschaft im Lebenswerk Felix Kruegers, Hamburg 1950. 97 Theo Hermann: »Psychologiekonzepte Bonner Psychologen«, in: Geschichte der Psychologie 45, 2006, S. 6–36, hier 25. 98 Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 8. 99 Vgl. Michael Großheim: Ludwig Klages und die Phänomenologie, Berlin 1994. 100 Schmitz: Weg Bd. 2, S. 638.

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Niko Strobach

Das chaotische Mannigfaltige als Herausforderung für die Logik1

1. Einleitung Der folgende Beitrag greift ein Fachwort auf, das Hermann Schmitz seit 1964 verwendet hat: »chaotisches Mannigfaltiges« bzw. »chaoti­ sche Mannigfaltigkeit«.2 Meine Textgrundlage dafür sind einschlä­ gige Passagen aus zwei Büchern, die Schmitz recht spät im Laufe sei­ nes Schaffens veröffentlicht hat: Logische Untersuchungen3 und Kritische Grundlegung der Mathematik4. Schmitz war über die moderne Logik gut informiert. Er hat sich weder gescheut, noch sich scheuen müssen, in logischen Dingen fach­ sprachlich mitzureden. Die von ihm gestaltete Fachsprache der Neuen Phänomenologie hat ihn nicht monolingual werden lassen. Dass er alle Entwicklungen hätte im Blick haben sollen, die seine Fragestel­ lungen berühren könnten, wäre zu viel verlangt. Viele gewichtige Thesen der beiden genannten Bücher, die weit über mein gewähltes Stichwort hinausgehen, kann ich hier nicht untersuchen.5 Auch kann ich, was dort über das chaotische Mannig­ faltige steht, nicht in den Zusammenhang von Schmitz’ System ein­ ordnen, das ich nicht überblicke. Man hört manchmal, dass neuere, insbesondere englischsprachige Autoren die großen Systeme von Klassikern wie Hegel als Steinbrüche benutzen. Das ist zwar ein heik­ les Vorgehen, aber so muss ich es hier auch halten. Ich danke Tobias Martin für hilfreiche Anmerkungen zu diesem Text. Hermann Schmitz: Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg/München 2013, S. 78. 3 Hermann Schmitz: Logische Untersuchungen, Freiburg/München 2008. 4 Schmitz: Grundlegung, v.a. Kap. 6. 5 Zum Beispiel müssen hier die logischen Antinomien ganz unberücksichtigt bleiben, zu denen sich Schmitz eingehend geäußert hat (Schmitz: Untersuchungen, S. 115–143 und ders.: Grundlegung, S. 109–138). 1

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Niko Strobach

Immerhin – hier ist ein Konzept, das mir deshalb bemerkenswert scheint, weil es eine Herausforderung beinhaltet. Dieser Herausfor­ derung ist meiner Meinung nach noch nicht adäquat begegnet wor­ den. Bemerkt man sie, so kann Schmitz auch wirken, indem er mahnt, sich ihr zu stellen. Sie steht im Kontext eines Motivs, dass in den Logischen Untersuchungen präsent ist, aber auch etwa im Kontrast zwischen Situation und Konstellation. Von Schmitz’ Fachsprache absehend mag man es so formulieren: Nicht-Einzelnes, Nicht-Ver­ einzeltes, Amorphes soll zu seinem Recht kommen. Man sollte darüber reden können, sagen können, dass es derlei gibt. Aber wenn man eine formale Sprache als Mittel dazu sieht, das klar und seiner Ausdrucksressourcen bewusst zu tun, so sucht man im zurzeit vor­ handenen Angebot an solchen Sprachen vergeblich. Schmitz schätzte die moderne Mengenlehre und die »Riesenleistung« von Georg Can­ tor.6 Aber er wusste auch eindrücklich darauf aufmerksam zu machen, wie sehr – bewusst oder unbewusst – das Denken mit Mengen eine bestimmte Weltauffassung favorisiert und eine andere aus dem Blick geraten lässt. Im Folgenden möchte ich darauf hinweisen, was zurzeit fehlt. Dazu möchte ich zunächst (§ 2) an einigen Zitaten von Schmitz umreißen, was das Wesentliche am chaotischen Mannigfaltigen ist, das es zur Herausforderung macht. Ich möchte dann (§ 3) auf die Vor­ aussetzungen hinweisen, die es der üblichen modernen Prädikaten­ logik unmöglich machen, das chaotische Mannigfaltige zu berück­ sichtigen. Sodann möchte ich zwei formale Sprachen betrachten, die auf den ersten Blick bessere Chancen zu haben scheinen, das chaoti­ sche Mannigfaltige zu berücksichtigen. Ich möchte zeigen, dass sie dazu bei genauerer Betrachtung ebenfalls nicht zufriedenstellend in der Lage sind: die Mereologie genannte Logik von Teil und Ganzem (§ 4) und die erst seit 2016 in abgeschlossener Form vorliegende Plu­ rallogik von Alex Oliver und Timothy Smiley (§ 5). Schließlich möchte ich kurz auf die Theorie der Quasi-Mengen von Decio Krause eingehen (§ 6). Das Ergebnis (§ 7) ist aporetisch: So funktioniert es noch nicht. Es ist zu hoffen, dass sich etwas Besseres findet. Dafür können einige präzise Postulate von Schmitz bedenkenswert sein. Ich versuche, möglichst nichttechnisch deutlich zu machen, worum es geht. Vielleicht gibt der Beitrag damit auch Lesern des vor­ liegenden Bandes, die einen ganz anderen gedanklichen Hintergrund 6

Vgl. Schmitz: Untersuchungen, S. 32.

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Das chaotische Mannigfaltige als Herausforderung für die Logik

haben, zumindest einen gewissen Eindruck davon, womit sich Schmitz, unter vielem anderen, auch beschäftigt hat.

2. Das chaotische Mannigfaltige bei Hermann Schmitz Die folgenden, stark aufbereiteten Zitate mögen einen Eindruck davon geben, was Schmitz unter dem chaotischen Mannigfaltigen verstanden hat. Schmitz berichtet: »Di[e] [...] Mannigfaltigkeit [, die ein schlichter Ausfall der Einzelheit ist,] habe ich seit 1964 als die chaotische beschrieben. [Es gibt] zwei wesentlich verschiedene Typen des chaotischen Mannigfaltigen […], das konfuse und das diffuse, von denen nur noch der erste Typ die alte Charakteristik verdient.«7

Die Wörter »Mannigfaltiges« und »Mannigfaltigkeit« verwendet Schmitz offenbar austauschbar. 1964 hat er das chaotische Mannig­ faltige überhaupt als schlichten Ausfall der Einzelheit charakterisiert. 2013 charakterisiert er nur noch das konfuse chaotische Mannigfaltige als schlichten Ausfall der Einzelheit. Diese Differenzierung bedeutet aber nicht, dass zum Inhalt des diffusen chaotischen Mannigfaltigen nun doch Einzelnes gehört, sondern nur, dass in seinem Falle der Ausfall der Einzelheit kein schlichter ist. Was das genau heißt, soll hier keine Rolle spielen. Warum ist nichts Einzelnes darin? Einzelnes kann man im Prinzip zählen. Zum chaotischen Mannigfaltigen ganz allge­ mein, diffus wie konfus, hält Schmitz jedoch 2013 fest: »Das chaoti­ sche Mannigfaltige lässt gar keine Anzahl zu.«8 Jedenfalls gilt dies – eine weitere Differenzierung – für das rein chaotische Mannigfaltige: »[D]ie Inhalte eines rein [d.h. von Einsprengseln mit Einzelheit freien;9 N.St.] chaotische[n] Mannigfaltigen [sind] nicht einzeln […].«10 Inhalte des chaotischen Mannigfaltigen weisen »un-zählige[..] Vielheit«11 auf. Ihre Nichtzählbarkeit ist auch darin begründet, dass, was Inhalt eines chaotischen Mannigfaltigen ist, nicht einmal selbsti­ Schmitz: Grundlegung, S. 78. Schmitz: Grundlegung, S. 82. 9 Ergibt sich aus Schmitz: Grundlegung, S. 80. 10 Schmitz: Grundlegung, S. 81. 11 Schmitz: Grundlegung, S. 81. 7

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dentisch ist, ja geradezu ein Beispiel für Nicht-Selbstidentisches ist: »Im konfusen Mannigfaltigen fehlt es sogar schon an absoluter Iden­ tität [ungefähr: etwas-selbst-sein; N.St.] […].«12 »[Die] Bedingung [›x≠x‹] [ist] nicht unerfüllbar, da sie von allen Inhalten eines rein konfusen, ja sogar eines […] rein diffusen chaotischen Mannigfalti­ gen erfüllt wird […].«13 Im Kontrast zum chaotischen Mannigfaltigen stehen das spältige Mannigfaltige und das numerisch Mannigfaltige,14 dessen Inhalt zählbares Einzelnes ist. Es wäre nach Schmitz ein doppelter Fehler, nur dem Inhalt des numerisch Mannigfaltigen Existenz zuzugeste­ hen. Einerseits argumentiert er dafür, dass der Ausdruck »für min­ destens ein x gilt…« selbst im Bereich des numerischen Mannigfalti­ gen keinesfalls synonym ist mit »es existiert mindestens ein x, so dass gilt…«.15 Andererseits liegt es für ihn auf der Hand, dass chaotisches Mannigfaltiges existiert – und dies, obwohl auf seinen Inhalt noch nicht einmal der Ausdruck »für mindestens ein x gilt…« anwendbar ist: »Existenz wird mit Einzelnsein im numerischen Mannigfaltigen gleichgesetzt, und das ist falsch, weil es auch andere Typen von Man­ nigfaltigkeit gibt.«16 Was sind nun Beispiele für chaotisches Mannigfaltiges? Als Begründer der Neuen Phänomenologie führt Schmitz zunächst einen Fall aus dem Bereich der mentalen Zustände als Beispiel für konfuses Mannigfaltiges an (»das Aufleuchten eines reichhaltigen Gedan­ kens«).17 Ich muss gestehen, dass ich damit ebenso wenig anfangen kann wie mit der Persönlichkeit18 als weiterem Beispiel – und noch weniger mit dem Kauen, Klavierspiel und Motorradfahren als etwas, das in den Bereich des diffusen Mannigfaltigen fällt.19 Verständlicher finde ich die folgenden Beispiele für konfuses Mannigfaltiges.20 Schmitz assoziiert sie mit dem Stichwort »Kontinuum«.21 »Hierhin [d.h. ins konfuse Mannigfaltige; N.St.] gehören auch räumliche Ganzfelder wie das Dunkel der Nacht, der unbewölkte Schmitz: Grundlegung, S. 78. Schmitz: Grundlegung, S. 93. 14 Vgl. Schmitz: Grundlegung, S. 81f. 15 Schmitz: Grundlegung, S. 82 sowie ders.: Untersuchungen, S. 50f. Details dazu fin­ den sich in Anhang A dieses Beitrags. 16 Schmitz: Grundlegung, S. 82. 17 Schmitz: Grundlegung, S. 78. 18 Schmitz: Grundlegung, S. 79. 19 Vgl. Schmitz: Grundlegung, S. 79f. 20 Vgl. Schmitz: Grundlegung, S. 79. 12

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Himmel und das Wasser für den Schwimmer, der sich gegen den Widerstand einer formlosen Masse vorwärts kämpft oder von ihr tra­ gen lässt.«22 Die Wortwahl changiert zwischen phänomenologischem und ontologischem Modus der Beschreibung. Ich vermute, dass das bei Schmitz, der seine Worte mit größter Sorgfalt wählt, Programm ist, ja dass, was auf mich changierend wirkt, wohl gerade typische Ausdrucksweise der Neuen Phänomenologie ist. Was mir hier ein Verständnisproblem bereitet, lässt sich viel­ leicht am besten mit einem, wie mir scheint, analogen Problem ein­ führen, das ich mit Schmitz’ Gebrauch seines zentralen Ausdrucks »Leib«23 habe: Ist der Leib mein lebendiger Körper selbst als mir erscheinender – sozusagen mein Körper in der Gegebenheitsweise der Binnenperspektive und somit numerisch identisch mit diesem (ähn­ lich wie beim Ding an sich in Henry Allisons24 rollentheoretischer Kant-Deutung)? Oder ist der Leib von meinem lebendigen Körper numerisch distinkt – ein reines Phänomen, von dem phänomenolo­ gisch nicht einholbar ist, in welchem Verhältnis, zum Beispiel dem einer Repräsentation, er zu meinem Körper steht? Analog dazu fällt es mir im Falle der genannten Ganzfelder schwer zu entscheiden, ob sie Phänomene sein sollen oder aber Wirk­ liches, das aufgrund seiner Formlosigkeit als formlos repräsentiert wird. Ist mit »Wasser für den Schwimmer« das Wasser gemeint – oder aber ein Wasser-Phänomen? (Von phänomenalem Wasser wird man schwerlich reden können.) Es mag durchaus sein, dass man im Sinne jeder der beiden Alternativen eine Herausforderung für bisher übliche Logiken formulieren kann, wobei strukturell kein allzu großer Unter­ schied bestünde: Ob nun Ganzfelder Phänomene sind oder Wirkli­ ches – in jedem Fall stellt sich die Frage, wie man sich darüber aus­ drücken soll. Im Folgenden werde ich freilich nur der zweiten Alternative nachgehen, da sie für mich fasslicher ist. Sie lässt eine Verbindung aufscheinen zwischen Schmitz’ chaotischem Mannigfal­ tigen (wenigstens der Sorte konfus) und der wenig geklärten ontolo­ gischen Fundierung einer Semantik von Massentermen wie z.B. »Wasser«. Es ist diese Verbindung, die mir Schmitz’ Ausführungen Schmitz: Grundlegung, S. 78. Schmitz benutzt hier das Wort »Kontinuum« im ursprünglichen Sinn, also gerade nicht im topologisch-mathematischen Sinn für eine Punktmenge mit bestimmten Eigenschaften. 22 Schmitz: Grundlegung, S. 79. 23 Vgl. dazu einführend Hermann Schmitz: Der Leib, Berlin/Boston 2011. 24 Vgl. Henry E. Allison: Kant’s Transcendental Idealism, New Haven 1983. 21

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zum chaotischen Mannigfaltigen als besonders relevant erscheinen lässt. In der Tat ist Wasser un-zählig, auch wenn Kellen oder Liter Wasser zählbar sind. Portionen Wasser sind nicht dasselbe wie Was­ ser selbst. Nachdem der Begriff des chaotischen Mannigfaltigen für die Absicht dieses Beitrags hinreichend deutlich geworden ist, ist es nun möglich, sich einigen formalen Sprachen zuzuwenden und zu sehen, inwiefern und warum diese das chaotische Mannigfaltige nicht erfas­ sen können.

3. Die prädikatenlogische Standardsprache PL Weltweit steht heutzutage am Beginn eines Philosophiestudiums ein einführender Logikkurs, in dem die Studierenden bald Bekanntschaft machen mit einer prädikatenlogischen Sprache der ersten Stufe mit hinzugefügtem Identitätszeichen. Solche Sprachen teilen viele Züge mit der (ursprünglich ganz anders notierten) Begriffsschrift von Gott­ lob Frege.25 Es hat aber bis in die 1930er Jahre gedauert, bis sie sich deutlich herausgebildet haben und Klarheit über ihren systematischen Status erreicht war. Seit inzwischen vielen Jahrzehnten werden solche Sprachen als mit einer mengentheoretischen Semantik versehen gelehrt. Es gibt einigen Spielraum für die Definition einer solchen Sprache, aber letztlich funktionieren Sprachen dieser Art alle gleich. Eine solche Sprache wird eingeführt durch Angabe einer Syntax, die eine kleine Anzahl von Grundzeichen festlegt und definiert, welche Ketten solcher Grundzeichen wohlgeformte Formeln sind, und durch die Definition einer mengentheoretischen Struktur, die man Modell nennt. Im Prinzip in diesem Sinne hat Alfred Tarski seit 1935 das deutsche Wort »Modell« gebraucht.26 25 Vgl. Gottlob Frege: Begriffsschrift, eine der arithmetischen nachgebildete Formelspra­ che des reinen Denkens, Halle 1879 [Nachdruck Hildesheim 1998]. 26 Alfred Tarski: »Über den Begriff der logischen Folgerung«, in: Actes du Congrès international de philosophie scientifique. Sorbonne, Paris 1935. Vol. VII: Logique, Paris 1936, S. 1–11, hier 8. Laut Wilfrid Hodges kommt der Ausdruck »model theory« zum ersten Mal vor in Alfred Tarski: »Contributions to the theory of models, I.«, in: Inda­ gationes Mathematicae 16, 1954, S. 572–581 (vgl. Wilfrid Hodges: »Model Theory«, in: Edward N. Zalta (Hrsg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2022 Edition) [online]).

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Es sei hier eine bestimmte solche Sprache betrachtet, die PL hei­ ßen soll.27 Einzelheiten der Syntax müssen hier nicht interessieren, da es genügen wird, einige recht einfache Formeln zu betrachten. Zu den Grundzeichen von PL gehören unter anderem das einstellige Prä­ dikat »F«, das Identitätszeichen »=«, Variablen (»x«, »y« etc.) und der Quantor »∃«. Eine besonders einfache Formel ist »Fx«, die man als »x ist F« vorlesen mag. Ein Modell für PL hat zwei Zutaten. Die erste Zutat ist eine nichtleere Menge, die man oft den Redebereich D nennt. Die zweite Zutat ist eine Funktion, oft I genannt, welche die Information darüber enthält, wovon die Prädikate prädiziert werden. Sie ordnet unter anderem dem einstelligen Prädikat »F« eine Teilmenge des Redebe­ reichs zu: die Menge der Fs. Damit Formeln Bedeutung erhalten, muss zudem angegeben werden, welches Element des Redebereichs wie heißt.28 Dies geschieht durch eine weitere Funktion, die jeder Variablen ein Element des Redebereich zuweist. Es muss dabei nicht jedes Element des Redereichs eine Variable abbekommen; andererseits ist es erlaubt, dass z.B. sowohl »x« als auch »y« dasselbe Element des Redebereichs zugewiesen wird. Man nennt eine solche Funktion eine Belegung der Variablen. Typische Namen für Belegungen sind »β«, »β´« etc. Es lässt sich nun eine interessante Eigenschaft definieren, die eine Formel relativ auf ein Modell M, bestehend aus DM und IM, und eine gegebene Belegung β bezüglich DM hat. Es liegt nahe, diese Eigen­ schaft Wahrheit zu nennen, und so soll es hier geschehen.29 Wie die Definition im Allgemeinen aussieht, muss hier nicht interessieren. Für einen Eindruck genügen die folgenden Konsequenzen aus ihr für ein gegebenes Modell M:

27 PL hat freie Variablen und ist genauer beschrieben z.B. in Niko Strobach: Einfüh­ rung in die Logik, Darmstadt 2005. Die 5. Auflage dieses Buches (erschienen 2019) benutzt einen etwas anderen Dialekt (mit Konstanten und Kanger/Mates-Semantik). 28 »Heißen« soll hier nicht implizieren, dass es sich bei einer Variablen um einen Namen handelt. Ich sehe darin zwar kein Problem, aber es ist kein Konsens. 29 Entscheidet man sich dafür, so hält man es für zulässig, von Wahrheit relativ auf (u.a.) eine Belegung zu sprechen. Man entscheidet sich zugleich dafür, dass auch für eine Formel mit freien Variablen Wahrheit in Frage kommt. Nicht selten heißt es stattdessen, dass ein Modell relativ auf eine Belegung die Formel erfüllt bzw. dass die Formel unter einer Belegung durch das/von dem Modell erfüllt wird.

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(i)

»Fx« ist genau dann relativ auf M und β wahr, wenn β(x) Ele­ ment von IM(F) ist. (ii) »x=y« ist genau dann relativ auf M und β wahr, wenn β(x) auch β(y) ist. (iii) »x=x« ist genau dann relativ auf M und β wahr, wenn β(x) auch β(x) ist (also immer). (iv) »∃xFx« ist genau dann relativ auf M und β wahr, wenn es wenigstens eine – ansonsten mit β völlig übereinstimmende – Belegung β´ gibt, so dass Folgendes gelingt: β´ ordnet »x« einem Element des Redebereichs D so zu, dass »Fx« relativ auf M und β´ wahr ist. Dies wird genau dann gelingen, wenn wenigstens ein Element des Redebereichs ein Element von IM(F) ist. Man kann deshalb »∃xFx« vorlesen als »Mindestens ein x ist F«.30 (v) Da man in PL den Negator »~« (gelesen als »es ist nicht der Fall, dass«) und ein Identitätszeichen zur Verfügung hat, kann man in PL selbst manches zur Größe des Redebereichs aussagen. Man kann ∀x als Abkürzung für ~∃x~ zulassen (x ist irgend­ eine Variable). »Für alle…« heißt demnach dasselbe wie »Noch nicht einmal für einige … nicht«). Deshalb bedeutet zum Bei­ spiel »∃x ∀y x=y« (»Es gibt ein x, so dass jedes y mit ihm iden­ tisch«) soviel wie »Alles ist eins« bzw. »Es gibt überhaupt nur eines«. Mit einem kleinen Trick lässt sich auch ausdrücken, dass der Redebereich genau zwei Elemente hat etc. (vi) Mit dem Allquantor und dem Identitätszeichen lässt sich aus­ drücken, dass es zu jeglichem etwas gibt, womit es identisch ist (es selbst), und zwar mit der Formel »∀x ∃y x=y«. (vii) Mit dem Allquantor, dem Identitätszeichen und einem aussa­ genlogischen Zeichen für (das inklusive) »oder« lässt sich fer­ ner ausdrücken, dass je zwei Elemente eines Redebereichs von­ einander unterschieden sind, und zwar zum Beispiel mit der Formel »∀x∀y (x=y ∨ ~x=y)« (»Für jedes x und y gilt: x ist identisch mit y oder verschieden davon«). Wozu sind Modelle gut? Sie verschaffen einen klaren Begriff davon, wann eine Formel aus strukturellen Gründen nicht anders als wahr sein kann. Es wird nämlich dies gerade eine solche Formel sein, die von jedem Modell M relativ zu jeder Belegung bezüglich DM wahr 30 Üblich ist auch: »Es existiert mindestens ein x, so dass x F ist.« Schmitz war gegen diese Leseweise. Vgl. dazu Anhang A.

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gemacht wird. Man nennt eine solche Formel PL-allgemeingültig.31 Von den gerade erwähnten sieben Formeln sind allein die unter (iii), (vi) und (vii) erwähnten Formeln PL-allgemeingültig. Der Begriff des Modells ermöglicht es, die Qualität einer Axio­ matik für eine Sprache einzuschätzen: Sind die aus den Axiomen beweisbaren Formeln allesamt allgemeingültig?32 Sind alle allge­ meingültigen Formeln daraus beweisbar? Ist die Antwort auf beide Fragen »ja« und die Axiomatik dabei auch noch recht überschaubar, dann ist es sehr gut gelungen, dasjenige, was die Sprache ausdrücken kann, mit wenigen Gesetzen zu systematisieren. Dies ist für PL der Fall. Dass dieses Ergebnis erzielt werden konnte, ist eine Errungen­ schaft. Es ist gut, PL-Modelle zu haben. Man legt sich mit ihnen aber auch auf manches fest. Das wird selten thematisiert, geschweige denn problematisiert. Die Semantik von PL wurde, wie es in Lehrbüchern Standard ist, gerade in einer (Meta-)Sprache der Mengenlehre formuliert. Der Redebereich eines PL-Modells ist demnach eine Menge. Nimmt man diese Modelle semantisch ernst, so bezieht man also Stellung zur Frage, ob Prädikatenlogik oder aber Mengenlehre das Fundamentalere ist. Die unausweichliche Antwort ist dann: »Mengenlehre« – selbst wenn man für ihre Charakterisierung ein Fragment des Deutschen benutzt, das grammatisch PL ziemlich ähnelt. Felsenfest ist dieses Fundament nicht: Man weiß, dass man auf Widerspruchsfreiheit hier nur hoffen kann.33 Warum hieß es gerade nicht »die Mengenlehre«? Mir ist kein einführendes Logikbuch bekannt, in dem die Frage behandelt wird, welche Mengenlehre eigentlich die für die Definition des PL-Modells einschlägige Metasprache ist.34 Es gibt hier wenigstens zwei Mög­ lichkeiten: Ferner erlauben Modelle einen klaren Begriff davon, wann eine PL Formel aus einer gegebenen Menge von Formeln, den Prämissen, als Konklusion semantisch folgt; nämlich gerade dann, wenn es kein Modell M und keine Belegung β bezüglich DM gibt, so dass zwar die Prämissen relativ auf M und β wahr sind, die Konklusion dies aber nicht ist. 32 Man kann sich die entsprechenden Fragen auch für einen Kalkül des natürlichen Schließens oder ein System von Tableau-Regeln stellen. Axiomensysteme kommen aus der Mode, Tableaux haben sich weitgehend durchgesetzt. 33 Vgl. Heinz-Dieter Ebbinghaus: Einführung in die Mengenlehre, Berlin 2021, S. 14, 179. 34 Auch die fünfte Auflage von Strobach: Einführung ist keine Ausnahme. 31

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(1) Die in der Mathematik übliche Mengenlehre ZFC; (2) ZFC mit Urelementen, hier: ZFCU. Bei ZFC handelt es sich um eine reine Mengenlehre.35 Alle Elemente von Mengen sind wiederum Mengen. Ausgangspunkt ist die axio­ matisch postulierte leere Menge. ZFC zufolge können Menschen oder Tiere, Tische oder Stühle keine Elemente von Mengen sein.36 Das ist den Mathematikern ganz recht, denn in die Mengenlehre sollen sich nicht irgendwelche kontingenten Entitäten einmischen. Ich glaube, dass es den mit formaler Semantik Befassten in der Regel anders geht. Sie möchten gerne Modelle haben, in deren Rede­ bereichen Menschen oder Tiere, Tische oder Stühle vorkommen. Wer mit ZFC arbeitet, muss jedoch Mengen als Stellvertreter benutzen, denn etwas anderes als eine Menge kann kein Element eines Rede­ bereichs sein, der eine Menge im Sinne von ZFC ist. Will man natür­ lichsprachliche Aussagen oder Argumente betrachten, so muss man sie nachstellen. Zum Beispiel kann man die leere Menge als Element des Redebereichs zulassen und ihr den (metasprachlichen) Namen »Fritz« geben. In einem weit verbreiteten Lehrbuch wird an die »Fx« entsprechende Formel mit der Deutung »Fritz schnarcht« herange­ führt.37 Ich glaube nicht, dass die Autoren beim Schreiben an eine Menge gedacht haben. Ich vermute daher, dass an formaler Semantik Interessierte – mehr oder weniger bewusst – als Metasprache für PL-Modelle ZFCU zugrunde legen. ZFCU hat einige Axiome mehr als ZFC.38 Mathema­ tikern ist ZFCU dagegen tendenziell suspekt – vielleicht zu Recht. Gleichsam als Platons Rache stellt sich die Frage: »Wann ist denn Fritz Eine recht ambivalente Einschätzung der reinen Mengenlehre findet sich in Schmitz: Grundlegung, S. 93. Schmitz befürwortete eine kontrastive Definition der leeren Menge. Wie wenig das dem mathematischen Mainstream entspricht, war ihm dabei zweifellos bewusst. 36 Man versteht – selbst wenn nicht explizit festgehalten – nach den Axiomen eine Abschlussklausel, die sichert, dass keine Menge im Sinne der Theorie existiert, deren Existenz nicht durch die Axiome gesichert ist. Ernst Zermelos Mengenlehre von 1908 wird hingegen ohne Abschlussklausel gedeutet und erlaubt Urelemente. 37 Vgl. Franz Kutschera/Alfred Breitkopf: Einführung in die moderne Logik, Freiburg 1979, S. 71. 38 Urelemente, die, wie die leere Menge auch, keine Elemente haben, müssen als Nichtmengen von dieser unterschieden werden. Und es ist etwas (wenn auch nichts sehr Ergiebiges) zur Identität von Urelementen festzuhalten. Vgl. z.B. Steven French/ Decio Krause: Identity in physics. A historical, philosophical, and formal analysis, Oxford 2006, S. 275f. 35

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ein Element irgendeiner Menge?« Man sollte diese Frage nicht auf die leichte Schulter nehmen. Das Problem stellt sich für Elemente von ZFC-Mengen nicht: Eine Menge ist zu keiner Zeit Element einer Menge. Denn Mengen sind nicht nur abstrakte und immaterielle Entitäten, sie sind auch zeitlos.39 Wer ernsthaft mit Mengen arbeitet, verpflichtet sich auf solche Entitäten, auch der ZFCU-User. Bloß weil eine Menge im Sinne von ZFCU konkrete Elemente haben kann, ist sie noch lange nicht selber konkret. Das wird oft verkannt: Peter Simons führt in seiner prächtigen Polemik gegen die Mengenlehre erschütternde Belege aus Lehrbüchern an, in denen unter anderem ein Vogelschwarm zur Menge erklärt wird.40 Wenn es Vogelschwärme gibt (vielleicht gibt es auch nur einzelne Vögel), dann sind sie viel zu konkret, um Mengen sein zu können. Nehmen wir an, gegen Platons Rache lässt sich irgendein Bann finden und man kann guten Gewissens Redebereiche von üblichen PL-Modellen als ZFCU-Mengen verstehen. Was kommt darin als Urelemente in Frage?41 Es ist da weit mehr ontologische, auch kate­ goriale, Vielfalt möglich, als einen die üblichen Beispiele mit Men­ schen und Tischen aus Übungen in Lehrbüchern vermuten lassen. Urelemente können materielle Entitäten sein, müssen es aber nicht. Sie können Teile sein und Teile haben. Lässt man Entitäten der Sorte Ansammlung zu – und wie sonst könnte man Ansammlungen zählen? –, so kann auch eine Ansammlung von Atomen ein Urelement einer ZFCU-Menge sein; aber auch eine Eigenschaft,42 eine Zahl, ein Leben, ein Sachverhalt, eine Menschengruppe, ein Bankkonto, ein Gravita­

Mengen sind abstrakt, aber keine Universalien, sondern jede Menge ist ein Ein­ zelnes – in der Fachsprache Freges ein Gegenstand. Anders, als Willard Van Orman Quine glaubte (vgl. Willard Van Orman Quine: Word and Object, Cambridge/Mass. 1960, S. 233), besteht der Unterschied zwischen Nominalisten und (Universa­ lien-)Realisten nicht darin, dass erstere abstrakte Objekte ablehnen, während letztere sie akzeptieren. Quine ordnet sich selbst konsequent, aber irrtümlich als Universali­ enrealist ein. 40 Vgl. Peter Simons: »Against Set Theory«, in: Johann Marek/Maria Reicher (Hrsg.): Experience and Analysis. Proceedings of the 2004 Wittgenstein Sympposion, Wien 2005, S. 143–152. 41 Verwenden wir tatsächlich Redebereiche ZFC-Mengen mit Stellvertretern, so ist die entsprechende Frage: Was qualifiziert dazu, von einer Menge vertreten werden zu können? 42 In höherstufigen Prädikatenlogiken werden Eigenschaften als mengentheoretische Entitäten über dem Redebereich modelliert, aber das ist nicht zwingend. 39

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tionsfeld, ein Staat, eine Datei, ein bestimmtes Weiß einer Wand, ein Fußballspiel, eine Galaxie, vielleicht ein Lächeln. Einer Bedingung muss jedoch genügen, was im Redebereich eines üblichen PL-Modells vorkommt: Da ein solcher Redebereich per defi­ nitionem eine Menge ist, muss es ontologisch fähig dazu sein, ein Element einer Menge zu sein. Nun ist es nicht gesagt, dass es irgend­ etwas gibt, das nicht dazu in der Lage ist. Vielleicht ist jegliches Sei­ ende eine Entität, und Entitäten sind qua Entitäten dazu fähig, Ele­ mente von ZFCU-Mengen zu sein. Vielleicht aber auch nicht. Schmitz war offenbar der Ansicht, dass nicht, und er vermag damit für den Gedanken zu sensibilisieren, dass womöglich nicht jegliches Seiendes fähig ist, Element einer Menge zu sein. Chaotisches Mannigfaltiges, insbesondere konfuses (bzw. etwas von seinem Inhalt), falls es derlei gibt, ist dazu offenbar nicht fähig. Denn Elemente von Mengen, so verschiedenartig sie gerade als Urelemente sein mögen, lassen sich zählen. Jede Menge hat eine Mächtigkeit, hat so-und-so viele Ele­ mente.43 Die Möglichkeit, bei der Aufzählung möglicher Urelemente den unbestimmten Artikel »ein(e)« zu verwenden, hat uns gerade Kandidaten für das Elementsein einer ZFCU-Menge verschafft. Für Elemente von endlichen Mengen passt sehr gut das Schlagwort »Ein­ zeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt.«44 Was überhaupt fähig sein soll, Element einer Menge zu sein, muss fähig zur Identität mit sich selbst und zur Verschiedenheit von anderem sein. Für Mengen ist das trivial. Für Urelemente sieht man das an einem typischen Axiom von ZFCU, das besagt: Urelement e ist genau dann mit Urelement e´ ZFCU-identisch, wenn e´ Element jeder Menge ist, von der e Element ist. Das ist angemessen. Denn damit e mit e´ ZFCU-identisch ist, muss demnach e auch Element von {e´} sein: der Menge, die e´, und nichts anderes, als Element hat. Fragt jemand im Ernst nach, was »nichts anderes« heißt, so wird man umschreiben müssen: der Menge, die zwar e´ als Element hat, aber nichts, was mit e´ nicht identisch ist. Die ZFCU-Identität setzt also externe Identi­

Dabei sind verschieden mächtige unendliche Mengen möglich (vgl. Ebbinghaus: Einführung, S. 123). 44 Schmitz: Untersuchungen, S. 31. Warum »endlich« (ders.: Grundlegung, S. 30)? Erweitert man die Menge der natürlichen Zahlen, N, um die Quadratwurzel von 2 (ZFC) oder um den Eiffelturm (ZFCU), so hat das Ergebnis die gleiche Mächtigkeit wie N. 43

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tätsbedingungen für die Urelemente voraus.45 Soviel ist Wahres dran an Willard Van Orman Quines Slogan »No Entity without Iden­ tity«,46 auch wenn er damit übertrieb, dass man für jede angenom­ mene Entität auf der Stelle genaue Identitätsbedingungen parat haben müsse. Kurz: Nur Einzelnes ist Element. Ergebnis: Gibt es chaotisches Mannigfaltiges, so kann die Stan­ dard-Prädikatenlogik 1. Stufe mit Identität prinzipiell nicht darauf zugreifen.

4. Mereologie Als Mereologie bezeichnet man die Logik von Teil und Ganzem, die zu einem der wichtigsten Denkwerkzeuge der analytischen Metaphy­ sik geworden ist. Um einen Überblick kann es hier nicht gehen, aber nach den eingehenden Überlegungen zu PL lässt sich der hier ent­ scheidende Punkt recht schnell ansteuern. Die Reputation der Mereologie leidet zurzeit noch etwas darun­ ter, dass eine ausgereifte temporalisierte Version erst seit 2013 zur Verfügung steht47 und erst langsam bekannt wird. Außerdem ist der in üblichen mereologischen Sprachen eingebaute mereologische Uni­ versalismus, demzufolge es eine mereologische Summe (auch »Fusion« genannt) über jede nichtleere Bedingung gibt, gewöhnungs­ bedürftig und umstritten. Aber er muss hier ebensowenig eine Rolle spielen wie die Temporalisierung. Einen entscheidenden Schritt zur Formulierung der Mereologie hat wiederum Tarski gemacht.48 Zwar sehen von der Mereologie beeindruckte Metaphysiker in der Welt 45 Es kann hier offenbleiben, woran sie sich bestimmt; evtl. mit Bezug auf ein typi­ sches Sortal, unter das e fällt (vgl. Amie Thomasson: Ordinary Objects, Oxford 2007, S. 38–42, 54–68). 46 Willard Van Orman Quine: »Speaking of Objects«, in: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 31, 1957/58, S. 5–22, hier zitiert nach ders.: Ontological Relativity and Other Essays, New York 1969, S. 1–25, hier 23. 47 Vgl. Paul Hovda: »Tensed Mereology«, in: Journal of Philosophical Logic 42, 2013, S. 241–283. 48 Vgl. Alfred Tarski: »Les fondements de la géométrie des corps«, in: Annales de la Société Polonaise de Mathématiques 1929, S. 29–24. Englische Übersetzung erschienen als ders.: »Foundations oft he Geometry of Solids«, in: ders.: Logic, semantics, meta­ mathematics. Papers from 1923 to 1938, hrsg. v. John Corcoran, Indianapolis 1983, S. 24–29.

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viele mereologische Summen, wo andere Mengen sehen. David Lewis hat sogar – mit zweifelhaftem Erfolg – versucht, die Mengenlehre mereologisch zu begründen.49 Dennoch wird die auf Tarski zurück­ gehende klassische extensionale Mereologie (CEM) heutzutage übli­ cherweise als Erweiterung von PL (oder einer ähnlichen Sprache) um ein besonderes zweistelliges Prädikat »