Graphisches Erzählen: Neue Perspektiven auf Literaturcomics [1. Aufl.] 9783839428252

Comic adaptations of literary texts have established themselves in recent years as an enormously productive art form. Th

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German Pages 352 [354] Year 2015

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Graphisches Erzählen: Neue Perspektiven auf Literaturcomics [1. Aufl.]
 9783839428252

Table of contents :
Inhalt
Vorwort. Graphisches Erzählen in Literaturcomics
Mediale Reflexionen
Nicolas Mahlers Literaturcomics
»Das nicht, bitte das nicht!« Körperdarstellung in Comicversionen von Schnitzlers Fräulein Else und Kafkas Die Verwandlung
Die Geschichte meines lebens. Comicversionen von Helen Kellers berühmter Autobiographie
Metacomics
›Doing literature while talking about it.‹ Literatur/Comics lesen lernen mit The Unwritten
»Comics sind Gefährlich ! « Flix’ Don Quijote als Metacomic
»Was Lesen wir denn da?« – Über Nicolas Mahlers Visuelle Verdichtung und Intertextuelle Fortschreibung von H. C. Artmanns Frankenstein in Sussex
Modernisierungen
Erotisches Spiel mit Außen- und Innenwelt. Jakob Hinrichs’ Traumnovelle Nach Arthur Schnitzler
Gregor Samsa als Bug Boy. Eine Japanische Kafka-Adaption unter den Vorzeichen des Hikikomori-Diskurses
Interkulturelle Stereotype und Klischees In Flix’ Faust und Posy Simmonds’ Gemma Bovery
Ist Wien Kakanien? Die Comicadaption des Mann ohne Eigenschaften von Magdalena Steiner
Vermittlungen
»Am Ende war das Wort« – Und am Anfang das Vertrauen in Karl Kraus. Zu David Bollers und Reinhard Pietschs Vermittlung von Die Letzten Tage der Menschheit
Goethe als Bastelei – Literaturrezeption im Medium Comic
Comics im Mittelalter – Mittelalter in Comics. Zur Verbildlichung des Sagenstoffs von Dietrich von Bern
Studierendenbeiträge
Transformationstechniken und Intermediale Zitate in Karasiks und Mazzucchellis Paul Austers Stadt Aus Glas
Die Panelstruktur Kann Eigene Geschichten Erzählen. Analyse von Paul Karasiks und David Mazzucchellis Paul Austers Stadt Aus Glas
Stimmung und Kolorierung in Ricards und Maëls Kafka-Comic in der Strafkolonie
Vom Kreistanz zur Modernen Weltgeschichte. Der Comic Reigen von Birgit Weyhe als Adaption von Arthur Schnitzlers Gleichnamigem Theaterstück
Mythos und Moderne: Zwei Welten in Manuele Fiors Ikarus
Hinter Der Kulisse
Huck Finn – Vom Mississippi an die Saale. Ein Werkstattbericht
Autorinnen und Autoren

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Florian Trabert, Mara Stuhlfauth-Trabert, Johannes Waßmer (Hg.) Graphisches Erzählen

Lettre

Florian Trabert, Mara Stuhlfauth-Trabert, Johannes Wassmer (Hg.)

Graphisches Erzählen Neue Perspektiven auf Literaturcomics

Die Durchführung der Tagung und die Drucklegung des Bandes erfolgten mit freundlicher Unterstützung durch den Lehrförderungsfonds der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld; nach einem Design von Ines Korth, Düsseldorf 2013 Satz: Johannes Waßmer Redaktionelle Mitarbeit: Robin-M. Aust Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2825-8 PDF-ISBN 978-3-8394-2825-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort. Graphisches Erzählen in Literaturcomics

Mara Stuhlfauth-Trabert/Florian Trabert | 9

Mediale Reflexionen Nicolas Mahlers Literaturcomics

Monika Schmitz-Emans | 19 »Das nicht, bitte das nicht!« Körperdarstellung in Comicversionen von Schnitzlers Fräulein Else und Kafkas Die Verwandlung

Torsten Hoffmann | 43 Die Geschichte meines Lebens. Comicversionen von Helen Kellers berühmter Autobiographie

Ole Frahm | 65

Metacomics ›Doing literature while talking about it.‹ Literatur/Comics lesen lernen mit The Unwritten

Peter Scheinpflug | 89 »Comics sind gefährlich!« Flix’ Don Quijote als Metacomic

Florian Trabert | 109 »Was lesen wir denn da?« – Über Nicolas Mahlers visuelle Verdichtung und intertextuelle Fortschreibung von H. C. Artmanns Frankenstein in Sussex

Wolfgang Reichmann | 125

Modernisierungen Erotisches Spiel mit Außen- und Innenwelt. Jakob Hinrichs’ Traumnovelle nach Arthur Schnitzler

Dietrich Grünewald | 145 Gregor Samsa als Bug Boy. Eine japanische Kafka-Adaption unter den Vorzeichen des Hikikomori-Diskurses

Joanna Nowotny/Bettina Jossen | 171 Interkulturelle Stereotype und Klischees in Flix’ Faust und Posy Simmonds’ Gemma Bovery

Mara Stuhlfauth-Trabert | 189 Ist Wien Kakanien? Die Comicadaption des Mann ohne Eigenschaften von Magdalena Steiner

Giovanni Remonato | 207

Vermittlung »Am Ende war das Wort« – und am Anfang das Vertrauen in Karl Kraus. Zu David Bollers und Reinhard Pietschs Vermittlung von Die letzten Tage der Menschheit

Johannes Waßmer | 229 Goethe als Bastelei – Literaturrezeption im Medium Comic

Sebastian Tupikevics | 245 Comics im Mittelalter – Mittelalter in Comics. Zur Verbildlichung des Sagenstoffs von Dietrich von Bern

Svenja Fahr | 263

Studierendenbeiträge Transformationstechniken und intermediale Zitate in Karasiks und Mazzucchellis Paul Austers Stadt aus Glas

Robin-M. Aust | 285 Die Panelstruktur kann eigene Geschichten erzählen. Analyse von Paul Karasiks und David Mazzucchellis Paul Austers Stadt aus Glas

Lisa-Carolin Krause | 301

Stimmung und Kolorierung in Ricards und Maëls Kafka-Comic In der Strafkolonie

Sascha Winkler | 309 Vom Kreistanz zur modernen Weltgeschichte. Der Comic Reigen von Birgit Weyhe als Adaption von Arthur Schnitzlers gleichnamigem Theaterstück

Anja Joszt | 317 Mythos und Moderne: Zwei Welten in Manuele Fiors Ikarus

Denise Pfennig | 327

Hinter

der

Kulisse

Huck Finn – Vom Mississippi an die Saale. Ein Werkstattbericht

Olivia Vieweg | 339

Autorinnen und Autoren | 345

Vorwort. Graphisches Erzählen in Literaturcomics M ara S tuhlfauth -T rabert /F lorian T rabert

Wenngleich Text und Bild schon seit jeher auf das engste miteinander verflochten sind und sich im Laufe der gemeinsamen Geschichte dieser Medien so unterschiedliche Kunstformen wie Illustrationen oder Emblemata herausgebildet haben, stellt die Verbindung der Künste Literatur und Comic, denkt man in kulturgeschichtlichen Maßstäben, ein vergleichsweise junges Phänomen dar. Zurückzuführen ist dies natürlich in erster Linie auf den Umstand, dass sich der Comic erst im Laufe des 20. Jahrhunderts als eigenständige Kunstform etabliert hat. Aber auch die unterschiedliche kulturelle Wertschätzung, die diesen beiden Kunstformen lange Zeit entgegengebracht wurde, hat dazu geführt, dass das Verhältnis zwischen ›hoher‹ Literatur und ›trivialem‹ Comic lange Zeit distanziert blieb, obwohl zwischen den Künsten vor allem aufgrund der narrativen Elemente viele Analogien bestehen.1 Beispiele für frühe Comicadaptionen literarischer Texte lassen sich gleichwohl nennen: so die Bände der zwischen 1941 und 1971 bestehenden Reihe Classics Illustrated, die sich durch die relativ simple didaktische Zielsetzung auszeichnen, junge Leser an ›hohe‹ Literatur heranzuführen,2 aber auch viele Geschichten der im Entenhausen-Kosmos angesiedelten und seit 1967 erscheinenden Lustigen Taschenbücher, in denen die überwiegend aus Italien und Skandinavien stammenden Zeichner die unterschiedlichsten literarischen Stoffe mit zumeist parodistischer Intention umgesetzt haben.3 1 Vgl. Monika Schmitz-Emans: Literatur-Comics. Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur, Berlin/Boston 2012, S. 7f. 2 Urs Hangartner: Von Bildern und Büchern. Comics und Literatur – Comic-Literatur, in: Text+Kritik, Sonderband: Comics, Mangas, Graphic Novels (2009), S. 35-56, hier S. 39. 3 Eine Besonderheit im deutschsprachigen Raum stellen zudem Erika Fuchs’ Übersetzungen der Entenhausen-Comics von Carl Barks dar, die mit Anspielungen auf die klassische deutsche Literatur gespickt sind.

10 | Mara Stuhlfauth-Trabert/Florian Trabert

In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich das Verhältnis zwischen Literatur und Comic indes grundlegend geändert. Literaturcomics, hier verstanden als Comicadaptionen literarischer Texte, haben sich innerhalb weniger Jahre zu einem Genre entwickelt, das sich durch eine enorm hohe Dynamik auszeichnet. Auch wenn es sicherlich problematisch ist, den Beginn dieser Entwicklung an ein bestimmtes Werk zu knüpfen, ist in Paul Karasiks und David Mazzucchellis 1994 publizierter Umsetzung von Paul Austers Roman Stadt aus Glas sicherlich eines der frühesten Beispiele für einen Literaturcomic zu sehen, der seinen Rang als eigenständiges Kunstwerk neben der Vorlage zu behaupten vermag.4 Bedeutsam ist dabei auch, dass Karasiks und Mazzucchellis Literaturcomic als erster Band der von Art Spiegelman und Bob Callahan herausgegebenen Reihe »Neon Lit« erschien. Spiegelman, der mit seinen wenige Jahre zuvor publizierten Maus-Comics einen kaum zu überschätzenden Beitrag zur Nobilitierung der Kunstform Comic geleistet hatte, sah das Ziel darin, »keine stumpfsinnigen ›Illustrierten Klassiker‹« zu publizieren, »sondern visuelle ›Übersetzungen‹ – tatsächlich lesenswert für ein erwachsenes Publikum«5. Tatsächlich sind die meisten Literaturcomics, die den Gegenstand dieses Sammelbands bilden, nach der Jahrtausendwende oder sogar erst in diesem Jahrzehnt entstanden. Das zunehmende Selbstbewusstsein der Kunstform Comic lässt sich dabei auch an dem Umstand ablesen, dass die Zeichner oftmals literarische Texte adaptieren, die sich aufgrund ihrer sprachlichen Komplexität und ihres essayistischen Charakters einer Umsetzung in das Medium Comic zu entziehen scheinen: Zu verweisen wäre hier auf Stéphane Heuets seit 1998 entstehende Comicadaption von Marcel Prousts Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, aber auch auf den erstaunlichen Umstand, dass von Robert Musils umfangreichem Zeitroman Der Mann ohne Eigenschaften und Karl Kraus’ nicht minder sperrigem Lesedrama Die letzten Tage der Menschheit in den letzten Jahren jeweils zwei Adaptionen entstanden sind, die sich durch vollkommen unterschiedliche Ansätze auszeichnen.6 Die obligatorischen Klagen über das Comic-›Entwicklungsland‹ Deutschland sind angesichts der Wertschätzung, die Comics in Ländern wie Belgien, Frankreich, den USA und Japan genießen, nicht vollkommen obsolet geworden; sie verlieren aber angesichts der wachsenden Zahl von Zeichnern aus

4 Vgl. Andreas Platthaus: Im Comic vereint. Eine Geschichte der Bildergeschichte, Frankfurt a.M./Leipzig 2000, S. 75-98; Hangartner: Von Bildern und Büchern, S. 40. 5 Art Spiegelman: Stadt aus Bildern statt aus Worten: Stadt aus Glas, in: Paul Karasik/ David Mazzucchelli: Paul Austers Stadt aus Glas, Berlin 2004, S. 3-5, hier S. 4. 6 Vgl. hierzu die Beiträge von Giovanni Remonato, Monika Schmitz-Emans und Johannes Waßmer in diesem Band.

Vorwort. Graphisches Erzählen in Literaturcomics | 11

dem deutschsprachigen Raum zunehmend an Berechtigung.7 Zudem stellt sich die Frage, welchen Sinn derartige nationale Perspektiven überhaupt noch haben, da gerade Literaturcomics an dem Goethe’schen Projekt der ›Weltliteratur‹ partizipieren:8 Viele der hier untersuchten Comics praktizieren oder thematisieren kulturelle Austauschprozesse, indem sie literarische Texte aus anderen Kulturkreisen adaptieren bzw. interkulturelle Begegnungen zu einem zentralen Handlungsmoment werden lassen.9 Im Anschluss an die grundlegenden Arbeiten von Monika Schmitz-Emans werden Literaturcomics hier als Comics verstanden, die sich »auf einen literarischen Text (oder mehrere) in einer Weise bezieh[en], die der Beziehung zwischen Hypertext und Hypotext im Sinne Gérard Genettes analog ist«10. Der zur Benennung des Verhältnisses von Hypertext und Hypotext, also Vorlage und Umsetzung, oft verwendete Begriffe ›Adaption‹ bzw. ›Adaptation‹ ist indes nicht ganz unproblematisch; es erscheint notwendig in den Blick zu nehmen, welche Aspekte am Phänomen der Literaturcomics dieser Begriff möglicherweise unterdrückt. Dass der Comiczeichner Flix für seine Umsetzungen literarischer Texte ins Medium Comic den Begriff »Neuinszenierung«11 bevorzugt, hat durchaus auch sachliche Gründe. Während der Begriff ›Adaption‹ zumindest aufgrund seiner Etymologie – das lateinische Verb ›adaptare‹ bedeutet ›anpassen‹ – ein eher statisches Verhältnis zwischen Hypertext und Hypotext impliziert, deutet der Begriff ›Neuinszenierung‹ an, dass sich dieses Verhältnis oft weitaus dynamischer gestaltet, und die Comicfassung somit als ›neues‹ und eigenständiges Werk zu gelten hat. Als weitgehend obsolet und im wahrsten Sinne des Wortes ›konservativ‹ erweist sich die Vorstellung, dass Literaturcomics den Gehalt der Vorlage im Sinne der ›Werktreue‹ möglichst verlustfrei in das neue Medium transportieren. Zudem betont der Begriff ›Neuinszenierung‹ die Nähe vieler Literaturcomics zu Literaturverfilmungen oder auch zu den in letzter Zeit auf vielen Bühnen sehr populären Dramatisierungen von Erzähltexten. Ein entscheidender Unterschied ist allerdings darin zu 7 Vgl. hierzu auch Dietrich Grünewald: Zur Comicrezeption in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 64 (2014), H. 33-34, S. 42-48. 8 Vgl. Monika Schmitz-Emans: Der Comic als ›übersetze Literatur‹? Literaturcomic, Übersetzung und Kulturtransfer bei Tezuka Osamu, in: Hiroshi Yamamoto/Christine Ivanovic (Hg.): Übersetzung – Transformation. Umformungsprozesse in/von Texten, Medien, Kulturen, Würzburg 2010, S. 123-142. 9 Vgl. hierzu die Beiträge von Joanna Nowotny/Bettina Jossen und Mara StuhlfauthTrabert in diesem Band. 10 Schmitz-Emans: Literatur-Comics, S. 11f. 11 Frank Schirrmacher: Ich sehe was, was Du nicht siehst, in: Flix: Don Quijote, Hamburg 2012, S. 12.

12 | Mara Stuhlfauth-Trabert/Florian Trabert

sehen, dass der Text bei Literaturcomics mit der visuellen Dimension eine Einheit bildet, bei Verfilmungen und Dramatisierungen hingegen in gesprochene Sprache und die vielfältigsten inszenatorischen Parameter umgesetzt wird. Damit ist die für viele Beiträge dieses Bandes leitende Fragestellung nach dem Verhältnis von literarischer Vorlage und Neuinszenierung im Medium Comic angesprochen, wobei das Spektrum von eng an die literarische Vorlage angelehnten Umsetzungen bis zu den Hypotext hochgradig verfremdenden Adaptionen reicht. Prinzipiell lässt sich konstatieren, dass sich die meisten Literaturcomics an einen (impliziten) Leser wenden, dem die Vorlage bekannt ist, da der spezifische Reiz der ›Neuinszenierung‹ gerade aus dem Spannungsverhältnis zu der Vorlage resultiert und sich zumeist nicht auf einen didaktischen Vermittlungsaspekt begrenzt. Hieraus ergibt sich zudem, dass Literaturcomics immer auch Interpretationen ihrer Vorlagen darstellen – der Neuinszenierung entspricht die Neudeutung. Eine besonders offenkundige Form dieser Neudeutung stellt die Verlegung des Stoffes in die Gegenwart dar, wie sie sich etwa exemplarisch bei den beiden Literaturcomics von Flix, Faust und Don Quijote, beobachten lässt, deren Handlung nicht mehr in der frühen Neuzeit, sondern im Berlin der Gegenwart situiert ist. Wie Andreas Platthaus am Beispiel von Karasiks und Mazzucchellis Paul Austers Stadt aus Glas ausgeführt hat, ist die mit dem Medienwechsel verbundene Interpretation aber durchaus auch kritisch zu werten: Literaturcomics vereinfachen und vereindeutigen ihre literarische Vorlage, da die interpretatorische Leistung des Zeichners der des Rezipienten bereits vorausgegangen ist.12 Auch wenn diese Tendenz sicherlich bei vielen Literaturcomics zu beobachten ist, sollte dabei nicht vergessen werden, dass durch die Hinzufügung der visuellen Dimension prinzipiell auch neue interpretatorische Herausforderungen entstehen können; dies ist etwa der Fall, wenn Text und Bild in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander stehen oder der Zeichner auf textliche Elemente nahezu vollständig verzichtet – wofür der erste Abschnitt von Nicolas Mahlers Der Mann ohne Eigenschaften ein gleichermaßen virtuoses wie provozierendes Beispiel darstellt.13 Diese Überlegungen verdeutlichen, dass sich die beschriebene interpretatorische Qualität vieler Literaturcomics gerade aus den medialen Differenzen der beiden Kunstformen Literatur und Comic ergibt. Aus intermedialitätstheoretischer Perspektive sind Literaturcomics hochinteressant, da sie durch eine mehrfache mediale Hybridisierung gekennzeichnet sind: Stellen Comics prinzipiell eine Text-Bild-Komposition dar, so gewinnt das Verhältnis zwischen diesen beiden 12 Vgl. Platthaus: Im Comic vereint, S. 82; vgl. hierzu auch den Beitrag von Torsten Hoffmann in diesem Band. 13 Vgl. Nicolas Mahler: Der Mann ohne Eigenschaften, Berlin 2014, S. 9-28; vgl. hierzu auch den Beitrag von Monika Schmitz-Emans in diesem Band.

Vorwort. Graphisches Erzählen in Literaturcomics | 13

Medien in Literaturcomics durch den intertextuellen Bezug auf die literarische Vorlage eine zusätzliche Dynamik. Die Annahme einer größeren Textlastigkeit von Literaturcomics im Vergleich zu anderen Comics ist zwar naheliegend, aber keinesfalls grundsätzlich zutreffend; nicht selten dominiert in Literaturcomics die visuelle Dimension, die durch interpikturale14 Bezüge auf materielle pictures und immaterielle images15 sowie die Auseinandersetzung mit der gleichfalls hochgradig hybriden Kunstform Film eine zusätzliche Komplexität erhält.16 Aus diesem Grund erscheint es auch zu reduktionistisch, sich bei der Analyse von Literaturcomics auf den binären Vergleich zwischen Vorlage und Comicadaption zu beschränken, da eine solche Betrachtungsweise gerade dem Anspielungsreichtum der visuellen Ebene nicht gerecht wird. Insgesamt partizipieren Literaturcomics an einem auch in anderen Gegenwartskünsten zu beobachtenden Trend, der sich als ›Referenzialismus‹ bezeichnen lässt: Gemeint ist hiermit, das Verweise auf andere Werke »zum Movens und formgebenden Verfahren künstlerischer Arbeiten avancieren«17. Indem Literaturcomics somit komplexe Verweissysteme bilden, welche die unterschiedlichsten Künste einbeziehen, dekonstruieren sie zugleich die (vermeintliche) Differenz zwischen ›hoher‹ und ›niedriger‹ Kultur. Ein anschauliches Beispiel für diesen Vorgang ist das Bildzitat von Goyas berühmter Graphik El sueño de la razón produce monstruos, das sich gleichermaßen in den Literaturcomics Alte Meister von Nicolas Mahler und Don Quijote von Flix findet: Im Kontext der beiden Comics ist das Bildzitat nicht nur ein Verweis auf ein kanonisches Werk der europäischen Kunstgeschichte, sondern zugleich auf ein Ikon der Populärkultur, nämlich das Batman-Symbol.18 Wie das Beispiel zeigt, führt die Auseinandersetzung mit anderen Medien bei den Literaturcomics auch zu einer erhöhten Reflexion der eigenen Medialität. Ein wenig zugespitzt ließe sich sagen, dass viele Literaturcomics auch Metacomics sind. Ein besonders auffälliges Indiz für diese Tendenz zur medialen Reflexion 14 Die synonymen Begriffe ›Interpikturalität‹ und ›Interikonizität‹ sind in Analogie zum schon länger gebräuchlichen Begriff ›Intertextualität‹ gebildet worden (vgl. Valeska von Rosen: Interpikturalität, in: Ulrich Pfisterer (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, S. 208-211). 15 Vgl. zu dieser Unterscheidung: W.J.T. Mitchell: Metabilder, in: ders.: Bildtheorie, Frankfurt a.M. 2008, S. 172-233, hier S. 174. 16 Vgl. hierzu die Beiträge von Dietrich Grünewald und Peter Scheinpflug in diesem Band. 17 Isabelle Graw/Stefanie Kleefeld/André Rottmann: Vorwort, in: Texte zur Kunst 71 (2008), S. 4-6, hier S. 6; vgl. zudem Frédéric Döhl/ Renate Wöhrer: Einleitung, in: dies.: Zitieren, appropriieren, sampeln. Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten, Bielefeld 2014. 18 Vgl. hierzu die Beiträge von Monika Schmitz-Emans und Florian Trabert in diesem Band.

14 | Mara Stuhlfauth-Trabert/Florian Trabert

links: Goya: El sueño de la razón produce monstruos; mitte: Mahler: Alte Meister, S. 27; rechts: Flix: Don Quijote, S. 16.

sind bestimmte emblematische Figuren, die in den unterschiedlichsten Literaturcomics auftreten und sich dabei – wie einige Beiträge dieses Sammelbandes zeigen – als Inkarnationen der genannten Prozesse der Hybridisierung, Transformation und Selbstreflexion deuten lassen: Zu nennen wären hier das reichhaltige Figurenarsenal aus den Alice-Erzählungen von Lewis Carroll, Gregor Samsa aus Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung19, das als Chiffre für Montage-Verfahren der unterschiedlichsten Art fungierende Frankenstein-Monster oder auch die Don Quijote-Figur.20 Nicht zuletzt die Gründung der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor) im Jahr 2005 hat zu einer Ausdifferenzierung der Comicforschung im deutschsprachigen Raum beigetragen. Der vorliegende Sammelband folgt dieser Entwicklung, indem er ausführliche Analysen zu Literaturcomics bietet, zu denen bisher kaum Forschungsliteratur vorliegt; er baut dabei auf den grundlegenden Publikationen von Monika Schmitz-Emans zu diesem Thema auf,21 unterscheidet sich aber von diesen durch einen stärkeren Fokus auf die deutschsprachige Literatur sowie auf in den letzten Jahren publizierte Literaturcomics. Die Beiträge dieses Sammelbandes sind nach übergeordneten Gesichtspunkten gegliedert. Die in der ersten Abteilung versammelten Beiträge gehen schwerpunktmäßig den Fragen der medialen Reflexion nach, die für das Phänomen Literaturcomic charakteristisch sind. Während Monika Schmitz-Emans in ihrem Beitrag den karikierenden und reduktionistischen Stil in Nicolas Mahlers drei großen Literaturcomics analysiert, stellt 19 Vgl. hierzu die Beiträge von Dietrich Grünewald und Monika Schmitz-Emans in diesem Band. 20 Vgl. hierzu die Beiträge von Wolfgang Reichmann, Peter Scheinpflug, Monika SchmitzEmans und Florian Trabert in diesem Band. 21 Vgl. Monika Schmitz-Emans: Literatur-Comics sowie dies. (Hg.): Comic und Literatur: Konstellationen, Berlin u.a. 2012.

Vorwort. Graphisches Erzählen in Literaturcomics | 15

Torsten Hoffmann auf der medientheoretischen Grundlage von Lessings Laokoon Überlegungen zur visuellen Dimension und zur Erzählperspektive in Literaturcomics nach Schnitzler und Kafka an. Ole Frahm untersucht die Theorien der Sprache, des Sehens und Sprechens, die den sehr unterschiedlichen Comicadaptionen der Autobiographie The Story of my Life zugrundeliegen, die von der tauben und blinden Autorin Helen Keller verfasst wurde. Auch in den Beiträgen der zweiten Gruppe stehen medientheoretische Überlegungen im Vordergrund, die hier aber verstärkt die Selbstreflexion der Kunstform Comic betreffen: Peter Scheinpflug und Florian Trabert untersuchen mit der Unwritten-Serie beziehungsweise Flix’ Don Quijote zwei Metacomics, in denen das Lesen von literarischen Texten und Comics zum zentralen Thema wird, und Wolfgang Reichmann setzt sich mit dem Comic Alice in Sussex von Nicolas Mahler auseinander, in dem der Zeichner seine Poetik der Intertextualität entfaltet. Die im dritten Abschnitt untersuchten Literaturcomics verbindet, dass sie den Stoff ihrer literarischen Vorlage modernisieren und aktualisieren. Ein Sonderfall stellt dabei der von Dietrich Grünewald vor allem hinsichtlich seiner interpikturalen Bezüge analysierte Comic Traumnovelle nach der gleichnamigen Novelle Artur Schnitzlers dar, da die Handlung der Vorlage hier nicht in die Gegenwart, sondern in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts verlegt wird. Mara Stuhlfauth-Trabert, Joanna Nowotny und Bettina Jossen setzen sich mit Comics auseinander, bei denen die Aktualisierung mit interkulturellen Phänomenen einhergeht, während der Bezug auf aktuelle gesellschaftspolitische Probleme in der von Giovanni Remonato untersuchten Umsetzung von Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften zu einer besonders hohen dialogischen Spannung zwischen Vorlage und Comic führt. Bei den Beiträgen der vierten Abteilung steht der Aspekt der Vermittlung22 im Vordergrund. Johannes Waßmer zeigt am Beispiel der Comicadaption von Karl Kraus’ Drama Die letzten Tage der Menschheit, wie die sperrige Vorlage als Comic ›lesbar‹ gemacht wird, und Sebastian Tupikevics analysiert Comicadaptionen von Goethes Leben und Werk mit Claude Lévi-Strauss’ Konzept der bricolage. Die historische Perspektive erweitert zuletzt Svenja Fahr mit ihrer Untersuchung zum Sagenstoff um Dietrich von Bern in mittelalterlichen Illustrationen und modernen Comics. Der vorliegende Sammelband vereinigt größtenteils die Vorträge der Tagung »Graphisches Erzählen. Neue Perspektiven auf Literaturcomics«, die vom 5. bis 7. März 2014 im Haus der Universität Düsseldorf stattfand; Ole Frahm und Sebastian Tupikevics konnten im Nachhinein für Beiträge gewonnen werden. Die Tagung war Teil eines umfassenderen Projekts, das die Herausgeber im Wintersemester 2013/14 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf durchgeführt haben und das insbesondere aus zwei am Institut für Germanistik angebotenen Lehrver22 Vgl. Monika Schmitz-Emans: Literatur-Comics, S. 299f.

16 | Mara Stuhlfauth-Trabert/Florian Trabert

anstaltungen zum Thema Literaturcomics bestand. Dabei war es das Hauptanliegen der Herausgeber, die ›neuen Perspektiven auf Literaturcomics‹ durch einen Austausch zwischen Comicforschern, Literaturwissenschaftlern, Studierenden und Comiczeichnern zu ermöglichen. So haben fünf Studierende auf der Tagung Vorträge über ihre im Rahmen des Seminars gewonnenen Forschungsergebnisse gehalten, die sich in der fünften Abteilung dieses Bandes finden. Robin-M. Aust spürt den intermedialen Bezügen in Stadt aus Glas nach, während Lisa Krause, Sascha Winkler und Anja Joszt analysieren, welche Funktion Panelstruktur, Koloration bzw. Leitmotive für die narrative Komponente von Literaturcomics erfüllen. Denise Pfennig setzt sich mit den verschiedenen Welten auseinander, die Manuele Fior durch seine Verschränkung des Ikarus- und Fauststoffes in seinem Comic Ikarus eröffnet. Im Rahmen des Projektes konnten außerdem die Comiczeichnerinnen Sarah Burrini und Ines Korth sowie der freie Journalist und Comicrezensent Alexander Lachwitz für Vorträge innerhalb der Seminare gewonnen werden; auf der Tagung hielt Flix eine Lesung aus seinem Faust und Olivia Vieweg einen Werkstattbericht zur Entstehung ihres Comics Huck Finn, der diesen Band abschließt. Die Herausgeber danken RobinM. Aust, Ines Korth, Michael Mohr und Anastasia Neumann für ihre tatkräftige Mithilfe sowie insbesondere dem Lehrförderungsfonds der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, ohne dessen großzügige Unterstützung eine Durchführung des Projekts nicht möglich gewesen wäre.

Düsseldorf, September 2014

M ediale R eflexionen

Nicolas Mahlers Literaturcomics M onika S chmitz -E mans

D er Z eichner

und seine

›L achmaschine ‹

Unter dem Titel Franz Kafkas nonstop Lachmaschine ist zu Jahresbeginn 2014 ein Band mit Mahler-Comics erschienen. Seine skurrilen Episoden sind (wie viele andere Mahler-Comics auch) vor allem dem Leben eines Comiczeichners gewidmet, der mit Mahler gerade so viel Ähnlichkeit aufweist, wie man von einer Mahler’schen Figur in Sachen Porträtrealistik erwarten kann: Sie gelten der Beziehung des Zeichners zur eigenen Arbeit, zum Publikum, zu Formen und Foren der Selbstvermarktung – und zur Literatur, zu Autoren wie Kafka, Bernhard, Musil.1 Mahler zeichnet Mahler, auch wenn er das vertraute Bild der eigenen Person einmal variiert und sich, beispielsweise, im Impressum der Lachmaschine als eine Art Comic-Gregor-Samsa vorstellt, wobei er vor allem den Frustrationen des Comiczeichnerdaseins viele komische Effekte abgewinnt. Im Titel Lachmaschine potenziert sich die Selbstironie des professionellen Komik-Produzenten, der auf die Mechanik seiner Mittel setzt, um das Publikum zum Lachen zu bringen, das Artifizielle und Arrangierte seiner Witze zugleich aber reflektiert und betont, um auch daraus noch komische Effekte zu ziehen.2 Insgesamt dokumentiert die Episodenfolge exemplarisch zwei wichtige Merkmale von Mahlers Œuvre: seine Autoreflexivität und seine Auseinandersetzung mit dem Bezug zwischen Comics und Literatur. Dass auch diese Anlass zum Lachen gibt, überrascht in einer Lachma1 Nicolas Mahler: Franz Kafkas nonstop Lachmaschine, Berlin 2014. 2 ›Lachmaschinen‹, Schallkonserven mit Gelächter, das bei Sitcoms vorgespielt wird, um das Gelächter eines Auditoriums zu simulieren und den Zuhörer zum Einstimmen in dieses Gelächter zu motivieren, hat vielfach den gewünschten Effekt: Man neigt dazu mitzulachen, auch wenn man den Trick durchschaut. Kritischer betrachtet, signalisieren Lachmaschinen freilich, dass man der Komik der gespielten Szene nicht zutraut, solches Gelächter von sich aus zu erzeugen. Als Titel eines Comics wirft das Stichwort ›Lachmaschine‹ jedenfalls die Frage auf, was hier eigentlich lachhaft ist.

20 | Monika Schmitz-Emans

schine nicht. In einem der Comics verwechselt eine schwatzende Nachbarin Kafka mit Kauka (dem Schöpfer von Fix und Foxi);3 auch wenn diese Verwechslung einerseits satirisch auf pseudobildungsbürgerliches Gehabe zielt, steckt hinter dem Einfall andererseits doch auch ein Stück Selbstbewusstsein des Comiczeichners: Warum nicht Kauka statt Kafka?4 Dass Gregor Samsa in der Lachmaschine als Leitmotiv auftritt, bestätigt die Offenheit der Grenze zwischen den Territorien der Literatur und des Comics. Eine weitere Verwechslung erscheint ähnlich bedenkenswert. Als die gezeichnete Mahler-Figur über ihr Bernhard-Projekt spricht, fragt eine andere ahnungslose Dame: »Schreibt der jetzt für Sie?«5 Kanonische Autoren im Dienst des Comics – warum nicht? Mahler hat diversen seiner Comicbücher literarische Werke zugrunde gelegt und durch die gezeichneten Geschichten die jeweilige literarische Vorlage auf eine stilistisch prägnante Weise inszeniert:6 2010 erschien Alte Meister7, eine Bilder3 Mahler: Lachmaschine, S. 9f. 4 In der Lachmaschine werden u.a. »[e]inige von Franz KAFKAS bekanntesten Schöpfungen« (Mahler: Lachmaschine, S. 111) zeichnerisch vorgestellt: Genannt werden Figuren Kafkas; ihre Porträts sind erkennbar im Kauka-Stil gezeichnet und erinnern an Figuren wie Fix und Foxi, Lupo etc. 5 Mahler: Franz Kafkas nonstop Lachmaschine, S. 44. 6 Mahler selbst lehnt den Gattungsbegriff ›Graphic Novel‹ ab, der sich für Comics in Buchformat etabliert hat, da er darin das Resultat einer Tendenz zur letztlich kommerziell motivierten ›Nobilitierung‹ des Comics unter Verleugnung seiner populärkulturellen Herkunft sieht. Zwar ließe sich darüber diskutieren, ob nicht der Begriff doch auch andere Funktionen hat, die seine Verwendung legitimieren (insbesondere die, längere graphische Erzählungen im Comicstil von kürzeren zu unterscheiden), aber in Erinnerung an Mahlers Vorbehalte sei auf den Begriff ›Graphic Novel‹ zur Charakteristik der drei Literaturcomics im Folgenden verzichtet. Mit ›Literaturcomic‹ gemeint sind Comicerzählungen, die auf literarische Vorlagen zurückgehen. Die spezifische Beziehung, in der sie zu diesen stehen, kann sich sehr unterschiedlich gestalten. Vielfach eignet sich der Begriff der ›Paraphrase‹ bzw. der ›Nacherzählung‹, um diese Beziehung zu charakterisieren; bei Mahlers Comics ist dies nur bedingt der Fall: In den Bildgeschichten wird nicht bloß etwas erzählt, was in den Vorlagen schon erzählt wurde, und es wird umgekehrt auch wiederum nicht alles nacherzählt. Der (metaphorische) Ausdruck ›Inszenierung‹ erscheint mir für die Verwandlung literarischer Vorlagen in Comics insgesamt passender, da er die Suggestion einer schlichten Transferleistung gar nicht erst erzeugt, sondern die gestalterische Leistung des Zeichners und Szenaristen betont, indem er sie mit der eines Regisseurs analogisiert, der vielleicht zuvor außerdem ein Text- oder Drehbuch erstellt hat. 7 Nicolas Mahler: Alte Meister, Berlin 2011; im Folgenden zitiert mit der Sigle AM und Seitenzahl.

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zählung, die auf Thomas Bernhards Roman Alte Meister. Komödie von 1985 basiert. In der ersten Jahreshälfte 2013 folgte zunächst frei nach Lewis Carroll und H.C. Artmann Alice in Sussex8, später im selben Jahr dann Der Mann ohne Eigenschaften9. Zu Jahresbeginn 2014 erschien ein weiterer Bernhard-Comic: Der Weltverbesserer – bei Suhrkamp, wie auch die Vorgänger, also in einem Verlag, der traditionsgemäß der Gegenwartsliteratur ein wichtiges Forum bietet. Über Alte Meister, Alice in Sussex und den Mann ohne Eigenschaften hat Mahler gesprächsweise gesagt, alle drei folgten jeweils anderen Prinzipien, seien unterschiedlichen gestalterischen Ideen verpflichtet.10 Welchen spezifischen Ideen folgt die jeweilige Bandgestaltung darüber hinaus? Und wie hängen sie mit der jeweiligen Textvorlage zusammen? Um Rückschlüsse auf die Motive für Mahlers Interesse an Literatur überhaupt und an gerade diesen Textvorlagen zu ziehen, müssen die Literaturcomics im Kontext seines zeichnerischen Gesamtœuvres gesehen werden. Darum zunächst einige allgemeine Beobachtungen. (1) Schrift-Bilder. Mahlers abbreviatorischer Zeichenstil nähert das gezeichnete Motiv tendenziell schriftlichen Figurationen an. Protagonisten seiner Comics sind mit wenigen markanten Strichen dargestellte Figuren, und für die erzählten Geschichten ist die Schematik dieser Figuren charakteristisch: Sie verändern sich nur geringfügig; oft bleiben sie über ganze Panelfolgen hinweg ganz oder fast unverändert in Größe und Haltung. Auch andere gezeichnete Objekte stehen im Zeichen weitgehender Invarianz; sie bilden Serien nahezu kongruenter Bildmotive. Und so ähneln Mahlers Helden und Requisiten Schriftzeichen, die ja als visuelle Formen stets die Variation eines Grundzeichens sind. In gewissem Sinn liegt in der Entwicklung einer solch siglen- und kürzelartigen Zeichensprache ein autoreferenzielles Moment – ein indirekter Hinweis darauf, dass Comics auch ›gelesen‹ werden. Wie nahe Schriftzeichen und Bildzeichen sich in der Comicsprache Mahlers sind, illustriert spielerisch etwa die innere Titelseite des Manns ohne Eigenschaften, die wie eine Hommage an das ›M‹ wirkt: »Musil / Mahler«, »MoE« (MoE 5) – und darunter ein gezeichneter Hut, dessen Oberkante die M-Figur noch 8 Nicolas Mahler: Alice in Sussex, Berlin 2013; im Folgenden zitiert mit der Sigle AS und Seitenzahl. 9 Nicolas Mahler: Der Mann ohne Eigenschaften, Berlin 2013; im Folgenden zitiert mit der Sigle MoE und Seitenzahl. 10 So im Gespräch, Literaturhaus Stuttgart, Herbst 2013. Dass die drei Bücher ein Ensemble bilden, dessen Teile sich wechselseitig ergänzen, könnte man aus den verwendeten Farben schließen: In Alte Meister wird, abgesehen vom rot-gelbem Schutzumschlag, neben schwarzen Strichen ausschließlich die Farbe Gelb verwendet; in Alice in Sussex ausschließlich Blau, im Mann ohne Eigenschaften dann Grün. Der Weltverbesserer ist mittlerweile als rot koloriertes Buch dazugekommen.

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einmal wiederholt (es ist ein Hut, wie ihn Ulrich im Comic gelegentlich trägt). Das ›M‹ mag den Cineasten zudem an den Titel eines Filmes erinnern, in dem zu Fritz Langs Zeiten eine Stadt einen Mörder suchte (»M«); dann passt es umso besser zu einer (Bild-)Geschichte, die in Wien spielt und in der es u.a. um einen Mörder geht, dessen Name mit M beginnt (Moosbrugger). (2) Ein österreichischer (Anti-)Kanon. Apropos Wien: Mahlers Vorlagen stammen nicht allein alle von österreichischen Dichtern, sie können alle auch als Auseinandersetzungen mit Österreich interpretiert werden: Musils Mann ohne Eigenschaften als der wohl berühmteste Österreich-Roman des 20. Jahrhunderts bietet u.a. ein differenziertes Porträt der Gesellschaft der Donaumonarchie kurz vor ihrem Zusammenbruch;11 Bernhards Roman Alte Meister ist eine bissige Abrechnung mit der alteuropäischen Hochkultur respektive mit Hochkultur-Klischees, wie sie Bernhards kritischen Beobachtungen zufolge in gerade österreichischem Kulturkonservativismus wurzeln; Analoges gilt für den Weltverbesserer, dessen groteskes Geschehen in einer theatralisch-hochkulturellen Sphäre der Preise und Ehrungen spielt. Artmanns Frankenstein in Sussex ist demgegenüber programmatisches Manifest eines popkulturellen Anti-Kanons, der sich lustvoll und polemisch gegen die Welt der (literarischen) ›Alten Meister‹ behauptet, ein Pastiche aus Nonsens-, Schauer- und Unterhaltungsliteratur. (3) Autoreferenzialität. Mahlers zeichnerische Arbeiten sind, wie angedeutet, in hohem Maße autoreferenziell. Viele Erzählungen handeln als ironischstilisierte Selbst-Porträts vom Zeichner selbst und seiner Arbeit, von originellen und seltsamen Einfällen, von Versuchen, von sperrigen Projekten und deren Revisionen, von Versuchen, eigene Arbeiten zu erklären und verlegen zu lassen, von Erfahrungen mit Comiclesern, Kollegen und Verlegern, die sich einmischen und den Zeichner beschäftigen, dem es neben seiner Arbeit auch um seine ökonomischen Interessen geht. Längen und Kürzen, ambitioniert untertitelt als Das schriftstellerische Gesamtwerk. BAND 1, erzählt solche Episoden, die sich in ironisch-monotoner Weise zwischen einem Zeichner und seinem Verleger abspielen; es geht dabei u.a. um ›Längen‹ und ›Kürzen‹ als Projekttitel und Werk-Konzept.12 Als eine Bilderzählung über die Rhythmik von Bilderzählungen ist Längen und Kürzen ein selbstbezüglich-poetologischer Comic, der die in knappen Dialogen thematisierten verschiedenen Rhythmisierungsverfahren von Bildgeschichten an und durch sich selbst demonstriert. Ein weiteres selbstbezügliches Lieblingsthema des Comiczeichners Mahler wird ebenfalls zum Anlass 11 Zum Mann ohne Eigenschaften vgl. Mahler: Lachmaschine, S. 63, 122f. 12 Nicolas Mahler: Längen und Kürzen. Das schriftstellerische Gesamtwerk. BAND 1, Wien 2009. Der Band enthält nicht nur Comics, sondern auch humoristisch-experimentelle Texte.

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zeichnerisch-literarischer Selbstbespiegelung: Was eigentlich sind Comics? Und was ist Literatur?13 Er habe, so Mahler über sich selbst,14 kein besonderes Interesse am Erzählen spannender Geschichten; er bevorzuge entsprechend Texte ohne dominante Handlung als Vorlage. Dies erklärt bereits seine Affinität zu Bernhards und Musils Texten, in denen ja jeweils nur wenig geschieht. Was geschieht, spielt sich hier wie auch in Mahlers Comicinszenierungen jeweils im Kleinen ab, in der minimalen Differenz zwischen zwei Momenten, fast, aber nur fast gleichen zwei Aggregatzuständen. Wer aufs Minimale achtet, bemerkt, welche Dramatik dieses entfalten kann.15

A lte M eister – E tüden über und das U nvollkommene

das

G leichförmige

Zu den fast leitmotivisch eingesetzten Kernwörtern in Bernhards Roman Alte Meister gehört das Wort ›Karikatur‹. Was über das Karikieren und das Karikaturhafte von Personen und Institutionen gesagt wird, ist sehr dazu angetan, das Interesse eines immer auch als Satiriker produktiven Comiczeichners zu erwecken – zumal es auch ums Karikieren im buchstäblichen, bildbezogenen Sinn geht. Wenn wir längere Zeit ein Bild betrachten und ist es das ernsthafteste, wir müssen es zur Karikatur gemacht haben, sagte er, um es auszuhalten, also auch die Eltern zur Karikatur, die Vorgesetzten, so wir welche haben, zur Karikatur, die ganze Welt zur Karikatur, sagte er. Schauen Sie längere Zeit das Selbstbildnis von Rembrandt an, gleich welches, es wird Ihnen ganz sicher mit der Zeit zur Karikatur und Sie wenden sich ab. Schauen Sie längere Zeit in das Gesicht Ihres Vaters, er wird Ihnen zur Karikatur und Sie wenden sich ab. [...] Natürlich gibt es Erscheinungen in der Welt, in der Natur, wie Sie wollen, die wir nicht lächerlich machen können, aber in der Kunst kann alles lächerlich gemacht werden, jeder Mensch kann lächerlich und zur Karikatur gemacht werden [...].16

13 Die in Längen und Kürzen. Das schriftstellerische Gesamtwerk, BAND 1 aufgenommenen ›Gedichte‹ etwa provozieren zum Nachdenken über den Gedichtbegriff. 14 Gesprächsäußerung im Literaturhaus Stuttgart, Herbst 2013. 15 Mahlers Mann ohne Eigenschaften steht übrigens unter einem Motto aus Christine Lavants Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus: »Alles wandelt sich von einem Augenblick zum andern, jeder Bezug ist ein doppelter und kreuzt ständig vom Wirklichen zum Unwirklichen.« (MoE 7) 16 Thomas Bernhard: Alte Meister. Komödie, Frankfurt a.M. 1988, S. 117f.; Hervorhebung im Original.

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Zentrale Themen in Alte Meister sind die Monotonie eines nahezu sinnentleerten Lebens sowie die Kunst, genauer gesagt: die Rezeption von Kunst im Spektrum zwischen Kult und Kanonisierung einerseits, Kritik und Missfallen andererseits. Der Kunstkritiker Reger verbringt seit dem Tod seiner Frau seine Tage im Kunsthistorischen Museum, dabei einem festen Ritual folgend; sein Platz ist stets vor Tintorettos Porträt eines weißbärtigen Mannes, seine Tiraden, denen der Romanerzähler wiederholt zuhört und die er als Erzähler protokolliert, gelten der Unvollkommenheit: der des Museums (in dem, so Regers Kritik, nicht einmal ein Goya ausgestellt ist) und der der ausgestellten Werke (ihrer Berühmtheit zum Trotz), der künstlerischen Unzulänglichkeit von Malern und Dichtern (denen Reger ihre Neigung vorhält, ›staatstragende‹ Kunst zu schaffen, herrschende Ideologien zu bekräftigen, die allgemeine ›Geistesschwäche‹ zu konsolidieren). Regers vernichtender Diagnose zufolge produzieren auch die großen Künstler, die Alten Meister, letztlich immer wieder Gleichartiges, nutzen gleiche Mittel und Tricks, verfolgen gleichbleibende Ziele. Stilistisch korrespondiert Regers obsessiver Monolog diesem Befund durch seine eigenen vielfachen Wiederholungen, durch inhaltliche und syntaktische Redundanzen. Regers Mitteilungen über sich selbst stehen ebenso im Zeichen von Redundanzen wie sein Diskurs über Kunst; verwitwet und einsam, gestaltet er sein Leben monoton.17 Als Text über Kunst ist Alte Meister ein ästhetisch-autoreflexiver Text, der dort, wo es beispielsweise um die Abhängigkeit aller sogenannten großen Meister von Vorgängern und gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen geht, implizit auch die Frage nach der eigenen Positionierung innerhalb der Geschichte künstlerischer Arbeit und ihrer Rezeptionsweisen aufwirft. Mahler – der sich durch die Entscheidung, Bernhards Roman zeichnerisch zu verarbeiten, ebenso in eine Tradition des Reflektierens über Kunst stellt wie Bernhard – verwendet für seine Bilderzählung Alte Meister Textpassagen aus Bernhards Roman (also gleichsam lauter O-Ton-Zitate). Die Herauslösung aus dem umfangreichen Bernhard’schen Text geht einher mit einem Kondensationsprozess, der den Effekt des Sich-Wiederholens verstärkt. Die gezeichneten Bilder sind zu weiten Teilen monoton wie Regers bzw. Bernhards Text, dabei aber jeweils neu gezeichnet (keine technisch erzeugten identischen Kopien) – analog zu den variierenden Wiederholungen, in denen sich Reger ergeht. Geprägt durch Gleichförmigkeit, ist der Comic Alte Meister eine Etüde über das Prinzip der modifizierten Wiederholung, setzt Gleichförmigkeit als wichtiges Thema von Bern17 Eine Art Unterbrechung der Monotonie bedeutet die Einladung an den Erzähler, gemeinsam eine Aufführung des Zerbrochenen Krugs zu besuchen, was am Ende geschieht; die Aufführung, so wird berichtet, ist allerdings »entsetzlich« (Bernhard: Alte Meister, S. 311), und so ist es unwahrscheinlich, dass sich dergleichen Abwechslungen wiederholen werden.

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hards Text also auch in seiner bildlichen Inszenierung um – eine monotone Wirklichkeit, in deren Mikrozonen es allerdings leise gärt. Das Prinzip Wiederholung kann im Medium der Comicerzählung vor allem durch Bildzitate sinnfällig gemacht werden, die sie sich bei Mahler mehrfach finden – auch bezogen auf Bilder, von denen Reger nur spricht, statt sie im Kunsthistorischen Museum betrachten zu können. Alte Meister enthält eine Nachzeichnung von Goyas Graphik Der Schlaf der Vernunft (vgl. AM 27), ferner aber vor allem nachgezeichnete Bilder (Bildzitate also) aus den Beständen des Kunsthistorischen Museums in Wien. Tintorettos ›weißbärtiger Mann‹, der bei Bernhard eine so wichtige Rolle spielt, wird erwartungsgemäß wiederholt und in teils skurrilen Variationen ins Bild gesetzt. Ein in einer Bildersammlung spielender Roman, so zeigt Alte Meister, lässt sich als Sammlung von Zitaten gestalten und insofern seinem eigenen Gegenstand strukturell anpassen – als Sammlung von Text- und von Bildzitaten. Regers Bericht darüber, dass und warum er seit über dreißig Jahren das Kunsthistorische Museum frequentiert und dabei den Bordone-Saal ansteuert, ist in einer Sequenz ganzseitiger Panels dargestellt, die Reger in stets gleicher Haltung in Rückenansicht auf einer Sitzbank gegenüber dem Bild des weißbärtigen Mannes zeigt, der sich ebenfalls nicht ändert, wohl aber auf wechselnde Weisen, meist durch Sprechblasen, verdeckt wird. Der monologische Bericht über die Monotonie eines Lebens gestaltet sich als monotone Bildfolge (vgl. AM 33-39), an die dann eine Folge von Seiten anschließt, in denen diese Monotonie durch Wiederholung eines und desselben fast inhaltslosen Bildsegments noch unterstrichen wird (vgl. AM 4043). Eine in ihrer Form ähnlich programmatische Bildsequenz, als Illustration zu einem Exkurs Regers angelegt, handelt von der Eintönigkeit des Lebens von Martin Heidegger, das Reger auf einer Fotoserie dargestellt gefunden hat: Heidegger wird von Mahler auf zwei Seiten mit je neun Panels bei seinen alltäglichen eintönigen Verrichtungen gezeigt (vgl. Abb. 1); Bildgestaltung und Text suggerieren, dass sich Bildsequenzen zur pointierenden Darstellung monotoner Verläufe besonders eignen. Ich habe eine Reihe von Fotografien gesehen, die ich ihnen einmal zeigen werde, sagte Reger, auf diesen Fotografien / steigt Heidegger aus seinem Bett, / steigt Heidegger in sein Bett wieder hinein, / schläft Heidegger, / wacht er auf, / zieht er seine Unterhose an, / schlüpft er in seine Strümpfe, / macht er einen Schluck Most, / tritt er aus seinem Blockhaus heraus / und schaut auf den Horizont, / nimmt er seine Haube vom Kopf, / setzt er seine Haube auf, / hält er seine Haube in den Händen, / liest er, / löffelt er Suppe, / schneidet er sich ein Stück (selbstgebackenes) Brot ab, / schlägt er ein (selbstgeschriebenes) Buch auf, / macht er ein (selbstgeschriebenes) Buch zu, / bückt er sich, streckt er sich, und so weiter, sagte Reger. / Es ist zum Kotzen. (AM 84f.)18 18 Vgl. die entsprechende Sequenz bei Bernhard: Alte Meister, S. 93f.

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Dass Reger Heidegger ausgerechnet ein selbstgeschriebenes Buch aufund zuklappen, ein selbstgebackenes Brot essen lässt, verstärkt die Idee des Zyklischen noch, die durch diese eintönige Bildsequenz spielerisch inszeniert wird: Heidegger selbst erscheint als Repräsentant eines permanenten Selbst-Recyclings, das strukturell den obsessiven Selbstwiederholungen Regers entspricht – und der gewollten stilistischen Monotonie Bernhards, zu der Mahler dann ja zudem ein zeichnerisches Pendant bietet. Vor allem die Zentrierung der Romanvorlage auf das Themenfeld Reduktion, Nicht-Vollkommenheit, Abb. 1: Mahler: Alte Meister, S. 84. Skizzenhaftigkeit (sowie deren gleichsam existenzielles Pendant: die Defizite eines unausgefüllten, leeren, unvollkommenen Lebens) ist für Mahlers Comic stilistisch prägend. Sein Reger ist (wie auch der begleitende Erzähler) eine typische Mahler’sche Figur: reduktiv gezeichnet, eine Art Schriftzeichen; der Begleiter sieht aus wie in anderen Comics die autobiographische ZeichnerFigur, also wie ›Mahler‹ – so als sei der Zeichner selbst Regers Begleiter durch die Sammlung der ›Alten Meister‹. Bei der Auswahl von zeichnerisch zu inszenierenden Teilen des Erzählerberichts bzw. der Reger’schen Tiraden werden vorzugsweise die Passagen zeichnerisch inszeniert, in denen es um die Unvollkommenheit der Kunst, um Defizite, Mängeldiagnosen und andere Negativbefunde geht. Wir halten das Ganze und das Vollkommene nicht aus. / Wir müssen nach Rom fahren und feststellen, daß die Peterskirche ein geschmackloses Machwerk ist, der Berninialtar eine architektonische Stumpfsinnigkeit, sagt er. / Wir müssen den Papst von Angesicht zu Angesicht sehen und persönlich feststellen, daß er alles in allem ein genauso hilflos-grotesker Mensch ist, wie alle anderen auch, um es aushalten zu können. / Es gibt kein vollendetes Bild und es gibt kein vollendetes Buch und es gibt kein vollendetes Musikstück, das ist die Wahrheit. Keines dieser weltberühmten Meisterwerke, gleich von wem, ist tatsächlich ein Ganzes und

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vollkommen. Das beruhigt mich, sagte er. Das macht mich im Grunde glücklich. (AM 47-51) 19

Das Vollkommene existiert nicht – aber es wäre auch unerträglich: So Regers Einsicht über das Unvollkommene. Sie hat zwei Seiten, nicht nur die (negative) Seite des resignativen Verzichts auf den Glauben an Vollkommenheit, sondern auch eine positive. Die Nichtexistenz des Vollkommenen findet ihren konsequenten Ausdruck in der ständig das Erreichte leicht aber beharrlich modifizierten Wiederholung: Es gibt kein absolutes, end- gültiges Werk, so wie es in Bernhards repetitiv klingenden Tiraden keinen endgültigen Satz gibt – keinen, mit dem endlich und definitiv gesagt wäre, was zu sagen ist; alles geht immer weiter, von Bild zu Bild, von Satz zu Satz, von Buch zu Buch. Unvollkommenheit ist der Motor dafür, dass es weiter geht mit dem Sprechen und Schreiben. Zeichnerisch inszeniert Mahler diese Reger’sche Option für das Unvollkommene auf doppelte Weise. Erstens indem auch er ständig modifizierte Wiederholungen produziert: Zeichnungen mit repetierten Bildmotiven, dabei erkennbar aber keine perfekt identischen Wiederholungen, wie man sie mit technischen Mitteln (durchs Kopieren) erzeugen könnte, sondern gezeichnete Wiederholungen, die dasselbe Motiv jeweils ganz leicht verändert darstellen. Die ›unvollkommene‹ Zeichnung motiviert also die Produktion, führt zur Sequenz – und arbeitet dem Comic insofern zu. Zweitens durch Darstellungen ›unvollkommener‹ Figuren, durch karikaturhafte Reduktionen, also durch Mittel, die die Einbildungskraft des Betrachters stimulieren. Das Entscheidende ist das, was ›fehlt‹, und zwar in temporaler wie in räumlich-simultaner Hinsicht: Dieser Gedanke bildet ein Kernstück der Reger’schen Ästhetik – und zugleich ein Grundprinzip beim Erzählen von Comicgeschichten. Scott McCloud hat dem Geschehen zwischen den Panels be-

19 Zum Vergleich Bernhard: »Wir halten das Ganze und das Vollkommene nicht aus. Wir müssen nach Rom fahren und feststellen, daß die Peterskirche ein geschmackloses Machwerk ist, der Berninialtar eine architektonische Stumpfsinnigkeit, sagt er. Wir müssen den Papst von Angesicht zu Angesicht sehen und persönlich feststellen, daß er alles in allem ein genauso hilflos-grotesker Mensch ist, wie alle anderen auch, um es aushalten zu können. Wir müssen Bach hören und hören, wie er scheitert [...].« (Bernhard: Alte Meister, S. 43; Hervorhebung im Original); »Es gibt kein vollendetes Bild und es gibt kein vollendetes Buch und es gibt kein vollendetes Musikstück, sagt Reger, das ist die Wahrheit und diese Wahrheit ermöglicht es, daß ein Kopf wie mein Kopf [...] weiterexistiert.« (Bernhard: Alte Meister, S. 44); »Kein Werk in diesem Museum ist fehlerfrei, sage ich. Das mögen Sie belächeln, sagte er, das mag sie erschrecken, mich selbst beglückt es.« (Bernhard: Alte Meister, S. 45)

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kanntlich ausführliche Erörterungen gewidmet.20 Um die vor die Comicerzählung konstitutive Spannungsbeziehung zwischen dem Dargestellten und dem NichtDargestellten zu betonen – also den Umstand, dass das eigentliche ›Leben‹ der Figuren, die eigentlichen Ereignisse sich zwischen den Panels abspielen –, eignet sich eine Geschichte besonders gut, in der es um eine solche Spannung ständig geht: um die Unvollkommenheit aller positiven Bilder und um die Überschreitung des positiv Dargestellten durch die Imagination des Betrachters. Ein Moment der ›Überschreitung‹ des Sichtbaren liegt im Betrachten aller Bilder; werden sie doch stets zur Projektionsfläche von Gedanken und Phantasien. Mahler inszeniert programmatische Gesten der Überschreitung: Er zeichnet – ostentativ – nicht genau. Und so geschieht es, dass der weißbärtige alte Mann Tintorettos zwischen zwei aufeinanderfolgenden Abzeichnungen des Gemäldes offenbar seine Hand bewegt hat – wie eine Figur in einem Comic (vgl. AM 114f., Abb. 2). In den Kontext von Mahlers Comic versetzt, wirken manche Äußerungen Regers über die Kunst wie Beiträge zu einer Ästhetik des Comics – etwa wenn es um die Reize des Fragmentarischen gegenüber dem fertig Ausgeführten geht, also (pointierend gesagt) um eine Verteidigung des Skizzenhaften, der andeutenden Zeichnung gegenüber dem ausgearbeiteten Gemälde. »Die höchste Lust haben wir ja an den Fragmenten, / und wie grauenhaft ist uns das Ganze und ist uns im Grunde das fertige Vollkommene« (AM 44f.).21 Die zu diesen beiden Sätzen zweimal visualisierte Madonna besteht im ersten Fall letztlich nur aus einem Heiligenschein mit integrierter Nase, im Abb. 2: Mahler: Alte Meister, S. 115. zweiten Fall aus der Karikatur einer 20 Scott McCloud: Understanding Comics, New York 1993, S. 60-93. 21 Zum Vergleich: »Die höchste Lust haben wir ja an den Fragmenten, wie wir am Leben ja auch dann die höchste Lust empfinden, wenn wir es als Fragment betrachten, und wie grauenhaft ist uns das Ganze und ist uns im Grunde das fertige Vollkommene.« (Bernhard: Alte Meister, S. 41, Hervorhebung von MSE) Das Bernhard-Zitat bei Mahler ist selbst also ein Fragment.

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Madonna mit Kind. Unvollkommenheit und Imagination gehören zusammen; dies betont Mahlers Paraphrase des Bernhard’schen Textes. Dafür ein weiteres Beispiel: Natürlich kann es auf den El Greco verzichten [so Reger über das Wiener Kunsthistorische Museum], denn El Greco ist kein wirklich großer, kein allererster Maler, / sagte Reger, // aber keinen Goya zu haben, ist für ein Museum wie das Kunsthistorische Museum geradezu tödlich. (AM 26f)22

Der erste Teil der Äußerung gehört zu einem Panel, das Reger vor dem Porträt des weißbärtigen Mannes zeigt; die rechteckige Sprechblase deckt das gezeichnete Gemälde weitgehend ab. Der Satz über Goya zeigt dieselbe Regerfigur, nun umgeben von den monströsen fliegenden Wesen aus Goyas Capricho El sueño de la razón produce monstruos [Der Schlaf/Traum der Vernunft erzeugt Monstren]; Reger nimmt in der Bildkomposition gleichsam die Position des Goya’schen Schläfers ein. So nahe die Comicinszenierung dem Bernhard’schen Text hier auch ist – hier geht sie über ihn hinaus, indem visualisiert wird, was Reger als Lücke, als Abwesenheitsstelle markiert: ein Bild von Goya. Freilich ist es ja nur ein abgezeichneter und unähnlicher ›Goya‹, den wir da sehen. Aber so unähnlich die Zeichnung selbst der Goya’schen Vorlage auch sein mag: Sie verortet sich in seiner Nachfolge, indem sie Imaginäres sichtbar werden lässt.

A lice in S ussex – V erwandlung als D arstellungsprinzip Alice in Sussex basiert auf H.C. Artmanns Erzählung Frankenstein in Sussex, einem literarischen Pastiche aus literarischen und populärkulturellen Reminiszenzen sowie aus Märchentexten;23 Artmann versetzt Lewis Carrolls Heldin Alice nach Sussex, wo sie u.a. auf Frankensteins Monster trifft, das sie vergewaltigen will; ein Gentleman, der einem viktorianischen Roman entstiegen zu sein scheint, rettet sie jedoch. Mary Wollstonecraft Shelley und Frau Holle beobachten das Geschehen, intervenieren schließlich, und das Monster ergreift statt der entflohenen Alice Mary Shelley.24 Artmanns ›Frankenstein‹-Pastiche ist eine Hommage an die 22 Der Comic entspricht hier genau dem Wortlaut in Bernhard: Alte Meister, S. 31. 23 H.C. Artmann: Frankenstein in Sussex, Frankfurt a.M. 1969. 24 Zu Personen und Ereignissen aus Frankenstein in Sussex im Überblick (in: Gesammelte Prosa, hg. von Klaus Reichert, Bd. 2, Salzburg/Wien 1979, 391-407): Alice streift an einem schönen Juninachmittag zum Schmetterlingsfangen durch Sussex, beugt sich über einen aus einer Wiese ragenden Schornstein und fällt in die Tiefe. Nach der Landung

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Populär- und Unterhaltungsliteratur, in deren Spur sich seine Texte in vielfacher Hinsicht bewegen.25 Nicht nur die Kriminal-, Jugend und Abenteuerromane, Science-FictionTexte, literarisch-phantastische Fabeleien über Ungeheuer, Vampire, Verbrecher, nicht nur das Schaurige und Schrullige in der literarischen Überlieferung stimulierten Artmann zu eigenen Arbeiten, sondern auch Comics (die ja ihrerseits den genannten literarischen Genres in vielem nahestehen). Schon zu einer Zeit, als der Comic noch als subkulturelles Machwerk weitgehend verachtet wurde, nahm Artmann die gestalterischen Potenziale dieses jungen Genres wahr. Seine Aufzeichnungen aus Schweden von 1964 enthalten eine längere Passage, in der er sich ironisch über die Vorbehalte der Europäer gegenüber dem Comic äußert, ihre kulturkonservative Blindheit gegenüber dessen Literaturfähigkeit – und darüber, dass von der Popkultur nach seiner Einschätzung zukunftweisende Anregungen auf die moderne Literatur ausgehen werden. Anzeichen seien, so Artmann, »bein einem Riesentopf kaltgewordener Schwanensuppe wachsen ihr Schwanenflügel. Dann trifft sie auf Frankensteins Monster, das sie erst zum Orgelspielen anhält, sie dann vergewaltigen will und verfolgt – bis Alice gerettet wird. (Das Monster findet Ersatz.) Dieses Monster wohnt in einem »sozusagen unterirdischen gebäude oder building« (393), hofft seit langem vergeblich auf eine Frau und freut sich entsprechend über weiblichen Besuch. Als seinen Vater nennt es den seit 130 Jahren verstorbenen Victor Frankenstein. Alices Retter ist John Hamilton Bancroft: »ein gutaussehender gentleman in jägerrock und kniehosen« (394), unterwegs in Sussex, der beunruhigende unterirdische Geräusche hört und der Sache nachgeht; steigt in den Schornstein und verhindert Schlimmeres. Mary Woolstonecraft Shelley sitzt zusammen mit Frau Holle im blauen Himmel in einem Salon, wo sie Frau Holle als Gesellschafterin dient und ihr Märchen vorliest. Sie beobachtet zusammen mit Frau Holle die Ereignisse um das Monster und Alice, ist parteiisch für das Monster, das sie geschaffen hat, und möchte ihm Alice zuspielen, wird nach deren Rettung aber selbst die Beute des Monsters. Frau Holle ist kein »steinaltes Mütterchen« (396), sondern eine attraktive, modisch frisierte Blondine. Als das Monster Alice verfolgt, macht sie sich mit einem Atom-U-Boot auf, Alice zu retten, nachdem sie die widerstrebende Mary im Badezimmer eingeschlossen hat. Mary befreit sich durch den Abfluss, eilt ebenfalls zum Ort des Geschehens, wo sie später dem Monster in die Hände fällt. Eine weitere Figur ist Wilbur von Frankenstein, ein »gammler oder übriggebliebener hippie« (400), der wie Frank Zappa aussieht: Er hört zusammen mit Bancroft die unterirdischen Geräusche, greift aber nicht ein, da er als Pazifist die körperliche Auseinandersetzung mit Gegnern ablehnt. 25 Einen vergleichbaren Pastiche-Charakter wie Artmanns Frankenstein in Sussex hat unter Mahlers Arbeiten übrigens der Comic Van Helsing macht blau, in dem sich das Frankensteinmonster, Van Helsing, ein Werwolf und Zorro ein Stelldichein geben.

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reits überall zu merken«26, wobei er sich über die Verteidiger des hochkulturellen Territoriums gegenüber popkulturellen Phänomenen in Erinnerung an John Steinbeck lustig macht, der ebenfalls zu den Freunden des Comics gehörte. Nachmittags war ich in der Stadtbibliothek, um längst fällige leihbücher abzugeben. Dann schaute ich in Falkmans Bokhandel vorbei und fand ein Ballantinetaschenbuch mit Al Capps »The World of LI’L ABNER«. Das vorwort ist von John Steinbeck verfaßt und äußerst aufschlußreich: I’m writing this from what we Americans call Yurrp. In Europe writers are taken seriously as Lana Turners legs are in America – a ridiculous situation. I get interviewed by lean and hungry Yurrpeens now and then and they always want me to say who is the best writer in America today and I can’t think of any name but Capp. There is usually a yelp, »but doesn’t he do a Comic Strip? How can that be LITERATURE?« [They spell it in capitals in Europe.]

Steinbeck schrieb dieses vorwort, von dem ich hier den Anfang gab, vor etwa 12 jahren

[1952]. Es wäre heute immerhin an der zeit, sich bei uns zu bequemen, Comic Writing als das anzuerkennen, was es schon längst geworden ist, nämlich Literatur. [...] In einigen zwanzig jahren wird man über diese »Comics Epoche« tiefgründige Abhandlungen schreiben [wir wußten das schon immer &c., &c.] und somit über das, was eben noch ignoriert, aufs subtilste klugscheißen [siehe den gegenwärtigen Dadarummel]. / Ich aber sage: Popliteratur ist heute einer der wege [wenn auch nicht der einzige], der gegenwärtigen literaturmisere zu entlaufen.27

Mit seinen inzwischen 50 Jahre alten Prognosen zur künftigen Bedeutung des Comics für die Literatur, seinen Ausblicken in eine Zeit, die keine strikte Trennung zwischen hoher und trivialer Kultur mehr kennt, hat Artmann wichtige Stichworte zur Selbstpositionierung der neueren Comickunst gegeben. Mahlers Alice lässt ähnlich abbreviatorische Figuren auftreten wie andere Mahler-Comics auch. Von Alte Meister – wo die Idee der monotonen Wiederholung das Bildprogramm mitbestimmte, unterscheidet sich diese Bilderzählung durch ihr abwechslungsreiches, gleichsam ›wildes‹ Layout – das den seltsamen Abenteuern der Hauptfigur Alice korrespondiert. Wir haben es also mit einem Komplementärprojekt zu Alte Meister zu tun. Wie diese vor allem unter topographischen Aspekten höchst seltsame Erfahrungen macht – Erfahrungen mit fremdartigen Räumen und seltsamen Formen der Bewegung durch den Raum –, so bewegt sich Mahlers gezeichnete Alice auf seltsamen Wegen über die gezeichneten Seiten, überquert und durchbricht Panelgrenzen, macht irritierende Raumerfahrungen. 26 H.C. Artmann: Grammatik der Rosen (= ders.: Gesammelte Prosa, hg. von Klaus Reichert, Bd. 2,), Salzburg/Wien 1979, S. 34. 27 Artmann: Grammatik der Rosen, S. 33f. Orthographische Normabweichungen so im Text.

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Alices Abenteuer im Wunderland sind bei Carroll (wie auch die späteren im Land hinter den Spiegeln; vgl. Through the Looking-Glass) Eskapaden in eine fremde, eine in mehr als einer Hinsicht verkehrte Welt: Hier finden seltsame Metamorphosen statt, von denen auch Alice selbst betroffen ist – sie schrumpft und wächst wieder, Körperteile verlängern sich teleskopartig, das Gedächtnis scheint den Dienst zu verweigern, ihre Identität wird in Begegnungen mit den Wunderlandwesen in Frage gestellt.28 Auch andere Figuren in der von Lewis Carroll dargestellten Gegenwelt wechseln ihre Gestalt – ganz abgesehen einmal davon, dass es ja keine Menschen, sondern Tiere, Pflanzen und Spielkarten sind, die sich hier wie Menschen, freilich wie recht verrückte, benehmen. Raum und Zeit selbst scheinen anderen Gesetzen zu unterliegen als den vertrauten – und die Grenze zwischen Sein und Nichtsein ist weniger scharf gezogen als normalerweise (wie u.a. die unversehens auftauchende und verschwindende Cheshire Cat beweist). Aber man befindet sich ja auch in einer Gegenwelt, als Alice eingangs durch das Kaninchenloch gefallen ist, darüber spekulierend, ob sie vielleicht bei den ›antipathies‹ landen werde; gemeint waren – auch die Wörter verdrehen sich auf Alices Reise seltsam – die Antipoden. Sich seiner Identität, seines Namens, seines Ortes, seiner Erinnerungen, seines Wissens oder auch der Bedeutung der Wörter zur Bezeichnung des jeweils Gemeinten vergewissern zu wollen, erscheint im Wunderland als ein Unterfangen, dem sich manche Schwierigkeit entgegenstellt, ja das gelegentlich zum Scheitern verurteilt ist. Inkohärent wie die Körper sind hier die Beziehungen zwischen Namen und Dingen – und damit die durch Wörter gestifteten Beziehungen zwischen dem sprachbenutzenden Subjekt (Alice) und den Dingen. Zum programmatischen Ausdruck kommt die daraus resultierende profunde Verwirrung in der Wunderland-Episode um die Begegnung zwischen Alice und der blauen Raupe (Caterpillar): Als Inbegriff eines der Wandlung unterliegenden Wesens, bringt die Wasserpfeife rauchende Raupe Alices Vorstellungen darüber, was es heißt, jemand zu sein, gründlich durcheinander, und der Pilz, auf dem sie sitzt, trägt das seine dazu bei, dass Alice erfährt, wie wandelbar auch sie selbst ist. Auch Mahlers Alice ist eine bemerkenswert wandelbare Figur. Sie macht al28 Lewis Carroll: Alices Adventures in Wonderland (1865), Through the Looking-Glass and what Alice found there (1872). Zur Gefährdung der vermeintlich stabilen Identität der Heldin vgl. im Wonderland-Buch insbesondere Kapitel 5: »Advice from a Caterpillar«. Zu Anspielungen und Intertexten der Alice-Bücher vgl. die folgenden kommentierten Ausgabe: The Philosopher’s Alice. Alice’s Adventures in Wonderland & Through the Looking-Glass by Lewis Carroll. Introduction and Notes by Peter Heath, New York 1974; The Annotated Alice. Alice’s Adventures in Wonderland (1865) and Through the Looking-Glass (1872) by Lewis Carroll. Illustrated by John Tenniel. With an introduction and notes by Martin Gardner, Harmondsworth 1965.

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lerlei Verwandlungen durch, verliert gelegentlich Teile ihrer Gestalt (u.a., als die Raupe sie anschreit: »Leben heißt Boden verlieren!!!«, AS 48), manchmal wuchern diese auch. Es scheint, als führe die sich in einer Episode kreisförmig über die Buchseiten ausdehnende blaue Raupe in diesem Band heimlich die Regie; Blau ist ja auch die hier inszenierte Farbe. Alices seltsame Frisur erinnert ebenso wie ihre gebogenen Beinchen an eine Raupe. Und ›raupenartig‹ sich schlängelnde Bänder durchziehen die Geschichte als Grundmotiv (AS S. 9-12, S. 124-127). Dass Frankensteins Monster als ein auf ganz eigene Weise metamorphotisches Wesen ebenfalls blau ist, passt ins Bild. Wandelbar sind aber nicht allein die Figuren; wandelbar sind auch die Strukturen, die diesem Comic zugrundeliegen. Panelformen variieren erheblich; Panelgrenzen sind ebenso relativ und modifikationsfähig wie in Carrolls Wunderland – die Grenzen zwischen Figuren sind in Mahlers Alice-Comic die Panelgrenzen. Sie changieren in der Größe, Panels fügen sich zu einem gezeichneten dreidimensionalen Kasten (dem Kaninchenhaus, das zugleich eine Bücherkiste ist); sie gleichen sich den dargestellten Figuren und Szenen wiederholt an und sind manchmal auf ungewöhnliche Weise miteinander verbunden. So etwa durch einen Mauseschwanz – das gezeichnete Gegenstück zu dem mauseschwanzartigen Gebilde, das bei Carroll bereits als ›Mouse’s Tale‹ (ein Wortspiel mit ›Mouses’s tail‹) zu sehen war – ein Stück Visualpoesie im Wonderland-Buch. Bei Mahler ist der Mauseschwanz auch zugleich ein Schrift-Bild; seitenübergreifend ringelt er sich zu einem M (M wie Maus, M wie Mahler) und bildet den Anfang des Satzes »Mein Name ist Ismael« (AS 60f., vgl. Abb. 3), eines aus Melvilles Moby Dick geborgten Zitats. Wie bei Carroll die kategoriale Differenz zwischen Wörtern und Dingen verwischt wird, indem die Wörter als Dinge behandelt und erörtert werden, so spielt Mahler mit dem Unterschied zwischen zeichnerisch dargestellter Welt und zeichnerischen Ausdrucksmitteln. Das Tischtuch bei der Tee-Party des Verrückten Hutmachers stellt sich als Rechenkästchenpapier dar, auf dem die gezeichnete Alice herumläuft; als der Hutmacher seine absurden Rätselfragen stellt, verwandelt sich das karierte Papier in die Fläche eiAbb. 3: Mahler: Alice in Sussex, S. 61.

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nes Kreuzworträtsels, dann in ein gezeichnetes Labyrinth; verdrehte Textzeilen erinnern an das Layout von Rätselseiten in Zeitungen (vgl. AS 69-71). Metamorphotisch gestalten sich nicht nur die Panels, sondern – als ein anderes konstitutives Element des Comics – auch die Sprechblasen, so anlässlich der Begegnung mit der Mock Turtle, die ein groteskes Lamento anstimmt (vgl. AS 79) und dabei mitteilt, einst sei sie echt gewesen.29 Nicht nur, dass in der Mock Turtle Episode die Panelformen durch ihre wechselnden Gestalten Anteil am Erzählen der Geschichte haben; die Sprechblasen erscheinen zudem als gegenständliche Elemente, die – beispielsweise – den Hügel durchbohren, auf dem die Turtle steht und spricht (vgl. AS 83). Auf dem Weg, der Alice schließlich zu Frankensteins Monster führt (auf dessen Nase sie nach einem Sturz landet), durchquert sie weiße und schwarze Rechtecke, von denen nicht klar ist, ob sie als dargestellte Räume oder als Panels interpretiert werden sollen (vgl. AS 98f.). Die Sprechblasen des Monsters sind durch Nähte aus Teilen zusammengestückelt, ebenso wie die Figur selbst (vgl. AS 100-124). Wenig später verwandeln sich die Panels der Bildgeschichte in einen gezeichneten Bildschirm innerhalb der Comicerzählung; Frau Holle und Mary Wollstonecraft Shelley beobachten an diesem Bildschirm das Geschehen um Alice und das Monster (vgl. AS 106f.). Carroll reflektiert in den zahlreichen sprachreflexiven Passagen seines AliceBuchs über Konventionen und Kontingenzen sprachlicher Bezeichnung, über Namen, Redensarten, Ausdrucksweisen und nicht zuletzt über die weltkonstitutive Dimension von Wörtern (Wesen wie die Mock Turtle sind aus sprachlichen Bezeichnungen abgeleitete, buchstäblich aus dem Wort hervorgegangene Wesen). Analog dazu experimentiert Mahler mit der Zeichensprache des Comiczeichners, verstößt gegen konventionelle Erscheinungs- und Gebrauchsweisen dieses Codes, vermengt Zeichen und gezeichnete ›Dinge‹, lässt die Elemente der Zeichnung zu Elementen des dargestellten Raums, ja zu Protagonisten werden – so wie es bei Carroll mit den Wörtern gemacht wird. Wandelbarkeit wird aber nicht nur auf zeichnerischer Ebene – im Umgang mit Bauelementen und Bauprinzipien des Comics – zur Leitidee dieser Alice-Variation. Auch die Textgestaltung steht im Zeichen der Verwandlung; der Untertitel frei nach Lewis Carroll und H.C. Artmann deutet es bereits an. Artmanns Alice-Erzählung ist bereits das Produkt eines Verwandlungsprozesses, bei dem Elemente verschiedener Vorlagen, darunter Bausteine aus Carrolls Alice in Wonderland der 29 Bei Carroll und seinem Illustrator John Tenniel ist die ›Mock Turtle‹ ein Phantasiewesen in Schildkrötengestalt mit Kalbskopf, das sich einer wortspielerischen Analogiebildung verdankt: wenn ›turtle soup‹ (Schildkrötensuppe) aus ›turtles‹ gemacht wird, dann muß ›mock turtle soup‹ aus ›mock turtles‹ hergestellt werden. (Tatsächlich wird sie aus Kalbfleisch gemacht, daher der Kalbskopf.)

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Umformung unterzogen und neu arrangiert wurden. Mahler verwandelt weiter; seine Texte lehnen sich zwar an Carrolls Roman und Artmanns Geschichte an, fühlen sich an diese aber keineswegs gebunden. Stattdessen wird – in Analogie zu Artmanns Spielregel, aber mit neuem Material – eine Fülle an Zitaten aus anderen literarischen und nichtliterarischen Texten in die Bildgeschichte einmontiert; am Bandende findet sich dazu eine Aufstellung mit Zitatnachweisen (vgl. AS 139141).30 Der Bericht der Mock Turtle über ihre früheren Unterrichtsfächer ist ein Beispiel für solches Zitat-Recycling; er liest sich wie eine Parodie zeitgenössischer akademischer Diskursmoden (und erinnert so implizit vielleicht auch daran, wie schwer hier manchmal Fakes von echten Diskursen zu unterscheiden sind): wir hatten 2 Stunden Unzuverlässiges Erzählen ... / 4 Stunden Performativität von Krankheit und Geschlecht ... / 8 Stunden Literarisierung von Kindheit und Jugend im transkulturellen Kontext ... / 16 Stunden empirische Datenerhebung und –auswertung ... / 32 Stunden Dehnen, Kräftigen, Mobilisieren, / 64 Stunden Fernsehästhetik... (AS 83)

Die Fächernamen entstammen den paratextuellen Angaben am Buchende zufolge dem Vorlesungsverzeichnis der Universität Wien im Wintersemester 2012/13. Alice denkt sich, was manchem Erstsemester durch den Kopf gehen mag: »So etwas Wirres hab ich mein Lebtag noch nicht gehört.« (AS 83)

D er M ann ohne E igenschaften : V ariationen über die E ntwicklungslosigkeit – oder »W orin bemerkenswerterweise nichts geschieht « Wiederholungen sind für den Comic konstitutiv. Erstens sollen die mehrmals gezeichneten Figuren als ›wiederholte‹ Figuren wiedererkennbar sein, weil sonst die

30 Zitiert wird – neben Carrolls Alice im Wunderland in der Übersetzung von Christian Enzensberger und Artmanns Frankenstein in Sussex aus folgenden Texten: E.M. Cioran: Vom Nachteil geboren zu sein; E.M. Cioran: Die verfehlte Schöpfung; Robert Poulet: Wider die Jugend; Rudolf Stürzer: Schwankende Gestalten; Voltaire: Candide oder der Optimismus; Prentice Mulford: Der Unfug des Lebens; Herman Melville: Moby Dick; Herman Melville: Bartleby, der Schreiber. Eine Geschichte aus der Wall-Street; H.C. Artmann: Der aeronautische Sindtbart oder Seltsame Luftreise von Niedercalifornien nach Crain [...]; Gaby von Schönthan: Angenehme Müdigkeit; Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister; Leo N. Tolstoj: Der Tod des Iwan Iljitsch, sowie aus dem Vorlesungsverzeichnis der Universität Wien.

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Geschichte auseinanderfällt.31 Zweitens basiert zumindest der Seriencomic darauf, dass sich Dinge wiederholen. Mahlers serielle, abstrahierte Strichmännchen sind Figuren fast ›ohne Eigenschaften‹ – korrespondierend mit der zur Thematik des Musil’schen Romans, der die Konzeption des individuellen Charakters kritisch reflektiert und mit Ulrich eine Hauptfigur präsentiert, die sich Urlaub vom Leben nimmt, statt noch an die Idee einer großen, individuell-schicksalhaften Bestimmung zu glauben. Mahlers Musil-Comic bietet eine Variation über eine Kernidee des Manns ohne Eigenschaften: Nichts Besonderes, keine spannende Individualgeschichte prägt die dargestellte Welt – nur das Ähnliche, das ›Seinesgleichen geschieht‹. Wie Musils Roman lassen sich Mahlers Bildgeschichten als Konkretisierungen einer Poetik der ›Nicht-Geschichte(n)‹ beschreiben – oder eher noch: der ›Fast-nicht-Geschichten‹. Mahlers Mann ohne Eigenschaften ist, was den verbalen Anteil angeht, ausgesprochen lakonisch. Ganze Seiten, selbst längere Seitensequenzen kommen ohne jedes Wort aus, und auf den Seiten, die Textelemente aufweisen (Titel einzelner Abschnitte, Sprechblasen oder Passagen, die einer Erzählerstimme entsprechen), sind diese durchgängig knapp gehalten. Schon dadurch ergibt sich eine ironische Diskrepanz zwischen dem Comic und der Romanvorlage, die einen fast sprichwörtlichen Umfang aufweist. Impulsgebend für seine Auseinandersetzung mit Musils Roman waren, so Mahler gesprächsweise über sich selbst, Musils ›starke Bilder‹ – Sprachbilder im Text, die zur zeichnerischen Visualisierung einluden. Gemessen am Umfang der Romanvorlage steht gerade diese Arbeit im Zeichen einer Kondensation des Textes auf wenige Zitate; komplementär zur starken Verknappungstendenz vollzieht sich die Entfaltung von textimmanenten Bildern zu ganzen Bildseiten und Seitensequenzen. Da die Verwandlung eines so umfangreichen Romans in einen Comic besondere Komprimationsverfahren nötig macht, hier ein paar genauere Blicke auf den gezeichneten Mann ohne Eigenschaften. Mahlers Nacherzählung bezieht sich auf das Erste Buch (Erster und Zweiter Teil), das in der Frisé-Ausgabe 665 Seiten umfasst.32 Das in der Buchausgabe folgende Zweite Buch (Dritter Teil) sowie der Schluss des Dritten Teils und der Vierte Teil, mit denen es der Roman dann auf 1584 Druckseiten bringt, werden nicht berücksichtigt. Die Nacherzählung strafft die bei Musil dargestellte Episodenfolge drastisch und spart dabei einzelne Handlungsstränge ganz aus. So finden etwa die Kapitel um Clarisse und Walter keine 31 Vgl. dazu Ole Frahm: Die Sprache des Comics, Hamburg 2010. 32 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, hg. von Adolf Frisé, Sonderausgabe Reinbek bei Hamburg 1970. Textidentisch mit Bd. 1 und 2 der Werkausgabe von Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978. Die auf Teil I und II folgenden weiteren Teile des Musil’schen Romans bleiben bei Mahler unberücksichtigt.

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Berücksichtigung. Ebenso ausgespart sind Gerda und Fischel. Die der Parallelaktion geltenden Treffen bei Graf Leinsdorf und bei Diotima erscheinen zusammengezogen, und auch die Szenen, in denen Ulrichs Geliebte Leona und Bonadea auftreten, bilden bei Mahler nur einen einzigen Komplex ›mit Dame‹. Aufgebaut ist der Comic aus blockartigen Komplexen, die sich nach Personen und Schauplätzen leicht einer groben Gliederung unterziehen lassen: (a) Ulrich, zuhause – (b) die Parallelaktion und ihre Mitwirkenden – (c) Moosbrugger – Passagen wechselnder Personen durch gezeichnete Räume bzw. durch den Buchraum. Die Strukturierung der Bildfelder erfolgt am Leitfaden einiger weniger Ausgangsideen. Vielfach tragen die Buchseiten nur ein einziges Bild. Wo sie Bildsequenzen enthalten, dominiert ein Schema aus sechs quadratischen Panels, das die jeweiligen Bildmotive oft in nur geringfügigen Abweichungen voneinander zeigt. Solche Arrangements von kleinformatigen quadratischen Panels, die eine minimale Veränderung oder Bewegung visualisieren, werden mehrfach auch auf mehrere, einander folgende Seiten verteilt. Während die ganzseitigen ebenso wie die unterteilten Seiten weitgehend durch klare gerade Linien eingefasst sind, löst sich die Bilderzählung in Ausnahmefällen von diesem Verfahren, sei es, dass die gezeichneten Motive rahmenlos auf der weißen Seite stehen (vgl. MoE 109), sei es auch, dass die Rahmenlinien eine ungewöhnliche Form annehmen, wie bei Rachels Blick durchs Schlüsselloch, der durch ein schlüssellochförmiges Bild wiedergegeben wird (vgl. MoE 112). Die Textelemente des Comics sind, einer Erläuterung des Künstlers selbst zufolge, dem Mann ohne Eigenschaften selbst entnommen. Tatsächlich bestehen sie aus Zitaten – mit leichten Modifikationen und unter Veränderung der Reihenfolge, in der die zitierten Passagen in der Romanvorlage vorkommen. Der Vergleich zwischen Musils Text und Mahlers Text verdeutlicht zum einen, dass sich der Comiczeichner gegenüber seiner Vorlage offenbar frei fühlt. Zum anderen mag er auf ironische Weise darauf hinweisen, dass sich die Erinnerung der meisten MusilLeser an den voluminösen Mann ohne Eigenschaften einige Zeit nach der Lektüre auf solche Text-Bruchstücke in flexibler Reihenfolge reduzieren dürfte. Ein Vergleich zeigt:33 Mahler verwendet Textelemente aus dem Mann ohne 33 Eine Übersicht über Texte und Szenen in Mahlers »MoE« (Musil-Zitate unterstrichen): Abschnitt 1: MoE 9: »Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht«; so lautet auch der Titel des ersten Kapitels von Musils MoE (Musil: MoE 9): Ulrich erhebt sich von seinem Sessel, boxt gegen einen Punchingball, sieht durchs Fenster auf die Straße und bricht dann auf. Ein Autounfall ereignet sich (MoE 18; vgl. Musil: MoE 10/11). Ulrich passiert eine Lotteriefiliale, ein Poster mit einem Rennpferd (MoE 20; vgl. Musil: MoE 44) und begibt sich in ein Variété (MoE 22; vgl. Musil: MoE 21). Die dort auftretende Sängerin kleidet sich nach ihrem Auftritt an und geht mit Ulrich in eine Konditorei, wo

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Eigenschaften, aber er modifiziert sie gelegentlich und verwendet sie in anderer Reihenfolge als der ihres Auftauchens bei Musil. Der Entwicklungslosigkeit der Parallelaktion (und der Welt, in der man sich über diese Gedanken macht) wird gespiegelt durch die sich wiederholenden Episoden bei Mahler – aber auch dadurch, dass dieser Elemente der Romanvorlage in verdrehter Folge verwendet, so, als komme es auf diese Abfolge gar nicht an. Anlässlich der Geschichte Moosbruggers erzählt Mahler wiederum eine Geschichte über die Monotonie des Immergleichen; Kapitel 14 (»Man führt Moosbrugger in ein neues Gefängnis«, MoE 129-136) zeigt als Hauptmotiv auf wenigen Seiten sechsundzwanzigmal Moosbruggers Zellentür, manchmal von außen, manchmal sie erheblichen Appetit entwickelt (MoE 27; vgl. Musil: MoE 22-24), bevor man sich in Ulrichs Schlafzimmer zurückzieht. Kap. 1, nach der Überschrift ansonsten wortlos, endet mit dem Satz »Zu dieser Zeit beschäftigte der Fall Moosbrugger die Öffentlichkeit« (MoE 67; vgl. Musil: MoE 28). – Abschnitt 2: MoE 29: »Moosbrugger«; der Abschnitt ist vor allem Moosbrugger im Gefängnis (MoE 29-35; vgl. Musil: MoE 68) und dessen Erinnerungen an die Vorgeschichte gewidmet. Der Zeichner verwendet ausgewählte Zitate, die in der Romanvorlage nicht direkt aufeinander folgen: »Moosbrugger war ersichtlich krank« (MoE 32; bei Musil: MoE 71: »Er war«); »Sein ganzes Leben war ein zum Lachen und Entsetzen unbeholfener Kampf, denn die Welt hielt überall gegen ihn zusammen« (MoE 33; vgl. Musil: MoE 71); »Es war wie der Kampf eines Schattens mit der Wand, und zum Schluß flackerte Moosbruggers Schatten nur noch gräßlich.« (MoE 34; vgl. Musil: MoE 76); »Moosbrugger leugnete seine Taten nicht, er wollte sie als Unglücksfälle einer großen Lebensauffassung verstanden wissen.« (MoE 35; bei Musil: MoE 72: »Er leugnete«) – Ulrichs Gedanken und ein Blick auf sein Leben beschließen den Abschnitt: »Wenn die Menschheit als Ganzes träumen konnte, müßte Moosbrugger entstehn.« (MoE 36; Musil: MoE 76); »In / solcher / Weise / verging / die / Zeit« (MoE 37-42; der Satz aus Musil: MoE 77 ist bei MoE über 6 Seiten gedehnt.) – Abschnitt 3: »Wesen und Inhalt einer großen Idee« (MoE 42; vgl. Kap. 27 bei RM, 110): Ulrich begibt sich in dieser Episode in ein Palais und in den Dunstkreis der Parallelaktion; erinnert wird sowohl an den Besuch beim Grafen Stallburg in der Hofburg, der Ulrich aufsucht, bevor er sich zum Grafen Leinsdorf (dem Urheber der Parallelaktion) begibt (Musil: MoE Kap. 20, 83-86) – als auch an die Schilderung Ermelinda Tuzzis (Diotimas) (Musil: MoE Kap. 22, 91-95). Denn obwohl Ulrich in der Bildsequenz eine männliche Figur in Uniform trifft, die an Musils Stallburg-Schilderung erinnert ,aber auch Leinsdorf meinen könnte, verwendet Mahler für das Gespräch der beiden Herren eine Frage, die Ulrich bei Musil seiner Kusine Diotima stellt: »Denken Sie an etwas bestimmtes?« (MoE 48; Musil: MoE 93). Die den Abschnitt beschließende Bemerkung »Wie sich mit Sicherheit sagen läßt, war das einzige Bestimmte, was seiner Exzellenz bis zu diesem Zeitpunkt eingefallen war, eine Reihe von Namen. Aber auch das ist ungemein viel.« (MoE 50) entspricht einer

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von innen. Die Wiederholung wird in der Mikro- wie in der Makrostruktur zum tragenden Prinzip. In einem Gespräch, bei dem Diotima Ulrich fragt, was er tun würde, wenn er für einen Tag das Weltregiment hätte, bemerkt Ulrich u.a.: »Wir überschätzen maßlos das Gegenwärtige, das Gefühl der Gegenwart, das, was ist.« Mahlers Version enthält ein abschließendes Echo, das die Bemerkung verlängert: »Wir überschätzen maßlos das Gegenwärtige, / das Gefühl der Gegenwart, / das, was ist. / Wir überschätzen das.« (MoE 148-151) Die dieser Bemerkung unterlegte Episode ähnelt der Eingangsepisode sehr: Ulrich im Sessel, Ulrich am Punchingball, Ulrich am Fenster (durch das er diesmal die Beteiligten der Parallelaktion sieht), Ulrich beim Ausgang. Fast nichts ist passiert.

Abb. 4: Mahler: MoE, S. 131.

Passage des Leinsdorf-Kapitels 37, ohne mit ihr deckungsgleich zu sein (vgl. Musil: MoE 139). – Abschnitt 4 (»Ein Kapitel, das jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine besondere Meinung hat«, MoE 51) trägt den Titel eines Kapitels bei Musil (Musil: MoE 111, Kap. 28), ist dabei aber ganz wortlos. – Abschnitt 5 (»Die große Sitzung«; MoE 59) erinnert an Musils Kap. 42 (Musil: MoE 167), es gilt der Parallelaktion. Neben mit Einzelsätzen gefüllten Sprechblasen (z.B. »Glauben Sie, daß aus dieser Aktion etwas entstehen wird?« MoE 60; vgl. Musil: MoE 174: »Ulrich antwortete mit der Frage, ob er [Arnheim] denn glaube, daß aus dieser Aktion etwas entstehen werde?«: »Ohne Zweifel«; MoE 62; Musil: MoE 174; vgl. auch MoE 67: »Es ist ganz wundervoll, neue Ideen oder, wenn es erlaubt ist zu sagen, überhaupt erst Ideen in Machtsphären zu tragen!« und Musil: MoE 271: »Sie kennen ja meinen Grundsatz, daß man der Gelegenheit, Geist in eine Sphäre bloßer Macht zu tragen, niemals aus dem Wege gehen soll«), finden sich auch leere Sprechblasen, die entweder die Formelhaftigkeit und Inhaltsleere der geführten Gespräche oder aber die Ratlosigkeit und insofern die Sprachlosigkeit der Figuren andeuten (MoE 61f.). – Abschnitt 6, »Moosbrugger denkt nach« (MoE 69), zitiert mit seinem Titel ein Musil-Kapitel (Kap. 59; Musil: MoE 235); es setzt eine ausführliche Passage über Moosbrugger in eine spärlich betitelte Bildsequenz um (Musil: MoE 71f.: »Moosbrugger

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F azit Mahlers Literaturcomics präsentieren sich als Beiträge zu einer Ästhetik des Comics, die auf der Auswahl solcher literarischer Textgrundlagen beruhen, die dieser Konzeption entgegenkommen.34 Dies gilt für das verwandlungsfreudige AliceBuch, dies gilt aber auch und komplementär für Alte Meister und den Mann ohne Eigenschaften mit ihrer Tendenz zur Wiederholung – einer Wiederholung, die für das Minimale von Differenzen sensibilisiert und diesem Minimalen ein Maximum an ästhetischen Effekten abgewinnt. Schon dass Alte Meister in Räumlichkeiten spielt, in denen Bilderreihen betrachtet werden können, macht den Text zur stimulierenden Vorlage gezeichneter Bildsequenzen; hinzu kommt aber vor allem die Gestalt des sich lebend und dachte besser als andere / denn er dachte außen und innen. Er sagte, Gedanken würden ihm gemacht.«) – Abschnitt 7 »Weitere Entwicklung« (MoE 73) entspricht Musils Kap. 50 (Musil: MoE 198) und schildert wieder die Parallelaktion. Der von Ulrich anläßlich eines Treffens mit Stumm von Bordwehr erwähnte Napoleon findet sich unter den Beteiligten (MoE 78, 79; vgl. Musil: MoE 380). – Abschnitt 8 »Beim Bleigießen, welches das Schicksal mit uns veranstaltet« (MoE 81), erzählt wieder von Moosbrugger, der verhört wird und Halluzinationen hat (MoE 85; vgl. Musil: MoE 239). – Der Titel von Abschnitt 9 »In diesem Abschnitt war etwas Merkwürdiges im Zimmer« (MoE 87) ist ein modifiziertes Musil-Zitat und dort kein Kapiteltitel (»In diesem Augenblick war etwas Merkwürdiges im Zimmer.«; Musil: MoE 180); dargestellt werden u.a. die Beklemmungen, die Diotima in Gegenwart des Generals Stumm empfindet. (MoE 89: »Was will dieser Mensch? [...] Ich habe ihn nicht eingeladen.«; vgl. Musil: MoE 464; MoE 91-94: »Er erinnert mich an den Tod«; vgl. Musil: MoE 466) – Der Wechsel zwischen Moosbrugger-Episoden und Episoden um Ulrich und die Parallelaktion setzt sich auch im Folgenden fort, nicht strikt alternierend allerdings. Vgl. Abschnitt 10: »Moosbrugger tanzt« (MoE 95-104; vgl. Musil: MoE, S. 393); Abschnitt 11: »Auf dem Sprung ins Unmögliche« (MoE 105-110; vgl. Musil: MoE, S. 289); Abschnitt 12: »Eine perspektivische Verschiebung« (MoE 111-116; vgl. Musil: MoE, S. 180) – über Rachel; Abschnitt 13: »Leiden einer verheirateten Seele« (MoE 117-128; vgl. Musil: MoE, S. 103, Kap. 25, über Diotima; da die Episode aber eine Affäre Ulrichs mit der Dame thematisiert, werden hier wohl Diotima und Bonadea überblendet); Abschnitt 14: »Man führt Moosbrugger in ein neues Gefängnis« (MoE 129-136; vgl. Musil: MoE, S. 532); Abschnitt 15: »Ein großes Ereignis ist im Entstehen« (MoE 137146); Abschnitt 16: »Aber man hat es nicht gemerkt« (MoE 147-156). 34 In allen drei Comics wirken einzelne Figuren wie ironische Selbstporträts des Zeichners. Insbesondere Atzbacher in Alte Meister entspricht der Figur, in der sich Mahler selbst porträtiert. Im Mann ohne Eigenschaften spiegelt er sich ebenso – aber auch in der wandlungsfähigen Raupe in Alice in Sussex.

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sprechend stets wiederholenden Reger (der sich ironischerweise eben kaum regt, dessen Namen man dafür aber von hinten wie von vorn lesen kann). Die Nacherzählung der Bernhard’schen ereignislosen Handlung wird zur zeichnerischen Inszenierung einer Ästhetik der Wiederholung – der ›Wiederholung‹ als Thema der Bernhard’schen Textvorlage und als Bernhards Stilprinzip, der ›Wiederholung‹ aber auch als eines den Comic prägenden Strukturmusters. Implizit verweist Mahler insbesondere auf die zentrale Eigenart vieler seiner eigenen Comics, die durch besonders konsequente (und darum komische) Wiederholungen auf der Ebene von Figurendarstellung und Plot geprägt sind: Ganze Episoden beruhen auf Variationen allenfalls einzelner, oft unauffälliger Details und gelten der tragikomischen Monotonie ritualisierter Abläufe. Ein weiteres comicreflexives Thema, das – eng verknüpft mit der Thematik der Wiederholung – in Alte Meister im Ausgang von Bernhards Text bilderzählerisch reflektiert wird, ist das Unvollkommene mit seinen stimulierenden Effekten: Unvollkommene Bilder stimulieren dazu, sie hypothetisch zu ergänzen oder über das Fehlende zu spekulieren, aber auch dazu, über sie zu schreiben und sie zu zeichnen. Gerade unvollkommene (im Sinne von monotone) Lebensläufe stimulieren zudem einen Zeichner wie Mahler zu komischen bzw. tragikomischen Comicgeschichten. Das Unvollkommene ist – woran man sich bei dieser Gelegenheit erinnert – im Übrigen ja seit jeher das Territorium des Comics gewesen – das des komischen Zeitungscartoons mit seinen alltäglichen Antihelden, aber auch das des satirischen Comics mit seinen kritischen Perspektiven auf eine unvollkommene Welt. Mahlers Alice-Version in den Spuren Carrolls und Artmanns ist selbstbezüglich als Hommage an die Populärkultur, aus welcher der Cartoon und die Comicgeschichten ja hervorgegangen sind. Diese Bilderzählung bewegt sich in den Spuren Artmanns, der ähnlich verfuhr: Sie bietet eine an popkulturelle Samplingverfahren erinnernde Mixtur von Zitaten unterschiedlicher Provenienz. Als ein solches Ensemble von Zitaten ist auch dieser Literaturcomic eine Variation über Mahlers Kernthema, die Wiederholung; diese wird hier allerdings auf spezifische Weise akzentuiert, indem vor allem Formen der Metamorphose erfunden und gezeichnet werden: Metamorphosen der Figuren, der Schauplätze und der typischen Comicelemente Panel und Sprechblase. Inhaltlich wie durch die Architektur der Bildgeschichte akzentuiert Mahler hier also die Idee des Wandels als Komplementärkonzept zur Monotonie des Immergleichen, das aber ebenso wie diese auf Wiederholung als Grundprinzip verweist: Verwandelte Figuren sind Produkte der Transformation von sich Wiederholendem; ohne einen Rest an Wiederholtem wird keine Variation wahrnehmbar. Auch diese Einsicht ist insbesondere auf den Comic selbst zu beziehen. Die Vielfalt seiner Ausdrucksmittel und Stile erscheint unter dieser Akzentuierung als Ergebnis der Variation bestimmter architektonischer Grundformen und Codes. Buntheit, Abwechslungsreichtum und Phantastik

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vieler Comicgeschichten werden als Produkt einer Erfindungskunst bespiegelt, die das ihr Vorausgehende jeweils rezipiert und verwandelt: die Bilder und Einfälle der Vorläufer – und nicht zuletzt die Geschichten, die literarische Autoren bereis erzählt haben. Mit dem Musil-Comic rückt die Idee der Monotonie wieder stärker in den Vordergrund von Mahlers Variationen über die Wiederholung. Das Ausbleiben des Eigentlichen, das ›Seinesgleichen geschieht‹, die uneingelöste Erwartung des Besonderen, Epochalen, Großen wird als Kernidee Musils aufgegriffen. Die Geschichte der Parallelaktion als eine Nicht-Geschichte, ein zu nichts Konkretem führender, in sich kreisender Prozess wird so zur Parallelgeschichte der Art von Geschichten, die Mahler vorzugsweise erzählt: Geschichten von Wiederholungen, selbstreferenzielle und insofern ›zirkuläre‹ Geschichten – und Geschichten über die Problematik einer Unterscheidung zwischen politischem Kalkül und Irrsinn.

»Das nicht, bitte das nicht!« Körperdarstellung in Comicversionen von Schnitzlers Fräulein Else und Kafkas Die Verwandlung T orsten H offmann

Ein besonders prekärer Aspekt des Medienwechsels von der Literatur zum Comic ist die Darstellung von Körpern. Das wusste man schon lange vor der Erfindung des Comics: In einer der ersten deutschsprachigen Medientheorien, in Lessings Studie Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie von 1766, wird von der literarischen Körperdarstellung ausdrücklich abgeraten. Für den Schriftsteller seien Körperbeschreibungen »nur eines von den geringsten Mitteln«, um die Lesenden für seine Helden zu interessieren; ja, man könne in Texten Menschen problemlos so darstellen, »daß wir an die körperliche Gestalt gar nicht denken«1. Handlungen in der Zeit, nicht Körper im Raum seien der wichtigste Gegenstand der Literatur. Mit Lessing kurz gesagt: »Wer hier ein schönes Bild verlangt, auf den hat der Dichter seinen ganzen Eindruck verfehlt.«2 Deshalb enthält gute Literatur nach Lessings Meinung keine direkten Körperbeschreibungen, während in der bildenden Kunst das Gegenteil der Fall sei: »Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften«, so Lessings Urteil, sind »die eigentlichen Gegenstände der Malerei«3. Schaut man sich Literaturcomics durch Lessings Brille an (und das soll hier einmal ausprobiert werden), ergibt sich folgendes Dilemma: In den Comicpanels muss vor allem das bildlich dargestellt werden, was in der Textvorlage idealerweise gar nicht beschrieben wird – nämlich Körper. Insbesondere in 1 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon, in: ders.: Laokoon. Briefe, antiquarischen Inhalts (= ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Wilfried Barner, Bd. 5.2), Frankfurt a.M. 1990, S. 9-206, hier S. 35. 2 Lessing: Laokoon, S. 35. 3 Lessing: Laokoon, S. 116.

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der Körperdarstellung darf und kann der Text also nicht ›werkgetreu‹ auf die Bildebene des Comics übertragen werden. Mit einem von Lessings Studie geschärften Blick soll deshalb im Folgenden untersucht werden, wie und mit welchen Folgen Literaturcomics den Körper ins Bild rücken. Ich werde diese Frage an Comicversionen von zwei Erzähltexten der klassischen Moderne diskutieren, die einen besonderen Fokus auf Körperlichkeit legen, ohne aber (und darin folgen sie Lessings Theorie) detaillierte Körperbeschreibungen zu enthalten: Arthur Schnitzlers Fräulein Else (1924) und Franz Kafkas Die Verwandlung (1915). Im Zentrum von Schnitzlers Text steht der skandalöse öffentliche Nacktauftritt der 19jährigen Protagonistin – über deren Äußeres man schon deshalb wenig erfährt, weil die Novelle konsequent im inneren Monolog erzählt wird. Während man Else dort also gleichsam (und ausschließlich) von innen ›sieht‹, hat sich Manuele Fior in seiner Comicversion von 2009 für eine Außenperspektive entschieden, die auf innovative Weise externe und interne Fokalisierungstechniken verbindet.4 Ihnen widme ich mich im ersten Teil meiner Ausführungen. Ein Körperdarstellungsproblem ganz anderer Art ergibt sich zweitens bei der Adaptation von Kafkas Text, dessen Protagonist Gregor Samsa sich über Nacht in ein Tier verwandelt. Kafka hat sich in einem Brief an seinen Verlag für diesen Text ausdrücklich verbeten, Gregor Samsa in Gestalt eines Ungeziefers auf dem Buchcover abzubilden: »Das nicht, bitte das nicht! […] Das Insekt selbst kann nicht gezeichnet werden.«5 Robert Crumb und David Zane Mairowitz reflektieren in ihrer Adaptation von 1993 diese Bildangst des Autors, reproduzieren das Deckblatt der käferlosen Originalausgabe – und zeigen Gregor dann doch als Ungeziefer, allerdings in einer behutsamen Bildregie, die sich erst langsam dem full shot annähert.6 Für die genau entgegengesetzte, offensive Lösung haben sich Richard Horne und Eric Corbeyran in ihrer zuerst 2009 veröffentlichten Version entschieden, die wie ein Sachbuch mit einer großformatigen und detailliert beschrifteten Zeichnung einer Schabe einsetzt.7 Welche textinternen und rezeptionslenkenden Effekte diese unterschiedlichen Darstellungsstrategien haben, werde ich im zweiten Teil diskutieren. 4 Vgl. Manuele Fior: Fräulein Else. Erzählung in zwei Teilen. Nach der Novelle von Arthur Schnitzler, Berlin 2010; im Folgenden zitiert mit der Sigle FE und Seitenzahl. 5 Franz Kafka: Briefe. April 1914-1917, hg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt a.M. 2005, S. 145 (Brief vom 25. Oktober 1915 an Georg Heinrich Meyer). 6 Vgl. Robert Crumb/David Z. Mairowitz: Kafka kurz und knapp, Frankfurt a.M. 2010, S. 41-44; im Folgenden zitiert mit der Sigle K und Seitenzahl. 7 Vgl. Eric Corbeyran/Richard Horne: Die Verwandlung von Franz Kafka, 2. Aufl., München 2011; im Folgenden zitiert mit der Sigle V und Seitenzahl.

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In allen drei Comics werden Körperdarstellungen genutzt, so meine Leitthese, um mehr als Körper darzustellen: Sie visualisieren psychische Vorgänge und transportieren Interpretationen der literarischen Vorlage. An den Körpern der Helden lässt sich somit besonders anschaulich zeigen, wie die von Lessing konstatierte Mediendifferenz in Literaturcomics produktiv gemacht wird.

1. D as I nnere veräussern . K örperlichkeit und F okalisierung in M anuele F iors C omicversion von F räulein E lse Schnitzlers Erzählung Fräulein Else ist durchgängig aus Elses Perspektive erzählt, und zwar im Bewusstseinsstrom, jener Technik also, die Schnitzler mit seinem Leutnant Gustl 1900 in die deutsche Literatur eingeführt hat. Anders als beim Leutnant Gustl besteht die ›unerhörte Begebenheit‹ der Novelle nun aber nicht mehr in einer verbalen Provokation, die vom Text unmittelbar wiedergegeben werden kann, sondern in einer optischen: Die 19jährige Else zeigt sich zur Überraschung aller Anwesenden nackt im Musikzimmer eines vornehmen Hotels. Sie reagiert damit auf eine ihr aussichtslos erscheinende Situation: Um die selbstverschuldeten Geldsorgen ihres Vaters zu beseitigen, war Else von ihrer Mutter gebeten worden, den wohlhabenden Kunsthändler Herrn von Dorsday um ein Darlehn über 30.000 Gulden zu bitten. Dorsday hatte zwar eingewilligt, allerdings unter der Bedingung, Else vorher in seinem Hotelzimmer oder auf einer Waldlichtung nackt anschauen zu dürfen. Von diesem unmoralischen Angebot überfordert, entkleidet Else sich vor Dorsdays und anderen Augen im Musikzimmer, bricht zusammen und unternimmt noch am gleichen Abend einen Selbstmordversuch (über dessen Ausgang man aufgrund der konsequenten internen Fokalisierung nichts erfährt). Manuele Fior gibt in seiner zuerst auf Französisch erschienenen Comicversion von 2009 (die deutsche Fassung stammt von 2010) die Perspektive der Vorlage auf: Die nackte Else wird ostentativ von vorne und von hinten gezeigt, und zwar u.a. in einem ganzseitigen Panel (vgl. FE 70)8, das ansonsten nur auf den ersten und auf der letzten Seite des Comics zum Einsatz kommt. Bei Fior wird also, so lässt sich im Vokabular der strukturalistischen Erzähltheorie sagen, ganz offensichtlich statt der internen eine externe Fokalisierung verwendet, die Elses Körper kameraähnlich von außen in den Blick nimmt. Doch so einfach ist es 8 Die Darstellung erinnert an Gustav Klimts Nuda Veritas von 1898/99 (vgl. Gottfried Fliedl: Gustav Klimt. Die Welt in weiblicher Gestalt, Köln 1989, S. 65 und 74); für den Hinweis danke ich Dietrich Grünewald.

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nicht. Denn der Körper der Protagonistin ist zum einen nicht durchgängig extern fokalisiert und wird zum anderen selbst in den auf den ersten Blick extern fokalisierten Panels nicht ausschließlich aus einer neutralen Außenperspektive dargestellt. Vielmehr gelingt es Fior, allein mit bildnerischen Mitteln die kategoriale Trennung zwischen Nullfokalisierung, interner und externer Fokalisierung aufzulösen. Zu diesem Zweck arbeitet er in der Körperdarstellung mit zwei unterschiedlichen Fokalisierungsstrategien, denen ich mich im Folgenden nacheinander widme: erstens mit schnellen Fokalisierungswechseln, zweitens mit einer Fokalisierungsdiffusion.

(a) Körperdarstellung durch Fokalisierungswechsel Dass Else ihren Mantel fallenlässt und nackt im Musikzimmer steht, erfährt man im Comic zunächst nur indirekt aus den Reaktionen der Gäste: Die ersten drei Panels zeigen, wie Schnitzlers ganzer Text es vorgibt, die Perspektive Elses auf ihre Umgebung (vgl. FE 69). Deutlich wird das nicht nur an den Blicken der dargestellten Figuren, die zugleich auf Else und auf den Bildbetrachter fixiert sind, sondern auch an den beiden ventillosen Gedankenblasen, die Elses Innenleben verbalisieren. Der Überraschungs- und Schockeffekt, den der unerwartete Nacktauftritt innerhalb der Geschichte erzeugt, wird im Lektüreakt, also in der äußeren Kommunikationsebene des Comics, mithilfe der Doppelseitenstruktur des Comics zu reproduzieren versucht: Der Wechsel von der internen zur externen Fokalisierung vollzieht sich plötzlich und unvorbereitet, denn der erste und größte full-shot auf die nackte Else eröffnet sich den Comiclesenden direkt nach dem Umblättern. Das Tempo solcher Fokalisierungswechsel wird nun, auf dem Höhepunkt der Handlung, rasant verschärft. Nach Elses Zusammenbruch im Musikzimmer bringt Fiors Bildregie auf einer Seite in fünf aufeinanderfolgenden Panels vier verschiedene Fokalisierungen zum Einsatz (Abb. 1) (vgl. FE 73). Das erste Panel blickt aus einer über allen Personen befindlichen Position auf die Szene: Es gibt keine Figur der Diegese, die noch über dem unten platzierten männlichen Hinterkopf auf Else schauen könnte, insofern kann man hier von einer Tendenz zur Nullfokalisierung sprechen (die sich durch ihre – hier verräumlichte – »Übersicht«9 auszeichnet). Das zweite und das vierte Panel zeigen Elses Blick von unten auf die über ihr stehenden Personen, ist also intern fokalisiert aus Elses Sicht. Im dazwischen platzierten dritten Panel wird wieder von oben auf Else geblickt, nun aber näher herangezoomt als im ersten und damit aus der Perspektive einer der über Else ge9 Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, 9. Aufl., München 2012, S. 67.

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beugten Figuren. Die Panels zwei bis vier entsprechen damit dem, was man in der Erzähltheorie als variable interne Fokalisierung10 bezeichnet, bei der die Handlung aus der Sicht wechselnder Personen erzählt wird. Das letzte Panel der Seite zeigt dagegen einen Blickwinkel, der keiner der im Raum befindlichen Personen entspricht, der aber – anders als im ersten Panel – auch nicht explizit eine Position einnimmt, die über das Figuren-Mögliche hinausgeht; insofern handelt es sich um eine externe Fokalisierung. Auf engstem Raum und mit schnellsten Wechseln, so lässt sich bilanzieren, wird hier mit den Möglichkeiten einer Multi-Fokalisierung gearbeitet, um die Folgen von Elses Nacktauftritt abzubilden. Der aus allen Perspektiven wichtigste Darstellungsgegenstand ist dabei der Körper. Die Dramatik der Szene erschließt sich hier auch dem, der nur auf die Körper und vor allem auf die Gesichter der Abb. 1: Fior: Fräulein Else, S. 73. beteiligten Personen schaut.

(b) Körperdarstellung durch Fokalisierungsdiffusion Auch wenn die Lesenden von dem schnellen Fokalisierungswechsel irritiert sein mögen, werden hier die Grenzen der Fokalisierungsformen gewahrt. Das gilt jedoch nicht für die Veränderungen von Elses Körper im Verlauf des Comics. Die Pointe insbesondere der Gesichtsdarstellung besteht darin, dass die in der Novelle wie im Comic geschilderte Zeit nur wenige Stunden vom Nachmittag bis zum Abend eines Tages umfasst – Elses Körper im Verlauf dieser knappen Zeitspanne aber um Jahre zu altern scheint. Auf den ersten Bildern (und auf der Titelseite des Comics) wird Else als junge, gelegentlich etwas blasse, aber nach gängigen Schönheitskonventionen zweifellos hübsche Frau präsentiert (die manchmal aus der Ferne an die junge Nicole Kidman erinnert) (vgl. FE 13, Panel in der Mitte links). Einige Stunden später, auf dem Weg zu ihrem Nacktauftritt, zeigen die Bilder dagegen eine alte, plötzlich auch etwas dickliche Frau (vgl. FE 61, Panel 10 Martínez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, S. 66.

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unten Mitte und 65, Panel unten links). »Du bist totenblass« (FE 64), kommentiert Elses Tante ihre Erscheinung (diesen körperbeschreibenden Satz hat Fior auch in seine ansonsten stark gekürzte Fassung übernommen) – und mehr als das. Denn Elses innere Zerrüttung, die in Schnitzlers rund 80seitigem Text sprachlich wesentlich ausführlicher entfaltet werden kann als in den Sprechblasen und Captions des Comics, wird bei Fior auf Elses Gesicht gespiegelt. Während bei Schnitzler von Elses Körper kaum die Rede ist, nutzt Fior insbesondere den Körper der Protagonistin, um den plötzlichen Umschlag von unbeschwertem Luxusurlaub in eine Selbstmord-Tragödie anschaulich zu machen. Erzähltechnisch gesagt wird dabei eine vermeintlich externe Fokalisierung, nämlich der Blick auf Else, dazu genutzt, eine interne Fokalisierung zu transportieren, und zwar Elses desolaten psychischen Zustand. Wenn man, wie Christine Hermann vorgeschlagen hat, bei der internen Fokalisierung in Comics zwischen einer perzeptuellen und einer psychologischen Fokalisation unterscheidet (die erste zeigt, was die Fokalisatorfigur sieht, die zweite, wie sie sieht und dazu denkt),11 dann kommt hier allein eine psychologische interne Fokalisation zum Einsatz, also ein subjektivierter Blick, der die Außenwelt verändern kann; die perzeptuelle Fokalisation dagegen ist extern gestaltet. Mithilfe einer Fokalisierungsdiffusion wird an Elses Körper ihre Innenwelt veräußerlicht: Man sieht Else zugleich von außen und von innen, wobei ihr Inneres unseren Blick auf ihr Äußeres prägt. Besonders eindrücklich und originell gerät Fiors Körperdarstellung in den Passagen, in denen die Techniken des Fokalisierungswechsels und der Fokalisierungsdiffusion verbunden werden, wenn also zugleich multiperspektivisch und intern-alsextern fokalisiert wird. Dieses Verfahren findet sich z.B. dort, wo Herr von Dorsday Else sein umoralisches Angebot unterbreitet. Der rund 60 Jahre alte Kunsthändler, der nach Elses Urteil »noch immer ganz gut«12 aussieht und auch im Comic zuvor als höflicher älterer Mann gezeichnet worden war (vgl. FE 15, Panel oben rechts), wird nun mit wahnverzerrtem Gesicht gezeigt (Abb. 2) (FE 34). Zwar bemerkt Else auch in der Textvorlage, dass Dorsday sie »unanständig« und mit »Kalbsaugen«13 ansehe – für die expressive Überzeichnung des Gesichts, die über das realistisch Erwartbare hinausgeht, entscheidet sich aber erst der Comic. Anders gesagt: In die auf den ersten Blick unbeteiligte externe Fokalisierung des Panels (anwesend sind nur Else und Dorsday, die beide abgebildet sind, also sehen wir nicht wirklich aus den 11 Vgl. Christine Hermann: Wenn der Blick ins Bild kommt. Visuelle Techniken der Fokalisierung im Literaturcomic, in: Barbara Eder u.a. (Hg.): Theorien des Comics. Ein Reader, Bielefeld 2011, S. 25-42, hier: S. 28. 12 Arthur Schnitzler: Fräulein Else, in: ders.: Gesammelte Werke. Die Erzählenden Schriften, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1981, S. 324-381, hier S. 326. 13 Schnitzler: Fräulein Else, S. 341.

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Augen der einen Person auf die andere) mischt sich mithilfe der übertrieben teuflisch dargestellten Mimik Dorsdays eine interne Fokalisierung. Allerdings ist nicht eindeutig zu entscheiden, wessen Innenperspektive hier veräußerlicht wird: Zeigt das verzerrte Gesicht Dorsdays erotische Begierde oder bringt das Gesicht eher Elses Erschrecken darüber zum Ausdruck? Wenn in Comics die interne Fokalisierung eines Einzelpanels oft durch ein vorangehendes Panel eingeleitet und markiert wird, auf dem die Augen der wahrnehmenden Figur in Großaufnahme gezeigt werden,14 dann wird hier ein mehrdeutiges Fokalisierungssignal gesetzt. Die beiden exakt gleichgroßen übereinander angeordneten Panels nehmen gleichsam eine doppeltdoppelte Perspektive ein: In Else hinein und aus ihr hinaus sowie in Dorsday hinein und aus ihm hinaus. Sie rücken beide Figuren symmetrisch in Szene, enthalten also kein Signal für eine Bevorzugung der einen oder anderen Perspektive.

Abb. 2: Fior: Fräulein Else, S. 34. 14 Vgl. dazu Hermann: Wenn der Blick ins Bild kommt, S. 35f.; auch Juliane Blank schreibt: »Fokalisierung im Comic erschließt sich nicht im Einzelbild, sondern erst in der Sequenz« (Juliane Blank: Erzählperspektive im Medienwechsel. Visuelle Fokalisierung in Comic-Adaptionen von Texten Franz Kafkas, S. 5, http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2011-1/blank-juliane-9/PDF/blank.pdf, letzter Zugriff am 16. Januar 2014).

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Bedeutsam ist das vor allem für das linke Panel, das sich nicht von ungefähr mit seinem Hochformat über beide Gesichterpanels erstreckt. Dass die Fokalisierungsdiffusion hier ihren Höhepunkt erreicht, zeigt sich an einer vermeintlichen Nebensächlichkeit: an der Durchsichtigkeit von Elses Kleid. Denn wie alle anderen Panels deutlich machen, auf denen Else in ihrem Kleid zu sehen ist, trägt Else ein eindeutig nicht durchsichtiges Kleid. Warum sich in diesem einen Panel der Blick durch das Kleid hindurch auf Elses Körper öffnet, lässt der Comic offen: Man sieht entweder Dorsdays Wunsch- oder Elses Angstvorstellung – oder beides zugleich. Dass genauer nicht entschieden werden kann, wessen Vorstellungswelt hier visualisiert wird, hat auch mit den beiden streng symmetrisch aufgebauten Gesichterstudien rechts neben dem Panel zu tun, die die anti-mimetische KleidDarstellung gleichsam doppelt motivieren. Ambivalent gedeutet werden kann auch die Platzierung der Sprechblase im linken Panel: Wie ein Feigenblatt bedeckt sie Elses Scham, visualisiert damit aber zugleich, auf welches Körperteil Dorsdays Blicken, Denken und Reden zielt. Zusammengefasst: Statt die fixierte interne Fokalisierung aus Schnitzlers Text zu übernehmen, wandelt Fior sie ins andere Extrem einer Multi-Fokalisierung. Im Comic finden sich nullfokalisierte, extern und variabel intern fokalisierte Panels, die im Fall der internen Fokalisierung zudem mit einer osmotischen Perspektivverwischung arbeiten: Ob wir das Kleid aus Elses oder/und Dorsdays Perspektive sehen, ist nicht eindeutig zu entscheiden. Fior hat sich somit darstellungstechnisch nicht für eine möglichst geräuschlose Übertragung von einem Medium ins andere entschieden, sondern setzt einen eigenen Akzent. Dabei den Körper der Protagonistin ins Zentrum zu rücken, ergibt gleich doppelt Sinn: zum einen handlungsbezogen, dreht sich doch schon Schnitzlers Text vor allem um die Präsentation eines nackten Körpers, freilich ohne ihn auch zeigen zu können; zum andern medientheoretisch, denn Fior akzentuiert mit der expressiven Körperdarstellung genau jenen Aspekt der Vorlage, in dem das Bildmedium – folgt man Lessings Medientheorie – dem Text überlegen ist. Selbstbewusst besinnt sich dieser Comic auf die Stärken seines dualen Zeichensystems – und erreicht dabei eine beachtliche Differenziertheit. In einer Rezension in der Süddeutschen Zeitung von 2010 kam Christoph Haas dann auch zu dem bemerkenswerten (und zehn Jahre früher an diesem Ort noch undenkbaren) Schluss, dass Fiors Comicadaptation »nicht nur kongenial, sondern dem Vorbild überlegen« sei (ob Schnitzlers Text, wie Haas unterstellt, tatsächlich »etwas plump daherkommt« und zudem »ein gutes Stück zu lang«15 geraten ist, muss hier nicht entschieden werden). Im Blick auf die Kör15 Christoph Haas: Hohle Posen, böser Strich. Manuele Fiors Comic Fräulein Else nach der Erzählung von Arthur Schnitzler, in: Süddeutsche Zeitung vom 15. September 2010, S. 14. Zu einem genau entgegengesetzten Urteil kommt André Schwarz, der in

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perdarstellung kann in jedem Fall bestätigt werden, dass sich in Fiors Adaptation mithilfe ihrer perspektivtechnischen Verwischungsstrategie »Assoziationsräume öffnen«16 – und dass damit der Vorwurf umgangen wird, dem Literaturcomics des Öfteren ausgesetzt waren: produktive Leerstellen eines Textes auf unproduktive Weise zu füllen, gute Mehrdeutigkeiten auf schlechte Weise zu vereindeutigen und damit insgesamt das ästhetische Niveau zu senken.

2. Allegorisch Zeichnen. Der Tier- als Menschen-körper in Crumbs/ Mairowitz’ Comicversion von Kafkas Die Verwandlung Der gleiche Christoph Haas, der den Fräulein Else-Comic der Novellenversion vorgezogen hatte, zeigte sich drei Jahre später in einem Aufsatz über Literaturcomics, erschienen in der Neuen Rundschau, enttäuscht von Richard Hornes und Eric Corbeyrans Comicversion von Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung. Haas schreibt damit eine Traditionslinie fort, denn die Redaktion der Neuen Rundschau reagierte 1914 wenig begeistert auf Die Verwandlung und lehnte die Chance zur Erstveröffentlichung mit dem Argument ab, dass die Erzählung deutlich zu lang geraten sei. Bemerkenswert ist dabei v.a. das von Haas gezogene Fazit, das der Argumentationsrichtung seiner Fräulein Else-Rezension diametral entgegensteht: Aber hätte man es viel besser machen können als Horne? Die Antwort kann nur lauten: Nein. Die Unterschiedlichkeit der Medien erlaubt es nicht. […] In der Erzählung lernt der Leser die Welt mit Gregors Käferaugen zu sehen; in der Graphic Novel sieht er Gregor als Käfer. An diesem kleinen Unterschied muss jede Anstrengung eines Zeichners zuschanden gehen. Ein Umsetzen der Verwandlung in einen Comic führt zur Preisgabe dessen, was die Erzählung wesentlich ausmacht.17

An Haas’ Problematisierung der Körperdarstellung irritiert zum einen, dass er mit demselben Argument auch Fiors Fräulein Else-Comic hätte ablehnen können, in dem man Elses Körper sogar nackt und in Großaufnahme zu sehen bekommt, seiner Rezension die Ansicht vertritt, dass die »immensen Ausdrucksmöglichkeiten und die Tiefe von Schnitzlers Text […] in Fiors Bearbeitung fast gänzlich auf ein bloßes Bebildern der äußeren Handlung reduziert« werden (http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=15175, letzter Zugriff am 16. Januar 2014). 16 Haas: Hohle Posen, böser Strich, S. 14. 17 Christoph Haas: Graphische Romane? Zum schwierigen Verhältnis von Comic und Literatur, in: Neue Rundschau 123 (2012), H. 3: Comic, S. 47-63, hier S. 53.

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während man in Schnitzlers Novelle die Welt ausschließlich aus Elses Augen sieht. Zum anderen ist die gegen den Verwandlungs-Comic vorgebrachte medientheoretische Überlegung von Haas schlicht falsch: Sowohl Robert Crumb als auch Richard Horne verwenden in ihren Comicfassungen der Verwandlung sehr wohl (wenn auch nicht hauptsächlich) eine perzeptuelle interne Fokalisierung, die nur das zeigt, was Gregor im Sichtfeld hat: Crumb arbeitet im ersten Panel, das Gregor zeigt, mit einer – wie sich in filmwissenschaftlichem Vokabular sagen lässt – strengen Point-of-View-Darstellung, die exakt Gregors Blick wiedergibt (vgl. K 42), Horne nutzt gelegentlich das sogenannte ›halbsubjektive Bild‹, bei dem man dem Protagonisten über die Schulter guckt (vgl. V 24); in der Forschung gilt Letzteres als die tauglichste visuelle Möglichkeit, eine interne Fokalisierung in Film und Comic umzusetzen.18 Dazu kommt, dass nicht erst in der Comicversion, sondern schon in Kafkas Text auch das Tier in den Blick genommen wird, und zwar aus der Perspektive von Gregors Tieraugen. Zwar verrät der Text nicht, in genau welches Tier Gregor sich verwandelt hat – anders als in Haasʼ Aufsatz kommt in der Verwandlung das Wort ›Käfer‹ nicht vor, stattdessen ist bloß von einem »ungeheueren Ungeziefer«19 die Rede (wobei der Akzent eher auf die poetische Kraft dieser beiden alliterierenden, viersilbig trochäischen Wörter als auf eine exakte Benennung des Tieres gelegt wird – und natürlich auf die mit dem Wort ›Ungeziefer‹ einhergehende Abwertung des Tieres). Aber weil gleich im ersten Absatz des Textes Gregors erstaunter Blick auf seinen neuen Körper geschildert wird, erfährt man doch immerhin, dass er über einen Kopf, einen »panzerartig harten Rücken«, einen »gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch« sowie über viele »kläglich dünne[.] Beine«20 verfügt. Das erste Tierbild in Robert Crumbs Version der Verwandlung von 1993 ahmt genau diesen Blick nach und zeigt sogar – ganz gegen Haasʼ These – weniger vom Ungeziefer als der erste Absatz von Kafkas Text, nämlich nur die Beine (vgl. K 42). Und dennoch: So wenig mir Haasʼ Argumente medientheoretisch einleuchten, so sehr teile ich aus interpretatorischen Gründen sein grundsätzliches Unbehagen angesichts einer bildlichen Darstellung von Gregor Samsas Körper. Problematischer als im Fall von Fräulein Else erscheint sie mir, weil es in Kafkas Text um 18 Vgl. Blank: Erzählperspektive im Medienwechsel, S. 4. Der Terminus ›halbsubjektives Bild‹ wurde von Gilles Deleuze auf den Film angewandt und von Martin Schüwer in die Comicanalyse übertragen (vgl. Martin Schüwer: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur, Trier 2008, S. 178). 19 Franz Kafka: Die Verwandlung, in: ders.: Drucke zu Lebzeiten, hg. von Wolf Kittler u.a., Frankfurt a.M. 2003, S. 113-200, hier: S. 115. 20 Kafka: Die Verwandlung, S. 115.

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mehr als um Gregors neuen Körper geht – und zwar auch dort, wo nur von diesem Körper die Rede ist. Denn die Verwandlung vom Mensch zum Tier kann, ja will als eine allegorische verstanden werden. Auf einer ersten, offensichtlichen Bedeutungsebene findet die Verwandlung tatsächlich statt: »Es war kein Traum«21, heißt es dazu lakonisch gleich zu Beginn des Textes; innerhalb der fiktionalen Welt wird Gregor ohne Frage tatsächlich zum Tier.22 Gleichwohl – und das zeigen fast alle Interpretationen der Erzählung – wird hier gleichsam in Tiergestalt ein psychologischer Vorgang innerhalb eines Menschen zur Darstellung gebracht. Unabhängig davon, ob man die Verwandlung als Ausdruck einer verdrängten Sexualität, einer Entfremdungserfahrung oder eines Familien- bzw. Vater-Sohn-Konflikts liest (um nur einige der populären Deutungsansätze aufzuzählen):23 Immer steht das Ungeziefer auch für etwas Anderes, und zwar Menschliches, ist also womöglich gar nicht das eigentlich von diesem Text Gemeinte. Wer Kafkas Text liest, kann problem- und pausenlos zwischen diesen beiden Bedeutungsebenen, zwischen der Vorstellung von Gregor als Mensch und als Tier hin und her pendeln. Wer dagegen Gregor Samsa bildlich darstellt, muss sich entscheiden: Zeigt er dem Betrachter einen Menschen oder ein Tier? Deshalb geht mit der vereindeutigenden Darstellung Gregors als Tier eine Bedeutungsreduktion einher, die sich aus der Körperdarstellung im Fräulein Else-Comic nicht ergibt. Aber wird Gregor in den Comics wirklich nur als Tier dargestellt? »Wie manches würde in der Theorie unwidersprechlich scheinen«, so ermahnt sich Lessing im Laokoon, »wenn es dem [künstlerischen] Genie nicht gelungen wäre, das Widerspiel durch die Tat zu erweisen«24. Auch im Fall der Verwandlung lohnt sich ein genauerer Blick in die Comicpraxis, denn Crumb und Horne finden – freilich in unterschiedlichem Ausmaß – originelle und mehrdeutige Lösungen für den Umgang mit der Körperlichkeit Gregor Samsas. Zunächst zu Robert Crumbs und David Zane Mairowitzʼ 18seitiger Version der Verwandlung, die sich in ihrem Kultcomic Kafka for Beginners von 1993 findet (die von mir verwendete deutsche Ausgabe erschien zuerst 1995 unter dem Titel Kafka kurz und knapp). Crumb und Mairowitz bedienen sich darin drei unterschiedlicher Strategien zur Darstellung von Gregor Samsas Körper: Erstens reflektieren sie die Körperthematik explizit (in einer den Panels nachgeordneten Textpassage), 21 Kafka: Die Verwandlung, S. 115. 22 Davon geht dann auch »ein Großteil der Interpreten aus«, wie Sandra Poppe im KafkaHandbuch zusammenfasst (Sandra Poppe: Die Verwandlung, in: Manfred Engel, Bernd Auerochs (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2010, S. 164-174, hier S. 167). 23 Vgl. dazu die Übersicht bei Poppe: Die Verwandlung. 24 Lessing: Laokoon, S. 37.

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zweitens analogisieren sie Gregor Samsas Tierkörper in textexterner Richtung mit Franz Kafkas Menschenkörper und drittens kontrastieren sie den Tierkörper textintern mit den Körpern von Gregors Familie. Dazu jetzt im Einzelnen.

(a) Reflexion Auf das letzte Panel zur Verwandlung lassen Crumb und Mairowitz ein Textfeld folgen, in dem es heißt: Kafka wollte nicht, daß das Insekt als Illustration zu sehen war. Über den Buchumschlag der ersten Ausgabe schrieb er seinem Verleger Kurt Wolff: »Das nicht, bitte das nicht! … Das Insekt selbst kann nicht gezeichnet werden. Es kann nicht einmal von der Ferne aus gezeichnet werden.« Möglicherweise wollte er so das Grauen vor der Verwandlung bewahren. Wahrscheinlicher ist, daß die Gefühle, die er für seinen Menschenkörper hegte, und das Gefühl seiner »Insektenhaftigkeit« für ihn nicht mehr eindeutig voneinander zu trennen waren. (K 58)

Crumb und Mairwotz erwähnen also das Darstellungsverbot des Autors (der nicht grundsätzlich etwas gegen illustrierende Bilder hatte, selbst gerne zeichnete und dessen eigene Zeichnungen »mit Comic-Zeichnungen große Ähnlichkeit haben«25), bemühen sich aber gar nicht erst, ihre Entscheidung für die Tierdarstellung zu rechtfertigen. Gleichwohl nehmen sie Kafkas Einwände ernster, als es auf den ersten Blick scheinen mag. So beginnt auch ihre Comicversion (als einzige aller von Crumb und Mairowitz bearbeiteten Kafka-Texte) mit der Abbildung des Umschlags der Erstausgabe – die am Ende des Textes sprachlich explizierte Diskrepanz zwischen Kafkas Wunsch nach Tiervermeidung und der Tierdarstellung im Comic wird also gleich auf den ersten Seiten visuell inszeniert (vgl. K 41). Eine unausgesprochene Pointe besteht darin, dass sich das Bild auf der Erstausgabe nur grob an Kafkas Anregungen orientiert, die dieser in seinem Brief vom 25. Oktober 1915 formuliert hatte. Denn dort heißt es in einer bei Crumb und Mairowitz nicht zitierten Passage: »Wenn ich für eine Illustration selbst Vorschläge machen dürfte, würde ich Szenen wählen, wie: die Eltern und der Prokurist vor der geschlossenen Tür oder noch besser die Eltern und die Schwester im beleuchteten Zimmer, während die Tür zum ganz finsteren Nebenzimmer offensteht«26. Zwar 25 Monika Schmitz-Emans: Literatur-Comics. Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur, Berlin/Boston 2012, S. 175. 26 Kafka: Briefe. April 1914-1917, S. 145 (Brief vom 25. Oktober 1915 an Georg Heinrich Meyer).

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zeigt der Umschlag der Erstausgabe kein Insekt, aber auch nicht die Familie Samsa oder den Prokuristen, sondern einen offensichtlich verzweifelten jungen Mann im Bademantel, bei dem es sich – wer sollte es sonst sein? – um Gregor Samsa in seinem Menschenkörper zu handeln scheint. Erst Crumb tut Kafka den Gefallen (und zwar gleich auf der zweiten Seite des Comics), genau jene Szene darzustellen, die der Autor im Brief als erste vorgeschlagen hatte (vgl. K 42, unteres Panel). Die abschließende Reflexion über Kafkas Darstellungsverbot liefert darüber hinaus aber auch eine implizite Erklärung von Crumbs Körper-Darstellungsverfahren: So wie nach Crumbs und Mairowitzʼ Deutung Mensch und Tier für den Autor nicht mehr klar zu unterscheiden waren, bemühen sie sich auch im Comic darum, die Grenze zwischen Tier- und Menschenkörper offenzuhalten. Die wichtigste dafür zum Einsatz gebrachte Strategie kann als biographische Analogisierung bezeichnet werden.

(b) Biographische Analogisierung Dem Literaturcomic eine biographische Komponente zu implantieren, ist hier besonders gut möglich, da Kafka kurz und knapp nicht nur Comicfassungen der literarischen Texte Kafkas enthält, sondern den Anspruch verfolgt, in Werk, Leben und Deutungsgeschichte des Autors einzuführen. Die Comicfassungen von Kafkas Texten erhalten dadurch eine Rahmung, die im Fall der Verwandlung besonders wichtig ist. Denn Crumb und Mairowitz lesen Die Verwandlung als Ausdruck eines gestörten Verhältnisses des Autors zum eigenen Körper. Schlaglichtartig werden deshalb auf den beiden Seiten vor Beginn der Verwandlung zwei biographische Schlüsselszenen in den Fokus gerückt: zum einen in einer Strandszene aus Kafkas Kindheit die körperliche Übermacht des Vaters, die bei Kafka – so der Kommentar im Comic – ein »mangelndes Selbstvertrauen zu seinem Körper« erzeugt habe, das »ihm das ganze Leben« (K 39) erhalten geblieben sei; zum anderen der (biographisch verbürgte) Besuch eines Bordells, bei dem Kafkas extrem ambivalentes Verhältnis zur eigenen Sexualität in den Fokus gerückt wird. »Was konnte er mit einem Körper anfangen«, so heißt es im Comic als Überleitung zur Verwandlung, »den er zu dünn, schlaksig und ungraziös fand […]? Er müßte ihn reduzieren, sich tothungern, sich verstecken oder einfach in ein Tier verwandeln« (K 40). Die direkt daran anschließende Geschichte wird also bereits vor ihrem ersten Panel als Bild für die Körperprobleme ihres Autors gedeutet – hinter dem Ungeziefer Gregor Samsa sollen die Comiclesenden den Menschen Franz Kafka erkennen. Schon Monika Schmitz-Emans hat darauf hingewiesen, dass diese biographische Lektüre der Verwandlung »weder besonders originell noch unproblema-

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tisch«, im Rahmen einer Comicversion aber durchaus interessant sei, da sie sich in die »Thematik der Konstitution von Bildern«27 einfüge. Mir kommt es vor allem darauf an, dass die biographische Lesart der Verwandlung, die im Vorlauf so massiv propagiert wird und dabei einen besonderen Akzent auf Körperlichkeit setzt, den allegorischen Charakter der Handlung von vornherein offenlegt. Crumb und Mairowitz wollen sicherstellen, dass die Lesenden neben der ersten Bedeutungsebene, auf der ein Tierkörper agiert, auch die zweite Bedeutungsebene präsent halten, in deren Zentrum ein Mensch steht. Die in Kafkas Erzählung angelegte Mehrdeutigkeit wird also zunächst mit textuellen, genauer gesagt: mit paratextuellen Mitteln in den Comic transferiert (allerdings ist die allegorische Ebene in ihrer Bedeutungsoffenheit limitierter als im Text, da sie allein auf eine biographische Lesart abzielt). In den der Verwandlung gewidmeten Panels gelingt Crumb dann aber auch das Kunststück, mit visuellen Mitteln den Menschen- und den Tierkörper zugleich zu evozieren. Genutzt wird dazu ein unscheinbares Detail, nämlich Schweißperlen. In Analogie zu den beiden der Verwandlung vorangestellten Panels, die Kafka mit seinem Vater am Strand und im Bordell zeigen, werden die Schweißperlen auch in der Comicfassung der Verwandlung zweimal eingesetzt (Abb. 3):

Abb. 3: Crumb: Kafka, links: S. 39; rechts: S. 50.

zum einen bei der Begegnung Gregors mit seinem übermächtigen Vater (der an Crumbs Darstellung von Kafkas Vater angelehnt ist),28 zum anderen bei der erotisch konnotierten Umklammerung eines Wandbildes, das eine Dame im Pelz zeigt (die von der Kafka-Forschung als Anspielung auf Leopold von Sacher-Masochs Novelle Venus im Pelz von 1870 gedeutet worden ist, in der sich der Protagonist masochistischen Spielen mit einer in Pelz gekleideten Frau hingibt und sich in

27 Schmitz-Emans: Literatur-Comics, S. 189. 28 Vgl. dazu insbesondere die Darstellung von Kafkas Vater in K 28-30.

Körperdarstellung in Schnitzlers Fräulein Else und Kafkas Die Verwandlung | 57

seiner Rolle als Sklave ›Gregor‹ nennt).29 In den biographischen wie in den Verwandlungs-Panels kommen in identischen Kontexten die Schweiß- als Panikperlen zum Einsatz – dem aufmerksamen Bildbetrachter eröffnet Gregors Tierkörper also auch allein mit visuellen Mitteln die Durchsicht auf Kafkas Menschenkörper. Die im Abschlusstext Kafka zugeschriebene Unfähigkeit, zwischen den Gefühlen für seinen Menschenkörper und für seine Insektenhaftigkeit zu unterscheiden, erweitert sich somit auf die Rezipienten der Panels.

(c) Textinterne Kontrastierung Während in textexterner Perspektive die Analogisierung der Körper von Tier und Autor auffällt, operiert Crumbs Körperdarstellung innerhalb der Verwandlung mit starken Kontrasten. Gregors Körper erscheint im Vergleich insbesondere zum Körper des Vaters, aber auch zum Körper von Mutter und Schwester zunehmend als klein und zerbrechlich. Das zeigt sich besonders deutlich dort, wo eine expressive Darstellung der Menschenkörper direkt neben einem Bild von Gregor platziert wird, auf dem dieser sich bereits in einem Auflösungsprozess befindet (Abb. 4) (vgl. K 52). Schon in Kafkas Text werden Körperaktionen besonders akzentuiert, wenn auch kaum einmal in Abb. 4: Crumb: Kafka, S. 52. genaueren Körperbeschreibungen, sondern in zahlreichen Körperbewegungen wie dem Fäusteballen von Schwester und Vater gegenüber Gregor oder dem Fußstampfen des Vaters. Kafkas Erzähler bedient sich also jener Darstellungsform, die schon Lessing in Bezug auf Körper in Texten empfiehlt: die Beschreibung von handelnden, von bewegten Körpern. Nur auf diesem Weg kann es die Literatur nach Lessings Ansicht mit den Körpern in der bildenden Kunst aufnehmen – und dieser Spielraum wird in Kafkas Text dann auch so eindrücklich genutzt, dass 29 Zu Letzterem vgl. Frank Möbus: Sünden-Fälle. Die Geschlechtlichkeit in Erzählungen Franz Kafkas, Göttingen 1994, S. 73-76.

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die Comicfassungen der Verwandlung durchaus Probleme bekommen. Im Fall der zuletzt gezeigten Comicseite werden zwar weder das verzerrte Gesicht des Vaters noch die panische Gestik der Schwester bei Kafka erwähnt (nur vom Schreien der Schwester ist dort die Rede). Gleichwohl gibt das obere Panel nur sehr partiell wieder, was bei Kafka über die Körper der beteiligten Personen gesagt wird: Nur mit dem letzten Blick sah er [= Gregor] noch, wie […] vor der schreienden Schwester die Mutter hervoreilte, im Hemd, denn die Schwester hatte sie entkleidet, um ihr in der Ohnmacht Atemfreiheit zu verschaffen, wie dann die Mutter auf den Vater zulief und ihr auf dem Weg die aufgebundenen Röcke einer nach dem anderen zu Boden glitten, und wie sie stolpernd über die Röcke auf den Vater eindrang und ihn umarmend, in gänzlicher Vereinigung mit ihm – nun versagte Gregors Sehkraft schon – die Hände an des Vaters Hinterkopf um Schonung von Gregors Leben bat.30

Die atemlose Hektik des Satzbaus mag man in der Dramatik des Bildaufbaus und in den verzerrten Gesichtern noch wiedererkennen (auf die oft »ausgeprägte Mimik und Gestik«31 von Crumbs Figuren hat schon Monika Schmitz-Emans hingewiesen). Die Doppelbödigkeit von Kafkas Sätzen aber, in denen das Heranstürmen der Mutter mit einer sexuellen Vereinigung assoziiert wird, sowie die feine Komik, mit der Gregors Sehkraft ausgerechnet auf dem Höhepunkt dieser Vereinigung versagt und das assoziierte Bild gleichsam ausgeblendet wird – das findet man im Comic nicht. Übrigens auch in Peter Kupers Version nicht, die sich hier ganz offensichtlich an Crumb orientiert,32 und noch weniger bei Horne, wo die Umarmung zwischen Vater und Mutter geradezu abgewehrt wird (vgl. V 32). Vor der bei Kafka in einem Satz entworfenen Gleichzeitigkeit von beschwörender und betörender Körperaktion der Mutter, die zudem noch von einer passgenauen Veränderung in Gregors Sehschärfe begleitet wird, scheinen alle Comiczeichner zu kapitulieren. Allein das Missverhältnis zwischen der potenzierten Körperlichkeit bei den Eltern und Gregors sich immer weiter reduzierendem Körper findet sich hier wie dort. Die textuelle Körperdarstellung, so lässt sich über Lessing hinausgehend festhalten, gewinnt dort eine besondere, vom Bild nur schwer zu erreichende Intensität, wo sie auf engstem Raum Körperhandlungen assoziativ verdoppelt und dazu noch mit Informationen über die Wahrnehmungsvorgänge des Beobachters kombiniert. Ganz im Einklang mit Kafkas Text ist Crumbs Comicversion dann wieder an ihrem Ende. Erzählung wie Comic rücken in ihrem letzten Satz und Bild Gregors 30 Kafka: Die Verwandlung, S. 171. 31 Schmitz-Emans: Literatur-Comics, S. 187. 32 Vgl. Peter Kuper: The Metamorphosis, New York 2003, S. 50.

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Schwester in den Fokus, die – so die letzten Worte der Verwandlung – »ihren jungen Körper dehnte«33. Im letzten Panel von Crumb wird der Körper der Schwester dann tatsächlich so weit ausgedehnt, dass ihre linke Hand ins vorangehende Panel hineinreicht. Gregors toter Körper dagegen ist auf den letzten drei Panels nicht mehr zu sehen, mithin von der zunehmend vitaleren Schwester aus dem Bild gedrängt worden. So endet der Comic wie er begann – ohne Darstellung von Gregor Samsas Körper.

3. D as P rinzip A bgrenzung . A utonomisierungs - strategien in H ornes /C orbeyrans C omicversion von K afkas D ie V erwandlung Anders als Christoph Haas bin ich nicht der Meinung, dass die französisch-britische Koproduktion von Eric Corbeyran und Richard Horne der Perspektive von Kafkas Verwandlung nicht nahekommen kann – sie will es gar nicht. Das prägnanteste Kennzeichen dieser Comicfassung ist ihre lustvolle Abgrenzung, und zwar von Kafkas Text ebenso wie von Crumbs berühmtem Comic. Vermutlich gibt es kaum einen zweiten Text, an dem sich so gut wie an der Verwandlung zeigen lässt, dass es nicht nur einen Kanon der Weltliteratur, sondern mittlerweile auch kanonische Literaturcomics gibt (wie u.a. die zahlreichen musealen Einzelausstellungen und tribute-Aktionen zu Crumbs Werk zeigen). Die anxiety of influence hat längst auch die Zeichner von Literaturcomics erfasst: Wer 2009 eine Comicfassung der Verwandlung veröffentlicht, muss sich von Crumbs, aber auch von Peter Kupers und anderen Versionen signifikant unterscheiden. Genau darauf kommt es Corbeyran und Horne an – und nichts würde sich dazu besser eignen als die Darstellung von Gregor Samsas spektakulärem Körper. Die Beschäftigung mit dem Körpermotiv beginnt bei Corbeyran/Horne wie bei Crumb/Mairowitz schon mit der paratextuellen Rahmung, also vor Beginn der eigentlichen Geschichte. Während jedoch Crumb/Mairowitz den Rahmen dazu nutzen, um den Körper des Tieres von vornherein als Bild für Kafkas Menschenkörper zu deuten, zielen Corbeyran/Horne genau in die Gegenrichtung. In der vorderen wie hinteren Umschlagklappe des Bandes findet sich eine großformatige, mit einer detaillierten Beschriftung der einzelnen Körperteile versehene Abbildung einer Schabe. Aufgerufen werden damit die Textsorte und die Rezeptionshaltung eines populärwissenschaftlichen Sachbuchs – deutlicher lässt sich kaum markieren, dass die Vorgaben von Text und Autor in dieser Comicfassung nicht als verbindliche Richtschnur angesehen werden. Während es in der Verwandlung 33 Kafka: Die Verwandlung, S. 200.

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heißt, dass Gregor den unteren Teil seines Körpers »übrigens noch nicht gesehen hatte« und sich von ihm auch »keine rechte Vorstellung machen konnte«34, sind die Beschriftungen gerade dieser Körperpartie im Comic besonders detailliert (genauso am Kopf, der sich ebenfalls Gregors Blickfeld entzieht). Darüber hinaus werden im nebengeordneten Text unter der Überschrift »Ordnung der Schaben« (vgl. V 1) ausführlich die Flügel und die Flugfähigkeit dieser Tiere beschrieben – von beidem ist in Kafkas Text mit keinem Wort die Rede. Während die paratextuelle Rahmung bei Crumb/Mairowitz eine selbst für Literaturcomics ungewöhnliche philologische Genauigkeit aufweist, fällt bei Corbeyran/Horne sofort eine nicht weniger bemerkenswerte, aber genau entgegengesetzte Unbekümmertheit im Umgang mit der literarischen Vorlage ins Auge. Das setzt sich auch am Anfang der Geschichte fort, und zwar auf verbaler wie visueller Ebene. Wo Crumb/Mairowitz erst einmal dem Originaltext huldigen und darauf hinweisen, dass es sich bei dem von ihnen selbstverständlich komplett zitierten ersten Satz der Verwandlung um den »wohl bekanntesten Satz der modernen Literatur« (K 41) handele, nehmen sich Corbeyran/Horne die hier besonders auffällige Freiheit, den ersten Satz nur gekürzt zu zitieren – obwohl ihre Version im Ganzen wesentlich länger und textreicher ist (vgl. V 5)35. Auch die Panelsequenz auf der ersten Seite kann als eine Distanzierung von der Textvorlage verstanden werden: Während das erste (und kleinste) Panel eine Nahaufnahme des Tierkopfes zeigt, wie man sie in Comics häufig zur Markierung einer internen Fokalisierung findet (die in diesem Fall ja dem Text entsprechen würde), entfernen sich die beiden nächsten Panels in einer Zoombewegung von Gregor: auf eine Halbtotale, die Gregors ganzen Körper zeigt, folgt im größten und damit dominanten Panel der ersten Seite eine von der Decke auf Gregor und sein Zimmer geworfene Totale (vgl. V 5). Statt der bei Kafka bis kurz vor Schluss und bei Crumb/Mairowitz zumindest anfangs eingesetzten Mitsicht schwenkt der Comic hier schnell in die Übersicht – als Betrachter sieht man nicht aus, sondern auf Gregors Körper. Deutlich, ja fast überdeutlich wird hier von Beginn an die Autonomie des Literaturcomics betont – und zwar im Blick sowohl auf die Textvorlage als auch auf die Comicgeschichte dieses Textes. Mit dem Prinzip der Abgrenzung arbeiten Corbeyran/Horne dann auch innerhalb ihres Comics, insbesondere in der Körperdarstellung. Das gilt zunächst in Bezug auf die klare Unterscheidung zwischen Gregors Tier- und Menschenkörper. Crumb/Mairowitz spielen durch die Schweißperlen am Tierkörper auf den Men34 Kafka: Die Verwandlung, S. 121. 35 Dass Kafka es peinlich vermeidet, in seinen literarischen Werken den Ortsnamen ›Prag‹ zu verwenden, hält Corbeyran/Horne folgerichtig dann auch nicht davon ab, in einem Panel ein Bahnhofsschild mit der Aufschrift ›Prag‹ zu zeigen (vgl. V 9).

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schenkörper des Autors an, bei Kuper ist dem Tierkörper ein Menschenkopf aufgesetzt. Auf solche Körperkombinationen verzichten Corbeyran/Horne, die aber gleichwohl Gregor auch in Menschengestalt darstellen, und zwar schon auf dem Buchcover und dann in einer Rückblende auf seinen Arbeitsalltag (vgl. V 7f.). Es fällt auf, dass Gregor hier (und darin erinnert dieser Comic nun doch einmal an seinen berühmtesten Vorläufer) starke Ähnlichkeit mit Kafka aufweist – das biographische Deutungsparadigma will also auch diese Comicversion nicht ganz aufgeben, visualisiert es aber nicht durch eine Engführung von Tier- und Menschenkörper, sondern durch eine Doppelpräsenz beider Körper.36 Auch das allegorische Zugleich von Tier- und Menschenkörper klingt bei Corbeyran/Horne zumindest in zwei Tagträumen Gregors an: Wenn er sich zu Beginn der Geschichte ausmalt, seinem Chef endlich einmal die Meinung zu sagen, zeigen die dieser Phantasie zugehörigen Panels Gregor in Menschengestalt (vgl. V 8). In der späteren, leicht erotisch konnotierten Wunschvorstellung, die Geige spielende Schwester in sein Zimmer zu holen und ihren Hals zu küssen (vgl. V 39), tritt Gregor dagegen als Tier in Erscheinung – die unterschiedliche Körperdarstellung deutet an, dass er seine Verwandlung in einen Tierkörper also zunehmend realisiert und akzeptiert hat. Durchgängig bleibt es aber dabei, dass in der visuellen Darstellung Tier- und Menschenkörper voneinander getrennt sind. Das Prinzip der Abgrenzung kommt dann auch dort zum Einsatz, wo die visuellen und die verbalen Informationen eines Panels in Widerspruch zueinander stehen.37 Am deutlichsten ist das auf einer Seite am Anfang des Comics der Fall, auf der Gregor darüber nachdenkt, welche Konsequenzen es hätte, wenn er sich bei seinem Chef krankmeldete. Anstatt auch diese Gedankenspiele mit illustrierenden Bildern zu unterlegen, zeigt Horne sechs Panels, die in extremen CloseUps Körperdetails darstellen: den Teil eines Beines, einen Ausschnitt des Rumpfs, ein Auge usw. (Abb. 5) (vgl. V 10). Da die Lichtregie hier wie im ganzen Comic stark auf Dunkelheit und große Schattenflächen setzt, ist der paradoxe Effekt der Vergrößerung eine zunehmende Vagheit der Körperdarstellung – auf den ersten 36 Auch in Peter Kupers Version gibt es Rückblenden, die Gregor als Menschen zeigen, der hier aber nicht an den Autor erinnert (vgl. Kuper: The Metamorphosis, S. 10-12 und S. 35-37). 37 Nach einer von Stephanie Hoppeler u.a. vorgeschlagenen Terminologie handelt es sich hier nicht um eine wechselspezifische Kombination von Text und Bild (bei der beide Medien die gleiche Bedeutung vermitteln), sondern um eine parallele Kombination (bei denen beide Zeichensysteme eigene Wege gehen); vgl. Stephanie Hoppeler/Lukas Etter/Gabriele Rippl: Intermedialität in Comics. Neil Gaimans The Sandman, in: Stephan Ditschke u.a. (Hg.): Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums, Bielefeld 2009, S. 53-79, hier: S. 66-70.

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Blick ist kaum eine Körperpartie eindeutig zu identifizieren. Offensichtlich geht es hier also nicht um jene zoologische Genauigkeit, die von der paratextuellen Abbildung der Schabe suggeriert worden war. Erzeugt werden mit der kontrastreichen Text-Bild-Kombination vielmehr ästhetische Effekte: Die Fokussierung auf Gregors Tierkörper hebt die Absurdität seiner Gedanken hervor, die noch ganz seinem menschlichen Berufsalltag verhaftet sind, mithin der visuell präsentierten körperlichen Realität deutlich hinterherhinken. Der merkwürdige Umstand, dass Gregor sich in Kafkas Text zwar über seine Verwandlung in ein Tier beklagt, sich an keiner Stelle aber darüber wundert, wird von dieser Medienkombination besonders hervorgehoben. Für die Lesenden (darauf hat Anastasia Neumann in einem Blogeintrag bereits hingewiesen)38 wirkt dieses Missverhältnis von Text und Bild komisch: Das Panel links unten scheint sich geradezu einen Spaß daraus zu machen, Gregors nicht besonders scharfsinnige Gedankenführung – im Text heißt es, er sei vermutlich nicht einmal krank, allenfalls ein bisschen schläfrig, und fühle sich eigentlich »ganz wohl«39 – ausgerechnet mit einer Großaufnahme des Insektenauges in Verbindung zu bringen. Die Körperdarstellung setzt also deutlich andere Akzente als das autobiographisch grundierte Vorgehen bei Crumb/Mairowitz, hebt mit der Absurdität und der Komik aber zwei Aspekte hervor, die zweifellos in Kafkas Text angelegt sind. Trotz aller Autonomisierungsbemühungen bleibt also auch diese Comicversion ihrer literarischen Vorlage durchaus verpflichtet – am eindringlichsten dort, wo sie mithilfe einer detailreichen Körperdarstellung die ästhetischen Pointen des Textes ernst Abb. 5: Corbeyran/Horne: Die Verwandlung, S. 10. nimmt und verstärkt.

38 Anastasia Neumann: Die Komik im Kafka-Comic, http://literaturcomic.phil.hhu. de/?page_id=14 (letzter Zugriff am 16. Januar 2014). 39 Kafka: Die Verwandlung, S. 119.

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4. F unktionen

des

K örpereinsatzes . F azit

Die Körperdarstellungen im Comic, so lässt sich bilanzieren, gehen auf unterschiedliche Weise über die textuellen Körperbeschreibungen in den literarischen Vorlagen hinaus und erfüllen dabei insbesondere drei Funktionen: Sie dienen erstens der Illustration, zweitens der Interpretation des Textes sowie drittens einer Autonomisierung des Comics vom Text. Dass die Bilder den Text illustrieren, ist offensichtlich. Bemerkenswerterweise visualisieren40 sie mithilfe von Körpern auch Unkörperliches, und zwar nicht nur mithilfe von Mimik und Gestik: etwa dort, wo sich Elses psychischer Zustand in einem plötzlichen physischen Alterungsprozess zeigt oder wo die Text-BildKombination die in Kafkas Text enthaltene Absurdität und Komik einzelner Situationen hervorhebt. Die Literaturcomics liefern demnach mehr als »bildliche Paraphrasen«41 ihrer Textvorlagen. So handelt es sich bei den Körperdarstellungen auch um Interpretationen, insofern sie zum Beispiel eine biographische Lesart von Kafkas Text nahelegen und mit visuellen Mitteln eine allegorische Ebene eröffnen. Auf eine Autonomisierung des Comics vom Text kommt es in allen untersuchten Fällen an. Am deutlichsten zeigt sich das in der Abwendung von der internen Fokalisierung: Immer sind die Körper der Protagonisten auch von außen zu sehen. Besonders offensiv grenzen sich Horne und Corbeyran von ihrer Vorlage ab, wenn sie Gregor Samsas Tierkörper gleich zu Beginn in biologischer Genauigkeit präsentieren. Neben diese gegenstandsbezogene Autonomisierung tritt im Fall von Fräulein Else eine stärker mediensystemische: Mithilfe schneller Fokalisierungswechsel und einer Fokalisierungsdiffusion unterscheidet sich die Comicversion in darstellungstechnischer Hinsicht deutlich von der in dieser Hinsicht einseitigeren Textfassung. Alle drei Comics stehen insofern in der Tradition von Lessings auf Differenzen bedachter Medientheorie, als sie die Körperdarstellung dazu nutzen, die unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten von Texten und Bildern hervorzuheben und fruchtbar zu machen. Gerade das in den literarischen Erzählungen über den Körper Nicht-Gesagte wird dabei zu einem Produktivfaktor des graphischen Erzählens.

40 Zur Differenzierung von ›Illustration‹ und ›Visualisierung‹ vgl. Jakob F. Dittmar: Comic-Analyse, Konstanz 2011, S. 41. 41 Schmitz-Emans: Literatur-Comics, S. 182.

Die Geschichte meines Lebens. Comicversionen von Helen Kellers berühmter Autobiographie O le F rahm

Keiner denkt bei dem Wort gerade und genau das, was der andre, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Uebereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen.1

Helen Kellers Geschichte war Ende des 19. Jahrhunderts international bekannt. Die taubblinde junge Dame, die als erste Frau einen Doktortitel in Harvard erwarb, begründete insbesondere mit ihrem autobiographischen Buch The Story of my Life ihren Ruhm.2 Dieses ist vor allem die Geschichte einer Initiation in die Sprache. Die mit zwei Jahren erblindete und ertaubte Helen erlernte mit sieben durch die Hilfe von Annie Sullivan eine Handzeichensprache. Sie stellt dies als Prozess der Zivilisierung dar. Ausgesprochen verschiedene Comics haben diese Geschichte adaptiert: in Kurzgeschichten, eigenen Büchern oder Edu-Mangas. Die Geschichte dieser Adaptionen ist selbst eine vom Verstehen und Nicht-Verstehen. In jedem Fall lässt sich behaupten, dass jeder Version eine andere Theorie der Sprache, des Sehens und Sprechens zugrunde liegt. Dies gilt besonders für die Comics, in denen Sprache und Bild, Schrift und Zeichnung in ein komplexes Verhältnis zueinander treten. Ihr serielles Erzählen, in dem Wort und Figur einander 1 Wilhelm von Humboldt: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: ders.: Schriften zur Sprachphilosophie (= ders.: Werke, Bd. III), Darmstadt 1994, S. 368756, hier S. 439. Alfred Schmidt versteht Helen Kellers Geschichte als Bewahrheitung von Humboldts Sprachtheorie (vgl. Alfred Schmidt: Helen Keller und die Sprache, Münster/Köln 1954, S. 82). 2 Helen Keller: The Story of my Life, London 1910.

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wiederholen, in der die Schrift zum Bild wird und die Panels in gereihten Zeilen wie Buchstaben, Sätze oder Absätze zu lesen sind, materialisiert ein spezifisches Verhältnis der Zeichen auf jeder Seite. Alles wiederholt sich hier, aber auf sehr unterschiedliche Weise. Schriftlicher Name und Figur im Bild, die Figur von Panel zu Panel, die Auflagen, in denen sie als massenkulturelle Produkte vertrieben werden – und in diesen sehr unterschiedlichen Wiederholungen bleibt die jeweils, in einem bestimmten Moment gelesene Konstellation von Bild und Schrift immer spezifisch, fast singulär. Allerdings beanspruchen die sehr unterschiedlichen Comics dabei keineswegs, die Singularität von Helen Kellers Leben abzubilden. Vielmehr konstruieren sie in ihren immer sehr sichtbaren Mitteln – der gezeichneten wie der gezogenen Linie, der gedruckten wie der geschriebenen Schrift – eine stereotype Figur, auf die ganz unterschiedliche Projektionen möglich sind, ohne dass diese ihren Eigensinn verliert. Diese Ambivalenz ist in den einzelnen Comics zu verfolgen. Einerseits laden Comics zu Projektionen auf die Figur ein, zu der Helen Keller geworden ist – als Geschöpf ihrer Lehrerin, als Spielball, Engel oder Unschuld, als leicht beeinflussbar, ohnmächtig oder als Wunder. Andererseits sperrt die Comicfigur sich diesen Projektionen in der von der Schrift unterbrochenen Konstellation der Bilder. Manche Comics vermögen es sogar, die Mechanik der Projektion auszustellen, zu zerlegen oder zu überbieten. Die folgenden Lektüren sechs sehr verschiedener Adaptionen, die zwischen 1945 und 2012 entstanden sind, können keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben.3 Unter der keineswegs ironischen Überschrift Wonder Woman of History fasst die Tennislegende Alice Marble mit Zeichnungen von Alfonso Greene das Le3 Viele Comics zählen zur Gebrauchsliteratur und sind entsprechend nicht in Bibliotheken aufbewahrt oder schwer zu beschaffen. In Mexiko soll beispielsweise 1961 in der Serie Mujeres Celebres Heft Nummer 7 über Helen Keller erschienen sein, das Olga Harmony (Text) und Antonio Cardoso (Zeichnung) verantworteten. Auch fehlt Megumi Sugihara: Helen Keller. From Darkness to Light, San Francisco 2011; Kawana Sari behauptet, dass auch Yokota Tokuo einen biographischen Manga über Helen Keller gezeichnet hat, bleibt aber den Beleg schuldig (Kawana Sari: Romancing the Role Model. Florence Nightingale, Shōjo Manga and the Literature of Self-Improvement, in: Japan Review 23 (2011), S. 199-223, hier S. 208). Es wäre nützlich, die Untersuchung auf Comics vor 1940 auszudehnen, doch ist beispielsweise unbekannt, ob in den Jahren, in denen Helen Keller ihre ersten Bücher veröffentlichte – 1904 bis 1913 – Sonntagsseiten oder Tagesstrips über sie erschienen. Im derben Humor von Serien wie Happy Hooligan oder den Katzenjammer Kids war auf jeden Fall wenig Platz für zu Tränen rührende Situationen wie jene an der Wasserpumpe. Doch ändert sich diese Situation nicht nur in den 1920er Jahren, auch Helen Kellers Auftritt im Vaudeville könnte eine weitere Brücke herstellen, beziehen sich doch nicht wenige frühe Comics auf deren Ästhetik.

Comicversionen von Helen Kellers Autobiographie | 67

ben der Zeitgenossin Helen Keller im Comicheft Wonder Woman vom Frühjahr 1945 zusammen, nach Julia Ward Howe und vor Sojounor Truth.4 Zwei Seiten mehr widmet das Heft Real Heroes Nr. 13 im März/April 1946 dem Sieg über die Dunkelheit (The Conquest of Darkness).5 Fast 40 Jahre später erscheint dann The Story of My Life in der Serie Pocket Classics neben Adaptionen beispielsweise von Tom Sawyer oder A Tale of two Cities.6 Der Band Helen Adams Keller wird im Jahr 2000 in der Reihe Edu-Manga veröffentlicht und 2005 ins Amerikanische übersetzt.7 Unter dem Motto Good for the Brain widmen sich weitere Titel dieser Reihe Albert Einstein, Anne Frank und Mutter Theresa. Während bei den beiden zuvor genannten Comics die Produzenten weitgehend im Dunklen bleiben, werden hier Autor und Zeichner, Sozo Yanagawa und Rie Yagi, genannt. 2008 provoziert eine recht freie, in ihren literarischen Bezügen aber dennoch ganz eindeutige, vierteilige comic book-Serie mit dem Titel Helen Killer im Arcana-Verlag, der seine Comics am gothic genre orientiert.8 Die Debütanten Andrew Kreisberg (Text) und Matthew JLD Rice (Zeichnung) präsentieren Helen Keller als ambivalente Superheldin. Schließlich hat der Comiczeichner Joseph Lambert, Jahrgang 1984, sein zweites Buch, mit dem Titel Annie Sullivan and the Trials of Helen Keller 2012 als Graphic Novel veröffentlicht und erlaubt einen ganz neuen Blick auf die so oft erzählte Geschichte.9

V iele

tausend

M ale

Alle sechs Comics zitieren mehr oder weniger ausführlich Helen Kellers The Story of My Life und es nimmt nicht wunder, dass sie alle das dort an nicht weniger als vier Stellen beschriebene Erweckungserlebnis an einer Wasserpumpe wiedererzählen, wird es doch von Keller selber als entscheidender Wendepunkt in ihrem Leben geschildert. 4 Alice Marble: Wonder Woman of History. Helen Keller, in: Wonder Woman Nr. 12, 4. Jahrgang, New York 1945, nicht paginiert, [S. 28-31]. 5 The Conquest of Darkness, in: Real Heroes. Nr. 13, 6. Jahrgang, New York 1946, nicht paginiert, [S. 14-19]. 6 Helen Keller: The Story of My Life, West Haven 1984. 7 Sozo Yanagawa/Rie Yagi: Edu-Manga. Helen Adams Keller, übers. von Sachiko Sato, Gardena CA 2005. 8 Andrew Kreisberg/Matthew JLD Rice: Helen Killer, Nr. 1-4, o.O. 2007-Juli 2008. 9 Joseph Lambert: Annie Sullivan and the Trials of Helen Keller, New York 2012. Das erste Buch Lamberts sammelt Kurzgeschichten (vgl. Joseph Lambert: I will bite you, Vermont 2011).

68 | Ole Frahm Earlier in the day we had had a tussle over the words ›m-u-g‹ and ›w-a-t-e-r‹. Miss Sullivan had tried to impress it upon me that ›m-u-g‹ is mug and‚ ›w-a-t-e-r‹ is water, but I persisted in confounding the two. [...] We walked down the path to the well-house, attracted by the fragrance of the honeysuckle with which it was covered. Some one was drawing water and my teacher placed my hand under the spout. As the cool stream gushed over one hand she spelled into the other the word water, first slowly, then rapidly. I stood still, my whole attention fixed upon the motions of her fingers. Suddenly I felt a misty consciousness as of something forgotten – a thrill of returning thought; and somehow the mystery of language was revealed to me. I knew then that ›w-a-t-e-r‹ meant the wonderful cool something that was flowing over my hand. That living word awakened my soul, gave it light, hope, joy, set it free!10

Am Brunnen, in der Gleichzeitigkeit von dem fließenden Wasser und dem Buchstabieren der Hand findet Helen, wie sie es nennt, den »Weg aus dem Dunkel«11. »How many thousands of times this part of the story has been told!«12, kommentiert Nella Braddy diese Szene in ihrer Biographie Annie Sullivan Macy. The Story behind Helen Keller, und zitiert gleichsam als Blaupause Annie Sullivans Brief an Sophia Hopkins, der sich in einigen aufschlussreichen Details unterscheidet. Helen has taken the second great step in her education. She has learned that everything has a name, and that the manual alphabet is the key to everything she wants to know. [...] This morning, while she was washing, she wanted to know the name for ›water‹. When she wants to know the name of anything, she points to it and pats my hand. I spelled ›w-a-t-e-r‹ and thought no more about it until after breakfast. Then it occured to me that with the help of this new word I might succeed in straightening out the ›mug-milk‹ difficulty. We went out to the pump-house, and I made Helen hold her mug under the spout while I pumped. As the cold water gushed forth, filling the mug, I spelled ›w-a-t-e-r‹ in Helen’s free hand. The word coming so close upon the sensation of cold water rushing over her hand seemed to startle her. She dropped the mug and stood as one transfixed. A new light came into her face. She spelled ›water‹ several times.13 10 Keller: The Story of my Life, S. 22f. 11 So auch der Titel der aktuellen deutschen Übersetzung von The Story of my Life. 12 Nella Braddy: Annie Sullivan Macy. The Story behind Helen Keller, New York 1933, S. 126. 13 Keller: The Story of my Life, S. 315f.; Braddy: The Story behind Helen Keller, S. 26. Ein fragwürdiges Kriterium für die Vorrangigkeit dieses Zeugnisses gibt Alfred Schmidt: »Von allen Darstellungen ist natürlich die unmittelbar nach dem Ereignis niedergeschriebene in Frl. S.’s Brief vom 5. April die glaubwürdigste, und keine der anderen erreicht die gleiche Anschaulichkeit und die gleiche ergreifende Wirkung.« (Schmidt: Helen Keller und die Sprache, S. 37).

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Während Helen beispielsweise meint, sie hätte ›water‹ und ›mug‹ nicht auseinanderhalten können, schreibt Annie von ›milk‹ und ›mug‹. Helen mutmaßt, jemand Drittes habe ihr Wasser über die Hand gegossen, Annie betont, dass sie diese Situation bewusst hergestellt hat. Entsprechend beurteilt sie Helens Fortschritte auf dem Weg dazu zu lernen, »that everything has a name«. Sie lässt offen, ob dies am Brunnen schon geschah, auf jeden Fall wiederholte Helen das Wort ›water‹ mehrmals.14 Eine frühere Version, die Helen Keller mit 13 Jahren unter dem Titel My Story für den Youth Companion geschrieben hat, ist interessant, weil sie dort ebenfalls von der Verwechslung von milk und mug schreibt. Teacher had been trying all the morning to make me understand that the mug and the milk in the mug had different names; but I was very dull, and kept spelling milk for mug, and mug for milk until teacher must have lost all hope of making me see my mistake. At last she got up, gave me the mug, and led me out of the door to the pump-house. Some one was pumping water, and as the cool, fresh stream burst forth, teacher made me put my mug under the spout and spelled ›w-a-t-e-r‹, Water! That word startled my soul, and it awoke, full of the spirit of the morning, full of joyous, exultant song. Until that day, my mind had been like a darkened chamber, waiting for words to enter and light the lamp, which is thought.15

Die unterschiedlichen Details in den Versionen kommentiert John Macy, der spätere Ehemann Sullivans, als Herausgeber von The Story of My Life mit der Anmerkung, dass die Autobiographie kaum ein wissenschaftlich genauer Bericht sei: »She cannot know in detail how she was taught, and her memory of her childhood is in some cases an idealized memory of what she has lerned later from her teacher and others.«16 Doch gilt dies – wenn auch je anders – für alle Beschreibungen. Ist nicht Annies Brief ganz von dem Bild geprägt, das sie ihrer Protektorin vermitteln will, in dem der Brunnen zum Pädagogikum wird? Wenn Helen noch nicht wusste, dass jedes Ding einen Namen hat, warum konnte sie schon nach der Zeichenfolge für Wasser fragen? Und zeugt die Ähnlichkeit von Helens früherer Version mit derjenigen Annies, dass sie sich in der späteren nicht falsch erinnert, sondern vielmehr zu ihrer eigenen Formulierung gefunden hat, in der die Differenzen notwendig sind, zumal sie von Macy und Sullivan nicht redigiert wurden? Der Mythos dieses Ursprungs, seine Konstruktion ist so offensichtlich, dass eine Untersuchung seiner Deutung aufschlussreicher zu sein verspricht als ihn anzuzwei14 So in ihrem knapperen Report an das Perkins Institute for the Blind (vgl. Keller: The Story of my Life, S. 337). 15 Keller: The Story of my Life, S. 422 (zuerst in The Youth’s Companion vom 4. Januar 1894). 16 Keller: The Story of my Life, S. 284.

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feln. Handelt es sich tatsächlich um eine Befreiung zur Sprache, wie Deliverance, der Titel des Stummfilm-Streifens von 1919 über Kellers und Sullivans Leben, nahelegt? Oder beginnt gerade hier die Herrschaft des Vaters, die Unterwerfung unter die Sprache, wie unmissverständlich in dem Film The Miracle Worker von 1962 behauptet wird?17 Doch vielleicht legen die Comics eine andere Perspektive jenseits dieser Dichotomie nahe.18

W onder W oman

of

H istory (1945)

Als Wonder Woman of History wird Helen Keller zur Doppelgängerin der Titelsuperheldin, Wonder Woman.19 Die Wunderwaffen der Amazonin Diana sind ein magisches Lasso, das die gefesselten Schurken zur Wahrheit zwingt, Armreifen, mit denen sie in Blitzgeschwindigkeit jede Kugel abzufangen vermag, und Ohrringe, die magnetisches Hören ermöglichen, also auch Gedankenlesen – in Heft 12 erfährt sie so von Plänen zu einem Dritten Weltkrieg. Damit die Leserinnen und Leser sich daran erinnern, dass magnetisches Hören in Wirklichkeit tatsächlich ein Wunder wäre, unterbrechen die vier Seiten über Helen Keller die phantastischen Abenteuer der Serie. Das Wunder der taubblinden Helen Keller in der Version Alice Marbles ist, dass sie sprechen lernt. Ein Zuhörer ruft angesichts von Kellers Rede im Juli 1896 bei der Amerian Association to Teach the Deaf überschwenglich aus: »That girl’s

17 Arthur Penn (Regie), William Gibson (Buch), u.a. mit Anne Bancroft (Annie Sullivan) und Patty Duke (Helen Keller) bei United Artists. Der Film geht auf das gleichnamige Fernsehspiel (1957) und Theaterstück von William Gibson (1959) zurück. 18 Die chronologische Reihenfolge, in der die Comics gelesen werden, insinuiert kein Argument. Es lässt sich nicht feststellen, ob die jeweiligen Produzenten vorherige Versionen wahrgenommen haben. 19 Zur Ideologie von Wonder Woman vgl. Matthew J. Smith: Die Tyrannei der Schmelztiegel-Metapher. Wonder Woman als amerikanisierte Immigrantin, in: Barbara Eder u.a. (Hg.): Theorien des Comics. Ein Reader, Bielefeld 2010, S. 263-281; hier findet sich auch ein Überblick über die Literatur. Zur Geschichte von Wonder Woman vgl. Les Daniels: Wonder Woman. The Complete History, San Francisco 2000. Dorothy Herrmann nimmt die Rede von Helen Keller als wonder woman auf, wenn sie anmerkt, dass Helens sozialistische Haltung all denen unangenehm war, »who [...] sought to perpetuate her image as a handicapped wonder woman« (Dorothy Herrman: Helen Keller. A Life, New York 1998, S. 171). Ich möchte an dieser Stelle Ian Lewis Gordon danken, der mir bei der Recherche unschätzbar geholfen hat.

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learning to speak is the greatest achievement in the whole history of oral speech«20. Dieses Wunder wird durch die Sprechblase bewiesen, in der sich Helen wünscht, dass jedes taube Kind eines Tages sprechen kann.21 Keller vertritt vor der von Graham Bell ins Leben gerufenen Gesellschaft dessen Oralismus, der sich in den folgenden Jahren in den USA – durchaus gegen Widerstände gehörloser Menschen – durchsetzt und erst in den 1980er Jahren wieder hinterfragt wird.22 Marble folgt diesem Paradigma, indem sie die gesprochenen Worte Kellers »I – am – not – dumb – now!« mit dem Blocktext »Nothing could discourage Helen [...] ... and after only eleven lessons, the miracle happened!« 23 kommentiert. Diese Interpretation ist um so überraschender, als in der Zeile über diesem Panel die Sprechblasen den Händen von Anne, wie Annie hier genannt wird, und Helen zugeordnet werden, um ein Paradox zu formulieren: »Don’t deaf children ever learn to speak?« Spricht Helen hier nicht qua Sprechblase und in dieser comictypischen Konturierung sogar ununterscheidbar vom lauten Sprechen? Hat sie in diesem Sinne nicht schon sprechen gelernt? Die Schrift in der Sprechblase – es wirkt als sprächen die Hände – lässt sich mit Jacques Derrida so lesen, dass alles Sprechen Schrift ist,24 und gibt insofern Helens eigener Interpretation des Wunders am Brunnen recht. Diese Szene ist nun denkbar prosaisch (Abb. 1). Im ersten Panel fragt sich Anne, wie sie Helen das Prinzip sprachlicher Bedeutung beibringen kann, im zweiten gelingt dies: »That did it - - - Dipping her hand into water and spelling w-a-t-e-r into her other hand«. Das Zitat von Sullivans und Kellers Erzählungen im materialisierten Signifikanten des durch Gedankenstriche unterbrochenen Wortes water ist zu offensichtlich, als dass die bildlichen Abweichungen zufällig sein könnten. Der Brunnen wurde zum Fluss, und Helen muss sich in eine fast anbetende Haltung niederbeugen, um den Strom des Wassers wie den Fluss der Buchstaben in Erfahrung zu bringen. Auf Helens Gesicht zeichnet sich kein Licht, kein Glanz ab, der Moment der Erkenntnis ist vergangen, Anne hält nicht einmal ihre andere Hand, dies scheint sogar unmöglich. 20 Marble: Wonder Woman of History, S. 31; Hervorhebung im Original. 21 Marble vereinfacht die ersten Sätze der Rede Helen Kellers vor der American Association to Promote the Teaching of Speech to the Deaf in Mount Airy, Philadelphia. 22 Herrmann: Helen Keller, S. 25. 23 Marble: Wonder Woman of History, S. 29. Dorothy Herrman erinnert daran, dass die Brunnenszene von den Viktorianern bald als ein Wunder, »a miracle«, bezeichnet wurde (Herrman: Helen Keller, S. 45). Marble setzt sich von dieser Deutung ab und ignoriert auch, dass Kellers Aussprache nur schwer verständlich war: »Helen’s voice still was incomprehensible to most people.« (Herrmann: Helen Keller, S. 77, vgl. auch zur Beschreibung ihrer Stimme S. 180). 24 Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt a.M. 1974.

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Abb. 1: Marble: Wonder Woman of History. Helen Keller. In: Wonder Woman Nr. 12, 4. Jg., (New York, DC) 1945, 30 (Ausschnitt, Panel 1-2).

Diese ausbleibende Illustration des entscheidenden Moments könnte produktionstechnisch erklärt werden: Alice Marble begleitete bei Max Gaines All-AmericanComics die Herstellung des Comics schon nicht mehr, als der Comic produziert wurde (sie spionierte für den amerikanischen Geheimdienst bei einem Schweizer Bankier, um von den Nazis aus jüdischem Besitz geraubte Kunstwerke aufzustöbern). Doch selbst wenn Alfonso Greene nur nach ihrer Textvorlage gearbeitet hat, bleibt die Frage, warum er nicht zeigt, was in der Gedankenblase zu lesen ist, warum er das Beschriebene bildlich bezweifelt. In diesem »Auseinandergehen«25 zwischen Schrift und Zeichnung stellt sich die Frage, woher Anne weiß, dass Helen sie versteht. Die Zeichnung bleibt in dieser Geste der Schrift fremd. Sie verstehen sich nicht, und Helens Hand im Wasser, Annies Hand auf ihrem Arm zeugen davon, wie begrenzt alles Verstehen bleibt. Die Hoffnung, dass mit dem Wissen um den Namen der Dinge alles verstanden ist, trügt. Denn die Materialität der Sprache trennt diese von den Sprechenden, macht den Sprechenden strukturell abwesend.26 Das Sprechen selbst ist – daran erinnern die Sprechblasen – in diesem Sinne Schrift. Die Zeichnung unterläuft so die These des Wunders lebendigen Sprechens, indem sie die Materialität des Signifikanten ausstellt. 25 von Humboldt: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, S. 439. 26 Vgl. das Argument, das Jacques Derrida in seiner Lektüre von Condillacs Sprachphilosophie macht: Der Signifikant entzieht sich aufgrund seiner Materialität dem Sprecher, der Sprecherin – sie sind strukturell tot (vgl. Jacques Derrida: Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders.: Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 291-314).

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T he C onquest

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D arkness (1946)

Die Heftserie Real Heroes versprach unter dem Subtitel Thrilling Stories about real People, wahre Geschichten zu erzählen. Die Parent’s Magazine Press verlegte weitere Serien wie True Comics, Calling All-Girls oder Sport Stars. True Comics erschien seit April 1941, Real Heroes kam erstmals im September desselben Jahres an die Kioske. In dem Editorial verheimlicht Herausgeber George J. Hecht nicht, dass beiden Serien das gleiche Konzept zugrundeliegt, ganz als plagiierte die eine Heftserie die andere. Das Argument dafür liefert der Markt, der angesichts von über »75 ›comic‹ magazines, a large number of which feature stories of supermen of one kind or another«, durchaus zwei – und schließlich noch einige andere – dokumentarische Serien vertragen kann.27 Wie sichtbar dieser Versuch war, zeigt eine Bemerkung Paul Wittys im Journal of Experimental Education, der in Real Heroes schon im Dezember 1941 das Begehren der Kinder und Jugendlichen, Comics zu lesen, mit einem pädagogischen Unternehmen verbunden hatte.28 Das Bild der berühmten Helen Keller unterliegt beim Kampf um das Cover. Die Gefahr des Tiefseetauchens, ein Bomber und der Sieg der Alliierten beim französischen Climbach wurden offenbar für verkaufsfördernder gehalten. Entsprechend überwiegen im Heft Berichte vom jüngst vergangenen Krieg. Mit sechs Seiten zählt Kellers Biographie allerdings zu den längeren Episoden. Andere Geschichten füllen nur eine Seite, viele drei Seiten. Es handelt sich keineswegs nur um celebrities oder Politiker wie Roosevelt, deren Geschichten hier nachgezeichnet werden, sondern oftmals um kleine Leute, die nicht selten namenlos bleiben. Conquest of Darkness nimmt nur im Titel den kämpferischen Ton des Heftes auf. Die chronologische Erzählung des unabgeschlossenen Lebens gliedert sich in zwei Seiten Krankheitsgeschichte und Suche nach ärztlicher Hilfe, zwei Seiten von der Ankunft Annie Sullivans bis zur Sprachartikulation, eine Seite zum College und zu Keller als Autorin und eine Seite über die Zeit zwischen 1904 und 1946 mit einem bemerkenswerten Panel über ihren Auftritt im Vaudeville.29 27 George J. Hecht: Try this Magazine, in: Real Heroes 1 (1941), Nr. 1, S. 2. Vgl. dazu Wiley Lee Umphlett: The Visual Focus of American Media Culture in the Twentieth Century. The Modern Era, 1893-1945, Madison/Teaneck 2004, S. 272f. 28 Paul Witty: Children’s Interest in Reading Comics, in: Journal of Experimental Education 10 (1941), Nr. 2, S. 100-103. 29 Vgl. dazu Susan Crutchfield: ›Play(ing) her part correctly‹. Helen Keller as Vaudevillian Freak, in: Disability Studies Quarterly 25 (2005), Nr. 3 (http://dsq-sds.org/article/ view/577/754, letzter Zugriff am 16. Februar 2012). Dies ist bemerkenswert, weil die meisten anderen Comicversionen diese Episode ignorieren (vgl. Herrmann: Helen Keller, S. 221-230).

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Auch hier wird das Akustische betont, wenn in einem Panel, in dem die Mutter das Kind ruft, Helens Taubheit – »She doesn’t seem to hear« – und erst dann, fast nebenher, ihre Blindheit erzählt wird, ganz als würde hier auf den späteren Ungehorsam des Kindes angespielt, der sich in ihrer Kritik kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse und dem Favorisieren kommunistischer Ansätze auch politisch fortsetzen sollte.30 Doch kristallisiert sich diese Betonung nicht zu einer These. Allerdings wird die Brunnenszene mit drei Panels verhältnismäßig ausführlich und zweifellos als Wendepunkt in ihrem Leben inszeniert (Abb. 2).31 Die Darstellung folgt der ersten Version aus The Story of My Life, es gibt sogar jemanden, der ihr das Wasser über die Hände gießt, denn die Wasserpumpe ist hier ein Brunnen.32 Wir sehen, was sie nicht sieht, aber beschreibt. Der Blocktext im darauffolgenden Panel fasst ihre Worte so zusammen: »The light of understanding appeared in Helen’s face.« Die Zeichnung illustriert dieses Verständnis keineswegs. Helens leeres Gesicht wird vom Panelrand abgeschnitten. Diese Teilung zieht sich über die ganze Seite; auf dem gleichbreiten Panel über dem Brunnen ist Annie porträtiert, vom Kopf bis zu den Füßen. Sie schaut die Leser direkt an. Diese Position im Bild, als unversehrte Person, die den Betrachtern gegenübersteht, muss sich Helen erst erarbeiten, was ihr auf der letzten Seite im ersten Panel schließlich gelingt. Das in der Brunnenszene halbierte Gesicht ist von zwei Panels gerahmt, in denen Helens Körper nur von hinten zu sehen ist. Sie ist von den Lesern wie von Annie Sullivan getrennt, die mit Ausnahme des ersten Panels auf der dritten Seite in jedem Panel mit Helen spricht, ohne dass diese antwortet. Und wenn Annie schließlich ausruft: »Oh Helen, my darling! I’ve finally succeeded«33, dann wird diese Trennung der Welten von Helen und ihrer Lehrerin vom abschneidenden Panelrand unterstrichen. Nicht Helen hat einen Erfolg errungen, sondern ›Teacher‹. Was im Comic von Panel zu Panel stets passiert, wird hier als reale Trennung von 30 Conquest of Darkness, S. 15; vgl. zur politischen Einstellung Kellers Joseph P. Lash: Helen and Teacher. The Story of Helen Keller and Anne Sullivan Macy, New York 1980, S. 363-434. 31 Jede Seite in Conquest of Darkness endet mit einem cliffhanger oder einem Erfolg: der neunzehnmonatigen Helen droht der Tod (vgl. S. 1), die Mutter weiß nicht, was sie mit der Taubblinden tun soll (vgl. S. 2), Helen spricht: »I... I... I am not dumb now!« (S. 4), sie erfährt vom großen Erfolg ihrer Bücher (vgl. S. 5), die Geschichte schließt mit der Aufmunterung einer jungen Blinden (vgl. S. 6). 32 Da in späteren Auflagen von The Story of My Life Annie Sullivans Briefe fehlten, verwundert diese Lektüre von Helen Kellers Autobiographie nicht, auch wenn sie kein anderer Comic wiederholt. Zur Kritik daran Schmidt: Helen Keller und die Sprache, S. 5. 33 Conquest of Darkness, S. 16.

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der Heldin operationalisiert. Helen kann ›Teacher‹ nicht hören, als sie ›w-a-t-e-r‹ buchstabiert, und versteht entsprechend den Erfolg nicht. Ihre Silhouette im letzten Panel dieser Seite unterstreicht die These, dass die ›ganze Helen‹ nicht zu sehen ist, dass wir uns ihr nur über die Paraphrasierung ihrer Lehrerin und Freundin nähern können. Helens geschnittenes Gesicht zeigt eine Trennung an, die immer auch eine von der Sprache ist, die sich nicht restlos verstehen lässt. Dieser Schnitt warnt so davor, zu glauben, Helen restlos zu verstehen, und zerteilt mögliche Projektionen – wie die der unbeschriebenen Seele.

Abb. 2: The Conquest of Darkness. In: Real Heroes. Nr. 13, 6. Jg., (New York, Parent’s Magazine Press) 1946, 16 (Ausschnitt, Panel 4-6).

T he S tory

of

M y L ife (1984)

Academic Industries gehören zu den Comic-Verlagen, über die wenig bekannt ist. Das liegt sicherlich auch an der schmalen, insgesamt 72 Büchlein umfassenden Produktion, die jeweils kanonische Texte als Comics mit kontrastreichen, schwarz-weißen Zeichnungen in oft ungewöhnlichen Blickwinkeln adaptieren.34 In The Story of My Life erzählen 61 kleinformatige Seiten mit drei bis fünf Panels den ersten Teil von Helens Leben aus ihrer Perspektive (S. 7-28), den zweiten Teil »as written by Annie Sullivan« (S. 28-37), der die ersten Unterrichtsversuche schildert und sich bis in die Bildfindung auf The Miracle Worker von 1962 bezieht, um von der Szene am Brunnen an wieder Helen als Autorin einzusetzen (S. 38-61). Diese wird in vielen Bildern berichtet, durch die ein Blocktext führt, 34 Die seltsame Tatsache, dass alle Ausgaben 1984 veröffentlicht wurden, konnte ich ebenfalls nicht aufklären.

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den Helen in der ersten Person erzählt (Abb. 3). Der große Vorteil dieser Methode ist, dass ihre Taubheit in den stummen Bildern zur Geltung kommt – und diese indirekt auch ihrer Blindheit Rechnung tragen. Die Stilisierung orientiert sich nicht an historischer Genauigkeit, sondern wählt sichtlich stereotype Figuren, die über die Bilder hinweg nicht stabil sind. Während Helen im zweiten Panel der Seite 40 als Kind gezeichnet ist, wirkt sie im Bild darunter wie eine junge Dame aus einem Modemagazin. Der Text hält sich bis in die Wortwahl an Helens literarische Version der Brunnenszene, kürzt aber zur Pointierung stark. Diese Reduktion, die jedem Satz oder Satzteil eine Zeichnung zuordnet, erzeugt zwischen beidem ein nahezu redundantes Verhältnis: Wenn alles einen Namen hat, lässt sich auch alles abbilden. Umso deutlicher tritt das Wunder des Wassers hervor, denn es entzieht sich beidem. Dass Helen von einem zum anderen Moment versteht, ist sprachlich durch acht Punkte gekennzeichnet, die zwar die beiden Panels überbrücken, aber das, was geschieht, offen lassen. »She spelled the word ›water‹ in my hand, and .... .... suddenly I knew what ›water‹ meant«. Die beiden hintergrundlosen Bilder füllen diese Ellipse nicht, sondern zeichnen das Geschehen nach. Erst wird ›w-a-t-e-r‹ buchstabiert, dann erfreut sich Helen am Wasser. Signifikant und Referenz lassen sich aufeinander beziehen und erzeugen so das Wissen um die Bedeutung. Doch was bedeutet das Wasser? Es ist kaum ein Zufall, wenn zwei Seiten weiter Tränen Helens Gesicht be-

Abb. 3: Helen Keller: The Story of My Life. West Haven (Academic Industries) 1984, 40-41.

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netzen. Der Fluss des Wassers wird zitiert. Helen weint, weil sie das erste Mal in ihrem Leben ein schlechtes Gewissen wegen einer ihrer Handlungen hat. Die Sprache ermöglicht, dass sie sich an die Tat erinnern kann, angesichts derer die Sprache abbrach und deren Darstellung an das Bild übergab. Tränen, so analysiert Jacques Derrida den abendländischen Diskurs über das Sehen, »entschleierten [...] das Eigentliche [...] des Auges«, denn »seinem innersten Wesen [...] nach wäre das Auge nicht dazu bestimmt zu schauen, sondern zu weinen«35. Diese Tränen sind das »große Licht«, das Helens Augen erhellt. Erst durch die Sprache können die Tränen sehen. »Die Zeichnung [...] ist blind«36 und muss dem Geschehen gegenüber blind bleiben. Das begründet die stereotype Darstellung, die eben nur in nebensächlichen Details wie dem Kaminrost, an dem Helen die Puppe zerschlägt, ihre Logik, die Logik der Blindheit und des Sehens durch Tränen, des Feuers und des Wassers zu erkennen gibt.

H elen A dams K eller (2005) Dreimal besuchte Helen Keller Japan: 1937, 1948 und 1955. Ein Ergebnis dieser Reisen war die Gründung der Tokyo Helen Keller Association, die Helen Kellers Biographie als gakushū manga, also pädagogischen Comic, mit herausgab. Dabei überschneidet sich das Genre mit den denki manga, den biographischen Comics, und den shōjo manga, den Comics für heranwachsende Mädchen. Deren Genrekonventionen – Konflikte werden innerhalb der Familie ausgetragen, die Heldin ist »physically attractive«37, Figuren sind mit großen Augen gezeichnet und die Seitenaufteilung ist abwechslungsreich – werden zitiert, so dass die Elemente leicht wiederzuerkennen sind. Osamu Tezukas Atom Boy bzw. Tetsuwan Atomu, eine der ersten und populärsten Figuren des Manga, rahmt die Erzählung. Auf dem Schmutztitel begrüßt er die Leser mit einer Frage: »Living in the darkness of a triple handicap, how did Helen open the way to her own destiny?«38 Die erste Antwort ist: durch Religiösität. Auf Seite 63 betet Annie nach dem durch The Miracle Worker berühmt gewordenen Kampf mit Helen um gesittetes Essen: »God... ...please give us light!«39 Im daran anschließenden dritten Kapitel »Water!!« öffnet sich im Mo35 Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden, München 1997, S. 122. 36 Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden, S. 10. 37 Sari: Romancing the Role Model, S. 208 und 211. Vgl. zum shōjo manga auch Jaqueline Berndt: Phänomen Manga, Berlin 1995, S. 95-125. 38 Yanagawa/Yagi: Helen Adams Keller, S. 11. 39 Yanagawa/Yagi: Helen Adams Keller, S. 63.

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ment von Helens Erkenntnis der Kosmos (Abb. 4). Sie steht nicht mehr am Brunnen, sondern in einer unendlichen Sternenwelt. Die zweite Antwort lautet: durchs Unbewusste. Yanagawa und Yagi ergänzen die Religion durch das Proust’sche Motiv der mémoire involontaire. Helen verdoppelt sich in diesem Kosmos und sieht sich durch das Wasser in ihrer Hand wieder als Kind, das sehen konnte. Denn die Situation an der Pumpe hat schon einmal stattgefunden. Ihr Bruder hat erst Gitarre gespielt, um sie dann zu ermahnen, dass ›water‹ nicht ›wah wah‹ heißt.40 Als Annie mit Helen zum Brunnen geht, spielt der kaum gealterte Bruder wieder Gitarre. Wenn damals der Hund vor Durst winselte, ist es nun Helen, deren Durst nach Wasser zugleich zum Wissensdurst wird. Dieses déjà vu leitet sich einerseits von der Anekdote her, dass die kleine Helen schon die Bedeutung des Wortes Wasser gekannt und »wah-wah«41 gesagt habe. Sie findet ihr Echo in Helens Formulierung von etwas Vergessenem, das wiederkehre.42 Was in den verschiedenen Versionen von The Miracle Worker dadurch angedeutet wird, dass Helen in dieser Szene kurz vor Schluss tatsächlich »wah-wah«43 sagt, ist im Edu-Manga expliziert. Andererseits reflektieren sich in dieser Interpretation die formalen Mittel des Comics. Wenn das déjà vu, das zur Sprache führt, auf dem unbewussten Wiedererkennen basiert – Prousts Madeleine wird zum Strom des Wassers aus der Pumpe –, dann bilden Comics strukturelle déjà vus. Das gilt für die serielle Spaltung der Erzählung in Panels, durch die eine Figur wie der Bruder James nach achtzig Seiten und über fünf Jahren nahezu identisch an der Gitarre wiederkehren kann. Allerdings müssen die Leser diese im ersten Moment nebensächliche Zeichnung unwillkürlich erinnern, es muss zum Indiz des déjà vu werden.44 Jede Figur muss aber in diesem Sinne wiedererkannt werden. Dies wird durch das Stereotype der Zeichnung betont, wie es im idiomatischen shōjo manga so unübersehbar ist, dass es sich leicht vergessen lässt. Wie die Zeichnungen – der Hund, der Brunnen, der Bruder – wiederkehren und erinnert werden müssen, so muss Helen wiedererkannt werden: Ist dies jenseits der Sprache möglich? Wo die Pocket Classics dies eindeutig bejahen und mit der Entstehung des schlechten Gewissens verbinden, gibt die Doppelseite im Edu-Manga eine ambivalente Antwort, indem sie Helens 40 Vgl. Yanagawa/Yagi: Helen Adams Keller, S. 11. 41 Herrmann: Helen Keller, S. 6. 42 Keller: The Story of my Life, S. 23. 43 Herrmann: Helen Keller, S. xiii. Vgl. auch den Fernsehfilm The Miracle Worker aus dem Jahr 2000 unter der Regie von Nadia Tass, mit Hallie Kate Eisenberg (Helen) und Allison Elliot (Annie Sullivan), vertrieben von The Wonderful World of Walt Disney. 44 Vgl. Fritz Breithaupt: Das Indiz. Lessings und Goethes Laokoon-Texte und die Narrativität der Bilder, in: Michael Hein u.a. (Hg.): Ästhetik des Comic, Berlin 2002, S. 37-49, hier S. 40.

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Profil wie einen Januskopf, allerdings asymmetrisch spiegelt. Die eine Seite ist noch blind, die andere schon sehend – doch aus kosmischer Perspektive wie aus dem Arrangement der Wiederholung durchschlägt das déjà vu die Chronologie, und alles scheint so gleichzeitig zu sein wie sich die Zeichen auf der Oberfläche der Seiten immer schon präsentieren. Die Wiederholung verbindet sich mit der Sprache, mit der Folge der Signifikanten, in denen sich die Wiederholung der Situation spiegelt. Aber eben dafür muss sie schon einmal, gleichzeitig außerhalb der Sprache stattgefunden haben, im Winseln des Hundes, im ›wah-wah‹, in der Gitarre des Bruders – im Fließen des Wassers.

Abb. 4: Sozo Yanagawa, Rie Yagi: Edu-Manga. Helen Adams Keller. Gardena CA (Digital Manga Publishing) 2005. Übersetzt von Sachiko Sato, S. 90f.

H elen K iller (2007/2008) In der Superheldinnen-Geschichte Helen Killer ist der Konflikt um die Sprachwerdung so verschoben wie die ganze Erzählung.45 Diese variiert Elemente aus Helens Leben wie der amerikanischen Geschichte: ihre Freundschaft mit Alexander Bell, ihr Treffen mit Präsident McKinley, dessen Ermordung durch den Anarchisten Leon Czolgosz und natürlich die Brunnenszene. »Until that day, that day by the 45 Nach Freud ist die Verschiebung neben der Verdichtung kennzeichnend für die Traumarbeit (vgl. Sigmund Freud: Die Traumdeutung (= ders.: Studienausgabe, Bd. II, hg. von Alexander Mitscherlich u.a.), Frankfurt a.M. 2000, besonders S. 305-334).

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water pump... I was Phantom« beginnt das erste Heft und nimmt die schon im EduManga diagnostizierte Doppelnatur auf.46 ›Phantom‹ ist Helens Name für sich selbst, bevor sie die Sprache beherrschte. »›Phantom‹ was dying«47, beschreibt Dorothy Herrmann die Situation nach der Brunnenszene. In Helen Killer lebt Phantom fort: Die Brunnenszene endet damit, dass Helen ihren Vater erschießt. Aus seinen Armen heraus greift sie zu einem am Boden liegenden Revolver. Diese Ödipalisierung von Helens Sprachfindung beruht allerdings auf keiner weitergehenden Theorie, sondern erweist sich schon auf der nächsten Seite als böser Traum, der nur in Helens Doppelnatur perenniert. Es gehört zur Konstitution nahezu aller Superhelden, eine Doppelexistenz zu führen – hier wird sie zum inneren Konflikt, der durch das Mittel ausgelöst wird, welches die Taubblinde erst zur Heldin verwandelt: eine von Bell entwickelte Brille, mit der sie geschärft hören, sehen und die »dunkle Aura« von Bösewichtern wahrnehmen kann.48 Die fehlenden Sinne werden einfach ersetzt, statt wie beim blinden Daredevil von Stan Lee und Bill Everett erst zur Voraussetzung des Superheldentums zu werden. Die in Helen Killer verarbeiteten Elemente aus Helens Leben gerieten zur Staffage, wenn diese Logik der Umkehrung nicht die ganzen Hefte durchziehen würde. So ist ihre Favorisierung sozialistischer Ideen, ihre Sympathie für die Kämpfe des Proletariats hier ganz unironisch in die Arbeit für den amerikanischen Geheimdienst verkehrt. Die Kunstsinnige wird zur Kampfmaschine. Die Jungfräuliche verkleidet sich als Hure. Und während Helen Kellers Liebesleben aus einer kurzen und abrupt beendeten Beziehung bestand, endet sie hier in den Armen des Agenten Blaylock.49 Diese Umkehrungen reflektieren den Stereotyp der unschuldigen, engelsgleichen Helen Keller, indem der Zorn ihrer Kindheit zur Quelle ihrer Superheldinnenkraft wird. Das Paradox – durch geschärftes Sehen und Hören, durch einen gesteigerten moralischen Sinn wird die gewissen- und sprachlose Zeit wieder aufgerufen – geht in der rasanten Handlung unter. Helen droht wieder ganz unter die Herrschaft des mörderischen Phantoms zu geraten, das in seinem Zorn durchaus die Wut des anarchistischen Attentäters spiegelt: »The killer in you is awoken.«50 Helen Keller mutiert tatsächlich für einen Moment zu Helen Killer, bevor Phantom in einer Wiederholung der Brunnenszene gebannt wird (Abb. 5). Helen schlägt um sich, gehalten von ihrem väterlichen Mentor Alexander Bell, bis ihr Annie aus einem Krug Wasser über die Hand schüttet, eine Geste, die Helen an die Brunnenszene erinnert. Sie kommt 46 Kreisberg/Rice: Helen Killer, Nr. 1, nicht paginiert, [S. 1]. 47 Herrmann: Helen Keller, S. 52. 48 Vgl. Kreisberg/Rice: Helen Killer, Nr. 1, S. 19. 49 Vgl. Kreisberg/Rice: Helen Killer, Nr. 4, S. 24; Kreisberg/Rice: Helen Killer, Nr. 3, Cover, S. 16. Vgl. zu Helen Kellers Liebesbeziehung Herrmann: Helen Keller, S. 194-199. 50 Kreisberg/Rice: Helen Killer, Nr. 3, S. 3.

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zur Vernunft und besiegt Phantom ein zweites Mal. Die Methode, Helen Wasser über die Hand zu gießen und ihr die Sprache zu geben, spielt hier auf die Hydrotherapie an, wie sie im 19. Jahrhundert zur Behandlung diagnostizierter Hysterie eingesetzt wurde. Das Wort »Insanity«51 im letzten Panel der Seite bleibt ambivalent. Scheint es als Blocktext Helens Zustand zu kommentieren, so wird nach dem Umblättern deutlich, dass hier das Vorgehen des Geheimdienstes bewertet wird, Helen als Agentin einzusetzen. Wahnsinn und Vernunft, gesellschaftliche Ordnung und anarchistisches Begehren sind unauflöslich verschränkt. Jede Geste hat eine zweite, sie umkehrende Bedeutung. Dass diese Ambivalenz am Ende des vierten Heftes durch ein Wunder wiederaufgelöst und die ödipale Ordnung wiederhergestellt wird, ändert nichts an diesem Befund.

A nnie S ullivan

and the

Abb. 5: Andrew Kreisberg, Matthew JLD Rice: Helen Killer, Nr. 3, 2008, o.O. (Arcana), nicht paginiert, [S. 5].

T rials

of

H elen K eller (2012)

Auch Joseph Lambert geht in seiner Erzählung von The Miracle Worker aus. Die ersten Tage der Spracherziehung werden von Rückblenden auf Annies Leben im Waisenhaus und in der Perkins School unterbrochen. Doch die Geschichte endet nicht bei der Wasserpumpe, sondern mit der Affaire um das angebliche Plagiat. Die elfjährige Keller hatte die Geschichte The Frost King dem Leiter der Perkins School, Michael Agnagnos geschickt, der sie als Wundererzählung in einer Zeitung hatte drucken lassen. Die Geschichte ähnelte bis in einzelne Wendungen Margaret T. Canbys viele Jahre zuvor veröffentlichter Kurzgeschichte The Frost Fairies, woraufhin Helen des Plagiats bezichtigt wurde. Annie Sullivan leugnete, Helen die Geschichte in die Hand gelesen zu haben, und Helen insistierte, dass sie die Auto51 Vgl. Kreisberg/Rice: Helen Killer, Nr. 3, S. 3.

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rin sei.52 Lambert schildert das Verhör Helens durch ein von Agnagnos geleitetes Komitee aus ihrer Innenperspektive, visualisiert durch schwarze Panels, in denen sich Schemen abheben. Sie wird gefragt, woher ihre Ideen kämen, und antwortet »From my own mind.«53 Dann zitiert Lambert die Szene mit der Wasserpumpe, indem er zeigt, wie Helen sich daran erinnert, wie sie das Wort ›water‹ gelernt hat (Abb. 6). Wenn ›Teacher‹ nun nicht wäre, wäre nicht dann auch das Bewusstsein fort? In dieser Reihe von acht Panels beantwortet Lambert die Frage nach dem Ursprung der Sprache: ein Plagiat ohne Ursprung. ›Water‹ steht über Helens Kopf wie die monströse, in der Luft schwebende Pfeife in Rene Magrittes Dies ist keine Pfeife.54 In Helens Kopf ist ›water‹, die Handzeichen für die fünf Buchstaben und ein Vorstellungsbild vom Wasser gezeichnet. Während Agnagnos und alle, die sehen und hören, darauf bestehen, dass sie in gewisser Weise aus sich selbst die Sprache bilden können, kann sich Helen nicht sicher sein. Sie kann anders als jene, denen die Buchstaben vor Augen stehen, die Materialität des Signifikanten nicht verdrängen, weil sie diese mit ihren Händen immerzu ertastet. In Helens weißer Dunkelheit muss sich der Signifikant, ja sogar das Signifikat materialisieren.55

Abb. 6: Joseph Lambert: Annie Sullivan and the Trials of Helen Keller, New York (Hyperion) 2012, S. 82 (Ausschnitt, Panel 5-12). 52 Vgl. zur Plagiats-Affäre Lash: Helen and Teacher, S. 132-150; Herrmann: Helen Keller, S. 79-85; zu Annies Rolle Herrmann: Helen Keller, S. 84. 53 Lambert: Annie Sullivan and the Trials of Helen Keller, S. 81. 54 Vgl. Michel Foucault: Dies ist keine Pfeife, München 1983, S. 7f. 55 Dies gilt grundsätzlich auch für die lautsprachliche Äußerung, bei der sich allerdings diese Materialisierung erfolgreicher verdrängen lässt.

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So zumindest rekonstruiert Lambert Helens Sprachaneignung. Indem sie die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Wassers, die sie alle erspüren muss, auf den einen Signifikanten ›water‹ bezieht, verbinden sich Vorstellungsbild und Buchstabenfolge und erzeugen so die entscheidende Differenz zur materiellen Welt. Diese Differenz ist aber nur möglich, wenn sie sich wiederholt materialisiert – als Plagiat.56 So sehr diese Materialisierung wiederholt verdrängt und geleugnet wurde, der Fall Agnagnos ließe sich in diesem Sinne verallgemeinern, um den ursprünglichen Geist, »my own mind« als Quelle des Schreibens zu inaugurieren. Dieser bliebe aber ohne die Materialisierung und das heißt ohne die radikale Trennung vom Ursprung nichts als eine Scheme; es wären also alle Menschen blind und taub, auch wenn sie zu sehen und zu hören meinen. An diese konstitutive Blindheit und Taubheit wird an der Pumpe erinnert, Brunnen und Wasserquelle ersetzend, indem die Sprache auf ihre Materialisierung in der Situation verwiesen wird. Helen Kellers eigene Beschreibung übersetzt dies in die Metaphysik des Geistes, obwohl sie durch die Plagiatsgeschichte verunsichert wird. Der Film The Miracle Worker von 1962 ödipalisiert die Sprachfindung Helens nahezu unmittelbar, indem nach der Erfahrung der ersten Worte – ›ground‹, ›pump‹, ›tree‹ und ›bell‹ – Helen sich in die Arme von Vater und Mutter wirft. Noch einmal bäumt sie sich auf, kehrt zum weinenden ›Teacher‹ zurück, aber nur um endgültig vom Vater in das Haus getragen zu werden. In Lamberts Plagiat bleibt Helen auf die ursprungslose Welt bezogen, zu der auch ›Teacher‹ gehört.57 Auch wenn Annie zu Beginn dieser Episode schreibt, dass sie völlige Kontrolle über Helen gewinnen will, zeigt Lambert, dass diese Kontrolle sich niemals vollständig herstellen lässt. Die Materialität der Zeichen befreit diese von ihrem Ursprung, der Autorin oder Sprecherin, öffnet sie für die Wiederholung und macht sie unkontrollierbar. Deshalb erzählt Lambert die Brunnenszene auch am ausführlichsten von al56 Alfred Schmidt bemerkt in diesem Sinne: »Wenn es zutrifft, daß H.K.’s Bildung im letzten Grunde auf der Sprache beruht, so kann gerade aus dieser Tatache ein schwerwiegendes Bedenken abgeleitet werden: Vielleicht handelt es sich nur um eine Scheinbildung, indem das, was sie sagt, nicht eigene Gedanken sind, sondern auswendig gelernte Phrasen. Wer einen solchen Einwand erhebt – und er ist tatsächlich erhoben worden –, der muß sich zunächst darüber klar werden, daß auch der vollsinnige Mensch gegen einen solchen Verdacht nicht gesichert ist.« (Schmidt: Helen Keller und die Sprache, S. 52) 57 Selbstverständlich handelt es sich bei Lamberts Comic um kein Plagiat in einem traditionellen Sinne, aber so wie er den Plagiatsvorwurf Helen Keller gegenüber darstellt, lädt er dazu ein, gleiches Maß an seinen Comic anzulegen, um die Frage zu verfolgen, wann ein Werk, das sich auf andere bezieht, kein Plagiat mehr ist.

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len hier diskutierten Comicversionen. Im Wechsel zwischen der Darstellung von Helens Wahrnehmung und Annies Handlung bleibt nicht nur die Deutung offen,58 sondern es wird ebenfalls Helens Aktivität im Versuch, die Welt zu benennen, hervorgehoben. Nachdem Annie schon zweimal ›w-a-t-e-r‹ buchstabiert hat und sich vom Brunnen abwendet, hält Helen sie auf, um den Bezug zwischen den verschiedenen Formen der Flüssigkeit, die sie mit den Händen erfasst, und der Handzeichenfolge zu wiederholen. In Lamberts Version haben nicht alle Dinge einen Namen, wie Annie meint, denn das Wasser aus der Pumpe, im Krug und das auf der Hand zerspritzende hat schließlich nicht drei verschiedene Namen, sondern nur einen, der in der Wiederholung, in der jeweiligen Situation angewandt wird. Im Wort ›water‹ wird das köstliche Nass, das Getränk und der Fluss zum Selben. Es fließt nicht mehr in seinen Bedeutungen, sondern wird im ›mug‹ aufgefangen, der in anderen Versionen allerdings sogleich zu Boden fällt und zerbricht. Was Helen hier lernt, so Lambert, ist nicht der Name des Wassers, sondern den Gebrauch des Namens. Wer die Worte gebrauchen kann, spricht, wie die einzelnen Buchstaben in den Sprechblasen bedeuten. In der Abwesenheit des Vaters und des Geistes lernt Helen so zu sprechen.

G lasaugen »When I try to classify my earliest impressions, I find that fact and fancy look alike across the years that link the past with the present. The woman paints the child’s experiences in her own fantasy.«59 So relativiert Helen Keller ihre Erzählung in der Geschichte ihres Lebens. Es lässt sich nicht klassifizieren, was sich nicht benennen lässt. Sprachlos bleiben Fakt und Fantasie untrennbar. Aber auch die Sprache kann nicht alles klassifizieren.60 Jenseits dessen wird gemalt. Die Comics nehmen diese ästhetische Voraussetzung von Helen Kellers Schreiben strukturell auf. Ihre Zeichnungen malen aus, was sie nicht sehen konnte, und was die Zeichner nicht gesehen haben. »Ob improvisiert oder nicht, die Erfindung des Strichs ... richtet sich nicht nach dem, was gegenwärtig sichtbar ist [...]. Er [der

58 Vgl. Lambert: Annie Sullivan and the Trials of Helen Keller, S. 31; besonders in den Übergängen zwischen Panel 12-14 bleibt unklar, was eigentlich passiert. Lambert nutzt die Fugen zwischen den Panels, um das Geschehen offen zu halten und die Darstellung als nur eine mögliche zu kennzeichnen. 59 Keller: The Story of my Life, S. 3; vgl. auch Schmidt: Helen Keller und die Sprache, S. 15. 60 Vgl. Jacques Derrida: Glas, München 2006, S. 98-110.

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Strich] entzieht sich dem Feld des Sehens.«61 In Yuko Moris Helen Keller könnte es so erscheinen, dass diese Voraussetzung durch eingefügte Fotos außer Kraft gesetzt werden soll, doch schon die pinken Flecken auf der gegenüberliegenden Seite verdeutlichen, was sichtbar gemacht werden muss, weil es sonst im Dunklen bliebe.62 Wie sich hier zeigt, reflektiert sich die Blindheit der Zeichnung sehr unterschiedlich in den jeweiligen Comics. In allen Fällen aber ist es die Materialität von Strich und Schrift, ihre singuläre, massenhaft reproduzierte Konstellation auf den Seiten, in der befragbar wird, was der Brunnen der Sprache sein soll. Und wenn die Wiederholung der Figur von Panel zu Panel schon Schriftcharakter gewinnt, wird unentscheidbar, wann die Sprache, wann das Sprechen beginnt. Sehr schön ist dies in Helen Keller. Courageous Advocate in einem Panel pointiert (Abb. 7).63 Helen denkt schon in ganzen Sätzen, als sie die Handzeichen versteht. Ihre Gedankenblase steht darüber hinaus im Dialog mit Annie. »It was a miracle.«64 Was aufgrund der schematischen Zeichnung als unbeholfen wirken mag, gibt dennoch ein entferntes Echo dessen, was die Comics in ihrer Ästhetik immer schon bereitstellen. Diese Ästhetik lässt sich nicht mit Kriterien der besseren oder schlechteren Zeichnung argumentieren, oder noch hilfloser mit der Differenz zwischen künstlerisch wertvollen und massenkulturell wertlosen Produkten, wie es in den letzten zehn Jahren gehäuft versucht wurde. In der Lektüre verschiedener Comics wird das Gewaltverhältnis des Sprechens und Sehens lesbar, eine Lesbarkeit, die sie bei allen Unterschieden verbindet. Comics führen die situative Entstehung der Sprache in ihrer performativen Materialisierung vor, die Abb. 7: Scott R. Welvaert (Text), Cynthia Blindheit der Zeichnung, deren Figu- Martin, Keith Tucker (Bild): Helen Keller. 61 Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden, S. 49. 62 Vgl. Mori Yūko (Bild), Mukami Shūhei (Szenario): Biographien der Welt. Helen Keller, Tokyo 2008, S. 68-69. Ich danke Jaqueline Berndt für die Entzifferung. 63 Vgl. Scott R. Welvaert (Text), Cynthia Martin/Keith Tucker (Bild): Helen Keller. Courageous Advocate, Mankato Minnesota 2006, S. 13. 64 Welvaert u.a.: Helen Keller, S. 13.

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ren »gewissermaßen leere« Augen in Gesichtern »wie Masken« haben, auf die die Leser »projizieren« können.65 Diese Projektionen sind keineswegs stabil und werden medial immer wieder unterbrochen – durch das Auseinandergehen von Bild und Schrift, die Spaltung der Figur durch den Panelrand, die nebensächlichen Details, die unerwartet wiederkehren und sich zu Indizien verdichten. Sie führen allerdings weder zur wahren Helen Keller noch zur getreuen Story of my Life, sondern machen in Bild und Schrift Fakt und Fiktion unentscheidbar, nicht zuletzt, weil sie ohne unbedingt voneinander zu wissen aufeinander verweisen – Plagiate, denen auch durch die Umkehrung der Projektionen nicht entkommen werden kann. Immer wird das Stereotyp der Unschuld und des Wunders wiedererscheinen, aber plagiiert in den Comics ist die Unschuld nie ganz unschuldig und das Wunder wenig verwunderlich, sondern notwendiger Effekt der Erzählung. Gleiches gilt für den Blick auf das Gesicht Helens, die Maske der Figur, ihre Augen. Hier prallt die Projektion ab. Egal in welcher Zeichnung, immer sind ihre Augen leer. Es ist überliefert, dass viele Menschen Helen Kellers blaue Glasaugen nicht als solche erkannt haben66, und so bleibt unentscheidbar, ob es Augen oder Glasaugen sind67, die wir sehen, denn die Operation wird in keinem der Comics erwähnt. Blind allemal führen sie stattdessen zu einem Bild, an den bodenlosen, nämlich oberflächlichen, wenn auch etwas durchlöcherten Brunnen der Sprache, aus dem stets neues Wasser geschöpft werden kann.

65 Vgl. Art Spiegelman: Little Orphan Annie’s Eyeballs, in: ders.: Comix. Essays, Graphics & Scraps. From Maus to Now to MAUS to Now, New York 1999, S. 17f. 66 Herrmann: Helen Keller, S. 4 und 180f. 67 Vgl. zu dieser Unentscheidbarkeit auch Ole Frahm: Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmans MAUS – A Survivor’s Tale, Paderborn 2006, S. 125-127 – die Figur Vladek trägt in Spiegelmans Comic ein Glasauge, das von dem sehenden Auge durch Nichts zu unterscheiden ist.

M etacomics

›Doing literature while talking about it.‹ Literatur/Comics lesen lernen mit The Unwritten P eter S cheinpflug

Die Comicserie The Unwritten wartet mit einem ausgesprochen fantastisch anmutenden Sujet auf: Der Protagonist der Serie, Tom Taylor, ist der Sohn von Wilson Taylor, einem berühmten Autor, um den sich nicht erst seit seinem ungeklärten Verschwinden und mutmaßlichen Tod viele Geheimnisse ranken. Tom Taylor gilt als Vorbild für Tommy Taylor, die Hauptfigur in den Fantasy-Romanen des Vaters, in denen ein junger Zauberer mit seinen Freunden gegen einen bösen Vampir mit dem Namen Graf Ambrosio kämpft und die weltweit eine schier ungeheure Fangemeinde verzeichnen.1 Bei einer Pressekonferenz auf einer Convention wird Tom Taylor jedoch damit konfrontiert, dass er eventuell nicht der leibliche Sohn von Wilson Taylor ist, sondern adoptiert wurde. Im Zuge seiner Recherchen über seine Herkunft stellt sich zunehmend die viel brisantere Frage, ob er vielleicht nicht das Vorbild für die Romanfigur ist, sondern selbst die Fleisch gewordene literarische Figur, denn bald darauf entdeckt er, dass er über dieselben Zauberkräfte verfügt, die in den Romanen seines Vaters beschrieben werden. Zudem enthüllen seine Nachforschungen über seine eigene Vergangenheit, die zugleich eine Spurensuche in der Biographie und im Werk2 seines Vaters sind, dass dieser ihn als 1 Die Serie spielt vor allem mit der Figur des Magier-Jungens mit runder Brille deutlich auf die Harry-Potter-Romane an. Darüber hinaus rekurriert die Comicserie aber auch sehr forciert auf bekannte Praktiken der Fan-Kultur. So treten beispielsweise Fans auf, die sich verkleiden und die vor Buchläden kampieren, um als erste den neusten Band der Serie in Händen halten zu können. Mike Carey hat sich wiederholt zu dieser expliziten Bezugnahme auf Harry Potter geäußert. Vgl. beispielsweise: http://io9. com/5784972/what-if-harry-potter-was-an-adult-burnout-mike-carey-reveals-the-warped-literary-universe-of-the-unwritten (letzter Zugriff am 24. April 2014). 2 Für die Unterscheidung von ›Text‹ und ›Werk‹, wie sie hier und im Folgenden getroffen

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literarisches Archiv programmiert hat: Während eines künstlichen Schlafs in einem Wasserbehälter wurde Tom mit Klassikern der Weltliteratur beschallt, die sich unbewusst in sein Gedächtnis eingeschrieben haben. Mit einer Karte und einem Türknauf, die sein Vater ihm hinterlassen hat, kann er in Fiktionen eintauchen, um ihre Narrative und ihre historische Rezeption zu erleben. »[D]oing literature while talking about it.«3 Mit diesen Worten war Paul Cornell4 in seinem Vorwort zum zweiten Sammelband von The Unwritten darum bemüht, die Agenda der Comicserie auf den Punkt zu bringen. Und wie sich aus dem obigen Abriss der Grundidee bereits deutlich ablesen lässt, erzählt die Serie tatsächlich nicht von Helden wie Batman, Superman oder Green Lantern, für die US-amerikanische Comics so berühmt sind. The Unwritten erscheint in den USA seit Juli 2009 zumeist monatlich beim Imprint Vertigo, das zum Verlag DC gehört, und dessen Titel, wie auch The Unwritten, vorrangig mature readers adressiert, wie die im englischsprachigen Raum gebräuchliche Bezeichnung lautet. Wie die meisten Comicserien setzt sich auch The Unwritten aus einzelnen abgeschlossenen Abenteuern bzw. Binnenplots von etwa zwei bis sechs Heften Länge zusammen, die sich in eine übergeordnete, kontinuierliche Erzählung fügen. Diese einzelnen Geschichten nutzen Mike Carey, der Autor der Serie, und Peter Gross, der Co-Autor und Zeichner der Serie, um eine Vielzahl von Geschichten über Geschichten, über das Geschichtenerzählen und über die Rezeptionsgeschichte von Geschichten zu erzählen.5 Die Serie stellt jedoch keine Nacherzählung oder Adaption ihrer Referenztexte im engeren Sinne dar, sondern schildert zumeist, wie der Protagonist oder in wenigen Fällen auch eine andere Figur der Comicserie den Referenztext erlebt und versteht. Modellhaft werden so Lektüre- und Aneignungsprozesse von Literatur durchgespielt. Indem The Unwritten die Klassiker der Weltliteratur aus der wird, vgl.: Roland Barthes: Vom Werk zum Text, in: ders.: Das Rauschen der Sprache (= Kritische Essays Bd. IV), Frankfurt a.M. 2006, S. 64-72. 3 Paul Cornell: Introduction, in: Mike Carey/Peter Gross: The Unwritten: Inside Man, New York 2011 (nicht paginiert). 4 Paul Cornell ist wohl am bekanntesten für seine Romane, Hörspiel-Skripte und Drehbücher zur britischen Kult-Fernsehserie Doctor Who. Er hat in den vergangenen Jahren aber auch diverse Comics für die Verlage Marvel und DC verfasst. 5 Die Serie The Unwritten deckt damit alle Varianten des Literaturcomics ab, die Monika Schmitz-Emans aufführt: erstens die Comicadaption einer literarischen Vorlage, zweitens Hybridisierung und Pastiche und drittens die Thematisierung von Autoren sowie der biographischen, kultur- und literaturhistorischen Kontextualisierung von ›Werken‹, ihrer Entstehung und Rezeption (vgl. Monika Schmitz-Emans: Literatur-Comics, Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur, Berlin/Boston 2012, S. 12).

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Perspektive ihrer Figuren erzählt und ihr intertextuelles Material dadurch in die Logik ihrer eigenen Rahmenerzählung und ihres Serien-Mythos einfügt, werden dem Leser6 vielfältige Bezüge, Kontextualisierungen und Kommentare offeriert, die an literatur- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Debatten anschlussfähig sind. Beispielsweise führt die Comicserie eine Kanondebatte, wenn sie Klassiker der Weltliteratur wie Moby Dick; or, the Whale oder Frankenstein; or. The Modern Prometheus neben rezente Bestseller wie Harry Potter-Romane stellt und die Frage aufwirft, welche Texte einen größeren Einfluss auf die gegenwärtige Kultur und Gesellschaft haben. Die Comicserie behandelt in dieser Weise eine Vielzahl an Themenbereichen.7 Im Zentrum ihrer intertextuellen und intermedialen Verhandlungen steht die Schrift und die Literatur, die flankiert wird durch weitere Medien wie beispielsweise Film, Fernsehen oder das Internet, die die Comicserie mal repräsentiert, mal intermedial adaptiert. Wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, lassen sich einige der Abenteuer von Tom Taylor8 und seinen Mitstreitern darüber hinaus auch als Entwürfe zu Modellen der Intertextualität und des Lektüreprozesses lesen. Den Auftakt dieser Lesart bildet ein Abenteuer von Tom Taylor in dem Literaturklassiker Moby Dick, das sich als modellhaftes Lesen eines geschlossenen Textes verstehen lässt, dessen Lektüre vorstrukturiert ist. Daran schließen Ausführungen über das ›extratextuelle und intertextuelle Leben‹ von Frankensteins Kreatur und über seine Funktion in 6 Wenn hier und im Folgenden vom Leser, Rezipienten etc. gehandelt wird, so werden darunter die Positionsstellen der Rezeption gefasst, ohne dass dadurch eine Zuschreibung von Vorstellungen über biologische Geschlechter und/oder von Gender-Konzepten an die realen Personen vorgenommen wird, die diese Rezeptionspositionen einnehmen können. Diese Sprachregelung schließt nicht aus, dass Dispositive der Rezeption, kulturelle Praktiken der Mediennutzung, Mediendiskurse und/oder Texte durch kulturelle Codes spezifische Gender-Zuschreibungen für diese Positionen befördern können. Sofern es für die jeweilige Argumentation von Relevanz ist, wird eine entsprechende Differenzierung im Einzelfall kenntlich gemacht. 7 Eine erste Bestandsaufnahme der narratologischen Experimente der Comicserie hat Christina Meyer vorgelegt. Sie geht dabei insbesondere auf Genre-Verhandlungen, Metalepsis und die Überblendung verschiedener Realitätsebenen ein (vgl. Christina Meyer: Un/Taming the Beast, or Graphic Novels (Re)Considered, in: Daniel Stein/JanNoël Thon (Hg.): From Comic Strips to Graphic Novels. Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative, Berlin/Boston 2013, S. 271-299). 8 Bei Tom Taylor handelt es sich um einen sprechenden Namen, wird darin doch sowohl der Bezug auf Thomas Hobbes, der später näher ausgeführt wird, als auch auf den tailor, den Schneider, die Komplexe des Gewebes und des Text-Gewebes, der Naht und der Intertextualität angesprochen.

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der Comicserie als ›zirkulare Erinnerung‹ an.9 Dieser Fokus auf Praktiken des intertextuellen Lesens leitet über zum Modell des ›Meeres der Intertextualität‹, das die Comicserie entwirft. Was die Serie predigt und was sie praktiziert – um Paul de Mans berühmte Wendung aufzugreifen10 –, fällt jedoch oft weit auseinander. Und so stehen zum Abschluss die frappierenden Friktionen in der Comicserie zur Diskussion, die den Blick des Lesers auf die Medialität des Comics und auf seine eigenen Lese- und Lektürepraktiken11 lenken können.

A neignungsprozesse

im geschlossenen

T ext

Die Suche nach der Quelle seiner Magie führt Tom Taylor nach Pittsfield, wo er das Anwesen Arrowhead besucht, in dem Herman Melville u.a. Moby Dick verfasste. Danach verschlägt es den Protagonisten der Comicserie auf das Festival ›Mobyfest‹, dessen Besucher gemeinsam laut Moby Dick lesen. Pate für das fiktive ›Mobyfest‹ stand vermutlich ein reales Melville-Festival in Pittsfield, bei dem ebenfalls öffentliche Lesungen von Moby Dick stattfinden. Die Comicserie verfolgt damit stringent die Vorstellung, dass die Lebenswelt der Leser und die intertextuelle Welt der Fiktionen an speziellen Punkten verbunden sind. Diese Orte, an denen sich ›Realität‹ und ›Fiktion‹ gegenseitig durchdringen, werden durch kulturelle Praktiken und Institutionen wie Gedenkstätten, Originalschauplätze, Entstehungsorte, Festivals u.ä. konstituiert. Als Tom beim ›Mobyfest‹ in Moby Dick zu lesen beginnt, wird die Realität gefaltet und er findet sich im Roman wieder: Der Protagonist steht plötzlich vor der Pequod und erlebt eine Passage des Romans als Matrose an Bord von Kapitän Ahabs Schiff. Die Erlebnisse des Protagonisten in Moby Dick lassen sich als ein Experiment im Lesen und im Deuten von Texten auffassen. Was die Comicserie erzählt, ist ein modellhafter Lektüreprozess: Zunächst findet sich Tom auf der Pequod ein. Dieser Prozess, durch den er die Vorgänge auf dem Schiff lernt, ist vergleichbar 9 Es würde zweifelsohne auch lohnen, den diversen Lesarten und Perspektivierungen von Literaturklassikern nachzuspüren, die dem Leser von der Comicserie angeboten werden. Diese können bei den folgenden Ausführungen zu den Modellen der Lektüre und der Intertextualität, die in der Serie explizit oder implizit entworfen werden, leider nicht berücksichtigt werden. 10 Vgl. Paul de Man: Allegories of Reading, New Haven 1979, S. 119-135, 278-301. 11 Im Folgenden wird zwischen einerseits Lesepraktiken – wie etwa Querlesen oder Stellenlektüre – und andererseits Lektürepraktiken im Sinne von Codes und Verfahren zur Sinnstiftung – wie etwa biographische oder strukturalistische Lesarten – unterschieden.

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mit den ersten Hypothesen, die ein Leser bei der Lektüre eines neuen Textes über dessen Mechanismen und Codes sowie die dadurch für ihn vorstrukturierte(n) Position(en) als Leser erhebt. Zudem testet der Protagonist die Grenzen des Romans aus, indem er dessen Figuren aktiv befragt. Diese verstummen im Comic jedoch immer dann, wenn die Informationen erschöpft sind, die im Roman über sie gegeben sind: »If he pressed them for details of their lives not given in the book, they gave him nothing but a thousand-yard stare. It was as if such matters could not be thought about. As if even to try was to run up hard against an invisible wall.«12 Dieses Experiment ist insofern interessant, als es sowohl die Begrenzungen des Textes als auch die Aktivität des Lesers, sein Befragen des Textes in Szene setzt. Die Lektüre, wie die Comicserie sie beispielhaft durch Toms Rezeption von Moby Dick vorführt, ist durch den Text vorstrukturiert, weshalb dieser als ›geschlossen‹ bezeichnet werden kann. Es werden aber auch dessen Leerstellen betont, die die Aktivität des Lesers erfordern.13 Zugleich lassen sich der Comicserie diverse Signale dafür entnehmen, dass es sich bei den Darstellungen von Moby Dick nicht um eine Nacherzählung, sondern konkret um Toms individuelle Aneignung des Romans handelt. Der Begriff der Aneignung, wie er hier und im Folgenden gebraucht wird, rekurriert auf John Fiskes Verständnis von appropriation. Als Abkehr von der Vorstellung eines passiven Publikums, das lediglich den vorgegebenen Sinn eines Textes zu dekodieren hat, hebt Fiske darauf ab, dass Mediennutzer sich Texte erschließen, indem sie mit diesen einen für sie sinnvollen Sinnkomplex aushandeln und die Texte damit für sich individuell oder gruppenspezifisch produktiv machen. Bei diesem Ansatz werden einerseits die Aktivität der Leser und andererseits die Pluralität der Praktiken und Codes betont, mit denen Leser sich einen Text ganz verschiedentlich aneignen können.14 12 Mike Carey/Peter Gross: The Unwritten, New York 2009ff., hier H. 21, S. 15; im Folgenden wird die Serie zitiert mit der Sigle U und Heftnummer und Seitenzahl. Da die Hefte nicht paginiert sind, wurden diejenigen Seiten gezählt, auf denen der Comic erzählt wird. Seiten mit Werbung wurden nicht gezählt. 13 Zum Modell des ›geschlossenen Texts‹, der die Lektüre vorstrukturiert, aber zugleich offen ist für eine Deutung der Leerstellen (Iser), eine intertextuelle Lesart (Kristeva) oder ›abweichende‹ Lesarten (Eco), vgl. vor allem: Wolfgang Iser: Der Lesevorgang, in: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1994, S. 253276; Julia Kristeva: Der geschlossene Text, in: Peter V. Zima (Hg.): Textsemiotik als Ideologiekritik, Frankfurt a.M. 1977, S. 194-229, hier S. 194-196; Umberto Eco: Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen, hg. von Michael Franz und Stefan Richter, 3. Aufl. Leipzig 1995, S. 197-201. 14 Vgl. John Fiske: Reading the Popular. Second Edition. With a new introductory essay

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Für eine Lesart des Moby-Dick-Abenteuers als individuellen Aneignungsprozess des Protagonisten sprechen verschiedene Faktoren, die sowohl Lese- als auch Lektürepraktiken betreffen: Zum einen wird das eigenständige, aktive Lesen dadurch betont, dass der Protagonist erst in den Roman hineinversetzt wird, als er diesen selbst liest. Zuvor bereits hatte er sowohl seiner Begleiterin und Geliebten Lizzie Hexam15 als auch den Besuchern des ›Mobyfest‹ beim Vorlesen zugehört, ohne dass er dadurch in den Roman eingetaucht wäre. Ein weiteres starkes Signal besteht darin, dass der Protagonist an der Stelle von Kapitän Ahab seinen eigenen Vater sieht, während die Figur in ihrem Auftreten und ihren Aussagen sonst der Figur des Kapitän Ahab entspricht.16 Der Protagonist selbst befindet sich auch nicht, wie angenommen werden könnte, in der Position des Ich-Erzählers, Ishmael, sondern wird stattdessen von den anderen Figuren als Bulkington angesprochen. Diese Figur wurde von der Forschung wiederholt als Gegenpol zu Kapitän Ahab gelesen.17 Tom Taylors Interesse am Roman gilt nicht vorrangig diesem selbst, sondern sein spannungsreiches Verhältnis zu seinem Vater wird verhandelt. So will Tom Taylor schließlich auch nicht den Roman verstehen, sondern eigentlich nur ergründen, warum er an der Stelle von Kapitän Ahab seinen Vater sieht und wie der Roman ihm helfen kann, mehr über sich selbst, sein Leben und seinen Vater zu erfahren.18 Was die Comicserie damit in Szene setzt, ist mithin die Vorstellung, dass Texte im Sinne von Fiske angeeignet werden und dadurch nicht nur eine Reflexion über deren Sinnpotenziale, sondern vor allem auch Prozesse der Reflexion des Lesers über sich selbst anstoßen können. on Why Fiske Still Matters, by Henry Jenkins, and with a new discussion on the topic of Reading Fiske and Understanding the Popular, between Kevin Glynn, Jonathan Gray and Pamela Wilson, London/New York 2011. 15 Es handelt sich dabei um eine explizite Referenz auf die gleichnamige Figur aus Charles Dickens’ Our mutual friend. 16 Für einen Überblick über Comicadaptionen von Moby Dick unter besonderer Berücksichtigung der verschiedenen Darstellungen und Lesarten der Figur des Kapitän Ahab auf der Folie von Superhelden-Darstellungen vgl.: Schmitz-Emans: LiteraturComics, S. 342-360. 17 Vgl. hierzu insbesondere den folgenden Aufsatz, der die Figur Bulkington hinsichtlich der allegorischen Verhandlung von Deutung und Wahrheit im Roman diskutiert: Michael Hollister: Melville’s Gam with Poe in Moby-Dick: Bulkington and Pym, in: Studies in the Novel 21/3 (1989), S. 279-291, insbesondere: S. 280-283. 18 Dass ausgerechnet Moby Dick dazu dient, um die Begrenzungen und den vorstrukturierten Lektüreprozess vorzuführen, muss denjenigen Leser, der den Roman kennt, verwundern, da dieser sich doch gerade durch sein Spiel mit intertextuellen Verweisen und mit verschiedenen Textsorten auszeichnet. Dies blendet die Comicserie jedoch zunächst aus. Erst später wird das intertextuelle Prinzip des Romans adaptiert.

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Tom Taylor verliert jedoch schließlich die Geduld mit dem Roman und will an dessen Ende springen. In diesem Moment stoppt abrupt die Erzählung von Moby Dick, mithin – nach der hier propagierten Lesart – eigentlich sein Lesefluss.19 Die Comicserie setzt dies dadurch um, dass die Szenerie, die stürmische See, die Pequod und alle Figuren, inklusive der Nebenakteure wie etwa Möwen, erstarren. Der Protagonist kann sich als einziger frei bewegen. Seine Bemühungen, mithilfe seines magischen Türknaufs aus Moby Dick zu fliehen, indem er ihn in die Planken der Pequod bohrt, erweisen sich aber als erfolglos. In dieser Not ruft er Frankensteins Kreatur herbei.

D as › extra - und intertextuelle L eben ‹ von F rankensteins K reatur Wenn Tom Taylor nicht weiterweiß, dann erscheint Frankensteins Kreatur und bietet ihm wiederholt Hilfestellungen beim Verständnis seiner Abenteuer und bei der Deutung der Literaturklassiker. Dazu ist die Kreatur besonders qualifiziert, hat sie in Mary Shelleys Roman doch nicht nur selbst das Lesen mühsam gelernt, sondern sich auch durch Literatur maßgeblich erst ihr Selbst- und Weltverständnis angeeignet. Jedoch wird in The Unwritten diese Erklärung der hermeneutischen Fähigkeiten der Kreatur durchkreuzt, die durch die literarische Vorlage nahegelegt wird. Bereits früh in der Serie wirft Tom Taylor ihr vor: »You’re a character in a book. A really old book that nobody reads.« (U7, 2) Dieser Kommentar lässt sich als Anspielung darauf lesen, dass Frankensteins Kreatur kaum mehr primär auf den Roman von Mary Shelley bezogen wird, sondern frei flottiert aufgrund einer Vielzahl von Iterationen und Adaptionen. Auch die dadurch maßgeblich beförderte historische Verschiebung, dass der Name ›Frankenstein‹ inzwischen zumeist nicht mehr auf den Schöpfer, sondern auf dessen Kreatur bezogen wird, wird in der Comicserie explizit vorgebracht. Lizzie Hexam spricht Frankensteins Kreatur darauf an: »So, Frankenstein was the scientist, obviously, not you.« Darauf antwortet die Kreatur: »No. That is a … common error.« Lizzie hakt daher nach: »So what do I call you?« Und etwas resigniert antwortet der Gefragte: »›The creature‹… is usually sufficient.« (U30, 15) Durch die Anführungszeichen innerhalb der Figurenrede wird die Bezeichnung »creature« explizit als Zitat und, wie sich vermuten lässt, als Fremdzuschreibung markiert, die der Sprecher seinerseits zitiert. 19 Demjenigen Leser, der die literarische Vorlage kennt, eröffnet sich als alternative Deutung, dass Bulkington, in dessen Position sich Tom gefunden hatte, am Ende des Romans nicht mehr präsent ist und Tom es daher auch nicht aus dessen Perspektive erleben kann.

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Einen vergleichbaren Prozess der Ausbildung eines speziellen intertextuellen Figurentyps hat Umberto Eco wie folgt beschrieben: »Wenn fiktive Personen von einem Text zum anderen wandeln können, heißt das, daß sie Bürgerrecht in der realen Welt erworben haben und sich von der Fiktion, in der sie entstanden sind, emanzipiert haben.«20 Eco beschreibt Figuren, die in so vielen Texten wiederholt aufgegriffen wurden, dass sie einerseits von ihren Ursprungstexten losgelöst sind und sie andererseits eine eigene Geschichte als Figur angesammelt haben.21 Sie führen ein »extra- und intertextuelles Leben«22 im Wortschatz und im kollektiven Gedächtnis. In der Comicserie führt Frankensteins Kreatur nicht nur metaphorisch, sondern ganz wörtlich ein ›extratextuelles‹ Leben, da sie sich eben nicht nur innerhalb der Literaturklassiker, sondern auch in der diegetischen ›Realität‹ frei bewegen kann.

F rankensteins K reatur

als

› zirkulare E rinnerung ‹

Die Comicserie bietet noch eine zweite Erklärung für die privilegierte Stellung von Frankensteins Kreatur in The Unwritten: Aus einem Dialog mit Tom Taylor erfährt der Leser, dass sie die erste fiktionale Figur war, die dem Protagonisten nicht von seinem Vater einprogrammiert worden ist, sondern die er sich aktiv aneignete, indem er sich mit ihr identifizierte und ihr seinen eigenen Sinn zuschrieb. Dieser Dialog leitet über zu einer Rückblende, in der der Protagonist als Kind gezeigt wird, das den Film Frankenstein von 1931 im Fernsehen schaut (vgl. Abb. 4). Als Tom nachts in seinem Bett liegt, psychologisiert er die Kreatur, die seiner Meinung nach zum Monster wurde, weil sie als solches behandelt und von ihrem 20 Umberto Eco: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur, 3. Aufl. München 2004, S. 167. 21 Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Shane Denson und Ruth Mayer über die transmediale Wanderung von Figuren. Die Autoren argumentieren unter anderem auch dafür, dass gerade transmedial zirkulierende Figuren sich im Vergleich ihrer medienspezifischen Aktualisierungen für intermediale Perspektiven anbieten (vgl. Shane Denson und Ruth Mayer: Grenzgänger. Serielle Figuren im Medienwechsel, in: Frank Kelleter (Hg.): Populäre Serialität. Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert, Bielefeld 2012, S. 185-203). 22 Eco: Wald der Fiktionen, S. 168. Wenn man von einem weiten Verständnis von Intertextualität ausgeht, wie es etwa Roland Barthes und Julia Kristeva propagieren, dann handelt es sich bei dem von Eco attestierten ›extra- und intertextuellen Leben‹ eigentlich nur um ein intertextuelles Leben in »dem allgemeinen Text (der Kultur)« (Kristeva: Der geschlossene Text, S. 194).

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Schöpfer, ihrer Vaterfigur vernachlässigt worden ist. Die Kreatur, die sich in der Lesart des jungen Tom nach der Zuwendung ihrer Vaterfigur sehnt, wird zur Projektionsfläche für seine eigene Sehnsucht nach der Liebe seines eigenen Vaters.23 Und in dieser Situation erblickt er des Nachts im Garten erstmals Frankensteins Kreatur, der er durch seine Identifikation mit ihr gleichsam Leben eingehaucht und ›Bürgerrecht‹ in seiner Welt gewährt hat. Eine ähnliche Konfiguration wie diejenige in der Comicserie, die die besondere Bedeutung von Frankensteins Kreatur in Toms Biographie aufs Engste mit seiner Funktion als Berater in hermeneutischen Fragen verknüpft, hat Roland Barthes in seinen Ausführungen über solche Texte beschrieben, die einem Leser individuell wichtig sind und immer wieder für intertextuelle Praktiken herangezogen werden. Barthes nennt diese individuell angeeigneten Texte mit privilegierter Intertextfunktion »eine zirkulare Erinnerung«24 und erläutert dieses spezifische Phänomen der Intertextualität wie folgt: Proust, das kommt mir einfach, das ziehe ich nicht heran; das ist keine »Autorität«; nur eine zirkulare Erinnerung. Und eben das ist der Inter-Text: Die Unmöglichkeit, außerhalb des unendlichen Textes zu leben – ob dieser Text nun Proust oder die Tageszeitung oder der Fernsehschirm ist: das Buch macht den Sinn, der Sinn macht das Leben.25

Für den Protagonisten der Comicserie fungiert Frankensteins Kreatur wiederholt als eben das, was Roland Barthes als eine »zirkulare Erinnerung« bezeichnet: Ein individueller Intertext, den der Leser bevorzugt wiederholt zum Verständnis neuer Texte nutzt. Frankensteins Kreatur, wie sie in der Comicserie auftritt, unterstreicht damit die Funktion der Intertextualität als einer Lektürestrategie. Und einen besonders spitzfindigen Lektüreschlüssel, der weitere Bezüge zu poststrukturalistischen Positionen zur Intertextualität eröffnet, unterbreitet Frankensteins Kreatur Tom Taylor, als dessen Lesepraktik im Literaturklassiker Moby Dick mit dem vorstrukturierten Lesefluss kollidiert.

23 Man kann diese Analogie von Tom Taylor und Frankensteins Kreatur noch weiter denken: Frankensteins Kreatur wurde von seiner Vaterfigur aus Leichenteilen zusammengestückelt und vernäht. Das literarische Archiv, zu dem Tom von seinem Vater programmiert worden ist, stellt analog eine Kombination diverser literarischer Texte dar, die durch die Nähte der Intertextualität zusammengehalten werden. 24 Roland Barthes: Die Lust am Text, Frankfurt a.M. 1974, S. 53; Hervorhebung im Original getilgt. 25 Barthes: Lust am Text, S. 53f.; Hervorhebung im Original.

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Als der Erzähl-/Lesefluss in Moby Dick zum Stillstand gekommen ist und Tom Taylor dem Roman entfliehen will, gibt Frankensteins Kreatur in seiner Funktion als ›zirkulare Erinnerung‹ dem Protagonisten den Rat, den intertextuellen Bezug zu wechseln (vgl. Abb. 1): »How many stories have the Pequod in them, Thomas Taylor? And how many have the ocean?« (U22, 6) Was in diesem Rat anklingt, ist nichts Geringeres als ein poststrukturalistisches Verständnis von Intertextualität, wie es neben Roland Barthes vor allem auch Julia Kristeva prominent vertreten hat. Im Anschluss an Bachtins Ausführungen zur Vielsprachigkeit und an Jacques Derridas Reflexionen über Signifikantenketten argumentiert Kristeva, dass jeder Text sich immer schon aus einer Vielzahl von Zitaten speist, er gleichsam auf »dem allgemeinen Text (der Kultur)«26 basiert und sich wieder in diesen einschreibt.

Abb. 1: The Unwritten, H. 22, S. 6.

Der Protagonist der Comicserie folgt diesem Rat und springt in das Meer in Moby Dick, in dem er versinkt. Als Tom wieder auftaucht, ist die Pequod verschwunden und er scheint geradezu wie transtextuelles Treibgut in einem ›Meer der Intertextualität‹ zu schwimmen, bis endlich ein Seefahrer ihn aufnimmt. Zu spät erkennt 26 Kristeva: Der geschlossene Text, S. 194.

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der Protagonist jedoch, dass es sich bei seinem Retter um Sindbad handelt und er sich nun in dessen erster Reise befindet. Die Insel, die man erkunden wollte, offenbart sich als Rücken eines Wals. Als der Protagonist den Klassiker der Weltliteratur endlich identifiziert und die Gefahr erkannt hat, lautet sein Fazit wie folgt: »Should’ve - - swum a little - - farther […] Figures that - - this close to Moby Dick, there’d be a whole lot of - - whale stories.« (U22, 14) Nimmt man die Figurenrede ernst, dann lässt sich die Erzählung dahingehend lesen, dass die Comicserie ein topologisches Modell des ›Meeres der Intertextualität‹ entwirft, in dem alle Texte aufeinander verweisen können und Texte gleichsam näher beieinander liegen, je mehr Gemeinsamkeiten sie aufweisen. Erst der Leser stellt Strukturen aktiv her, wie der Kommentar »Should’ve - - swum a little - - farther« impliziert. Während der Rat von Frankensteins Kreatur und dieses Modell des ›Meeres der Intertextualität‹ zunächst an poststrukturalistische Positionen – insbesondere an Julia Kristevas Arbeiten zur Intertextualität – erinnern mögen, so erscheinen Tom Taylors intertextuelle und hermeneutische Erfahrungen insgesamt jedoch eher wie ein Lehrstück über verschiedene einschränkende Faktoren der Freiheiten des Lesers: Zunächst wird die Begrenzung der Interpretation durch die Vorgaben des Textes und dessen Erzählfluss bzw. den dadurch vorstrukturierten Lesefluss am Beispiel von Moby Dick verdeutlicht. Das topologische Modell des ›Meeres der Intertextualität‹ scheint dann zwar die Individualität der intertextuellen Rezeption zu betonen, da das Meer durch die Texte konstituiert wird, die dem Leser bekannt sind. Jedoch liegt mit Tom Taylor ausgerechnet ein Fall vor, in dem es sich weder um ein ›allgemeines‹ kulturelles Repertoire noch um ein individuell angeeignetes Wissen handelt, sondern um ein literarisches Archiv, das dem Protagonisten von seinem Vater einprogrammiert worden ist.27 Da Toms Vater zugleich selbst Autor war, wird damit auch das Spannungsverhältnis von Leser und Autor aufgerufen. Denn in der Comicserie folgt Tom Taylor stur den Spuren seines toten Vaters – des toten Autors. Als Leser will er dessen Absichten verstehen. Die Comicserie schildert zwar das Lesen als Abenteuer, das durch die Intertextualität und die Aktivität des Lesers bereichert zu werden scheint, propagiert aber zugleich die Auferstehung des ›toten Autors‹.28 27 Diese Pointe ließe sich freilich als Kommentar auf die institutionalisierte Vermittlung von Klassikertexten und von konventionalisierten Lektürepraktiken lesen. Vgl. zu diesem Themenkomplex beispielsweise Michel de Certeaus Ausführungen zur Schule als Institution, die kanonisierte Lesepraktiken und Lektürestrategien vermittelt, sowie Stanley Fishs Erörterung von »interpretive communities« (vgl. Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 293-311; Stanley Fish: Is There a Text in This Class? The Authority of Interpretive Communities, Cambridge/London 1980). 28 Diese Formulierung rekurriert auf Roland Barthes’ berühmtes Diktum vom Tod des Autors und der Geburt des Lesers, der unabhängig von eventuellen Autorintentionen

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Der weitere Verlauf dieses Abenteuers zeigt, dass dies nicht die einzige Friktion in den Intertextualitätsverhandlungen der Comicserie ist, ordnet diese die zitierten Literaturklassiker doch sehr rigide ihrer eigenen Kausalität, ihrem eigenen SerienMythos unter: Tom Taylor wird vom Wal verschluckt und trifft in dessen Innerem auf weitere, folgt man dem von der Serie propagierten topologischen Modell der Intertextualität, naheliegende Leidensgefährten wie Baron Münchhausen, den Propheten Jona, den Protagonisten aus Kiplings Gedicht How the whale got a throat, Pinocchio und Sindbad.29 Ebenso wie Moby Dick durch den Wal diverse Intertexte verzahnt, kombiniert die Comicserie ihre eigenen, literarischen Intertexte von Walgeschichten, die sie ihrer eigenen Erzählung einverleibt und ihrer Logik unterwirft. Wider alle Erwartungen von Tom Taylor, der die literarischen Referenzen kennt, scheitern jedoch alle Fluchtversuche aus dem Wal, obwohl sie in den zitierten Literaturklassikern von Erfolg gekrönt waren. Die Comicserie streicht gleichsam die Referenztexte demonstrativ durch. Die Flucht aus dem Wal und aus dem Moby-Dick-Abenteuer gelingt Tom Taylor erst, als er in seinem Namensvetter Thomas Hobbes einen Intertext gefunden hat, der ihm die Quelle seiner Magie offenbart. Es handelt sich dabei um die Leser der Fantasy-Romane seines Vaters, die gemeinsam einen Wal bilden. Mit dieser Visualisierung, in der schemenhaft erkennbare Personen ein übergeordnetes Wesen bilden, rekurriert die Comicserie offensichtlich auf das berühmte Bildmotiv auf dem Titelblatt von Hobbes’ Staatsphilosophie, in dem die Mitglieder einer Gemeinschaft den Souverän bilden. Diese Pointe lässt sich zum einen als Plädoyer für ein Verständnis von Intertextualität auffassen, das keine Grenzen zwischen Textsorten oder Diskursen kennt, da Thomas Hobbes’ Leviathan or The Matter, Forme and Power of a Common Wealth Ecclesiasticall and Civil in der Comicserie lediglich einen weiteren Intertext darstellt, den der Wal eröffnet.30 Durch diemit Texten in Verhandlung über Sinnzuschreibungen tritt. Trotz aller (poststrukturalistischen) Anstrengungen war die Vorstellung des Autors als einer Autorität in Fragen zur Deutung von ›Werken‹ in der öffentlichen Vorstellung nie tot zu kriegen (vgl. Roland Barthes: Der Tod des Autors, in: ders.: Das Rauschen der Sprache (= Kritische Essays Bd. IV), Frankfurt a.M. 2006, S. 57-63). 29 In 1001 Nacht erwacht der Abenteurer hingegen an einem fremden Strand. Legt man diesen Intertext an die Erzählung der Comicserie an, so kann man Sindbads Präsenz im Wal und die Tatsache, dass dieser Bruch mit dem literarischen Referenztext in der Comicserie nie thematisiert wird, als Hinweis darauf oder zumindest als Symptom dessen lesen, dass Sindbad gleichsam von der Comicserie einverleibt wurde, er ihrer Logik unterworfen wurde. 30 Entsprechende Positionen einer Intertextualität, die Texte der Literatur, Philosophie, Politikwissenschaft, Theologie etc. nicht gesondert behandelt, haben populär vor allem

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sen speziellen nicht-literarischen Intertext propagiert die Comicserie zum anderen ein Modell der kulturellen Hegemonie, das man wie folgt pointieren könnte: Wer kontrolliert, welche Texte Menschen rezipieren, kontrolliert sie bzw. ihre Realität. In diesem Modell der kulturellen Hegemonie wird Intertextualität überblendet mit Intersubjektivität: Die Kultur, der »allgemeine Text«31 vereint eine Gemeinschaft von Lesern/Mediennutzern. Allerdings hat der Protagonist diesen Intertext nicht ganz eigenständig gewählt. Tom Taylor wird das Titelblatt von Hobbes’ Schrift ausgerechnet von Mingus zugetragen. Bei Mingus handelt es sich um eine geflügelte Katze, die aus den Tommy-Taylor-Romanen stammt. Diese Figur hatte Wilson Taylor seinem Protagonisten Tommy Taylor als stummen Begleiter zur Seite gestellt. Wie Frankensteins Kreatur kann sich Mingus sowohl in der diegetischen ›Realität‹ der Comicserie als auch in Toms literarischen Abenteuern frei bewegen.32 Derjenige Leser der Comicserie, der in einer früheren Ausgabe aufmerksam genug gewesen ist (und zudem über ein gutes Gedächtnis verfügt), weiß, dass auch Hobbes’ Leviathan dem Protagonisten im künstlichen Schlaf von seinem Vater eingeschrieben worden ist (vgl. U23, 1 und 12). Auch dieser Intertext, mithin diese Erkenntnis war von Wilson Taylor, dem toten Vater, dem toten Autor, vorprogrammiert. Man könnte zwar einwenden, dass diese Konfiguration sich auch dahingehend lesen ließe, dass die passive Rezeption von Texten, wie Tom sie im künstlichen Schlaf im Wassertank erfährt, eben kein Verständnis der Texte und daher auch keine Produktivität, keine Übertragbarkeit der Texte ermöglicht. Stattdessen müssen die Texte aktiv und eigenständig angeeignet werden; sie müssen vom Leser auf seine Weise verstanden und intertextuell verortet werden. Obgleich dieser Prozess der aktiven Aneignung der Texte durch den Leser Tom Taylor wiederholt in der die Diskurstheorie in der Nachfolge Michel Foucaults, der New Historicism und der Poststrukturalismus vertreten. 31 Kristeva: Der geschlossene Text, S. 194. In ihrem zum Klassiker der Intertextualitätstheorie avancierten Aufsatz Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman geht Julia Kristeva auch auf die Beziehungen von Intertextualität und Intersubjektivität ein (vgl. Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, in: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II, Frankfurt a.M. 1972, S. 345-375). 32 Auffällig ist an dieser Figur zum einen, dass sie von der Comicserie nie kommentiert wird, obwohl diese ihre intertextuellen Spielanordnungen sonst zumeist ebenso forciert wie ironisch eines Kommentars versieht. Zum anderen spricht die Katze im Gegensatz zu Frankensteins Kreatur auch nie. Gerade dadurch, so könnte man diese Konfiguration auslegen, ist Mingus an keinen Text gebunden und verbindet alle Texte, die die Comicserie explizit zitiert.

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Comicserie hervorgehoben wird, will sich die Figur dennoch lediglich denjenigen Sinn aneignen, den sein Vater durch seine Taten und seine Texte – die Comicserie trifft hier keine strenge Unterscheidung – bereits als Spur ausgelegt hat. So wird Tom ganz im Sinne einer konservativen Vorstellung von Autorintention später die Tagebücher und Notizbücher des Vaters konsultieren, durch die der Protagonist sich ein besseres Verständnis von dessen Werk verspricht.33 Auch das Publikum der Tommy-Taylor-Romane wird in der Comicserie wiederholt als ausgesprochen passive Leserschaft vorgeführt, die sich Texte eben nicht aktiv aneignet und die daher leicht manipuliert werden kann. Leser, die sich Texte aktiv aneignen, werden hingegen in der Comicserie verhöhnt und stigmatisiert. Bereits in der allerersten Ausgabe werden Fans und Fanatiker, die sich die Tommy-Taylor-Romane so sehr aneignen, dass diese zum Teil ihrer (bewussten) Lebenswelt werden oder sie diese sogar zur Religion erklären, als Witzfiguren und Wahnsinnige dargestellt (vgl. U1, 7f. und 18f.). Freilich fällt deren Aneignung der Romane im Vergleich zum Protagonisten kaum extremer aus, widmet dieser doch sein Leben der Erforschung des Werkes seines Vaters. Diese von Friktionen und widerstreitenden Positionen gezeichneten Verhandlungen von Lese- und Lektürepraktiken, die so eng mit Reflexionen über Intertextualität verwoben sind, rufen damit auch die Frage auf, wie es sich mit den Freiheiten und der Aktivität des Lesers der Comicserie selbst verhält. In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, die Darstellung des Moments genauer zu betrachten, in dem der Protagonist die Quelle seiner Magie erkannt zu haben glaubt (vgl. Abb. 2). Tom Taylor scheint von außen auf den Wal zu schauen, in dem er sich zuvor noch mit den anderen Wal-Intertexten befunden hat, die pars pro toto durch ihre Hauptfiguren vertreten wurden. Dies bedeutet wiederum, dass er außerhalb der Intertextualität stünde, was als weiße Leere dargestellt wird. Die Schlussfolgerung des Protagonisten lautet: »I can use a magic wand because you believe - - for as long as you’re reading the book - - that Tommy can use a magic wand. I exist in the suspension of your disbelief.« (U23, 17) Innerhalb der Logik der Comicserie scheinen damit zunächst die Leser der Tommy-Taylor-Romane gemeint zu sein. Allerdings blickt der Protagonist dem Leser des Comics beinahe direkt in die Augen. Diese Bildkomposition erlaubt damit auch eine selbstreflexive Lesart. Es 33 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Peter von Matt zur »biographischen Falle«, in die Leser tappen können, wenn sie aus Neugier die Biographie und das Werk eines Autors ergründen wollen, wodurch ihre Lektüre stark beeinflusst werden kann (vgl. Peter von Matt: »Ihr guten Leute und schlechten Musikanten!« Über die biographische Falle im Umgang mit der Literatur, in: ders.: Das Wilde und die Ordnung. Zur deutschen Literatur, München 2007, S. 239-247).

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geht mithin um den Fiktionsvertrag zwischen Comicserie und Comicleser. Etwas pointierter formuliert: Der Comic führt uns phantastische Geschichten über intertextuelles Lesen vor, erfordert aber von seinem eigenen Leser, dass dieser die Logik der Serie nicht hinterfragt.

Abb. 2: The Unwritten, H. 23, S. 17

I ntertextualität

und

(I nter -)M edialität

Während die Comicserie The Unwritten so forciert Phänomene der Intertextualität expliziert und kommentiert, blendet sie Fragen ihrer eigenen Medialität weitgehend aus. Wie prekär diese Konstellation ist, wird besonders deutlich in der bereits oben behandelten Rückblende, in der Tom Taylor als Kind Frankensteins Kreatur ›Bürgerrecht‹ in seiner Welt einräumt. Entgegen den Absichten des Vaters, Tom als literarisches Archiv zu programmieren, und obwohl die Comicserie so forciert die Schrift als Feld der kulturellen Hegemonie und als Medium der Wirklichkeitskonstitution behandelt, war es eben kein Literaturklassiker, sondern ein Film, der Toms Identifikation mit Frankensteins Kreatur anregte. Als der Sohn mit seinem Vater über den Film reden will, belehrt ihn Wilson Taylor harsch: »That wasn’t the monster. That was just some Ersatz Hollywood Zombie. That Monster – the real monster – was born right here in the villa Diodati. And he had a lot more to say for himself.«34 (U21, 10) Offensichtlich wird durch die Figurenrede ein Spezialfall 34 In der Villa Diodati, so will es die populäre Literaturgeschichte, habe sich Mary Shelley Frankenstein im Wettstreit mit Lord Byron und ihrem späteren Ehemann ausgedacht. Die Figurenrede über die Geburt der Kreatur in der Villa und die Begebenheit, dass Tom als Kind Frankensteins Kreatur erstmals in dem Garten der Villa erblickt, fügen sich in

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der Intertextualität attackiert: die Literaturverfilmung. Das Hollywood-Monster, so lässt sich Wilson Taylors Kritik verstehen, sei eine verfälschende und unterkomplexe Kopie, die, nimmt man die Metapher »Zombie« ernst, die Gehirne der Zuschauer zerfrisst. Diese Kritik an Literaturverfilmungen als eine Verfälschung und Trivialisierung von literarischen Vorlagen wird in der Comicserie wiederholt explizit vorgebracht. Auch im Moby-Dick-Abenteuer wirft beispielsweise Frankensteins Kreatur dem Protagonisten vor, dass dieser sich nicht auf den Roman einließe und dass er falsche Erwartungen habe, die auf der Verfilmung basierten (vgl. U21, 9). Besonders deutlich wird diese Kritik an Literaturverfilmungen aber in den Heften zehn und elf, in denen die Adaptionsgeschichte von Jud Süß erzählt wird. Das Sujet Jud Süß wird als eine monströse Wucherung aus Bild- und Schriftzitaten dargestellt, das den Protagonisten zu verschlingen droht (vgl. Abb. 3).

Abb. 3: The Unwritten, H. 11, S. 16.

Dieser chaotische Sturm aus Zitaten, jüdischen und nationalsozialistischen Symbolen, Schriftrollen, Filmrollen und vielen konfligierenden Bildern mehr wird von die Argumentation der Comicserie, dass es Orte gibt, an denen Fiktion und ›Realität‹ sich gegenseitig durchdringen.

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Lizzie Hexam bezeichnet als ein instabiles Sujet, ein »canker« (U11, 14), eine Geschichte, die aufgrund von Widersprüchen zwischen der literarischen Vorlage und der filmischen Adaption unkontrolliert wuchere: »It’s because of the contradictions. In the novel, Süss sins, but finds salvation through his religion. In the movie, he’s just a monster. When enough people had seen the movie - - there was a crisis, an imbalance.« (U11, 14) Dass der Film einen größeren Einfluss als die literarische Vorlage habe, lässt die Comicserie zuvor bereits Propagandaminister Joseph Goebbels persönlich vor einem Publikum von Parteifunktionären der NSDAP und Offizieren erklären: »And how many of our audience read weighty, literary fiction? I’ll tell you: one in a thousand. The cinema’s reach is wider than any novel […] And as one watches the pretty pictures, one absorbs the moral of the tale.« (U10, 13) Das Medium Film wird als verführerisches, als gefährliches, als propagandistisches Medium vorgeführt. Diese Medienkritik lässt sich zusammen mit der gesamten Fokussierung auf Klassiker der Weltliteratur und insbesondere der propagierten konservativen Vorstellung von Werktreue als eine Anbiederung der Comicserie an den Literaturkanon und an die Hochkultur lesen.35 Allerdings praktiziert die Comicserie auch am Ende des Jud-Süß-Abenteuers genau das, was sie kritisiert: Zum einen eignet sich Tom Taylor das Sujet an, indem er an die Stelle von Hitler (als ikonischem Repräsentanten des NS-Regimes) seinen eigenen Vater setzt und die NS-Propaganda damit vergleicht, dass sein Vater ihn als literarisches Archiv programmieren wollte. Dann greift er in den Rachen des Monsters, hebt gedruckte Seiten aus dem Chaos hervor und bindet das Monster in ein Buch, das in seiner Hand verschwindet. Diese Schlusskonfiguration visualisiert nicht nur den Aneignungsprozess des Protagonisten, durch den er dem Phänomen seinen individuellen Sinn zuschreibt und es sich dadurch einverleibt, sondern verweist auch auf den Aneignungsprozess der Comicserie selbst. Denn das gesamte Abenteuer lässt sich als ein Lehrstück über die Adaptions- und Rezeptionsgeschichte von Jud Süß lesen. Die Comicserie erzählt ein Narrativ, das eine historische und normative Ordnung herstellt, in der zwischen literarischem Original und verfälschender Literaturverfilmung unterschieden wird. Zudem predigt sie forciert, wie die literarische Vorlage, die Verfilmung und auch die Rezeptionsgeschichte zu verstehen und zu bewerten seien. Die Comicserie, dies zeigt das Jud-Süß- ebenso wie das Moby-Dick-Abenteuer des Protagonisten, eignet sich die intertextuellen Referenzen an, um ihre eigene Geschichte zu erzählen. Die Comicserie selbst stellte damit, folgt man der in ihr propagierten Logik, mithin eine intertextuelle und intermediale Meta-Monstrosität dar. The Unwritten schreibt damit auch einen Diskurs fort, der Comics aufgrund seiner konventionellen Interdependenz von Schrift und Bildsequenz zwischen Li35 Vgl. hierzu auch: Schmitz-Emans: Literatur-Comics, S. 251-412.

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teratur einerseits und Film andererseits verortet.36 Doch das Medium Film wird nicht nur diskreditiert, sondern seine Bildlichkeit geradezu forciert ausgeblendet, wie eine genauere Analyse der Panels zeigt, in denen Tom als Kind den Film Frankenstein schaut, bei dem James Whale Regie führte37 (vgl. Abb. 4): Der akustische Dialog des Tonfilms erscheint zunächst als Schrift in Sprechblasen, ohne dass die entsprechenden Filmbilder zu sehen wären. Der Bildschirm zeigt dann im nächsten Panel statt Filmbildern nur den Schriftzug »The End«. Die Literaturverfilmung

Abb. 4: The Unwritten, H. 21, S. 10.

wird geradezu rückübersetzt: Die Literaturverfilmung wird vom Comic wieder in Schrift transformiert. Dass die Bildlichkeit des Mediums Film in der Comicserie so forciert ausgeblendet wird, kann in Bezug zur Bildlichkeit des Mediums Comic gesetzt werden. Dann mag auffallen, dass die Comicserie zwar Literaturverfilmungen kritisiert, aber nie thematisiert, dass jede intertextuelle Bezugnahme auf die Literatur im Comic stets auch eine intermediale Adaption, eine Visualisierung der literarischen Vorlagen ist, die ihrerseits über die medialen Bedingungen und Konventionen von Comicerzählungen und insbesondere über die Ästhetik und Ikonographie ganz eigene intertextuelle Beziehungen und Deutungsräume eröffnet. Folgt der Leser des Comics nicht allzu schnell der Erzählung, sondern verharrt 36 Vgl. Jörn Ahrens: Intermedialität, Hybridität: Wieviel Unbestimmtheit verträgt der Comic?, in: Christian A. Bachmann u.a. (Hg.): Comics intermedial. Beiträge zu einem interdisziplinären Forschungsfeld, Essen 2012, S. 11-22, insbesondere S. 13f. 37 Mit dem Nachnamen des Regisseurs, Whale, liegt ein weiteres Glied in der freien Adaption von Moby Dick und seiner Logik der Signifikantenketten und Intertexte.

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bei diesen Panels, so wird er entdecken, dass auf dem Pyjama des kleinen Tom, der vor dem Fernseher sitzt, Buchstaben abgebildet sind.38 Der Leser kann daraus Wörter wie ›story‹ oder ›alone‹ bilden. Dieses Lesen der Buchstaben-Sequenzen im Bild kann wiederum den Blick auf das Lesen der Bild-Sequenz und der konventionellen Schrift-Bild-Verhältnisse lenken. Während die Comicserie vor allem davon erzählt, dass der Protagonist Literatur lesen und hermeneutische Prozesse verstehen lernt, wird der Comicleser durch solche spielerischen Bild-Text-Konstellationen wiederholt dazu angehalten, genau hinzusehen und die Bilder zu lesen, statt nur stur und gutgläubig der Story zu folgen, wie sie maßgeblich durch die Schrift in Dialogen und Textboxen entfaltet wird. Dies trifft ebenso auf das oben analysierte Panel des kleinen Tom vor dem Fernseher wie auch auf die potenzielle Adressierung des Lesers im Moment von Toms Erkenntnis zu (vgl. Abb. 3). Diese Lektüre-Anweisung findet sich aber auch in kleinen Details wie beispielsweise dem Panel, in dem Tom eine Figur in Moby Dick befragt und diese nicht nur an der Grenze der im Roman gegebenen Informationen verstummt, sondern in diesem Moment auch aus dem Panel hinausschaut. Die kommentierende Textbox, die in diesem Fall eine Deutung des Bildes vorstellt, betont den Blick der Figur explizit: »If he pressed them for details of their lives not given in the book, they gave him nothing but a thousand-yard stare.« (U21, 15) Gerade dieser Fall verdeutlicht die semantische Offenheit des Bildes,39 die durch die Schrift begrenzt werden soll. Denn ohne die Textbox, die den Sinn des Bildes fokussieren und fixieren soll, könnte die Darstellung auch ganz anders gelesen werden: Der Seemann könnte beispielsweise Tom ignorieren, nach Moby Dick Ausschau halten (immerhin winkt eine Goldmünze) oder eventuell einfach nur zufällig aufs Meer schauen. Allerdings sind diese Lesarten auch trotz der Sinnzuschreibung durch die Textbox noch immer als Deutungen des Bildes möglich. Mit ihren diversen Friktionen befördert die Comicserie damit nicht nur ein Einüben einer kritischen Lektürehaltung, die sensibel ist für Widersprüche und Leerstellen in Texten. Darüber hinaus lässt sie sich geradezu wie eine praktizierte Schule des Comiclesens rezipieren, die den Blick des Lesers für die medialen Bedingungen des Erzählens im Comic und für die medienspezifischen Praktiken 38 Diese Konstellation verweist auch auf die stets prekäre Grenzziehung zwischen Schrift und Bild, da auch die Schrift als Darstellung, mithin als Schriftbild perspektiviert werden kann. Vgl. zu diesem Themenkomplex auch: Michel Foucault: Dies ist keine Pfeife. (Mit zwei Briefen und vier Zeichnungen von René Magritte), München 1997, insbesondere S. 7-28. 39 Vgl. hierzu die Ausführungen von Roland Barthes zur Dekodierung von Bildern: Roland Barthes: Die Rhetorik des Bildes, in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. (= Kritische Essays III), Frankfurt a.M. 1990, S. 28-46.

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seiner Lektüre schärfen kann. Eingangs wurde Paul Cornells Fazit zu The Unwritten zitiert, in dem er der Comicserie den Status zusprach, Literatur zu sein: »As I said: doing literature while talking about it.«40 Man kann das Lektürepotenzial der Comicserie gerade unter dem Gesichtspunkt der Literaturcomics aber auch ganz anders als Paul Cornell resümieren: ›As I read: doing comics while talking about literature.‹

40 Cornell: Introduction (ohne Paginierung).

»Comics sind gefährlich!« Flix’ Don Quijote als Metacomic F lorian T rabert

I. Zu den vielen begeisterten Lesern von Cervantes’ Roman Don Quijote zählte auch Heinrich Heine. Nach eigener Auskunft war Cervantes’ Parodie auf den Ritterroman das erste Buch, dass Heine gelesen hatte, nachdem er »in ein verständiges Kindesalter getreten und des Buchstabenwesens einigermaßen kundig war«1. Wie so viele Kritiker vor und nach ihm hebt Heine hervor, dass der Don Quijote »reich an pittoreskem Stoff«2 sei, was vor allem auf den hohen Wiedererkennungswert des grotesk-komischen Paars zurückzuführen ist, das der dürre Hidalgo und sein beleibter Knappe bilden. Trotz dieser visuellen Dimension hinterfragt Heine jedoch den künstlerischen Wert von Illustrationen des Romans: Sie seien »ein Zeichen mehr, wie die Kunst, herabgezerrt von dem Piedestale ihrer Selbständigkeit, zur Dienerin des Luxus entwürdigt wird«3. Man mag hier, und das sicherlich auch zu Recht, einen Einwand gegen Illustrationen als Form der bildenden Kunst se1 Heinrich Heine: Cervantes’ Don Quixote, in: ders.: Sämtliche Schriften, Bd. 4, hg. von Klaus Briegleb, München 2005, S. 149-170, hier S. 151. 2 Heine: Cervantes’ Don Quixote, S. 168. Dieser Aspekt wird auch in der gegenwärtigen Forschung immer wieder hervorgehoben. So schreibt etwa Juliane Blank: »Kaum ein anderes Werk der abendländischen Literatur ist in einer solchen Vielzahl und Mannigfaltigkeit illustriert worden wie Cervantes Don Quixote. Heute sind Don Quixote und Sancho Panso zu ›Ikonen‹ geworden, deren Gestalt fest im kollektiven visuellen Gedächtnis verankert ist.« (Juliane Blank: Der Text als Bildauslöser: Beobachtungen zu einer bildlichen Metaebene im Don Quixote, in: Ines Detmers/Wolfgang G. Müller (Hg.): Don Quijotes intermediales Nachleben/Don Quijote’s Intermedial Afterlives, Trier 2010, S. 121-134, hier S. 121). 3 Heine: Cervantes’ Don Quixote, S. 168.

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hen, die literarische Texte lediglich ergänzt und somit einen vorrangig dekorativen Charakter hat.4 Aber im Fall von Cervantes’ Don Quijote geht es um anderes und mehr: Seine singuläre Stellung innerhalb der europäischen Literaturgeschichte verdankt der Don Quijote seinem Status als erster Meta-Roman. Mit seinem Roman über den Hidalgo, dem »vom wenigen Schlafen und vielem Lesen […] sein Gehirn ausgetrocknet wurde«5, problematisiert Cervantes nicht nur die Folgen übermäßiger Romanlektüre, sondern zugleich den Vorgang des Erzählens selbst. In diesem Zusammenhang hebt der Romanist Hans-Jörg Neuschäfer die Modernität des Romans hervor: »In der Tat ist die Meisterschaft, mit der Cervantes all das bereits ins Spiel bringt, was der heutigen Literarästhetik teuer ist – Autoreflexivität, Intertextualität, Dialogizität, ironisch gebrochene Beglaubigungsstrategien, komplexe Erzähltechniken –, schier unglaublich.«6 Bis in die Gegenwart hat Cervantes’ Roman deshalb immer wieder bei den unterschiedlichsten narrativen Experimenten Pate gestanden.7 Die Autoreflexivität des Romans erstreckt sich dabei auch, die Grenzen zwischen den Medien überschreitend, auf die bildliche Ebene; so bemerkt Sancho gegen Ende des Romans: »Ich will wetten […], es brauchen nicht viele Tage ins Land zu gehen, so wird es keinen Krug, keine Schenke, kein Wirtshaus und keine Barbierbude geben, wo man nicht die Geschichten unserer Taten gemalt hätte […].«8 4 Vgl. hierzu die grundsätzliche Unterscheidung zwischen ›Illustration‹ und ›Visualisierung‹: »Unterschieden wird bei Bildergeschichten zwischen Illustrationen und Visualisierungen. Illustrationen wiederholen die Textinhalte im Bild. Sie dekorieren, das heißt, sie verstärken die Stimmung des jeweiligen Textes, während Visualisierungen Text ersetzen. Visualisierungen setzen somit eigenständig die Narration fort und ergänzen sich mit den eventuell gegebenen Texten, während Illustrationen Informationen verdoppeln.« (Jakob F. Dittmar: Comic-Analyse, 2. überarb. Aufl., Konstanz 2100, S. 41) 5 Vgl. Miguel de Cervantes Saavedra: Don Quixote von la Mancha, übers. von Ludwig Tieck, Frankfurt a.M. 2008, S. 31. 6 Vgl. Hans-Jörg Neuschäfer: Cervantes und der Roman des Siglo de Oro, in: ders.: Spanische Literaturgeschichte, 4. akt. und erw. Aufl., Stuttgart 2011, S. 123-151, hier S. 147. 7 Borges kurze Erzählung Pierre Menard, Autor des Quijote wäre hier als nur ein markantes Beispiel zu nennen (vgl. Jorge Luis Borges: Fiktionen. Erzählungen 1939-1944, übers. von Karl August Horst, Wolfgang Luchting und Gisbaert Haefs, München 82003, S. 35-45). 8 Cervantes: Don Quijote, S. 1204. Juliane Blank spricht in diesem Zusammenhang von einer »bildliche[n] Metaebene des Romans« (vgl. Blank: Beobachtungen zu einer bildlichen Metaebene im Don Quixote, S. 123).

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Versteht man das Zusammenwirken verschiedener Medien als dynamischen Prozess im Spannungsfeld von Kooperation und Konkurrenz, so haben die von Sancho prophezeiten Illustrationen gegenüber diesem Meta-Roman indes einen prekären Status. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Illustrationen zwar – wie dies auch bei den berühmten Stichen Gustave Dorés überwiegend der Fall ist9 – dessen »pittoreskem Stoff« veranschaulichen, ohne dabei zu Meta-Bildern zu werden, die ihre eigene Bildhaftigkeit reflektieren.10 Erst recht gilt dies für Comicadaptionen des Stoffes, da sich in dieser Kunstform Bild und Text nicht als distinktive Medien gegenüberstehen, sondern vielmehr so eng miteinander ›vernäht‹ sind, dass sich das eine Medium nicht mehr von dem anderen lösen lässt. So erscheint der kurze Auftritt des Hidalgos und seines Knappen in dem Comic Asterix in Spanien als augenzwinkernder Verweis auf die spanische Kultur, dessen besondere Komik dadurch entsteht, dass die Attribute ›dünn‹ und ›dick‹ sowie ›kurz‹ und ›lang‹ bei den beiden von Don Quijote und Sancho Panza sowie Asterix und Obelix gebildeten Paaren jeweils anders verteilt sind.11 Insgesamt kommt dem Zitat jedoch eher eine koloristische Funktion zu, da eine Reflexion der eigenen Medialität unterbleibt.12 Anders verhält es sich fraglos mit Paul Karasiks und David Mazzucchellis Comicadaption von Paul Austers Roman Stadt aus Glas, in dem die vielfältigen Anspielungen auf Cervantes’ Roman, die gleichermaßen auf einer textlichen wie bildlichen Ebene erfolgen, an den komplexen narratologischen Experimenten teilhaben, in deren Mittelpunkt die gebrochene Identität der Hauptfigur Daniel Quinn steht, die nicht zufällig die gleichen Initialen wie Don Quijote trägt.13

9 Vgl. zu diesen: Gerhard R. Kaiser: Industrialisierte (Desillusions-)Romantik. Gustave Dorés »Don Quijote«-Illustrationen, in: Detmers/Müller (Hg.): Don Quijotes intermediales Nachleben, S. 143-165. 10 Vgl. hierzu grundsätzlich: W.J.T. Mitchell: Metabilder, in: ders.: Bildtheorie, hg. und mit einem Nachwort von Gustav Frank, Frankfurt a.M. 2008, S. 172-233. 11 Vgl. René Goscinny/Albert Uderzo: Asterix in Spanien, übers. von Gudrun Penndorf, Stuttgart 1973, S. 32. 12 Vgl. hierzu auch: Ines Detmers: ›Erlesene Bilder‹ des Don Quijote: Zur gattungsreflexiven Funktion von Interfiguralität in post-modernen Graphic Novels, in: dies./Müller (Hg.): Don Quijotes intermediales Nachleben, S. 289-314, hier S. 299. 13 Vgl. hierzu auch: Detmers: ›Erlesene Bilder‹ des Don Quijote, S. 304-307. Anspielungen und Verweise auf Cervantes’ Roman sind für den gesamten Comic Paul Austers Stadt aus Glas konstitutiv; gehäuft treten sie in dem Gespräch zwischen Daniel Quinn und Paul Auster in Erscheinung (vgl. Paul Karasik/David Mazzucchelli: Paul Austers Stadt aus Glas, 2. Aufl. Berlin 2010, S. 94-102).

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Im Folgenden möchte ich zeigen, dass Flix mit seinem Don Quijote dem »intermedialen Nachleben«14 des Romans nicht einfach nur ein weiteres Kapitel hinzufügt, sondern der Vorlage auch in einem höheren Sinne ›gerecht‹ wird, da er dem Meta-Roman einen Metacomic an die Seite stellt im Sinne von Monika SchmitzEmans’ Definition dieser Untergattung: »Epochal für die Geschichte des Comics ist die Entstehung des Metacomics – einer Spielform des Comics, die explizit vom Comic selbst handelt und die eigene Medialität auf inhaltlicher wie auf darstellerischer Ebene bespiegelt.«15 Flix’ Don Quijote steht somit im Schnittpunkt zweier für die Kunstform Comic ganz wesentlicher Gattungen: der des Literaturcomics und dem vor allem von Will Eisner und Scott McCloud initiierten Metacomic.

II. Dass die Bespiegelung der eigenen Medialität in Flix’ Don Quijote bereits auf der darstellerischen, zeichnerischen Ebene stattfindet, vermag exemplarisch ein Vergleich zwischen den Panels zu zeigen, die jeweils die Protagonisten der beiden großen Literaturcomics von Flix einführen.16 Der in Flix’ Faust-Adaption vorherrschende ligne-claire-Stil mit seinen flächigen Grundierungen ist im Don Quijote zugunsten von vielfältigen Schraffierungen und Schattierungen aufgegeben. Insgesamt wirkt der Zeichenstil in dem später entstandenen Comic skizzenhafter, da einige Linien nicht ganz sauber gezogen sind und somit der Entstehungsprozess noch deutlicher sichtbar ist. Alonso Quijano ist individueller und charakteristischer als der Taxifahrer Heinrich Faust dargestellt; mit seiner überlangen Nase scheint er einer Karikatur entsprungen zu sein, wodurch, folgt man den Überlegungen Scott McClouds, eine Identifikation des Lesers mit der Comicfigur erschwert wird.17 Durchaus exemplarisch für die beiden Literaturcomics ist zudem, dass Alonso Quijano im Gegensatz zu Faust im ersten Panel stumm bleibt; in Flix’ Don Quijote finden sich wiederholt ganze 14 So der Titel eines 2010 von Ines Detmers und Wolfgang G. Müller herausgegebenen Sammelbands. 15 Monika Schmitz-Emans: Literaturcomics. Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur, Berlin/Boston 2012, S. 38. Einen kurzen Überblick über die Geschichte des Metacomics findet sich in Jannis Manolis Violakis: Spiegel-Bilder. Der Comic im Comic, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text+Kritik, Sonderband Comics, Mangas, Graphic Novels, München 2009, S. 258-268. 16 Vgl. Flix: Faust. Der Tragödie erster Teil, Hamburg 2010, S. 14 und Flix: Don Quijote, Hamburg 2012, S. 4; im Folgenden zitiert mit der Sigle DQ und Seitenzahl. 17 Vgl. Scott McCloud: Understand Comics. The invisible Art, New York 1993, S. 24-59.

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Seiten, die nahezu oder sogar vollständig auf Sprache verzichten (vgl. DQ 6, 10, 61, 65, 88, 91, 97, 114f., 124f. und 130), so dass die bildliche Ebene ein stärkeres Gewicht erhält.

Abb. 1: links: Flix: Don Quijote, S. 4; rechts: Flix: Faust, S. 14.

Bereits dieses erste Panel partizipiert jedoch bereits an der Meta-Ebene des Comics, da die bildlichen Elemente das Grundvokabular der Kunstform Comic evozieren. So erinnert der aus der Pfeife des Protagonisten Alonso Quijano aufsteigende Rauch an die Form von Sprechblasen als der gängigsten Comickonvention überhaupt – ein Zusammenhang, der sogar in die italienische Bezeichnung für Comics, ›fumetto‹, eingegangen ist. Das links oben im Panel gezeichnete Fenster ähnelt in seiner Dreispaltigkeit der Panelstruktur der gesamten Seite als Meta-Panel18, wobei sich diese Form der Selbstreferentialität auch in anderen Metacomics wie dem bereits genannten Paul Austers Stadt aus Glas oder auch Matt Maddens 99 Ways to Tell a Story findet.19 Das leicht geöffnete Fensterchen verdeutlicht dabei die monadenhafte Existenz des Protagonisten: Als Verbindung Alonso Quijanos zur Außenwelt entspricht ihm das kleine Panel unten rechts, bei dem in Gestalt des hupenden Postautos die Außenwelt in das Leben des alten Sonderlings tritt. Zuletzt evoziert die das rechte Drittel des Panels einnehmende Türe einen sich beiseite ziehenden Theatervorgang, der dem Leser den Blick auf das Leben des Protagonisten eröffnet. Wie bereits der Faust zeichnet sich auch der Don Quijote 18 Vgl. Dittmar: Comic-Analyse, S. 58. 19 Vgl. Karasik/Mazzucchelli: Paul Austers Stadt aus Glas, S. 33, 51 und 67. Matt Madden: 99 Ways to Tell a Story. Exercises in Style. Dies gilt insbesondere für den in dieser Sammlung enthaltenen Comic Upstairs, bei dem das Fenster der Panelstruktur des Comics entspricht, den die Freundin des Protagonisten gerade zeichnet (vgl. Madden: 99 Ways to Tell a Story, S. 9).

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durch ein hohes Maß an Theatralität aus, und es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass Flix für seine Adaptionen literarischer Texte die dynamische Bezeichnung »Neuinszenierung«20 bevorzugt.

III. Dass Flix die Handlung des Don Quijote um 2500 Kilometer und 400 Jahre vom Spanien des frühen 17. Jahrhunderts in das Deutschland des frühen 21. Jahrhunderts transponiert, ist nur die offenkundigste Dimension dieser »Neuinszenierung«. Ähnlich wie Cervantes’ Don Quijote als erster wahrhaft realistischer Roman ein pralles Bild des zeitgenössischen Spanien zeichnet, liefert diese Aktualisierung des Stoffes Flix die Gelegenheit, Probleme des heutigen Deutschland in die Handlung seines Comics einzubeziehen: den Umgang mit alten und dementen Menschen in einer insgesamt alternden Gesellschaft, die Schwierigkeiten, vor die alleinerziehende und berufstätige Mütter gestellt sind, die Landflucht in Ostdeutschland. Adaptionen, zumal aktualisierende Adaptionen, sind immer auch Übersetzungen, und diese Analogie deutet die metareferentielle Anspielung auf den bekanntesten Übersetzer des Don Quijote in die deutsche Sprache an: Antonia, die Tochter des Protagonisten Alonso Quijano, trägt den Doppelnamen Ludwig-Tieck (vgl. DQ 132). Indes ist in der räumlichen wie zeitlichen Verschiebung nicht die einzige Dimension der »Neuinszenierung« zu sehen; dies gibt bereits der Umstand zu verstehen, dass sich das kastilische Toboso lediglich durch die Hinzufügung des am Ende von ostelbischen Ortsnamen bekanntlich stumm bleibenden Buchstabens ›w‹ in das mecklenburgische ›Tobosow‹ verwandelt, das freilich auf keiner Landkarte zu finden ist. Die im Vergleich zu seiner Vorlage entscheidenden Verschiebungen nimmt Flix hingegen auf der Ebene der Figurenkonstellation vor. Dies verdeutlicht bereits der frühe Tod Sancho Panzas, dem im prologartigen Abschnitt nur ein kurzer Auftritt als Inhaber eines kleinen Krämerladens im mecklenburgischen Tobosow vergönnt ist, bevor ihn der Schlag trifft, (vgl. DQ 9) so dass er seinen Platz an Alonso Quijanos Enkel Robin abtritt. Zwar bilden Alonso Quijano und Robin Tieck wie Don Quijote und Sancho Panza gleichermaßen eine Einheit und ein komisches Paar, so dass die dialogische und dialektische Dynamik des Romans im Comic erhalten bleibt,21 jedoch sind die Kontraste bei Flix vollkommen anders gestaltet als in der Vorlage. Bei Flix stehen sich nicht mehr der Idealist und der Materialist, sondern der greise Comicverächter und der kindliche Comicleser 20 Frank Schirrmacher: Ich sehe was, was du nicht siehst, in: DQ 12f., hier S. 12. 21 Vgl. Neuschäfer: Cervantes und der spanische Roman des Siglo de Oro, S. 143.

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gegenüber. Alonso Quijano ist der Typus des alternden ›Wutbürgers‹, der sich in der Gegenwart, für die metonymisch Comics und Windräder stehen, nicht mehr zurechtfindet und mit dieser einen Kleinkrieg auf verlorenem Posten führt. Sein Enkel Robin nimmt als Begleiter Alonso Quijanos hingegen nicht nur die Funktion Sancho Panzas ein, sondern zu ganz wesentlichen Teilen auch die Don Quijotes, da er sich aufgrund intensiver Comiclektüre für den Superhelden Batman hält. Diese Änderung der Versuchsanordnung bringt es mit sich, dass Flix’ Don Quijote auf zwei unterschiedlichen Ebenen als Metacomic zu bezeichnen ist: Über die Figur Robin problematisiert der Comic in relativ enger Anlehnung an Cervantes’ Vorlage die Folgen einer evasiven und kompensatorischen Comiclektüre; über die Figur Alonso Quijano hingegen setzt sich der Comic ironisch mit einer einseitig kulturpessimistischen Form der Comickritik auseinander. Diese scheinbar konträren Positionen verbindet jedoch die gemeinsame Ursache einer defizitären Wirklichkeitswahrnehmung, die sich gleichermaßen bei Alonso Quijano und Robin diagnostizieren lässt und aufgrund derer die beiden im Laufe der Handlung sogar zu Freunden werden können.

IV. Der Romanist Erich Auerbach hat in Mimesis, seiner berühmten Untersuchung zur Darstellung der Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, kritisch angemerkt, dass man »eine von einsamer Lektüre genährte Überspanntheit«, wie sie sich bei Cervantes’ Don Quijote diagnostizieren lässt, »eher bei einem ganz jungen Menschen für möglich halten«22 sollte, wofür er Stendhals Julien Sorel oder Flauberts Emma Bovary als Beispiele anführt. Auch wenn Auerbach mit dieser Bemerkung vielleicht zu sehr den Maßstab des psychologischen Romans des 19. Jahrhunderts anlegt, erscheint Flix’ Umsetzung des Stoffes in diesem Punkt tatsächlich plausibler, da die Comiclektüre Robins eindeutig kompensatorische Züge aufweist und als Flucht des dicklichen, ohne Vater aufwachsenden und von den Gleichaltrigen gehänselten Jungen in eine Phantasiewelt zu werten ist. Während Illustratoren von Cervantes’ Don Quijote zumeist vor die Wahl gestellt sind, ob sie die objektive Realität oder die subjektive Wahrnehmung Don Quijotes darstellen wollen und allenfalls eine Überlagerung der beiden Perspektiven bieten können, erlaubt es der Comic als sequentielle Kunst23, zwischen beiden Darstellungsformen zu wechseln. In seinem Don Quijote stellt Flix zwar überwiegend die Realität der erzählten Welt 22 Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, 10. Aufl., Tübingen/Basel 2001, S. 332. 23 Vgl. McCloud: Understanding Comics, S. 7-9.

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dar, jedoch finden sich immer wieder einzelne Panels eingestreut, die Robins Phantasiewelt abbilden und durch die doppelte Rahmung der Panels und die Hervorhebung des Druckrasters als Comic im Comic gekennzeichnet sind (vgl. DQ 37).

Abb. 2: Flix: Don Quijote, S. 37.

Flix’ »Neuinszenierung« von Cervantes’ Meta-Roman als Metacomic bringt es mit sich, dass die Funktion der Ritterromane von Superheldencomics eingenommen wird, die aufgrund ihrer Phantastik und des Heroismus ihrer Protagonisten tatsächlich als moderne Nachfahren des Ritterromans erscheinen. Im Falle der Batmancomics wird diese Nachfolge zusätzlich durch die Apostrophierung des Helden als ›the dark knight‹ kenntlich gemacht. Die Analogie zwischen Ritterroman und Superheldencomic ist allerdings in einem entscheidenden Punkt nicht durchgeführt: Denn während Cervantes bereits im Vorwort seine Intention formuliert, »das Ansehen zu stürzen, in dem bei der Welt und dem Haufen die Ritterbücher stehen«24 – wobei ihm der Don Quijote unter der Hand freilich ebenso sehr zur Parodie über wie zur Hommage an die Ritterromane gerät25 – betont Flix das kreative Potential, das die Comiclektüre in sich 24 Vgl. Cervantes: Don Quixote von la Mancha, S. 15. 25 Diese Widersprüchlichkeit in der Konzeption des Romans hat bereits Thomas Mann in seinem Essay Meerfahrt mit Don Quijote betont: »Den ›Don Quijote‹ angehend, so ist das wahrhaftig ein sonderbares Erzeugnis, naiv, von großartiger Unwillkürlichkeit und souverän in seinem Widerspruch. Ich komme nicht aus dem Kopfschütteln heraus

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birgt. Dies ist auch in der Biographie des Comiczeichners begründet; in einem auf seiner Homepage abrufbaren Interview erzählt Flix, dass er nach der Lektüre von Batmancomics den Entschluss gefasst hat, selber Comiczeichner zu werden: Mit ca. 16 habe ich angefangen, mich ernsthaft mit dem Medium Comic zu beschäftigen. Ich hatte einen Freund, der in einer Comic- und Kinderbuchhandlung eine Ausbildung gemacht hat. Und jedes Mal, wenn ich ihn besucht habe, hat er mir ein paar neue Hefte gezeigt, die er für lesenswert hielt. Eines Tages hat er mir »The Dark Knight Returns« von Frank Miller in die Hand gedrückt; da hat es klick! gemacht und ich dachte: »Das will ich auch machen!«26

Interessanterweise findet sich eine ganz ähnliche Aussage bereits bei Frank Miller, der im The Dark Knight Returns vorangestellten Vorwort schreibt: »Ein Kaufhaus in Vermont. Ich bin 6 (oder 7) Jahre alt. Ich stoße auf einen 80-seitigen Comic mit Batman. Ich öffne ihn. Ich blättere ihn durch. Ich versinke darin.«27 Diese beiden Portraits der Comiczeichner als kindliche oder jugendliche Comicleser legen die Spekulation nahe, dass sich dieses Muster der Initiation in die Welt des Comics bis hin zu Bob Kane, dem Schöpfer der Batman Figur, und noch darüber hinaus bis zu den Anfängen der Bildergeschichte verlängern ließe. Die Reihe lässt sich aber, wenn wir die Grenze zwischen Realität und Fiktion erneut überschreiten, vielleicht auch in die Zukunft verlängern, und zwar zu der Figur Robin. Auch wenn Robin früher als sein Großvater seine defizitäre Wahrnehmung der Wirklichkeit erkennt – hierin dem Konzept des desengaño, der Ent-Täuschung von Cervantes’ Roman folgend –, entsagt er nicht der Phantasie. Das letzte Panel des Comics zeigt Robin, wie er mit seiner neu gewonnenen Freundin auf einer Riesenfledermaus reitet, und die fehlende Rahmung des Panels verdeutlicht, dass der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind (vgl. DQ 134). Flix knüpft damit auch an ein Motiv über die eingestreuten Novellen, abenteuerlich sentimental, wie sie sind, und ganz im Stil und Geschmack der Produkte, die der Dichter gerade verspotten will, so daß die Leserschaft nach Herzenslust in dem Buch das wieder fand, was ihr abgewöhnt werden sollte, – eine vergnügliche Entziehungskur.« (Thomas Mann: Meerfahrt mit Don Quijote, in: ders.: Achtung, Europa! Essays 1933-1938, hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Frankfurt a.M. 1995, S. 90-139, hier S. 109f.) 26 http://www.der-flix.de/flix.html (letzter Zugriff am 10. Februar 2014). Damit soll natürlich nicht im Sinne einer naiv-biographischen Lesart die Figur Robin mit dem Autor gleichgesetzt werden. Flix hat in dem gleichen Interview betont, dass seine Comics keinen autobiographischen Gehalt haben. 27 Frank Miller: Batman. Die Rückkehr des dunklen Ritters, übers. von Steve Kups, Stuttgart [o.J.], [o.S.].

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aus seinem autobiographisch inspirierten Comic held an, in dem das Zeichnen und damit die Kreativität als Mittel erscheinen, um gegen Ängste – die im Comic durch den kindlichen Protagonisten bedrohende Monster verkörpert werden – anzukämpfen.28 Zumindest partiell steht Flix mit seiner Neuinszenierung von Cervantes’ Roman in der Nachfolge einer romantischen Deutung des Don Quijote, die in dem Hidalgo einen idealistischen Kämpfer für die Rechte der Phantasie sieht.29 Die rezeptionsästhetische Kritik am Comic schlägt in eine produktionsästhetische Affirmation des Comics um. Die Macht der Phantasie triumphiert am Ende von Flix’ Don Quijote wie die Macht der Liebe am Ende seines Faust.30

V. Bereits bevor er in dem eingangs analysierten Panel bildlich in Erscheinung tritt, begegnet uns Alonso Quijano als Verfasser eines an den »Märkischen Volksfreund« adressierten Leserbriefs, in dem er vor Comics warnt, da diese »den Analphabetismus fördern und grade junge Menschen, die noch geistiger und moralischer Festigung bedürfen, zu Gewalt und Rache erziehen« (DQ 1). Ähnlich wie Nicolas Mahler in einigen seiner Metacomics einseitige und somit fehlgeleitete Rezeptionsmodi von Comics der Lächerlichkeit preisgibt,31 legt Flix seiner skurrilen Figur die hinlänglich bekannten Argumente von Kulturkritikern in den Mund, die – zumal in Deutschland – im Medium Comic lediglich eine primitive Form der Unterhaltung sehen, die als Symptom eines allgemeinen kulturellen Verfalls zu werten ist.32 Besonders weit ging in seiner Kritik der deutsch-amerikanische 28 Vgl. Flix: Die held-Trilogie, Hamburg 2014, S. 27. 29 Vgl. hierzu auch Auerbach: Mimesis, S. 327. 30 Vgl. hierzu den Beitrag von Mara Stuhlfauth-Trabert in diesem Band. 31 Vgl. hierzu insbesondere Nicolas Mahler: Franz Kafkas nonstop Lachmaschine, Berlin 2014, S. 49-62. Expliziter noch als Flix setzt sich Mahler dabei für eine Hybridisierung der Stile und Kunstformen ein. 32 Vgl. Schmitz-Emans: Literatur-Comics, S. 18-20. Dass diese kulturpessimistische Form der Comickritik bis zum heutigen Tag präsent ist, zeigt etwa eine AmazonKundenrezension zu Flix’ Faust. Am 14. April 2012 hat ein Rezensent mit dem bezeichnenden Namen »Teutoburger Wald« folgendes geschrieben: »Kann […] mir mal jemand sagen, aus welcher Höhe man auf den Kopf fallen muß, um diesen verschwurbelten Käse zu goutieren? / Die FAZ ist schon seit langem nur noch ein Schatten ihrer selbst und gerade das Feuilleton kann [sic] mittlerweile in die Papiertonne treten und dieser Comic-Quatsch ist ihr getreue [sic] Spiegel. / Mannoman, hätten wir doch erst 1912, dann wüßte man noch nicht um den schmerzlichen Abgang [sic] des Abendlandes.«

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Psychologe Fredric Wertham, der in seinem 1954 publizierten Buch Seduction of the Innocent Comics als jugendgefährdend einstufte. In Batman und Robin sah Wertham ein homosexuelles Paar, so dass die Lektüre von Batman-Comics seiner Auffassung zufolge eine verheerende Wirkung auf die psychosexuelle Entwicklung von Kindern haben könne.33 Seine These, dass die Comiclektüre bei Kindern Leseschwächen bewirke, führte der Psychologe hingegen am Beispiel einer frühen Comicadaption des Don Quijote aus: One of these [comic book sections] is a supercondensed comic-book version of Don Quixote. You see him lying on the ground: »The servants beat Don Quixote mercilessly and although he swore vengeance he was helpless as a beetle on his back.« / When a publisher was asked recently about his spreading of the comic-book style to regular publications he answered: »That is simple. We are retooling for illiteracy.« / All the negative effects of crime comics on children in the intellectual, emotional and volitional spheres are intensified by the harm done in the perceptual sphere. Comic books are death on reading.34

Im Kontext von Flix’ Don Quijote-Adaption ist die besondere Pointe dieser Comickritik darin zu sehen, dass diese – zumeist vermutlich unwissentlich – Argumente wiederholt, die in der frühen Neuzeit gegen den Roman vorgebracht wurden. Orthodoxen Literaturkritikern im spanischen Siglo de Oro, der Zeit Cervantes, galt der Roman aufgrund einer einseitigen Auslegung der aristotelischen Poetik als unnützer Zeitvertreib, weil er bloß historias fingidas, erfundene Geschichten, und keine historias verdaderas, wahrhaftige Geschichten, verbreitete.35 Mit einem Wort: ›Romane sind gefährlich!‹ Genau dieses Argument überträgt Alonso Quijano auf den Comic, wenn er an die Redaktion des »Märkischen Volksfreunds« schreibt: »Schauen Sie genau hin, und Sie werden sehen: Comicge(http://www.amazon.de/product-reviews/ 3551789770/ref=cm_cr_dp_hist_one?ie=UT F8&filterBy=addOneStar&showViewpoints=0, letzter Zugriff am 11. Februar 2014). 33 »Only someone ignorant of the fundamentals of psychiatry and of the psychopathology of sex can fail to realize a subtle atmosphere of homoerotism which pervades the adventures of the mature ›Batman‹ and his young fried ›Robin‹. Male and female homoerotic overtones are present also in some science-fiction, jungle and other comic books. / Just as ordinary crime comic books contribute to the fixation of violent and hostile patterns by suggesting definite forms for their expression, so the Batman type of story helps to fixate homoerotic tendencies by suggesting the form of an adolescentwith-adult or Ganymed-Zeus type of love-relationship.« (Fredric Wertham: Seduction of the Innocent. New introduction by James E. Reibman, Laurel NJ 2004, S. 120f.) 34 Wertham: Seduction of the Innocent, S. 120f.; Hervorhebung im Original. 35 Vgl. Neuschäfer: Cervantes und der Roman des Siglo de Oro, S. 126.

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schichten sind gefährlich! Denn sie haben nichts mit der Realität zu tun.« (DQ 1) Aus einer historischen Perspektive werden die Warnrufe Alonso Quijanos zwar nicht direkt widerlegt, aber zumindest relativiert, wenn man sich vor Augen führt, dass der Roman im Gattungsgefüge spätestens seit dem 18. Jahrhundert über ein sehr hohes Prestige verfügt. Alonso Quijanos direkt zu Beginn des Comics abgedruckte Aufforderung »Schauen Sie genau hin« lässt sich indes auch als implizite Anweisung an den Leser respektive Betrachter von Flix’ Don Quijote verstehen. Denn bei einer genauen Lektüre zeigt sich, dass Alonso Quijano trotz seiner einseitigen Ablehnung von Comics seinem comicversessenen Enkel Robin sehr ähnlich ist. Auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, als übernehme vor allem Robin den Part des durch Lektüre verrückt gewordenen Hidalgos, ist tatsächlich Alonso Quijano der ›dunkle Ritter von der traurigen Gestalt‹, die Synthese von Don Quijote und Batman. Dies verdeutlicht vor allem die berühmte Radierung Francisco de Goyas, El sueño de la razón produce monstruos, die als Reproduktion in der Wohnung Quijanos hängt (vgl. DQ 16).

Abb. 3: links: Flix: Don Quijote, S. 16; rechts: Goya: El sueño de la razón produce monstruos

Der interpikturelle Verweis auf Goyas Radierung – der sich mit durchaus vergleichbarer Funktion auch in Mahlers Comicadaption von Thomas Bernhards Roman Alte Meister findet36 – steht im Schnittpunkt unterschiedlicher Bedeu36 Vgl. Nicolas Mahler: Alte Meister, Berlin 2011, S. 27; vgl. hierzu auch den Beitrag von Monika Schmitz-Emans in diesem Band.

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tungsebenen von Flix’ Don Quijote. Bei der Radierung handelt es sich wie auch beim Comic um eine Text-Bild-Kombination, die jedoch eher in der Tradition der frühneuzeitlichen Emblemata steht, da die Inschrift »El sueño de la razón produce monstruos« als Interpretationsanweisung zu verstehen ist. Gemäß dem Doppelsinn des spanischen Worts ›sueño‹, das gleichermaßen ›Traum‹ wie ›Schlaf‹ bedeutet, ergeben sich dabei allerdings zwei konträre Interpretationsmöglichkeiten. Versteht man ›sueño‹ in der Bedeutung von ›Traum‹, so erscheinen die Monster im romantischen Sinn als Erzeugnisse einer gestalterischen Kraft des Träumenden, womit einmal mehr die produktive Kraft der Phantasie angesprochen wäre; versteht man hingegen ›sueño‹ in der Bedeutung von ›Schlaf‹, so ergibt sich eine Interpretation im Sinne der Aufklärung, aus deren Sicht die Stilllegung der Vernunft als Bedrohung erscheinen muss. Der Doppelsinn der Radierung bleibt erhalten, wenn man die ganz ähnlich strukturierte Illustration Goyas zum Don Quijote einbezieht, die den verrückten Hidalgo zusammen mit den Produkten seiner Lektüre zeigt. Im Falle von Flix’ Don Quijote ergibt sich eine zusätzliche Bedeutungsdimension durch den Umstand, dass die am rechten oberen Bildrand aufsteigenden Fledermäuse deutlich das Batman-Zeichen evozieren, so dass ›Hochkultur‹ und ›Populärkultur‹ eine unauflösliche Verbindung eingehen. Die ›Monster‹, die Alonso Quijanos Phantasie heimsuchen, haben die Gestalt Batmans, da er sich als selbsternannter Superheld im Kampf gegen eine unverstandene Gegenwart befindet. Dem entspricht, dass Alonso die Radierung Goyas kurzentschlossen übermalt und zu einem Schild bei seiner Ein-Mann-Demonstration gegen den Ausbau der Windenergie in Mecklenburg umfunktioniert. Bestätigt wird dieser Befund durch die Gehirntomographie, die bezeichnenderweise in einem nach Francisco Goya benannten Klinikum erstellt wird: Auch wenn wir in diesen Panels ohne Sprechblasen nichts von der Diagnose des Arztes erfahren, können wir als Leser aufgrund der Bildlogik unsere eigene Diagnose erstellen, da die Querschnitte durch Alonsos Kopf gleichfalls an das Batman-Zeichen erinnern (vgl. DQ 61). Das Zitieren von Bildern im Comic steigert sich im Laufe der Handlung des Don Quijote zunehmend zum Zitieren von Comics im Comic. Flix folgt hier auch in struktureller Hinsicht dem Modell von Cervantes’ Roman, in dessen Zweitem Teil der Autor mit narrativen Metalepsen experimentiert und dabei die Grenze zwischen der extra- und der intradiegetischen Erzählebene aufhebt:37 Den Figuren des Zweiten Teils sind der dürre Hidalgo und sein beleibter Knappe bereits als die Protagonisten des Ersten Teils bekannt, so dass der Zweite Teil zum MetaRoman des Ersten Teils wird. Dem entspricht, dass im Zweiten Teil des Romans die Initiative vorrangig von Don Quijotes Umfeld ausgeht, der – wie dies die 37 Vgl. zu diesem Phänomen grundsätzlich: Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, 4. Aufl., München 2003, S. 79f. und 88.

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Episode am Hof des Herzogpaares besonders deutlich macht38 – zum Spielball der anderen Figuren wird.39 Die Perspektive verlagert sich somit von Don Quijotes krankhafter Lektüre der Ritterromane zur gleichfalls nicht unproblematischen Rezeption des Ersten Teils durch die anderen Romanfiguren. Die Funktion dieser Metalepsen ist in Flix’ Fassung indessen eine andere als in der Vorlage: Nach dem desengaño Robins kann Alonso Quijano seinen Wahn nur noch aufrechterhalten, indem er auf die von ihm zuvor so vehement bekämpften Comics im »Märkischen Volksfreund« verweist, die auf einer Binnenebene von den bereits geschehenen Abenteuern des Großvaters mit seinem Enkel erzählen (vgl. DQ 112). Dem argumentativen Kurzschluss entspricht der narrative Kurzschluss. Dass die zum vermeintlichen Beweis angeführten Comicpanels nicht nur die Abenteuer Alonsos und Robins, sondern auch einen zeitungslesenden Bewohner des Altersheims zeigen, aus dem der Protagonist entflohen war, verleiht der narrativen Metalepse zugleich die Struktur einer mise en abyme. Diese Spiegelung regt wiederum den Leser, der ja gleichfalls einen Comic in den Händen hält, dazu an, seine Rezeption des Comics zu reflektieren.

Abb. 4: Scott McCloud: Comics neu erfinden, S. 31. 38 Cervantes: Don Quijote, S. 854-1088. 39 Vgl. Neuschäfer: Cervantes und der spanische Roman des Siglo de Oro, S. 144.

Flix’ Don Quijote als Metacomic | 123

VI. Während Cervantes die Untergattung des Ritterromans der Lächerlichkeit preisgibt, um die Gattung des Romans zu retten, stellt sich Flix’ Don Quijote insgesamt als selbstbewusste und optimistische Verteidigung der Kunstform Comic dar, die nicht um den Preis einer Ausschließung des Superheldencomics aus dem Kanon dieser Kunstform geschieht. Heroisierte Scott McCloud in seinem Metacomic Reinventing Comics Will Eisner zu einem Visionär, der bei seinem Einsatz für die Anerkennung des Comics als Kunstform in einem aussichtslosen Kampf gegen Windmühlen befangen war,40 so erscheint bei Flix nun der Kampf gegen den Comic als eine Tat, die eines Ritters von der traurigen Gestalt würdig ist. In seinem selbstbewussten Einsatz für den Comic verzichtet Flix auf den bekanntlich von Will Eisner propagierten Begriff ›Graphic Novel‹ und spricht – entgegen der Bezeichnung, die der Verlag dem Don Quijote wie einen Stempel aufgedrückt hat – durchgehend von ›Comic‹.41 Dem entspricht, dass Flix im Gegensatz zu vielen anderen als ›Graphic Novels‹ etikettierten Werken nicht auf die Elemente einer traditionellen Comicästhetik verzichtet und sich auch in seinen beiden Literaturcomics zahlreiche Speedlines, Soundwords und Folienzeichen finden. Dem Schlachtruf Alonso Quijanos »Comics sind gefährlich« ließe sich vor diesem Hintergrund noch ein anderer, subversiver Sinn beimessen, an den der alte Sonderling nicht gedacht haben wird: Ja, Comics sind tatsächlich gefährlich, da sie bestehende Ordnungen unterlaufen: die Trennung einer textzentrierten Kultur von einer bildzentrierten Kultur, die Trennung von ›Hochkultur‹ und ›Populärkultur‹, die Trennung von hochwertigen ›Graphic Novels‹ und minderwertigen Comics. Auf diese Gefahr müssen wir uns einlassen.

40 Vgl. Scott McCloud: Comics neu erfinden. Wie Vorstellungskraft und Technologie eine Kunstform revolutionieren, übers von Jens Balzer, Hamburg 2001, S. 31. 41 Problematisch erscheint die von Ines Detmers mit großem terminologischen Aufwand betriebene Rechtfertigung des Begriffs ›Graphic Novel‹, da dieser – im Widerspruch zum poststrukturalistischen Ansatz Detmers – zu einer Hierarchisierung der verschiedenen Untergattungen des Comics beiträgt (vgl. Detmers: ›Erlesene Bilder‹ des Don Quijote, S. 292-296).

»Was lesen wir denn da?« – Über Nicolas Mahlers visuelle Verdichtung und intertextuelle Fortschreibung von H. C. Artmanns Frankenstein in Sussex W olfgang R eichmann

Alice in Sussex – schon der Titel der von Nicolas Mahler zunächst als Fortsetzungscomic im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichten und später in überarbeiteter Form als Buch erschienenen Comicliteraturadaption ist in gewisser Hinsicht die Kurzfassung einer Methode: ›Aus Zwei mach Eins‹. Lewis Carrolls Roman Alice im Wunderland und seine Fortsetzung Alice hinter den Spiegeln auf der einen, H. C. Artmanns Erzählung Frankenstein in Sussex1 auf der anderen Seite, eine Verknüpfung zweier literarischer Vorlagen, eine Engführung, eine Verdichtung, wie die aus zwei Elementen zusammengesetzten Portmanteau- oder ›Schachtelwörter‹ in Carrolls berühmtem Jabberwocky-Gedicht.2 Alice in Sussex – hinter dieser nur vordergründigen Beschränkung auf lediglich zwei literarische Textvorlagen verbirgt sich eine wuchernde Vervielfachung von Bedeutungen und Quellen. Bereits Artmanns Frankenstein in Sussex für sich ist eine vielschichtige intertextuelle ›Verschachtelung‹, eine komplexe Motiv- und Figurenmontage aus den unterschiedlichsten literarischen und außerliterarischen Bezügen und Anspielungen. Schon durch die Rückführung der Carroll-Bearbeitung Artmanns in den Kontext ihres ursprünglichen Prätextes wird die Comic-Alice bei Mahler zu einer gedoppelten, zweifachen Alice – ein Umstand, der auf den ersten Seiten bereits durch die vorübergehende körperliche Aufspaltung der tag1 H. C. Artmann: Frankenstein in Sussex, in: ders: Gesammelte Prosa II, hg. von Klaus Reichert, Salzburg/Wien 1997, S. 393-407. 2 »Nun, ›glaß‹ heißt ›glatt und naß‹. Das ist wie eine Schachtel, verstehst du: zwei Bedeutungen werden dabei zu einem Wort zusammengesteckt.« (Lewis Carroll: Alice hinter den Spiegeln, übers. von Christian Enzensberger, Frankfurt a.M. 1974, S. 90)

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träumenden Alice (in eine unter einem Baum am Bachufer sitzende und eine zweite, Gänseblümchen pflückende) anschaulich und mehrdeutig visualisiert wird.3

Abb. 1: Mahler: Alice in Sussex, S. 12f.

Mahlers ›in-eins‹-verdichtete Alice folgt in ihrer gleichzeitigen Doppelung im weiteren Verlauf Lewis Carrolls Kaninchen sowohl in eine phantastische Parallelwelt, wo sie einem bekannten Figurenensemble aus Raupe, Katze, Maus, Hutmacher, falscher Suppenschildkröte und dem ursprünglich einem alten englischen ›nursery rhyme‹ entstammenden Humpty Dumpty (oder Goggelmoggel) begegnet, als auch – auf einer zweiten Ebene – in H. C. Artmanns Sussex, wo sie unter den Augen von Grimms Frau Holle und der Schriftstellerin Mary Shelley nach dem Sturz durch ein Schornsteinloch in einem unterirdischen Haus in der Nähe von Jules Vernes Mittelpunkt der Erde in den Fängen von Frankensteins Monster landet. Frankenstein wiederum ist kein Unbekannter in Mahlers bisherigem Werk. In seinem Buch Van Helsing macht blau4 etwa lässt er das Frankenstein3 Vgl. Nicolas Mahler: Alice in Sussex. Frei nach Lewis Carroll und H. C. Artmann, Berlin 2013, S. 12f.; im Folgenden zitiert mit der Sigle AS und Seitenangabe; der Strip Alice in Sussex (im Folgenden zitiert mit der Sigle AS-Strip), der von Mahler für die Buchausgabe von Grund auf neu gezeichnet wurde, teilweise gekürzt, teilweise erweitert, erschien ab Anfang November 2012 in 65 Teilen im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ist auch online verfügbar: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/cartoons/nicolasmahler-alice-in-sussex-11950186.html (letzter Zugriff am 22. Mai 2014). 4 Nicolas Mahler: Van Helsing macht blau, Berlin 2008; zuerst 2004 bei Top Shelf erschienen als Van Helsing’s Night Off.

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Monster mit einem nicht zuletzt an H. C. Artmann erinnernden, aus Heftromanen und Horrorfilmen entlehnten Personal, dem unter anderem auch Graf Dracula und der Vampirjäger Van Helsing angehören, in kurzen Episoden jeweils paarweise – Artmann würde wahrscheinlich sagen in »Paarodien«5 – mit Wolfsmensch, Mumie und Zorro interagieren; und 2002, zehn Jahre vor Alice in Sussex, entstand der bisher nur in Frankreich als Buch erschienene und von Mahler mit einem literarisch nicht minder anspielungsreich komprimierten ›Schachtel-Titel‹ versehene Band Les souffrances du jeune Frankenstein6: Die Leiden des jungen Frankenstein. Angesichts einer solch vielfältigen, hier einleitend zunächst nur in aller Kürze angedeuteten inter- und intratextuellen Komplexität also statt des eingangs erwähnten Prinzips ›Aus Zwei mach Eins‹ und mit Blick auf den zuletzt evozierten ›Klassiker‹ vielleicht doch eher ›Aus Eins mach Zehn‹? Andreas Platthaus nannte Alice in Sussex in diesem Sinne eine »Addition«7, doch das ist nur die halbe Wahrheit. Beides – so soll im Folgenden gezeigt werden – ist für Nicolas Mahlers Alice in Sussex von entscheidender Bedeutung: Erweiterung und Reduktion. Beides geht dabei immer auch Hand in Hand. Mit der äußersten inhaltlichen und visuellen Verdichtung und verknappenden Komprimierung und Kombination von Stoffen, Motiven und Figuren – die doppelte Alice war dafür nur ein erstes Beispiel – geht eine ausufernde intertextuelle und intermediale Häufung und Wucherung der Quellen einher. In H. C. Artmanns Frankenstein in Sussex findet Mahler für seine Alice-Adaption ein in mehrfacher Hinsicht geeignetes Vorbild, eine literarische Konstellation, die sich motivisch nahtlos ins eigene Werk einfügen lässt, aber auch ein poetologisches Modell, an das er – nicht zuletzt auch in Hinblick auf die ursprüngliche Erscheinungsweise als Fortsetzungscomic – produktiv anknüpfen kann. Mahler adaptiert nicht nur den vorgefundenen Plot eines beliebigen Literaturklassikers, er begnügt sich nicht mit der Illustration vorgegebener Episoden. In Alice in Sussex treibt Mahler die komplexe Vielschichtigkeit seiner Vorlage noch auf die Spitze, indem er sich neben den diversen inhaltlichen Elementen auch die formalen, poetologischen Verfahren ihres Autors aneignet, diese weiterführt und seinen eigenen fortschreitenden Leseprozess dabei immer auch selbstreflexiv visualisiert. Mahler adaptiert nicht nur Artmanns Frankenstein in Sussex (und mit ihm seine vielen dazugehörigen Intertexte), er adaptiert auch Artmanns literarische Methode und verfolgt mit der transformierenden Fortschreibung letztlich auch – wie schon Artmann vor ihm – seine ganz eigenen Wege und Ziele. Die beiden der Buchausgabe von Alice in Sussex vorangestellten 5 Vgl. H. C. Artmann: Paarodien, in: ders: Gesammelte Prosa II, S. 301-305. 6 Nicolas Mahler: Les soufferances du jeune Frankenstein, Paris 2003. 7 Andreas Platthaus: Alice, wie sie keiner kennt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. November 2012.

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selbstironischen Motti bringen das zugrundeliegende Erzählinteresse Mahlers auf den Punkt: »Was soll das nur für einen Sinn haben? So etwas Wirres hab ich mein Lebtag noch nicht gehört!« heißt es da mit Lewis Carrolls Alice – und mit den Worten H. C. Artmanns antwortet der Autor und Zeichner Mahler in einer hier auch auf paratextueller Ebene realisierten dialogischen Engführung seiner beiden primären Quellen: »Jetzt wird es höchste zeit, daß ich auch meine hand ins spiel mische!« (AS 7) »Warum«, so Nicolas Mahler, »soll nicht der Hase aus Alice im Wunderland, die Alice aus dem Artmann-Text treffen, aber in Melville-Zitaten sprechen, zum Beispiel? Das klingt ein bisschen komisch, aber für mich ist das ganz normal«8. Mahler wurde vorgeworfen, Alice in Sussex sei ein an Stringenz mangelndes »eiliges Aneinanderreihen klingender Namen und Zitate.«9 Zugegeben, Mahler selbst nährt solche Urteile, wenn er in Interviews – in für ihn typischem Understatement – von der Entstehung des Comics und der Beiläufigkeit seiner Arbeitsweise erzählt: Er habe, so Mahler, »ziemlich viel parallel gelesen, und das hat sich irgendwie unabsichtlich so vermischt«10. Sein Comic sei »mehr oder minder eine Improvisation«, in die das Gelesene »ohne großen Plan«, wie er sagt, »irgendwie eingeflossen«11 sei. Im Folgenden soll – zunächst ausgehend von einem Blick auf die Poetik H. C. Artmanns und dessen Erzählung Frankenstein in Sussex – anhand ausgewählter Beispiele gezeigt werden, wie komplex Mahlers nur scheinbar ›wirre‹ und ›planlose‹ Improvisation im Spannungsfeld zwischen werktreu-detaillierter Adaption und eigenständig-freier Transformation konstruiert und komponiert ist, wie konsequent und durchdacht sich die Figuren- und Motiv-Montage in ihren visuellen und intertextuellen Kontexten entfaltet und wie genau und hintersinnig Mahler liest, zeichnet und zitiert. Denn bei aller Verspieltheit – er habe sich, wie er sagt, bei der Arbeit am Buch gefühlt »wie ein Kind, das auf einen Spielplatz kommt, der bisher immer verschlossen war«12, meint es Nicolas Mahler durchaus ernst. Und er nimmt seine Vorlagen und seine Lektüren ernst. Er wolle, so betont er mit Blick auf sein zwischen Tragik und Komik angesiedeltes Verständnis von Witz und Humor und seinen persönlichen Zugang zur 8 Nicolas Mahler, zit. nach: Nico Weber: Existenzialist des Humors. Nicolas Mahler adaptiert Alice neu. http://www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/lesezeit/168375/index. html (letzter Zugriff am 22. Mai 2014). 9 Sarah-Maria Deckert: Wo das weiße Kaninchen im Pfeffer liegt, in: Der Tagesspiegel, 2. April 2013. 10 Nicolas Mahler, zit. nach: Christoph Huber: Die doppelte Alice, in: Die Presse, 9. März 2013. 11 Nicolas Mahler, zit. nach: Zita Bereuter: Durchgeknallt im Wunderland. http://fm4.orf. at/stories/1714696 (letzter Zugriff am 22. Mai 2014). 12 Nicolas Mahler, zit. nach: Huber, Die doppelte Alice.

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Frage nach dem Trend literarischer Comicadaptionen generell, »nicht verblödeln: keine Parodie, nur das Buch übertrieben weiterspinnen«13.

H. C. A rtmanns F rankenstein

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S ussex

Mit seinem Interesse am improvisatorischen Fortschreiben literarischer Muster und Inhalte bewegt sich Nicolas Mahler ganz nah an der Poetologie H. C. Artmanns. Spontaneität und die Lust am wuchernden Assoziationsfluss sind nicht zuletzt auch zwei der bestimmenden Charakteristika von dessen literarischer Arbeit. Der »Grundtenor« seiner Werke, so Artmann, sei immer der gleiche: »das Unerwartete, das Abenteuerliche«14. Es sei ein Schreiben »aus dem Bauch raus«15, versehen mit dem »Reiz des Spontanen«16. Um die spontan-assoziative Erzählmaschine in Gang zu setzen, benötigt Artmann jedoch ein Gerüst, an das sich die Phantasie und die literarischen Einfälle angliedern lassen, »ein poetisches Vehikel«, so Jörg Drews, »um sich in immer neue erzählbare Situationen zu begeben«17. Klaus Reichert spricht in diesem Zusammenhang von einer spezifisch Artmann’schen »Poetik des Einfalls«18, einer Art des Schreibens, die inhaltlich und formal angewiesen ist auf das Vorhandensein vorgegebener Muster, Bezugsrahmen oder ›Raster‹, aus denen heraus und an denen entlang sich die jeweiligen poetischen Einfälle generieren und anknüpfen lassen.19 Literarische Genres wie Tagebücher (beispielsweise das in Bezug auf Artmanns Comicrezeption relevante Das suchen nach dem gestrigen tag20) oder Reiseerzählungen (wie unter anderem der auch von Nicolas Mahler in seine Alice integrierte Aeronautische Sindtbart21), 13 Nicolas Mahler, zit. nach: Huber, Die doppelte Alice. 14 Lars Brandt: H. C. Artmann. Ein Gespräch, Salzburg u.a. 2001, S. 81. 15 Michael Krüger: Wer es versteht, der versteht es. H. C. Artmann im Gespräch mit M. K., in: Gerhard Fuchs/Rüdiger Wischenbart (Hg.): H. C. Artmann (= Dossier, Bd. 3), Graz/Wien 1992, S. 11-18, hier S. 12. 16 H. C. Artmann: Ein Gedicht und sein Autor, in: Klaus Reichert (Hg.): The Best of H. C. Artmann, Frankfurt a.M. 1975, S. 372-376, hier S. 374. 17 Jörg Drews: Der Churfürstliche Sylbenstecher. Sechs Annäherungen an H. C. Artmanns Prosa, in: Fuchs/Wischenbart, H. C. Artmann, S. 171-181, hier S. 176. 18 Vgl. Klaus Reichert: Poetik des Einfalls. Zur Prosa Artmanns, in: Artmann: Gesammelte Prosa IV, hg. von Klaus Reichert, Salzburg/Wien 1997, S. 233-267. 19 Vgl. Reichert: Poetik des Einfalls, S. 240. 20 H. C. Artmann: Das suchen nach dem gestrigen tag, in: ders: Gesammelte Prosa II, S. 7-117. 21 H. C. Artmann: Der aeronautische Sindtbart, in: ders: Gesammelte Prosa I, hg. von Klaus Reichert, Salzburg/Wien 1997, S. 51-134.

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Gattungen also, die einen Autor unter anderem von Zwängen eines stringenten Handlungsaufbaus, von Figurenentwicklung und Motivation weitgehend befreien, sind für die auf diese Art und Weise entstehenden Texte ebenso kennzeichnend, wie Verfahren der Aufzählung, der Reihung von Szenen und Episoden, wie Montage, Collage, Zitat und Anspielung.22 Zu den bekanntesten und auffälligsten Beispielen für einen solchen Gebrauch vorgegebener Handlungsgerüste und Erzählraster in Artmanns Werk zählen die drei in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erschienenen Erzählungen rund um ein im kollektiven literarischen und kulturellen Bewusstsein verankertes Stoff- und Figurenrepertoire aus Horrorfilmen, Märchen, Mythen, Legenden, Phantastik, Nonsens-Literatur, Detektiv-, Abenteuer- und Schauerromanen; Geschichten auch rund um diverse zu den zentralen Leitmotiven und Lieblingsthemen in Artmanns Lyrik und Prosa zählende (und auch bei Nicolas Mahler in vielfältiger Form wiederkehrende) Menschenfresser, »mörder, monstren und unholde«23: so die ihre vielschichtig-multiple Quellenlage schon im Titel tragende Vampirerzählung dracula dracula24 – »Ein transsylvanisches Abenteuer« (1966) –, die Werwolf-Geschichte mit dem rätselhaften pseudotibetischen Titel tök ph’rong süleng25 (1967) und schließlich als intertextuell vielschichtigster der drei Texte: Frankenstein in Sussex (1969). »Sie werden das, was ich ihnen jetzt erzähle, kaum glauben«, heißt es in Form einer ironischen Beglaubigungsformel am Beginn von Artmanns Frankenstein und der Erzähler setzt, die Authentizität seiner Geschichte beteuernd, fort: »die folgenden vorfälle entsprechen tatsächlich der wahrheit, sie sind weder frisch erfunden noch einer bereits vorhandenen fiktion entnommen.«26 Was in den knapp über dreißig Kurzkapiteln der Erzählung dann jedoch tatsächlich folgt ist gerade das: eine wilde Mischung aus ›frisch Erfundenem‹ und ›bereits vorhandenen Fiktionen Entnommenem‹, ein durch die unterschiedlichsten fiktionalisierten ›realen‹ Figuren und außerliterarischen Bezüge und Verweise angereichertes Ineinander aus einem aus eigenen und fremden Quellen gespeisten Arsenal literarischer Stoffe, Motive und Figuren. Ein »poetisches Verfahren der Resteverwertung« und »poetische Leichenfledderei«27 nannte Monika Schmitz-Emans Artmanns Mon22 Vgl. Reichert: Poetik des Einfalls, S. 243. 23 Artmann: Frankenstein in Sussex, S. 403. 24 H. C. Artmann: dracula dracula. Ein transsylvanisches Abenteuer, in: ders: Gesammelte Prosa II, S. 163-175. 25 H. C. Artmann: tök ph’rong süleng, in: ders: Gesammelte Prosa II, S. 225-250. 26 Artmann: Frankenstein in Sussex, S. 393. 27 Monika Schmitz-Emans: Keine schöne Kunstfigur. H. C. Artmanns FrankensteinMonster als Modell des poetischen Verfahrens, in: Sprachkunst 18 (1987), S. 51-72, hier S. 65.

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tage- und Collage-Methode in Frankenstein in Sussex einmal treffend mit allegorischem Blick auf die aus Versatzstücken zusammengesetzte künstliche Kreatur. Durch ein aus der Erde herausragendes Schornsteinloch28 in Sussex stürzt Artmanns Alice »tief tief tief«29 in eine fremde Welt – so wie Lewis Carrolls Alice zuvor, »down down down«, durch einen Kaninchenbau und so wie die schöne und fleißige Schwester aus dem Grimm’schen Märchen Frau Holle durch einen Brunnenschacht. Artmanns Alice landet jedoch im Dachgeschoss eines unterirdischen Gebäudes und in einem Topf kalter Schwanensuppe, worauf ihr himmelblaue Schwanenflügel wachsen. Dort wohnt das »seit etwas mehr als hundertundfünfzig jahren«, also etwa seit der Erstveröffentlichung von Mary Shelleys Roman, »auf eine braut«30 wartende riesenhafte Frankenstein’sche Monster, dem Alice in ein 699 Stockwerke tiefer unter der Erde gelegenes Musikzimmer folgt, nachdem sie ihm dabei behilflich war, übergroße »schuhe nummer 65«31 anzuziehen. Um die Tasten einer Orgel zu erreichen und dem Monster darauf die Melodie des englischen Nursery Rhymes und Kinderliedes Three Blind Mice vorzuspielen, dessen Text bereits verdeckt auf die spätere Verfolgungsjagd vorausweist, nimmt Alice auf dem Schoß des Ungeheuers Platz, das jedoch, wie es heißt, »nicht nur verlangen nach musik in seinem künstlichen sinn«32 verspürt. Aufgrund der fortschreitenden Zuspitzung des sexuellen Übergriffs beschließt Frau Holle aktiv ins Geschehen einzugreifen. Weit entfernt »im blauen himmel«33 verfolgt diese gemeinsam mit der Schriftstellerin Mary Shelley, die ihr aus einem Buch das Grimm’sche Märchen Prinz Schwan vorliest, über ein Fernsehgerät die Ereignisse. Sie unterstützt zunächst mit ihren Zauberkräften den wie Frank Zappa aussehenden Hippie Wilbur von Frankenstein und den gutaussehenden »gentleman in jägerrock und kniehosen«34 John Hamilton Bancroft – ein auch aus anderen Texten Artmanns bekanntes Alter Ego des Autors35 – auf ihrer Suche nach der inzwischen um Hilfe rufenden Alice. Nach einer längeren Verfolgungsjagd und schließlich angekommen im untersten, 999. Stockwerk am Ufer eines Flusses »der den mittelpunkt dieser 28 Zur sexuellen Konnotation von Schornsteinen im Werk H. C. Artmanns vgl. z. B. Artmann: Der aeronautische Sindtbart, S. 68: »nudelfabriken mit freudianisch langen schornsteinen«. 29 Artmann: Frankenstein in Sussex, S. 393. 30 Artmann: Frankenstein in Sussex, S. 406. 31 Artmann: Frankenstein in Sussex, S. 395. 32 Artmann: Frankenstein in Sussex, S. 397. 33 Artmann: Frankenstein in Sussex, S. 395. 34 Artmann: Frankenstein in Sussex, S. 394. 35 Vgl. John A. Bancroft in Artmanns tök ph’rong süleng und Johann Adderley Bancroft in Artmanns dracula dracula.

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Verne’schen welt durchfließt«36 werden die fliegende Alice und Bancroft von Frau Holle gerettet, unter Zuhilfenahme eines Atom-U-Boots, einer Mischung aus Jules Vernes ›Nautilus‹ und der ›Yellow Submarine‹ aus dem ebenfalls von Montage- und Collagetechniken geprägten psychedelischen Beatles-Zeichentrickfilm aus dem Jahr 1968, an dessen deutscher Übersetzung Artmann beteiligt war.37 In Mary Shelley schließlich, die im Gegensatz zu Frau Holle für ihr eigenes literarisches Geschöpf Partei ergreift – »Meinen sie wirklich, daß das geschöpf meiner phantasie dem des herrn carroll böses will?«38, fragt sie im Text einmal selbstreflexiv –, findet das Monster am Ende der Erzählung seine »so lange entbehrte braut«39, und es kommt zur Vereinigung zwischen literarischer Figur und Autorin. »Ich bin ein Kuppler und Zuhälter von Worten und biete das Bett«40, schreibt H. C. Artmann einmal in einer poetologisch aufschlussreichen Selbstinterpretation eines seiner Gedichte. Artmann kombiniert und verdichtet in seiner Erzählung sowohl Entlegenes – ›verkuppelt‹ Jules Verne, Frau Holle und die Beatles,41 aber etwa auch den literarischen Dr. Victor von Frankenstein mit dem außerliterarischen Chirurgen Christiaan Barnard – der 1967, zwei Jahre vor Erscheinen der Erzählung, die erste erfolgreiche Herztransplantation durchführte –, als auch Verwandtes und motivisch nahe Beieinanderliegendes, so beispielsweise, wenn äußerliche und charakterliche Eigenschaften von Shelleys literarischem Frankenstein-Monster (etwa die Liebe zur Musik) und Klischees aus der filmischen Tradition des Mythos (z.B. die übergroßen Schuhe oder die Verwechslung der Gehirne) mit eigenen Erfindungen in einer einzigen Figur kombinatorisch ineinandergelagert werden. Es ist wohl nicht zuletzt gerade diese Art von ungebremstem Wechsel- und Zusammenspiel aus ›allesfressender‹ assoziativer Wucherung und episodischer Reihung bei gleichzeitig maximal komprimierender Verdichtung und Verknappung, die Nicolas Mahler zum ›übertriebenen Weiterspinnen‹ der Artmann-Erzählung im Comic inspiriert hat.

36 Artmann: Frankenstein in Sussex, S. 405. 37 Brandt: H. C. Artmann, S. 138. Im Film sieht man u.a. einen Mann mit bunten Schmetterlingsflügeln und erlebt die Transformation des Frankenstein-Monsters zur John Lennon-Figur. 38 Artmann: Frankenstein in Sussex, S. 397. 39 Artmann: Frankenstein in Sussex, S. 407. 40 Artmann: Ein Gedicht und sein Autor, S. 376. 41 In einem Interview hat sich Artmann wie folgt geäußert: »Mich interessieren mythologische Geschichten. Ich beginne märchenhaft, trachte aber danach, nicht in einen märchenhaften Ton zu verfallen: Da tritt neben Frau Holle Goofy auf.« (Bei mir ist ja alles erlogen, in: Die Presse, 10. Januar 1998)

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Artmanns Frankenstein in Sussex und seine literarischen Verfahren werden für Mahler zum kreativen Ausgangspunkt, zum Einfälle generierenden »poetische[n] Vehikel« und Assoziations-Raster, das in seinem Inneren und eingerahmt durch die Rekontextualisierung in den ursprünglichen Prätext Lewis Carrolls, eine fast unüberschaubare Vielzahl weiterer Intertexte und Handlungsmuster in sich aufzunehmen vermag. Die beschriebene Kombination aus Reduktion und Erweiterung erweist sich dabei als ideale Grundlage für die mediale Transformation in einen in seiner ursprünglichen Form in Fortsetzung erschienenen Comicstrip. Im Medium des Zeitungscomics und in den damit zusammenhängenden spezifischen medialen Vorgaben – in der Notwendigkeit der formalen und inhaltlichen Beschränkung auf einen täglich durch das Zeitungsformat begrenzten Umfang etwa und die gleichzeitige kontinuierliche Reihung und Fortschreibung der Handlung über einen potentiell unbegrenzt langen Zeitraum – findet Mahler für Artmanns Frankenstein in Sussex und Carrolls Alice im Wunderland eine treffende und fruchtbare Entsprechung. Im Comicstrip fallen sowohl die charakteristische episodisch-inhaltliche Reihung als auch die formal-verknappende Verdichtung zusammen. Als den für die Gestaltung von Comics dieser Art wohl größten Einfluss auf sein Werk nennt Mahler in Interviews immer wieder George Herriman und dessen zwischen 1913 und 1944 erschienenen Comicstrip-Klassiker Krazy Kat.42 »Dieser Comic«, so Mahler, »war für mich der Auslöser überhaupt, so zu zeichnen, wie ich jetzt zeichne.«43 Gerade in Sachen der Verknappung und der Präzision sieht er in George Herrimans Strip ein großes Vorbild: »Weil man wenig Platz hat muss man einfach verknappen und komprimieren und so kleine Welten schaffen und nicht alles erklären und ausführen.«44 Insbesondere im Zusammenhang mit der Gestaltung der Panels und des Seitenlayouts scheint Mahler für Alice in Sussex sehr stark aus Krazy Kat geschöpft zu haben,45 etwa in der Verwendung teils äußerst ungewöhnlicher Panelformen,46 einer abwechslungsreichen Seitenarchitek42 http://www.comicradioshow.com/Article2954.html (letzter Zugriff am 22. Mai 2014). 43 http://fm4.orf.at/stories/1728780 (letzter Zugriff am 22. Mai 2014). 44 Nicolas Mahler: »Bei mir ist es immer auch Autobiographie« (http://titelmagazin.com/ artikel/19/7547/interview-mit-nicolas-mahler.html, letzter Zugriff am 22. Mai 2014). 45 »Er hat sehr viel mit Seitenlayout gespielt […]. [E]r hatte manchmal Seiten, die waren textlos. Dann waren sie wieder total zugetextet. Mal waren sie surreal. Mal waren sie still. Alles mit relativ einfachen Mitteln. Das hat mich angesprochen, dass man einfach aus seinem Hirn irgendwas rauszieht und auf dieses leere Blatt bringt.« (http://fm4.orf. at/stories/1728780, letzter Zugriff am 22. Mai 2014) 46 Vgl. etwa die hausförmigen Panels bei Mahler und Herriman; AS 57; George Herriman:

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tur oder in der motivisch je nach Thema und Inhalt der jeweiligen Episode häufig variierenden Aufmachung der Titelschriftzüge des Strips. In Bezug auf die gestalterische Verspieltheit und den formalen Einfallsreichtum steht Nicolas Mahler George Herriman dabei in nichts nach. Besonders auch im Vergleich zu Mahlers anderen Büchern und Comics fällt die in Alice in Sussex vorgenommene betont hohe Aufladung der Panelgestaltung und der Typographie mit thematischer und motivischer Bedeutung auf. Markante Beispiele dafür sind etwa die Verwandlung der karierten Tischdecke beim Besuch des in Rätseln sprechenden Hutmachers zu Panels in Kreuzworträtsel- und Labyrinth-Form (AS 6871; AS-Strip 23-28) oder der sich über Panel- und Seitengrenzen hinwegsetzende »weitschweifige« Schwanz einer Maus, der zum typographisch-handschriftlichen Erzählanfang von Melvilles Moby Dick – »Mein Name ist Ismael« (AS 61) – wird, einer kleinen Adaption innerhalb der Adaption, in der sich die Maus visuell mehrdeutig und in formalem Widerspruch zur epischen Erzählweise, in einer Nussschale – ›in a nutshell‹ – präsentiert. Für die Umarbeitung der fünfundsechzig Folgen des Alice-Strips zur innerhalb der Suhrkamp-Graphic-Novel-Reihe formal normierten Buchausgabe vollzieht Mahler gewissermaßen den Wechsel vom daily zum sunday strip, vom schwarzweißen täglich erscheinenden Zeitungscomic zur farbigen, einen größeren Gestaltungsspielraum eröffnenden Sonntagsseite. Neben der Umgestaltung vom Querzum Hochformat – Mahler hat den Strip für die Buchfassung von Grund auf neu gezeichnet – sticht so vor allem die gegenüber der Urfassung durchgängig blaue Kolorierung ins Auge, eine wohl nicht zufällig gewählte Farbe angesichts der zahlreichen, die verschiedenen von Mahler in Alice in Sussex zusammengeführten Intertexte durchziehenden Gewässer (etwa das Bachufer am Beginn der Alice, der Ozean aus Moby Dick oder der unterirdische Verne’sche Fluss), aber auch in subtiler visueller Bezugnahme auf die in Artmanns Frankenstein in Sussex dominant blaue Farbmotivik, die den Text in auffallender Häufung, etwa in Form von Alices himmelblauen Schwanenflügeln, dem »blaue[n] firn auf Spitzbergen«, dem »blauen himmel« oder Frau Holles »blauen augen« und ihrer »blauen marineuniform«47 atmosphärisch kennzeichnet. Gerade solche visuellen Intertexte oder Bildzitate sind es, die von der Genauigkeit der Lektüre Mahlers und seiner dichten, nicht zuletzt an Artmann geschulten Collagetechnik zeugen. Von John Tenniel, dem Illustrator der Carroll-Originalausgaben, übernimmt Mahler Elemente wie das kariert gemusterte Jackett des weißen Kaninchens, die gestreiften Strümpfe, Kleid und Schürze der Hauptfigur Alice oder die nicht zuletzt The Kat Who Walked In Beauty. The Panoramic Dailies of 1920, hg. von Derya Ataker, Seattle 2007, S. 67. 47 Artmann: Frankenstein in Sussex, S. 393, 402, 395, 396 und 405.

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auch über den Disney-Zeichentrickfilm im kollektiven Bewusstsein verankerte Gestalt der grinsenden Edamer-Katze oder Cheshire Cat. Direkt aus der ArtmannVorlage – und ohne dessen Kenntnis kaum verständlich – stammt der rein visuelle Bezug auf das auf der Orgel des Monsters gespielte Three Blind Mice, das bei Mahler ausschließlich bildlich, durch drei in Sprechblasen aus dem Schornsteinloch herausragende Notensymbole visuell zitiert wird, (vgl. AS 110f.; AS-Strip 52f.) wie auch mit für Mahler typischer Reduktion und zugleich höchster Präzision die Garderobe Mary Shelleys, die, in strenger visueller Übersetzung, »mit einer langen, hochgeschlossenen grauen seidenrobe bekleidet«, eine »siebenmal um den hals geschlungene echte perlenkette«48 trägt (vgl. AS 104; AS-Strip 50).

Abb. 2: Mahler: Alice in Sussex, S. 110f.

Und ähnlich wie bei Artmann, setzt sich auch bei Mahler die äußerliche Gestalt des Frankenstein-Monsters aus den unterschiedlichsten motivischen und stofflichen Elementen zusammen: aus den üblichen, primär filmisch überlieferten Frankenstein-Klischees, wie den klobigen Schuhen und den Narben im Gesicht, aber auch textnah visuell adaptiert durch die der Artmann-Erzählung entnommene äußerliche Charakterisierung des Ungeheuers als »wunderseltsamer totempfahl aus Britisch Kolumbien«49 sowie darüber hinaus verknüpft mit einer Anspielung auf das eigene Werk, in Form des schon aus Mahlers Les soufferances du jeune Frankenstein und Van Helsing macht blau bekannten Frankenstein-Markenzeichens der antennenartigen Schraube im Kopf. Solche gestalterischen Elemente 48 Artmann: Frankenstein in Sussex, S. 399. 49 Artmann: Frankenstein in Sussex, S. 403.

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tragen innerhalb von Alice in Sussex ganz entscheidend zum so überaus dichten intertextuellen Charakter der Figuren, der Handlung und des Buches insgesamt bei und sind ein wesentlicher Bestandteil des von Mahler auf sämtlichen – sowohl sprachlichen als auch visuellen – Ebenen realisierten vielschichtig verschachtelten ›Ineinanders‹. In einem poetologisch zentralen Meta-Panel des Comics wird diese Methode der intertextuellen Mise-en-abyme von Mahler auf anschauliche Art und Weise auf engstem Raum komprimiert. Alice und das Kaninchen finden sich da in einem zu einer Art Comicseite verwandelten Umzugskarton voller Bücher wieder, der die beiden Figuren auf den in den Karton integrierten Panels gleich mehrfach enthält (vgl. AS 52f.).

Abb. 3: Mahler: Alice in Sussex, S. 52f.

Während das Kaninchen verschiedene Bücher hervorholt, die jeweiligen Titel explizit nennt und kommentiert, möchte Alice – mit an den Schauplatz der ArtmannHandlung angepassten Worten Lewis Carrolls – viel lieber wissen, wie sie »aus diesem schrecklichen Haus [wieder] heraus finde[n]«50 kann, worauf das Kaninchen, hinter dem sich – in typischer Mehrfach-Überlagerung der Figuren bei Mahler – auch ein den naiv-gutgläubigen Candide begleitender »zweiter Pangloß«51 50 Vgl. Carroll: Alice hinter den Spiegeln, S. 55. 51 Vgl. AS-Strip 43; Mahlers Goggelmoggel zitiert Voltaire: »Ah, das ist ein Gelehrter! […] Ein großer Mann!« (Mahler: Alice in Sussex-Strip, Nr.43), worauf im Originaltext bei Voltaire – von Mahler gezielt ausgespart – folgt: »er ist ein zweiter Pangloß« (Voltaire: Candide oder Der Optimismus. München 2005, S. 118).

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verbirgt, mit einem abgewandelten Voltaire-Zitat erwidert: »Wieso schrecklich? Wir befinden uns in einem prächtigen Haus in der besten aller möglichen Welten!« (AS 52; Hervorhebung im Original) In Nicolas Mahlers Alice in Sussex erweist sich diese »beste[.] aller möglichen Welten« als eine Welt der Bücher und der Literatur. Seine Alice landet nach ihrem Sturz durch den Schornstein so auch sinnigerweise nicht in Carrolls Wunderland und nicht im Dachgeschoss des ArtmannMonsters, sondern kopfüber in einer Bibliothek. Ihren Ausgang nimmt die abenteuerliche Reise durch die unterirdische Bücherwelt jedoch zunächst in einer bis in die exakte Wiedergabe der direkten und indirekten Rede genaue Adaption des Erzählanfangs von Lewis Carrolls AliceRoman, der das rahmende Erzählgerüst, gewissermaßen die literarische ›Schachtel‹ bildet, in die Mahler die in sich schon intertextuell verschachtelte ArtmannErzählung vielschichtig re-integriert. Die dort bereits angelegte Selbstreflexivität überträgt er variierend in seine Transformation, indem Mahler seiner Alice H. C. Artmanns Frankenstein in Sussex zur Lektüre in die Hand legt, das auf diese Weise zum autoreflexiven ›Buch im Buch‹ wird. »Was lesen wir denn da?«, fragt das plötzlich auftauchende (den Verlauf der Carroll-Adaption unterbrechende) Kaninchen und stellt der gelangweilten, sich über das Fehlen von Abbildungen im Buch beklagenden Alice, »eine aufwendig illustrierte Erstausgabe« (AS 14f.; vgl. AS-Strip 2)52 in seinem Kaninchenbau in Aussicht. Die dadurch in Gang gesetzte ausgedehnte Suche nach dem illustrierten Frankenstein in Sussex wird – und mit ihr Mahlers Alice in Sussex insgesamt – zu einer doppelten, zweifachen Annäherung an Artmanns Text. So zum einen in Form der Reise von Alice durch das unterirdische Gebäude: Angelehnt an die episodische Reihenstruktur der Alice-Romane Carrolls und angereichert durch verschiedene Elemente der Artmann-Erzählung begleitet Mahlers Alice das Kaninchen auf einer vordergründig letztlich erfolglos verlaufenden Suche nach dem illustrierten Buch in Bücherregalen, Umzugskartons und in Bücher-Wühlkisten. Auf ihrem Weg immer tiefer in das subterrane Haus, begegnet sie – in stetigem Wechsel von Episoden und Handlungselementen aus Werken Carrolls, Artmanns, Voltaires, Melvilles und diversen weiteren Ergänzungen Mahlers – einem in rätselhaften, leitmotivisch und thematisch vernetzten, in offenen und verdeckten Zitaten und Anspielungen sprechenden, aus den unterschiedlichen Quellen verdichteten Personal. Immer tiefer verstrickt in das intertextuelle Netz, landet Alice schließlich in den Fängen des Frankenstein-Monsters, womit 52 Tatsächlich existiert eine von Hans Arnold illustrierte Ausgabe von Frankenstein in Sussex, die in den 70er Jahren in einer unzensierten und einer zensierten Version in der Reihe »Bilderbücher für Erwachsene« im Münchner Lentz-Verlag erschienen ist. (H. C. Artmann/Hans Arnold: Frankenstein in Sussex, München (o. J.) [1974]).

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der Comic – bis zum erlösenden Weckruf der Carroll-Schwester – in seinem letzten Drittel zur ausschließlichen und auffällig textnahen Adaption der ArtmannVorlage übergeht. Auf diese Weise findet Alice gegen Ende ihrer phantastischen Reise durch die Literatur- und Bücherwelt doch noch die gesuchte, mit Abbildungen versehene Frankenstein-Ausgabe, jedoch anders als erwartet, indem sie zuletzt selbst zur Hauptfigur jenes illustrierten Buches wird, auf dessen Suche sie sich zu Beginn begeben hat. Alice in Sussex kann zum anderen aber auch als die Annäherung des Autors und Zeichners Nicolas Mahler an die von seinen Figuren gesuchte illustrierte Fassung gelesen werden, als die zum Comic gewordene eigene Suche Mahlers nach einer für ihn und für die Poetik H. C. Artmanns angemessenen Form der Comicliteraturadaption. Alice in Sussex wird in diesem Sinne zur Visualisierung der umfassenden Auseinandersetzung Mahlers mit Artmanns Erzählung und ihrem vielfältigen Stoff- und Motivgehalt, zur Visualisierung der assoziativ-intertextuellen Lektürewege des Autors durch Artmanns Gesamtwerk, damit motivisch verknüpfter Texte und eigener persönlicher Lieblingsbücher; zur Sichtbarmachung eines ›work in progress‹, der fortschreitenden Erprobung und Weiterführung der in Frankenstein in Sussex angewandten poetischen Verfahren im Comic. In den primären Vorlagen bereits angelegte zentrale Themen wie Langeweile, Kindheit, Jugend und nicht zuletzt die dominante Monster-, Ungeheuer- und Menschenfresser-Motivik nimmt Mahler zum Ausgangspunkt für seinen eigenen Lese- und Assoziationsprozess, der auf vielfältige Weise angereichert und erweitert wird um verschiedenste, schon die tragikomischen Antihelden von Flaschko53 über Kratochvil54 bis Engelmann55 prägenden und von Autoren wie Voltaire und Emil Cioran stark beeinflussten, die absurde Komik und den schwarzen Humor bestimmenden Themen wie Leben, Tod und Vergänglichkeit, Skepsis und Pessimismus. Wie genau und durchdacht, und keineswegs beliebig oder wirr Mahler seine verdichteten Zitate – poetologisch und motivisch an Artmann orientiert – dabei in Alice in Sussex montiert und arrangiert, zeigt besonders deutlich die Episode mit dem Hutmacher, die ihren ausgeprägten Rätselcharakter – wie erwähnt – nicht zuletzt auch schon auf visueller Ebene vermittelt. Mahler bedient sich hier eines Verfahrens des verdeckten Zitierens, der Verwendung komprimierter, entstellter, aus ihren Ursprungszusammenhängen herausgelöster Zitate, die sich an der Oberfläche zwar thematisch in den Zusammenhang der Erzählung einfügen lassen, darüber hinaus aber unterschwellig und vielfach verdeckt, im Kontext des gerade Nicht-Zitierten, eine erweiterte Bedeutung entfalten und so das intertextuelle 53 Nicolas Mahler: Flaschko. Der Mann in der Heizdecke, Zürich 2002. 54 Nicolas Mahler: Kratochvil, Wien 2004. 55 Nicolas Mahler: Engelmann. Der gefallene Engel, Hamburg 2010.

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Netzwerk im Spannungsfeld zwischen direktem Zitat und indirekter Anspielung vielschichtig bereichern und verdichten. In Artmanns Frankenstein in Sussex wird auf diese Weise beispielsweise von der Figur Mary Shelly wörtlich der Anfang eines Märchens zitiert, in dem ein Mädchen einem verzauberten Schwan begegnet, einem Tier, das textintern mit der Schwanensuppe und den Alice wachsenden Schwanenflügeln korrespondiert. Was jedoch von Artmann im Text nicht explizit zitiert wird, ist, dass im weiteren Verlauf dieser nur in der handschriftlichen Urfassung der Grimm’schen Märchen von 1810 enthaltenen Geschichte von Prinz Schwan, das Mädchen wenige Zeilen nach der zitierten Stelle (wie Artmanns Alice) im Haus eines Menschenfressers landet.56 Auf ähnliche Weise – sowohl formal als auch motivisch – verfährt Mahler in Alice in Sussex mit den Rätselfragen des Hutmachers, wenn er in aus dem Zusammenhang gerissenen, aphoristisch reduzierten Zitaten aus Voltaires Candide und Artmanns Der aeronautische Sindtbart an der Textoberfläche auf Carrolls Kaninchen und Maus verweist, durch den ursprünglichen Kontext der Zitate aber auch auf die in beiden Büchern jeweils eine wichtige Rolle spielende Menschenfresserund Kannibalen-Thematik Bezug nimmt (vgl. AS 71f.).57 Und in einem Charles Dickens gewidmeten Teil der Sequenz des Strips – den er nicht in die Buchfassung übernommen hat – lässt er den Hutmacher mit den Worten der Miss Havisham aus Dickens Roman Große Erwartungen sprechen. Damit knüpft Mahler explizit an die Themen Langeweile, Jugend und Alter an, stellt jedoch zugleich implizit einen intertextuellen Bezug zur gefühlskalten Estella her, die von der gespenstischen Miss Havisham herangezüchtet wurde und die der von Frankenstein erschaffenen künstlichen Kreatur entspricht.58 Auf engstem Raum reduziert, aktiviert Mahler durch die verdichtete Montage solch vielstimmig aufgeladener Zitate und Anspielungen einen umfangreichen motivisch und thematisch vernetzten literarischen Kosmos. Seiner Alice im Comic kommen angesichts solch assoziativ wuchernder Häufungen von Zitaten – wie schon Carrolls Alice angesichts des geheimnisvollen und schwer verständlichen Gedichts über den Jabberwocky (auch das ein weiterer verdeckter Monster-Bezug) – »lauter Gedanken in den Kopf« (AS 72f.)59, womit Mahler – durch die ungebremst in die Höhe wuchernde Frisur seiner Alice – auch die eigene ausufernde »Zitierwut« (AS-Strip 44) ironisch-visuell kommentiert. 56 Vgl. Brüder Grimm: Prinz Schwan, in: dies: Kinder- und Hausmärchen. Die handschriftliche Urfassung von 1810, hg. und komm. von Heinz Rölleke, Stuttgart 2007, S. 81-84. 57 Vgl. u.a. Voltaire: Candide, S. 76-79; Artmann: Sindtbart, S. 67, 72, 93, 116. 58 Vgl. AS-Strip 27 sowie Charles Dickens: Große Erwartungen, hg. von Melanie Walz, München 2011, S. 79-96. 59 Carroll: Alice hinter den Spiegeln, S. 28.

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Abb. 4: Mahler: Alice in Sussex, S. 72f.

Überhaupt gehört in Alice in Sussex die in den Comic laufend miteinfließende, reflektierte Auseinandersetzung mit dem eigenen Vorgehen zu Mahlers poetologischem Konzept. Die Gerichtsverhandlung rund um einen Tortendiebstahl aus Carrolls Alice im Wunderland wird bei Mahler zu einem das eigene intertextuelle Zitierverfahren reflektierenden und kommentierenden Urheberrechtsprozess: »Schnell weg hier! Die Königin hasst Urheberrechtsverletzungen! Mit der ›FREIHEIT DER KUNST‹ hat sie’s nicht so… Kaum hat ein Zitat keine ›funktionale Bedeutung‹ für die Neuschöpfung, rollen Köpfe!« (AS-Strip 31; vgl. AS 77f.; Hervorhebung im Original), klagt das Kaninchen und verweist damit auch auf eigene diesbezügliche Erfahrungen Mahlers, von denen nicht nur ein im Vorfeld der Publikation entstandenes Rechtsgutachten des Suhrkamp-Verlags zeugt,60 sondern auch das ausführliche, penibel über fünfzig Einzelnachweise auflistende Quellenverzeichnis am Ende der Buchausgabe (vgl. AS 139-141). In einer der für Mahlers Methode poetologisch markantesten Stellen des Comics – nicht zuletzt wohl auch einer Art Selbstinterpretation – beschwört die 60 »Zudem kommt hier eher als bei Artmann eine Erweiterung des Zitatrechts in Betracht. Denn hier erfolgt eine integrale Einbettung einer Fremdpassage als Handlungsbestandteil in eine bestehende Geschichte Artmanns/Mahlers. Das Zitat erfolgt aus dramaturgischen Gründen (Alice kippt um, Protagonist bewertet gelesene Textpassage) im Rahmen einer Buchsuche und hat somit funktionale Bedeutung für das Werk.« (»Rechtliches Kurzgutachten von Nicolas Mahlers ›Alice im Wunderland‹«, gezeigt im Rahmen der Ausstellung: »Nicolas Mahler. Wer alles liest, hat nichts begriffen« im Karikaturmuseum Krems/Niederösterreich vom 29. November 2013 bis 23. März 2014)

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Edamer-Katze angesichts der episch-ausschweifenden Moby Dick-Erzählung der Maus das Ideal einer »Kunst der Verdichtung«: »Fasse dich kurz!« (AS 64f.; ASStrip 20), ruft die Katze, auch eines der Monster im Comic, der Maus ermahnend und kafkaesk zugespitzt zu – und frisst sie. Eine ähnlich drastische Form ›poetischer‹ Bestrafung findet sich schließlich auch am Ende der Humpty-Dumpty-Episode, die noch einmal die wichtigsten Verfahren Mahlers und seiner Alice in Sussex in dicht komprimierter Form enthält: Humpty Dumpty, der bei Mahler nicht nur in Carroll-, sondern auch abwechselnd in Voltaire- und Nietzsche-Zitaten (vgl. AS-Strip 42) spricht, rezitiert – denn auch er sei, wie er sagt, »ein Poet« (AS-Strip 44) – mit deutlich anklingendem Monster- und Doppelgängermotiv ein Gedicht H. C. Artmanns über »doktor jekyll / und misterchen hyde«61. In unmittelbarer interaktiver Ineinanderblendung von Alice im Wunderland und Frankenstein in Sussex wird Mahlers Humpty Dumpty mitten im Artmann-Gedicht-Vortrag von einem von Artmanns ›jungem Gentleman‹ in den Schornstein geworfenen Stein getroffen: Artmann trifft Carroll trifft Artmann, worauf es zum berühmten Fall Humpty Dumptys von der Mauer kommt, der jedoch bei Mahler, ganz im Sinne der Grundstimmung seiner Alice und auch mit Bezug auf das Schicksal des zuvor rezitierten Mister Hyde, zu einem selbstmörderischen Sturz in den Abgrund wird. Die harmlose Frage nach dem Ende des Gedichtvortrags aus der Carroll-Vorlage (»Ist es aus?«) und die ebenso harmlose bejahende Antwort Humpty Dumptys, erhalten durch die typisch verkürzte, entstellende Zitierweise bei Mahler ihre motivisch konsequent pessimistische, tragikomische Umdeutung: »Ist es aus?«, fragt Alice. »Es ist aus. Adieu.« (AS 97, AS-Strip 46)

61 »herr doktor jekyll / und misterchen hyde, stehen im zimmer / und wechseln das kleid. // heavens! das gaslicht, / wie brennts heut so trüb, / und auch der vollmond / blickt keineswegs lieb. // horcht nur, da tappt was / die straße entlang – / ein monster im gehrock, / das macht mir so bang.« (H. C. Artmann: Sämtliche Gedichte, hg. von Klaus Reichert, Salzburg/Wien 2011, S. 986f.)

M odernisierungen

Erotisches Spiel mit Außen- und Innenwelt. Jakob Hinrichs’ Traumnovelle nach Arthur Schnitzler D ietrich G rünewald

Arthur Schnitzler, der wohl wichtigste Vertreter der sogenannten ›Wiener Moderne‹1, legte mit Die Traumnovelle, in Kenntnis der Arbeiten über Träume und Traumbedeutung Sigmund Freuds2, eine psychologische Studie vor, die die Tabus der bürgerlichen Gesellschaft zu Anfang des 20. Jahrhunderts thematisiert.3 Die Traumnovelle erschien zunächst in Fortsetzung in Die Dame (Berlin, 6. De1 Vgl. u.a. Irmela Brender: Arthur Schnitzler. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 14. Aufl., Reinbek bei Hamburg, 2007; Giuseppe Farese: Arthur Schnitzler. Ein Leben in Wien 1862-1931, München 1999; Konstanze Fliedl: Arthur Schnitzler, Stuttgart 2005; Corinna Schlicht: Arthur Schnitzler, Marburg 2013; Heinrich Schnitzler u.a. (Hg.): Arthur Schnitzler. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit, Frankfurt a.M. 1981; Ulrich Weinzierl: Arthur Schnitzler. Lieben, Träumen, Sterben, Frankfurt a.M. 1994. 2 Die inhaltliche Korrespondenz von Freuds psychoanalytischen Arbeiten und den Intentionen Schnitzlers kommt in einem Brief Freuds anlässlich Schnitzlers 60. Geburtstag zum Ausdruck: »Ich habe immer wieder, wenn ich mich in Ihre schönen Schöpfungen vertiefe, hinter deren poetischem Schein die nämlichen Voraussetzungen, Interessen und Ergebnisse zu finden geglaubt, die mir als die eigenen bekannt waren. Ihr Determinismus wie Ihre Skepsis – was die Leute Pessimismus heißen –, Ihr Ergriffensein von den Wahrheiten des Unbewußten, von der Triebnatur des Menschen, Ihre Zersetzung der kulturellkonventionellen Sicherheiten, das Haften Ihrer Gedanken an der Polarität von Lieben und Sterben, das alles berührte mich mit einer unheimlichen Vertrautheit.« (Brief an Arthur Schnitzler vom 14. Mai 1922, in: Sigmund Freud, Briefe 1873-1939, hg. von Ernst und Lucie Freud, Frankfurt a.M. 1960, S. 357). 3 Vgl. u.a. Jacques Le Rider: Arthur Schnitzler oder Die Wiener Belle Epoque, 2. überarb. Aufl., Wien 2008; Renate Wagner: Wie ein weites Land. Arthur Schnitzler und seine Zeit, Wien 2006.

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zember 1925 – 12. März 1926) und 1926 als Buchausgabe im S. Fischer-Verlag. Die Novelle schildert die geheimen, ungestillten erotischen Begierden und Träume der Protagonisten, des Wiener Arztes Fridolin und seiner Frau Albertine, die sie einander bekennen, was zu Verstörung und Krise führt. Die Novelle wurde zweimal verfilmt4 und von dem Komponisten Alex Nowitz als Oper vertont, die 2013 in Braunschweig uraufgeführt wurde. Die Comicadaption, die hier untersucht werden soll, wurde von dem Berliner Graphiker Jakob Hinrichs geschaffen und erschien 2012 in der Edition Büchergilde Gutenberg.5

1. A ufbau

und I nhalt

Wie schon der Altamira-Verlag bei den Adaptionen Dino Battaglias6, so druckt auch die Büchergilde Gutenberg den Primärtext Schnitzlers im Anschluss an die Comicadaption ab, was dem Rezipienten erlaubt und ihn animiert, beide Fassungen miteinander zu vergleichen. So soll hier zunächst der Aufbau der Geschichte in Text und Bildgeschichte miteinander verglichen werden, was zugleich dazu dient, eine knappe inhaltliche Zusammenfassung zu geben. Der Text ist in sieben Abschnitte (mit römischen Ziffern gekennzeichnet) gegliedert. Im ersten erfahren wir, dass der Besuch eines Karnevalballs Fridolin und Albertine stimulierte, sich zu gestehen, dass sie beide erotische Vorstellungen auch außerhalb des Ehelebens haben, die aber – wie sie sich gegenseitig am Beispiel ihres Dänemarkurlaubes erzählen – reines Gedankenspiel sind. Die Bildgeschichte präsentiert den gleichen Inhalt; Hinrichs ersetzt aber den Ball durch einen nicht minder erotisch aufgeladenen Jahrmarktsbesuch. (Dabei verweist das Riesenrad signifikant auf den Wiener Vergnügungspark, den Prater, und die damit verbundenen Konnotationen.7) Danach stellt er auf einer Doppelseite das eintönig 4 Wolfgang Glück (Regie): Die Traumnovelle, Österreich 1969; Stanley Kubrick (Regie): Eyes Wide Shut, USA 1999; vgl. Michel Chion: Eyes Wide Shut, London 2002; Christian Ruschel: Vom Innen und Außen der Blicke. Aus Arthur Schnitzlers Traumnovelle wird Stanley Kubricks Eyes Wide Shut (http://archimed.uni-mainz.de/ pub/2002/0173/diss.pdf, letzter Zugriff am 22. April 2014); Achim Aurnhammer u.a. (Hg.): Arthur Schnitzler und der Film, Würzburg 2010. 5 Jakob Hinrichs: Die Traumnovelle, Frankfurt a.M. 2012; der Comic und Schnitzlers Novelle werden im Folgenden zitiert mit der Sigle TN und Seitenzahl. 6 Dino Battaglia: Woyzeck, Wollerau 1990; ders.: Der Sandmann/Das öde Haus, Wollerau 1990. 7 Vgl. Hans Pemmer/Nini Lackner: Der Prater. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, neu bearb. von Günter Düriegl und Ludwig Sackmauer, 2. Aufl., Wien 1974; erotische

Erotisches Spiel in Jakob Hinrichs’ Traumnovelle | 147

routinierte Alltagsleben des Ehepaares vor. Am Abend erzählt Albertine von ihrem Dänemarkerlebnis (vgl. die Tabelle).

I

Text (Schnitzler)

Bildgeschichte (Hinrichs)

Abendgespräch nach dem Ball Dänemarkerlebnis Albertines Dänemarkerlebnis Fridolins

Jahrmarkt

Alltagsleben von Albertine und Fridolin II

Der tote Hofrat; Marianne

Der tote Aufsichtsratsvorsitzende; Marianne

III

Couleurstudenten, Mizzi

Couleurstudenten, Mizzi Dänemarkerlebnis Fridolins (visuelles Tagebuch)

IV

Nachtigall, Kostümverleiher, Erlebnis in der Villa

Nachtigall, Kostümverleiher Erlebnis in der Villa

V

Albertines Traum

Fridolins Traum

VI

Der nächste Tag, die tote Frau

Der nächste Tag, die tote Frau

VII

Fridolin erzählt Albertine sein Erlebnis

Testergebnis

Text, Abschnitt II: Fridolin wird zu einem Patienten gerufen, der allerdings schon einem Herzinfarkt erlegen ist. Er trifft Marianne, die Tochter des Verstorbenen, an. Obwohl sie mit Dr. Roediger verlobt ist, gesteht sie Fridolin ihre Liebe, doch er weist sie ab. Die Bildgeschichte erzählt die gleiche Sequenz. Text, Abschnitt III: Fridolin möchte noch Zeit in einem Kaffeehaus verbringen. Text wie Bildgeschichte erzählen u.a., wie er provozierenden Couleurstudenten begegnet sowie der Prostituierten Mizzi. Hinrichs siedelt parallel zu dieser Episode Fridolins Dänemarkerlebnis an, von dem Albertine (und mit ihr der Rezipient) aus seinem visuellen Tagebuch erfährt. Text, Abschnitt IV: Fridolin trifft auf seinen alten Studienkollegen Nachtigall, der ihm von einer geheimen Orgie erzählt. Neugierig geworden, verschafft sich Assoziationen bietet das Kapitel »Im Prater« in Felix Salten: Josefine Mutzenbacher. Meine 365 Liebhaber – die Fortsetzung meiner Lebensgeschichte, Reinbek bei Hamburg 1970.

148 | Dietrich Grünewald

der maskierte Fridolin Einlass zur dieser Orgie, wird aber als Eindringling erkannt und von einer unbekannten Dame gerettet. Text, Abschnitt V: Wieder zu Hause, erzählt Albertine von einem erotischen Albtraum. In der Bildgeschichte gerät Fridolin selbst nach dem Erlebnis in der Villa in dieses bedrückende Szenarium, das sich erst gegen Ende als Traum erweist. Text, Abschnitt VI: Am nächsten Tag erfährt Fridolin, dass Nachtigall verschwunden ist. Er erhält eine Warnung, das nächtliche Erlebnis zu vergessen, besucht noch einmal Marianne und das Bordell, ohne Mizzi anzutreffen. Die Zeitungsmeldung vom Tod einer Frau erinnert ihn an seine Retterin auf der Orgie; beunruhigt prüft er in der Pathologie, ob die Tote die maskierte Dame sein könnte, ist sich aber letztlich nicht sicher. Hinrichs komprimiert diese Sequenz auf zwei Aspekte: auf Nachtigalls unfreiwillige Abreise und den Suizid einer Sängerin, deren Leichnam Fridolin in der Pathologie anschaut. Text, Abschnitt VII: Die Novelle schließt mit Fridolins Heimkehr um Mitternacht. Er erzählt Albertine das ganze Erlebnis. Die Bildgeschichte endet dagegen in der Pathologie und mit Fridolins (und des Betrachters) Blick durch ein Mikroskop auf eine Testprobe. Wie Kubrick, der in seinem Film die Geschichte aus dem Wien Anfang des 20. Jahrhunderts ins heutige New York versetzt, aktualisiert auch Hinrichs: Statt mit Droschken fahren die Protagonisten mit Autos, aus einem Radiowecker klingt Musik aus den 1960er Jahren8 (vgl. TN 13), über den Selbstmord berichtet das Fernsehen. Trotz partieller Verweise auf Wien (Riesenrad des Wiener Praters, Übernahme von Straßennamen aus dem Text9), bleibt die Bildgeschichte zeitlich wie örtlich relativ offen – die Geschichte könnte überall spielen, wo das Verhältnis von persönlicher Disposition und öffentlichen Moralvorstellungen in vergleichbarer Weise vorliegt. Und so präsentiert, auch wenn einige Änderungen festzustellen sind, Hinrichs doch weitgehend übereinstimmend den Inhalt der Schnitzler’schen Novelle. In einem Interview äußert er: »Mein erster Gedanke war es, dass ich keine illustrierte Umsetzung des Schnitzler-Textes machen wollte, sondern eine eigenständige grafische Adaption, die auf dem Originaltext basiert.«10 Seine Bildgeschichte ist keine Nacherzählung oder Übertragung, sondern als eine Transformation des Schnitzler’schen Stoffs anzusehen, als Neuerzählung mit den spezifischen künstlerischen Möglichkeiten der Bildgeschichte. Dabei ist jede Adap-

8 Tim Hardins Song Hang on to dream. 9 Schreyvogelgasse. Wien, 1. Bezirk (vgl. TN 25 und 104). 10 Vgl. http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/Mit-der-Galeere-von-Traum-zu-Traum /story/29327171 (letzter Zugriff am 13. Februar 2014).

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tion11 – gleich, welcher Kunstform-Wechsel vorgenommen wird – immer auch eine individuelle Interpretation der Primärquelle, die in Besonderheiten (wie z.B. Herausstellung, Kürzung, Aktualisierung oder Änderung) zum Ausdruck kommt. Das wirft die Frage auf: Trifft die Bildgeschichte (die Adaption) den Kern der Schnitzler’schen Geschichte? Behält sie Charakter und Intention bei? Zeichnet sie ein vergleichbares künstlerisches Niveau aus? Ist sie adäquat zu interpretieren?

2. D ie B ildsprache Bildgeschichten – gleich, welcher Art – sind eine visuelle Kunst; somit ist stets das erste, das dem Rezipienten als Eindruck begegnet, der Stil der gewählten Bildsprache. Im Falle von Hinrichs Traumnovelle ist das ein flächig plakativer Stil. Die Farben – leicht getrübte Grundfarben – sind unmoduliert eingesetzt, wirken teilweise wie ausgeschnittene Schablonen, sind Konturen eingepasst, können diese aber auch – sich gewissermaßen verselbständigend – überschreiten. Hinrichs arbeitet mit reduzierten, signifikanten ikonischen Bildzeichen, die manchmal Piktogrammen ähneln, manchmal karikiert sind. Die umrahmte enge Panelfolge mit ihren integrierten Dialogen (meist in Sprechblasen, die mal weiß, mal farbig gefüllt sind) und inneren Monologen wirkt wie ein bunter, dynamischer Comic. Dieser Stil wurde nicht für diese Bildgeschichte kreiert. Wie andere Arbeiten zeigen, ist er das Markenzeichen des Berliner Graphikers Jakob Hinrichs, der durch seine Arbeiten in FAZ, Zeit, Stern, Neon oder New York Times bekannt ist.12 Die Traumnovelle ist Hinrichs erste ›Graphic Novel‹ und eine Auftragsarbeit für die Büchergilde Gutenberg. Die Korrespondenz von Stil und Geschichte liegt somit in der Verantwortung des Verlagslektorats – wohl eine überlegt bewusste Entscheidung. Jedenfalls ist das zu schlussfolgern, bedenkt man, dass der Verlag bereits vorher eine andere Adaption in Auftrag gegeben hatte: Das Fräulein von Scuderi (nach E.T.A. Hoffmann)13. Alexandra Kardinar und Volker Schlecht setzten die historische Kriminalgeschichte – ebenso innovativ wie nachfühlbar adäquat – in einem ganz eigenen Stil und eigener Erzählweise um. Der Bildstil ist für Charakter und Wirkung einer Geschichte von großer Bedeutung, wie exemplarisch Illustrationen und Comicfassungen zu Lewis Carolls 11 Der Begriff ›Adaption‹ ist nicht unproblematisch; doch deutet man ihn weit, nicht als sklavisches Anpassen an den Primärtext, sondern umgekehrt als das Anpassen eines gegebenen Stoffes an die ästhetischen Möglichkeiten der neuen Kunstform, so scheint er mir vertretbar. 12 Vgl. seine Homepage: http://www.jakobhinrichs.com (letzter Zugriff am 25. März 2014). 13 Alexandra Kardinar/Volker Schlecht: Das Fräulein von Scuderi, Frankfurt a.M. 2011.

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Alice im Wunderland anschaulich demonstrieren können. Während die Illustrationen von John Tenniel, die 1865 mit Billigung des Autors erschienen sind, den skurrilen, sperrigen Charakter der Geschichte anschaulich machen, das Bilderbuch Anthony Brownes14 ihren surrealen Aspekt herausstellt, kippt der cartoonhafte Stil der Disney-Fassung und noch einmal verstärkt der lieblich-kitschige Stil der Bastei-Fassung15 den Charakter des Werkes, reduziert es auf eine harmloswitzige, unterhaltsame Kindergeschichte. Hinrichs Stil korrespondiert deutlich mit der Schnitzler’schen Geschichte. Da ist zum einen der Bezug zum Entstehungszeitraum der Novelle in den 1920er Jahren. Wie Manuele Fior bei seiner Comicadaption von Schnitzlers Fräulein Else16 in zeitlicher Korrespondenz zur vorletzten Jahrhundertwende einen jugendstilnahen Zeichenstil benutzt (der zum Teil durch den engen Bezug zu Klimt-Bildern auch Atmosphäre und Lebensgefühl der Epoche transportiert), so korrespondiert Hinrichs Stil mit dem durch flächige, klare Farben und schlichte prägnante Bildzeichen ausgewiesenen Stil von Plakaten der 1920er Jahre.17 Die intendierte sachliche Wirkung entspricht durchaus dem Sprachstil Schnitzlers, der ebenfalls fast sachlich, distanziert – vorherrschend aus der Sicht Fridolins – das Geschehen schildert. Die sachlich-nüchterne Wirkung der Hinrichs’schen Bildsprache zeigt sich vielfach; und sie weist auch stilistische Nähe zu den piktogrammnahen sozialkritischen Zeichnungen des Kölner Progressiven Gerd Arntz aus den 1920er Jahren auf, der zusammen mit Otto Neurath die visuelle ›Wiener Bildstatistik‹18 entwickelt hat, deren Manier die Schilderung des Alltagslebens des Ehepaars nicht unähnlich ist (vgl. TN 14f.). Doch das ist nur ein Aspekt. Die Bildsprache Hinrichs ist vielschichtig. Er verweist selbst im oben genannten Interview darauf, dass ihn u.a. die Kunst der Veristen George Grosz und Otto Dix, den provokanten Kritikern der Weimarer 14 Anthony Browne: Alice im Wunderland, Oldenburg 1989. 15 Walt Disney’s Alice im Wunderland, 2. Sonderheft der Micky Maus, Stuttgart 1952; Alice im Wunderland, Rastatt 1968. 16 Manuele Fior: Fräulein Else. Nach der Novelle von Arthur Schnitzler, Berlin 2010. 17 Z.B. Kurt Börmel: Hutausstellung, 1925 (Abb. in Klaus Popitz, Klaus (Hg.): Das frühe Plakat in Europa und den USA, Berlin 1977, S. 35); Vladimir Lebede: Politisches Plakat, 1923 (Abb. in Popitz: Das frühe Plakat, S. 68); Robert Berény: Zigarettenwerbung, um 1928 (Abb. in Popitz: Das frühe Plakat, S. 84); Ercole Giommi: Apri l’occhio!, 1928 (Abb. in Günther Hummrich: Plakate. München 1974, S. 37). 18 Vgl. u.a. Gerd Arntz: Kritische Graphik und Bildstatistik, Nijmegen u.a. 1976.; Gerd Arntz: Zeit unterm Messer. Holz- und Linolschnitte 1920–1970, Köln 1988; Rüdiger Nenzel (Hg.): Gerd Arntz, Remscheid 1982.; Stadler, Friedrich (Hg.): Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit. Otto Neurath – Gerd Arntz. Wien, München 1982.

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Gesellschaft, inspiriert habe19. Beide haben – hiermit in inhaltlicher Korrespondenz zur Traumnovelle – vielfach auch erotische Tabus der Zeit aufgegriffen, z.B. George Grosz mit dem Blatt Professor Freud gewidmet, 1922 (aus der Mappe Ecce Homo, 1923). Schon gleich zu Beginn der Bildgeschichte findet sich ein direktes Dix-Zitat: Der Luftballonverkäufer (vgl. TN 10) ist dem Gemälde Kriegskrüppel von Otto Dix (1920, Öl/Leinwand, 150x200cm) entnommen, das auf der Ausstellung »Entartete Kunst« (1937)20 mit Werken von den Nazis verfemter Künstler gezeigt und in der begleitenden Ausstellungsbroschüre unter der Überschrift »Wehrsabotage« abgebildet wurde. (Abb. 1) Hinrichs geht mit diesem satirisch-kritischen Wirklichkeitsbezug über den Text hinaus. Er macht damit bewusst, dass die Geschichte im bürgerlichen Milieu spielt, das deutlich von der sozialen Lage anderer Menschen (und ihren Problemen) abgesondert war (und ist) – und zeigt zugleich ironisch, dass die Geschichte so etwas wie ›Moralsabotage‹ begeht.

Abb. 1: links: Hinrichs: Traumnovelle, S. 10; rechts: Otto Dix: Kriegskrüppel, Radierung, 1920, aus: Stephanie Barron (Hg): »Entartete Kunst«, S. 224.

Hinrichs Stil erinnert – wenngleich er wohl am PC entstanden ist – an die flächige, signalhafte Schablonentechnik des Siebdrucks, die uns heute durch zahlreiche Werke der Pop-Art vertraut ist, aber auch seine provokativ-populäre Wirkung z.B. 19 »Visuell inspiriert bin ich immer wieder von Künstlern wie George Grosz und Otto Dix, vom Bauhaus, von alten Abenteuer- und Superheldencomics, von Druckgrafiken und Plakaten, oder vom tschechischen Zeichner Josef Lada, der ›Der brave Soldat Schwejk‹ illustriert

hat.«

(http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/Mit-der-Galeere-von-

Traum-zu-Traum/story/29327171, letzter Zugriff am 13. Februar 2014) 20 Vgl. Stephanie Barron: »Entartete Kunst«. Das Schicksal der Avantgarde in NaziDeutschland, München 1992.

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in der aktuellen Streetart entfaltet21. Die Technik hat aber auch ihre Tradition in der Bildgeschichte. Zu verweisen ist auf Wladimir Majakowski, dessen RostaFenster-Plakate in den 1920er Jahren politische Agitation betrieben mit Bildgeschichten, die aus plakativen Schablonen, ausgeschnitten aus farbigen Papieren, bestanden.22 Doch wie der Schnitzler’sche Text nicht nur sachlich, sondern zugleich geheimnisvoll und märchenhaft wirkt und den Leser in eine surreale Atmosphäre versetzt, so hat auch diese Bildwelt ein mehrschichtiges Wirkungspotential, wie ein vergleichbares aktuelles Beispiel demonstriert: Blexbolex legt mit Ein Märchen23 eine Bildgeschichte vor, die ebenfalls diesen flächigen, bunten Schablonenstil benutzt – und er erzählt mit ihm eine märchenhafte, fantasievolle Geschichte, die in besonderer Weise die assoziierende und verbindende aktive Rezeptionsarbeit des Betrachters fordert. So zeigt uns Hinrichs Bildgeschichte stilistisch wie motivisch als durchgehendes Prinzip zwei gegensätzliche Welten: die bürgerliche, sachlich orientierte und moralisch scheinbar sichere Welt und ihr gegenüber eine surreale, lasziv wirkende, geheime Gegenwelt. Das wird prägnant anschaulich auf der Doppelseite 60/61, die man als eine Art Schlüsselbild verstehen kann. Gezeigt wird die Szene, in der Fridolin seinem Freund Nachtigall mit einem Taxi hinterherfährt – auf dem Weg aus der Stadt hinaus zur Villa, wo die geheime Sexparty stattfinden soll. Es ist die Fahrt Fridolins, mit der er aus seiner klaren Bürgerwelt in die nächtliche Anderwelt der geheimen Ausschweifung überwechseln will. Im Hintergrund – in der Bildtiefe, vom Horizont aufragend – verweist das Riesenrad als (Sinn-)Bild für die Auslöser der erotischen Gedankenspiele auf den Anlass des Geschehens. Mittig angeordnet, wie auf einem Felsen, einer Insel, ist die Großstadt als Moloch mit entsprechender Skyline dargestellt – sie steht für die Berufs- und Geschäftswelt, für den bürgerlichen Alltag. Bewusst von ihr abgesondert, als isolierte Welt des kleinen bürgerlichen Familienglücks sehen wir Fridolins Eigenheim mit Baum und Gartenzaun (die Darstellungen in TN 11, Panel 1, sowie auf 14f. werden wiedererkennbar aufgenommen). Der Szene entgegengestellt findet sich am linken Bildrand eine große, rückseitig präsentierte 21 Z.B. in den Schablonen-Graffitis von Banksys; vgl. Banksy: Cut it out, London 2004; ders.: Wall and Piece, London 2005; zum Siebdruck vgl. Uta Sienel: Der Siebdruck und seine Druckträger. Zur Materialität eines jungen Druckverfahrens, München 2008. 22 Vgl. Neue Gesellschaft für bildende Kunst (Hg.): Majakowski. 20 Jahre Arbeit, Berlin 1978; Wiktor Duwakin: Rosta Fenster. Majakowski als Dichter und bildender Künstler, Dresden 1975. Auch Peter Kuper setzt in seiner textfreien Bildgeschichte The System (1997) den Schablonendruck ein, der seinem mitschwingenden kritischen Blick auf die Großstadt auch ästhetisch eine gewisse Authentizität verleiht. 23 Blexbolex: Ein Märchen, Berlin 2013.

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Schautafel. Sie steht, auf zwei Masten montiert, hoch aufragend auf einem Felsen. Zwei Scheinwerfer bestrahlen sie, so dass man von der Stadtseite aus sicher deutlich lesen kann, was hier steht. Dem Betrachter freilich wird nicht gezeigt, wofür geworben wird. Der kleine Matrose, der unter der Tafel mit Blick auf die Stadt sitzt und an die Lieder Freddy Quinns (der übrigens 1931 in Wien geboren ist) erinnern mag, gibt der Assoziation genügend Hinweise: Sehnsuchtsversprechen für all das, was Stadt und Alltag selbst nicht zu bieten vermögen – wobei die Hohl- und Falschheit dieser Versprechen ironisch anklingen. Dominant ist die serpentinenartig angelegte Straße, auf der die beiden Autos fahren – die vorausweisenden strahlenden Scheinwerfer betonen ihre Funktion: den Übergang, die Flucht aus der Alltagsroutine, wozu emotional zum einen die ein wenig an Munchs Schrei24 erinnernden hintergründigen flatternden Farbbahnen sowie die perspektivisch-motivische Nähe zu David Hockneys Gemälden25 beitragen: suggestiv und aufgewühlt folgt der Betrachter dieser Fahrt. Ihr Ziel ist die Villa, die im Unterschied zu den Gebäuden der Stadt oder dem schlichten Familienheim aus der Alltagsästhetik pragmatisch-bürgerlicher Architektur ausbricht und avantgardistische, Normen und Routine sprengende Wünsche repräsentiert. Das Gebäude erinnert an das Haus Fallling Water (USA, Pennnsylvania, 1935-39) des Architekten Frank Lloyd Wright; ein Traumhaus avantgardistischer Ästhetik, überzeugendes Refugium der ersehnten Anderwelt.

3. D ie A kteure Auch die Akteure, die in diesem Szenarium agieren, spiegeln in ihrem Erscheinungsbild eine gewisse Ambivalenz. Da sind zum einen die Figuren, die in zahlreichen Szenen sehr bewegt und lebendig gestaltet sind. Hinrich selbst verweist darauf, dass ihn die Illustrationen Josef Ladas inspiriert haben.26 Und ein Vergleich macht diesen Bezug auch erkennbar, wenngleich Hinrichs Figuren vielfach stilisiert und karikiert sind, damit aber auch die lebendige Körpersprache noch betonter zum Ausdruck bringen. Insgesamt bilden Hinrichs Akteure ein buntes Panoptikum: so gibt es Figuren, die verfremdet sind und wie Puppen wirken, denen attributiv stets das Exemplarische innewohnt: Was hier erzählt wird, betrifft auch andere. Sie erinnern

24 Edvard Munch: Der Schrei, 1893, Öl/Pappe, 91 x 74cm, Nasjonalgelleriet Oslo. 25 Z.B. David Hockney: Garrowby Hill, 1998, Öl/Leinwand, 152,4x193cm, Boston, Museum of Fine Arts. 26 Josef Lada: Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk in Bildern, Köln 1983.

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an vergleichbare Menschendarstellung in Kunstwerken der Neuen Sachlichkeit27: seelenlose Gliederpuppen, die menschliche Isolation, Entfremdung aber auch Fremdsteuerung und Bedrohung anmahnen. Die erkennbare Nähe zu den Schneiderpuppen in der pittura-metafisica-Kunst Giorgio de Chiricos28 und damit die Nähe zum Traumhaften, zum Surrealen, zur Innenwelt zeichnet diese Akteure aus. Und wo sie (wie die elefantenköpfigen Wesen der Villa, vgl. TN 64, 74, 77, 80) als Mensch-Tier-Wesen auftreten, drängt sich die Erinnerung an die Mischwesen in den surrealen Bildgeschichten von Max Ernst29 auf und sie übernehmen gewissermaßen deren Aura.

4. B ildmetaphern

Abb. 2: Hinrichs: Traumnovelle, S. 4.

Hinrichs Bildsprache scheint auf den ersten Blick recht simpel. Aber sie fordert den Betrachter. Denn sie ist tatsächlich hochkomplex und zielt darauf, den Betrachter zu verunsichern. Sie stimmt uns ein in ein Wechselspiel von Wirklichkeit und Traumwelt, von Realem und Surrealem. Die Bilder vermitteln mehr, als sie zeigen – was insbesondere angesichts der zahlreichen Bildmetaphern deutlich wird, die Hinrichs verwendet und die der Betrachter deuten muss. Einige prägnante Beispiele seien herausgegriffen. Der Jahrmarkt versinnbildlicht (vgl. TN 4, Abb. 2) den Ausbruch aus der ordentlichen Bürgerwelt in die

27 Wie z.B. George Grosz: O.T., 1920, Öl/Leinwand, 81x61cm, Düsseldorf, Kunstsammlung NRW (Abb. in Peter-Klaus Schuster (Hg.): George Grosz. Berlin – New York, Berlin 1994); ders.: Republikanische Automaten, 1920 (Abb. in Hans-Jürgen Buderer: Neue Sachlichkeit, München 1994, S. 109) oder Rudolf Dischinger: Bedrohung, 1935, Öl/ Leinwand, 71x54 cm (Abb. in Buderer: Neue Sachlichkeit, S. 171). 28 Z.B. Giorgio de Chirico: Die beunruhigenden Musen, 1925, Öl/Leinwand, 97x66cm, Mailand, Sammlung Mattioli. 29 Vgl. Max Ernst: Une semaine de bonté. Die Weiße Woche. Ein Bilderbuch von Güte, Liebe und Menschlichkeit, Frankfurt a.M. 1975 (Paris 1934).

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halbseidene Welt des Vergnügens. Das Blatt gibt deutliche Impulse für das weitere Geschehen, z.B. verweist die Vogel-Maske oben auf Späteres (vgl. die Maske, die Fridolin in der Villa trägt: TN 62-77 und die im Bett zwischen ihm und seiner Frau liegt: TN 88); das Riesenrad ist als Markenzeichen des Praters nicht nur Ausweis für das Vergnügen, sondern umfasst natürlich auch traditionell die Rad-Metapher als Zukunfts-, Glücks- und Schicksalsrad30; der Eingang in eine unbekannte, verlockende Welt ist überschrieben mit Luna Eklipson – das kann als Anspielung auf die Verfinsterung der heilen Welt des Ehepaares verstanden werden, der Eingang hat zudem die Form einer Vagina; das und die pralle Frauengestalt für Fridolin wie der starke Muskelmann für Albertine symbolisieren gefühlsstark die Verführung; ihr Kind ist hingegen stilisiert: kein lebendiges, quirliges Kind, das fröhlich auf dem Rummel aufblüht – es wirkt eher wie ein Fremdkörper, der die Eltern zwanghaft aneinander bindet. Hinrichs bietet hier ein starkes, anschauliches Bild, das den Verlauf der Geschichte überzeugend begründet. Der tote Aufsichtsratsvorsitzende (im Text der tote Hofrat) wird als Käfer gezeigt (vgl. TN 26-34) und erinnert natürlich an Gregor Samsa aus Franz Kafkas Die Verwandlung.31 Deren relativ offene und vielschichtige Metaphorik überträgt sich auf den toten Aufsichtsratsvorsitzenden: wie Samsa hat er sich der Welt entfremdet und ist hier über den Tod hinaus für die Tochter Marianne wie ein Schädling, hat er doch ihr Leben diktiert und ihr die Zukunft mit einem ungeliebten Verlobten zugewiesen. Das wird in der Sequenz (vgl. TN 26, 28, 30, 32) narrativ wie symbolisch aufgegriffen. Mittig in Rauten präsentiert, sehen wir mit metaphorischer Prägnanz kleine duale Bildzeichen, die gewissermaßen attributiv anzeigen, wie die jeweiligen Szenen wertend zu deuten sind: das Schlüsselloch (TN 26) symbolisiert den Blick in Mariannes Intimität, in ihr Innerstes; die Flasche Kölnisch Wasser (TN 28) Mariannes Wunsch nach fraulicher und verführerischer Wirkung; die Rose (TN 30) ihr Liebesgeständnis an Fridolin; der aufgespießte Schmetterling (TN 32) symbolisiert zuletzt ihre Chancenlosigkeit, der das Erblühen von Gregor Samsas Schwester zur schönen jungen Frau gegenübersteht; von Fridolin zurückgewiesen, kriecht sie in den Käferkadaver, verpuppt sich in ihr vom Vater bestimmtes Schicksal. Das ganzseitige Bild (vgl. TN 34) zeigt, wie Fridolin aus dem Haus flieht, das als hermetisch geschlossener Kubus zurückgelassen wird; ein anschauliches Zeichen: Für ihn ist die Episode beendet. (Womit auch verständlich ist, dass Hinrichs die Episode – im Unterschied zum Schnitzler’schen Text – später nicht mehr aufgreift.) 30 Zu erinnern sei u.a. an Albrecht Dürer: Nemesis (Das große Glück), um 1501, Kupferstich, 33 x 22cm, Städel Museum, Frankfurt a.M. 31 Vgl. u.a. auch die Comicadaptionen Robert Crumb/David Zane Mairowitz: Kafka kurz und knapp. Frankfurt a.M. 1995, S. 39-55; Eric Corbeyran/Richard Horne: Die Verwandlung, München 2010.

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Die Couleur-Studenten sind als Streichholzmännchen dargestellt, die Benzinkanister mit sich tragen. Das mag ironisch an Max Frischs 1958 uraufgeführtes Drama Biedermann und die Brandstifter erinnern, zeigt auf jeden Fall, wie brand-gefährlich die Situation ist. So ist verständlich, dass Fridolin einer Konfrontation ausweicht. Feige nimmt er die Demütigung hin – seine Gegenwehr (als von Albertine angehimmeltes omnipotentes Kraftgehabe) spielt sich nur in seiner Fantasie ab. Die Szene kann sinnbildlich für Fridolins Verhalten insgesamt gesehen werden: Nie setzt er seine Wünsche tatsächlich um, alles bleibt Traum, Vorstellung, Begierde. Die Herzogin bietet Fridolin in der Traumszene (vgl. TN 86f.) Rettung an, wenn er sie heiratet. Hinrichs stellt sie als Gottesanbeterin (Mantis religiosa) dar, deren Vorderbeine mit Dornen zum Festhalten der Beute besetzte Fangbeine sind32 – was sinnbildlich die Ambivalenz des Angebotes (wie überhaupt die Ambivalenz sexueller Begierde) anspricht, ist doch erwiesen, dass die Gottesanbeterin gelegentlich vor, während oder nach der Paarung das Männchen auffrisst. Zugleich hat die Herzogin auch Ähnlichkeit mit dem Mädchen aus Fridolins erotischem Dänemarktagebuch (vgl. TN 47f.), das er aggressiv sexuell bedrängt. Der visuelle Bezug zwischen beiden Figuren macht deutlich: Gleich, von wem aus die sexuelle Begierde ausgeht, sie impliziert Gefahr und Gewalt; in der Dänemark-Episode führt die sexuelle Begierde Fridolin dazu, ein Ungeheuer (Dr. Roedigers Kreatur – eine Anspielung auf Frankensteins Ungeheuer) umzubringen33, in der Traumepisode wird er selbst in eine Grube geworfen (vgl. TN 88).34 Insgesamt kann man feststellen, dass die Bildmetaphorik dazu dient, die Figuren zu charakterisieren sowie die Situationen, in die sie geraten. Der Rezipient muss das Gezeigte narrativ deuten.

5. L ayout Auch die Seitengestaltung, das von Hinrichs gewählte Layout, fordert diese narrative Lesart. Die Geschichte wird in Panels präsentiert, zum Teil – mit besonderer inhaltlicher Betonung – herausgehoben in Einzelbildern pro Seite (vgl. TN 4, 12, 17, 22, 24, 29, 31, 33, 34, 40, 45, 52, 54, 56, 62, 75, 80, 96), in doppelseitigen 32 Vgl. die Plastik von Germaine Richier: Große Gottesanbeterin, 1946, Bronze, Holzsockel, Höhe 120cm, Kunsthalle Mannheim. 33 Die Episode ist eine Erfindung Hinrichs’; durch die geschickte Verknüpfung mit der Marianne-Episode und der Verbindung zur Herzogin ist diese Erweiterung durchaus als sinnbildliche, verdeutlichende Bereicherung zu werten. 34 Im Text Schnitzlers erzählt Albertine, dass in ihrem Albtraum Fridolin ans Kreuz geschlagen wird (vgl. TN 139). Dieses Bild greift Hinrichs nicht auf.

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Bildern (vgl. TN 8f., 60f., 66f., 78f.) oder in zwei oder mehr Bildern pro Seite. In sukzessiver Ordnung als enge Folge aneinander gereiht, lassen sie so den Fortgang des Geschehens chronologisch mitverfolgen, mal gleichmäßig auf der Seite gegliedert, mal dynamisiert durch unterschiedliche Panelformen und -größen. Kontinuität im Geschehen, eine eher ruhige additive Entwicklung wird dabei in einer klaren Gittergliederung präsentiert, die Panels (in der Anzahl variierend35) werden als Kästchen in Registern angeordnet (vgl. z.B. TN 11, 25, 37, 39); Dynamik, Hektik und Spannung (auf äußerliche Bewegung wie innere Bewegtheit bezogen) spiegeln sich in Seiten assymetrischer36 Anordnung der Panels, mal so geordnet, dass Panelränder Diagonale bilden (vgl. TN 73) oder wie Puzzlesteine verschachtelt sind (vgl. TN 43). Einige Blätter weisen ein besonderes Layout auf, das wiederum besondere narrative Akzente setzt. Auf der Doppelseite 14/15 (Abb. 3) wird die Alltagswelt der Familie vorgestellt. Sie präsentiert mittig eine langgestreckte Raute, in der das Eigenheim Fridolins und Albertines gezeigt wird (vgl. auch TN 11, 60). In der linken schwarzen Ecke der Raute findet sich ein roter Schriftzug (»Albertine«) mit einem nach rechts (also in konventioneller Leserichtung auf das Bild in der Raute) weisenden Pfeil. Hier wird die Welt Albertines gezeigt, in der sie ihre Rolle als Hausfrau und Mutter wahrnimmt. Das Simultanbild zeigt sie mehrfach – am Briefkasten vor dem Haus, Betten ausschüttelnd auf dem Balkon, aus dem Fenster schauend, ruhend auf einem Klappstuhl im Freien, sichernd (und anstoßend) auf dem Rasen hinter dem Kind, das auf der Schaukel sitzt. Die Raute ist fest eingebunden in eine Fülle von Kleinpanels (je 20 auf jeder Seite), die – wie das erste quadratische Panel oben links (rote Schrift und weißer Pfeil auf schwarzem Grund) ausweist – den Alltag Fridolins schildern. Wir verfolgen, wie er das Haus verlässt, mit dem Wagen fährt, ins Hospital kommt, dort seiner Tätigkeit als Arzt auf vielfältige Weise nachkommt, Kaffe- und Kantinenpause einlegt, dann (die 35 Das Verfahren variiert: Mal weist eine Seite drei Register, mal vier auf, mal strecken sich – wie auf S. 81 – die Panels über die ganze Bildbreite, mal enthält ein Register zwei (vgl. TN 37) oder drei Panels (vgl. TN 25, 57). 36 Hinrichs geht dabei oft raffiniert vor: Seite 6, das obere große Panel sowie die darunter angeordneten drei Panels sind durch eine fallende Diagonale verbunden; auf der gegenüberliegenden Seite 7 wird das gleiche Prinzip, nur spiegelverkehrt (steigende Diagonale) benutzt, so dass beide Seiten als Einheit wieder eine in sich ruhende Symmetrie aufweisen – was narrativ begründet ist: Seite 6 zeigt die erotische Versuchung Fridolins durch die Zuckerwatteverkäuferin, Seite 7 die Albertines durch den Muskelmann – in den kleinen unteren Panels wird die Versuchung abgewehrt respektive sie hat keine Folgen, weil Fridolin und Albertine wieder (mit dem Kind) zusammenfinden und gehen.

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Abb. 3: Hinrichs: Traumnovelle, S. 14f.

vier Panels im unteren Register, TN 15) das Hospital wieder verlässt, mit dem Auto fährt, nach Hause kommt, wo ihn Albertine empfängt und ihm dann (aus der alltäglichen und sich sicher immer so wiederholenden Routine wieder in die aktuelle Geschichte führend) sagt (rote Schrift auf schwarzem Grund): »Weißt du, an was ich heute den ganzen Tag denken musste?« (Es folgt dann, TN 16-22, ihr Dänemarkerlebnis.) Wie oben schon angemerkt, erinnert die Zeichnung in ihrer additiven und piktogrammartigen Art an die Wiener Bildstatistik – und so bekommt die Darstellung auch einen informierenden Charakter. Sie präsentiert anschaulich das Alltagsleben und zugleich die Rollenverteilung in der Familie (dieser wie gesellschaftlich vergleichbarer): der Vater ist außer Haus tätig, geht dem Beruf nach, verdient Geld, die Frau hütet als Hausfrau und Mutter Haus und Kind, dabei auf seine Rückkehr wartend. Dieses Familienbild spiegelt das der durchschnittlich bürgerlichen Familie nicht nur zur Zeit der Entstehung der Novelle, sondern es hatte seine Gültigkeit bis weit in das 20. Jahrhundert und wird erst langsam aufgrund ansteigender Berufstätigkeit von Frauen verändert. Die Abhängigkeit der Frau vom Mann (sie war auch nicht geschäftsfähig), der Gegensatz von eher langweiliger Ruhe (Frau) und eher hektischer, abwechslungsreicher Vielfalt (Mann) wie auch die stabile, kaum veränderbare klare Festschreibung dieser Situation werden durch die feste Einbindung der Raute in die vielfältigen Segmentpanel des Berufslebens Friodolins und die ausgewogene Symmetrie der Doppelseite angezeigt. Das Bild ist somit eine anschauliche und geglückte Charakterisierung der Rollenverteilung und Lebenssituation der Protagonisten und erklärt diese zugleich als nachvollziehbar mögliche Brutstätte der geheimen erotischen (Gegen-) Fantasien. Wird hier additiv aufgelistet, so fordern andere Bildseiten die mitspielende

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Aktivität des Betrachters, so, wenn die Handlungsszene prominent in die Bildmitte gesetzt wird, wie Fridolins Krankenbesuch im Hause des Aufsichtsratsvorsitzenden (vgl. TN 27, Abb. 4). In einer auf der Spitze stehenden Raute sehen wir (aus der Vogelperspektive) Fridolin, wie er den Puls des auf dem Bett liegenden Aufsichtsratsvorsitzenden fühlt, der – wie die Sprechblase ausweist – aber schon verstorben ist, sowie – neben dem Bett eingesunken in einem Sessel sitzend – seine Tochter Marianne. Die Ecken der Seite füllen kleine Panel aus, die die Akteure aus dem Hause des Aufsichtsratsvorsitzenden zeigen: ihn selbst (unten links), das Dienstmädchen (oben links), Dr. Roediger (oben rechts; wie sich später erweisen wird, der Verlobte Mariannes), Marianne (unten rechts). Die Vorstellung dieser Akteure wird durch Schrift am unteren Panelrand (»Das Mädchen« etc.) vervollständigt. Das Verfahren ist nicht neu; wir finden es z.B. in Bilderbögen-Bildgeschichten des 19. Jh., etwa im Dornröschen-Blatt von Wilhelm Simmler37, das im mittig angeordneten Tondo die Schlüsselszene der Geschichte zeigt (das schlafende Dornröschen, den ankommenden Prinzen, die alte Spinnerin im Hintergrund) und in den vier Ecken weitere Figuren (die verwünschende böse Fee, schlafende Personen im Schloss). Das Layout fordert den Betrachter auf, selbst die Verbindung zwischen den Bildern – der Hauptszene, den Nebenpanels – herzustellen, also aktiv das visuelle Angebot narrativ zu deuten, was im Falle der Traumnovelle

Abb. 4: links: Hinrichs: Traumnovelle, S. 27; rechts: Wilhelm Simmler: Dornröschen. Deutsche Bilderbogen Nr. 124, Stuttgart: Gustav Weise (19. Jh.), aus: 100 Deutsche Bilderbogen für Jung und Alt in einem Band. Zürich 1978. 37 Wilhelm Simmler: Dornröschen. Deutscher Bilderbogen für Jung und Alt, Nr. 124, Stuttgart: Gustav Weise, um 1870.

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deshalb gelingt, weil das Blatt natürlich in den Kontext eingebunden ist (TN 11  zeigt z.B. das Mädchen und ihre Bedienstetenaufgabe, die Rollen von Marianne und Roediger werden im Folgenden geklärt). Auch das Simultanbild – ein Raumbild, in das die handelnden Figuren mehrfach an unterschiedlichen Stellen eingefügt sind, was der Betrachter als Handlungsfolge in fortschreitender Zeit verstehen muss – wird von Hinrichs genutzt. Seite 35 (Abb. 5) zeigt auf schwarzem Grund einen s-förmigen, blauen Straßenverlauf (von oben links nach unten rechts), auf dem Fridolin dreimal (zweimal mit ausholendem Schritt in Mantel, Hut und mit Aktentasche, einmal wird nur sein Kopf gezeigt) zu sehen ist. Die Szene schildert, wie er das Haus des toten Aufsichtsratsvorsitzenden verlassen hat und nun durch die Nacht irrt, weil er noch nicht zu Albertine zurück will. In den ersten S-Bogen (links) ist schematisch eine Bank mit einer Figur dargestellt; der Text (als Gedanken oder Selbstgespräch Fridolins zu lesen) macht deutlich, dass Fridolin hier einen Obdachlosen sieht, ihm aber – Hinrichs folgt ganz dem Text der Novelle – kein Almosen geben will, weil »der morgen bestimmt nochmal was« (TN 35) haben will. Im zweiten S-Bogen (rechts) sieht man eine aufrechtstehende Streichholzschachtel, die (verstärkt durch die auf ihr aufgebrachte Abbildung züngelnder Flammen und eines vermenschlichten Streichholzkopfes) die nachfolgende Episode (die Couleurstudenten) ankündigt (d.h. ihre Bedeutung für die Geschichte klärt sich für den Betrachter nach dem Umblättern). Fridolins Weg führt – wie auch der kurze Text (Gedanken Fridolins) konkretisiert – nicht nach Hause, sondern ins Unbekannte. Er endet hier am Panelrand, was den Betrachter stimuliert, der Straße folgend umzublättern. (Auf Seite 36 wird im ersten Panel die Straße wieder aufgenommen, jetzt aber

Abb. 5: links: Hinrichs: Traumnovelle, S. 35; rechts: Hans Fischer: Hans im Glück, aus: Märchenbilder, Zürich, Stuttgart 1961, S. 34.

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nicht schematisch, sondern räumlich ins Bild gesetzt: ein Straßenzug, auf dessen Bürgersteig Fridolin den drei Couleurstudenten begegnet.) Auch dieses Verfahren hat eine lange Tradition; hier sei als Vergleichsbeispiel auf das Märchensimultanbild von Hans Fischer verwiesen, Hans im Glück.38 Auch Hans geht von Station zu Station seinen Weg durchs Bild; doch er findet zum Schluss sein akzeptiertes Glück, wenn auch jenseits bürgerlich-kapitalistischer Wunschvorstellungen. Hans ›kommt an‹ – somit zeigt sich Hinrichs Simultanbild als Kontrastmodell: es lässt schon ahnen, dass Fridolin nicht zur Erfüllung seiner Träume kommt. Dass diese Deutung nicht aufgesetzt ist, zeigt ein zweites Simultanbild: Im Kontext der Traumgeschichte (vgl. TN 83) sehen wir wieder einen sich durch das hochformatige Bild schlängelnden Weg, auf dem Fridolin mit einem Stapel Pakete entlang läuft. Auch hier endet der Weg am Panelrand, führt für Fridolin ins Ungewisse, ja, ins Verderben (wie dann die Folgeseiten zeigen). Das Layout der Bildgeschichte ist wohlüberlegt und narrativ begründet. Hinrichs beteiligt uns am Geschehen als deutende Zeugen. Seine Bildgeschichte fordert eine mitdenkende Rezeption, die ständig Bezüge zwischen dem Gezeigten herstellt.

6. E rzählebenen Verstärkt wird das auch durch die Erzählweise, die zwischen unterschiedlichen Ebenen changiert und so immer wieder irritierende Perspektivwechsel setzt. Auch das soll an einigen Beispielen verdeutlicht werden. Da ist einmal die Darstellung des Handlungsprozesses in einer linear-sukzessiven engen Folge (vgl. TN 25, 43), die vornehmlich der Person Fridolins folgt – wie bei Schnitzler auch – und den Betrachter miterleben lässt, was geschieht: Seite 25 zeigt, wie Fridolin (nachdem Albertine, vgl. TN 16-24, ihm ihr Dänemarkerlebnis erzählt hat) Hut und Tasche nimmt und das Haus verlässt (1. Register, Panel 1, 2), das angefangene Essen bleibt auf den Tellern zurück (2. Register, Panel 3, 4), Fridolin nimmt ein Taxi (Panel 5, über die Seitenbreite ohne Umrandung, wir schauen, einem Röntgenbild vergleichbar, in die Autosilhouette mit Tasche im Kofferraum, Fridolin auf dem Rücksitz, Fahrer am Lenkrad und Motor vorne), immer noch beschäftig ihn das Gehörte, wie die rotunterlegte Sprechblase (angeordnet im 2. Register zwischen Panel 3 und 4) ausweist; er nennt dem Fahrer das Ziel (4. Register, Panel 6), ist offensichtlich angekommen, da der Fahrer das Fahrgeld fordert (Panel 7), hat das Taxi verlassen und zahlt (Panel 8). Wird hier auf einer ›realen‹ Ebene ein als wirklich gemeintes Geschehen ge38 Hans Fischer: Hans im Glück, in: ders.: Märchenbilder, Zürich/Stuttgart 1961.

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zeigt, sachlich-plakativ, so gibt es daneben die Schau ins Innere, in die Welt der verdrängten, heimlichen Sehnsüchte in den Köpfen der Protagonisten. Während zum Beispiel Edmond Baudoin39 uns das Innere seines Protagonisten zeigt, indem er dessen Vorstellungsbilder sichtbar aus seinem Kopf quellen lässt oder der Protagonist in Jan Bauers Der salzige Fluss40 selbst symbolisch verkleinert in sein Innerstes einsteigt, um gegen seine Seelenmonster zu kämpfen, zeigt uns Hinrichs das Spiel zwischen Außen – und Innenwelt auf unterschiedliche Weisen: (1) auf der Gesprächsebene (vgl. TN 8f., 24) als Sprechblasendidalog, dessen Entwicklung und Zeitfolge der Leser in der der Leserichtung von links nach rechts bzw. von oben nach unten folgend erfasst, ein Verfahren, das Bastien Vivés zum gleichen Thema benutzt.41 Doch während Vivés im ganzen Buch auf der Gesprächsebene bleibt, zeigt Hinrichs die erotischen Vorstellungen auch konkret (2) als Traumvision, in ihrer Irrealität durch die wolkige Panelumrandung auf schwarzem Grund angezeigt (vgl. TN 12) oder (3) als erzählte Erinnerung in Bildfolge mit wolkiger Kontur (Albertines Dänemarkerlebnis, vgl. TN 17-22), wobei die Erzählsituation selbst thematisiert wird, indem Erzählerin wie Zuhörer mit entsprechender Reaktion im Bild präsentiert werden. (4) Ein weiteres Verfahren ist die Geschichte in der Geschichte, wenn Albertine Fridolins visuelles Tagebuch findet. Auf S. 45 sehen wir Albertine, wie sie – höchst überrascht – das Buch aufgeschlagen hat, das dann (vgl. TN 45-49) wie ein eigenes Medium präsentiert wird – mit Titelzeichnung und Titelschriftzug (TN 46: »Fridolins Abenteuer in Dänemark«), partiell mit Rasterflächen (die an die Drucktechnik alter amerikanischer Comichefte erinnern) und – gemäß der Comicserie – mit den Worten »Fortsetzung folgt« (TN 49) endet (was natürlich auch auf konkrete mögliche Folgen hinsichtlich des Verhältnisses Albertine – Fridolin wie auf ihrer Wunschbefriedigungen verweist).42 Realitäts- und Traum- bzw. Visionsebenen sind so deutlich markiert voneinander getrennt. Wo beide Ebenen zueinander kommen – wie bei der geheimen nächtlichen Orgie (vgl. TN 62-80) – geschieht das im Verborgenen: in der abseits gelegenen Villa, zu der man nur Einlass mit einem Passwort bekommt; die Teilnehmer der Sexparty sind maskiert. Die ganze Szenerie zeichnet eine geheimnisvolle Atmosphäre aus, die an Bilder vom venezianischen Karneval erinnern, an Maskierte, wie sie Pietro Longhi43 festgehalten hat oder auch in dem schon 39 Edmond Baudoin: Die Reise, Zürich 1998. 40 Jan Bauer: Der salzige Fluss, Berlin 2014, S. 4-8. 41 Bastien Vivés: Die Liebe, Berlin 2013. 42 Das Verfahren findet sich z.B. auch bei Paul Hornschemeier: The three Paradoxes, Seattle 2008, der die Geschichte in der Geschichte (aufgemacht als Comicheft) mehrfach benutzt, als Mittel der Erinnerung wie der erklärenden Beigeschichte. 43 Z.B. Pietro Longhi: Ridotto in Vernedig, 1750, Öl/Leinwand, 84 x 115cm, Privatsammlung.

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erwähnten surrealen Bildroman von Max Ernst auftreten. Die Maske ist ein Zeichen der Sicherheit, hinter der man die bürgerliche Existenz mit all ihren Normen, Werten und Skrupeln versteckt, um sich ganz den geheimen Begierden hingeben zu können. Die Demaskierung, die Fridolin droht, nachdem er als Eindringling erkannt wurde (vgl. TN 74f.), ist dann natürlich eine Entblößung, die einer Vernichtung gleichkommt – und die Fridolin auf keinen Fall zulassen kann. Doch nur dank der auslösenden Übernahme der Strafe durch die maskierte geheimnisvolle Unbekannte, die Katzenfrau, kann Fridolin der Gefahr entkommen (vgl. TN 76f.). Die Szene ist – wenn auch verborgen und geheim – doch ›real‹, wird dann aber im Fortgang in den traumhaft-märchenhaften Charakter eingebunden, den Hinrichs – stärker noch als Schnitzler – der Geschichte gibt. Die Novelle – im Text wie in der Bildgeschichte – beginnt mit einem Zitat: »Vierundzwanzig braune Sklaven ruderten die prächtige Galeere, die den Prinzen Amigiad zu dem Palast des Kalifen bringen sollte…« (TN 3, 99) Im Text erfahren wir, dass das Kind (das kleine Mädchen des Protagonistenpaars) vor dem Einschlafen selbst vorgelesen hat (vgl. TN 99); in der Bildgeschichte bleibt zwar offen, wer hier liest (spricht), aber dass die Zeilen (in Schwarz auf blauem Grund geschrieben, vgl. TN 3) vorgetragen werden, zeigt die Grammatik der Sprechblase an (siehe das Ventil unten rechts). Der Text spielt auf die beliebten orientalischen Märchen aus ›Tausendundeiner Nacht‹ an.44 Das im Text genannte Motiv der Galeere wird (vgl. TN 80f.) wieder aufgegriffen – aber kein Prinz wird übergesetzt, sondern Fridolin wird nach dem Erlebnis in der Villa ausgesetzt, um jetzt übergangslos und gezwungenermaßen in eine Geschichte zu geraten, die Albertines erzähltem Albtraum im Text entspricht (vgl. TN 134-138), hier aber zu einem Erlebnis Fridolins wird. Erst zum Schluss (vgl. TN 88f.) erkennen Fridolin wie der Rezipient, dass das Erlebnis ein Traum ist. Während Fridolin aufwacht, lacht Albertine im Traum (vgl. TN 88, Panel 3) – das korrespondiert mit ihrem Lachen in dem von Fridolin erlebten Geschehen und drängt den Schluss auf, dass die Episode sowohl Fridolin als auch 44 Die Zeilen dürften von Schnitzler erfunden sein. In der vollständigen deutschen Ausgabe in sechs Bänden (Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten. Nach dem arabischen Urtext der Calcuttaer Ausgabe aus dem Jahr 1830, übertragen von Enno Littmann, Frankfurt a.M. 1974) kommt keine entsprechende Geschichte vor. Die genannten Namen finden sich allerdings in der Ausgabe: Die Erzählungen der 1001 Nacht aus Tunesien. Arabische Erzählungen. Deutsch von Max. Habicht, Fr. H. von der Hagen und Carl Schall, 238. Nacht (http://www.wissen-im-netz.info/literatur/habicht/1001/200/0238.htm, letzter Zugriff am 21. Februar 2014), allerdings im Kontext einer anderen Geschichte. Es geht im Text also primär um eine Anmutung: geheimnisvoller Märchenstoff, wobei bekannt ist, dass die arabische Sammlung auch erotische Motive enthält.

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Albertine bewusst ist. Die Maske zwischen ihnen auf dem Kopfkissen wird zum verbindenden Symbol von Realität und Vision – zugleich aber auch zum ironisch gegenpoligen Hinweis auf Fridolins versuchten Ehebruch und seine tragischselbstbemitleidenden Überlegungen (TN 89: »Ein Traum ist immer mehr als ein Traum… Sie hat mir gezeigt, wie sie wirklich ist! Ein Schwert zwischen uns!« 45).

7. E rotik Was im Schnitzler’schen Text durch die Sprache eher angedeutet denn konkret geschildert wird, thematisch aber stets dominiert, ist das erotische Flair, das auch den Charakter der Bildgeschichte bestimmt. Auch hier arbeitet Hinrichs mit unterschiedlichen Mitteln, wobei das Bild natürlich direkter ist, wenngleich – das kann allgemein festgestellt werden – die erotischen Motive sich nie verselbständigen, sondern ihren festen narrativen Stellenwert haben. Zudem bricht der teils leicht karikierende, teils schematisierende Stil die erotische Wirkung und erlaubt dem Betrachter, trotz Anschaulichkeit und emotionaler Wirksamkeit, eine gewisse Distanz zum Dargestellten. Da ist zunächst die symbolische Metamorphose: Die süße Zuckerwatte, die auf der Eingangsseite (vgl. TN 3) auf einen Stab gedreht wird, verwandelt sich von Panel zu Panel in einen nackten Frauenkörper, wird in den Augen des Mannes Fridolin zum sexuellen Objekt – ein Reiz, der Begierden, unbewusste oder verdrängte Wünsche weckt. Was hier noch Andeutung ist, wird dann als Traumvisionen beider Protagonisten anschaulich konkretisiert. Das ganzseitige Bild auf Seite 12 zeigt auf schwarzem Grund die Köpfe Albertines und Fridolins. Ihre Augen sind geschlossen: Sie schlafen; und sie träumen, wie die große, wolkig umrandete Blase über den Köpfen anzeigt. Sie ist gefüllt mit den Reizattributen des Jahrmarktes (vgl. TN 4, 6f.), wobei deren Andeutungen nun visuell offenbar werden: Das Riesenrad wird von einem erigierten Penis gehalten, der Zelteingang ist eindeutig eine Vagina; Fridolin kopuliert mit der Zuckerwattefrau (die auf ihm kniet), Albertine leckt am erigierten Penis des nackten Muskelmannes, dessen sexuelle Prägung nicht nur durch den übertriebenen maskulinen Körperbau ausgewiesen ist, er stemmt zudem eine weibliche Person an ihren gespreizten Beinen mit den Armen in die Höhe, so dass er – die Zunge lüstern herausgestreckt – unter ihren Rock auf ihre Scham schauen kann. Ein Clown mit nacktem Unterkörper jongliert mit drei Pe45 Hier zitiert Hinrichs Schnitzler, wenn auch aus verschiedenen Abschnitten: »Ein Schwert zwischen uns, dachte er wieder.« (TN 139); »›Und kein Traum‹, seufzte er leise, ›ist völlig Traum.‹« (TN 157)

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nissen. Die bewusst provozierende pornographische Darstellung – gebrochen durch den karikierenden Stil – konkretisiert als Traum, was die Reize des Jahrmarktes unterschwellig auslösten, aber doch nur in der Vorstellungswelt der Protagonisten umgesetzt werden. Die sexuellen Wünsche bleiben Fantasie und finden keine reale Umsetzung.46 Scheinbar wirkliches Erleben ist, wie gesagt, die surreal-dramatische Episode, in der Fridolin hilflos Zeuge wird, wie sich Albertine mit dem Dänen sexuell vergnügt (vgl. TN 84)47, er selbst hingegen als Störer ausgepeitscht und in eine Grube geworfen wird (vgl. TN 85, 88).48 Und hier zeigt uns Hinrichs, dass Fridolin sich nicht nur in den Strudel der Ereignisse treiben ließ – denn unbewusst, gewissermaßen im inneren Hintergrund spielt sich eine Entwicklung ab, die nach Zweifeln dann doch zur Gewissheit wird: Fridolin wird sich seiner ausschließlichen Liebe zu Albertine bewusst, die keine anderen sexuellen Erlebnisse zulässt, selbst wenn Albertine ihn auslacht. »Und wenn es meinen Tod bedeutet. Albertine. Ich liebe dich. Ich bleibe bei dir.« (TN 87) Doch bevor Fridolin zu dieser Einsicht kommt, hatte ihn die Dänemarkerzählung Albertines (vgl. TN 16-22) verstört, ja, seiner Frau entfremdet, letztlich 46 Aufschlussreich ist, dass Hinrichs die Aktion Fridolins direkt über Albertines Kopf platziert und umgekehrt; ein visueller Verweis – wie auch die Traumblase nicht getrennt ist, sondern als gemeinsamer Traum erscheint – darauf, dass die verdrängten, heimlichen sexuellen Begierden beide beschäftigen und sie – was ja die Krise erzeugt – gegenseitig beiden bewusst sind. 47 Der sexuelle Akt zwischen dem Dänen (er ist wiedererkennbar in TN von Seite 18-21 aufgenommen) und Albertine wird in einer Raute in drei Szenen präsentiert, wobei (im Layout vergleichbar mit TN 27, s.o.) weitere Szenen in den vier Ecken platziert sind: Oben links sehen wir Fridolin, wie er mit Kleiderpaketen auf den Armen herbeiläuft; die anderen drei Szenen zeigen Phalli als selbstagierende lebende Wesen, Zeichen der sich verselbständigenden sexuellen Lust, wie wir sie z.B. als groteske phallische Gemmen oder Bronzen aus der römischen Kunst kennen (Abb. in Eduard Fuchs, Geschichte der erotischen Kunst, München 1912, Bd. 1, S. 153, 155, 157). 48 Den Gegensatz zwischen dem bekleideten Fridolin, der Albertine Kleider bringt, und der aggressiven nackten Albertine, die sich ganz der Sexualität hingibt, wird von Hinrichs visuell deutlich herausgestellt. Albertine weist zwei maskierte Männer (ähnliche Masken tauchen in der Villa auf) an, Fridolin auszupeitschen und zur Herzogin zu bringen, die ihn dann in die Grube werfen lässt – begleitet von Albertines Lachen, was Fridolin aufwachen und die Episode als Albtraum erkennen lässt. Die Szene und ihre Entwicklung sind symbolisch klar deutbar, so dass die Änderungen gegenüber dem Text Schnitzlers keine verfälschende Abweichung, sondern in sich narrativ stimmig sind.

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aufgrund von Schuldgefühlen, weil er ja ähnliche geheime Sehnsüchte hegt.49 So flieht er in die Nacht mit ihren realen erotischen Angeboten: Doch in der Episode mit Marianne weist er ihr Liebesangebot zurück, weil er fest in die bürgerliche und ärztlich-professionelle Rolle gebunden ist.50 Direkt umzusetzen gedenkt Fridolin dann seine sexuellen Wünsche bei der Prostituierten Mizzi. Hinrichs zeigt die Szene provokativ: Die Zwitterrolle, die er Mizzi gibt (vgl. TN 40), greift eine ähnlich provozierende Darstellung von Grosz auf.51 Dabei bleibt es der Fantasie des Betrachters überlassen, ob er Mizzi tatsächlich als Zwitter sieht, ob er das erigierte Glied als Fridolins zwanghafte Fixierung versteht oder die Szene schlicht eine Provokation gegen die bürgerliche Norm ist. Auch hier begeht Fridolin keinen Ehebruch: »Mizzi, ich weiß nicht..« sagt er – und sie versteht ihn: »Wegen deiner Frau?« (TN 41). Während der ganzen Szene bleibt Fridolin angekleidet, sitzt schließlich bedrückt auf Mizzis Bett und gibt ihr recht, wenn sie sagt: »Mach dich nicht unglücklich. Geh nach Hause zu deiner Frau und sprich mit ihr.« (TN 42). Geld nimmt Mizzi nicht an – und die Szene endet (vgl. TN 42, Textpanel): »Die war ja richtig nett, der lass ich Pralinen schicken.« (Während Schnitzler das erneut aufgreift und Fridolin am nächsten Tag bei Mizzi wieder vorspricht – ohne sie anzutreffen –, beendet Hinrichs die Episode hier.) Moralisch zwielichtiger ist die Szene beim Kostümverleiher Gibiser, die metaphorisch eindeutig und leicht interpretierbar ins Bild gesetzt wird: Zwei maskierte Jünglinge grabschen die Tochter Gibisers an. Sie ist dargestellt als anthropomorphisierte süße Eistüte, die die beiden abschlecken (vgl. TN 56, Abb. 6). Die Metapher erinnert visuell an die Artemis Ephesia, die Kultstatue der Artemis, der Schwester Apolls. Sie wird mit zahlreichen Brüsten dargestellt, was sie als Ernährerin aller Lebewesen ausweist, aber auch anzeigt, dass Sexualität ›natürlich‹ zum Leben gehört.52 Hier wirkt das Bild eher ironisch-zynisch. Die Eistüten-Tochter 49 Das wird in der Bildgeschichte besonders plausibel, weil – im Unterschied zum Text – Fridolins Dänemarkerlebnis hier noch nicht erzählt wurde, sondern sich erst später in seinem visuellen Tagebuch Albertine offenbart. 50 Die Szene erinnert an eine ähnliche bei Frans Masereel (Geschichte ohne Worte, Genf 1920/München 1924), in der der Kontrast zwischen der hingebungsvollen Frau und der distanziert kühlen Abweisung durch den Mann ähnlich anschaulich präsentiert wird. 51 George Grosz: Halbbekleideter, stehender Zwitter, um 1940, Aquarell, Berlin, Galerie Nierendorf (Abb. in Schuster 1994, S. 191). 52 Vgl. Abb. 6 rechts: Statue of Artemis, fotographiert von Markus Manske: Wikimedia Commons, lizenziert unter CreativeCommons-Lizenz by-sa-2.0-de, http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f4/Statue_of_Artemis_%285282695469%29.jpg (letzter Zugriff am 30. Oktober 2014).

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stürzt in Fridolins Arme (»Helfen Sie mir«, TN 57, Panel 4, 5, 7); der Vater – der beide Jünglinge in den Schwitzkasten nimmt (vgl. TN 57, Panel 6) – schickt die Tochter die Treppe hinauf. Fridolin, der annimmt, die Tochter sei psychisch gestört, bietet seine Hilfe als Arzt an (vgl. TN 58). Offenbar erkennt er – naiv – zunächst nicht, dass der Vater seine Tochter prostituiert, was aber dem Rezipienten schlussfolgernd deutlich vermittelt wird: Er schickt die jungen Männer nicht fort, sondern fordert sie zum Bleiben auf (vgl. TN 58, Panel 1), zu seiner Tochter sagt er: »Und du gehst nach oben. Ich komme, wenn die Herren bezahlt haben…« (TN 58, Panel 2), und zu Fridolin meint er hämisch lachend: »Vielleicht hätten Sie ja Lust, die ›Behandlung‹ zu übernehmen?« – »Kommen Sie jederzeit, wenn sie mehr wünschen, als nur ein Kostüm« (TN 58, Panel 5, 6), wobei das Wort »mehr« von zwei Herzen umschlossen ist. Die Veränderung von Fridolins Mimik (TN 58, Panel 7 gegenüber Panel 4: er bekommt rote Flecken im Gesicht) lässt schließen, dass er nun doch das obszöne Angebot erfasst hat, aber verärgert ablehnt. (In Schnitzlers Text wird der Sachverhalt beim zweiten Besuch Fridolins bei Gibiser ersichtlich.) Der erotische Höhepunkt ist dann die geheime Sexparty in der Villa (TN 64-79). Fridolin bleibt hier ein Fremdkörper, der nicht wirklich beteiligt ist. Er beobachtet nur, was die Maskierten so eindeutig treiben. Die Szene (Doppelseite TN 66f. zeigt offen diverse sexuelle Aktionen) erinnert an entsprechende Filme aus dem Swingermilieu53 und hat ihre Vorbilder in den Orgien antiker Bacchusfeste, wie sie z.B.

Abb. 6: links: Hinrichs: Traumnovelle, S. 56; rechts: Artemis-Statue 53 Vgl. Österreichischen Nationalbibliothek (Hg.): Der verbotene Blick. Erotisches aus zwei Jahrtausenden 2002, Wien 2002.

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La Fage, der Hofmaler Ludwigs XIV. in einem Kupferstich 1689 festgehalten hat.54 Ein Stich nach einem Gemälde aus der französischen Revolution, um 179355, weist darauf hin, dass die sexuellen Ausschreitungen als typisch dekadentes Verhalten der als verkommenen bewerteten oberen Schichten angesehen wurden. Auch Dave McKean kennzeichnet in seinem textfreien erotischen Bildroman Celluloid56 die Sexorgie der Maskierten als ein heimliches Spiel dekadenter Bürger.57 Und so ist denn auch die Szene (vgl. TN 78f.), die das hingebende Opfer der Katzenfrau zur Errettung Fridolins zeigt, durchaus zweideutig: Ihre an Gullivers Erlebnis in Liliput58 erinnernde Größe zeigt nicht nur (in Bedeutungsgröße) das Ausmaß ihres Opfers als sexuelles Angebot für all die Kreaturen, die sich hier aus allen Szenen der Bildgeschichte gierig versammeln, sie kann – in der Tradition z.B. der Karikatur Der Schrecken von Jéan Beber (1904)59 auch als Bedrohung bürgerlicher Scheinordnung und vorgeblicher moralischer Gefeitheit gesehen werden. (Abb. 7) Und so endet auch Hinrichs Bildgeschichte ein wenig provokanter als Schnitzlers Text. Hier erzählt Fridolin, wieder nach Hause zurückgekehrt, seiner Frau das ganze Erlebnis. Danach fragt er sie »zweifelnd und hoffnungsvoll zugleich: ›Was sollen wir tun, Albertine?‹ Sie lächelte, und nach kurzem Zögern erwiderte sie: ›Dem Schicksal dankbar sein, glaube ich, dass wir aus allen Abenteuern heil davongekommen sind – aus den wirklich und aus den geträumten.‹« (TN 157) Fridolin bleibt noch skeptisch: »Und kein Traum ist völlig Traum«, doch Albertine »nahm seinen Kopf in beide Hände und bettete ihn innig an ihre Brust. ›Nun sind wir wohl erwacht‹, sagte sie – ›für lange‹«. (TN 157). Das Ende ist versöhnlich, wenn auch relativ offen, was die Zukunft angeht: »Niemals in die Zukunft fragen« (TN 158), flüstert Albertine. Hinrichs schließt die Geschichte nicht mit der Aussprache des Ehepaars, sondern mit Fridolins Besuch in der Pathologie. Hier sucht er Klarheit zu gewinnen, ob die verstorbene Sängerin Baroness von D. (von deren Tod er durch die 54 Abb. in Fuchs: Geschichte der erotischen Kunst Bd. 1, Tafel n. S. 80. 55 Abb. in Fuchs: Geschichte der erotischen Kunst Bd. 1, Tafel n. S. 320. 56 Dave McKean: Celluloid. Seattle 2011; vgl. Dietrich Grünewald: Telling without words. The literary structure of Dave McKean’s Erotic Graphic Novel »Celluloid«, in: International Journal of Comic Art 15 (2013), Nr. 2, S. 713-722. 57 Die unterschwellige Kritik entspricht intentional dem Zitat von Dix’ Gemälde Kriegskrüppel (vgl. TN 10). 58 Johnathan Swift: Gullivers Reisen, aus dem Englischen übers., komm. und mit einem Nachwort von Hermann J. Real und Heinz J. Vienken, Stuttgart 1987. 59 Jéan Beber: Der Schrecken, in: Eduard Fuchs: Die Frau in der Karikatur, München 1906, S. 37.

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Fernsehnachrichten erfahren hat, vgl. TN 92) mit seiner Retterin, der Katzenfrau, identisch ist. Der Chef der Pathologie, Dr. Adler, hat (vgl. TN 94, Panel 4) wohl einen Test für Fridolin durchgeführt; daher überrascht ihn dessen Erscheinen nicht und er erlaubt ihm, den Leichenraum aufzusuchen. Während bei Schnitzler offenbleibt, ob die Tote tatsächlich die geheimnisvolle Retterin ist, deutet die sichtbare Ähnlichkeit zwischen der Katzenfrau und der Toten das hier als wahrscheinlich an (vgl. TN 77, 95). Die Bildgeschichte endet mit Fridolins Blick in ein Mikroskop, das den erwünschten Test in der Probe ausweist – und mit dem Umblättern endet die Geschichte. Fridolins Blick aufnehmend, schaut der Betrachter auf die Probe. In einer Petrischale sehen wir u.a. acht Wesen schwimmen: sie sehen aus, wie die verführerische junge Frau aus Fridolins Dänemarkerlebnis, aus seinem visuellen

Abb. 7: oben: Hinrichs: Traumnovelle, S. 78f.; unten: Jéan Beber: Der Schrecken, 1904, aus: Eduard Fuchs: Die Frau in der Karikatur. München 1906, S. 37.

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Tagebuch (vgl. TN 47). Sie schwimmen in der roten Lösung – wie ein Krankheitskeim, der im Blut bzw. in der Psyche weiterhin latent infektiös ist. Kehren wir zur eingangs gestellten Frage zurück. Sie kann meines Erachtens bejaht werden; Hinrichs hat eine kongeniale Fassung vorgelegt. Die Analyse hat gezeigt, dass die Adaption eine eigenständige, in sich stimmig entwickelte Geschichte ist, aus der trotz einiger Änderungen gegenüber dem Text die Intention der Schnitzler’schen Novelle ablesbar ist. Die vielschichtige, artifizielle Bildsprache fordert ein genaues Betrachten. Sie zeigt das Wechselspiel zwischen Innenwelt und Außenwelt der Protagonisten, zwischen Alltagswirklichkeit und geheimen Sehnsüchten und Träumen, zwischen bürgerlicher Moral und dem Überschreiten sexueller Tabus in einer gelungenen Einheit von sachlich-plakativer und märchenhaft-traumhafter Gestaltung, wobei die notwendige einfühlende Deutungsarbeit den Rezipienten über eine Zeugenrolle hinaus zum betroffenen Mitspieler macht – und so die Aktualität der Thematik spürbar werden lässt.

Gregor Samsa als Bug Boy. Eine japanische Kafka-Adaption unter den Vorzeichen des Hikikomori-Diskurses J oanna N owotny /B ettina J ossen

Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung (1915) gehört bekanntlich zu den meistrezipierten Texten der deutschsprachigen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Ihr Hauptmotiv − die Verwandlung eines Mannes in einen Käfer − ist so berühmt wie wohl wenige andere literarische Motive und hat diverse Adaptionen in verschiedenen medialen Kontexten inspiriert, beispielsweise David Cronenbergs Film The Fly (1986) oder die Bühnenadaption von Steven Berkoff (1969), deren Text als Grundlage des Librettos von Brian Howards Oper Metamorphosis  (1983) diente. So geläufig ist das Verwandlungsmotiv, dass auch in popkulturellen Erzeugnissen wie den Spider Man-Comics ganz selbstverständlich darauf verwiesen werden kann. In der sogenannten Six Arms Saga (1971) etwa versucht Peter Parker, sich seiner Spinnenkräfte zu entledigen. Nach Einnahme eines Serums fällt er in einen unruhigen Schlaf, nur um mit sechs Armen, also halb in eine Spinne verwandelt aufzuwachen und auszurufen: »You’ve become a character in a tale by Kafka – and you’ve gotta give this little saga a happy ending.«1 Um Spider-Man soll es in diesem Aufsatz nicht gehen, aber doch um ein populärkulturelles Erzeugnis der Kafka-Rezeption in Comicform, das in Europa kaum bekannt sein dürfte: das japanische Horror-Manga Bug Boy von Hideshi Hino (1975).2 Das Verhältnis, in dem Bug Boy zur Verwandlung steht, ist ein komplexes. Bug Boy ist keine simple illustrierte Version von Franz Kafkas Textes – sollte eine solche überhaupt möglich sein –, sondern viel eher eine freie, gleichzeitig kulturspezifische Aneignung von vielen seiner Grundmotive. 1 The Amazing Spider-Man, Vol. 1, Heft 101 (Oktober 1971); Hervorhebung im Original. 2 In der Analyse wird mit der deutschen Übersetzung gearbeitet: Hideshi Hino: Bug Boy, (= Hino Horror Nr.2), Hamburg 2007, im Folgenden zitiert mit der Sigle BB und Seitenzahl.

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Obwohl das Kafka’sche Verwandlungsmotiv nur in wenigen westeuropäischen Stellungnahmen zu Bug Boy bemerkt wird und der Verweis auf Kafka im Paratext der deutschen Ausgabe ausbleibt − im Nachwort wird in einer seltsam verqueren Inhaltsangabe ausgerechnet Mary Shelleys Frankenstein als Hypotext erwähnt −, stellt Hinos Manga ganz klar einen Hypertext zur Verwandlung dar, deren Kenntnis in der japanischen Gesellschaft fast ebenso sehr vorausgesetzt werden kann wie in Europa. Ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte zeigt, dass Kafka in der japanischen Germanistik bereits vor den 1940er Jahren bekannt war; nach dem Zweiten Weltkrieg fanden seine Werke auch außerhalb der akademischen Kreise Verbreitung. Kafkas darauf sehr schnell wachsende Popularität zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die Verwandlung im Zeitraum von 1952 bis 2001 ganze elf Mal ins Japanische übersetzt und dreißig Mal herausgegeben wurde.3 In Hinos Manga lassen sich zahlreiche intertextuelle Hinweise auf eine Rezeption der Kafka’schen Erzählung finden. Schon der Titel der deutschen und der englischen Ausgabe, Bug Boy, Käferjunge, ist hier verräterisch: Der Protagonist des Mangas, der Schüler Sanpei, verwandelt sich nämlich anders als Gregor Samsa nicht in einen Käfer oder in ein vollwertiges Insekt, auch wenn der Titel dies erwarten ließe, sondern bloß in eine Raupe. Die Raupe als Tier des Übergangs eignet sich natürlich vorzüglich, um Verwandlungsgeschichten zu erzählen, wie durch zahlreiche Filme, Comics und literarische Werke belegt werden kann, etwa Nicolas Mahlers Alice in Sussex (2013).4 Darüber hinaus greift Bug Boy mit der Raupe anstelle des Käfers das Hauptmotiv aus Eric Carles Kinderbuch Die kleine Raupe Nimmersatt (The Very Hungry Caterpillar, 1969) auf, das auch in Japan überaus beliebt ist,5 nur um sowohl Nimmersatts ausufernde Fressgewohnheiten als auch ihr Ziel, die Verwandlung in einen Schmetterling, zu pervertieren. Im vorliegenden Aufsatz soll gezeigt werden, wie sich Bug Boy durch die Motivselektion einerseits sowie die Anreicherung durch diverse Motive und Handlungsstränge andererseits an dem japanischen Hikikomori-Diskurses partizipiert. Hikikomori bezeichnet eine Form des totalen sozialen Rückzugs (auf Japanisch ›shakaiteki Hikikomori‹6); der Begriff meint dabei sowohl das Syndrom als auch die davon Befallenen. Hinos Manga scheint gewisse Aspekte des Hikikomori-Dis3 Marlies Whitehouse-Furrer: Japanische Lesarten von Franz Kafkas Die Verwandlung, München 2003, S. 36-38. 4 Vgl. hierzu den Beitrag von Wolfgang Reichmann in diesem Sammelband. 5 Neben diversen Buchausgaben existieren in Japan für Kinder Fanartikel wie Tassen, Teller, Schüsseln, Besteck, Spielkarten und Stifthalter. 6 Jeffrey Angles: Translator’s Introduction, in: Saitō Tamaki: Hikikomori. Adolescence without End, Minneapolis 2013, S.VIII.

Bug Boy – Eine japanische Kafka-Adaption | 173

kurses7 und seiner diversen Vorgängerdiskurse8 erstaunlich genau zu verarbeiten oder zu antizipieren. Die Präsenz und Aktualität des Diskurses, der mit Themen und Bildern operiert, die in Kafkas Verwandlung zentral sind, liefert somit nicht zuletzt eine mögliche Antwort auf die Frage nach der Anschlussfähigkeit von Kafkas Texten in Japan.

D ie » traurige G eschichte «

von

S anpei H inomoto

»Dies ist die traurige Geschichte von einem Jungen, der an einem verhängnisvollen Übel litt« (BB 3): So lautet der erste Satz von Bug Boy. Sanpei Hinomoto ist ungefähr elf Jahre alt, geht in die fünfte Klasse und ist »ein schwächliches Kind, dem nichts gelingen wollte« (BB 14). Anstatt dem Schulunterricht zu folgen, spielt er mit Insekten, »Gewürm« (BB 21) und Schlangen, was ihm den Ruf einträgt, ein äußerst merkwürdiger Junge zu sein. Seine glücklichsten Stunden verbringt er alleine in einem »Geheimversteck« auf »der Müllkippe hinter dem Fabrikgelände« (BB 36) Dort leben »seine geliebten Tiere«: »herrenlose Hunde und Katzen«, »Vögel«, Fische, »Schlangen«, »unterschiedlichste Arten von Raupen« (BB 41), »Frösche« und »Ratten« (BB 42). Schon vor der Verwandlung fühlt sich Sanpei mit den Tieren in seiner Höhle wohler als mit den Menschen und imaginiert in einer idyllisch-ironischen Vorwegnahme der späteren Ereignisse eine »Traumwelt«, in der er selber ein Tier ist (BB 39): In seiner Höhle war Sanpei glücklich. Hier fühlte er sich wie im Himmel. Wenn er mit seinen Tieren spielte, stellte er sich vor, er wäre ein Vogel, der hoch in die Lüfte stieg, oder ein Fisch, der tief drunten im Meer schwamm. In solchen Momenten entfloh er seinem traurigen Alltag und tauchte ein in seine Traumwelt. (BB 47)

7 Zur Entstehung des Hikikomori-Diskurses vgl. Sachiko Horiguchi: Hikikomori. How Private Isolation Caught the Public Eye, in: Roger Goodman u.a. (Hg.): A Sociology of Japanese Youth. From Returnees to NEETs, London 2012, S. 122-138, hier S. 124f. 8 Konzeptuelle und diskursive Vorläufer von Hikikomori sind etwa futōkō (Schulverweigerung als isoliertes Phänomen), katei nai bōryoku (häusliche Gewalt), moratorium ningen (Menschen des Aufschubs) oder otaku (Nerd-Kultur; zu Vorläuferkonzepten allgemein vgl. Horiguchi, Hikikomori, S. 124f.). Im Westen hatte ein verwandtes, wenn auch meist positiver gewertetes Konzept ab den späten Achtzigern Konjunktur, das cocooning, das wiederum mit einer Metapher aus der Insektenwelt operiert.

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In der Schule dagegen ist er alles andere als glücklich: Mehrere Seiten lang wird vorgeführt, wie er im Sportunterricht gedemütigt und von den Mitschülern verspottet wird. Die Mitschülerinnen wiederum fürchten, dass Sanpei sexuell anormal ist und sich ihnen unsittlich nähern könnte: »›Ich finde den echt gruselig, und so hässlich.‹ […] ›Was mache ich bloss, wenn er mich angrabscht?‹« (BB  27) Schon sein Äußeres – Glupschaugen und eine geduckte Körperhaltung – unterscheidet sich merklich von dem der anderen Figuren. »Für Sanpei bedeutete jeder Tag die Hölle. Irgendwann ertrug er es nicht länger und ging nicht mehr in die Schule« (BB  30). Die Schulverweigerung führt zum Konflikt mit seinen Eltern, vor allem mit dem strengen Vater, eine durch und durch kafkaeske Machtfigur. Der Vater schreit immer wieder und wirft Sanpei vor, sein Zimmer mit seinen tierischen Freunden »derartig« zu »verschmutzen« (BB 43) – die Wort- und Motivwahl mutet sehr kafkaesk an (man denke etwa an die dauernde Erwähnung von Schmutz und Verschmutzung im Proceß9 oder im Brief an den Vater). Immer wieder wird Sanpei durch seine Eltern gegen seine Geschwister und vor allem gegen seinen älteren, äußerst lern- und erfolgsfixierten Bruder ausgespielt. Eine brutale Konfrontation mit dem Vater, in der das Schulschwänzen thematisiert wird, endet damit, dass Sanpei in sein Zimmer verbannt wird, da der Vater ihn »nicht mehr sehen will« (BB 32). Am Ende des Schuljahres, nach der Zeugnisübergabe, konfrontiert er Sanpei erneut, zutiefst enttäuscht von seinen schulischen Leistungen; er will ihn »nicht mehr sehen« (BB 52) und schickt ihn wiederum in sein Zimmer. Dieser totale soziale Rückzug auch aus den Räumen der Familie, der am Anfang der Schulferien, also in einem Zustand geistiger und körperlicher Erschlaffung stattfindet, kündigt die Verwandlung an. Sanpei schleicht in sein Zimmer, wobei die letzten Worte der Eltern, die er hört, erneut ihre Enttäuschung über ihn zum Ausdruck bringen: »[W]as haben wir bei ihm nur verkehrt gemacht?« (BB 53). »In seinem Zimmer« fällt »Sanpei plötzlich um und erbr[icht] sich heftig« (BB  53). Er würgt eine »dicke rote Raupe« (BB 54) aus sich hervor, »sicher eine Art Stuhlwurm« (BB 55), wobei dieses Wort nicht existiert und wahrscheinlich eine Fehlschreibung von ›Spulwurm‹ darstellt. Dieser anale ›Verschreiber‹, der den Wurm mit dem anderen, ekelerregenden Ende des Verdauungstrakts assoziiert, wäre mit Freud gelesen einschlägig. Doch es kommt noch schlimmer: Die »Raupe« (BB 54), die er neugierig und höchstens se9 Beispielsweise fährt K., nachdem er die Prügler-Szene beobachtet hat, die Diener im Büro angewidert und entsetzt an: »›Räumt doch endlich die Rumpelkammer aus! […] Wir versinken ja im Schmutz!‹« (Franz Kafka: Der Proceß (= Franz Kafka: Schriften. Tagebücher, Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Born u.a.), Frankfurt a.M. 2002, S. 117).

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kundär angewidert betrachtet, sticht ihn in den Finger. Sanpei wird ohnmächtig und fällt in einen deliriösen Zustand, weil »das Tier sein Gift in Sanpeis Blut« (BB 56) gepumpt hat. Als er wieder aufwacht, denkt Sanpei, er habe die Raupe nur geträumt, woraufhin die Erzählinstanz klarstellt: »[A]ber nein, es stimmte. Es war wirklich geschehen!« (BB 57)10 Eine ganz ähnliche Verweigerung der Deutung der Ereignisse als Alptraum findet sich bekanntlich auf der ersten Seite der Kafka’schen Erzählung, unmittelbar nachdem Gregor seine Verwandlung konstatiert hat: »Es war kein Traum.«11 Sanpei jedoch steht die Abb. 1: Sanpeis Verwandlung (Hino: Bug eigentliche Verwandlung an diesem Boy Boy, S. 66) Punkt noch bevor. Die Verwandlung im Anschluss an den Biss durch ein Insekt ist ein klassisches Superheldenmotiv (man denke wiederum an Spider-Man, der in Japan sehr berühmt ist und in den amerikanischen Comics auch als ›Bug-Boy‹ beschimpft wird12) – Sanpei jedoch erhält so ziemlich das Gegenteil von Superkräften. Seine Transformation wird sehr drastisch als äußerst schmerzhafter Vorgang gezeigt, als totaler körperlicher Zerfall: Sanpeis ganzer Körper wird »weich« und »klebrig« (BB 62); er beginnt zu stinken (vgl. BB 68). Alle Extremitäten, Zähne und Haare fallen ihm aus; in psychoanalytischer Lesart, einer Deutungstradition, die im Hikikomori-Diskurs durchaus verbreitet ist, wäre dieser Vorgang natürlich als Kastration zu begreifen. Mehr noch: »[D]ie fremdartige Krankheit« (BB 58) nimmt Sanpei nun vollends alle positiv-männlichen Körperattribute, die ja schon am Anfang des Mangas fraglich waren, etwa durch seine Unsportlichkeit. Er wird 10 Sanpeis Vater verweist später ebenfalls auf diese Interpretationsmöglichkeit der Geschehnisse: »Ich träume… Das kann nur ein böser Traum sein« (BB 89). 11 Franz Kafka: Die Verwandlung, in: ders., Drucke zu Lebzeiten (= Franz Kafka: Schriften. Tagebücher, Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Born u.a.), Frankfurt a.M. 2002, S. 113-200, hier S. 115. 12 Vgl. z.B. Marvel Team-Up: Spider-Man and the Guardians of the Galaxy 1 (Oktober 1979), Heft 86.

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zum »Fleischklops« (BB 63), wohl dem stärksten Gegenmodell zu einer positiven männlichen Körperlichkeit mit ihren klaren, kräftigen Konturen und kontrollierten Bewegungsabläufen. Ausgerechnet im Kapitel mit dem Titel »[d]ie Verwandlung« (BB 75) – dieser wortwörtliche Verweis auf Kafkas Text lässt den fehlenden Verweis auf den Hypotext im Nachwort umso erstaunlicher erscheinen – findet die Verwandlung ihren Abschluss. Sie wird klar und im Widerspruch zum morgendlichen Anfang von Kafkas Erzählung, auf den die Formulierung natürlich gleichzeitig anspielt, als glücksbringend gezeigt: »Und eines Morgens geschah es… Zum ersten Mal seit Wochen öffnete Sanpei die Augen und fühlte sich auf einmal wieder gesund und stark. Es war ein glücklicher Tag.« (BB 75) Diese positive Konnotation der Verwandlung wird zusätzlich unterstrichen, wenn Sanpei, nachdem er die Familie verlassen und sich in einem zweiten Transformationsschritt in ein »Ungeheuer […] mit Giftstachel« (BB 158) verwandelt hat, ausruft: »So gut ging es mir noch nie! Mit jedem Tag fühle ich mich stärker. So viel Spass hatte ich als Mensch nie. Merkwürdig, wie sich alles zum Guten gewendet hat.« (BB 117f.) Auf der nächsten Seite hält der Erzählerkommentar ausdrücklich fest, wie gut Sanpei die Verwandlung bekommt, denn er »wuchs und gedieh zusehends in seiner neuen Welt.« (BB 118) Der verwandelte Sanpei ist, wie Gregor, nicht mehr der menschlichen Sprache mächtig, was durch eine andere Form der Sprechblasen visuell angezeigt wird: von runden zu eckigen Sprechblasen ohne Hinweisstrich. Als er aus seinem Zimmer kommt und unfähig ist, sein Unglück verbal zu kommunizieren, ist die Familie entsetzt. Einzig die Schwester erkennt im ›Ungeheuer‹ sofort ihren Bruder. Der Vater ist angewidert; seine erste Reaktion ist wiederum, Sanpei in sein Zimmer zu verbannen: »Geh weg! Geh wieder in dein Zimmer, sage ich« (BB 89). Nach der Verwandlung bezieht Sanpei sein Unglück explizit auf das Eingesperrt- Abb. 2: Konfrontation mit der Familie respektive Ausgeschlossensein: (Hino: Bug Boy, S. 87)

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Ich war die ganze Zeit in meinem Zimmer eingesperrt. Endlich fühle ich mich besser, und nun das… Ich langweile mich entsetzlich. Mit drei Vorhängeschlössern! Dabei kriege ich nicht mal eins auf. Ich werde verrückt hier drin. Aber die Tür ist abgeschlossen. (BB 91)

H ikikomori : eine problematische gesellschaftliche

M etamorphose

Summa summarum können die Hauptunterschiede zwischen Bug Boy und der Verwandlung bis zu diesem Punkt folgendermaßen gefasst werden: Sanpei ist ein Schuljunge zu Beginn der Adoleszenz, kein Reisender, der seine Familie ernährt. In der Schule versagt er, ist isoliert und offensichtlich nicht erfolgreich, wiederum im Kontrast zum anscheinend erfolgreichen, mehr oder weniger weltmännischen Gregor (sofern man der Erzählinstanz hier Glauben schenken will). Die Verwandlung kündigt sich dadurch an, dass Sanpei die Schule schwänzt; Gregor seinerseits fehlt erst bei der Arbeit, als er schon verwandelt ist, und will selbst dann noch verzweifelt ins ›Geschäft‹ gelangen. Im Gegensatz zu Gregors Verwandlung ist Sanpeis Verwandlung, einmal vollzogen, für ihn ein Glückserlebnis. Ganz eindeutig werden sie und ihre Konsequenzen als Wunscherfüllung gezeigt: »So ist es nun also. Ich gehöre nicht mehr zur Welt der Menschen. Und irgendwie ist es mir auch egal. Ich bin eben anders. Hehehe… Und ich komme ganz gut damit klar« (BB 95), denkt ein fröhlicher, lächelnder Raupen-Sanpei. Haben diese Unterschiede System? Tatsächlich lassen sie sich sehr glatt in den Hikikomori-Diskurs respektive in die Symptomatik von Hikikomori-Patienten einordnen, wie sie sich in Japan entwickelte.13 Besonders frappant ist, dass die Möglichkeit, Hikikomori als Verwandlung in ein Insekt zu imaginieren, im Japanischen vorgeformt ist: So ist die Bezeichnung ›Parasit‹ für Hikikomori verbreitet – eine Novelle von Ryu Murakami etwa, deren Protagonist ein Hikikomori ist, trägt den Titel Parasiten, ›Parasitäre Insekten‹ oder auch, auf Eng13 Die Definition und Symptomatik von Hikikomori, auf die wir uns stützen, beinhaltet die Elemente, über die gemeinhin Konsens herrscht; es ist nicht möglich, die durchaus kontroverse Diskussion hier in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen. Auch ist stets zu beachten, dass gerade in Bezug auf Hikikomori diskutiert wird, inwiefern der Diskurs das Phänomen erst konstituiert. Um die Arbeit im Angesicht dieser Unklarheiten sprachlich nicht unnötig zu verkomplizieren, behalten es sich die Verfasserinnen ab diesem Punkt vor, ohne weitere Markierung von den Charakteristika ›typischer‹ Hikikomori zu sprechen, wie sie im Diskurs festgeschrieben werden, und verweisen zur differenzierten Auseinandersetzung mit der komplexen Debatte rund um Hikikomori auf Überblicksdarstellungen; vgl. z.B. Horiguchi: Hikikomori.

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lisch, symbiosis worm − und auf diversen japanischen Blogs bezeichnen sich die Betroffenen selber direkt als ›Käfer‹14. Das Phänomen Hikikomori wurde ausführlich von Tamaki Saitō in Hikikomori. Adolescence without End (1998) beschrieben; er gilt damit im Westen gemeinhin als Diskursivitätsbegründer und sein Text als ein Gründungstext des Hikikomori-Diskurses, auch wenn Diskussionen über Hikikomori in der japanischen Öffentlichkeit schon ungefähr ab den späten Achtzigern nachweisbar sind. Während seiner jahrelangen Arbeit als Therapeut kam Saitō mit einer hohen Anzahl an Patienten in Berührung, die sich komplett von der Umwelt zurückgezogen hatten. Diese Menschen litten unter verschiedenen Symptomen, die sich medizinisch nicht eindeutig zuweisen, geschweige denn therapieren ließen. Saitō postulierte aufgrund dieser Erfahrungen, dass die vom Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders IV (DSM) zur Verfügung gestellten diagnostischen Mittel nicht ausreichten, um Hikikomori oder social withdrawal wirkungsvoll zu behandeln. Tatsächlich findet sich der Begriff social withdrawal beziehungsweise seine japanische Übersetzung im DSM, doch erscheint er dort als Symptom anderer psychischer Erkrankungen und nicht als eigenwertige Diagnose.15 Als Saitō seine Studie 1998 erstmals publizierte, wurde sie in Japan sofort ein Bestseller. Die Publikation, die sich nicht zuletzt an betroffene Familien richtet und damit eine Ratgeberfunktion erfüllt, erreichte auch im Ausland einen hohen Bekanntheitsgrad; 2010 nahm beispielsweise der Oxford Dictionary of English ›Hikikomori‹ als Begriff auf.16 Es stellt sich die Frage, ob der nun fast schon gängige japanische Begriff impliziert, dass die Krankheit selber spezifisch und exklusiv japanisch ist. Saitō verneint in Adolescence without End eine ausschließlich kulturspezifische Definition des Phänomens, verweist jedoch auf Eigenheiten der japanischen Gesellschaft,17 die Hikikomori in seiner geläufigen Erscheinungsform überhaupt erst ermöglichen. Speziell erwähnenswert ist etwa die innerfamiliäre Bereitschaft, 14 Eine ambivalente Stilisierung als ›Käfer‹ findet sich etwa auf diesem Blog, der dem Hikikomori-Leben einer Tentōmushi, eines Marienkäfers gewidmet ist: http://ameblo. jp/11048109/ (letzter Zugriff am 17. April 2014). 15 Angles: Translator’s Introduction, in: Saitō: Hikikomori, S.VIIf. 16 Angles: Translator’s Introduction, in: Saitō: Hikikomori, S.XIIIf. 17 Angles: Translator’s Introduction, in: Saitō: Hikikomori, S.XIIIf. An anderer Stelle schlug Saitō einmal vor, Hikikomori ganz spezifisch als Verhandlung des ›Japanischen‹ (Nihonjinron) zu begreifen, und argumentierte dabei mit Takeo Dois Theorie der Abhängigkeiten (amae), auf die weiter unten noch kurz einzugehen sein wird (vgl. Saitō: ›Hikikomori‹ no hikaku-bunkaron, in: ›Chuō Kōron‹ 1401 (Februar 2001), S. 124-133, hier S. 127).

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einen Hikikomori bis weit ins Erwachsenenalter zu versorgen.18 Gewisse Ausprägungen von Hikikomori sind damit höchstwahrscheinlich auf die japanische Kultur und Gesellschaft zurückzuführen.19 Auch die Ursachen von Hikikomori, über die spekuliert wird, sind teilweise gesellschaftsspezifisch. Ein Zusammenhang zwischen dem Bedürfnis, sich reibungslos in ein Kollektiv einzuordnen, sowie dem in Japan besonders stark ausgeprägten schulischen und beruflichen Leistungsdruck und der Genese des Phänomens ist kaum von der Hand zu weisen.20 Zu diesem Schluss kam etwa auch die Neue Zürcher Zeitung in einem Artikel aus dem Jahre 2007, der sich Hikikomori widmete. Der Autor argumentiert, dass das historisch gewachsene Selbstverständnis der Japaner als Kollektivgesellschaft vom Individuum verlange, sich unterzuordnen; als Lohn winke ein sicherer Arbeitsplatz auf Lebenszeit und ein stets anwachsender gesellschaftlicher Wohlstand. Doch die wirtschaftliche Krise der 90er-Jahre habe zu hoher Arbeitslosigkeit und der Auflösung des althergebrachten japanischen Arbeits- und Lebensplans geführt, was die jüngere Generation in eine Krise gestürzt habe. Der Autor fasst zusammen: »Die Hikikomori verkörpern die Leiden der Gesellschaft an ihrer eigenen Metamorphose.«21

S anpei und G regor S amsa als H ikikomori avant la lettre Die Parallelen zwischen einem ›typischen‹ Hikikomori und Sanpei sind vielfältig. Wie Sanpei sind viele Hikikomori Schulschwänzer,22 wobei der soziale Rückzug in den meisten Fällen mit der Schulverweigerung beginnt.23 Die überwiegende Mehrheit sind Männer respektive männliche Jugendliche, die häufig aus einer gut ausgebildeten Mittelklasse-Familie stammen. Hikikomori führt wie gesagt zu einer völligen ökonomischen Abhängigkeit von der Kernfamilie; wie Sanpei und wie Gregor müssen Patienten von ihren Familien ›durchgefüttert‹ und ausgehalten werden. 18 Saitō: Hikikomori, S. 76. 19 Saitō: Hikikomori, S. 74. 20 In den meisten Fällen beginnt der soziale Rückzug im College. Eine mögliche Erklärung dafür wäre, dass dieser Ort einer der wenigen Räume in der japanischen Gesellschaft ist, in dem exzentrisches Verhalten gebilligt und der Leistungsdruck zumindest am Anfang noch nicht stark ausgeprägt ist (vgl. Saitō: Hikikomori, S. 61). 21 Florian Coulmas: Die Unfähigkeit, allein zu bestehen, in: Neue Zürcher Zeitung, 7. Juli 2007. 22 Saitō: Hikikomori, S. 36f. 23 Saitō: Hikikomori, S. 18f.

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Das Krankheitsbild beinhaltet weiter die Unfähigkeit, andere Menschen – neben maximal der Kernfamilie − zu ertragen. Auch Sanpei flüchtet vor den Menschen: Schon vor der körperlichen Transformation verbringt er seine Zeit am liebsten alleine respektive umgeben nur von Tieren und dem Müll der Zivilisation. (Dies nimmt übrigens seinen späteren Wohnort in der Kanalisation, wiederum zwischen Abfällen, vorweg.) Bildlich wird diese Flucht umgesetzt, wenn Sanpei Menschen von Anfang an anscheinend nur als leere Hüllen erträgt:24 Eines der markantesten visuellen Motive in Bug Boy ist das Puppen- oder Matrioschka-Motiv. Im Verlauf der Geschichte werden diese leeren Gehäuse zunehmend unheimlich, da ihr Platz von Abb. 3: Sanpei auf der Müllkippe (Hino: Leichenbergen, also leeren menschliBug Boy, S. 38) chen Hüllen eingenommen wird. Die Unfähigkeit von Hikikomori, andere Menschen zu ertragen, geht so weit, dass sie selbst die anderen Familienmitglieder meiden und sich meist nur in ihren Zimmern aufhalten. Dieser Rückzug ins eigene Zimmer trifft genau auf Sanpei zu, wobei Sanpeis Isolation von der Familie zuerst durch den Vater forciert wird. Nach seiner Verwandlung ist Sanpei – von einer idyllischen Ausnahme abgesehen25 – vorwiegend nachtaktiv; auch dies entspricht genau dem Verhalten von HikikomoriPatienten, die oft tagsüber schlafen.26 24 Interessanterweise lässt Sanpei seinen Jungenkörper ebenfalls als leere Hülle zurück; er schlüpft als Raupe gleichsam aus seiner menschlichen Puppe. 25 Die entsprechenden Szenen finden in der Natur statt, die als idyllisch-authentisches Gegenmodell zur Stadt voller Unrat gezeigt wird. Hier zeigt sich deutlich, dass der Fluchtpunkt der Gesellschaftskritik, die in Bug Boy implizit formuliert wird, das Leben in der Natur, fernab von der Zivilisation ist – erst dort darf Sanpei wirklich Kind sein, auf Wiesen herumtollen und ohne Erwartungen an seine intellektuellen Leistungen spielen. 26 Auch Gregor ist nachtaktiv oder findet zumindest keinen Schlaf. Er liegt »[o]ft die ganzen langen Nächte über« unter einem »Ledersopha«, schläft »keinen Augenblick und scharrt[] nur stundenlang auf dem Leder« (Kafka: Der Proceß, S. 155).

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Menschen, die sich sozial zurückgezogen haben, regredieren zum Teil in ein kindliches Stadium und weisen eine infantile, verfremdete Sprechweise auf.27 In einer aus derartigen Beobachtungen resultierenden Konzeptualisierung von Hikikomori als Regression schwingt deutlich der psychoanalytische Subtext mit, der im Diskurs spätestens seit Saitō verankert ist.28 Sanpeis Verwandlung – und ebenso Gregors Verwandlung –wird klar als eine Regression dargestellt: Er kann während des Transformationsprozesses »nicht mal mehr flüssige Nahrung« zu sich nehmen und wird von seiner Mutter gefüttert. Übrigens ist auch Gregors Verwandlung durch eine Veränderung der Essgewohnheiten begleitet. Wenn er »gierig« an einem »Käse« »saugt[]«29, äußert sich diese Veränderung deutlich als Präferenz für ›mütterlich‹ kodierte Speisen, für Milchprodukte nämlich.30 Nach einem Mordversuch durch seine Familie flüchtet Sanpei; er lässt sich in der Kanalisation nieder und frisst Aas – »seine Nahrung bestand aus den verwesenden Kadavern von Hunden und Katzen«; »er ass auch Ratten und anderes Ungeziefer« (BB 116). Wie die kleine Raupe Nimmersatt wird er immer gefräßiger: Diese Entwicklung findet ihren grausigen Höhepunkt, wenn er zuletzt einen menschlichen Fötus verspeist. Sehr interessant ist, dass Sanpeis Verwandlung wie schon erwähnt eine zweifache ist: Als er den Fötus frisst und sich durch diesen ›kannibalistischen‹ Akt vollends von der menschlichen Gesellschaft distanziert, wächst ihm ein »leuchtend rotes«, giftiges »Horn« »an seiner Stirn« (BB  119). Dadurch wird er von der relativ harmlosen Raupe in einem zweiten Transformationsschritt nicht etwa zu einem Schmetterling, sondern zum »mörderischen Ungeheuer! Und ich hielt mich die ganze Zeit für einen elenden Wurm!« (BB 160) Er beginnt, Menschen zu töten. Zunächst tötet er nur aus Notwehr, doch das Morden wird ihm immer mehr zur Freude und Befriedigung seiner Rachegelüste: »Jedes Mal, wenn ich gemordet habe […], dürstet es mich nach mehr!« (BB 169) Sanpeis Regression endet 27 Man denke hier an Gregors Stimme, in die sich nach der Verwandlung ein »Piepsen« (Kafka: Die Verwandlung, S. 119) mischt. 28 In Hikikomori. Adolescence without End bezieht Saitō die Psychoanalyse eher implizit ein; in einem anderen Werk, einer Studie zu den Beautiful Fighting Girls in japanischen Animes und Mangas, hingegen operiert er ganz explizit mit psychoanalytischen Konzepten wie der Phallizität. Versuche, die Psychoanalyse in ihrer freudianischen oder Lacan’schen Version für das Verständnis und die Therapie von Hikikomori fruchtbar zu machen, existieren bis heute; vgl. etwa Scott Wilson, Braindance of the Hikikomori. Towards a Return to Speculative Psychoanalysis, in: Paragraph 33 (2010), S. 392-409. 29 Kafka: Die Verwandlung, S. 148. 30 Vgl. Heather Merle Benbow: »Was auf den Tisch kam, mußte aufgegessen […] werden«. Food, Gender, and Power in Kafka’s Letters and Stories, in: The German Quarterly 79 (2006), H. 3, S. 347-365, hier S. 351.

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also sozusagen nicht in einem infantilen Stadium – da er ohnehin noch ein Kind ist, wäre der Kontrast der Darstellung in diesem Fall nicht besonders deutlich –; nein, er verlässt die menschliche Kulturgemeinschaft gänzlich und vollzieht einen evolutionären Rückschritt ins Tierische, also eine Regression ins Extreme, die wie im Falle Gregors mit dem Verlust der Erinnerungen an seine menschliche Existenz einhergeht. Die für Hikikomori anscheinend typische Regression, die natürlich weit weniger krass ist als diese fiktionale Verwandlung Sanpeis, kann mit gewalttätigem Verhalten der Hikikomori einhergehen.31 Neben autoaggressivem Verhalten kommt eine physische Aggression gegenüber den Eltern und anderen, nicht in enger Beziehung mit den Hikikomori stehenden Menschen vor; ein Umstand, der in Japan intensiv und kontrovers in den Medien diskutiert wurde.32 Auch Sanpei wird im Verlauf seiner Transformationsgeschichte immer aggressiver: Er vollbringt wie gesagt eine Mordserie, tötet unter anderem seine Peiniger aus der Schule, und hortet die Leichen aller seiner Opfer in seinem »Bau in der Kloake« (BB 171), in der Kanalisation. Auffällig oft richtet sich sein Hass auf Frauen, die er an einer Stelle als »Schlampe[n]« (BB  172) bezeichnet, wobei er die Brust eines seiner weiblichen Opfer penetriert. Hier ist es interessant, sich zu vergegenwärtigen, dass Hikikomori unter anderem auf eine pathologisch enge Beziehung zwischen einem Kind und seiner Mutter zurückgeführt wird. Takeo Doi hat in seinem Buch The Abb. 4: Sanpeis »Bau« (Hino: Bug Boy, Anatomy of Dependence den Begriff S. 173) 31 Saitō: Hikikomori, S. 44f. 32 Ab 2000 gelangte das vermeintlich generell gewalttätige Potenzial der Hikikomori vermehrt in den Fokus der Aufmerksamkeit, da einige Zwischenfälle zu verzeichnen waren, etwa der sogenannte Neomugicha-Zwischenfall, eine brutale Busentführung durch einen 17jährigen Hikikomori. In dieser Phase beginnt die überaus intensive Medialisierung von Hikikomori in Japan. Einige Aspekte der Debatte sind bei Horiguchi verzeichnet (Horiguchi: Hikikomori, S. 127f.).

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›amae‹33 vor allem für eine enge Mutter-Kind-Beziehung im japanischen Kontext geprägt. Die Dynamiken der familiären Abhängigkeit, die Doi analysiert, wurden später von Saitō als konstitutiv für das Phänomen Hikikomori und sein gewalttätiges Potenzial angesehen.34 Durchaus in einer Dynamik befangen, wie Doi sie beschrieben hat, scheint auch Sanpei an gewissen Stellen sehr fixiert auf seine Mutter zu sein, die, genderstereotyp, »immer so lieb und sanft« (BB 192) gewesen sei. Seine Aggression richtet sich zwar nicht direkt gegen die Mutter, aber doch klar gegen Frauen oder auch weibliche Puppen – so frisst er sich etwa an weiblichen »Schaufensterpuppen satt« (BB 124). Die sexuelle Kodierung des transformierten Sanpei, seine sexuell-aggressive Fixierung auf Frauen, verdeutlicht zudem, dass die Verwandlung allgemein als Eintritt in die Pubertät und damit Erwachen sexueller und aggressiver Impulse semantisiert werden kann. Ganz Ähnliches gilt übrigens für den durch einen Spinnenbiss verwandelten Jugendlichen Spider-Man und, sekundär und ohne das Adoleszenz-Motiv, Gregor Samsa, dessen erster Gedanke seiner »Dame« in »Pelzhut« und »Pelzboa« und mit »Pelzmuff«35 sowie seinem »Unterleib« gilt36, »von dem er sich […] keine rechte Vorstellung machen konnte« und der »augenblicklich vielleicht der empfindlichste« »Teil seines Körpers«37 sein soll. Im Nachwort zur deutschen Ausgabe von Bug Boy wird explizit folgendes festgestellt: »Die Verwandlung in ein Insekt ist eine Allegorie auf den Prozess, in dem dem Kind sein eigener Körper fremd wird, wie bei einer Raupe, die zur Larve wird, sich verpuppt und endlich das Adultstadium erreicht.«38 Dass Sanpeis kriminell-pathologisches Verhalten nach dem zweiten, finalen Transformationsschritt genau dem Bild entspricht, das sich seine Mitschülerinnen von ihm gemacht hatten – wie bereits erwähnt sahen sie ihn als sexuell auffällig −, weist darauf hin, dass die Verwandlung auch auf durchaus dubiose Weise als Hervorschälen von Sanpeis wahrem Ich verstanden werden kann. Sanpeis Transformation wird nur einerseits als Reaktion auf äußeren Druck dargestellt. So ist es beispielsweise wie gesagt sein Vater, der ihn zuerst in die Isolation zwingt. Andererseits jedoch wird auch schon der Akt der Verwandlung selber als Konsequenz eines inneren Vorgangs gezeigt. Die Raupe, die Sanpei sticht, würgt er zuerst aus 33 jap. 甘え, etwa: ›Anlehnung‹. 34 Saitō: ›Hikikomori‹ no hikaku-bunkaron, S. 127; vgl. zum Gewaltpotenzial allgemein auch: Saitō: Hikikomori, S. 139. 35 Kafka: Verwandlung, S. 115f. Vgl. Peter B. Waldeck: Kafka’s Die Verwandlung and Ein Hungerkünstler as in influenced by Leopold von Sacher-Masoch, in: Monatshefte 65 (1972), H. 2, S. 147-152, hier S. 147f. 36 Kafka: Verwandlung, S. 130f. 37 Kafka: Verwandlung, S. 121f. 38 Michael Feil: Nachwort, in: BB 207.

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sich selber hervor. Im weiteren Sinn wiederum ist Sanpei von allem Anfang an als ›Freak‹ stigmatisiert, der in der normalen menschlichen Gesellschaft, in der Schule und in der Familie, versagt und ausgegrenzt wird, die gesellschaftlichen Normativitätsstandards also nicht erfüllen kann: »Haha, der ist ja krank!« (BB 29) Von allem Anfang an fühlt er sich am Ehesten unter »Gewürm« (BB 21) zuhause. Sanpeis Transformation ist deswegen anscheinend auch als brutale Erfüllung einer krankhaften, gesellschaftsunverträglichen Disposition zu verstehen. Darin geht sie noch weiter als Gregors Verwandlung, die natürlich ebenfalls als Manifestation seiner inneren Natur und seiner tiefsten Wünsche verstanden werden kann. Gregors Metamorphose mündet in ein passives Verlöschen des Individuums – er verlässt die öffentliche Sphäre, siecht in seinem Zimmer vor sich hin, nimmt sich immer mehr zurück, bis er am Ende durch seinen willig in Kauf genommenen Tod vollständig verschwindet. Sanpeis Verwandlung demgegenüber ist eine Entfesselung destruktiver Kräfte: Wenn auch seine menschliche Individualität Stück für Stück dem Vergessen anheim fällt, nimmt seine animalische Lebens- und Zerstörungslust immer mehr zu. Diese doppelte Kodierung von Sanpeis Verwandlung, als Resultat von äußerem Druck einer- und innerer Entfaltung andererseits, leistet einen vielschichtigen künstlerischen Beitrag zu den Diskussionen rund um Hikikomori und seine gesellschaftlichen und individualpsychologischen Ursachen. Die Möglichkeit, die Verwandlung als innere Verwandlung zu lesen, ist eine der grundlegenden strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen dem Hypo- und dem Hypertext. Hinsichtlich der Figurenkonstellation finden sich viele weitere Übereinstimmungen. Neben dem Figurenarsenal an sich – Kernfamilie mit dominantem Vater39 − ist das Beziehungsgeflecht sehr ähnlich angelegt. Es ist ausgerechnet die Schwester, die den verwandelten Sanpei ›erkennt‹ (vgl. BB 87). Dadurch nimmt sie eine Hilfsfunktion ein, die der Gretes in Kafkas Text vergleichbar ist; diese unterstützt ihren Bruder über lange Strecken, bringt ihm Essen und säubert sein Zimmer. Auch die Gemeinsamkeiten in Einzelszenen sind frappierend. Es sei hier nur ein weiteres und für die Interpretation einschlägiges Beispiel genannt, das sich am Ende des Mangas findet, als Sanpei die momenthafte Rückkehr der Erinnerungen an seine menschliche Vergangenheit erlebt. Seine Familie lockt das mörderische Ungeheuer an, da der Vater es als seine Pflicht betrachtet, es oder eben ihn unschädlich zu machen: »Ohnehin wird die Polizei ihn erschiessen, wenn er so weitermacht. Aber ich bin sein Vater, und es ist meine Pflicht… Uns und ihm gegenüber.« (BB 177) Als der nichtsahnende Sanpei sich dem Haus nähert, schießt 39 Eine äußerst dominante Vaterfigur findet sich natürlich im Urteil – doch auch der Vater in der Verwandlung wird im Verlauf der Erzählung immer mehr zum ökonomischen und emotionalen Mittelpunkt der Familie.

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sein Vater auf ihn – nicht mit einem ›Apfel‹ wie im Falle Gregors, sondern mit einem Gewehr (vgl. BB  177). Die aufgrund des Schusswinkels eher seltsamen Seitenwunden, die aus dem Angriff hervorgehen, führen relativ schnell zu Sanpeis Tod und damit zum Ende des Mangas. Das Handlungselement findet eine genaue Entsprechung in der als Emblem des Sündenfalls biblisch40 kodierter Wunde Gregors, Resultat eines durch den Vater geworfenen Apfels, der »förmlich in Gregors Rücken ein[dringt]«41. Diese Wunde, die sich entzündet, ist auch bei Gregors Dahinscheiden der ausschlaggebende Faktor.

A usblick : G regor S amsa in J apan , S anpei H inomoto in E uropa Eine Analyse einer Kafka-Adaption aus einem anderen kulturellen Kontext und in einem anderen Medium vermag (oder vermochte) mindestens dreierlei zu leisten. Erstens ermöglicht sie, durch Analyse der in die Adaption aufgenommenen respektive verworfenen Elemente, einen neuen Blick auf den Hypotext oder die Hypotexte und ihre verschiedenen Bedeutungskomponenten. Kafkas Texte, entstanden im Prag der 1910er Jahre, können auf ein komplexes Problemfeld bezogen werden, das in der heutigen japanischen Gesellschaft verhandelt wird; Gregor Samsa kann als Hikikomori avant la lettre verstanden werden. So ist es möglich, die These, dass Kafkas Werk quasi universell anschlussfähig ist, in einem bis anhin wenig diskutierten Medium vorzuführen. Gerade der Fall von Bug Boy ist in dieser Hinsicht übrigens lehrreich, da Hino nicht nur das Hauptmotiv der Verwandlung aufgreift, sondern am Rande anscheinend auch weitere Texte Kafkas wie den Bau oder den Bericht für eine Akademie in die Bearbeitung einfließen lässt. So wird Sanpeis Heim »in der Kloake«, das er erreicht, nachdem er sich durch die Erde gegraben hat, wie erwähnt explizit als »Bau« (BB 171) bezeichnet. Weniger signifikant, aber dennoch bemerkenswert ist die Tatsache, dass Sanpei in einer Episode gefangen genommen und als Attraktion vorgeführt wird, ähnlich wie Rotpeter im Bericht. Als er flüchtet und dabei seine Peiniger massakriert, findet er sich tatsächlich fast seitenfüllend in der Zeitung (vgl. BB 158). Durch diese Anspielungen auf weitere Texte Kafkas, intentional 40 Diese Wunde erinnert zudem an die Wunde in der »rechten Seite« des Jungen im Landarzt, der ebenfalls an ihr »zugrunde« geht, an einer Wunde also, die als Seitenwunde sehr deutlich biblisch kodiert ist (Franz Kafka: Ein Landarzt, in: ders.: Drucke zu Lebzeiten (= Franz Kafka: Schriften. Tagebücher, Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Born u.a.), Frankfurt a.M. 2002, S. 252-261, hier S. 258; vgl. Johannes 19,34). 41 Kafka: Die Verwandlung, S. 171.

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oder nicht, erweist sich Bug Boy nach Gérard Genette als beispielhafter Palimpsest. Zweitens hat dieser Palimpsest eben einen besonderen interkulturellen Status: An ihm lässt sich eine kulturspezifische Aneignung eines oder mehrerer literarischer Hypotexte nachvollziehen. Die Elemente, die aufgegriffen respektive verworfen werden, lassen signifikante Rückschlüsse auf kulturabhängige Faktoren der Rezeption zu. Da bei der kulturspezifischen Aneignung in unserem Fall ein medialer Wechsel vollzogen wurde (vom literarischen Text zum Manga, einem Konglomerat aus Text und Bild), stellen sich drittens medientheoretische Fragen, die in einem anderen Kontext ausführlicher zu diskutieren wären.42 Zu fragen wäre etwa, was für Folgen eine Umsetzung der Kafka’schen Motive in Bilder nach sich zieht, besonders im Fall der Verwandlung, die Kafka auf dem Einband der Erstausgabe explizit nicht bildlich dargestellt sehen wollte.43 Auch wäre zu untersuchen, ob und wieso das Interesse an der körperlichen Transformation, das in Japan in diversen kulturellen Erzeugnissen wie Filmen, Mangas oder Animes nachweisbar ist und oftmals in den ›Body Horror‹ übergeht, privilegiert in bestimmten, nämlich den visuellen Medien verhandelt wird. Die Übersetzung einer Kafka’schen Erzählung in ein Horror-Manga eröffnet so semiotische Fragen zum Status des Enthüllens und Verdeckens, zur Sichtbarmachung oder eben Aussparung des Unfassbaren und Ekelerregenden. Der Diskurs rund um Hikikomori ist mittlerweile auch in der europäischen Gesellschaft und Literatur angekommen. Im Jahr 2012 ist der Roman Hikikomori von Kevin Kuhn erschienen, wobei die Beschreibung des ›Krankheitsbildes‹ des Protagonisten Till interessanterweise nicht unbedingt mit den japanischen Definitionsversuchen übereinstimmt. Till ist, und das ist für die europäischen Hikikomori-Diskussionen prototypisch, gamesüchtig und damit eigentlich zu aktiv für einen klassisch japanischen Hikikomori. Vor allem jedoch wird seine Krise auf das Problem der Selbstfindung respektive -verwirklichung zurückgeführt – er müsse in dieser schwierigen Phase »sein Ich neu orientieren«44. Die Eltern betonen immer wieder, dass in ihm »etwas Besonderes, etwas Einzigartiges« stecke, das er aus sich herausschälen solle: »[D]u weißt, das hat nicht jeder.«45 Diese individualistische Problematik, die durch die Eltern angedeutet oder verschärft wird, deckt sich 42 Eine Verankerung von Bug Boy in der Stilgeschichte des Mangas etwa hätte zu weit weg vom Thema geführt. Es sei hier nur angedeutet, dass die überwiegend strenge Panelstruktur und der schwarz-weiße Zeichenstil dem zeitgenössischen japanischen Manga weitgehend entsprechen (vgl. etwa Barfuß durch Hiroshima von Keiji Nakazawa, Erstpublikation 1973). 43 Vgl. hierzu den Beitrag von Torsten Hoffmann in diesem Band. 44 Kevin Kuhn: Hikikomori, 2. Aufl., München, 2013, S. 14; Hervorhebung im Original. 45 Kuhn: Hikikomori, S. 15.

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nicht unbedingt mit dem Bedürfnis, sich in ein Kollektiv reibungslos einzugliedern und in ihm zu funktionieren, von dem wie dargelegt gemeinhin angenommen wird, dass es für japanische Hikikomori konstitutiv ist. Auch Kuhns Hikikomori kann erstaunlicherweise sehr glatt auf Kafka’sche Motive hin gelesen werden; es finden sich zahlreiche Parallelen zwischen der Verwandlung, Kuhns Text und, trotz der Unterschiede im Verständnis des Phänomens Hikikomori, Hinos Bug Boy. Kafkas Verwandlung ist auch für Kuhn ein Hypotext. Till begreift seinen Rückzug ganz explizit als Verwandlung, die sich in seinem Zimmer, seinem »Kokon«46 vollziehen soll. Seine Verwandlung in einen Hikikomori überlagert sich des Weiteren mit der Verwandlung in ein Tier. Sie geht damit einher, dass er sich mit Tieren umgibt, obsessiv Vögel beobachtet47 und sich einen Leguan besorgt, der ihm den Finger blutig beißt;48 die Situation erinnert natürlich an Sanpeis Verwandlung. Tills Vater äußert sich später über die Geräusche, die aus seinem »Kokon« dringen, folgendermaßen: »Er hat geschrien und Laute wie ein Tier von sich gegeben. […] Und gleichzeitig, ich weiß nicht, wie er das macht, hat er begonnen, an der Tür zu scharren.« Gregor »scharrt[.]« in der Verwandlung »stundenlang auf dem Leder«49 seines Sofas. Tills Vater fährt fort: Sein Sohn scharre an der Tür, »[a]ls ob er eingesperrt wäre, ihm Krallen gewachsen seien […]. Junge Menschen brauchen ihre Zeit, das heißt aber auch, sie müssen sich irgendwann abkapseln, nicht wie Parasiten an einem Wirt kleben, sich so lange von diesem ernähren, bis der Wirt krepiert.«50 Worauf Tills Mutter erwidert: »Was soll das heißen? Till der Parasit, oder was?«51 Es wird also direkt auf den im japanischen Diskurs wohl etablierten Zusammenhang von Hikikomori und Parasitentum hingewiesen. Der diskursive Zusammenhang von Hikikomori und der Verwandlung in ein Tier, der Kafkas Verwandlung zu einem für die Bearbeitung dieses Diskurses besonders geeigneten Text macht, findet seinen Weg also bis nach Europa; die Verwandlung eines heutigen Gregor, die des »parasitären Insekt[s]« Till nämlich,52 weist wiederum zurück nach Japan. Anders gesagt: Die Aneignung von Kafka’schen Motiven in einem Stück japanischer Populärliteratur, das sich an Diskurse rund um eine gesellschaftliche Metamorphose anschließen lässt, hat sozusagen ihren Weg zurück in die deutschsprachige Literatur gefunden.

46 Kuhn: Hikikomori, S. 128. 47 Kuhn: Hikikomori, z. B. S. 19, 47, 79, 89-91. 48 Kuhn: Hikikomori, S. 134. 49 Kafka: Verwandlung, S. 155. 50 Kuhn: Hikikomori, S. 143. 51 Kuhn: Hikikomori, S. 143. 52 Kuhn: Hikikomori, S. 144.

Interkulturelle Stereotype und Klischees in Flix’ Faust und Posy Simmonds’ Gemma Bovery M ara S tuhlfauth -T rabert

Viele Comics, die einen literarischen Text neu inszenieren, verbindet die Entscheidung des Zeichners, die histoire1 des Prätextes aus seinem kulturhistorischen Umfeld zu lösen und in die Gegenwart zu übertragen.2 Die dadurch notwendigen Veränderungen bzw. Aktualisierungen der histoire erzeugen ein interessantes Spannungsverhältnis zwischen Prätext und Comicumsetzung. Viele der Comicumsetzungen, die sich für einen solchen Transfer in die Gegenwart entscheiden, thematisieren Probleme unserer multikulturellen Gesellschaft, indem sie Stereotype3 zeigen, die das interkulturelle Miteinander bestimmen. Denn die Kon1 Vgl. Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S. 20-26. 2 So verlegt zum Beispiel die Zeichnerin Olivia Vieweg die Abenteuer von Mark Twains Huckleberry Finn geographisch von Missouri am Mississippi nach Halle an der Saale und epochal von der Mitte des 19. an den Beginn des 21. Jahrhunderts. Eine Konsequenz dieser Entscheidung ist, dass Huck nicht gemeinsam mit dem Sklaven Jim ein Floß baut, sondern mit der asiatischen Prostituierten Jin, wodurch die Frage evoziert wird, ob Prostitution eine moderne Form der Sklaverei darstellt (vgl. Olivia Vieweg: Huck Finn, Berlin 2013 und den Werkstattbericht von Olivia Vieweg in diesem Band). 3 Der Begriff Stereotyp stammt ursprünglich aus dem Druckwesen und wird sowohl in der Sozial- als auch in der Literaturwissenschaft in »übertragenen und meist pejorativen Bedeutungen zur Bezeichnung von stark vereinfachten, schematisierten, feststehenden und weit verbreiteten Vorstellungen einer Gruppe von einer anderen (Hetero-St.) oder von sich selbst (Auto-St.) verwendet.« Das Konzept des Stereotyps wurde durch den amerikanischen Journalisten W. Lippmann in dem Buch Public Opinion (1922), das die Rolle der von den Massenmedien konstruierten Bildern für die öffentliche Meinung behandelt, in den Wissenschaftsdiskurs eingeführt. Seit Lippmann gilt die

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takte zwischen Menschen in einer multikulturellen Gesellschaft sind sehr stark von Stereotypen im Sinne von »verfestigte[n] und vereinfachte[n] kollektive[n] Bilder[n]«4 geprägt. Die Vorstellungen einer Gruppe von einer anderen (Heterostereotype) oder von sich selbst (Autostereotype) beruhen keineswegs immer auf Kognition, sondern sind im Gegenteil meist mit intensiven Gefühlen verbunden.5 Gerade die Heterostereotype sind häufig von Xenophobie und Exotismus, dass heißt von Angst und Faszination gegenüber dem Fremden gekennzeichnet.6 Außer dem Comic ist es insbesondere der Film, der vor allem in der Subgattung der Culture Clash-Komödie anhand von interkulturellen Liebesbeziehungen aufzeigt, wie schwer es dem familiären und sozialen Umfeld fällt, die kulturellen Differenzen und eigenen nationalen Stereotype durch den individuellen Kontakt mit dem ›Fremden‹ in einen dialektischen Prozess zurückzuführen. Gerade stereotypes Denken sperrt sich gegen die Dialektik der Rückbesinnung auf ein Schema und der flexiblen Korrektur desselben. Genau wie der Film und die Literatur vermag es auch der Comic, Stereotype zu inszenieren und »für den Leser auf eine Denkbühne«7 zu bringen, um sie auszustellen, zu hinterfragen, zu kritisieren oder sie durch die Wendung ins Komische zu entmachten. Dabei können die Stereotype in allen drei Medien entweder auf struktureller Ebene durch Anlehnung an traditionelle Erzählmuster, stereotype Figurendarstellung oder stereotype Aussagen einzelner Figuren präsent sein. Dem Comic kommt hier allerdings eine Sonderstellung zu, da dieses Medium mehr als der Film und die Literatur unabhängig von der histoire auf der Ebene des discours mit Stereotypisierungen arbeitet. Denn den Bildanteil eines Comics Bildung von Stereotypen als eine zumeist unbewusste kognitive Strategie der selektiven Wahrnehmung und Komplexitätsreduktion (vgl. Ansgar Nünning: Stereotyp, in: ders. (Hg.): Metzler-Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie, 3. erw. und akt. Aufl., Stuttgart/Weimar 2004, S. 626f.). 4 Norbert Mecklenburg: Imagologie: Grundaspekte und Beispielbereiche literarischer Bilder der Anderen, in: ders.: Das Mädchen aus der Fremde, München 2008, S. 238269, hier S. 239. 5 Vgl. Mecklenburg: Imagologie, S. 238-269. 6 Die Fremdwahrnehmung ist eine ambivalente Wahrnehmung, die zwischen Exotismus und Xenophobie schwankt. »Dem entspricht im ersten Fall meist eine Aufwertung, bis hin zur Idealisierung des Fremden, und im zweiten Fall eine deutliche Abwertung, die teilweise bis hin zur Weigerung führen kann, dem Anderen menschliche Eigenschaften zuzuerkennen.« (Jochen Neubauer: Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer. Identität und Fremdwahrnehmung in Film und Literatur: Fatih Akin, Thomas Arslan, Emine Sevgi Özdamar, Zafer Şenocak und Feridun Zaimoğlu, Würzburg 2011, S. 19) 7 Mecklenburg: Imagologie, S. 242.

Interkulturalität in Flix’ Faust und Posy Simmonds’ Gemma Bovery | 191

zeichnet eine »simplified reality«8, ein starker und daher häufig auch stereotypisierender Abstraktionsgrad aus, wie Scott McCloud hervorgehoben hat: »By stripping down an image to its essential ›meaning‹, an artist can amplify that meaning in a way that realistic art can’t. […] Another is the universality of cartoon imagery. The more cartoony a face is, for instance, the more people it could be said to describe.«9 Die Darstellung der Welt wird auf ihre wesentlichen Merkmale reduziert, die Art der Reduktion verläuft nach McCloud anhand von zwei Achsen, der Achse der reinen Form und der Achse der stilisierenden Abstraktion, und obwohl dem Comic prinzipiell alle Abstufungen zur Verfügung stehen, bleibt doch festzuhalten, dass »most comics art lies near the bottom – – that is, along the iconic abstraction side where every line has a meaning«10. Dass die Tendenz des Comics zur stereotypisierenden Abstraktion keinesfalls zu einer Reproduktion eben dieser Stereotype führen muss, zeigt mit aller Deutlichkeit das berühmte Beispiel von Art Spiegelmans Maus, in dem die Tiermetapher – die Juden sind als Mäuse, die Deutschen als Katzen dargestellt – dazu dient, die Stereotypen als Maske und somit als Klischee auszustellen.11 Im Folgenden möchte ich mit Flix’ Faust (2010) und Posy Simmonds’ Gemma Bovery (2011) zwei Literaturcomics in den Blick nehmen, welche die Liebesbeziehungen ihrer literarischen Vorlagen – Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil und Gustave Flauberts Madame Bovary – ganz im Gegensatz zu ihren Hypotexten zu interkulturellen Begegnungen werden lassen. Dabei möchte ich analysieren, inwiefern nationale und kulturelle Stereotype in beiden Comics auf der Ebene der histoire und des discours eine Rolle spielen und ob diese lediglich rezipiert oder auch ausgestellt und gegebenenfalls kritisiert werden.

M ultikulturalität

in

F lix ’ F aust

Der Berliner Comiczeichner Flix hat sich Goethes Faust-Stoff bereits zweimal angenommen. Doch weder in seiner ersten Umsetzung Who the fuck is Faust? (1998) noch in seinem zwölf Jahre später erschienenen Faust. Der Tragödie erster Teil geht es ihm darum, Goethes Prätext mit allen seinen Facetten in das Medium Comic zu übertragen; vielmehr setzt er inhaltlich deutliche Schwerpunkte auf den 8 Scott McCloud: Understanding Comics. The invisible Art. New York, S. 30. 9 McCloud: Understanding Comics, S. 30f. 10 McCloud: Understanding Comics, S. 51. 11 Sobald die Hauptfiguren des Comics ihre jüdische Identität verbergen und sich als Polen ausgeben, tragen sie über ihren Mäusegesichtern Schweinemasken (vgl. Art Spiegelman: Maus. Die Geschichte eines Überlebenden, Frankfurt a.M. 2008, S. 136).

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Prolog im Himmel und die Gretchen-Tragödie und verwandelt den Faust-Stoff in eine Typenkomödie, die genretypisch vielfach auf Klischees beruht. Insbesondere die Gretchenhandlung wird dabei zur Komödie, da die uneheliche Schwangerschaft und der Kindsmord entfallen. Beide Faust-Umsetzungen stellen die Wette zwischen Gott und Mephisto in den Mittelpunkt und lassen die Wettstreitenden immer wieder manipulierend in die Handlung eingreifen. Flix’ zweite Faust-Bearbeitung zeigt, dass sich sein Zeichenstil individualisiert hat: Während er sich bei seinem ›Urfaust‹ im Hinblick auf den Stil der Charaktere noch an Brösels Werner orientiert, zeichnen sich seine späteren Charaktere bereits durch die für Flix typischen Quadratnasen aus. Desweiteren gewinnt die spätere Fassung durch das zugrundegelegte panel grid von 3x4 Panels pro Seite, weil erst dadurch die Abweichungen vom panel grid als intendierte Brüche erkennbar werden. Aber nicht nur stilistisch, sondern auch im Hinblick auf den Gegenwartstransfer des Figurenensembles unterscheiden sich die beiden Fassungen erheblich. Im älteren Faust-Comic zielt Flix mit Wagner als Fausts homosexuellem Freund, Gretchen als christlicher Wurstfachverkäuferin Maggie Nothdurft, ihrer Mutter als homophober CSU-Wählerin und Valentin als Neonazi eher auf ein Gesellschaftsbild, welches durch unterschiedliche gesellschaftliche Schichten sowie divergierende politische und sexuelle Orientierungen geprägt ist. Der interkulturelle Aspekt, der nun im Folgenden im Fokus stehen soll, bestimmt erst die Figurenkonstellation der späteren Adaption. Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil

Flix: Who the fuck is Faust? (1998)

Flix: Faust. Der Tragödie erster Teil (2010)

Heinrich Faust

Philosophiestudent im 27ten Semester

deutscher Taxifahrer

Gretchen

Wurstfachverkäuferin Maggie Nothdurft

türkische Büroangestellte

Gretchens Mutter

homophobe CSU-Wählerin

türkische Gemüseverkäuferin

Gretchens Bruder Valentin

Neonazi

Türke

Wagner

homosexueller Freund von Faust

querschnittsgelähmter Schwarzer

Wie aus der Tabelle ersichtlich wird, kennzeichnet die meisten Figuren in Fausts Umfeld der späten Fassung ein türkischer Migrationshintergrund; die einzige Ausnahme stellt Wagner dar, der von Gott als »maximalpigmentierter Mitteleu-

Interkulturalität in Flix’ Faust und Posy Simmonds’ Gemma Bovery | 193

ropäer mit Migrationshintergrund«12 bezeichnet wird. Goethes Faust bekommt beim Osterspaziergang noch folgende Worte zu hören, welche die Türkei als Gegenpol zum Autostereotyp des friedfertigen deutschen Spießbürgers etablieren: »Nichts bessres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen, / Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, / Wenn hinten, weit, in der Türkei, / Die Völker aufeinander schlagen«13; für Flix’ Faust hingegen rückt die Türkei in die unmittelbare Nachbarschaft. Die interkulturellen Konflikte der späteren Fassung sind vorrangig religiös motiviert, wobei dies bezeichnenderweise nur die irdische Sphäre betrifft. In der göttlichen Sphäre – bei Flix eine Verwaltungsbüroetage – arbeiten neben dem christlichen Gott auch buddhistische und muslimische Kollegen. Die zeichnerische Darstellung der Religionsstifter ist für die interkulturelle Fragestellung insofern interessant, als dass Buddha und Mohammed für den Leser bei ihrem ersten Auftreten sofort an körperlichen Stereotypen zu identifizieren sind: Buddha durch Wohlbeleibtheit und vergrößerte Ohrläppchen, Mohammed durch Bart und Turban.

Abb. 1: oben: Flix: Faust S. 6; unten: Flix: Faust, S. 78.

Im Panel unmittelbar vor der Einführung der anderen beiden Götter treibt Mephisto seinen Streit mit Gott über dessen zunehmend kleiner werdende Anhängerschaft auf die Spitze, indem er die gespielte Zufriedenheit Gottes mit dem Kommentar quittiert: »Dann kann ich also gleich deinen Kollegen, wenn sie uns zum Essen abholen, erzählen, dass Du ihnen, so wie’s aussieht, zahlenmäßig unterlegen bist?« (F 6) Die doppelte Pointe, dass einerseits die Kollegen tatsächlich im folgenden Panel mit der Frage nach einem gemeinsamen Mensagang in

12 Flix: Faust. Der Tragödie erster Teil. Carlsen: München 2010, S. 9; im Folgenden zitiert mit der Sigle F und Seitenzahl. Während Flix sich im Hinblick auf die Figuren mit türkischem Migrationshintergrund gängiger Klischees und Stereotype bedient, um komische Effekte zu erzielen, bezieht seine Interpretation Wagners die Komik aus der Übererfüllung der political correctness, die hier wie eine krampfhafte Vermeidung der Worte ›Farbiger‹ oder ›Schwarzer‹ wirkt und die Begriffe somit indirekt evoziert. 13 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie, hg. von Albrecht Schöne, Frankfurt a.M. 2003, V. 860-864.

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der Tür stehen und damit Mephisto und nicht Gott als Allwissenden erscheinen lassen und andererseits diese Kollegen keine geringeren sind als die Vertreter anderer Weltreligionen, gelingt nur, wenn sich der Zeichner darauf verlassen kann, dass Buddha und Mohammed vom Leser sofort als solche erkannt werden. Für die gelingende Kommunikation zwischen Zeichner und Leser greift Flix auf der Bildebene seines Comics auf Stereotypen zurück, die allgemein verständlich sind. Doch im Gegensatz zu dieser stereotypisierenden körperlichen Darstellung werden in der himmlischen Bürosphäre auf inhaltlicher Ebene keinerlei Stereotype der interkulturellen Beziehung zwischen den drei Göttern abgerufen – der christliche Gott, Mohammed und Buddha pflegen untereinander einen neckisch-vertraulichen Umgang, so dass die Idee eines harmonischen Verhältnisses zwischen den Weltreligionen evoziert wird. Dass Flix gerade in der himmlischen Sphäre bei der histoire auf Stereotypen verzichtet, mag an dem gesellschaftspolitischen Sprengstoff liegen, der in religionskritischen Darstellungen verborgen sein kann. Ganz so harmonisch läuft es auf der Erde nicht ab. Allerdings finde ich Andreas Platthaus’ Einschätzung im Geleitwort zum Flix-Faust – welches gleichzeitig die Zueignung und das Vorspiel auf dem Theater aufgreift –, dass Flix’ »multikulturelle Wunschwelt von Berlin […] alle Illusionen vom schiedlich-friedlichen Miteinander der Kulturen« (F 13) entlarve, ein wenig zu eindimensional. Denn Flix differenziert sehr stark zwischen der ersten Migrantengeneration, vertreten durch Margarethes Mutter, und der nächsten Generation, verkörpert durch Margarethe selbst, was ich exemplarisch an zwei Szenen ausführen möchte. Margarethes Mutter nennt ihre Tochter hartnäckig Özlem und weigert sich, sie mit ihrem auf den Vater, einen Fan der Showmasterin Margarete Schreinemakers, zurückgehenden Taufnamen Margarethe anzusprechen. Sie billigt die Bürotätigkeit ihrer Tochter nicht (vgl. F 40) und möchte Margarethe mit ihrem Cousin aus der türkischen Provinz verheiraten, da ihr »die [Deutschen, M.S-T.] jedenfalls nicht ins Haus« (F 74) kommen. Gretchens Mutter erscheint hier als restriktive Person, die sehr deutliche Grenzen zwischen der eigenen und der fremden Kultur zieht. Dabei bedient sich Flix für die zeichnerische Präsentation der Mutter deutscher Heterostereotype: Sie ist korpulent und immer mit Kopftuch dargestellt und wird durch ihre eckige Nase, die in diesem Comic als eindeutig maskulines Attribut fungiert, optisch als Familienoberhaupt etabliert. Offen bleibt dabei, ob dadurch angezeigt wird, dass Margarethes Mutter die Rolle des Vaters einnimmt, oder ob Flix hier das deutsche Heterostereotyp reproduziert, dem zufolge in türkischen Familien die Mutter innerhalb des Hauses die Entscheidungen fällt. Diese Gender-Funktion der Nasenform fällt besonders bei der Beerdigung von Margarethes Mutter ins Auge, da Frauen und Männer separiert zusammenstehen: Während die Gesichter der meisten weiblichen Charaktere kleine, runde Stupsnasen zieren, weist die einzig ältere Frau – vermutlich die Schwester der Verstorbenen

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– ebenfalls eine eckige Nase auf (vgl. Abb. 1). Im Gegensatz zur himmlischen Sphäre werden die nationalen Stereotype hier allerdings auch auf inhaltlicher Ebene thematisiert. Während die zeichnerische Darstellung von Margarethes Mutter deutsche Heterostereotype übernimmt, ohne diese zu hinterfragen, werden jedoch die Ressentiments, die Margarethes Mutter gegenüber den Deutschen hegt, gebrochen, da Flix ihrer Aussage auf der Textebene des Comics eine humoristische Wende verleiht: Deutschland ist ein schönes Land. Schön grau. Schön kühl. Schön viel Regen. Aber die ganzen Deutschen hier? Schrecklich!!! Okay, sie kaufen alles, wo »Bio« draufsteht. Haha! Aber sonst? Sie sind unordentlich, sie sind laut, sie sind unpünktlich. Und sie haben keinen Humor. Özlem ist trotzdem mit welchen befreundet. (F 74)

Bei den negativen Eigenschaften »unordentlich«, »laut«, »unpünktlich«, die sie hier an den Deutschen bemängelt, handelt es sich um deutsche Heterostereotype gegenüber Südeuropäern. Die Zuschreibung »sie haben keinen Humor« reproduziert den weltweit verbreiteten Hetereostereotyp, dass Deutsche humorlos sind und impliziert den Autostereotyp, dass sie als Nicht-Deutsche durchaus über Humor verfügt. Eine Annahme, die der Comic in keinster Weise bestätigt, wird Margarethes Mutter, wenn überhaupt, nur als unfreiwillig komische Figur gezeigt.14 Flix’ Umsetzung von Goethes Szene Am Brunnen hingegen macht sowohl deutlich, wie modern Margarethes Ansichten zu der türkischen Heiratspolitik sind, als auch wie intensiv sich Flix mit dem Prätext auseinandergesetzt hat. In Goethes Faust treffen sich Gretchen und Lieschen beim Wasserholen und tauschen Neuigkeiten aus. Der Brunnen auf dem zentralen Dorfplatz ist gleichzeitig Symbol für Fruchtbarkeit und Richtplatz des öffentlichen Leumunds. Diese Doppelsinnigkeit beibehaltend, wählt Flix ein türkisches Straßencafé, welches passenderweise »Café Kaynak« (vgl. F 57), deutsch ›Café Quelle‹, heißt, wobei dieser Name andererseits auch die Assoziation an das deutsche Schimpfwort ›Kanake‹ evoziert. Wie in Goethes Faust Lieschen das gutgläubig verliebte Gretchen am Beispiel einer gemeinsamen Bekannten darüber aufklärt, welche gesellschaftlichen Konsequenzen eine uneheliche Schwangerschaft nach sich zieht, versucht auch Margarethes Freundin bei Flix, diese von einer Heirat mit ihrem Cousin zu überzeugen. Flix behält die metaphorische Sprachcodierung Goethes bei. Während Goethes Lieschen den literarischen Topos des Deflorationsmotivs verwendet: »War ein Gekos’ und ein Geschleck’; / Da ist denn auch das Blümchen weg!«15, zeigt Mar14 Z.B. wenn sie die Kapuze von Charon mit den Worten »Schönes Kopftuch« (F 76) kommentiert. 15 Goethe: Faust, V. 3560f.

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garethes Metapher, dass es ihr nicht mehr um die Jungfräulichkeit, sondern ›nur‹ um Schwangerschaftsverhütung geht: »Ohne Regenmäntelchen?! Wie konnte sie bloss…« (F 57). Margarethe gibt sich in ihrer nächsten Replik selbst die Antwort »Sie war verliebt!« (F 57) und macht deutlich, dass sie an die romantische Liebe glaubt und im Gegensatz zu ihrer Mutter auch an einer Beziehung mit einem Nicht-Türken interessiert ist. Dieser interkulturellen Aufgeschlossenheit Margarethes entspricht ihre zeichnerische Repräsentation, denn ganz im Gegensatz zu Buddha und Mohammed ist sie bei ihrem ersten Auftritt (vgl. F 23, Panel oben links) in keinster Weise als Türkin zu erkennen; erst die Sprechblase im siebten Panel derselben Seite »Wiedersehn / Güle Güle«, lässt Rückschlüsse auf ihren türkischen Migrationshintergrund zu.

X enophobie und E xotismus in P osy S immonds ’ G emma B overy Genau wie Flix verlegt auch Posy Simmonds die Handlung des Hypotextes in die Gegenwart und nimmt dabei eine neue Gattungsakzentuierung vor. Drei Wochen nach dem Tod der Protagonistin Gemma Bovery setzt die Handlung von Posy Simmonds’ Literaturcomic ein. Erzählt wird uns Gemmas Geschichte aus der Perspektive des französischen Bäckers Raymond Joubert. Die Entscheidung der Zeichnerin, in markanter Abweichung vom Prätext den Ich-Erzähler Joubert einzuführen, ist strukturgebend für ihren Comic und ermöglicht es, die histoire von Flauberts Roman mit den Grundzügen einer Detektivgeschichte zu verbinden. Während bei Flauberts Roman der Selbstmord der Protagonistin den Fluchtpunkt der Romanhandlung bildet, und die Darstellung der unglücklichen Ehe, des Ehebruchs und der Verschuldung durch Luxussucht diesen Fluchtpunkt begründen, stellt Posy Simmonds den Tod ihrer Protagonistin an den Beginn und lässt ihren Ich-Erzähler Joubert vor allem nach den Umständen und weniger nach den Gründen ihres Todes fahnden. Der literaturaffine Joubert sieht von dem Moment, als er den Namen des in seine Nachbarschaft gezogenen Paares – Charlie und Gemma Bovery – erfährt, in der attraktiven Engländerin Flauberts unglückliche Romanheldin. Dadurch wird sein Beobachtungsfokus auf eine Weise vorgeformt, die zu einer stark selektiven Wahrnehmung ihrer Person führt, und Joubert zu einem unzuverlässigen Erzähler macht. Als Gemma wie Madame Bovary stirbt – wenn auch nicht durch Selbstmord, sondern durch Ersticken –, fühlt sich Joubert durch sein Parallelisieren der beiden Frauen für den Tod seiner Nachbarin verantwortlich und versucht mehr über ihren Tod herauszufinden. Der Comic lässt uns an Jouberts Detektivarbeit teilhaben. Dabei ist das Text-Bild-Verhältnis des Comics ganz entscheidend. Bereits

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beim Durchblättern des Comics fällt auf, dass es im traditionellen Sinn keine Panelstruktur gibt, da Rahmungen entfallen und es sich um einen sehr textlastigen Comic handelt, bei dem sich der Textanteil keinesfalls auf Captions und Sprechblasen beschränkt.16 Dennoch sind die Seiten strukturiert und können in Panels eingeteilt werden, so dass reine Textpanels, reine Bildpanels und traditionelle Comicpanels vorhanden sind. Die reinen Textpanels beinhalten zweierlei: Auszüge aus Gemmas Tagebüchern sowie den Erzählerbericht Jouberts, der Aufschluss über sein Verhalten Gemma gegenüber gibt und versucht, durch das Übersetzen von Gemmas Tagebüchern seine Version der Geschichte zu ergänzen. Die reinen Bild- und traditionellen Comicpanels hingegen offenbaren dem Leser häufig die Dialoge und Gedanken der anderen Figuren, die nicht durch Jouberts Projektionen verformt sind. Durch die Widersprüche, die sich aus dem Zusammenspiel der Bild- und Textebene ergeben, gelingt es Posy Simmonds mit comicspezifischen Mitteln, die bei Flaubert durch variable interne Fokalisierung17 erreichte Polyperspektivität in das Medium Comic zu transformieren.18 Für die inhaltliche Verbindung zwischen Comic und Prätext sind Jouberts Zuschreibungen entscheidend, was durch seinen sprechenden Namen noch verstärkt wird. Dass der Name Joubert sich die zweite Silbe mit dem Namen Flaubert teilt, lässt ihn als ein Derivat des Autors erscheinen, der sich Flauberts Roman aneignet; denkt man sich noch das französische Verb für ›spielen‹ jouer hinzu, erkennt man in Joubert den Spielleiter, der Flauberts Ehebruchsroman in die Gegenwart projiziert. Mehrfach beobachtet Joubert Gemma und glaubt, seine Gedanken an Flauberts Roman hätten sie zu ihren Handlungen veranlasst, so z.B. als Gemma ihren späteren Liebhaber Hervé de Bressigny an einem Wochenmarktstand vor Jouberts Bäckerei anspricht: Schlagartig wurde mir klar, dass ihr Problem vielleicht eher ein Mangel an Liebe war – zu wenig Sex. Was sie brauchte war… Erst jetzt bemerkte ich, dass auch Hervé de Bressigny dort herumstand wie ein Statist. Und dann geschah etwas Seltsames. Just in dem Moment, als mein Blick auf ihn fiel, war es, als hätte ich, gleich einem Filmregisseur, ›Action!‹ geru16 Die Art des sehr textlastigen Comics ohne Rahmengitter ist typisch für die Zeichnerin, die auch in ihrem anderen Literaturcomic Tamara Drewe so verfahren ist (vgl. Posy Simmonds: Tamara Drewe, Berlin 2009). 17 Martinez/Scheffel: Erzähltheorie, S. 66. 18 Zum Beispiel, wenn Martine ihrem Ehemann Joubert vorschwärmt wie galant und verständnisvoll sich Charlie als Ehemann verhält, während die Charlie zugeordneten Gedankenblasen zeigen, dass er nichts von dem Gesagten wirklich meint (vgl. Posy Simmonds: Gemma Bovery. Berlin 2011, S. 62; im Folgenden zitiert mit der Sigle GB und Seitenzahl).

198 | Mara Stuhlfauth-Trabert fen. Er wurde plötzlich lebendig. Er sprach Gemma an! Als hätten meine Gedanken ihn dazu veranlasst, und als hätte ich auch Gemmas Reaktion ausgelöst… (GB 45; Hervorhebungen im Original)

Jouberts Glaube, die Ereignisse gingen auf seine Suggestion zurück, entlarven seine Gedankengänge als kompensatorische Allmachtsphantasien. Diesem Phantasma folgend, mischt er sich in Gemmas Angelegenheiten ein und greift »nach [s]einer Waffe – einem neuen Exemplar von Madame Bovary« (GB 72), aus dem er der Nachbarin einen Auszug schickt, der sie glauben machen soll, Hervé habe ihre Beziehung beendet. Aus interkultureller Perspektive ist Jouberts Überzeugung, die Engländerin Gemma erleide das gleiche Schicksal wie die französische Romanheldin, sehr interessant, weil seine Begeisterung für die Parallelen zwischen den beiden Lebensläufen seine heterostereotypen Ressentiments gegenüber Engländern überlagern. Solange Gemma Flauberts Heldin entspricht, ist er begeistert; werden Abweichungen deutlich, führen diese jedoch nicht zu einer Korrektur seines Vorurteils und der Erkenntnis, dass Gemma ein eigenes, von Flauberts Roman unabhängiges Leben führt, sondern verleiten ihn zu verallgemeinernden, negativen Aussagen über ihre englische Herkunft. Jouberts Xenophobie gegenüber den Engländern liegt in seiner Angst vor Überfremdung begründet.19 Deswegen ist er zunächst von seinen neuen englischen Nachbarn wenig begeistert: Anfangs wussten wir nur, dass es Ausländer waren, aber das war nun wirklich nichts Aufregendes. Engländer, Holländer, Deutsche, Belgier – davon gibt es hier jedes Jahr mehr. […] Die von der schlimmeren Sorte – und das sind meist die Engländer – kommen mit ihren Autos angefahren, die sie im Großmarkt bis oben hin vollgeladen haben. Sie bleiben immer 19 Hierzu schreibt Jochen Neubauer: »Kulturelle Fremdheit kann sich beispielsweise in mangelnder Vertrautheit mit der Sprache eines Landes oder mit den Sitten und Lebensweisen in diesem Land äußern. Aus der Perspektive der Einheimischen wird kulturelle Fremdheit meist als Ergebnis des Zuzugs von ›Fremden‹ angesehen, was zur Angst vor möglicher ›Überfremdung‹ und xenophoben Reaktionen führen kann.« Im Anschluss an Annette C. Hammerschmidt führt Neubauer weiter aus: »In dieser Sichtweise gilt Fremdheit ›als Phänomen des Außen. […] Das kulturell Eigene wird in solchem Denken mit der Vorstellung einer homogenen kulturellen Gemeinschaft verbunden, die zu ihrer Beweisführung auf nationale Grenzen und politische Interessen verweist, deren Gültigkeit durch die Gemeinsamkeit der Sprache, der kulturellen Werte und Bräuche, der Lebenspraxis und der Mentalität die Evidenz einer natürlichen Gegebenheit erhält, die mit der fremden inkommensurabel erscheint.‹« (Neubauer: Türkische Deutsche, S 12f.)

Interkulturalität in Flix’ Faust und Posy Simmonds’ Gemma Bovery | 199

nur ein oder zwei Wochen, wie kleine Mylords, in vollständiger Isolation. Und versuchen auch nie Französisch zu lernen. (GB 32)

Aus diesem Grund polemisiert er auch gegen den Notar seines Wohnortes, welcher »den ganzen Tag nichts anderes [tut], als Frankreich häppchenweise an Ausländer zu verkaufen« (GB 49). Da jede heterostereotype Aussage aber gleichzeitig auch das autostereotype Selbstbild mittransportiert, verraten folgende Aussagen Jouberts, dass er die Franzosen für leidenschaftliche Liebhaber hält. Gemmas Ehemann Charlie bezeichnet er als »prüden Anglais« (GB 3) und äußert die Vermutung, dass er wohl nicht »[a]n gebrochenem Herzen sterben [werde] – schließlich ist er Engländer« (GB 2). Implizit offenbart er damit seine Enttäuschung, dass sich Gemma nicht für ihn interessiert. Dementsprechend ist er vollkommen frustriert, als er Gemma auf dem Weg zu ihrem Stelldichein mit Hervé erblickt und kanalisiert seine Enttäuschung, indem er sich über ihren Trainingsanzug mokiert: »Entschuldigung! Eine Französin würde sich für ein rendez-vous d’amour ein bisschen frisch machen, ein bisschen sexy, non? Gemma hingegen hätte auf dem Weg zum Pferdestall sein können.« (GB 57, Kursivierung im Original) Daraufhin ergeht er sich in Klagen, dass die Liebe zu Zeiten Flauberts nicht nur auf die Befriedigung sexueller Bedürfnisse ausgerichtet war. Doch Joubert ist nicht der einzige Charakter dieses Comics, dessen Denken von nationalen und kulturellen Stereotypen geprägt ist. Während Flauberts Emma aufgrund der gesellschaftlichen Umstände der Zeit keine Möglichkeiten hatte, ein selbstbestimmtes, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenes Leben zu führen, leidet ihr von Posy Simmonds in die Gegenwart transferiertes Alter Ego ganz im Gegenteil an dem Überangebot der für sie potentiell möglichen Lebensentwürfe. Gemma bietet nicht nur aufgrund ihres Namens eine Projektionsfläche für Jouberts literarische Madame Bovary-Phantasien – vor allem wenn man bedenkt, dass ›gemini‹ der lateinische Ausdruck für Zwillinge ist –, sondern empfindet auch das innere Vakuum ihrer literarischen Vorgängerin und versucht dieses mit radikal wechselnden Veränderungen hinsichtlich ihres Partners und Wohnortes sowie ihrer äußeren Erscheinung und Inneneinrichtung auszufüllen. So ändert sich ihr Selbstverständnis innerhalb der im Comic dargestellten Lebenszeit mehrfach. Jede dieser Phasen beginnt mit euphorischen Beschreibungen und endet mit der verbalen Verdammung des zuvor Gelobten. Gerade im Hinblick auf ihr wechselhaftes Selbstverständnis lohnt sich eine genaue Betrachtung der Bildebene dieses Comics. Die Bildpanels, die Gemmas Visionen ihrer nächsten Persönlichkeits- oder Lebensumfeldsveränderung zeigen, haben visualisierenden20 Charakter, weil sie das von 20 Zur begrifflichen Differenzierung zwischen ›illustrieren‹ und ›visualisieren‹ vgl. Dittmar: Comic-Analyse, S. 44.

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Gemma Erträumte durch die Art der stereotypisierten Darstellung als Stereotype und damit als unrealistische Zukunft entlarven, was an einem Beispiel im Folgenden demonstriert werden soll. Aus ihrer emotionalen Unzufriedenheit mit ihrem Londoner Stadtleben erwächst ihre Ablehnung gegen ein Leben in England, und der eskapistische Traum von einem besseren Leben in Frankreich auf dem Land entsteht (vgl. GB 6). Einer abgeschwächten Form des Exotismus nachhängend, projiziert Gemma ihre eigenen Wünsche und Sehnsüchte auf die Fremde und idealisiert Frankreich, wobei sie dem Heterostereotyp des französischen savoir vivre unreflektiert erliegt. Dass es sich um stereotype Fremdzuschreibungen handelt, wird von Posy Simmonds weniger über die Textebene vermittelt, da Gemmas Ziel Frankreich nicht explizit genannt wird: »Immer öfter träumte sie von einem Ort ohne verstopfte Straßen. Von einem ländlichen Fleck […]. Von einem Ort, wo Stil und Kultur Hand in Hand gehen, wo Lebensart großgeschrieben wird, wo das Essen nicht voller Chemie steckt.« (GB 28) Bei genauerer Betrachtung des Text-Bild-Verhältnisses fällt auf, dass auch bei den Seiten des Comics, bei denen die Bilder auf den ersten Blick wie reine Illustrationen des Textes wirken, es gerade die Bildebene ist, über die der Comic auf vielschichtige Weise mit Frankreichstereotypen spielt. Es ist die Bildebene, die zeigt, was Gemma mit Nordfrankreich assoziiert: Baguette, Menschen mit Baskenmützen, Calvados, Wasserschlösser, Gänsepastete und ein Kellner in Livree. Durch diese für das Medium Comic spezifischen Icons21 öffnen sich Assoziationsräume, denn sie repräsentieren die Vorstellung von gesundem, frisch zubereitetem Essen22, guter Luft und interessanter Kultur. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Zeichnung von Manets Gemälde. Denn einerseits verweist die Zeichnung im Sinne des Begriffs picture auf das materielle Bild Le Déjeuner sur l’herbe (1863, Das Frühstück im Grünen) von Edouard Manet und andererseits bündeln sich hier im Sinne des Begriffs image die Frankreicherwartungen von Gemma.23 Der ursprünglich von Manet bevorzugte Titel La Partie carée (Der flotte Vierer) und die Nacktheit der beiden Frauen verweisen auf die leidenschaftliche Liebe, die 21 Scott McCloud verwendet den Begriff ›icon‹ als »any image used to represent a person, place, thing or idea« (vgl. McCloud: Understandig Comics, S. 27). 22 Weitere Aussagen Gemmas: »denk dran, wie billig der Wein dort ist…und die Zigaretten! Frankreich ist ein Paradies für Raucher…« (GB 30); »25 verschiedene Sorten Brot! Unglaublich, diese Franzosen! Die wissen, wie man lebt!« (GB 33); »Ich kenne keinen EINZIGEN Ort in England, wo man die Straße runtergeht und 5 verschiedene Sorten Kartoffeln kaufen kann – und alles FRISCH & nicht in blöde Folie eingeschweißt. Die Franzosen sind so kultiviert!« (GB 35; Hervorhebungen im Original) 23 Vgl. William John Thomas Mitchell: Metabilder, in: ders.: Bildtheorie, Frankfurt a.M. 2008, S. 172-235, hier S. 174.

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sich Gemma insgeheim erhofft. Das wie ein Stillleben arrangierte Picknick im Vordergrund deutet auf ihre einem »nature morte« (GB 36) gleichende Landhauseinrichtung voraus. Eine ebenfalls poetologische Funktion übernimmt die Illustration des ›Malennach-Zahlen‹-Bildes (siehe Abb. 2). Dieses infantil wirkende Kunstprinzip veranschaulicht wunderbar, dass Gemma sich ihre Identität bei kulturellen Konzepten ausleiht. Erst nachdem das Haus einer Katalogphotographie des ländlichen Lebens gleicht, erkennt sie, dass auch dieses Lebensmodell ihr nicht entspricht und sie erneut nur langweilt. Ob die Stereotypen positiv oder negativ konnotiert werden, hängt von den äußeren Umständen und den Absichten dessen ab, der sich

Abb. 2: Posy Simmonds: Gemma Bovery, oben: S. 28; unten: S. 30.

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ihrer bedient. Die jeweilige Konnotation ist mehr als Ausdruck eigener Befindlichkeiten und Wünsche zu sehen denn als Verweis auf die von ihnen scheinbar bezeichnete Wirklichkeit. Dementsprechend konnotiert Gemma die gleichen stereotypen Frankreichbilder – Baguette, Calvados, Baskenmütze –, die ihr als Sinnbild des idealen Lebens in Frankreich erschienen, nach ihrer Desillusionierung negativ und ist mit dem in ihrem Stillleben assimilierten Charlie unzufrieden: Mit seiner Baskenmütze, schreibt sie, sah er aus ›wie ein Vollidiot, wie ein Typ aus der Stella Artois-Werbung‹. Er roch nach Gauloises, aß im Unterhemd, trank seinen Kaffee mit Calvados. Sein Lächeln war ein für allemal ›schläfrig‹ eingerastet. Er schien sich allmählich in Gemüse zu verwandeln, in eine Runkelrübe. (GB 40)

Diesem Muster entsprechend, zeichnet Posy Simmonds Gemma als individuellen Charakter voller Widersprüche und Stimmungswechsel. Flauberts Madame Bovary dient hier als »stoffliches Substrat, das verwandelt wird«24, um die innere Leere einer Frau im 21. Jahrhundert bildkünstlerisch zu gestalten; alle Stereotypen, die dabei zeichnerisch aufgerufen werden, stehen im Dienst der Projektionen der Protagonisten und werden als solche ausgestellt und hinterfragt.

L iebeskonzeption und I nterkulturalität in den L iteraturcomics G emma B overy und F aust Interessant ist, dass in beiden Literaturcomics die Darstellung interkultureller Stereotype mit der jeweiligen Liebeskonzeption des Comics enggeführt wird. Indem Flix das Mit- und Gegeneinander der Subkulturen als Spielplatz für das Machtgerangel der Himmelsbeamten Mephisto und Gott inszeniert, entfallen bei Flix die tragischen Aspekte des Faust-Stoffes zu Gunsten einer Komödie mit Herz und Happy-End. Flix’ Literaturadaption folgt dem romantischen Liebeskonzept. Sein Faust hat sich bereits in Margarethe verliebt, bevor Mephisto als Coach in sein Leben tritt. Er erhofft sich durch Mephisto verbesserte Flirtchancen und muss nicht erst, wie Goethes Faust, durch den Teufel auf den Geschmack der Liebe gebracht werden. Die interkulturellen Differenzen, die das Liebespaar Faust und Margarethe zu überwinden haben, resultieren einzig aus Margarethes enger Beziehung zu ihrer Familie, die sich für ihre Tochter eine Ehe mit einem türkischen Landsmann wünscht. Dementsprechend legt Flix auch gerade Margarethes Mutter und eben 24 Schmitz-Emans unterscheidet drei Kategorien von Literaturadaptionen: Vermittlung, Verwandlung und Vergleich (vgl. Monika Schmitz-Emans: Literatur-Comics. Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur, Berlin/Boston 2012, S. 299).

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nicht Margarethe selbst die GretchenFrage in den Mund. Um die interkulturelle Brisanz dieser Frage zu unterstreichen, lässt Flix genau in dem Moment, in dem der christliche Faust sich zum muslimischen Glauben bekennen müsste, den angeklebten, stereotyptürkischen Schnurrbart seiner FaustFigur in die Teetasse fallen (vgl. F 74). Die zentrale Seite, die der gegenseitigen Liebe von Faust und Margarethe gewidmet ist, entfaltet sowohl inhaltlich als auch strukturell Flix’ Metaphysik der Liebe. Im Zentrum der Seite ist das panel grid zu Gunsten einer Panelform mit Bedeutung25 aufgelöst; die Form entspricht dem Fadenkreuz eines ZielfernAbb. 3: Flix: Faust, S. 59. rohrs (vgl. Abb. 3). In dem Fadenkreuz stellt Flix einerseits die von der Wucht der Liebe überraschten Gesichter von Faust und Margarethe einander gegenüber und imaginiert andererseits Impressionen von deren gemeinsamer Zukunft, wie sie im Augenblick der Begegnung vor beider Augen vorbeiziehen. In diesem Kreislauf eines gemeinsamen Lebens zeigt Flix alle Attribute der romantischen Liebe: Alltagsbewältigung, Familiengründung und das gemeinsame Altern. Besonders hervorzuheben ist der Kuss zwischen Faust und Margarethe, da es Flix’ Faust um den Kuss der Liebe und nicht um die Befriedigung seines sexuellen Bedürfnisses geht (vgl. F 39). Unterstrichen wird diese Harmonie sowohl durch den Schmetterlingsschwarm und die Hochzeitsvögelchen am unteren Rand als auch durch die einträchtig zuschauenden Helfer der himmlischen und höllischen Sphäre am oberen Rand des Fadenkreuzes. Eingerahmt ist das Formpanel durch die Begegnung von Faust und Margarethe und die Beobachter der Szene, Gott und Mephisto. Gegenüber Amors Pfeil und der Metaphysik der Liebe sind die transzendenten Kräfte, Himmel und Hölle, machtlos und sich ausnahmsweise einig. Flix trennt Gott und Mephisto zwar durch den Rinnstein räumlich voneinander – Gott betrachtet die Szene von seinem Himmelsbalkon aus, während sich Mephisto auf der Erde hinter einem Busch versteckt hält –, lässt die beiden aber mit einer Stimme sprechen, was durch die gemeinsame Sprechblase mit zwei Ventilen gekennzeichnet wird, die folgerichtig panelübergreifend gesetzt ist. Allerdings scheint 25 Vgl. Dittmar: Comic-Analyse, S. 63f.

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der interkulturelle Aspekt im Moment dieser Liebesbegegnung gar keine Rolle mehr zu spielen, die Visualisierung der Vision einer gemeinsamen Zukunft ist allein auf Fausts Alltag ausgerichtet. Die Assimilation von Margarethe stellt keine Homogenisierung von zwei unterschiedlichen Kulturen dar, sondern ist eine gänzliche Negation des Türkischen. Nachdem Margarethes strenggläubige Mutter gestorben ist, steht der Beziehung nur noch Gottes Angst im Weg, die Wette zu verlieren. In Posy Simmonds’ Literaturcomic hingegen sucht man die Erfüllung der romantischen Liebe vergebens. Für Gemma bleibt das Ideal der romantischen Liebe unerreichbar, da ihm die Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse entgegensteht. Während für die Dyade von Margarethe und Faust die völlige Abwesenheit von interkulturellen Differenzen kennzeichnend ist, hat die erotische Leidenschaft zwischen Gemma und Hervé de Bressigny nur dank der interkulturellen Differenz bestand. Aufgrund der wechselseitigen Sprachbarriere – Gemma spricht nur wenig Französisch und Hervé kaum Englisch – beruht die Beziehung der beiden auf einer rein körperlichen Basis. Aufgrund des Schweigens bleibt Raum, sich den anderen nach den eigenen Wünschen auszumalen. Die nationalen Stereotype werden zu Bestandteilen der Triebökonomie. Mit zwei einzelnen Gedankenblasen bringt der Comic die jeweiligen Wünsche auf den Punkt: Hervé denkt an Gemma, Gemma denkt an Hervé, wie er an sie denkt, was die narzisstische Struktur ihres Begehrens offenlegt (vgl. GB 65). Die leidenschaftliche Beziehung hat nur Bestand, solange sich die beiden nicht näher kennenlernen; sobald die beiden die Sprachbarriere zu überwinden suchen, zerstören Besitzanspruch und Eifersucht den Zauber der Begegnungen. Bei Posy Simmonds ist Hervés Liebesgeständnis kein Auftakt einer gemeinsamen Geschichte wie bei Flix’ Faust, sondern der letzte Versuch zu halten, was schon dem Ende geweiht ist. Vor diesem Hintergrund ironisiert das Herz als Panelform das Ideal der romantischen Liebe, dem Gemma eigentlich nachhängt.

Abb. 4: links: Simmonds: Gemma Bovery, S. 67; rechts: Silbernes Mondlicht, das dich streichelt, Bastei Lübbe 1994.

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Das Panel in Herzform zoomt dem Betrachter das Pärchen heran, doch die Zeichnung der Figuren in diesem Herzpanel hat sich verändert, Gemma und Hervé sehen wie ein Liebespaar auf einem Groschenheft-Cover aus. Gemmas Haar ist gewellter als sonst, ihr Mund lasziv geöffnet, und Hervé – zum ersten Mal mit entschlossenem Gesichtsausdruck – hält fest, was er begehrt. Dieser Stilwechsel in der Charakterdarstellung im Zusammenspiel mit Jouberts durch das Ausrufungszeichen visualisiertem Entsetzen, zeigt einmal mehr, dass die Bildebene dann zum Klischee wird, wenn der Inhalt Klischee ist, und lässt sich auch so verstehen, dass der Leser hier Jouberts Imagination der Szenerie vor Augen geführt bekommt.

V. S chlussbetrachtung Posy Simmonds und Flix verfolgen unterschiedliche Strategien, mit den nationalen und kulturellen Stereotypen und Klischees umzugehen, die interkulturelle Beziehungen mit sich bringen können, und dabei die im Medienwechsel vom literarischen Prätext zum Comic liegende Spannung zwischen comicspezifischer Stereotypisierung durch Komplexitätsreduktion auf der Bildebene und inhaltlicher Auseinandersetzung mit Stereotypen für die eigene Neuinszenierung zu nutzen. Das Spiel mit nationalen Stereotypen entspringt in beiden Comics dem Transfer der histoire des jeweiligen Prätextes in die Gegenwart, wobei dieses Spiel bei dem Literaturcomic Gemma Bovery vor allem zu strukturellen Veränderungen des Prätextes und bei Flix’ Faust zu bewussten inhaltlichen Abweichungen der histoire führt. Denn in Gemma Bovery entsteht die Darstellung von Jouberts Xenophobie durch den Wechsel der Erzählperspektive und die Kombination mit dem Erzählmuster der Detektivgeschichte. Gemmas Exotismus, ihre Visionen und Projektionen ein Leben in Frankreich betreffend, entspricht der Figurenpsychologie von Flauberts Romanheldin. In Flix Faust hingegen führt die interkulturelle Relation zur Neuinszenierung der Gretchenhandlung. Posy Simmonds erschafft in ihrem Literaturcomic Gemma Bovery individuelle Charaktere, die, an das Figurenensemble des Prätextes angelehnt, eigene Facetten entfalten. Gerade in den Panels, in denen die ›simplified reality‹ zur Stereotypisierung neigt, werden die nationalen Heterostereotype der Charaktere als Wünsche, Sehnsüchte und Ängste der Protagonisten entlarvt und dadurch in ihren Mechanismen kenntlich gemacht und hinterfragt. Zudem wird die zeichnerische Gestaltung im Literaturcomic Gemma Bovary genau an den Stellen zum visualisierten Klischee, an denen die Realität der erzählten Welt durch Jouberts Phantasie wieder in literarische Fiktionalität rückgeführt wird, wie die Szene mit dem HerzPanel gezeigt hat.

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Im Gegensatz zu Simmonds arbeitet Flix in seinem Literaturcomic Faust mit einer viel stärkeren Typisierung aller Figuren, so dass die nationalen Auto- und Heterostereotype hier nur einen Teil der generellen Typisierung ausmachen und in Anlehnung an die Funktionsweisen von Culture-Clash-Komödien für ausreichend Gags sorgen. Dabei enthält der Comic viele Stereotypisierungen, die nicht hinterfragt werden, sei es auf der bildlichen Ebene, um komische Effekte zu erzeugen, wie bei der Darstellung von Buddha und Mohammed, oder den verallgemeinernden Aussagen zur Differenz der Geschlechter: »Männer sind Gefühlstierchen […]. Frauen dagegen sind optische Wesen« (F 45). Nur im Hinblick auf die Liebesbeziehung von Faust und Margarethe zeigt Flix, dass es möglich ist, alle Stereotype zu überwinden. Denn da Faust und Margarethe ihre interkulturellen und religiösen Differenzen mit der Elterngeneration hinter sich zurücklassen, steht einer romantischen Liebe nichts mehr im Weg. Indem Flix die Liebenden am Ende seiner Komödie vereint himmlischen Bürodienst verrichten lässt, schreibt er dem Goethe’schen Faust-Stoff seine Metaphysik der Liebe ein und zeichnet ein weitaus positiveres, wenngleich weniger realistischeres Menschenbild als Posy Simmonds, die alle Charaktere in ihren Lebenslügen und Phantasmen gefangen, von ihren unerfüllbaren Sehnsüchten gesteuert zeigt und Flauberts Heldin am Schluss profan an einem Stück Brot sterben lässt.

Ist Wien Kakanien? Die Comicadaption des Mann ohne Eigenschaften von Magdalena Steiner G iovanni R emonato

Comicadaptionen literarischer Texte haben eine lange Tradition, die spätestens 1940 beginnt, als der Verleger Albert Lewis Kanter in den U.S.A. die Reihe Classics Illustrated begründete. Seitdem haben viele Comicautoren den Stoff für ihre Werke aus dem Kanon der Literatur geschöpft. Nicht immer sind solche Adaptionen gelungen. Es gibt aber einige Beispiele, wie Paul Karasiks und David Mazzucchellis Umsetzung von Paul Austers City of Glass, die einen großen Erfolg bei Kritikern und einem breiteren Publikum gehabt haben. Bis vor kurzem war aber niemand auf die Idee gekommen, eine Comicversion von Der Mann ohne Eigenschaften, dem Hauptwerk des österreichischen Schriftstellers Robert Musil, zu gestalten. Die Arbeit an diesem Roman begann Musil 1921; der erste Band erschien 1930. Der Schriftsteller arbeitete bis zu seinem Lebensende 1942 an dem Roman, konnte ihn jedoch nicht vollenden. Heute zählt Der Mann ohne Eigenschaften zum Kanon der Weltliteratur und ist einer der wichtigsten und einflussreichsten Romane der österreichischen bzw. deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Der Mann ohne Eigenschaften ist bekanntlich ein außergewöhnlich komplexes und vielfältiges Werk. Nicht zuletzt aufgrund des essayistisch-philosophischen Ansatzes und der Länge ist eine Comicversion nur schwer vorstellbar. Doch 2007 wurde ein erster Versuch unternommen.1 Das Projekt wurde gemeinsam von der Wiener Künstlerin Magdalena Steiner und der Wiener Zeitung Augustin entwickelt, in der zwischen 2007 und 2009 sechsunddreißig Folgen des Mann ohne Eigenschaften in Comicform erschienen. Die Autorin und die Augustin-Redaktion zielten nicht auf eine werktreue und vollständige Übertragung des 1 Mittlerweile hat Nicolas Mahler eine weitere Comicadaption des Mann ohne Eigenschaften veröffentlicht; vgl. den Beitrag von Monika Schmitz-Emans in diesem Band.

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Mann ohne Eigenschaften ab. Das Projekt entsprach vielmehr dem Wunsch, so der Augustin-Redakteur Robert Sommer, »[d]ie Aktualität des 1930 erschienenen Werks anzudeuten«2. Gleichwohl handelt es sich hierbei um ein anspruchsvolles Vorhaben. Trotz der weltweiten Anerkennung umgibt den Roman, wie viele andere Klassiker, eine ambivalente Aura. Hans Ulrich Gumbrecht meint, Der Mann ohne Eigenschaften habe »den Status des permanenten Geheimtips. […] Man empfiehlt die Lektüre, dringend und mit etwas angestrengtem Enthusiasmus, um dann schnell ein anderes Thema zu finden, bevor klar wird, wie schütter die Lese-Erfahrungen hinter der gespielten Begeisterung sind.«3 Der Roman gehört zu jenen Klassikern, die »häufiger erwähnt als gelesen« werden, wie es Italo Calvino formulierte.4 Der Comicautor Nicolas Mahler fasst diese problematische Rezeption des Romans im achten Kapitel von Franz Kafkas nonstop Lachmaschine sehr gut zusammen: In einer nur wenige Seiten umfassenden Szene schildert er zwei Rezipienten, die ihre Meinung über den Mann ohne Eigenschaften äußern. Zuerst sieht man eine Frau, die den Roman verreißt: »Für mich verströmt dieses Buch die Aura von Mottenkugeln.«5 Weiters sieht man einen Journalisten, der sich vor einem Bier an die Lektüre des Mann ohne Eigenschaften während seiner Studienzeit erinnert. Er meint, das Buch sei für ihn wichtig gewesen, da die zwei Bände eine perfekte Unterlage für die Playstation waren. Können nun Comicadaptionen den Roman Der Mann ohne Eigenschaften vom Status des ungelesenen Klassikers erlösen? Können Comics zur Lektüre von Klassikern anregen? Die Classics Illustrated hatten einen solchen pädagogischen und propädeutischen Zweck: Sie sollten das Interesse der jungen Leser wecken, und sie zu der Auseinandersetzung mit dem Originalwerk anregen. Im ersten erschienenen Band The Three Musketeers war eine kurze Einleitung zu lesen, die die Ziele dieser Unternehmung erklären sollte: »It is not our intent to replace the old established classics with these editions of the classic comics library, but rather we aim to create an active interest in those great masterpieces and to instill a desire to read the original text.«6 Die Classics Illustrated sollten also eine Art Einführung in die ›gute Literatur‹ sein. Der Ansatz von Steiners Augustin Comics unterscheidet sich davon sehr: Die Autorin und die Redaktion der Zeitung ver2 Robert Sommer: Kakanien ist Wien 2007. Wer ist Ulrich?, in: Augustin, 31. Januar 2007. 3 Hans Ulrich Gumbrecht: Robert Musil erlösen!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Januar 2012. 4 Italo Calvino: Warum Klassiker lesen?, München/Wien 2003, S. 7. 5 Nicolas Mahler: Franz Kafkas nonstop Lachmaschine, Berlin 2014, S. 65. 6 Zitiert nach William B. Jones Jr.: Classic Illustrated. A Cultural History, Jefferson 2011, S. 12.

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suchten nicht (oder vielleicht nur indirekt) ihre Leser dazu anzuregen, Der Mann ohne Eigenschaften in seiner Originalfassung zu lesen. Ihr Aktualisierungsversuch zielte vielmehr auf die politischen und sozialen Inhalte des Romanwerks. Sie suchten bewusst »ausgewählte Passagen«7 aus, die ihren Anforderungen entsprachen und setzten sie in Beziehung zu aktuellen Ereignissen. Die Zeitung hat einen sozialen Auftrag: Ziel des Augustin-Projektes ist die Hilfe von Obdachlosen und ausgegrenzten Menschen. Auf der Augustin-Webseite wird die Zeitung folgendermaßen beschrieben: »Die Zeitung selbst definiert sich einerseits als Stadtzeitung, auch mit unterhaltenden Elementen, andererseits als Forum radikaler Kritik aller Formen sozialer Ungerechtigkeit und als Plattform der Marginalisierten.«8 Daher wurden Kapitel oder Teile des Mann ohne Eigenschaften bevorzugt, die Musils kritische Überlegungen oder Haltungen gegenüber der zeitgenössischen Gesellschaft äußern.

A vantgardistische C omics Magdalena Steiner entschied sich für einen besonderen Stil. Bereits bei einer ersten Betrachtung fällt sofort auf, dass die Figuren ›in Bewegung‹ dargestellt wurden, was an die Experimente der Chronofotographie oder an Bilder des Futurismus erinnert. Durch die Wiederholung des Profils der Figuren oder die Überlagerung derselben in verschiedenen Positionen gewinnen die Bilder an Dynamik. Zudem sind Schrift und Bilder scheinbar zusammenhanglos über die Seite verteilt, sodass es für den Leser schwierig wird, sich auf der Seite zu orientieren und eine logische Reihenfolge zu finden. Die Figuren und die Schrift sind oft schief oder gekippt, sodass man zum Lesen die Seite drehen muss. Magdalena Steiner lehnte sich nicht (nur) an bekannte Bilder des Futurismus an,9 sie ließ sich auch vom Stil der avantgardistischen Künstlerin Erika Giovanna Klien inspirieren. Die 1900 in Italien geborene Künstlerin war eine wichtige Repräsentantin des ›Kinetismus‹. Der Name leitet sich vom griechischen kinesis, Bewegung, ab und wurde von seinem Erfinder, Erika Giovanna Kliens Mentor Franz Čižek, folgendermaßen beschrieben: »Kinetismus = Die Kunst Bewegungsabfolge in ihre rhythmischen Elemente zu zerlegen und diese zum Bildaufbau zu verwenden.«10 7 Sommer: Kakanien ist Wien 2007. 8 http://www.augustin.or.at/ueber-uns/die-idee.html (letzter Zugriff am 9. Juli 2014). 9 Man denke etwa an Umberto Boccionis Dinamismo di un calciatore oder an Giacomo Ballas Auto in corsa (Studio). Velocità astratta, beide von 1913. 10 Monika Platzer: Kinetismus = Pädagogik – Weltanschauung – Avantgarde, in: dies./Ursula Storch (Hg.): Kinetismus. Wien entdeckt die Avantgarde, Ostfildern 2006, S. 8-59, hier S. 19.

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Als konkretes Vorbild nimmt die Comiczeichnerin eine Serie von Blättern, die Erika Giovanna Klien Kleßheimer Sendboten betitelte. Es handelt sich um eine Zusammenstellung von Texten und Zeichnungen, die sie regelmäßig an ihre Freunde in Wien in Form von Briefen verschickte. Als sie Wien 1925 verließ und eine Stelle als Kunstlehrerin in Kleßheim bei Salzburg annahm, fühlte sie sich isoliert und abgeschnitten von den Wiener Freunden. Mit dem Kleßheimer Sendboten – der Titel weckt Assoziationen an eine Lokalzeitung – versuchte sie, einen regelmäßigen Kontakt und Austausch mit den Freunden in Wien aufrechtzuerhalten. Sie teilte ihnen ihre Gedanken, Ideen, Erfahrungen, Schwierigkeiten und Gefühle mit: »Inhaltlich ist diese Frühform eines work in progress eine Mischung aus Tagebuch, Selbsttherapie, Erlebnisbericht, literarischen Texten, theoretischem Manifest und visualisierten Wunschträumen.«11 Die Bilder wurden im Kleßheimer Sendboten durch ein ›kinetistisches‹ Verfahren verfremdet: Die Szenen sind sehr dynamisch gehalten, reich an sich bewegenden Figuren und wurden nicht linear aneinandergereiht, sondern wie mit einem ›Schleuder-Effekt‹ scheinbar ohne eine bestimmte Anordnung auf der Seite verteilt. Als Ganzes ist der Kleßheimer Sendbote als Kunstobjekt zu verstehen: Die Ähnlichkeiten mit den Bildern der Futuristen wurden bereits genannt. Auch andere Werke der Avantgarde haben die Künstlerin wahrscheinlich beeinflusst, wie etwa die Collagen und Fotomontagen von Hannah Höch. Die Bilder von Erika Giovanna Klien sind aber einzigartig: die Verbindung von Text und Bild sowie der Stil der Zeichnungen machen diese Bilder Comics sehr ähnlich: »[D]ahinter verbirgt sich – kunsthistorisch einzigartig – eine Bilderzählung in der Art eines gleichsam kinetistischen Comic Strips«12. Magdalena Steiner zitiert absichtlich ihre Vorgängerin: Das Layout der Seite, die Disposition von Text und Figuren folgen den gleichen Gestaltungsprinzipien. Der einzige Unterschied ist, dass Magdalena Steiner im Vergleich zu Erika Giovanna Klien mehr Farben für ihre Comics verwendete und dass ab und zu auch eine Sprechblase zu sehen ist, was ihre Bilder deutlicher als Comics erkennbar werden lässt.13 Wie Monika Schmitz-Emans hervorgehoben hat, nehmen Comics 11 Ursula Storch: Text im Bild. Schriftelemente im Kinetismus, in: Platzer/Storch (Hg.): Kinetismus, S. 118-137, hier S. 123. 12 Annelise Lütgens: Moderne Künstlerinnen zwischen den Metropolen: Hannah Höch, Erika Giovanna Klien, Friedl Dicker, in: Agnes Husslein-Arco u.a. (Hg.): Wien – Berlin. Kunst zweier Metropolen von Grosz bis Schiele, München u.a. 2013, S. 247254, hier S. 247. 13 Tatsächlich verwendet bereits ihre Vorgängerin eine Art Sprechblase. Im Kleßheimer Sendboten ist eine Figur zu sehen (eigentlich die Künstlerin selbst), die raucht. Der Rauch der Zigarette formt den Rahmen, in dem die Wörter enthalten sind. Die Wörter selbst bilden sich ebenfalls aus dem Rauch der Zigarette. Es handelt sich somit um

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oft Bezug zur bildenden Kunst: »In Literatur-Comics werden vielfach Bezüge zur bildenden Kunst und zu wichtigen ihrer Vertreter […] hergestellt.«14 Es gibt verschiedene Gründe, warum Magdalena Steiner graphisch an Erika Giovanna Klien anknüpft: Die Künstlerin Erika Giovanna Klien arbeitete in Wien ungefähr zur selben Zeit wie Robert Musil an seinem Roman. Sowohl Erika Giovanna Kliens Bilder als auch Musils Roman sind Dokumente desselben historischen und geographischen Milieus. Die Wahl dieses Stils für die Comicversion zielt auf eine graphische Annäherung an den Geist der Epoche ab. In formaler Hinsicht passt diese Art von nicht sequentiellen Comics zum essayistischen Charakter des Mann ohne Eigenschaften.

E ssayistische C omics Ein wichtiger Bestandteil von Comics sind Rahmen und Panels. Monika SchmitzEmans zufolge sind Rahmen ein unverzichtbares Element von Comics und haben zwei Funktionen: eine visuelle und eine narrative. Zusammen mit Seiten schaffen Panels Raum für die Handlung. Seite und Panels können in manchen Fällen übereinstimmen, wie in Comics, die an der Grenze zur Illustration stehen, so z.B. die Bildergeschichten von Lorenzo Mattotti.15 Die Seite kann als Einheit aber auch wegfallen, wie im Fall von Internetcomics, wo das Umblättern durch die scrollFunktion ersetzt wird. Panels sind dagegen ein unverzichtbares Element: »Wenn mit Comics Geschichten erzählt werden, müssen Räume erzeugt werden, in denen Akteure operieren können«16. In den Comics von Magdalena Steiner ist die Seite das grundlegende Element. Jede Folge ihrer Comics entspricht einer Seite, wobei es sich um die letzte Seite der jeweiligen Ausgabe der Zeitung Augustin handelt. Panels sind dagegen nicht immer deutlich erkennbar; nur manchmal stimmen sie mit den Konturen der Seite überein. Meistens erfüllen die Rahmen aber ihre Hauptfunktion: Sie schaffen Räume, in denen Figuren und Text enthalten sind. Was hier in Frage gestellt wird, ist die narrative Funktion von Rahmen. Comics sind, der viel zitierten Definition von Will Eisner nach, ›sequential art‹.17 In Anlehnung an Eisners Begriff definiert Scott McCloud Comics als »[j]uxtaposed eine Frühform von Sprechblasen. In diesem Fall wäre das italienische Wort für Comics ›fumetti‹ (wörtlich ›Rauchwölkchen‹) besonders geeignet. 14 Monika Schmitz-Emans: Literatur-Comics. Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur, Berlin/Boston 2012, S. 107. 15 Vgl. Lorenzo Mattotti, Oltremai, Modena 2013. 16 Schmitz-Emans: Literatur-Comics, S. 77. 17 Vgl. Will Eisner: Comics and Sequential Art, Tamara 1990.

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pictorial and other images in deliberate sequence, intended to convey information and/or to produce an aesthetic response in the viewer.«18 Wenn Panels die kleinste narrative Einheit von Comics darstellen, formiert ihre Folge die zeitliche Dimension der Handlung. Die Nebeneinanderstellung von Panels, so schreibt Monika Schmitz-Emans, »konstruiert die Handlung als lesbare Reihe von miteinander in Zusammenhang stehenden Handlungsmomenten«19. Der Raum zwischen den Panels (oder gutter) repräsentiert zumeist die zeitliche Distanz von zwei Handlungsmomenten. Aufgabe der Comicleser ist es, mit der eigenen Imagination den weißen Raum zwischen den Panels zu füllen und so die Szenen miteinander zu verbinden. Scott McCloud nennt dies ›closure‹: »Comics panels fracture both time and space, offering a jagged, staccato rhythm of unconnected moments. But closure allows us to connect these moments and mentally construct a continuous, unified reality.«20 Westlichen Lesegewohnheiten folgend sind Panels von links nach rechts und von oben nach unten geordnet.21 In den Comics von Magdalena Steiner sind Bilder und Figuren auf der Seite wie erwähnt zusammenhanglos verteilt, sodass es für die Leser schwierig wird, sich auf der Seite zu orientieren. Auf manchen Seiten ergibt sich auf den ersten Blick keine bestimmte Reihenfolge. Die Leser müssen sich Bilder und Text genau anschauen, damit sie den Faden der Erzählung finden. In anderen Fällen sind die Comics von Magdalena Steiner eine Zusammensetzung von Bildern und Text ohne eine bestimmte Zeitfolge. Dadurch sind die Leser frei, bei der Lektüre einen eigenen Weg zu finden. Was Panels und Rahmen in diesen Comics nicht leisten, ist, den Comics eine zeitliche Struktur und der Erzählung einen regulären Rhythmus zu geben. Deshalb könnte man bei diesen Bildern von einer ›flüssigen‹ Rahmung sprechen. Diese ›flüssige‹ Rahmung verlangsamt den Erzählrhythmus und geht einher mit dem nicht-erzählerischen Inhalt der Texte. Robert Musil hat für seine Prosa oft die Form des Essays gewählt. Ein Essay ist für Musil eine literarische und künstlerische Form, die dem objektiven Verfahren des wissenschaftlichen Denkens folgt. In seinem Text Über den Essay meinte Musil: »Zwischen diesen beiden Gebieten liegt der Essay. Er hat von der Wissenschaft die Form u. Methode. Von der Kunst die Materie.«22 Musils Definition 18 Scott McCloud: Understanding Comics. The invisible Art, New York 1994, S. 9. 19 Schmitz-Emans: Literatur-Comics, S. 82. 20 McCloud: Understanding Comics, S. 67. 21 In anderen Kulturkreisen trifft dies nicht zu: So sind z.B. in den japanischen Manga Panels von rechts nach links geordnet. 22 Robert Musil: Über den Essay, in: ders.: Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik (= ders. Gesammelte Werke V-IX, hg. von Adolf Frisé), Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1335.

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des Essays ist jedoch sehr breit gehalten: »Das Verhältnis Musils zum Essay als Gattung ist nicht sehr präzise, ja man könnte auch sagen, sogar unscharf. [...] Sein Begriff des Essays umfasst auch kleine Formen, Aufsätze, Abhandlungen, Vorträge, ja selbst eine Aphorismensammlung.«23 Für sein wichtigstes Werk, Der Mann ohne Eigenschaften, versuchte Musil die essayistischen Elemente zu beschränken, konnte sie jedoch nicht vermeiden. Das Ergebnis ist ein Werk, dass gleichzeitig ein Roman und ein Essay ist, wie Musil selbst erkannte: »Es werden sich Leute darauf ausreden – weil sie auf die Gedanken nicht eingehen wollen – daß hier ebensoviel Essay wie Roman geboten wird«24. Was sind die essayistischen Elemente des Mann ohne Eigenschaften? Der denkreiche, geistige Ansatz ist essayistisch. Ulrich repräsentiert einen essayistischen Typ […]. Die Denkhaltung Ulrichs ist essayistisch. Der Stil ist in vielen Kapiteln nicht der Erzählung, das Fehlen des ›primitiv Epischen‹, die Abneigung des Autors gegen den ›Faden der Erzählung‹, gegen das Lineare, und seine Vorliebe für die ›unendlich verwobene Fläche‹ (– alles ist auf einmal da –), […] ist charakteristisch für den Roman. […] [D]er Versuchscharakter, der experimentierende Charakter des Romans, […] der Verzicht ›auf die Dimension der Zeit, des Ablaufs, der zeitlichen Entwicklung‹ sind dem Essayistischen verwandt.25

Dieser »denkreiche, geistige Ansatz« ist auch ein Merkmal der Comicversion, obwohl Magdalena Steiner sich weniger um philosophische Fragen kümmert. Sie fokussiert sich vielmehr auf gesellschaftliche Probleme. Dasselbe gilt für Ulrich: Er ist in der Comicversion genau so ›essayistisch‹ wie in Musils Roman, wenngleich er dabei weniger ›geistig‹ und stattdessen mehr engagiert erscheint. Seine Sprechweise ist einfacher und unmittelbarer. Ein Beispiel dafür ist bereits auf der ersten Comicseite zu sehen. Hier wählt Magdalena Steiner einige Sätze aus dem dreizehnten Kapitel und schreibt: »und als er nach viel Anstrengung den Gipfel

23 Massimo Salgaro: Die Geburt des Musilschen Essayismus aus den Formen des Essays, in: Marina Brambilla/Maurzio Pirro (Hg.): Wege des essayistischen Schreibens im deutschsprachigen Raum (1900-1920), Amsterdam/New York 2010, S. 261-280, hier S. 265. 24 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, in: ders.: Der Mann ohne Eigenschaften (= ders. Gesammelte Werke I-V, hg. von Adolf Frisé), Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1818. 25 Marie-Louise Roth: Essay und Essayismus bei Robert Musil, in: Benjamin Bennet u.a. (Hg.): Probleme der Moderne. Studien zur deutschen Literatur von Nietzsche bis Brecht, Tübingen 1983, S. 117-131, hier S. 122-123.

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der Karriereleiter erklommen hatte«26 und nicht wie im Roman: »als er sich nun nach wechselvollen Anstrengungen der Höhe seiner Bestrebung vielleicht hätte nahefühlen können«27. Interessant ist auch, dass viele Charaktere (ab und zu auch Ulrich) hier den Wiener Dialekt verwenden, als ob die Künstlerin die geschliffene und gehobene Aura von Der Mann ohne Eigenschaften auf ein fassbareres und alltäglicheres Niveau zurückbringen wolle. Der Roman ist aufgrund seiner vielen unterschiedlichen Kapitel keine ganzheitliche Erzählung. Auch Magdalena Steiners Comics sind eindeutig in Folgen aufgeteilt, die einem oder mehreren Kapiteln des Romans entsprechen. Jede Comicfolge entspricht einer Seite und kann unabhängig von den anderen gelesen werden. Tatsächlich rückt die eigentliche Handlung in Der Mann ohne Eigenschaften in vielen Kapiteln in den Hintergrund. Der Roman besteht dann meistens aus Überlegungen, Gedanken und Aphorismen, die aufeinander folgen, sich kreuzen, sich ergänzen oder sich widersprechen. Eine ›klassische‹ Einteilung der Seite in Panels hätte also für eine Comicadaption des Mann ohne Eigenschaften nicht erfolgreich sein können. Diese ›verwobene Fläche‹, die Magdalena Steiner für ihre Comics schafft, passt besser zum essayistischen Charakter des Mann ohne Eigenschaften.

D ie C haraktere Die Figur, die am häufigsten in der Comicversion des Mann ohne Eigenschaften vertreten ist, ist ›der Mann ohne Eigenschaften‹ selbst, Ulrich. Der Erzähler beschreibt seine äußere Erscheinung wie folgt: »Er war glatt rasiert, groß, durchgebildet und biegsam muskulös«, sein Gesicht »hell und undurchsichtig«28. In den ersten Kapiteln erfahren die Leser, dass Ulrich Leutnant in einem Reiterregiment war, dann als Ingenieur arbeitete und sich schließlich dem Studium der Mathematik an der Universität widmete. Dieser Beschreibung entsprechend stellt Magdalena Steiner Ulrich in der ersten Comicfolge vor (vgl. Abb. 1): Unten ist er Leutnant, er trägt eine Uniform und hinter ihm ist eine Frau, Ulrichs Liebhaberin zur Militärzeit. Dann ist er Ingenieur, elegant gekleidet. Schließlich ist er ein Mathematiker, über und über mit Zahlen bedeckt. In der Romanvorlage bezeichnet Ulrich diese drei Lebensabschnitte als »drei Versuche

26 Magdalena Steiner: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Augustin (197), 28. Februar bis 13. März 2007; im Folgenden zitiert mit der Sigle A und Nummer der Ausgabe. 27 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 44. 28 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 93.

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ein bedeutender Mann zu werden«29. Dann aber erschüttert ein unerwartetes Ereignis sein Leben: Er liest in einem Zeitungsartikel einen Bericht über ein Pferderennen. Der Journalist preist den Gewinner als ›geniales Rennpferd‹. Ulrich wird von diesem übertriebenen Ton sehr betroffen: er versteht nicht wie ein Pferd genial sein kann und so entscheidet er sich ›ein Jahr Urlaub vom Leben‹ zu nehmen. Magdalena Steiner stellt diese Szene wie eine Steigerung der Karriereleiter dar. Die drei Ulrichs klettern die Treppe hinauf und versuchen, den Gipfel der Karriereleiter zu erreichen. Dort Abb. 1: Steiner: Der Mann ohne Eigenerwartet sie bereits das ›geniale Rennschaften, in: Augustin 197 (2007). pferd‹, das ihnen den Weg versperrt. Wenn Ulrich versucht »ein bedeutender Mann zu werden«, so geschieht dies in intellektueller Hinsicht, während ihm die materiell-wirtschaftliche Dimension der Arbeit eher unbekannt ist. Aufgrund seines sozialen Status’ verfügt er über genügend finanzielle Mittel. Das Wort ›Karriere‹ gehört nicht zu Ulrichs Wortschatz. Der Mann ohne Eigenschaften ist in der Comicversion als konkreter Mensch des 21. Jahrhunderts dargestellt, der sich bemüht, eine Anstellung in der Arbeitswelt zu finden, und sich somit einem konkreten Problem der heutigen Epoche widmet. Seine Versuche stoßen aber mit dem ›genialen Rennpferd‹ zusammen, hier ein Symbol des Leistungswahns der gegenwärtigen Gesellschaft, in der man entweder eine gute Position erreicht oder aber gesellschaftlich ausgeschlossen wird. Eine weitere Szene im Comic verdeutlicht den Gegenwartsbezug: Unten links ist wieder der Mann ohne Eigenschaften zu sehen, diesmal aber angezogen wie ein Mann des 21. Jahrhunderts, mit modernem Hemd und Jacke. Ulrich wendet sich in dieser Szene direkt an die Leser. Er zeigt eine Gruppe von Leuten, vermutlich Teilnehmer und Zuschauer einer TVReality-Show, die ein Kind tragen und es als sogenanntes ›Superstarbaby‹ wählen. Magdalena Steiner will in dieser Comicfolge eine Verbindung zwischen der Welt des Mann ohne Eigenschaften und der Welt der Gegenwart schaffen. Was die zwei Ebenen verbindet, ist der ›Wahnsinn‹ der Gesellschaft: Im Roman war Ulrich über den eklatanten Ton der Presse erschüttert, im Comic ist er nun Zeuge von der Erfolgs- und Ruhmgier der Gesellschaft, die nicht zögert, ein Kind zu opfern. 29 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 35.

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Eine weitere Folge der Comicserie ist »Haus und Wohnung des Mann ohne Eigenschaften« (A 201) gewidmet. ›Zeig wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist.‹ Wenngleich nicht explizit, hält sich Musil an dieses bekannte Sprichwort, wenn er Ulrichs Wohnort beschreibt: »Das war [...] etwas wie ein kurzflügeliges Schlößchen, ein Jagd- oder Liebesschlößchen vergangener Zeiten«30. Das Schlöss-chen spiegelt im Roman Ulrichs romantischen und dekadenten Charakter wider, Norbert C. Wolf zufolge aber auch »Ulrichs ausgesprochen[.] kritische[.] Haltung gegenüber dem eigenen Vater«31. In Magdalena Steiners Version rückt das Schlöss-chen in den Hintergrund. Ulrich hat in der Comicversion noch kein Haus gefunden: »Unsere Hauptperson Ulrich steht vor der schwierigen Aufgabe, sich ein Haus gestalten zu müssen« (A 201). Wieder wurde Der Mann ohne Eigenschaften in dieser Comicfolge in die Gegenwart verlegt. Er ist elegant in Schwarz gekleidet und trägt eine moderne Brille. Als gegenwärtiger Mensch kann sich Ulrich in dieser Comicversion kein Schlösschen mehr leisten. Er ist nicht mehr der Sohn eines geadelten Rechtsanwaltes und Universitätsprofessors, sondern ein normaler Mensch, der Schwierigkeiten hat, einen geeigneten Wohnraum in einer Großstadt wie Wien zu finden. Haus und Wohnen sind heikle Themen, besonders für eine Zeitung wie Augustin, die sich für die Interessen von Obdachlosen einsetzt. Bei der Suche nach seinem Haus trifft Ulrich auf einen Obdachlosen. In diesem Moment fällt Ulrich ein Werbespruch ein. Er wendet sich zu dem Obdachlosen und fragt ihn, was er davon hält: »Er will ihn nicht ›verorschen‹, er will nur seine Einstellung in dieser Sache eruieren« (A 201). In der Sprechblasen lesen wir, was er ihn fragt: »Wohnst du noch oder lebst du schon?« (A 201) Die Frage war Teil einer Werbekampagne eines bekannten schwedischen Einrichtungskonzerns. Die Antwort des Obdachlo- Abb. 2: Steiner: Der Mann ohne Eigensen unterstreicht, wie sinnlos oder so- schaften, in: Augustin 201 (2007).

30 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 12. 31 Norbert C. Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts, Wien 2011, S. 354.

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gar beleidigend eine solche Werbung sein kann für einen Menschen, der gar keinen Wohnsitz hat. Die Antwort des Obdachlosen ist bitter: »Des Anzige wos on mein Lebm Schwedisch woa, woan amoi Gadinen!« (A 201) [Das Einzige, was in meinem Leben schwedisch war, waren einmal die Gardinen.] – damit verweist er auf einen Gefängnisaufenthalt. Der Protagonist von Der Mann ohne Eigenschaften wird von Magdalena Steiner gewählt, um ihn für die Sache der Gesellschaftskritik zu engagieren. Ulrich ist in dieser Comicversion kein Intellektueller mehr, der von oben herab betrachtet und der sich nur um ›philosophische‹ Probleme kümmert. Er mischt sich unter die Leute und setzt sich mit konkreten gesellschaftlichen Problemen auseinander. Er muss sich selbst bemühen, eine Arbeitsstelle oder ein Haus zu finden. Ähnlich wie im Roman lässt er sich aber nicht von der Masse lenken. Er bleibt kritisch und distanziert sich von der öffentlichen Meinung. Musils Ulrich gehört zur oberen gesellschaftlichen Schicht und trifft fast ausschließlich Leute ähnlichen Standes. In der Comicversion ist er anders: Er ist ein Mensch, der sich um die Probleme der Marginalisierten, wie beispielsweise Obdachlose, kümmert. Als kritischer Beobachter der sozialen Entwicklungen versteht sich Magdalena Steiners Ulrich mit den Außenseitern, mit Leuten also, die sich am Rande der Gesellschaft befinden.

S oliman

und

R achel

Eine sehr interessante und kontroverse Figur des Mann ohne Eigenschaften ist der sechzehnjährige Soliman. Der Name Soliman verweist auf eine historische Figur, den berühmten ›Hofmohr‹ Angelo Soliman. Der historische Soliman wurde 1721 geboren und etwa acht Jahre später geraubt und nach Nordafrika verschleppt. Zuerst wurde er nach Messina verkauft und bei einer adligen Familie in Dienst gestellt. Hier wurde er getauft und unterrichtet. Später wurde Soliman vom Fürsten Lobkowitz ›übernommen‹ und nach Wien gebracht. In Wien erlangte er aufgrund seiner exotischen Herkunft, aber auch dank seiner Zuverlässigkeit und seines kultivierten Verhaltens Bekanntheit. Er blieb lange Zeit im Dienst von prominenten Familien und heiratete nach vielen Jahren als Diener und wurde so ein freier Mann. 1781 wurde Soliman sogar von einer Freimauerloge aufgenommen.32 Obwohl er sich gut in die Wiener Gesellschaft integrierte, blieb das Verhältnis zu seinen Zeitgenossen ambivalent. Einerseits war er ein respektierter Bürger und Familienvater, Freund vieler prominenter Vertreter der österreichischen Gesellschaft. Seine soziale Anerkennung verhin32 Vgl. Philipp Blom: Von Mmadi Make zu Angelo Sollima – eine Spurensuche, in ders./ Wolfgang Kos (Hg.): Angelo Soliman. Ein Afrikaner in Wien, Wien 2011, S. 67-93.

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derte jedoch nicht, dass man seinen Körper nach seinem Tod im kaiserlichen Naturalienkabinett in einem primitiven afrikanischen Kostüm ausstellte: »Es gehörte ein besonderer Zynismus dazu, einen Mann, der aufgrund seiner Persönlichkeit und seiner Leistung Zugang zur gebildeten Elite gefunden hatte und so auch in den Augen seiner Zeitgenossen zu einem herausragenden Individuum geworden war, posthum auf ein primitives Rassenklischee zu reduzieren.«33 Soliman wurde im Lauf der Geschichte zu einer legendären Figur. Er wurde Protagonist vieler literarischer und künstlerischer Werke. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde die Figur Angelo Soliman erneut von Historikern und Soziologen erforscht. So widmete ihm beispielsweise das Wien Museum 2011/12 eine Retrospektive. Aufgrund seiner außergewöhnlichen Lebensgeschichte wurde »Soliman zu einer Kunstfigur, die [...] auch als Ikone der schwarzen österreichischen Diaspora gesehen werden kann«34. Als deren Vertreter wird Soliman auch von Magdalena Steiner dargestellt. Diaspora und Rechte der Migranten sind Themen, die der Zeitung Augustin besonders wichtig sind. In der vierten Folge der Comicversion von Der Mann ohne Eigenschaften (vgl. Abb. 3) geht es um die Gewalt in der Gesellschaft. Im siebten Kapitel des Romans wird Ulrich von drei Männern angegriffen und ausgeraubt. In der Comicversion wird die Szene des Angriffs dargestellt, wobei Magdalena Steiner aber eine entscheidende Änderung vornimmt. Es wird eine ähnliche Episode dargestellt: Drei Männer, dieses Mal aber Polizisten, schlagen einen Mann. Das Opfer ist aber nicht mehr Ulrich, sondern ein Afroamerikaner. Diese Szene ist vermutlich ein Verweis auf den Fall Marcus Omofuma. Marcus Omofuma war ein Asylwerber aus Nigeria. Im Jahre 1994 stellte er einen Abb. 3: Steiner: Der Mann ohne EigenAsylantrag in Österreich. Da sein Anschaften, in: Augustin 200 (2007). trag abgelehnt wurde, musste er zurück 33 Philipp Blom: Straussenfedern, Mauscheln und Glasperlen. Soliman und andere menschliche Präparate in Museen, zwischen Wissenschaft und Ideologie, in: ders./ Kos (Hg.): Angelo Soliman, S. 107-119, hier S. 107. 34 Sammy Khamis: Von ›Mohren‹ und Hemden, in FM4, 4. Oktober 2010, online verfügbar: http://fm4.orf.at/stories/1688697/ (letzter Zugriff am 2. Juli 2014).

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nach Nigeria. Während seiner Abschiebung aus Österreich 1999 starb er infolge von gewalttätigen Übergriffen dreier Polizisten, die ihn begleiten sollten. Der Name von Marcus Omofuma wird in einer weiteren Comicfolge direkt erwähnt: »Von Soliman zu Omofuma« (A 225) lautet Magdalena Steiners Titel. Damit will die Comicautorin die Geschichte von Soliman und Omofuma verbinden.35 Beide sind Opfer, um es mit Robert Musil zu sagen, »einer ungewissen, atmosphärischen Feindseligkeit, von dem in unserem Menschenalter die Luft voll ist«36. Soliman ist in Robert Musils Roman weiterhin eng mit zwei anderen Figuren verbunden: Dr. Paul Arnheim und Rachel. Arnheim hat den »kleinen Neger[.]37« von einer Tanzgruppe in Italien freigekauft und ihn bis zu seinem vierzehnten Geburtstag persönlich erzogen. Arnheim verkörpert den liberalen Geist und »befürwortet die Aufstiegschancen aus eigenen Kräften auf der sozialen Leiter«38. Vorgeblich sind für ihn Rasse oder Sozialstand eher unwichtig: »Viele erfolgreiche Männer [...] hätten als Stiefelputzer und Tellerwäscher angefangen, worin gerade ihre Kraft gelegen habe, denn das Wichtigste sei, dass man von allem Anfang an alles ganz tue«.39 Später aber widerspricht sich Arnheim, indem er auf Solimans Erziehung verzichtet und ihn nur noch als Diener sieht. In einem Gespräch mit Arnheim erfährt Soliman, er sei der Sohn eines afrikanischen Königs. Diese Szene Abb. 4: Steiner: Der Mann ohne Eigenwurde bei Magdalena Steiner in einer schaften, in: Augustin 233f. (2008) 35 Der Titel dieser Comicfolge ist auch der Titel eines Sammelbandes, das die Geschichte und Lage afrikanische Migranten in Österreich erforscht: Walter Sauer (Hg.): Von Soliman zu Omofuma. Afrikanische Diaspora in Österreich 17. bis 20. Jahrhundert, Innsbruck u.a., 2007. 36 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 26. 37 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 107. 38 Petra-Melitta Rosu: Klassen und Rassen in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, in: Journal of Humanistic and Social Studies 1 (2011), S. 15-21, hier S. 19. 39 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 221f.

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Comicfolge ebenfalls dargestellt (vgl. Abb. 4): Im Zentrum stehen Arnheim und Soliman. In zwei Bildunterschriften sind zwei Zitate aus Musils Romans enthalten: »Bitte,« fragte Soliman »mein Vater ist ein König?« Arnheim sah ihn verblüfft an. »Ich weiß nichts davon« antwortete er halb streng, halb belustigt... »ich glaube eher, er wird irgendeinen untergeordneten Beruf ausgeübt haben... ich fand dich in einer Truppe von Gauklern«.

Und weiter: »Was habe ich gekostet?« unterbrach Soliman forschend. »Aber mein Lieber, wie kann ich das heute noch wissen! Keinesfalls viel, nehme ich an. Gewiß nicht viel! Aber was kümmert dich alles das? Wir werden geboren, um uns unser Königreich selbst zu schaffen!« (A 233f.)

Mit diesen Zitaten unterstreicht Magdalena Steiner Solimans bitteres Schicksal: Zuerst wurde er als Kind aus seiner Familie und seinem Zuhause entführt, dann von Arnheim wie ein Sohn erzogen. Später aber wird Arnheim seiner überdrüssig und stellt ihn wie ein altes exotisches Spielzeug zur Seite. Eine weitere Figur des Romanwerks ist Rachel, Diotimas »kleines Stubenmädchen mit träumerischen Augen«; Ulrich schreibt ihr »[e]twas Arabischoder Algerisch-Jüdisches«40 zu. Eigentlich stammt Rachel aus Galizien, gelegen am Rande des österreichisch-ungarischen Reiches. Sie musste ihre »häßliche[.] Hütte in Galizien«41 verlassen, weil sie schwanger war. Ähnlich wie Soliman wird Rachel im Roman von den anderen Charakteren als Fremde wahrgenommen: »Wie Soliman stereotype Elemente des Schwarzen-Diskurses zugeschrieben werden, so Rachel ebensolche des jüdischen bzw. anti-jüdischen.«42 Beide Figuren kommen aus der Peripherie von ›Kakanien‹ und ihre Fremdheit spiegelt sich in ihren niederen gesellschaftlichen Positionen wider. Diotima nennt ihr Dienstmädchen nicht bei ihren jüdisch-alttestamentarischen Namen: »es versteht sich von selbst, daß Diotima, wenn sie rief, diesen Namen französisch aussprach«43. Anscheinend wählt Diotima einen harmlosen Kosenamen für ihre Zofe. Wie aber Alex Dunker gezeigt hat, ist der Namenswechsel ein Zeichen des Machtverhältnisses zwischen 40 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 95. 41 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 163. 42 Alex Dunker: Soliman und Rachel/»Rachelle«. Die Konstruktion von Fremdheit und Identität in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, in: Christian Norbert Wolf/ Rosemarie Zeller (Hg.): Musil-Forum, Bd. 31 (2009/2010), Berlin 2011, S. 52-63, hier S. 57. 43 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 97.

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Diotima und ihrer Dienerin. Die Kontrolle und die Unterwerfung, die Diotima auf ihre Zofe ausübt, dringen bis ins Private vor. Indem Diotima sie mit einem anderen Namen ruft, negiert sie Rachels Herkunft und schafft ihr eine neue Identität. Soliman und Rachel lernen sich in Diotimas Haus kennen, und Soliman verliebt sich in Rachel. Anfänglich lehnt sie ihn ab, später aber lässt sie sich auf ihn ein und gibt seinem Werben nach. Magdalena Steiner illustriert diese Liebesgeschichte mit leichter Ironie. In der bereits erwähnten Comicfolge (Abbildung 4) ist eine Frau zu sehen, eine Wienerin, die Süßigkeiten isst und im Dialekt spricht: »Oiso, de Negaküsse und da Moa in Hemad schmekn ma scho – aber so def mas jo, glaub i goa, nimmr nennan!« (A 233f.) [Also, die Negerküsse und der Mohr im Hemd schmecken mir schon – aber so darf man sie ja, glaube ich, gar nicht mehr nennen.] Die Autorin spielt hier mit der Doppelbedeutung von ›Negerküsse‹: einerseits kann das Wort wörtlich verstanden werden, denn tatsächlich ist das Gesicht der Frauenfigur in den Comics von Küssen bedeckt. Gleichzeitig sind ›Negerküsse‹ und ›Mohr im Hemd‹ zwei Sorten von Süßigkeiten, zwei österreichischen Spezialitäten, die die Frau in dem Comic gerade isst. In der österreichischen Öffentlichkeit wurde diskutiert, ob die Benennungen dieser Süßigkeiten rassistisch sei und ob man sie nicht umbenennen sollte.44 Das Thema der Beziehung zwischen Soliman und Rachel wird in einer anderen Folge behandelt (vgl. Abb. 5). Hier stehen die beiden Figuren im Zentrum der Szene. Mit kurzen Zitaten aus dem Roman erzählt Magdalena Steiner die quälende Liebesbeziehung zwischen den beiden. Die Autorin stellt die beiden Charaktere auf dieselbe Ebene. Beide können sich kaum bewegen, ihre Kleider sind wie an eine Kette gebunden. Beide sind keine freien Menschen: Soliman ist im Dienst von Arnheim, Rachel im Dienst von Diotima. Auch die Metapher der Kette stammt aus Musils Roman: Soliman und Rachel wurden »böse aufeinander, weil jeder den anderen die Pein fühlen ließ, an einer zu kurzen Kette zu hängen«45. Soliman und Rachel sind also zwei Menschen, für die sich die Zeitung Augustin engagieren würde. In der Comicversion sind sie Opfer der Gesellschaft: Beide wurden mit Gewalt von zu Hause entführt, bzw. weggeschickt. Beide landen in Wien, wo sie sich im Dienst hochgestellter Personen befinden und ihre Freiheit endgültig verlieren. Wie bereits erwähnt, ließ sich Magdalena Steiner graphisch von Erika Giovanna Kliens Bildern inspirieren. Abbildung 3 ist ein Beispiel der ›kinetistischen‹ Inszenierung der Bewegung. Wie Erika Giovanna Klien verwendet Magdalena Steiner hier die Technik der Wiederholung des Profils der Figuren, wodurch die 44 Vgl. Ania Haar: Wie rassistisch der Begriff ›Mohr‹ wirklich ist, in: Die Presse, 20. März 2012. 45 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 601.

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Darstellung an Dynamik gewinnt. Die Szene stellt eine Schlägerei dar – so konnte die Künstlerin die Schnelligkeit und Brutalität der Aggression visualisieren. Abgesehen von dieser Episode wird in anderen Abbildungen deutlich, dass sich Magdalena Steiner vom ›kinetistischen‹ Verfahren distanziert. Selten sind in ihren Comics die typischen ›kinetistischen‹ Bewegungen der Figuren zu sehen; ihre Figuren sind meist ›still‹ und zeigen keine Bewegung. Von ihrer Vorgängerin übernimmt Steiner jedoch die Einteilung der Seite sowie den Stil der Zeichnungen: Ihre Figuren sind in einem ›infantilistischen‹ Stil gezeichnet. Der Strich ist meist sehr dick und einfach, die Färbung homogen, ohne Nuancen. Stark kontrastiert dieser ›infantilistische‹ Stil der Comics mit dem gehobenen philosophischen Inhalt des Romans, fast als wollte die Comicautorin formell den bürgerlich-intellektuellen Ansatz des Musil’schen Werkes persiflieren.

Abb. 5: Steiner: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Augustin 225 (2008)

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D as

alte , neue

K akanien

Magdalena Steiner übernimmt in ihrer Version des Mann ohne Eigenschaften manche Aspekte des Originals und vermittelt diese unverändert. Die Form und der Rhythmus der Erzählung finden in den Comics eine entsprechende Wiedergabe. Die Ironie, die im Roman eine zentrale Rolle spielt, kommt auch in der Comicversion deutlich zum Vorschein. Andere Aspekte des Romanwerks werden in dem Comic jedoch sehr frei behandelt. Im Ganzen ist aber Magdalena Steiners Comicversion des Mann ohne Eigenschaften keine bloße Übersetzung des Originals in ein anderes Medium. Findet z.B. der scharfe, satirische und sozialkritische Ton des Comics im Roman Bestätigung oder ist er vielmehr eine Ergänzung der Künstlerin? Das Thema der Gesellschaftskritik und das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft ist ein Aspekt von Der Mann ohne Eigenschaften, der in der Forschung umstritten bleibt. Musil selbst verdeutlichte seinen Standpunkt über die Natur seines Romans dahingehend nicht und äußerte sich nur vage: »Es ist keine Satire, sondern eine positive Konstruktion. Es ist kein Bekenntnis, sondern eine Satire.«46 Magdalena Steiner und die Augustin-Redaktion entscheiden sich in ihrer Adaption klar für die Satire. Sie sehen eine gewisse Affinität zwischen Musils gesellschaftskritischer Ausrichtung und dem Engagement der Zeitung. In ihrer Comicadaption arbeitet Magdalena Steiner die gesellschaftskritischen Aspekte des Romans heraus. Der Ausrichtung von Augustin entsprechend lässt sie solche Figuren auftreten, die im Roman am Rande der Erzählung bleiben. Die unteren Schichten, die Marginalisierten bekommen in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften wenig Aufmerksamkeit. Es gibt einige Ausnahmen, wie Soliman, Moosbrugger oder die Frauenfiguren, aber sie werden eher als Fallstudien für eine psychologische Untersuchung, denn als soziale Wesen betrachtet. Magdalena Steiner wechselt die Perspektive des Romans. In ihrer Comicversion werden die Marginalisierten ins Zentrum gestellt. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich auf jene Leute, die sich am Rand der Gesellschaft befinden. Die Comicautorin stellt den Fokus des Romanwerks um: vom Zentrum in die Peripherie, von der höheren gesellschaftlichen Schicht zu den Marginalisierten. Die Zusammenarbeit zwischen der Zeitung Augustin und Magdalena Steiner ist nicht nur ein Versuch, manche weniger evidente Aspekte von Der Mann ohne Eigenschaften wieder ans Licht zu bringen. Steiner knüpft an aktuelle politische und soziale Diskurse an. Mit zahlreichen Ergänzungen wie der Einführung von neuen Charakteren, Zeitsprüngen und aktuellen Bezügen verbindet die Autorin ständig die von Musil erfundene Welt mit der Gegenwart. Auch diese Idee ist 46 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1939.

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bereits bei Musil angelegt: Sein Roman spielt in einer Zeitspanne, die in einem »Augusttag des Jahres 1913«47 beginnt und mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 endet. Obwohl Musil seinen Roman in diesem Zeitraum spielen lässt, wollte er doch keinen historischen Roman schreiben: »Es ist immer ein aus der Vergangenheit entwickelter Gegenwartsroman gewesen«48, hat der Autor selbst betont. Musil beschreibt die Gesellschaft am Vorabend des Ersten Weltkriegs, bezieht sich aber auch auf die Gesellschaft der 1920er Jahre. Magdalena Steiner verwendet eine ähnliche Strategie. Sie übernimmt die Inhalte des Romans, verwendet diese jedoch, um damit die gegenwärtige Konsumgesellschaft zu kritisieren. Ihre Auseinandersetzung mit Musils Roman könnte mit dem Begriff der ›Dialogizität‹ im Sinne Manfred Pfisters beschrieben werden. Diese ergibt sich, wenn »vorgegebene Texte oder Diskurssysteme [...] in semantischer und ideologischer Spannung zueinander stehen«.49 Als Beispiele dialogischer Intertextualität führt Pfister etwa an: »Eine Textverarbeitung gegen den Strich des Originals, ein Anzitieren eines Textes, das diesen ironisch relativiert und seine ideologischen Voraussetzungen unterminiert, ein distanzierendes Ausspielen der Differenz zwischen dem alten Kontext des fremden Worts und seiner neuen Kontextualisierung.«50 Magdalena Steiner setzt sich in einen produktiven Dialog mit dem Original und radikalisiert Musils kritische Überlegungen zur zeitgenössischen Gesellschaft. Der Autor des Mann ohne Eigenschaften hat die k.u.k.-Monarchie satirisch als ›Kakanien‹ bezeichnet und fasste unter diesem Namen all die negativen Aspekte seines Heimatlandes. Magdalena Steiner und der Augustin-Redaktion zufolge bleiben die Probleme, die Musil in der Gesellschaft der 1920er Jahre sieht, im neuen Millennium ungelöst bzw. spitzen sich zu. Der Titel des Augustin-Redakteurs Robert Sommer zu dem in die Comicadaption einführenden Artikel lautet: »Wien ist Kakanien 2007«. Wien ist immer noch Kakanien, weil sich nichts verändert hat. Diskriminierungen und Machtverhältnisse bestimmen die heutige Gesellschaft genauso, oder vielleicht mehr als vor hundert Jahren. Der Titel des Artikels endet mit einer Frage: »Wer ist Ulrich?« Ulrich findet sich in Robert Musils Roman, Norbert Christian Wolf zufolge, »jenseits der stereotypen sozialen Rollenschemata angesiedelt, an einem sozial gleichsam exterritorialen Ort«51. Ulrich gehört also nicht zu Kakanien, obwohl er dort lebt. 47 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 9. 48 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1941. 49 Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität, in ders./Ulrich Broich (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985, S. 1-30, hier S. 29. 50 Pfister: Konzepte der Intertextualität, S. 29. 51 Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, S. 348.

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Mit seiner kritischen Haltung distanziert er sich davon. In seinem Artikel schreibt Augustin-Redakteur Robert Sommer »Ulrich würde (mit unseren Stellungsnahmen) – wenn auch völlig unaufgeregt und ohne die Angriffslust, die zum Journalismus gehört – zustimmen.«52 Natürlich bedarf auch die Figur Ulrich einer Aktualisierung: In dieser Version ist Ulrich kein Intellektueller mehr, der im Nichtstun verhaftet ist und sich nur in seinen philosophischen Reflexionen ergeht. Er ist ein Mensch des 21. Jahrhunderts, der sich mit alltäglichen Problemen wie Arbeit und Wohnraum herumschlagen muss. Was den alten und den neuen Ulrich verbindet, ist die Kritikfähigkeit, sein Versuch, nicht mit dem Strom der Masse mitzugehen. In der Comicversion ist Ulrich ein moderner Held, der den Lesern einen möglichen Ausweg aus Kakanien zeigt.

52 Sommer: Wien ist Kakanien 2007.

V ermittlungen

»Am Ende war das Wort« – und am Anfang das Vertrauen in Karl Kraus. Zu David Bollers und Reinhard Pietschs Vermittlung von Die letzten Tage der Menschheit J ohannes W assmer

David Boller und Reinhard Pietsch vereinen in ihrem Comic Die letzten Tage der Menschheit eine aktuelle Strömung – den Literaturcomic – mit einem Phänomen des laufenden Jahres: 2014 jährt sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal und anlässlich dessen entstehen zahlreiche Publikationen auch in Comicform zum Ersten Weltkrieg. Insbesondere der Verlag Splitter veröffentlicht in 2014 mit der Übersetzung von Kris und Maëls Notre Mère La Guerre sowie mit Peter Eickmeyers Umsetzung von Im Westen nichts Neues umfangreiche Comics zum Ersten Weltkrieg. Boller und Pietsch haben sich vor dem Hintergrund des Jubiläums mit Karl Kraus’ gleichnamigem Drama Die letzten Tage der Menschheit auseinandergesetzt und einen verglichen mit anderen Comics zum Großen Krieg ganz eigentümlichen Comic geschaffen. Im Verlauf etwa eines Jahres sind in einem – mehr oder minder eingehaltenen – wöchentlichen Rhythmus im Internet Seiten und Szenen veröffentlicht worden,1 so dass seit Juni 2014 alle fünf Akte des Dramas als Webcomic vorliegen und der Comic daraufhin in einer Printfassung erscheinen konnte.2 Dabei reduzieren Pietsch und Boller die anfänglich eng an der Szenenfolge der Vorlage orientierte Umsetzung zunehmend: Nehmen sie in den ersten knapp drei Akten vergleichsweise wenig Streichungen ganzer Szenen vor, so werden in den letzten beiden Akten – den umfangreichsten im Drama von 1 Vgl. http://www.die-letzten-tage-der-menschheit.de/20/ (letzter Zugriff am 16. September 2014). 2 Reinhard Pietsch/David Boller: Die letzten Tage der Menschheit. Eine Graphic Novel nach Karl Kraus, München 2014; im Folgenden zitiert mit der Sigle LTM und Seitenzahl.

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Kraus – nurmehr zwölf Szenen umgesetzt, vermutlich auch, um das Vorhaben nicht zu einem Mammutprojekt ausarten zu lassen.

I. Folgt man den drei von Monika Schmitz-Emans klassifizierten »Grundtypen der Auseinandersetzung von Comic-Zeichnern mit literarischen Vorlagen«, so lässt sich der Comic weniger als »Verwandlung« oder »Vergleich«, sondern vielmehr als »Vermittlung« des Prätextes verstehen. Im Vordergrund vermittelnder Literaturcomics steht die Information »über Inhalt, Thematik, Entstehungsbedingungen und Wirkungen […] durch Nacherzählung der Fabel […] sowie durch weitere, oft paratextuell arrangierte Auskünfte.«3 Pietsch und Boller beabsichtigen erklärterweise den aufgrund der Länge und der zahlreichen historischen Anspielungen anspruchsvollen Text sprachlich wie inhaltlich verständlich umsetzen: »Der Wiener Jargon dieser Zeit ist für heutige Leser nicht immer verständlich. Wir haben uns bemüht, so viel als möglich von diesem Idiom zu erhalten, uns aber die Freiheit genommen, da und dort Schreib- und Ausdrucksweisen den heutigen Standards anzupassen, um den Text leichter lesbar zu machen.«4 Eine vermittelnde Umsetzung des Prätextes erscheint folgerichtig, da das Drama von Karl Kraus zumeist einer konsistenten Handlung entbehrt. Stattdessen orchestriert Kraus verschiedenste Kriegsdiskurse an unterschiedlichen Orten mit ungezählten dramatis personae – oftmals in oder um das zeitgenössische Wien situiert – zu einem Konglomerat von über zweihundert Szenen, deren Figurenreden Kraus zu etwa 60% aus zeitgenössischen Zitaten zusammenstellt.5 Auf diese Weise entsteht ein Tableau der Kriegsgesellschaft, mittels dessen die Rolle des Militärs, der Presse und des Adels sowie der zunehmend radikale Nationalismus, aber auch und insbesondere die Rolle der Sprache sowie der Sprachmissbrauch in den Kriegsjahren kritisch reflektiert werden. Dieser Komplexität des Prätextes entsprechend sei, so Pietsch und Boller, der »Leitgedanke« der vorliegenden detailreichen Transformation, »weniger der des

3 Monika Schmitz-Emans: Literatur-Comics. Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur, Berlin/Boston 2012, S. 299; Hervorhebung im Original. 4 www.die-letzten-tage-der-menschheit.de/5/ (letzter Zugriff am 16. September 2014). 5 Vgl. Theo Buck: Vorschein der Apokalypse: das Thema des Ersten Weltkriegs bei Georg Trakl, Robert Musil und Karl Kraus, Tübingen 2001, S. 55. Zahlreiche Zitate und intertextuelle Bezüge schlüsselt Agnes Pistorius auf in: dies.: »Kolossal montiert«. Ein Lexikon zu Karl Kraus Die letzten Tage der Menschheit, Wien 2011.

Zur Vermittlung in Bollers und Pietschs Die letzten Tage der Menschheit | 231

Historikers, als der des zeitgenössischen Lesers«6. So vielversprechend sich das Vorhaben liest, Die letzten Tage der Menschheit als Comic umzusetzen, so sehr bleibt die graphische Umsetzung vergleichsweise zurückhaltend. Der Comic ist vollständig schwarz-weiß gezeichnet, der Stil klassisch-konventionell gehalten und die Bilder, insbesondere die Gesichter der Figuren, sind meist nur mit wenigen Details versehen. In Scott McClouds Pyramide aus den Polen ›Reality‹, ›Picture Plane‹ und ›Meaning‹ sind die meisten typenhaft und entindividualisiert gezeichneten Figuren relativ weit im Abb. 1: Pietsch/Boller: LTM, S. 7. Bereich des ›Meaning‹ zu platzieren.7 Auch das Blatt ist konventionell gestaltet und das panel grid von Ausnahmen abgesehen ein uniform grid. Zumeist entspricht das grid einer recht klassischen Struktur von drei mal zwei Panels. Nur selten – etwa wenn ein Akt eröffnet wird – wird das Blatt rhetorischer oder dekorativer umgesetzt (vgl. LTM 7), allerdings auch jeweils ohne die Proportionen der Seitengestaltung aufzubrechen. Durch die kaum variierenden Bildgrößen wird in sehr regelmäßigem Rhythmus und ohne einen größeren durch die grid-Gestaltung erzeugten Spannungsbogen erzählt.8 Generell ist der Comic ruhig gestaltet. An vielen Stellen wird der Lesefluss sowohl durch den komplexen Inhalt des Prätexts als auch durch die zeichnerische Umsetzung verlangsamt. So resultieren aus der Adaption des Dramas mit seinen gesprächslastigen Szenen teils sehr textlastige Seiten (vgl. LTM 8). Auch wenn es Pietsch/Boller häufig gelingt, den Text radikal zurückzunehmen (vgl. LTM 13), führt das nicht zu einer zeichnerischen Dynamisierung. Während Speedlines im gesamten Comic nur spärlich angedeutet werden, finden Folienzeichen und Soundwörter regelmäßige, wenn auch im Vergleich zu anderen Comics lediglich vorsichtige Verwendung (vgl. LTM 85). Zudem erzeugt die Perspektive der Bilder nur wenig Dynamik, da die Figuren häufig aus einer ungefähr kopfhohen Perspektive in einer Nahansicht oft sogar ausschließlich des Kopfes und nur selten 6 www.die-letzten-tage-der-menschheit.de/5/ (letzter Zugriff am 16. September 2014). 7 Vgl. Scott McCloud: Understanding Comics. The invisible Art, New York 1993, S. 52. 8 Vgl. Jakob F. Dittmar: Comic-Analyse, Konstanz 2008, S. 118.

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aus anderen Perspektiven gezeichnet werden (vgl. LTM 27). Nebenbei bemerkt hat das zur Folge, dass der implizite Erzähler – der durch Perspektivenwahl und Zeichenstil die histoire darstellt – nicht deutlich in Erscheinung tritt.9 Auch die aus den Rinnsteinen resultierenden Leerstellen10 werden kaum produktiv genutzt. Die Panel-Übergänge entsprechen zumeist ›subject-to-subject‹ und nur selten ›action-to-action‹-Mustern (vgl. LTM 34, 56). Übergänge der Kategorien ›scene-to-scene‹, ›aspect-to-aspect‹ und ›non sequitur‹ sind innerhalb der Szenen kaum bis gar nicht vorhanden.11 Oft folgen die Panels in der Dialoggestaltung dem klassischen Prinzip vom establishing shot, auf den dann Schuss und Gegenschuss folgen. Lediglich die Übergänge zwischen den Szenen des Dramas folgen anderen Prinzipien: Im Prätext werden die einzelnen Szenen zumeist ohne direkten inneren Zusammenhang gereiht, ihre Übergänge sind durch die Regieanweisung ›Verwandlung‹ markiert. Boller behält diese abrupten Übergänge bei, die – bei der Umsetzung eines Dramas fast notwendigerweise – dem ›non sequitur‹-Prinzip folgen (vgl. LTM 27f.). Die potentiell entstehende Leerstelle füllen Pietsch/Boller, indem im ersten Panel der neuen Szene der Szenenwechsel durch eine Caption markiert wird. Der Text der Caption verbalisiert häufig lediglich den bereits sichtbaren Ort der neuen Szene: Wird im Bild eine Brücke im Vorder- und ein Bergpanorama im Hintergrund gezeigt, findet sich in der Caption die Ortsangabe: »Südtirol vor einer Brücke…« (LTM 26). Oder das Bild zweier flanierender Patrizier vor großstädtisch-herrschaftlichen Anwesen wird in der Caption über ein Zitat aus dem Nebentext des Dramas exakt verortet und die beiden Flaneure werden benannt: »Wien, am Ballhausplatz. Graf Leopold Franz Rudolf und Baron Alois Josef im Gespräch«. Zudem wird dem Leser in einer weiteren Caption der historische Kontext der wörtlichen Rede »Das Ultimatum war prima! Endlich!« erläutert: »Österreich stellte Serbien am 23.7.1914 ein auf 48 Stunden begrenztes Ultimatum«. (LTM 30) Derart minimieren Pietsch/Boller mögliche Leerstellen der unvermittelten Szenen-›Verwandlungen‹, erläutern historische Anspielungen und simplifizieren die Lektüre. Dass die ›Vermittlung‹ gerade für den discours d.h. für die Gestaltung des Comics eine zentrale Rolle einnimmt, erweist sich an Details der Umsetzung. In einigen Szenen des Dramas veranschaulichen Figurentypen – der Abonnent und der 9 Vgl. Dittmar: Comic-Analyse, Konstanz 2008, S. 109. 10 Vgl. dazu das dritte Kapitel »Blood in the Gutter« in McCloud: Unterstanding Comics, S. 60-93; Monika Schmitz-Emans konstatiert, der in Comics nicht bedruckte Rinnstein sei anders »als bei gedruckten Texten […] kein semantischer Leerraum« (SchmitzEmans: Literatur-Comics, S. 77). 11 Zu den Übergängen zwischen Panels vgl. McCloud: Understanding Comics, S. 70-74.

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Patriot sowie der Optimist und der Nörgler – in ihren Gesprächen exemplarisch den ›Zeitgeist‹. Im Gegensatz zu vielen anderen Figuren des Dramas werden diese Figuren nicht über ihren Beruf oder im Fall historischer Persönlichkeiten über ihre Eigennamen, sondern über typisierende Namen bezeichnet, die den weltanschaulichen Charakter der Figuren spiegeln. Die Gespräche zwischen dem Abonnenten und dem Patrioten (vgl. LTM 80), in denen die gängigen weltanschaulichen Positionen der Kriegsjahre dargestellt werden, bzw. dem Optimisten und dem Nörgler, in denen der ›Zeitgeist‹ kommentiert wird, führen Pietsch/Boller nicht durch Captions ein; stattdessen beginnen die Gespräche nach erstmaliger Erwähnung (»Der Nörgler und der Optimist im Gespräch…«, LTM 27) unvermittelt. Die gerade hier fehlende Einführung mittels einer Caption verdeutlicht implizit, dass diese Gespräche nicht genau zu verorten sind und lediglich allgemein die Dialoge der Zeit zum Krieg darstellen bzw. auf einer Meta-Ebene kommentieren. Damit verbinden die Autoren Text und Bild, Form und Inhalt, denn auch graphisch ist die besondere Stellung dieser Dialoge umgesetzt. Während in anderen Gesprächen die Szenerie zumindest skizzenhaft im Panel angedeutet wird, verlieren die einzelnen Panels der Gespräche zwischen Optimist und Nörgler ihren Hintergrund zugunsten einer vollständig schwarzen oder weißen Fläche: Jede räumliche Verortung der Szene wird verweigert. Dennoch: Selbst wenn diese Gesprächsszenen dem Leser Verständnis von ›non sequitur‹-Sequenzen abverlangen, bleibt der Comic enorm selbstexplikativ. Werden Personen der Zeitgeschichte namentlich genannt, so wird der implizite Leser ohne entsprechendes historisches Vorwissen informiert, indem die Person mittels eines Portraitpanels und einer Caption vorgestellt wird (vgl. LTM 31). Somit scheint der Comic allgemein und die Bildgestaltung im Besonderen nicht nur stilistisch, sondern auch narrativ die im Comic nacherzählte Dramenhandlung lediglich zu illustrieren und zu vermitteln anstatt sie zu visualisieren und neu zu fassen.12 Diese Einschätzung des Comics als vermittelnder Literaturcomic lässt sich durch Verweise auf den Paratext stützen: Die einzelnen Akte werden mit ausgestellten und nicht in den Comic integrierten Zitaten aus der Dramenfassung von Die letzten Tagen der Menschheit eröffnet (vgl. LTM 6, 18, 78, 104, 136, 164), die jeweils mit exakter bibliographischer Angabe versehen sind. Im Anhang werden nicht nur die Quellen genannt – darunter sowohl die Erst- und Bühnenfassung des Dramas sowie Die Fackel und das von Agnes Pistorius zusammengestellte Lexikon zum Drama kolossal montiert – als auch eine Konkordanz der im Comic umgesetzten Szenen aufgeführt. Ein ausführliches Glossar sowie Worterklärungen ermöglichen dem Leser das Verständnis zeitgenössischer Bezüge des Dramas, die im Comic nicht aufgelöst werden, sondern integriert und im Anhang erläutert. 12 Zum Verhältnis von Illustration und Visualisierung vgl. Dittmar: Comic-Analyse, S. 46f.

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Fasst man die Gestaltung des Comics pointiert zusammen, so ist ein Vor-Urteil leicht gefällt: Der Comic Die letzten Tage der Menschheit bleibt konventionell, undynamisch und didaktisierend. Das gilt auch, wenn man die Schwierigkeit berücksichtigt, ein derart komplexes Lese-Drama – das schon Kraus nicht für die Bühne verfasst hat13 – in einem Comic umzusetzen.

II. Dieses Urteil lässt sich exemplarisch anhand einer anderen aktuellen Comicpublikationen zum Ersten Weltkrieg schärfen:14 Elender Krieg. 1914-1919 in der Edition Moderne von Jacques Tardi und Jean-Pierre Verney15. Für Tardi/Verney ergeben sich in Elender Krieg bereits aufgrund der Tatsache, dass sie keinen literarischen Text neu inszenieren, ganz andere Möglichkeiten. Sie entscheiden sich jedoch – und das macht den Comic durchaus vergleichbar – für eine ähnliche Makrostruktur, indem sie jedem Kriegsjahr ein Akt bzw. ein Kapitel zuordnen, aber wählen völlig andere Mittel der Umsetzung. Die Unterschiede in der Erzählung des Weltkriegs zwischen Elender Krieg und Pietsch/Bollers Fassung des Kraus-Dramas sind eklatant und betreffen maßgeblich bereits die histoire. Während Pietsch/Boller mit Kraus den Kriegsdiskurs der zeitgenössischen Öffentlichkeit darstellen und gegen ihn polemisieren, suchen die beiden Autoren von Elender Krieg die Front auf und situieren Handlungsabschnitte etwa in Verdun oder an der Somme.16 Dabei werden gängige Topoi aus den Westfronterzählungen aufgegriffen, wie sie im französischsprachigen Raum etwa von Henri Barbusse17 bekannt sind: die Schützengräben, die Kolonialtruppen, das Altern an der Front, die Etappe, die Giftgasangriffe, der Minenkrieg, die Selbst- und Kriegsverstümmelungen etc. Insbesondere die Zerstörung, Vernichtung und Verstümmelung des menschlichen Körpers wird immer wieder erzählt und eindrücklich visualisiert.18 13 Vgl. Eckart Früh: Nachwort, in: Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Bühnenfassung des Autors, hg. von Eckart Früh, Frankfurt a.M., S. 225-268. 14 Aus zeitlichen Gründen konnte Daniel Jokeschs im Oktober 2014 im Holzbaum Verlag erschienene gleichnamige Comicversion von Die letzten Tage der Menschheit (Daniel Jokesch: Die letzten Tage der Menschheit, Wien 2014), in der Jokesch das Drama in kurze Comicstrips zerlegt, nicht mehr für eine vergleichende Analyse herangezogen werden. 15 [Jacques] Tardi/[Jean-Pierre] Verney: Elender Krieg. 1914-1919, Zürich 2013. 16 Vgl. Tardi/Verney: Elender Krieg, S. 39-47. 17 Vgl. Henri Barbusse: Le Feu, Paris 1916. 18 Vgl. Tardi/Verney: Elender Krieg, S. 20, 77f.

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Für den vorliegenden Zusammenhang interessant sind jedoch vielmehr die Fragen der Umsetzung. Während Jean-Pierre Verney zahlreiche comicspezifische Möglichkeiten verwendet, um über die Zeichnungen die Erzählung zu transportieren, nutzt Jacques Tardi narratologische Kniffe um sowohl dem Kriegserlebnis des Einzelnen als auch dem Erleben der Frontsoldaten insgesamt erzählerischen Raum zu geben. Tardi lässt einen autodiegetischen Erzähler die Kriegsjahre erinnern, der häufig den Kollektivplural ›wir‹ verwendet und somit als Stellvertreter der Frontsoldaten spricht. Im letzten Kapitel – dem Nachkriegsjahr 1919 – löst Tardi den autodiegetischen Erzähler zugunsten einer konsequent wechselnden Erzählperspektive auf, die verschiedene Schicksale als kleine Geschichten in jeweils einem Panel erzählt und die das ›Wir‹ zu einer vielstimmigen Erinnerung an den Großen Krieg erweitert. Verney visualisiert den Text und nutzt dabei die verschiedenen Möglichkeiten des Comics. Die Panelstruktur aus jeweils drei Panels pro Seite bleibt zwar größtenteils statisch, wird jedoch wiederholt produktiv genutzt, wenn beispielsweise Front-Strukturen zwischen den französischen und den deutschen Linien mit je drei Panels links und drei Panels rechts auf einer Doppelseite angedeutet werden.19 Auch die Farbgestaltung wird funktionalisiert, indem der anfängliche Farbenreichtum des Comics zugunsten eines mit den erzählten Kriegsjahren zunehmend blau-gräulichen Farbtons aufgelöst wird und somit die immer eklatantere Trostlosigkeit an der Front bildlich erfasst wird. Beständig ergänzen sich Text und Bild zu neuen Aussagezusammenhängen. So wird über das Bild eines zerstörten und mit Leichen übersäten Schützengrabens mit Bezug auf den Krieg von 1870/71 im Text an »vierzig Jahre wechselseitige[n] Hass«20 erinnert. Auch das immer gleiche Sterben wird in Text und Bild wiederholt erzählt.21 Zuletzt transportieren die Autoren zusätzliche Informationen über ein ausführliches Nachwort, das ebenfalls Text und Bild verbindet und das in die Geschichte des Ersten Weltkriegs einführt. Vor allem jedoch stellen Tardi/Verney unkommentiert an den Beginn jedes ihrer fünf Kapitel Zitate von zeitgenössischen Politikern, die jeweils den baldigen Sieg versprechen. Die im Zentrum von Die letzten Tage der Menschheit stehende Kritik am öffentlichen Diskurs wird hier en passant in den Comic integriert.22 In jedem Fall lässt sich als Befund konstatieren: Insgesamt 19 Tardi/Verney: Elender Krieg, S. 10f. 20 Tardi/Verney: Elender Krieg, S. 21. 21 Tardi/Verney: Elender Krieg, S. 30f. 22 Im Übrigen erinnert dieses Vorgehen stark an die Glosse »Ich stelle die Zeit aus« des von Karl Kraus’ Polemik inspirierten Franz Pfemfert, der zwischen April 1915 und November 1918 in seiner Zeitschrift Die Aktion unkommentiert Zeitungsartikel wiederabdruckte und durch den neuen Kontext der Veröffentlichung gegen sie polemisierte.

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nutzen Tardi und Verney weitaus intensiver und variantenreicher als Boller und Pietsch die comicspezifischen Möglichkeiten, den Ersten Weltkrieg in Text und Bild zu erzählen.

III. Dennoch weist die graphische Gestaltung von Die letzten Tage der Menschheit – so meine These – über die rein didaktische Vereinfachung der Verständlichkeit des Prätextes hinaus und braucht den Vergleich mit anderen Comics zum Ersten Weltkrieg nicht scheuen. In diesem Kontext lohnt ein Blick auf die Person des Zeichners. David Boller ist Zürcher, Jahrgang 1968. Er hat seit Anfang der 1990er Jahre in den USA gelebt, in New Jersey eine Ausbildung zum Comiczeichner absolviert und im Anschluss als Zeichner von Superheldencomics u.a. für DC und Marvel gearbeitet. Seit 2008 lebt Boller wieder in der Schweiz und hat das deutschsprachige Webcomicmagazin Zampano gegründet.23 Man muss davon ausgehen, dass Boller als profilierter Zeichner mit jahrzehntelanger Erfahrung die simplifizierende Darstellung in Die letzten Tage der Menschheit bewusst und vor einem weiter greifenden konzeptuellen Hintergrund gewählt hat. Seine erste Literaturadaption tell, von der 2010 der erste und 2013 der zweite Band erschienen sind,24 verdeutlicht das. Boller fügt der illustren Gruppe der Comichelden nun seinen eigenen bei und situiert die Rückkehr des Schweizer Nationalhelden Tell in einer düsteren Endzeitzukunft; adaptiert somit keinen Prätext, sondern greift den Wilhelm TellStoff auf und ›verwandelt‹ ihn. Im Zürich des Jahres 2032 klafft die Kluft zwischen Arm und Reich in extremster Weise auseinander; der Zürichsee ist ausgetrocknet und neue Heimat der Armen und Ausgestoßenen. Insgesamt geht Boller mit dem Tell-Stoff äußerst frei um, legt den Comic als Serie an und konzipiert seinen tell im Stile amerikanischer Superheldencomics, denen er auch stilistisch nahe kommt.25 Im Gegensatz zur Umsetzung der letzten Tage der Menschheit erscheint Bollers tell äußerst dynamisch gezeichnet – und das nicht nur aufgrund von Tells attributiv gestalteter Armbrust: Speedlines, Folienzeichen und Soundwörter werden in hohem Maße verwendet, ein einheitliches uniform grid ist nicht vorhanden, im Gegenteil: Das panel grid jeder Seite wird individuell gestaltet, die intensive Farbgestaltung erzeugt ständige Stimmungswechsel, die Leerstellen der Panelübergänge sind sehr groß gehalten und die stark variierende Perspektivenwahl der 23 Zur Biographie von David Boller vgl. LTM 186. 24 David Boller: tell. Band 1: Die Legende kehrt zurück!, Mogelsberg 2010; David Boller: tell,. Band 2: Walter!, Mogelsberg 2013. 25 Vgl. Boller: tell, Band 1, S. 6f.

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einzelnen Panels markiert deutlich den impliziten Erzähler. Gemein ist Die letzten Tage der Menschheit und tell einzig, dass beide Comics literarische Vorlagen bzw. Stoffe aufgreifen. In ihrer graphischen und narrativen – sowohl was die histoire als auch was den discours angeht – Gestaltung unterscheiden sich beide Comics diametral voneinander. Am Beispiel des tell wird zunächst vor allem deutlich, wie sehr die Bilder in Die letzten Tage der Menschheit lediglich den Text illustrieren und keine eigene Narrativität entfalten. Im tell ergänzen Text und Bild einander, etwa wenn direkt zu Beginn die biblische Schöpfungsgeschichte in Bild und Text erzählt wird.26 Verschiedentlich dominieren die Bilder die Narration, etwa als der Superheld Tell eingeführt wird (vgl. tell 6f.).27 Demgegenüber können in Bollers/Pietschs Die letzten Tage der Menschheit nicht nur einige non sequitur-Sequenzen – etwa die erwähnte Vorstellung zeitgenössischer Persönlichkeiten – ohne Textinformationen kaum vom Leser nachvollzogen werden, sondern auch grundsätzlich wird in den Bildsequenzen des Comics kaum erzählt; im Gegenteil: Die Sequentialität der Bilder kann sogar infrage gestellt werden, da nicht nur ganze Szenen – wie im Drama etwa in der Bühnenfassung geschehen – gegeneinander verschoben werden,28 sondern zudem die Bilder innerhalb einer einzelnen Szene nur selten eindeutig in einer bestimmten Reihenfolge sequentialisiert sind. Nur über die in westlichen Kulturen übliche Leserichtung von links nach rechts und oben nach unten und vor allem mittels der Dialoge in den Sprechblasen lassen sich die Panels sinnvoll reihen.

IV. Warum aber wählt ein profilierter Zeichner wie David Boller in Die letzten Tage der Menschheit nichtsdestotrotz eine einfache und für ihn untypische Bildästhetik? Wenn man den Prätext, das Lesedrama von Karl Kraus, mit in den Blick nimmt, so erhält man eine mögliche Antwort auf die Funktion von Bollers bildlicher Darstellung im Comic. Dabei stehen insbesondere erstens die szenische Gestaltung und zweitens die Sprachkritik von Kraus im Fokus. Grundsätzlich polemisiert Karl Kraus in seinem Drama in schärfster Weise 26 Vgl. Boller: tell, Band 1, S. 1. 27 Vgl. Boller: tell, Band 1, S. 6f. 28 Vgl. dazu auch die Szenenumstellungen in der »Bühnenfassung« von Karl Kraus, in der Szenen nicht nur gestrichen und gekürzt werden, sondern auch in anderer Reihung zu den fünf Akten zusammengefügt sind (vgl. die von Christian Wagenknecht zusammengestellte Konkordanz in: Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit, S. 810-813).

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gegen die zeitgenössische Kriegsgesellschaft. Mit Bezug auf die zahlreichen Zitate im Text wurde das von Kraus »einem Marstheater«29 zugeeignete und als »theatralische Totalmontage« konzipierte Drama verschiedentlich in die Nähe des Dokumentartheaters gerückt, ohne dass sich der Text darin erschöpfen würde.30 In der Entstehungszeit des Dramas 1915-1921 gibt Karl Kraus bereits seit mehr als anderthalb Jahrzehnten Die Fackel heraus und äußert nicht nur in ihr, sondern auch in seinen zahlreichen essayistischen Einwürfen seine in höchstem Maße polemische Publizismus- und Pressekritik, so etwa in seinem zu großen Teilen schon vor dem Krieg entstandenen Essayband Der Untergang der Welt durch schwarze Magie31. Die scharfe Sprach- und Zeitkritik findet auch Eingang in Die letzten Tage der Menschheit. Kraus formuliert hierbei exakte Bühnenanweisungen, so dass die »Betonung szenischen Agierens und visueller Effekte«32 kaum abzustreiten ist – worin durchaus eine Nähe zum Comic gesehen werden kann. In vielen Fällen entlarvt gerade die Szenerie des Dramas die Gesellschaft, die Presse und das Militär als die Schuldigen am »größten Verbrechen, das je unter der Sonne, unter den Sternen begangen war«33. Indem Kraus Geschehen und Figurenrede über das Geschehen gegeneinander stellt, d.h. sie sich gegenseitig ad absurdum führen lässt, entsteht der komische Effekt der Kriegssatire, der in anderem Kontext bereits als »ironische Gegenüberstellung«34 beschreiben worden ist. Interessanterweise ›dokumentiert‹ Kraus sowohl in der Figurenrede – die er wie erwähnt zu großen Teilen aus Zitaten montiert – als auch in der Anlage der Szenen und im Nebentext historische oder typische Ereignisse der Zeit und inszeniert so die Ereignisse der Jahre 1914-1918 zu seiner großen Polemik. Gerade indem Kraus sich in Szene und Figurenrede an historischer Wirklichkeit orientiert und gleichzeitig die Absurdität der Verbindung zwischen beidem aufzeigt, gewinnen Die letzten Tage der Menschheit ihre erschütternde Qualität als Weltkriegsdrama. Die Bilder David Bollers fungieren dazu analog als Kontrastfolie der wörtlichen Rede: Gerade indem nicht die Themen der Gespräche visualisiert, sondern die Diskursorte – also die exakten Bühnenanweisungen – abgebildet werden, 29 Kraus: Die letzten Tage der Menschheit, S. 9. 30 Theo Buck: Vorschein der Apokalypse: das Thema des Ersten Weltkriegs bei Georg Trakl, Robert Musil und Karl Kraus, Tübingen 2001, S. 55f. Zu Die letzten Tage der Menschheit als Dokumentardrama vgl. auch Edward Timms: Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse, übers. von Max Looser/Michael Strand, Wien 1995, S. 505-529. 31 Karl Kraus: Der Untergang der Welt durch schwarze Magie, Frankfurt a.M. 1989. 32 Timms: Karl Kraus, S. 520. 33 Kraus: Die letzten Tage der Menschheit, S. 681. 34 Timms: Karl Kraus, S. 527.

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übernehmen die Bilder des Comics über ihre Illustration der Szene im Drama die Funktion der Regieanweisungen und des Szenenkontextes. Weil Boller selbst nur wenig visualisiert, sondern hauptsächlich illustriert, entsteht auch im Comic die »ironische Gegenüberstellung« von Geschehen und Figurenrede. Zweitens bildet auch in den letzten Tagen der Menschheit der Sprachmissbrauch durch die Presse, Politik und Propaganda eines der maßgeblichen Themen. Auf einem »Bankett deutscher und bulgarischer Schriftleiter«35, um nur eines der zahllosen Beispiele des Dramas zu zitieren, adelt der deutsche Gesandte die zweifelhafte ›Kunst‹ der nationalistischen Pressesprache: »Kein guter Journalist ohne diplomatisches Empfinden und kein brauchbarer Diplomat, der nicht mit einem vollen Tropfen Druckerschwärze für seinen Beruf gesalbt wäre. […] Ich sage Beruf, das Wort ist zu gering. Es ist eine Kunst […] und das Instrument, auf dem wir spielen […] ist die Seele der Völker«36. In völligem Verkennen der Lage bejubeln die anderen Anwesenden den Gesandten, dieser sei »mit der beste Redner, den wa jetzt haben. Die Wahrheit, die ficht auf unserer Seite […]. […] Was Diplomatie und Presse geeinigt vermögen, hat uns dieser Weltkrieg gezeigt […].«37 Wie sehr es Kraus im Drama um diese Funktionsprinzipien der Indoktrination und Wahrheitsproduktion durch Sprachlügen der Presse zu tun ist, zeigen nicht zuletzt die immer wieder auftauchenden, krakeelenden Zeitungsausrufer – die bei Pietsch/ Boller bereits auf dem Innentitel (vgl. LTM 1) bzw. im ersten Panel des Comics (vgl. LTM 7) eingeführt werden –, die neueste Schreckensmeldungen als Großtaten verkünden und die mit der drohenden Niederlage immer sprachunfähiger werden (»– asgabee –! strasgabää –! xtrasgawee –! Peidee Perichtee –! Brichtee –! strausgabee –! Extraskawee –! Richtee –! eestrabee –! abee –! bee –!«38). Vor allem aber verweisen die langen Monologe des Nörglers – der im Drama mit dem Autor Karl Kraus eindeutig identifiziert wird39 und der auch im Comic seinem Äußeren nachgebildet ist – im fünften Akt des Dramas auf den untrennbaren Zusammenhang von Krieg, Presse und Sprache:

35 Kraus: Die letzten Tage der Menschheit, S. 457; Hervorhebung im Original. 36 Kraus: Die letzten Tage der Menschheit, S. 457f. 37 Kraus: Die letzten Tage der Menschheit, S. 459. 38 Kraus: Die letzten Tage der Menschheit, S. 670. 39 Vgl. beispielsweise: Ein Spekulant: „Wissen Sie, wer vollständig verschwunden ist?/ Ein Realitätenbesitzer: Ich weiß, der Fackelkraus. / […] Der Realitätenbesitzer: Nicht wegen der Zensur, er kann von selbst nicht. Er hat sich ausgeschrieben. […] Wissen sie, was ich ihm gönnen möchte – nehmen solln sie ihn! An der Front Da soll er zeigen! Was er trefft, ist nörgeln. (Der Nörgler geht vorbei. Die beiden grüßen.) / Der Spekulant: So was von einem Zufall! (Kraus: Die letzten Tage der Menschheit, S. 177-179)

240 | Johannes Wassmer Hysterie im Schutze der Technik überwältigt die Natur, Papier befehligt die Waffe. Invalide waren wir durch die Rotationsmaschinen, ehe es Opfer durch Kanonen gab. Waren nicht alle Reiche der Phantasie evakuiert, als jenes Manifest [der 93, J.W.] der bewohnten Erde den Krieg erklärte? Am Ende war das Wort. […] Und das hat sie vermocht, sie allein, die mit ihrer Hurerei die Welt verdarb! Nicht daß die Presse die Maschinen des Todes in Bewegung setzte – aber daß sie unser Herz ausgehöhlt hat, uns nicht mehr vorstellen zu können, wie das wäre: das ist ihre Kriegsschuld. Und von dem Wollustwein ihrer Unzucht haben alle Völker getrunken, und die Könige der Erde buhlten mit ihr.40

Kraus verurteilt in seiner hier nur andeutungsweise vorzustellenden Sprachkritik41 nicht nur die Sprache der Presse als (mit-)schuldig am Krieg, indem er zeigt, wie sehr Sprache als Indoktrinationsinstrument, als »Wollustwein« der Völker funktionalisiert wird – und welche Wirkungen das auf die Menschen und ihre Realität hat. Die »Rotationsmaschinen« – Zeitungsdruckereien – der Sprache haben den Menschen das »Herz ausgehöhlt« und so die Akzeptanz des Krieges in der Bevölkerung erst ermöglicht, so der Vorwurf von Kraus. Das heißt nichts anderes, als dass Sprache Wirklichkeit konstruiert. Durch die graphische Gestaltung des Comics wiederum stellt Boller Sprache und die in den Bildern dargestellte ›Wirklichkeit‹ gegeneinander. Die Absurdität vieler Szenen wird erst durch diese Trennung von dargestellter Szene und Figurenrede greifbar. Dementsprechend verhindert die graphische Gestaltung des Comics, dass die Sprache und Sprachkritik als zentrales Thema von Kraus in den Hintergrund rückt, wie es bei einer Bildästhetik in der Art des tell notwendigerweise geschehen würde. Somit erhält die ›Vermittlung‹ des Prätextes, der sich der Comic widmet, eine zweite, zentrale Ebene: Aus der einfachen Gestaltung des Comics resultiert nicht nur eine höhere Verständlichkeit, sondern Pietsch/Boller transformieren über die Bildgestaltung Aspekte des Dramas, die dem Leser des Comics anders nicht oder nur schwer zu vermitteln wären. Wie sehr Pietsch/Boller diese einfache Bildsprache funktionalisieren, zeigt ein Blick auf die zeichnerische Gestaltung der meisten Figuren im Comic weit im Bereich des ›meaning‹. Abgesehen vom Nörgler und der Kriegsreporterin Schalek bleiben die Figuren ganz im Sinne des Dramas auch in der zeichnerischen Darstellung Typen, die – wenngleich auch auf historische 40 Kraus: Die letzten Tage der Menschheit, S. 676f. 41 Neben zahlreichen Aufsätzen vgl. exemplarisch: Silvio Vietta: Neuzeitliche Rationalität und moderne literarische Sprachkritik, München 1981; Kurt Krolop: Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus, Berlin 1987; Wolfgang Frühwald: Wie viel Sprache brauchen wir?, Berlin 2010; Cornelia Vismann: Karl Kraus: Die Stimme des Gesetzes, in: DVjS 74 (2000), H. 4, S. 710-724.

Zur Vermittlung in Bollers und Pietschs Die letzten Tage der Menschheit | 241

Persönlichkeiten und Aussprüche zurückgehend – stellvertretend den Kriegsdiskurs in der Habsburger- bzw. Preußenmonarchie darstellen. Man kann mit Rekurs auf den Prätext somit konstatieren, dass sich die stark zurückgenommene Bildgestaltung als Strategie der Vermittlung begründen lässt. Sie übernimmt gestalterische Aspekte des Dramas und ist klar funktionalisiert. Boller/Pietsch vertrauen Karl Kraus: Am Ende steht sein Wort. Nicht über den Prätext hinaus wollen Pietsch/Boller mit ihrem Comic, sondern überhaupt zu ihm hervordringen, ihn begreifbar und anschaulich gestalten. Auch wenn diese Herangehensweise zu Lasten der Comicästhetik geht, gelingt den beiden Autoren dieses Vorhaben ausgezeichnet. Denn indem David Boller sich einerseits in der graphischen Gestaltung beschränkt und sich andererseits dennoch ein hohes Maß an zeichnerischer ›Minimalvariation‹ erhält, erweist er sich als Könner seines Fachs. So variiert er das eigentlich statische panel grid immer wieder leicht, etwa indem ein siebtes Panel in das grid integriert wird oder indem zwei Panels des grids zu einem größeren verschmolzen werden, oder deutlicher, indem das statische panel grid vollständig aufgebrochen wird (vgl. LTM 60), so dass letztlich kaum eine Seite in der grid-Gestaltung exakt der vorherigen entspricht. Auch ein maßgebliches Grundprinzip der Umsetzung, lediglich zu illustrieren, den Ort und die Protagonisten der Kriegsdiskurse inklusive ihrer eigenen Rede im Bild zu zeigen, und nicht den Gegenstand der zahllosen Gespräche abzubilden, wird – wenngleich nur spärlich – aufgebrochen. So unterhalten sich im dritten Akt der Nörgler und der Optimist über die Entwicklung der Bio- und Chemiewaffenarsenale. Dabei wird in drei Panels nicht das Gespräch verfolgt, sondern der Gegenstand des Gesprächs visualisiert: Bakterien unter dem Mikroskop, Petrischalen und chemische Formeln. Hier vermittelt der Comic die Feststellung des Nörglers »Tanks und Gase werden den Bakterien das Feld räumen« (LTM 127, Abb. 2). Indem Boller hier neben dem Gespräch der beiden Figuren auch in drei Panels die Bakterienstämme in verschiedenen Vergrößerungsstufen im Bild zeigt, veranschaulicht er, dass es dem Nörgler hier um eine Abb. 2: Pietsch/Boller: LTM, S. 127. vollständig neue Qualität von Waf-

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fen zu tun ist: Um Waffen, die nicht offen als Waffen erkannt werden, die aber den »Massenmord praktischer« (LTM 127) machen. Somit visualisieren die im Bild gezeigten Biowaffen die Zukunft des Krieges. Diese sehr vorsichtigen Visualisierungen werden im fünften Akt des Comics – wenn der Leser sich bereits in der Handlung und den abgebildeten Kriegsdiskursen orientieren konnte – etwas intensiviert: Wie jeder Akt eröffnet auch der fünfte mit einer Szene an der Ringstraße, an der nun »eine Fauna von Gestalten […] in heftigen Debatten« (LTM 170) zusammengefunden hat. Diese »Fauna« bildet Boller ab, indem er die Abb. 3: Pietsch/Boller: LTM, S. 171. Köpfe der Figuren durch die Köpfe u.a. eines Mammuts, Walrosses, Nashorns, Warans, Krokodils, Pavians und Geiers ersetzt (LTM 171, Abb 3)42 und somit die dargestellten Figuren und ihre menschenverachtenden Gespräche über den Krieg bloßstellt. Vollends radikal wird die Schlussszene des Dramas, die u.a. mit Raben, Gasmasken, erfrorenen Soldaten, totem Wald verschiedene Phänomene des Krieges zu Wort kommen lässt und eine apokalyptische Vision heraufbeschwört, ins Bild gesetzt. Die Autoren verzichten vollkommen auf den Dramentext der Szene; stattdessen visualisiert Boller auf einem doppelseitigen Splash-Panel die von Kraus im Dramentext inszenierte apokalyptische Vision als Bild. Die Autoren verzichten auf die in den wörtlichen Reden ausgestellten Diskurse und nutzen die spezifischen Möglichkeiten des Comics, um den Aussagegehalt des Dramentextes ins neue Medium zu transportieren. (LTM 184f., Abb. 4) Nicht zuletzt aufgrund dieses exemplarisch vorgestellten zeichnerischen Variationsreichtums im Detail erweist sich Die letzten Tage der Menschheit als ein vermittelnder Literaturcomic, der einen der anspruchsvollsten Dramentexte deutscher Sprache verständlich umsetzt, ohne die Komplexität des Textes zu vernachlässigen. Denn indem Pietsch/Boller den Comic nicht als ›Vergleich‹ oder 42 Damit greift Boller die zeichnerische Gestaltung der Figuren in Juan Diaz Canales’ und Juanjo Guarnidos Blacksad-Reihe auf, in der ebenfalls Tierköpfe auf Menschenkörper gesetzt werden.

Zur Vermittlung in Bollers und Pietschs Die letzten Tage der Menschheit | 243

Abb. 4: Pietsch/Boller: LTM, S. 184f.

›Verwandlung‹ konzipieren und damit auf ein hohes Maß an intertextueller Dialogizität im Sinne Manfred Pfisters43 verzichten, können sie dem heutigen Leser die intratextuelle Dialogizität des Textes im Sinne Michail Bachtins44 vermitteln und 43 Pfister definiert intertextuelle Dialogizität als einen »Verweis auf vorgegebene Texte oder Diskurssysteme«, der »von umso höherer intertextueller Intensität ist, je stärker der ursprüngliche und der neue Zusammenhang in semantischer und ideologischer Spannung zueinander stehen«. So zeugten »ein Anzitieren eines Textes, das diesen ironisch relativiert und seine ideologischen Voraussetzungen unterminiert« oder ein »distanzierendes Ausspielen der Differenz zwischen dem alten Kontext des Fremden Worts und seiner neuen Kontextualisierung« von »besonders intensiver Intertextualität«. (Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität, in: Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, S. 1-30, hier S. 29) 44 Michail Bachtin definiert die Dialogizität innerhalb eines Romans als »fremde Rede in fremder Sprache, die dem gebrochenen Ausdruck der Autorintention dient. Das Wort einer solchen Rede ist ein zweistimmiges Wort. Es dient gleichzeitig zwei Sprechern und drückt gleichzeitig die verschiedenen Intentionen aus: die direkte Intention der sprechenden Person und die gebrochene des Autors. […] Zudem sind diese beiden Stimmen dialogisch aufeinander bezogen […]. Das zweistimmige Wort ist stets im Innern dialogisiert. […] In ih[m] ist einein potentieller, unentwickelter und konzentrierter Dialog zweier Stimmen, zweier Weltanschauungen, zweier Sprachen angelegt.« (Michail Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, hg. von Rainer Grübel, übers. von Rainer Grübel und Sabine Reese, Frankfurt a.M. 1979, S. 213; Hervorhebung im Original) Auch wenn Bachtin sein Konzept der Dialogizität auf den Roman bezieht, lässt sich

244 | Johannes Wassmer

in der Polyphonie von Figuren- und Autorrede in Die letzten Tage der Menschheit Kraus’ scharfe Polemik gegen die zeitgenössische Kriegsgesellschaft erhalten. Gerade aufgrund der einfachen, vermittelnden Gestaltung des Comics, die der Maxime folgt, dass am Ende das Wort von Karl Kraus steht, gelingt es Pietsch/ Boller somit nicht nur, die Verständlichkeit für den zeitgenössischen Leser herzustellen. Die beiden Autoren erhalten überdies mittels der einfachen Bildgestaltung, trotz der Boller in zahlreichen Details sein zeichnerisches Potential andeutet, die scharfe, pazifistische Polemik des Dramas und transformieren sie in den Comic.

die polyphone Struktur der wörtlichen Rede auch im Lesedrama Die letzten Tage der Menschheit markieren.

Goethe als Bastelei – Literaturrezeption im Medium Comic S ebastian T upikevics

Einhergehend mit dem Erfolg des Mediums Comic lässt sich zunehmend eine Ausdifferenzierung der bearbeiteten Sujets beobachten. Comics behandeln bei weitem nicht mehr bloß Geschichten um Superhelden und antropomorphe Tiere. Sie decken mittlerweile nahezu jedes Genre ab, greifen mitunter auf klassische Stoffe zurück und adaptieren neben Film- und Fernsehproduktionen zunehmend auch literarische Werke, wobei hier bisweilen ein besonderes Interesse an jenen Autoren zu bestehen scheint, deren Werke gemeinhin zu den Klassikern der Weltliteratur gezählt werden.1 Johann Wolfgang von Goethe ist einer von ihnen. In den letzten 20 Jahren sind zu seinem Leben und Werk vermehrt Comics erschienen. Die wohl nennenswertesten unter ihnen sind Falk Nordmanns Faust – Der Tragödie erster Teil (1996)2, Flix’ Who the fuck is Faust? (1998),3 Christoph Kirschs Zum Sehen geboren (1999)4, Thomas von Kummants Zum Schauen bestellt (1999)5, Christian Mosers Goethe – Die ganze Wahrheit (2007)6, der Disney-Comic Goofy als Johann

1 Beispielhaft lässt sich dieser Schwerpunkt der Literaturadaptionen etwa an der von Albert Lewis Kanter (1897–1973) geschaffenen Comicreihe Classics Illustrated erkennen. Zwischen 1941 und 1971 wurden in 169 Ausgaben ausschließlich auf literarische Vorlagen zurückgegriffen, die gemeinhin zur Weltliteratur gerechnet werden. 2 Vgl. Falk Nordmann: Faust. Der Tragödie erster Teil, Hamburg 1996. 3 Vgl. Flix: Who the fuck is Faust?, Frankfurt a.M. 1998. 4 Vgl. Christoph Kirsch: Zum Sehen geboren, in: Friedmann Bedürftig u.a.: Zum Sehen geboren / Zum Schauen bestellt, Stuttgart 2007, S. 5-55; im Folgenden zitiert mit der Sigle SgSb und Seitenzahl. 5 Vgl. Thomas von Kummant: Zum Schauen bestellt, in: SgSb 57-109. 6 Vgl. Christian Moser: Goethe. Die ganze Wahrheit, Hamburg 2007.

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Wolfgang von Goethe (2009)7 und Flix’ Faust – Der Tragödie erster Teil (2010)8. Betrachtet man diese Adaptionen literarischer Werke genauer, stellt sich zwangsläufig die Frage, wie im Comic neue Aussagen9, die im Ursprungstext nicht vorhanden waren, generiert werden. Im Folgenden wird dieser Frage aus kultursemiotischer Perspektive nachgegangen. Dabei wird zuerst der Blick auf das Medium Comic und seine Eigenheiten geworfen, bevor anschließend vor diesem Hintergrund zwei Goethe-Adaptionen näher betrachtet werden.

E in

zusammengesetztes

M edium

Folgt man der knappen Definition Will Eisners, sind Comics »[a] form of sequential art, [...] in which images and text are arranged to tell a story«10. Im Gegensatz zu anderen rein textuellen Formen des Erzählens beinhaltet also diese »hybride Kunst«11 eine weitere Dimension: die Bildebene. Selbst wenn, wie im Falle der Adaption eines literarischen Werkes, die gleiche Geschichte12 erzählt wird, tritt durch die zusätzliche visuelle Ebene ein neues Element hinzu, das eine Bedeutungsebene hat, die im Ursprungswerk nicht vorhanden ist. Im Wesentlichen entstehen durch diese zusätzliche Ebene auf zwei Arten neue Aussagen. Zum einen besitzt jedes Bild für sich genommen eine eigene Aussage, handelt es sich doch um ein ikonisches Zeichen, das bei seinem Betrachter stets einen Bedeutungshorizont abruft. Zum anderen kommentiert das Bild durch seine Juxtaposition den Text ebenso wie der Text das Bild kommentiert, denn immerhin stellt ein Comic eine narrative Einheit dar. In einem Comic wird die Geschichte also nicht nur auf der medialen Ebene des Textes, sondern auch auf der medialen Ebene des Bildes 7 Vgl. Disney Enterprises (Hg.): Goofy – Eine komische Historie, Bd. 6, Köln 2009. 8 Vgl. Flix: Faust. Der Tragödie erster Teil, Hamburg 2010, im Folgenden zitiert mit der Sigle F und Seitenzahl. 9 Hier und im Folgenden wird der Begriff ›Aussage‹ im Sinne der Foucault’schen Diskursanalyse verstanden. Dabei ist die Aussage (l’énoncé) wie Rainer Ruffig es zusammenfasste die »erste Einheit im Diskurs«. Für Foucault selbst war der Diskurs »[...] eine Menge von Aussagen [...]«(vgl. Rainer Ruffing: Michel Foucault, Paderborn 2008, S. 54; Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981, S. 170). 10 Will Eisner: Graphic Storytelling and Visual Narrative. Principles and Practices from the Legendary Cartoonist, London/New York 2008, S. XVII. 11 Monika Schmitz-Emans: Literatur-Comics. Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur, Berlin/Boston 2012, S. 8. 12 Im Sinne des Genette’schen Begriffs meint ›Geschichte‹ hier den narrativen Inhalt (vgl. Gérard Genette: Die Erzählung, Paderborn 2010, S. 12).

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erzählt, wobei beide Bereiche nicht als voneinander getrennt, sondern stets als Einheit verstanden werden müssen. Dass Text und Bild im Comic eine semantische Einheit bilden, obwohl sie visuell in den meisten Fällen klar voneinander unterscheidbar sind,13 wird deutlich, wenn man sich ihr Zusammenspiel genauer anschaut. Betrachtet man etwa eine Szene aus Thomas von Kummants Comic Zum Schauen bestellt, fällt auf, dass das Vokabular eines Comics aus einer Vielzahl aufeinander verweisender Zeichen besteht.

Abb. 1: von Kummant: Zum Sehen geboren / Zum Schauen bestellt, S. 72.

Die Szene zeigt den Protagonisten Goethe im Zimmer Schillers, während er den Geruch fauler Äpfel wahrnimmt.14 Denk- und Sprechblasen geben an, wer in der dargestellten Szene spricht bzw. wer etwas empfindet: In diesem Fall der Protagonist Goethe. Ihre Funktion ist demnach die eines verbum dicendi bzw. die eines verbum sentiendi. Da diese Aussagen jedoch stets an piktorale Elemente des Comics geknüpft sind – allein schon durch ihre Komposition im Panel – sind Sprechblasen niemals von der Bildebene getrennt, sondern stets in dieser verankert. Der Sinn der lautmalerischen Worte ›SNIFF SNIFF‹ wird erst im Zusammenhang mit der im Bildteil abgebildeten Nase Goethes deutlich. Ähnlich verhält es sich mit der Buchstabenfolge ›SSS‹, die als Soundwort15 fungiert und das Flug-Geräusch der

13 Eine Ausnahme bilden hier – neben vielen anderen – z.B. Will Eisners Zeichnungen der Spirit-Reihe, in denen an manchen Stellen Textelemente gleichzeitig als Teil der Bildebene fungieren. Im Comic Die letzte Straßenbahn (Erstveröffentlichung 16. März 1941) wird etwa ein verlassenes Hafenviertel gezeigt, das durch herumfliegende Zettel illustriert wird, die für sich betrachtet das Wort ›Spirit‹ bilden. 14 Es handelt sich also um eine Darstellung jener berühmten Anekdote, von der Johann Peter Eckermann im dritten Band der Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens berichtet (vgl. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (= Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche in vierzig Bänden, Bd. II,12, hg. von Christoph Michel unter Mitwirkung von Hans Grüters), Frankfurt a.M. 1987, S. 632). 15 Vgl. Ernst Havlik: Lexikon der Onomatopöien. Die lautimitierenden Wörter im Comic, Frankfurt a.M. 1991.

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dargestellten Insekten markiert.16 Die Denkblase Goethes enthält eine FäkalienDarstellung, die von Fliegen und Geruchslinien umgeben ist. Diese Darstellung verweist metaphorisch auf die Wahrnehmung eines unangenehmen Geruches, ohne dass dieser Umstand mit einer längeren Satzkonstruktion beschrieben wird. Durch die optische Ähnlichkeit der Geruchslinien zu den Fluglinien der Insekten wird zugleich Bezug genommen auf die im Panel vorhandenen Insekten.17 Text und Bild greifen reziprok ineinander und verschmelzen auf diese Art zu einer semantischen Einheit. Sprech- und Denkblasen liefern narrative Elemente und agieren kompositionell in der Bildebene, Soundwörter offenbaren ihre Bedeutung erst im Zusammenhang mit der notwendigen Bild-Komponente und manche Bildsymbole »üben [...] eine verbale Funktion aus«18. Wenn im Comic also Bild- und Text-Elemente keine hierarchische Ordnung besitzen und grundsätzlich gleichwertig als semantische Einheit auftreten, kann es sich bei der Adaption literarischer Werke – sogar bei der wörtlichen Übernahme ganzer Textpassagen aus dem Ursprungswerk19 – niemals um dasselbe Werk handeln. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, bei der Analyse von Literaturrezeption im Medium Comic nicht allein in den textuellen Elementen nach Übernahmen aus dem Ursprungstext zu suchen, sondern die Bildebene in die Untersuchung miteinzubeziehen, denn »Comics sind durch das Zusammenwirken von Bildern und Texten ein hybrides Medium, das sich von mehreren Seiten bearbeiten, aber nur in der Addition der beteiligten Bereiche umfassend analysieren lässt«20. Durch die zusätzliche visuelle Ebene, die im Comic gleichrangig mit dem Text auftritt, ergeben sich zwangsläufig neue Aussagen, die im Ursprungswerk nicht vorhanden sind. Dies geschieht schon allein dadurch, dass es in visuell-graphi-

16 Darüber hinaus kann die Buchstabenfolge als formikonisch verstanden werden, sodass gewissermaßen pleonastisch die durch geschwungene Linien angedeuteten Flugbahnen der Insekten unterstrichen werden. 17 Hierdurch wird auch eine mögliche Erklärung für ihr Vorhandensein geliefert. Folgt man den Fluglinien, kommen die Insekten immerhin aus einem Bereich, der außerhalb des Panels und damit außerhalb der Wahrnehmung des Rezipienten liegt. An dieser Stelle lässt sich also im Sinne Wolfgang Isers von einer ›Leerstelle‹ sprechen (vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1984, S. 284). 18 Wolfgang Strzyz: Comics im Buchhandel. Geschichte – Genres – Verlage, Frankfurt a.M. 1999, S. 11. 19 Ein Beispiel wäre hier etwa Falk Nordmanns Comic Faust – Der Tragödie erster Teil (1996). Sämtliche Textpassagen des Comics sind wörtlich Goethes Faust entnommen. 20 Jakob F. Dittmar: Comic-Analyse, Konstanz 2008, S. 54.

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schen Medien – und Comics sind »ein von der Graphik bestimmtes Medium«21 – einen Zwang zum Bild gibt. Im Fall der Comicadaptionen literarischer Werke rekurriert das Bild auf das, was im Ursprungstext über Worte vermittelt wird. Folgt man den Erkenntnissen der Semiotik, haben Worte wie alle Zeichen eine Ausdrucks- und eine Inhaltsseite, wobei zwischen beidem kein naturgegebener Zusammenhang besteht.22 Bei der Lektüre eines Textes liegt es letztlich am Leser, die Ausdrucksseite der Zeichen – eben das, was auf dem Papier abgebildet ist – in eine Inhaltsseite zu übertragen. Jean-Paul Sartre fasste dies in seinem 1947 erschienenen Essay Was ist Literatur? (Qu´est-ce que la littérature?) wie folgt zusammen: [D]er Vorgang des Schreibens schließt als dialektisches Korrelativ den Vorgang des Lesens ein, und diese beiden zusammen hängenden verlangen zwei verschieden tätige Menschen. Die vereinte Anstrengung des Autors und des Lesers läßt das konkrete und imaginäre Objekt entstehen, das das Werk des Geistes ist. Kunst gibt es nur für und durch den anderen.23

Abhängig vom Leser, der selbst stets in einem dispositiven24 Zusammenhang steht, variiert bei der Lektüre eines Textes die Inhaltsseite der Zeichen, sodass ein literarisches Werk niemals exakt denselben Sinn hervorbringt. Beispielhaft lässt sich dies an den sogenannten ›Unbestimmtheitsstellen‹ verdeutlichen, die der polnische Philosoph Roman Ingarden in seinem Hauptwerk Das literarische Kunstwerk (1931)25 erstmals beschrieb. Innerhalb eines jeden Textes gibt es Unbestimmtheitsstellen, deren inhaltliche Seite aus der bloßen Lektüre nicht vollständig reproduziert werden kann: 21 Will Eisner: Mit Bildern erzählen. Comics & Sequential Art, Wimmelbach 1985, S. 93. 22 Der Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857–1913) sprach in diesem Zusammenhang von signifiant (Zeichenausdruck) und signifié (Zeicheninhalt). 23 Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? Hamburg 1958, S. 35. 24 Michel Foucault, der den Begriff des Dispositivs in die Geisteswissenschaften einführte, verstand darunter »ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.« (Michel Foucault: Das Spiel des Michel Foucault. Gespräch mit D. Colas, A. Grosrichard u.a., in: ders./Daniel Defert (Hg.): Dits et Ecrits. Schriften, Bd.3, Frankfurt a.M. 2003, S. 392). 25 Vgl. Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft, Halle 1931.

250 | Sebastian Tupikevics Das literarische Werk und insbesondere das literarische Kunstwerk, ist ein schematisches Gebilde. […] Mindestens eine seiner Schichten, und besonders die gegenständliche Schicht, enthalten in sich eine Reihe von ›Unbestimmtheitsstellen‹. Eine solche Stelle zeigt sich überall dort, wo man aufgrund der im Werk auftretenden Sätze von einem bestimmten Gegenstand (oder von einer gegenständlichen Situation) nicht sagen kann, ob er eine bestimmte Eigenschaft besitzt oder nicht.26

Diese Unbestimmtheitsstellen werden durch den Leser ergänzt, er füllt sie in einem kreativen Akt aus. So finden sich beispielsweise an verschiedenen Stellen des Faust Verweise auf das äußere Erscheinungsbild Mephistos, allerdings wird an keiner Stelle eine vollständige physiognomische Beschreibung geliefert. Liest man etwa die wenigen Schilderungen, die hier vorhanden sind, reichen die Informationen zwar aus, um vor seinem geistigen Auge ein Bild Mephistos entstehen zu lassen, jedoch nicht, um jedes Detail seiner Erscheinung zu beschreiben. Dieses vollständige Bild muss stattdessen vom Leser konstruiert werden. So wird etwa mit keinem Wort die Augenfarbe Mephistos erwähnt, jedoch wird beim Akt des Lesens automatisch eine zugeordnet, sobald der Leser in seiner Vorstellung ein Bild von ihm zeichnet. Nach und nach werden diese Ergänzungen im Verlauf der Lektüre vom Leser auf ihre Richtigkeit überprüft. Der Text wird also bereits beim Lesen mit »Sinnentwürfen – tentativen Bedeutungen – konfrontiert«27, die dann vom Leser dahingehend überprüft werden, ob sie »passend seien«28. Jedes Lesen ist also zugleich »Antizipieren des Sinnes und projektiv«29. Dieses Ausfüllen der Unbestimmtheitsstellen mag auf den ersten Blick nur marginal auf den Sinn eines Textes wirken, jedoch muss bedacht werden, dass jeder Text eine Vielzahl solcher Unbestimmtheitsstellen aufweist. Innerhalb der Leserschaft existiert also eine große Zahl unterschiedlich gefüllter Unbestimmtheitsstellen, von denen keine per se richtig oder falsch ist. Im Fall der Übertragung literarischer Stoffe in das Medium Comic werden manche dieser Unbestimmtheitsstellen allein dadurch ausgefüllt, dass eine neue Ebene, eben eine visuelle, hinzugefügt wird. Die visuelle Ausgestaltung der Unbestimmtheitsstellen im Comic orientiert sich an zweierlei (vgl. Abb. 2): Zum einen wird auf die in der literarischen Vorlage gelieferten Beschreibungen zurückgegriffen, die je nach Gegenstand mal umfangreich, mal weniger umfangreich ausfallen und damit mal mehr und mal weniger 26 Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Darmstadt 1968, S. 49. 27 Chris Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln 1997, S. 150. 28 Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit, S. 150. 29 Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit, S. 150.

Goethe alS baStelei – literaturrezeption iM coMic | 251

Abb. 2: von Kummant: SgSb, S. 63; Flix: Faust, S. 7; Nordmann: Faust, S. 21; Moser: Goethe, S. 60; Jürgen Mick: Faust II, in: Titus Ackermann u.a. (Hg.): 100 Meisterwerke der Weltliteratur, Köln 2009, S. 36.

Material liefern, mit dem der Zeichner arbeiten kann, und zum anderen wird auf diskursiv vorherrschende Aussagen rekurriert. Auch wenn jeder der oben abgebildeten Mephistos in seiner Ausführung variiert, greift jede Darstellung auf Aussagen des Teufel-Diskurses zurück, sei dies durch die Wahl der Farben (Rot und Schwarz) oder der physiognomischen Merkmale (Teufelshörner, spitze Ohren).30 Die Form der Zeichnungen ist darüber hinaus von Kunst-Diskursen der Zeit geprägt, denn ebenso wie sich ein Text aus einem »Mosaik von Zitaten auf[baut]«31, ist auch eine Zeichnung in ein Geflecht visueller Zitate eingebunden, sodass Zeichenstil und Ästhetik eines Zeichners stets auch durch Arbeiten anderer Künstler beeinflusst sind. Behält man dies vor Augen, lässt sich bezüglich der Comicadaptionen von literarischen Stoffen im Sinne des französischen Ethnologen und Anthropologen Claude Lévi-Strauss von einer Form der Bastelei (bricolage) sprechen.32 LéviStrauss geht davon aus, dass die Mittel des Bastlers (bricoleur) begrenzt sind, er muss sich, um Neues zu schaffen, mit dem ihm Gegebenen arrangieren: Der Bastler ist in der Lage, eine große Anzahl verschiedenartigster Arbeiten auszuführen; doch im Unterschied zum Ingenieur macht er seine Arbeiten nicht davon abhängig, ob ihm die Rohstoffe oder Werkzeuge erreichbar sind, die je nach Projekt geplant und beschafft werden müßten: die Welt seiner Mittel ist begrenzt, und die Regel seines Spiels besteht immer darin, jederzeit mit dem, was ihm zur Hand ist, auszukommen, d.h. mit einer stets begrenzten Auswahl an Werkzeugen und Materialien, die überdies noch heterogen sind, 30 Auffällig ist auch die große Ähnlichkeit dieser Darstellungen zur MephistoFigur, wie Gustaf Gründgens (1899–1963) sie in der Inszenierung des Hamburger Schauspielhauses, die 1960 verfilmt wurde, verkörperte. 31 Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, in: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1972 (= August Buck u.a. (Hg.): Ars poetica. Texte und Studien zur Dichtungslehre und Dichtkunst, Bd. 8, Bad Homburg 1971), S. 345-375, hier S. 348. 32 Vgl. Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken, Frankfurt a.M. 1973, S. 29-36.

252 | Sebastian Tupikevics weil ihre Zusammensetzung in keinem Zusammenhang zu dem augenblicklichen Projekt steht, wie überhaupt zu keinem besonderen Projekt, sondern das zufällige Ergebnis aller sich bietenden Gelegenheiten ist, den Vorrat zu erneuern oder zu bereichern oder ihn mit den Überbleibseln von früheren Konstruktionen oder Destruktionen zu versorgen.33

Die Arbeit des Bastlers ist nicht allein auf eine physische Ebene beschränkt, sie findet sich auch auf einer intellektuellen Ebene, in Form des mythischen Denkens, wieder. Die Mittel, mit denen sich das mythische Denken ausdrückt, »deren Zusammensetzung merkwürdig ist und die, obwohl vielumfassend, begrenzt bleiben«34, stehen denen der Bastelei in nichts nach, weshalb das mythische Denken ebenfalls als eine »Art intellektueller Bastelei«35 verstanden werden muss. Ein Comicautor ist ein Bastler; er greift verschiedene Komponenten seiner Lebenswelt auf, setzt sie, so merkwürdig ihre Zusammensetzung auch sein mag, in Bezug zueinander und schafft so etwas Neues, sein Werk. Die Materialien, die er benutzt, sind die ihm zur Verfügung stehenden, d.h. sie sind Ausschnitte seiner Zeit, seiner Kultur, seines Lebens: [D]as Poetische der Bastelei kommt auch und besonders daher, daß sie sich nicht darauf beschränkt, etwas zu vollenden oder auszuführen; sie »spricht« nicht nur mit den Dingen, [...] sondern auch mittels der Dinge: indem sie durch die Auswahl, die sie zwischen begrenzten Möglichkeiten trifft, über den Charakter und das Leben ihres Urhebers Aussagen macht. Der Bastler legt, ohne sein Projekt jemals auszufüllen, immer etwas von sich hinein.36

Retrospektiv bedeutet dies, dass jeder Comic Rückschlüsse über seinen Entstehungskontext zulässt, da die zur Bastelei verwendeten Materialien stets Ausschnitte aktueller Diskursstrukturen sind. Ein Comic, der beispielsweise ein Werk Goethes verarbeitet, greift auf Aussagen zurück, die aktuell im Diskurs über Goethe und seine Werke vorhanden sind und kombiniert diese mit aus anderen aktuellen Diskursen stammenden Aussagen und schafft in der Verbindung beider Elementegruppen etwas Neues, zuvor nicht Dagewesenes.

33 Lévi-Strauss: Das wilde Denken, S. 30. 34 Lévi-Strauss: Das wilde Denken, S. 29. 35 Lévi-Strauss: Das wilde Denken, S. 29. 36 Lévi-Strauss: Das wilde Denken, S. 34f.

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B eispiel

von

Christoph Kirschs Comic Zum Sehen geboren (1999) ist ein Beispiel für eine durch und durch intertextuelle und intermediale Arbeitsweise. Als Vorlage verwendet Kirsch Goethes autobiographisches Werk Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Neben diesem greift Kirsch auf eine Vielzahl weiterer Quellen zurück, die er in die Handlung des Comics einbindet. Es finden sich neben Bezügen zu Werken, Gedichten, Briefen und Gesprächen Goethes viele Panels, die auf zeitgenössische Architektur, Kunst, Mode und Theaterkultur referieren. Betrachtet man etwa die visuelle Umsetzung des Covers, fällt auf, dass dieses sich auf Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins Gemälde Goethe in der Campagna (1787) bezieht, welches eine der wohl berühmtesten – und damit eine der diskursiv wirkungsmächtigen – Darstellungen Goethes ist.37 Zwar zeigt die Zeichnung lediglich einen Ausschnitt des Motivs und weicht in ihrer farblichen Ausgestaltung vom Original ab, das oft als erste Darstellung eines Weltbürgers wahrgenommen wurde, dies schmälert allerdings nicht den Effekt, den dieses Cover auf Goethe-Kenner hat. Jedem halbwegs bibliophilen Kenner deutscher Literatur ist diese Darstellung Goethes vertraut und so wird ihm, noch bevor er den Titel des Comics liest, klar sein, worum es geht: um Goethe. Die erste seitenfüllende Zeichnung im Inneren des Comics greift ebenso wie das Cover auf einen Höhepunkt deutscher Kunstgeschichte zurück und überträgt diesen in den Comicstil.38 Diesmal wird jedoch nicht auf ein Werk des als ›Goethe-Tischbein‹ bekannten Malers zurückgegriffen, sondern auf eins, welches dessen älterer Bruder, Johann Heinrich Tischbein, 1787 fertigte, nämlich Goethe am Fenster. Das Motiv zeigt Goethe, wie er aus dem Fenster seiner Wohnung in Rom schaut.39 In der Comicvariante der Darstellung findet sich im linken oberen Bildrand ein kursiv gedrucktes Zitat aus Goethes Gedicht An Schwager Kronos: 37 Die Wirkungsgeschichte des Gemäldes führte indes dazu, dass Johann Heinrich Wilhelm Tischbein innerhalb der Disziplin der Kunstgeschichte vielfach als ›GoetheTischbein‹ bezeichnet wird. Wohl auch nicht zuletzt deshalb, um Verwechslungen mit anderen Mitgliedern der Künstlerfamilie Tischbein zu vermeiden. 38 Dass dies nicht selbstverständlich ist, sieht man daran, dass an anderer Stelle Kunstwerke auch einfach übernommen wurden. So findet sich beispielsweise eine Darstellung des Abendmahls (1498) von Leonardo da Vinci im Comic Zum Sehen geboren (vgl. SgSb 44). 39 Tischbein der Ältere zeichnete Goethe während ihrer gemeinsamen Zeit in Rom. Dass dieses Bild Goethe in der gemeinsamen Wohnung zeigt, lässt sich in der Via del Corso Nr. 18 in Rom sehen. Hier ist jenes Zimmer, das dargestellt wird, noch heute in der ›Casa di Goethe‹ erhalten.

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»Weit, hoch, herrlich der Blick / Rings ins Leben hinein!« (SgSb 7)40. Alles, was auf dieser Seite des Comics zu sehen ist, d.h. das Bild und der Text, beruft sich auf eine Vorlage und doch ergibt sich aus der Kombination beider Elemente eine zusätzliche Sinnebene, die in den Vorlagen per se nicht vorhanden war. Das Zitat aus Goethes Gedicht An Schwager Kronos kommentiert das Motiv, welches aus Johann Heinrich Tischbeins Goethe am Fenster übernommen wurde, während das dargestellte Motiv wiederum das Zitat stützt. Während in diesem ersten Panel des Comics, das durchaus Prolog-Charakter aufweist, die Ursprünge des verwendeten Textes nicht angegeben werden, findet sich an anderer Stelle eine offenkundige Zitierweise. So beginnt die Handlung des Comics mit einem Zitat Goethes aus dem ersten Buch seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit: »Am 28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt« (SgSb 8).41 Während der Leser den Säugling in den Armen einer Hebamme sieht, kommentiert ein gewissermaßen zukünftiger Goethe – immerhin erschien der erste Band von Dichtung und Wahrheit erst 1808 – das Geschehen. Wie auch schon zuvor im Falle des intertextuellen Bezugs zu An Schwager Kronos (1774) und des intermedialen Bezugs zu Goethe am Fenster (1787) stammen die im Comic Zum Sehen geboren gezeigten Szenen aus dem Leben Goethes und die dazu ins Bild montierten Zitate aus zwei verschiedenen Zeiten. In manchen Panels des Comics fehlt gänzlich Text. Hier wurden Goethes Beschreibungen Frankfurts, die sich in Dichtung und Wahrheit finden, lediglich visuell umgesetzt: »So war es eine von unsern liebsten Promenaden, die wir uns des Jahrs ein paar mal zu verschaffen suchten, inwendig auf dem Gange der Stadtmauer herzuspazieren«42. Auffällig ist, dass die Stadtmauer, welche Goethe als Ort seiner Handlung beschreibt, in Dichtung und Wahrheit nicht detailliert beschrieben wird. Die im Panel gezeigte Mauer hat jedoch eine starke Ähnlichkeit zur Staufenmauer, einem Teil der alten Stadtmauer Frankfurts (vgl. Abb. 3).43 Offensichtlich 40 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: An Schwager Kronos, in: ders.: Gedichte 1756-1799 (= ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche in vierzig Bänden, Bd. I,1, hg. von Karl Eibl), Frankfurt a.M. 1987, S. 202 und S. 325. 41 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (= ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche in vierzig Bänden, Bd. I,14, hg. von Klaus-Detlef Müller), Frankfurt a.M. 2007, S. 15. 42 Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, S. 24. 43 Vgl. Abb. 3 rechts: Staufenmauer in der Altstadt von Frankfurt am Main, Ausschnitt einer Fotogafie von Mylius, lizenziert unter CreativeCommons-Lizenz by-sa-2.0-de, http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Frankfurt_Am_Main-StadtbefestigungStaufenmauer-Gegenwart.jpg (zuletzt abgerufen am 28. Oktober 2014).

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Abb. 3: links: Kirsch: SgSb, S. 11; rechts: zwei Fotographien Frankfurts.

orientierte sich der Zeichner, während er Goethes Text visuell umsetzte, an dieser heute noch erhaltenen Stadtmauer. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Frankfurter Römer, welcher seit dem 15. Jahrhundert als Rathaus der Stadt genutzt wird und ebenso in Zum Sehen geboren vorkommt. Während der junge Goethe durch die Stadt läuft und auf dem Marktplatz einen Korb mit Äpfeln umwirft, ist im Hintergrund der Frankfurter Römer zu sehen. Der Zeichner hat sich offensichtlich nicht an der heutigen Fassade, sondern an älteren Darstellungen des Römers orientiert.44 Die neogotische Fassade sowie der Balkon, die beide erst nach dem Umbau des Römers im Jahr 1900 angebaut wurden, fehlen in der graphischen Umsetzung. Es ist also versucht worden, den Römer möglichst nah an seine Ausgestaltung zu Goethes Lebzeiten anzulegen. Ebenso zeitgemäß werden in Zum Sehen geboren Texte anderer Autoren zitiert, die Goethe bekannt waren. Während der Comic im Allgemeinen auf Goethes Dichtung und Wahrheit zurückgreift, enthält der Comic vielfach kleinere Passagen, die Bezüge zu Werken anderer Autoren aufweisen. Auffällig oft handelt es sich hierbei um Theaterstücke. So findet sich neben Bezügen auf französische Lustspiele (vgl. SgSb 11)45 auch ein Bezug zu Gotthold Ephraim Lessings Lustspiel Minna von Barnhelm (1767), welches Goethe im siebten Buch des zweiten Teils von Dichtung und Wahrheit erwähnt.46 Auch wenn im Comic wörtlich aus diesem zitiert wird, wurde der Text jedoch massiv gekürzt. Während Lessings Minna von Barnhelm im Comic aufgegriffen wird, wird ein anderes Stück Lessings unterschlagen: Das bürgerliche Trauerspiel Emilia Galotti 44 Vgl. Abb 3 rechts: Fotographie des Frankfurter Römers, um 1900. Library of Congress, Prints & Photographs Division, Photochrom Collection, LC-DIG-ppmsca-00389, http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Römer_vor_1900,_Frankfurt.jpg (zuletzt abgerufen am 28. Oktober 2014). 45 Vgl. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, S. 102f. 46 Vgl. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. S. 307f.

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(1772). Es fehlt in jener Szene des Comics, die sich auf Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774) bezieht (vgl. SgSb 25). Während das Bild in vielen Aspekten mit der Beschreibung dieser Szene in Die Leiden des jungen Werthers übereinstimmt, fehlt das aufgeschlagene Buch Emilia Galotti auf dem Pult Werthers, heißt es doch im Text des Werther: »Emilia Galotti lag auf dem Pulte aufgeschlagen.«47 Andere Details wurden bei der Anfertigung des Bildes jedoch beachtet: So setzt Werther die Pistole »[ü]ber dem rechten Auge« an, findet sich »sitzend vor dem Schreibtische« in »völliger Kleidung, gestiefelt, im blauen Frack mit gelber Weste« wieder, während auf dem Schreibtisch eine Flasche Wein steht, von der er »nur ein Glas getrunken«48 hat. In einer Denkblase sind die letzten Worte Werthers, die er in seinem letzten Brief an Lotte schrieb, in leicht abgewandelter Form zu lesen. So heißt es im Comic orthographisch leicht variiert sowie bezüglich eines Wortes umformuliert: »Sie ist geladen. Es schlägt zwölfe! So sei es denn! – Lotte! Lotte, lebe wohl! Lebe wohl!« (SgSb 25)49 Auch das folgende Panel stimmt mit den Schilderungen des Briefromans überein: Der tote Werther wird von Handwerkern ohne Begleitung eines Geistlichen aus dem Haus getragen.50 Neben dem Briefroman Die Leiden des jungen Werthers wird auch auf Goethes persönliche Korrespondenz zurückgegriffen, um Textelemente zum Comic beizusteuern. Es wird beispielsweise aus einem Brief zitiert, den Goethe am 12. Oktober 1765 an seine Schwester Cornelia schrieb. Während Goethe im Bild schreibend dargestellt wird, gibt der Text des Briefes in einer Sprechblase folgendes wieder: »Wenn du mich jetzt in meiner Stube sehen könntest, du würdest erstaunt ausrufen: So ordentlich, Bruder!« (SgSb 14). Auch hier wird wie bereits an anderer Stelle Orthographie und Wortwahl dem heutigen Sprachgebrauch angepasst. Im Original lautet der Text des Briefes indes: Was würde der König von Holland sagen, wenn er mich in dieser Positur sehen sollte? Rief Herr von Bramarbas aus. Und ich hätte fast Lust auszurufen: Was würdest du sagen 47 Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers, in: ders.: Die Leiden des jungen Werthers. Die Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Epen. (= ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche in vierzig Bänden, Bd. I,8, hg. von Waltraud Wiethölter in Zusammenarbeit mit Christoph Brecht), Frankfurt a.M. 1994, S. 265. 48 Goethe: Die Leiden des jungen Werthers, S. 265. 49 Im Briefroman lautet die Formulierung hingegen: »Sie sind geladen – Es schlägt zwölfe! So sey es denn! – Lotte! Lotte lebe wohl! lebe wohl!« (vgl. Goethe: Die Leiden des jungen Werthers, S. 265) 50 »Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.« (Goethe: Die Leiden des jungen Werthers, S. 267).

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Schwestergen; wenn du mich, in meiner jetzigen Stube sehen solltest? Du würdest astonishd ausrufen: So ordentlich! So ordentlich Bruder!51

Christoph Kirschs Comic Zum Sehen geboren (1999) – »im gefälligen Kinderbilderbuchstil gezeichnet – präsentiert einen rokokohaft-verspielten, gänzlich unabgründigen Goethe«52 und verfolgt mit seiner stark ausgeprägten intertextuellen Arbeitsweise trotz einiger orthographischer Veränderungen generell ein didaktisches Ziel. Der Comic will das Leben und Werk Goethes präsentieren und Lust auf eine weiterführende Lektüre machen. Dass Goethe aus diesem Grund gerade mit seinem literarischen Werk verknüpft wird, schlägt sich auch in den am unteren Seitenrand stehenden Kapitelüberschriften nieder. So finden sich hier etwa Einträge wie »Frankfurt und Götz« (SgSb 22f.), »Lottes Werther« (SgSb 24f.), »Sturm und Drang« (SgSb 26f.) und »Theater« (SgSb 36f.). Die Biographie des Zeichners Christoph Kirsch, der sich bisher durch seine pädagogischen Arbeiten wie Lernabenteuer – Deutsch 3. Klasse: Bei den Piraten (2011) und 1. Klasse Leseanfänger: Das Geheimnis der Bonbon-Bande (2013) einen Namen gemacht hat, unterstreicht das didaktische Motiv des Comics zusätzlich. Durch die vielfach eingeflochtenen Bezüge zu literarischen Werken Goethes und seinen wirkungsmächtigsten Zeitgenossen, sowohl auf der Bild- als auch auf der Textebene, wird das Leben Goethes insbesondere im Kontext zeitgenössischer Literatur- und Kulturdiskurse dargestellt. Gerade heute als kanonisch angesehene Texte und Bilder wurden für die in diesem Comic betriebene ›Bastelei‹ verwendet; auf heute weitgehend unbekannte Werke, die allerdings zur Zeit Goethes eine wichtige Rolle spielten, wird kaum Bezug genommen.53

51 Johann Wolfgang Goethe: Von Frankfurt nach Weimar. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 23. Mai 1764 bis 30. Oktober 1775 (= ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche in vierzig Bänden, Bd. II,1, hg. von Wilhelm Große), Frankfurt a.M. 1997, S. 15 (Brief vom 12. Oktober 1765 an Cornelia Goethe). 52 Schmitz-Emans: Literatur-Comics, S. 304. 53 So finden sich zu den in Goethes Bibliothek vorhandenen Titeln, die in der Goethezeit generell und insbesondere für Goethe und seine literarische Arbeit von unschätzbarer Bedeutung waren, kaum Bezüge (vgl. Hans Ruppert: Goethes Bibliothek. Katalog, Leipzig 1978).

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B ezüge zu aktuellen D iskursen am B eispiel F aust . D er T ragödie erster T eil

von

F lix ’

Während Christoph Kirsch seine Comicadaption von Dichtung und Wahrheit im diesen Text umlagernden Diskursfeld einbettet, wählt der Comiczeichner und Cartoonist Felix Görmann – besser bekannt unter seinem Pseudonym Flix – einen anderen Zugang. Er greift bei seiner Adaption von Faust – Der Tragödie erster Teil lose auf den Text der Goethe’schen Vorlage zurück und entwirft vor dem Hintergrund aktueller Gesellschaftsdiskurse eine stark abgewandelte Version des bekannten Dramas. Nachdem sich Flix bereits 1998 in seinem ersten professionellen Comic Who the fuck is Faust? spielerisch mit der Goethe’schen Tragödie auseinandersetzte, näherte er sich im Jahr 2009 erneut dem Faust-Stoff und zeichnete über einen Zeitraum von fünf Monaten für die Frankfurter Allgemeine Zeitung den Fortsetzungscomic Faust – Der Tragödie erster Teil. Ein Jahr später veröffentlichte schließlich der Carlsen Verlag eine als Hardcover mit Fadenheftung gebundene Ausgabe des leicht überarbeiteten und ergänzten Comics im Format 17,5×24,5cm. Trotz des Größenunterschiedes erinnert der Comicband rein äußerlich an die »weltweit älteste Taschenbuchreihe«54, die Universal-Bibliothek des Reclam Verlages. Sowohl die gelbe Farbgestaltung als auch das Layout von Vorder- und Rückdeckel des Comicbandes sind als Bezug zu klassischerweise in schulischen und universitären Kontexten gebrauchten Reclamheften zu verstehen. Flix verlegt in seiner Faust-Adaption den Schauplatz der Tragödie kurzerhand in die Moderne: Mephistopheles, nun kurz ›Meph‹ genannt, wettet mit einem Anzug und Krawatte tragenden Gott um zwei Kisten Ramazotti, dass er es innerhalb eines Jahres schafft, einen zufälligen Anhänger Gottes vom rechten Weg abzubringen. Die Anthropomorphisierung Gottes sowie die Darstellung des Himmels als Großraumbüro, in dem neben vielen kleinen mit Headset ausgestatteten Engeln Mohammed und Buddha arbeiten, steht in einem krassen Gegensatz zu herkömmlichen Darstellungen des Himmels.55 Nach Flix’ Version des Prologes im Himmel folgt ein kurzer von Andreas Platthaus geschriebener Text, der sich insbesondere mit der Machart des ihn umgebenden Comics auseinandersetzt und feststellt, dass Flix’ Version des Faust wohl eher

54 Ingrid Sonntag: ›Eine einzigartige Bibliothek der Weltliteratur‹. Reclams UniversalBibliothek im Leipziger Reclam-Verlag 1945-1990. Online einsehbar unter: http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4594 (letzter Zugriff am 23. September 2014). 55 Selbst in Falk Nordmanns stark avantgardistischem Comic Faust – Der Tragödie erster Teil (1996) findet sich eine eher klassische Darstellung.

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mit dem Begriff der »Inzesttextualität« denn mit dem Begriff der »Intertextualität«56 begegnet werden sollte. Im Anschluss an Platthaus’ kurze Bemerkungen, die aufgrund ihrer Textform stilistisch mit dem Rest des Comicbandes brechen, folgt schließlich eine Comicgeschichte, die wie bereits der Prolog im Himmel lose auf Goethes Faust zurückgreift: Der Berliner Langzeitstudent Heinrich Faust, der seinen Lebensunterhalt als Taxifahrer bestreitet und mit seinem dunkelhäutigen im Rollstuhl sitzenden Mitbewohner, Wagner, dauerhaft streitet, wird von Meph auf der Erde besucht, der von ihm seine Seele verlangt, sollte er es schaffen, Faust innerhalb von einer Woche seinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen. Heinrich, der sich kurz zuvor in die türkischstämmige Margarethe verliebt hat, geht auf Mephs Angebot ein, und nach einer Vielzahl von in einem Debakel endenden Versuchen Mephs, beide miteinander zu verkuppeln, werden sie schließlich durch einen Eingriff Gottes von einem Blitz erschlagen und gelangen ins Jenseits, wo sie über gesellschaftliche Hürden hinweg auf ewig zusammensein können. Die wenigen wörtlichen Übernahmen des Comics sind, anders als dies bei Christoph Kirschs Zum Sehen geboren der Fall war, in den meisten Fällen nicht durch Anführungszeichen gekennzeichnet. In Flix’ Faust sind kleinere Zitate ohne Markierung in die Dialoge eingebaut und werden trotz ihres hervorstechenden Duktus oft nicht näher von den Dialogpartnern thematisiert. Eine der wenigen Ausnahmen bildet eine kurze Szene, in der Meph Faust davon abhalten will, einen aus seiner Sicht schlechten ›Opener‹ anzuwenden, der allerdings wörtlich – und an dieser Stelle auch noch gewissermaßen durch Anführungsstriche markiert – aus Goethes Faust übernommen ist. So sagt Faust »W-Weiss nicht... Vielleicht: ›Schönes Fräulein, darf ich wagen, meinen Arm und Geleit ihr anzutragen.‹« (F 58). Neben den Übernahmen aus Goethes Faust finden sich an verschiedenen Stellen des Comics Bezüge zu aktuellen Elementen der Popkultur. So werden berühmte Persönlichkeiten wie der US-amerikanische Country-Sänger Johnny Cash (vgl. F 29f.) und die Moderatorin Margarethe Schreinemakers (vgl. F 40) im Comic

Abb. 4: links: Flix: Faust, S. 43; rechts: The Jungle Book (1967, Regie: Wolfgang Reitherman). 56 Andreas Platthaus: Faust verflixt, in: F 12f., hier 13.

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erwähnt, und der US-amerikanische Choreograph Bruce Darnell (vgl. F 46), der in Deutschland vor allem durch seine Arbeit als Jurymitglied für die Fernsehsendungen Germany’s Next Topmodel, Das Supertalent und Deutschland sucht den Superstar bekannt ist, sogar zeichnerisch umgesetzt. Weitere im Comic vorhandene Bezüge zu aktuellen Diskursen betreffen Firmen- und Markennamen wie etwa Google Earth (vgl. F 9), Skype (vgl. F 47), Aspirin (vgl. F 21) und Ramazotti (vgl. F 7). Außerdem wird verschiedentlich auf andere Comics und Zeichentrickfilme visuell Bezug genommen. So findet sich etwa eine Szene, in der Meph Faust metaphorisch einwickelt, die mit Disneys Zeichentrickfilm Das Dschungelbuch (The Jungle Book, 1967) analogisiert wird: Mit der Übernahme von Elementen aktueller Diskurse generiert Flix’ FaustAdaption gegenüber dem Ursprungstext neue Aussagen, die im Ursprungswerk nicht vorhanden waren. So ist der Langzeitstudent Faust im Gegensatz zum Goethe’schen Vorbild des Universitätsprofessors Fausts als bissiger Kommentar auf das bundesdeutsche Bildungssystem zu verstehen. Während in Goethes Faust die Verjüngung des Protagonisten durch einen Zaubertrank bewirkt, also per se in einem magischen Zusammenhang präsentiert wird, findet in Flix’ Werk die vermeintliche Transformation Fausts profan in einer Modeboutique statt. Faust zahlt 5000 Euro für einen schwarzen Pullover, kommentiert den überzogenen Preis mit den Worten »Wie kommen die auf solche Preise [...] Unsinn!« (F 47) und fühlt sich sichtlich unwohl. Kritik an horrenden Summen, die von der Modeindustrie für alltägliche Waren verlangt werden, braucht man hier nicht lange zu suchen. Bekannte Elemente der Handlung des Faust werden von Flix aufgegriffen und mit zur Entstehungszeit des Comics aktuellen Gesellschaftsdiskursen in Verbindung gebracht, wodurch einerseits völlig neue Aussagen generiert werden, andererseits im Goethe’schen Werk vorhandene Aussagen aktualisiert werden. Betrachtet man etwa in Flix’ Comic die Figur der Margarethe, die auf Goethes Figur der ›Gretchen‹ genannten Margarete basiert, wird deutlich, dass vor dem Hintergrund aktueller Gesellschaftsdiskurse, in diesem Fall dem der deutschen Migrationsstruktur, Aussagen aus Goethes Faust zeitgemäß verarbeitet werden. So ist die im Comic agierende Margarethe die Tochter von türkischen Migranten und wurde von ihrem Vater nach der in den 1990er Jahren erfolgreichen deutschen Fernsehmoderatorin ›Margarethe Schreinemakers‹ benannt.57 Flix passt das religiös-konservative Verhalten von Gretchens Mutter, das sich im zur Zeit des ausgehenden Mittelalters spielenden Faust findet, an aktuelle Gesellschaftsdiskurse an. Margarethes Mutter ist eine kopftuchtragende konservative Türkin, die insbesondere aufgrund der aus ihrer Sicht mangelnden Religiosität Heinrichs gegen die Beziehung von Margarethe und Heinrich agiert. Durch die 57 Vgl. hierzu den Beitrag von Mara Stuhlfauth-Trabert in diesem Band.

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Übertragung der Mutter und Margarethes in die Rolle türkischstämmiger Migranten hat Flix den religiösen Kontext des Faust aktualisiert und erweitert die eigentliche Handlung gleichzeitig um neue Elemente, namentlich um den Islam.

F azit Literaturcomics sind Teil einer lebendigen Rezeptionskultur. Sie führen nicht wie ihnen noch in den 1950er Jahren vorgeworfen wurde zu ›Analphabetentum‹ und ›Bildidiotismus‹,58 sondern ganz im Gegenteil: Sie verknüpfen auf geniale Weise Elemente ihrer Vorlage mit verschiedenen Diskursen und machen so nicht nur Lust auf eine weiterführende Lektüre, sondern sie bieten außerdem noch neue Wege zum Verständnis der adaptierten Werke an. Im Sinne Roland Barthes muss die Bastelei als strukturalistische Tätigkeit bezeichnet werden, denn mit ihr werden die Funktionsprinzipien der verwendeten Materialien, seien sie nun latent oder manifest, aufgedeckt: Das Ziel jeder strukturalistischen Tätigkeit, sei sie nun reflexiv oder poetisch, besteht darin, ein ›Objekt‹ derart zu rekonstituieren, daß in dieser Rekonstitution zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert (welches seine ›Funktionen‹ sind). Die Struktur ist in Wahrheit also nur ein simulacrum des Objektes, aber ein gezieltes, ›interessiertes‹ Simulacrum, da das imitierte Objekt etwas zum Vorschein bringt, das im natürlichen Objekt unsichtbar oder, wenn man lieber will, unverständlich blieb.59

Das neu entstandene Objekt, das aus der Kombination vorhandener Objekte besteht, vermag mehr über die Funktionsweisen auszusagen als das Material, aus dem es zusammengesetzt wurde. Das Produkt der Kombination ist kein »originalgetreuer ›Abdruck‹ der Welt, sondern wirkliche Erzeugung einer Welt, die der ersten ähnelt, sie aber nicht kopiert, sondern verständlich machen will«60. Dass die Bastelei, der eine intertextuelle Arbeitsweise zugrunde liegt, insbesondere von Comicautoren betrieben wird, die sich mit dem literarischen Werk eines Autors auseinandersetzen, verwundert nicht, ist doch gerade das hybride Medium Comic prädestiniert für einen solchen künstlerischen Dialog. Die untersuchten Comicadaptionen von Werken Goethes haben dies verdeutlicht, wenngleich jeweils ein anderer Zugang gewählt wurde. Christoph Kirschs Zum Sehen 58 Dietrich Grünewald: Comics, Tübingen 2000, S. 77. 59 Roland Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit, in: Dorothee Kimmich u.a. (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart 2008, S. 214-222, hier S. 216. 60 Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit, S. 217.

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geboren siedelt Goethes Werk im ihn umlagernden Diskursfeld an und verfolgt durch Querverbindungen zu anderen Werken Goethes und seiner Zeitgenossen eine autorbezogene, biographische Sicht auf das adaptierte Werk. Demgegenüber löst sich Flix in seiner Adaption stärker von seiner Vorlage und dem umgebenden Diskursfeld und schafft so nicht nur Aussagen, die im Ursprungswerk nicht vorhanden sind, sondern auch einen modernen Blick auf die alt bekannte Handlung des Faust.

Comics im Mittelalter – Mittelalter in Comics. Zur Verbildlichung des Sagenstoffs von Dietrich von Bern S venja F ahr

Während Ole Frahm 2002 noch konstatierte, dass trotz zunehmender Akzeptanz eine Comicwissenschaft nicht existiere,1 ist diese Einschätzung mittlerweile nicht mehr zutreffend. Besonders der angloamerikanische Raum kann hier als Vorbild fungieren, gab es dort doch in den letzten Jahren eine Reihe von Publikationen, die sich intensiv mit dem Genre ›Comic‹ auseinandersetzten, es hinsichtlich der Gestaltungsmöglichkeiten und der immer wieder proklamierten Sonderstellung zwischen Kunst und Literatur untersuchten.2 Aber auch in Deutschland lässt sich eine Veränderung feststellen, vor allem an der Schnittstelle zwischen Literatur- und Medienwissenschaft erweist sich diese Kunstform auch hier als ergiebiges Feld für Untersuchungen.3 Dies ist der Grundkonzeption geschuldet, denn Comics, so lässt es sich beispielsweise im Brockhaus nachlesen, sind normativ gesagt »gezeichnete, oftmals farbige Bilderfolge[n], meist mit einem festen Figureninventar und mit ins Bild integrierten Texten in Sprechblasen«4. Während 1 Ole Frahm: Weird Signs. Zur parodistischen Ästhetik der Comics, in: Michael Hein u.a. (Hg.): Ästhetik des Comic, Berlin 2002, S. 201-216, hier S. 201. 2 Vgl. beispielsweise Hazel Roca Mella: Comics to Film (and Back Again): A Study in Stylistic Remediation from 1978-2009, Los Angeles 2012; Frederick Luis Aldama: Comics, New York 2013. 3 Vgl. beispielsweise Monika Schmitz-Emans: Literatur-Comics. Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur, Berlin/Boston 2012; Roland Jost (Hg.): Comics und Computerspiele im Deutschunterricht. Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Aspekte, Baltmannsweiler 2011. 4 Comic, in: Brockhaus. Enzyklopädie in 30 Bänden, Bd. 6, 21. völlig neu bearb. Aufl., Leipzig/Mannheim 2005, S. 5-8, hier S. 5.

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dort zwischen Bildgeschichten und Comics aufgrund der Integration oder Abgrenzung von Text und Bild eine klare Genregrenze gezogen wird, sind die meisten Definitionen von Comics viel offener. Am weitesten geht vielleicht Scott McCloud, der Comics als »[z]u räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere Zeichen, die Informationen vermitteln und/oder eine ästhetische Wirkung beim Betrachter erzeugen sollen« definiert und damit eine sehr offene Kategorisierung vornimmt.5 Betont wird stets die Verbindung von Text und Bild in einer seriellen Sequenz, wodurch Comics sowohl für Literatur- als auch Medienwissenschaftler interessant werden. Dieser Beitrag wird die Überlegungen der Neuen Literatur- und Medienwissenschaft um eine historische Perspektive erweitern und zeigen, dass ein moderner Comic aus dem Jahr 2010 in seiner Darstellungsweise Analogien mit einer seriell illustrierten mittelalterlichen Handschrift aufweist. Beide Bildgeschichten verhandeln dabei denselben Stoff: die Geschichte Sigenots aus dem Kreis der Dietrichepik. Der Codex Palatinus Germanicus 67 (Cpg 67)6 ist im späten 15. Jahrhundert entstanden und nimmt durch seine Konzeption und die damit einhergehende reiche Bebilderung eine Sonderstellung innerhalb der Handschriftenund Druckkultur ein. Der neuzeitliche Dietrich von Bern-Comic indes ist durch gattungstypische Konstanten geprägt. Beide Bearbeitungen erzählen die gleiche Geschichte, unterscheiden sich jedoch auch kategorial durch zeitlich begründete Voraussetzungen. In den folgenden Überlegungen wird zunächst vom Stoff, also der histoire, ausgegangen, der sich thematisch mit Dietrich von Bern auseinandersetzt und sich vom Mittelalter bis heute tradiert hat. Auch in der Darstellungsweise gibt es dabei zeitlich konstante Übereinstimmungen, weshalb zwei Bildergeschichten, die diesen Stoffkreis verhandeln, gegenübergestellt werden sollen. Während der Cpg 67 aus dem späten Mittelalter stammt, stark illuminiert ist und ausschließlich die Geschichte des Jüngeren Sigenot überliefert, stellt die Adaptation von Wiechmann7 eine moderne Umsetzung aus dem Jahr 2010 dar, die neben der Geschichte um den Jüngeren Sigenot auch andere Erzählungen über Dietrich verhandelt. Wiechmanns Fassung lässt sich als Comic kategorisieren, doch darüber hinaus soll das 5 Scott McCloud: Comics richtig lesen, 4. Aufl., Hamburg 1997, S. 17. 6 Der jüngere Sigenot, Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 67, in der HenfflinWerkstatt in Stuttgart um 1470 entstanden (vgl. http://www.handschriftencensus. de/4200, letzter Zugriff am 7. Mai 2014; als Digitalisat verfügbar unter http://digi. ub.uni-heidelberg.de/cpg67, letzter Zugriff am 7. Mai 2014). 7 Peter Wiechmann/José Rafael Méndez Méndez: Dietrich von Bern. Bd. 1: Weit trägt der Ruf des ersten Ruhms, hg. von Andreas Mergenthaler, Freiburg 2010; im Folgenden zitiert mit der Sigle DBC und Seitenzahl.

Comics im Mittelalter - Mittelalter im Comic: Dietrich von Bern | 265

Analyseinstrumentarium der Comicforschung nicht nur für ebendiesen Comic, sondern auch für die mittelalterliche Handschrift fruchtbar gemacht werden. Besonders anschaulich sind die Überlegungen von Scott McCloud, der nicht nur versucht, eine Definition zu finden, sondern den Weg dorthin in einem Comic darstellt. Seine sehr weit gefasste Definition zählt konsequenterweise auch ägyptische Grabmalereien zu Comics,8 da er auf den sequentiellen Fortlauf von Bildern einen sehr starken Fokus legt. Die Verschränkung von Wort und Bild als konstituierend anzusehen, negiert er, da diese die Definition eines Comics seiner Meinung nach zu stark einschränke.9 Im Kontrast dazu steht beispielsweise Andreas Platthaus’ Definition aus dem Handbuch Populäre Kultur,10 die genau diese Kombination von Text und Bild als besonders wichtig erachtet. Aus dieser Definition werden ganz explizit »mittelalterliche Bildprogramme in Kirchen oder illuminierte Handschriften«11 ausgeschlossen. Die Ineinanderverzahnung, die Integration von Text und Bild, ist damit für Platthaus die entscheidende Komponente. Auch Knigge geht von der »Sprechblase als typisches Gattungsmerkmal«12 aus, stellt jedoch auch fest, dass es bis zu deren Durchsetzung üblich war, »den Text unter den einzelnen Bildern [zu platzieren]«13. McCloud zählt diese Möglichkeit einer fehlenden Integration von Text in Bildern als Form des Comics ebenfalls auf, macht jedoch auch deutlich: »Die wohl gebräuchlichste Art der Text-Bild-Verbindung ist die korrelative, bei der Wort und Bild sich gegenseitig zur Hand gehen, um eine Idee zu vermitteln, die jedes Ausdrucksmittel allein nicht artikulieren könnte.«14 Damit beschreibt er die typische Form des Comics, lässt jedoch auch andere Möglichkeiten zu. Verbindung schaffen dabei nicht Text und Bild allein, da sie häufig durch einen Rinnstein, also dem »Spalt zwischen den Panels«getrennt werden, sondern auch die Vorstellungskraft des Rezipienten, der die vorhandene Leerstelle füllen muss. Will Eisner generalisiert die Überlegungen für die Text-Bild-Kombination und unterscheidet zwischen Illustrationen und Visualisierungen, wobei Illustrationen eine Wiederholung des Textes im Bild sind und damit nicht über das Erzählte hinausgehen. Visualisierungen sind demnach weitreichender. Sie können 8 Vgl. McCloud: Comics richtig lesen, S. 21-23. 9 Vgl. McCloud: Comics richtig lesen, S. 29. 10 Andreas Platthaus: Comic, in: Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, hg. von Hans-Otto Hügel, Stuttgart/Weimar 2003, S. 142-146. 11 Andreas Platthaus: Comic, S. 143. 12 Andreas C. Knigge: Zeichen-Welten. Der Kosmos der Comics, in: Comics, Mangas, Graphic Novels, hg. von Heinz Ludwig Arnold und Andreas C. Knigge, München 2009 (= Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband), S. 9. 13 Knigge: Zeichen-Welten, S. 9. 14 McCloud: Comics richtig lesen, S. 163.

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den Text ergänzen oder sogar gänzlich ersetzen und somit die Handlung fortführen.15 In der Handschrift Cpg67 liegt zumeist eine Illustration vor, wobei Text und Bild eine Verbindung eingehen und somit das Analyseinstrumentarium der Comicforschung für die Handschrift auf ihre Anwendbarkeit geprüft werden soll.

D er S toffkreis Dietrich von Bern ist nicht nur eine Figur aus dem Nibelungenlied, sondern auch in einem größeren Sagenkreis verortet, den die Forschung in die ›aventiurehafte‹ und die ›historische‹ Dietrichepik einteilt. Während sich die Texte der ›historischen‹ Dietrichepik »als Werke über geschichtlich verbürgte Begebenheiten aus[geben]«16, steht bei der ›aventiurehaften‹ Dietrichepik das Heroische im Zentrum und führt den Rezipienten in das Reich der Fabelwesen – Dietrich kämpft gegen Riesen, Zwerge und Drachen, an seiner Seite ist dabei stets sein Waffenmeister Hildebrand, der mit ihm gemeinsam dieses Reich bereist.17 Das Erzählte löst sich in beiden Fällen bald von den ursprünglich historischen Wurzeln, die bei dem Ostgotenkönig Theoderich dem Großen (453-526) liegen18 – Dietrich wird zu einer literarischen Figur. Der im Jahr 2010 entstandene Comic Dietrich von Bern, dessen Text von Peter Wiechmann und dessen Zeichnungen von José Rafael Méndez Méndez stammen, erzählt von dem ›aventiurehaften‹ Stoffkreis um Dietrich von Bern. Die Untersuchung betrachtet ausschließlich den ersten Handlungsabschnitt des Comics, in dem Dietrich gegen den Riesen Sigenot kämpft, da dieser mit der Erzählung in Cpg 67 korrespondiert. Dietrich wird dem Rezipienten als Kind vorgestellt und seine Jugendgeschichte erzählt. Als er ins Mannesalter kommt, erzählt Hildebrand Dietrich von einem Riesen namens Sigenot, gegen den Dietrich trotz der Warnung seines Waffenmeisters vor der gewaltigen Kraft des Gegners kämpfen möchte. Auf dem Weg begegnen sie zunächst zwei weiteren Riesen, gegen die Dietrich 15 Jakob F. Dittmar: Comic-Analyse, Konstanz 2008, S. 46f. 16 Victor Millet: Germanische Heldendichtung im Mittelalter. Eine Einführung, Berlin/New

York 2008, S. 400. Zur Begriffsproblematik und zur Differenzierung in ›historische‹ und ›aventiurehafte‹ Dietrichepik vgl. auch Joachim Heinzle: Mittelhochdeutsche Dietrichepik.

Untersuchungen zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung, Zürich/München 1978, S. 9-13; Elisabeth Lienert: Die ›historische

Dietrichepik‹. Untersuchungen zu Dietrichs Flucht, Rabenschlacht und Alpharts Tod, Berlin/New York 2010, bes. S. 1-17.

17 Vgl. Victor Millet: Germanische Heldendichtung im Mittelalter, S. 332. 18 Vgl. Elisabeth Lienert: Die ›historische Dietrichepik‹, S. 26f.

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erfolgreich kämpft, bevor er auf sich allein gestellt Sigenot findet – von diesem jedoch besiegt und in eine Grube geworfen wird. Nun folgt die Geschichte Hildebrand, der seinen Schützling sucht, im Kampf gegen Sigenot zunächst beinahe unterliegt, dann jedoch in Anbetracht der Not Dietrichs seine Kraft bündeln und den Riesen töten kann. Gemeinsam mit Dietrich kehrt er zurück nach Bern. Anders als es der Titel des Comics Dietrich von Bern zu vermuten lässt, ist Dietrich in diesem ersten Abschnitt nicht der Held der Geschichte, sondern muss von Hildebrand gerettet werden. Dabei wird von Anfang an darauf hingearbeitet, Dietrich als außergewöhnliche Figur darzustellen, bereits als Kind trägt er ein Schwert und seine Wildheit wird betont. So heißt es: »Dietrich misst vom ersten Atemzug an seine Kräfte an Hindernissen, Unbekanntem und Herausforderungen. Nichts hält seinem ungebärdigen Willen stand…« (DBC 10) (vgl. Abb.1) Der Rezipient wird also auf das Geschehen vorbereitet, wobei davon ausgegangen wird, dass ihm der Sagenkreis um Dietrich unbekannt ist – eine entscheidende Differenz zum mittelalterlichen Publikum, dem die Geschichte um den kämpfenden Dietrich geläufig war.19

Abb. 1: Wiechmann/Méndez: Dietrich von Bern, S. 10. 19 Es gab im Mittelalter durchaus Zyklenbildungen, die die komplette Geschichte Dietrichs darstellen – so beispielsweise das ›Straßburger Heldenbuch‹, das den Heldengeschichten noch eine Schöpfungsgeschichte der Riesen, Zwerge und Drachen vorschaltet –, allerdings wird an den Einzelüberlieferungen deutlich, dass eine alleinige Überlieferung bestimmter Episoden möglich war und ein Verständnis nicht negierte.

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In der Handschrift wird dementsprechend diese Kindheitsgeschichte Dietrichs ausgelassen, die Handlung beginnt mit dem Gespräch zwischen Dietrich und Hildebrand, das den Aufbruch des jungen Mannes zum Kampf gegen Sigenot initiiert: »Do der von bern und hiltbrant saß, / Vnd ſy baid gunden reden das / Wie ſy hetten gestritten / Mit jr ellenthafften hand«20 (DB 0008). Auf der zugehörigen Illumination sind zwei, auf einer steinernen Bank sitzende Männer gezeigt. Gestenreich scheint dabei der ältere, rechts sitzende Mann dem jüngeren etwas zu erzählen: Hildebrand berichtet Dietrich von dem unglaublich starken Riesen Sigenot, sodass in Dietrich der Wunsch geweckt wird, auszuziehen und gegen ihn zu kämpfen. Anders als im Comic begegnet Dietrich zunächst einem wilden Mann, aus dessen Gewalt er einen Zwerg befreit, bevor er auf Sigenot trifft. Ebenso wie bei Wiechmann benötigt er die Unterstützung Hildebrands, da er den Riesen nicht besiegen kann.

A nalogien

und

D ifferenzen

Die Analogien in der histoire liegen in der identischen Stoffwahl, Differenzen hingegen lassen sich durch die unterschiedliche Entstehungszeiten und damit einhergehenden differierenden Rezipientenanforderungen erklären. Dieses Ergebnis soll nun hinsichtlich seiner Relevanz für die Ebene des discours untersucht werden. Die grundsätzliche Gestaltung der beiden Fassungen lässt sich durch den Begriff der ›Bildgeschichten‹ beschreiben: Texte werden von Bildern begleitet. Dabei ist der Wiechmann-Comic in Stil und Darstellungsweise explizit an die Comics um Prinz Eisenherz angelehnt, es heißt dementsprechend auch im Vorwort, dass er »unübersehbar […] vom Fosterschen Eisenherz beeindruckt war«21. Dieser 1937 entstandene Comic zeichnet sich formal durch eine stets regelmäßige Anordnung der rechteckigen Panels aus, die bei geringfügiger Abweichung mit leseanweisenden Nummerierungen versehen werden.22 Durch die Darstellung des 20 Dieses und alle folgenden Zitate sind eigenständig angefertigte Transkriptionen aus Cpg 67, wobei Superskripte stillschweigend aufgelöst werden und Textdurchstreichungen gänzlich entfernt werden. Zum vereinfachten Wiederauffinden der Textstellen wird gänzlich auf die gängige Verwendung der Folioangabe verzichtet und stattdessen die Zählung der UB Heidelberg verwendet – bezugnehmend auf folgendes Dokument: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg67 (letzter Zugriff am 07. Mai 2014); im Folgenden zitiert mit der Sigle DB und Seitenzahl. 21 Christof Ruoss: Vorwort, in: Wiechmann/Méndez Méndez: Dietrich von Bern, S. 3. 22 Vgl. Harold Rudolph Foster: Prinz Eisenherz, Bd. 1: Der Prinz von Thun, Hamburg 1987, S. 18.

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Textes en bloque entsteht eine Trennung von Bild und Schrift, der Comic erzählt gänzlich ohne den Einsatz von Sprech- oder Gedankenblasen. Die Gestaltung des Comics Dietrich von Bern ähnelt dieser Konzeption sehr, auch hier sind Text und Bild voneinander separiert, sodass eine Zweiteilung zustande kommt. Die Panels sind dabei durchgehend rechteckig und werden allerdings oft ohne Rahmung an verschiedenen Stellen der Bildränder eingebunden, gehen einige Male ineinander über – wobei jedoch keine Nummerierung vorgenommen wird. Der Zeichenstil ist detailreich, wodurch eine gewisse Individualität bei der Darstellung der Figuren ersichtlich wird. Dennoch wirkt der Comic in seiner Gestaltung recht starr, die Dynamik, welche durch Bildübergänge oder Geschwindigkeitslinien entsteht, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hauptsächlich Momentaufnahmen und keine direkt aufeinander folgenden Abläufe gezeigt werden. Die Handschrift folgt durchgehend einer strikten Grundkonzeption, die Bild und Text voneinander trennt. Die 312 Folii sind nahezu durchgehend mit einem Textblock und einem Bild versehen, sodass eine Zweiteilung vorliegt: Es handelt sich um »13 Zeilen Text unter einem 9 cm hohen Bild, das auf den Recto-Seiten 11 cm und auf den Verso-Seiten 9 cm breit ist«23. Der Text wird also mit 201 kolorierten Federzeichnungen zusammengestellt. Somit ist »jede Strophe des Textes […] von einer gefärbten Federzeichnung begleitet«24. In Cpg 67 ist ausschließlich die Sigenot-Geschichte überliefert, wodurch die Wertschätzung des Stoffes durch die Konzeption des gesamten Codex deutlich wird. Der Text ist dabei »beidseitig mit dunkelbrauner Tinte einspaltig in gleichmäßiger, runder Bastarda«25 von einer Hand geschrieben, jedes Folio »weist eine 13zeilige gereimte Strophe auf; über jeder Strophe, etwa 1/3 der Seite umfassend, befindet sich eine doppelt umrahmte Illustration«26. Diese Illustrationen sind sehr einfach gehalten: Stets wird in einem doppelten Rahmen auf einem flachen Hintergrund ein bestimmtes Handlungsmoment dargestellt. Der Fokus liegt damit eindeutig auf den Figuren, die den Rahmen oftmals gänzlich ausfüllen und deren Größe zudem mit ihrer Relevanz für die Handlung korrespondiert. Landschaft ist auf den Illuminationen in sehr geringem Maße zu erkennen, die Figuren stehen meist auf einer einfachen grünen Fläche, die von einer blauen, schraffierten Fläche abgegrenzt wird. Einige Male finden 23 Henrike Lähnemann/Timo Kröner: Die Überlieferung des Sigenot: Bildkonzeption im Vergleich von Handschrift, Wandmalerei und Frühdrucken, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 14 (2003/2004), S. 175-165, hier S. 177. 24 Millet: Germanische Heldendichtung im Mittelalter, S. 447. 25 Dietrich Grünewald: Sigenot – ein Daumenkino des Mittelalters?, in: Deutsche Comicforschung 2 (2006), S. 7-16, hier S. 8. 26 Grünewald: Sigenot, S. 3.

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sich Bäume, die der schlichten Markierung als Wald dienen, später werden auch die Grube und die Höhle Sigenots gezeichnet.27 Was also dargestellt wird, ist nicht ein Erzählkontinuum in Bildform, sondern sequenzierte Filmstills. Die literal bestimmten Bildbausteine werden für jede Szene neu kompiliert, ohne das Ineinandergreifen der abgebildeten Momente durch überlappende Darstellung oder Passepartouts plausibel zu machen. Daß das keine Notlösung aufgrund mangelnder Textkenntnis ist, sondern eine bewußte Entscheidung für minimalistische Darstellung als Kompensation von Szenenfülle, zeigt etwa der rote Punkt auf Dietrichs Helm (bereits auf dem Rüstungstisch, f. 8r, erkennbar): Es ist der Hiltegrin, den Dietrich errungen hat und der in den Bildern genutzt wird, um ihn von allen anderen Männern abzuheben, die ja sonst in Rüstung nicht mehr unterscheidbar sind. Sobald Hildebrand Dietrichs Rüstung anzieht, wird der Edelstein weggelassen, um die Eindeutigkeit der Bezeichnung zu wahren (vgl. etwa f. 84v, wo Hildebrand Dietrichs Rüstung, die vorher bei dem Riesen an der Wand hing, samt dessen Löwenschild trägt).28

Die einfach gehaltenen Darstellungen werden also bewusst gewählt und zeigen somit ein ganz eigenes Darstellungsinteresse, das starke Differenzen zum Wiechmann-Comic aufweist. Während die Bilder durch die Konzeption der Handschrift statisch wirken, versucht der Comic Dynamik zu generieren und die Handlung detailreich darzustellen. Einen deutlichen Fokus legen beide Bildgeschichten auf den Protagonisten. Bereits bei der Einführung der handelnden Figur präsentiert Wiechmann dem Rezipienten einen Comichelden, der erste Erwartungshaltungen weckt. So kann der bereits in seiner Kindheit und Jugend durch Außergewöhnlichkeit gekennzeichnete Dietrich sein Können vor dem Sigenot-Kampf unter Beweis stellen und die Gegner besiegen. Dabei wird ein Vergleich mit Hildebrand gewählt:29 Während sein Waffenmeister im Kampf gegen die Riesen unterliegt, kann sich Dietrich neben seinem Lehrer als überlegen generieren. Er rettet Hildebrand aus der Gefahr der Riesin Hilde und trennt dem Riesen Grim seinen Kopf vom Körper. Auf zehn Panels wird der Kampf zwischen Dietrich und den Riesen dargestellt, wobei die Kraft Dietrichs auf Textebene genau beschrieben wird: »[Dietrich] wachsen unversehens übermenschliche Kräfte.« (DBC 40) Seine körperliche Konstitution ist demnach derjenigen der Riesen überlegen, was 27 Die Illustration zeigt dabei Kacheln auf dem Boden, die fluchtlinienartig angelegt sind und dem Bild somit eine perspektivische Tiefe verleihen. 28 Lähnemann/Kröner: Überlieferung des Sigenot, S. 178. 29 Dietrich wird im Comic zunächst von Hildebrand begleitet, bevor er alleine aufbricht, um gegen Sigenot zu kämpfen. In der handschriftlichen Überlieferung reitet Dietrich direkt nach Hildebrands Erzählung ohne Unterstützung auf aventiure.

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Abb. 2: Wiechmann/Méndez: Dietrich von Bern, S. 10.

auf den Panels zunächst nicht ersichtlich wird, sind die Riesen doch weit größer gezeichnet. Nach dem erfolgreichen Bestehen des ersten Kampfes kann Dietrich nun den Kampf gegen Sigenot antreten (vgl. Abb. 2). Diese realistische Größendarstellung verweigert die Handschrift, die Besonderheit der Dietrich-Figur wird auf andere Weise manifest. Dietrich wird dort durch die gewählte Darstellung in den Vordergrund gerückt und als handlungsrelevante Figur gekennzeichnet.30 Er ist nicht nur deutlich größer als Hildebrand und alle anderen Figuren, sondern ragt an vielen Stellen sogar über den Bildrand hinaus, etwa auf Seite 0012. Auf diese Weise wird einerseits die Relevanz der Figur deutlich, andererseits aber auch ein Handlungsfortschreiten impliziert, das von Dietrich initiiert wird.31 30 Störmer-Caysa macht deutlich, dass der Größe der Figuren in mittelalterlichen Bilddarstellungen keine perspektivische Bedeutung zugeschrieben wird: »Mittelalterliche Herldenepik hat nicht mit der Relativität des Blickwinkels experimentiert [...]. Im Gegenteil – der Größenunterschied etwa zwischen Laurin und Dietrich, zwischen Dietrich und Hilde und Grim zeigt seine Differenz des wesentlichen Seins an.« (Uta Störmer-Caysa: Kleine Riesen und große Zwerge? Ecke, Laurin und der literarische Diskurs über kurz oder lang, in: Klaus Zatloukal (Hg.): 5. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Aventiure – Märchenhafte Dietrichepik, Wien 2000, S. 157-175, hier S. 157) 31 Das Handlungsfortschreiten wird zudem im Seitenwechsel der Figuren auf den Illuminationen erkennbar: Bisher war Dietrich stets auf der linken Seite und nach rechts blickend dargestellt, als er mit Hildebrand aufbricht, reiten sie nach rechts aus dem Bild heraus.

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Das Konzept der Panel-Rahmung wird an dieser Stelle gesprengt, indem Dietrichs Fuß über dieselbe hinausragt. Während diese farbige Eingrenzung bisher stets auch den Bereich der Handlung markiert hat, gelingt es Dietrich nun, diese Umgrenzung ignorierend in den Bereich einzudringen, der für den Text vorgesehen ist. Damit betritt er eine Ebene, die der Zeichnung nicht zugeschrieben ist und löst die strikte Trennung von Text und Bild auf. Diese Darstellung Dietrichs lässt sich in der gesamten Handschrift an verschiedenen Stellen finden. Ist er zu sehen, ist er zumeist auch die Figur innerhalb eines Panels, die am größten gezeichnet ist und den meisten Raum einnimmt, sodass seine Größe als Erkennungsmerkmal fungieren kann. In seiner Heimat ist er Abb. 3: Cpg 67, S. 0019 damit durch eine Besonderheit gekennzeichnet, die seine generelle Überlegenheit den anderen Bernern gegenüber zeigt (vgl. Abb. 3). Erst in der Wildnis trifft er auf eine Figur, die seiner Größe entspricht: Der über und über mit Haaren bedeckte wilde Mann32 hat den deutlich kleineren Zwerg in seine Gefangenschaft genommen. Gerade durch die gleichzeitige Darstellung des Zwerges wird an dieser Stelle ein starker Kontrast aufgemacht, der jedoch Dietrich und den wilden Mann als gleichrangige Figuren zeigt. Der wilde Mann wird damit einerseits als adäquater Gegner gezeigt, andererseits wird aber auch seine Relevanz für die Handlung deutlich. Er ist ebenfalls durch Außergewöhnlichkeit gekennzeichnet, die sich jedoch nicht nur in seiner Größe manifestiert, sondern auch an seiner umfassenden Körperbehaarung und seinem Kampfwerkzeug offensichtlich wird. In diesem ersten Kampf wird Dietrich demnach seiner Größe gerecht. Durch den Sieg gegen den wilden Mann kann er zeigen, dass sein Ruf seinem tatsächlichen Können entspricht und er zudem das personifizierte Wilde besiegen kann, also in einem nicht-höfischen Kampf dem Gegner überlegen ist. Analog zum 32 Dieser wilde Mann ist eine typische Figur, die in mittelalterlichen Erzähltexten häufig auftritt. Im Comic ist sie durch die beiden Riesen substituiert worden, die in dieser Dietrich-Geschichte nicht auftreten, sondern aus einer anderen Erzählung stammen. Auch der Riese entspricht seiner Größe, ist sogar größer als er (vgl. DBC 8).

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Comic wird hier die Erwartungshaltung für den Kampf gegen Sigenot aufgespannt, dabei jedoch gänzlich differierend umgesetzt. Ausschließlich die Darstellung des Riesen korrespondiert in Handschrift und Comic: Auch in der mittelalterlichen Handschrift ist der Riese Sigenot weitaus größer als sein Gegner Dietrich gezeichnet. Die Größe ist dabei wiederum doppelt konnotiert, wird Sigenot doch auf diese Weise in seiner Eigenart als Riese gekennzeichnet und gleichzeitig als übermächtiger Gegner charakterisiert. Durch die Anlage des Bildes wird bereits auf diese Differenz der beiden Gegner eingegangen und die Illustration spiegelt somit die im Text manifestierten Vorgaben wider. Denn auch dort wird die Größe Sigenots immer wieder besonders betont: »Herr Dietrich kam dar gerant / do er den großen valant / vant« (DB 0066). Bereits bei der ersten Begegnung wird also auf dieses Attribut, das die Besonderheit des Gegners zeigt, eingegangen, im Folgenden wird der Riese als »grusamlich« (DB 0066) beschrieben und als Dietrich ihn weckt, »erwacht der groß« (DB 0068). Text und Bild, die an dieser Stelle demnach sehr stark übereinstimmen, wählen zudem noch die Kraft als zusätzlich darzustellende Eigenschaft, um die körperliche Überlegenheit des Riesen hervorzuheben. Sigenot kämpft dementsprechend nicht nur mit der für Riesen typischen Stange statt eines Schwertes, sondern auch mit einem Baum, den er einhändig gegen seinen Gegner einsetzt, worauf sowohl auf Textebene als auch im Bild eingegangen wird (vgl. Abb. 4). Der Comic zeigt diese Art des Kampfes ebenfalls, mehrere Bäume werden von Sigenot ausgerissen und im Kampf gegen den Berner und dessen Schwert eingesetzt (vgl. DBC 46-51). Während Dietrich dort nach seinem Unterliegen in eine Grube gelassen wird, setzt die Zeichnung in Cpg 67 einen weiteren Kontrast ein: Dietrich von Bern wird gefesselt gezeigt, was ihn noch kleiner erscheinen lässt33 – und vom Text nicht in dieser Weise thematisiert wird. Erst durch das Wegtragen wird dort wieder eine Fokussierung vorgenommen: Abb. 4: Cpg 67, S. 0079 33 An dieser Stelle wird eine Analogie zum Kampf des wilden Mannes gegen den Zwerg hergestellt und damit die Hoffnungslosigkeit der Lage Dietrichs offensichtlich gemacht.

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»Der mit den küngen vechten kan / under die achssen er in nam / vff ein halbe raste / vnder ain arm trůg er in« (DB 0116). Die Differenz der Größe wird auch in der Interaktion zwischen dem Waffenmeister Hildebrand und Sigenot deutlich, wobei der Waffenmeister sogar noch kleiner – und damit noch deutlicher unterlegen – als Dietrich erscheint. Sowohl auf bildlicher als auch auf textueller Ebene ist also die Niederlage Hildebrands voraussehbar, Sigenot bringt seinen Gegner schließlich am Bart tragend in seine Höhle (vgl. DB 0164). Doch nach dieser Niederlage kann sich Hildebrand befreien, rüsten und seinem Gegner erneut gegenübertreten, wobei er nun nicht nur Dietrichs Rüstung trägt, sondern auch hinsichtlich seiner Größe identisch mit diesem ist. So ausgerüstet gelingt es ihm schließlich, Sigenot zu besiegen (vgl. DB 0190) und Dietrich zu befreien. Erstaunlich ist nun, dass die beiden Berner zunächst gleich groß bleiben und damit auch eine generelle Äquivalenz (hinsichtlich der Kampfeskraft und ihrer Bedeutung für die Handlung) hergestellt wird, die jedoch schnell aufgelöst und durch eine übergroße Darstellung Dietrichs ersetzt wird. Erneut wird an dieser Stelle in der Zeichnung die Relevanz Dietrichs offenkundig, er ist der Protagonist vieler weiterer Erzählungen, die in anderen Handschriften festgehalten sind. Auch wird hier noch einmal die Interdependenz von Text und Bild deutlich: Während bestimmte Informationen, wie beispielsweise Namen oder Beziehungen zwischen Figuren, nicht über ein Bild transportiert werden können und daher den Text benötigen, kann Größe in Zeichnungen ganz anders inszeniert und somit auch stärker in den Fokus gerückt werden. Durch die unterschiedliche Größendarstellung hat der Zeichner der Handschrift Cpg 67 deutlich eigene Akzente gesetzt, die den Text interpretieren und über das hinausgehen, was der Rezipient durch den Schreiber erfährt. Damit bringen Text und Bild jeweils differierende Aspekte ein, die schwer getrennt werden können. Gleichwohl ist der Text auch ohne Bilder verständlich,34 kann diese Aussage für eine reine Bildlektüre nicht vorgenommen werden, da es nicht möglich ist, bestimmte Informationen auf diese Weise zu vermitteln. Sowohl Cpg 67 als auch der Wiechmann-Comic wählen somit nach Eisner hauptsächlich die illustrierende Form der Text-Bild-Verbindung. McCloud kategorisiert diese »›zweisprachigen Panels‹, in denen Text und Bild im Wesentlichen dieselbe Botschaft haben«35 als 34 Dies wird auch dadurch deutlich, dass es Textüberlieferungen gibt, die keine Illustrationen aufweisen, so zum Beispiel Codex Donaueschingen 74, der neben dem Sigenot auch das Eckenlied, Willehalm von Orlens, die Kindheit Jesu und Unser vrouwen hinvart überliefert, oder mgq 1107, in dem nach dem Sigenot das Jüngere Hildebrandslied und kleinere Texte, wie beispielsweise Der Krautgarten oder Der glückliche Traum, stehen. 35 McCloud: Comics richtig lesen, S. 161.

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textlastige Verbindung, da sie »nichts Wesentliches zum weitgehend vollkommenen Text beitragen«36. Die Informationen, die mithilfe der Illustrationen über die Textebene hinausgehen, sind für die Erzählung irrelevant und häufig schmückende Elemente, wie beispielsweise die Ausgestaltung der Schilder von Kämpfenden oder die Ausstaffierung der Höhle Sigenots.37 Nicht jeder im Text beschriebene Moment ist illustriert worden, oftmals wird jedoch auf Bild- und Textebene eine identische Darstellung gewählt. Dennoch gibt es bestimmte Bereiche, die durch die Bilder anders dargestellt werden müssen als durch den Text, sodass die Option zusätzlicher Interpretationsansätze entsteht. So wirkt beispielsweise der Sieg Sigenots über Hildebrand durch die bildliche Darstellung der Handschrift noch grausamer, als es durch den Text gezeigt wird. Dort heißt es: »Hend vnd füß er im [Sigenot Hildebrand, S.F.] zü ſamen band / von bern dem alten hyltebrant / Den begund er do niemen / by ſinem grawen barte lang / Vnd mit der ainen hend / V̈ber ein achſel er in ſchlanckt.« (DB 0164) Auf den Bildern wirkt dieses Zusammenschnüren geradezu grotesk, Hildebrand ist auf die Hälfte der Größe Sigenots geschrumpft und sein Gesicht ist mit zusammengezogenen Augenbrauen und herunterhängenden Mundwinkeln von Qual geprägt, während Sigenot ihn beinahe lässig am Bart hält und über seine Schulter geschwungen hat. Auch im Wiechmann-Comic sind solche Aspekte zu finden, welche die unterschiedlichen Möglichkeiten der Darstellung in Text und Bild deutlich machen. Die Einteilung der Handlung in Zeit und Raum durch die Panels kann durch die Formgebung beeinflusst werden. So wird durch eine breitere Illumination eine Zeitverlängerung dargestellt.38 Ein solches Einsetzen 36 McCloud: Comics richtig lesen, S. 161. 37 Nichtsdestotrotz lässt sich nicht leugnen, dass Bilder in ihren Elementen und deren Relationen zueinander anderen Gesetzmäßigkeiten folgen als beispielsweise Sprache. Sie knüpfen unter Umständen auch an andere (ikonographische) Traditionszusammenhänge an. Zudem können bestimmten graphischen Einheiten symbolische Werte zugesprochen werden, die weit über den schriftsprachlichen Text hinausgehen. So könnte beispielsweise mit der Rüstungs- und Waffendarstellung auch ein realhistorisches Interesse an der Kriegsführung einhergehen. Inwieweit den Illustrationen in Cpg 67 ein narrativer Wert zugesprochen werden kann, ist eine Frage, die an dieser Stelle nicht beantwortet werden kann. Eine Übersicht über die wichtigsten Erscheinungen der letzten Jahre zum Verhältnis von Text und Bild findet sich in: Horst Wenzel/Christina Lechtermann (Hg.): Beweglichkeit der Bilder: Text und Imagination in den illustrierten Handschriften des Welschen Gastes von Thomasin von Zerclaere, Köln u.a. 2002, Fußnote 2. 38 McCloud sieht das Leseerlebnis durch die unterschiedlichen Formen beeinflusst, schreibt ihnen somit eine Bedeutung im Rezeptionsprozess ein, wobei die Beeinflussung des Zeitempfindens für ihn entscheidend ist (vgl. McCloud: Comics richtig lesen, S. 107-109).

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der Panelgröße ist der Handschrift unbekannt, sie haben stets das gleiche Format. Dennoch kann auch in Cpg 67 eine Zeitlichkeit ausgedrückt werden: Während Dietrich neben seinem grasenden Pferd auf dem Boden sitzt und damit Ruhe ausstrahlt, die auch der Handlung eine gewisse Ruhe und damit Länge verleiht, wird der Kampf gegen den wilden Mann in elf aufeinanderfolgenden Bildern dargestellt (vgl. DB 34). Diese hohe Bilddichte, die für eine Episode gewählt wurde, korrespondiert mit der Länge des Kampfes, die auch auf Textebene verhandelt wird. So kann Dietrich während des Kampfes nach dem Riesen Sigenot fragen und den Zwerg befreien. Doch auch der Kampf selbst dauert an: »Do ward von in baiden / Manger schlag geton« (DB 0039), bis Dietrich seinem Gegner schließlich den Kopf abschlägt (vgl. DB 0048). Auch das Gespräch zwischen Dietrich und Hildebrand am Anfang der Handschrift nutzt diese Form der zeitlichen Darstellung: Es erstreckt sich ebenfalls über elf Blätter, wobei die Figuren stets ähnlich, jedoch immer in leicht veränderter Körperhaltung oder Gestik dargestellt werden. Neben dem fehlenden Spiel mit der Größe der Panels finden auch die heute verwendeten Bewegungslinien, die Geschwindigkeit ausdrücken,39 und im Dietrich von Bern eingesetzt werden, in dem mittelalterlichen Bildzeugnis keine Verwendung. Auf diese Weise wirkt die Handschrift sehr viel statischer als moderne Comics, muss jedoch auch anders mit Handlungsdynamiken umgehen. Da der Text stark beschreibend und damit an vielen Stellen ausschweifend ist, bietet er die Möglichkeit, eine einzelne Episode mit mehreren Bildern zu unterlegen, sodass Text und Bild sich gegenseitige Optionen und Freiräume schaffen und optimal miteinander interagieren. Ulrike Spyra und Maria Effinger haben die Möglichkeiten der Geschwindigkeitsdarstellungen, die durch die Handschrift geboten werden, für nicht-mittelalterliche Rezipienten erweitert und so eine Veranschaulichung der Bilddichte erreicht, die gleichzeitig deutlich macht, dass es sich bei den Bildern um Illustrationen und keine Visualisierungen handelt. Indem sie die einzelnen Illuminationen des Kampfes zwischen Dietrich und dem wilden Mann (vgl. DB 0037-0050) zusammengeschnitten und digital animiert haben, entsteht ein ›Daumenkino des Mittelalters‹.40 Die Trennung der Bilder vom Text macht deutlich, dass eine seEin Beispiel für eine solche zeitverlängernde Darstellung, die gleichzeitig den Raum sehr weit öffnet und damit die Länge des Weges Dietrichs und Hildebrands anzeigt, findet sich im Dietrich von Bern beispielsweise in der Naturdarstellung auf (vgl. DBC 27). 39 Unter Berücksichtigung von McClouds Prämisse, Comics seien durch eine serielle Sequenzhaftigkeit geprägt, sind diese Anzeichen für Bewegungen von entsprechend großer Relevanz (vgl. McCloud: Comics richtig lesen, S. 118-121). 40 http://digi.ub.uni-heidelberg.de/de/bpd/glanzlichter/oberdeutsche/henfflin/cpg67.html (letzter Zugriff am 07. Mai 2014).

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parate Rezeption möglich ist, die Illuminationen auch ohne Schrift verständlich sind. Allerdings stellt sich an dieser Stelle erneut die Frage, welche Redundanzen diese Art der Rezeption evoziert. Eine solche Trennung von Text und Bild ist im 2010 erschienenen Comic technisch nicht gleichermaßen umsetzbar, da die beiden Elemente viel stärker miteinander verschränkt sind und die Dichte der Panels für eine Episode nicht so hoch wie in Cpg 67 ist, weshalb eine stärkere Transferleistung vonnöten ist. Stattdessen bietet die Handschrift jedoch eine zusätzliche Information, die in die Geschichte einleitet und eine Prolog-Funktion einnimmt. Vor dem oben beschriebenen Beginn der histoire wird der generelle Erzählanspruch vorgestellt: Wend ir herschafft hie betagen Auentur wil ich uch sagen Von starcken sturmen herten Was von Bern her diettrich laid So mangen hertten sturm er strait Biß in got ernerte Es mocht im anders nit ergan Er rӱt allain vß berne Er rait durch mangen vinstern tan Das mugent ir horen gerne Was lieb vnd laid im do beschach von einem starcken rӱsen kam er in vngemach (DB 0007)

Die Illustration lässt von einer solch actiongeladenen Handlung zunächst nichts ahnen: Auf einer steinernen Bank sitzen zwei Männer, der jüngere, links sitzende Mann scheint dem älteren Mann mit weiten Gesten etwas zu erzählen. Das zweifarbige Kleid des jüngeren Mannes könnte ihn dabei als Sänger kennzeichnen41 und weist somit auf eine Erzählsituation hin. Auf diese Weise wird der Erzählung ein Rahmen gegeben, Text und Bild kündigen eine Geschichte an, die im Folgenden erzählt werden wird. Während ein Schrift-Rezipient jedoch bereits einige wichtige Angaben zu inhaltlichen Aspekten der folgenden Geschichte erhalten hat, kann ein Bildbetrachter bisher nur davon ausgehen, dass sich im Folgenden eine Geschichte 41 So schreibt Dietrich Grünewald: »Der links dargestellte jüngere Mann trägt ein MiParti-Gewand, genannt nach dessen zweigeteilter Farbigkeit, linke Seite grün, rechte rot (frz.-lat.: halb-geteilt). Das modische, bis Ende des 16. Jahrhunderts beliebte Kleidungsstück dürfte hier den Barden kennzeichnen, der seinem älteren Gegenüber nun mit beredtem Gestus das Epos erzählen wird.« (Grünewald: Sigenot, S. 1)

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entspinnen wird. Bereits an dieser Stelle wird eine grundsätzliche Tendenz deutlich: Die Bilder können die Geschichte ohne den Text vermitteln, bestimmte Informationen können jedoch auf diese Weise nicht verstanden werden, beispielsweise die Namen der Protagonisten. Für eine solche Zuordnung ist das Kontextwissen der Rezipienten erforderlich, das eine Kenntnis der materia inkludiert. Zudem zeichnen sich die ersten drei Bilder durch eine Besonderheit aus, die in der gesamten Handschrift an nur zwei weiteren Stellen wiederholt wird: Die schlichte Zweiteilung, die in den folgenden Bildern (zusätzlich auch auf DB 0117 und 0167-173) zwischen blauem Himmel und grünem Boden konsequent durchgeführt wird, ist in diesen drei Bildern nicht zu finden – das Geschichtenerzählen wird damit deutlich von dem Erleben abgegrenzt. Das im Prolog vorhandene Versprechen einer Rahmung durch eine discours-Ebene wird jedoch nicht gänzlich eingelöst. Während auf dem letzten Folio auf textueller Ebene durch die beiden Verse »Hie hant ryß Sigenot ein end / Got vns allen kummer wend« (DB 0209) eine Verbindung zu dieser Ausgangssituation hergestellt wird und der Erzählung gleichzeitig ein Titel eingeschrieben wird, lässt die Bildebene eine solche Konnexion vermissen, da das letzte Folio nicht bebildert ist. Auffällig ist jedoch, dass der Text auf diesem Folio nicht am oberen Rand beginnt, sondern vielmehr ein Drittel des Blattes ausgespart wird – der Platz, der auf den anderen Blättern für eine Illumination vorgesehen ist. Überdies lässt sich auch eine leichte Liniierung erkennen, die mit den Rahmungen der anderen Bilder korrespondiert und dafür spricht, dass an dieser Stelle Raum für eine weitere Illumination gelassen wurde.42 Warum diese nicht ausgeführt wurde, bleibt Spekulation, hier könnten mehrere Gründe angeführt werden, die von schlichtem Vergessen bis zur intendierten Auslassung reichen, jedoch nicht validiert werden können. Die Rahmung umschließt die Geschichte Dietrichs und Sigenots, die auf Bildund Textebene direkt beginnt: »Do der von bern und hiltebrant saß / Vnd sy baid gunden reden das / Wie sy hetten gestritten« (DB 0008), heißt es dort im Text. Auf der Illumination sind wiederum zwei Männer gezeigt, die dabei stark den Figuren des ersten Bildes ähneln: Wie der junge Mann im ersten Bild hat Dietrich einen blonden Lockenkopf und trägt das gleiche Mi-Parti-Gewand. Auch Hildebrand, stets wiedererkennbar gekennzeichnet durch roten Topfhut und Vollbart, ähnelt dem Zuhörer der ersten Illustration, nur dass dieser ein blaues Gewand trägt, Hildebrand ein gelbes mit rotem Muster.43 42 Es war üblich, Illustrationen in einem nachgängigen Arbeitsschritt einzufügen, sodass davon ausgegangen werden kann, dass der Schreiber dazu angewiesen wurde, auf jedem Folio gleich zu verfahren, um das Potential für die Umsetzung der Illustration zu garantieren. Die Überlieferungen zeigen immer wieder, dass Vollständigkeit bei der Ausführung von Initialen und Illustrationen die Ausnahme waren. 43 Grünewald: Sigenot, S. 1.

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Trotz der starken Parallelen kann davon ausgegangen werden, dass hier eine zweite Gesprächssituation dargestellt werden soll, die sich von der ersten unterscheidet, was sich ebenfalls durch den Text belegen lässt.44 Somit wird erst auf Seite 0008 von der discours- auf die histoire-Ebene gewechselt, Hildebrand erzählt Dietrich von Sigenot und dieser möchte ausziehen, um gegen den Riesen zu kämpfen. Generell kann konstatiert werden, dass beide Fassungen einen hohen Geltungsanspruch aufweisen, was an mehreren Parametern offensichtlich wird, die der Entstehungszeit der jeweiligen Form geschuldet sind. Die Handschrift zeigt bereits durch die Wahl des Einbands eine starke Wertschätzung des Stoffes. Der braune Ledereinband wurde zusätzlich mit einer vergoldeten Platte auf der Vorderseite und einem vergoldeten Wappen auf der Rückseite versehen, zusätzlich wird der Codex durch Messingbeschläge und zwei Riemenschließen geschützt,45 sodass der Handschrift ein hoher materieller Wert zukommt. Auch beim Comic Wiechmanns wird eine solche Betonung der Wertschätzung vorgenommen. Der Verlag wählte eine Hardcover-Ausgabe, welche die ästhetische Qualität der Kunstform aufzeigen soll. Zugleich wurde eine unübliche Farbwahl getroffen: Der Comic ist durchgehend schwarz-weiß getuscht, sodass er sich deutlich von anderen Werken abgrenzt. Dies könnte in der Wahl des Stoffes begründet liegen, zu der historischen Geschichte wurde eine archaische Form der Farbgebung gewählt, wodurch gleichzeitig der Anspruch einer Exponiertheit deutlich wird.46 44 Auffällig ist, dass die Illustration dabei spiegelbildlich wechselt. Während die jüngere Figur auf dem ersten Bild durch einen Redegestus und die ältere durch Passivität, also durch das Zuhören gekennzeichnet ist, verkehrt sich diese Darstellung in der zweiten Illustration. Dies reicht sogar bis in die Beinhaltung hinein. Auf dem ersten Bild hat der rechts sitzende Mann ein gestrecktes linkes Bein, der linke Mann ein eingeknicktes linkes, auf dem zweiten Bild sieht man den alten Mann mit leicht angewinkeltem linken Bein, den jungen Mann mit einem gestreckten rechten. Im dritten Bild ergibt sich schließlich ein Ausgleich, beide haben leicht geknickte Beine und weisen eine Zeigegestus mit einem Arm auf, während der andere Arm sich eher zurückhält. Abgesehen von dem Wechsel der Gewandfarbe liegt hier demnach eine reziproke Kommunikationssituation vor, die das Sprechen über Aventiure beinhalten könnte, da dies häufig in den Prologen der ›aventiurehaften‹ Dietrichepik thematisiert wird (z.B. Eckenlied, Laurin). 45 Vgl. Zimmermann: Die Codices Palatini germanici, S. 186. 46 Archaisch wirkt im Comic zudem die Einbindung einzelner Wörter, die den Eindruck einer Historizität erwecken möchten, was ebenfalls dem Rekurrieren auf den im Mittelalter kursierenden Stoffkreis geschuldet ist und angesichts des größtenteils in Hochdeutsch verfassten Textes seltsam wirkt. Die Handschrift indes ist in westschwäbischem Dialekt und passend zu ihrer Entstehungszeit um 1470 verfasst (vgl. Karin

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Auch die Handschrift lässt durch ihre farbliche Gestaltung Rückschlüsse auf die Wertschätzung des Stoffes zu. Denn auffällig ist, dass der Codex allein den Sigenot überliefert, 106 Blätter und eine großzügige Ausgestaltung durch Text und dazu passende Illuminationen wählt. Für diese verwendet der Zeichner dabei durchgehend Farben, die Interpretationsspielräume des Textes füllen.47 So wird Dietrich beispielsweise als blondgelockt dargestellt (vgl. DB 0010), obwohl dies an keiner Stelle des Textes erwähnt wird, der wilde Mann trägt die Farben der Bäume und wird auf diese Weise sehr stark der Natur zugeordnet (vgl. DB 0037), während die bunten Fliesen in Sigenots Haus vielmehr an einen höfischen Raum statt an eine Riesenhöhle in der Natur erinnern (vgl. DB 0117) und in diesem Zusammenhang vielmehr den Innenraum eines Gebäudes zu symbolisieren scheinen. Durch die Farbigkeit ist eine Differenz zu dem neuzeitlichen Comic festzustellen, die jedoch mit unterschiedlichen ästhetischen Ansprüchen und Gewohnheiten erklärt werden kann. Der unüblichen schwarz-weißen Darstellung im Comic steht die kostenintensive farbige Ausgestaltung der Handschrift gegenüber, womit beide Darstellungsvarianten deutlich ihre eigene Besonderheit markieren und damit einen hohen Geltungsanspruch generieren. Inwieweit dieser Geltungsanspruch als solcher gerechtfertigt ist, ist natürlich fragwürdig – bezieht man die geringe Auflage des Comics ein.48 Auch der mittelhochdeutsche Text wird von der Forschung als unbedeutend klassifiziert. So konstatiert Millet, dass der Sigenot zu »den weniger interessanten Geschichten aus dem Corpus der Heldendichtungen [...], nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in sprachlicher Hinsicht«49 zähle und auch Händl urteilt, der Sigenot sein ein »künstlerisch eher anspruchslose[r] Text«50. Gegen diese negative Wahrnehmung der Neuzeit spricht jedoch die stetige Bearbeitung Zimmermann unter Mitwirkung von Sonja Glauch u.a.: Die Codices Palatini germanici in der Universitätsbibliothek Heidelberg (Cod. Pal. germ. 1-181), Wiesbaden 2003, S. 186f., hier S. 186). 47 Scott McCloud weist auf ein grundsätzliches Argument für Farbigkeit hin: »Wir leben in einer farbigen Welt, nicht in einer schwarz-weissen. Farbige Comics werden deshalb auf den ersten Blick immer ›realer‹ wirken als schwarz-weisse.« (McCloud: Comics richtig lesen, S. 200). Diesem Verweis auf Realität in der bildlichen Darstellung wurde im Mittelalter kein so hoher Stellenwert beigemessen wie in der Neuzeit, dennoch ist sicher, dass der Farbsemantik eine große Relevanz beigemessen wurde. 48 Dies könnte natürlich auch mit intendierter ›Exklusivität‹ erklärt werden. 49 Victor Millet: Germanische Heldendichtung im Mittelalter, S. 351. 50 Claudia Händl: Überlegungen zur Text-Bild-Relation in der Sigenot-Überlieferung, in: Horst Brunner (Hg.): Helle döne schöne. Versammelte Arbeiten zur älteren und neueren deutschen Literatur. Festschrift für Wolfgang Walliczek, Göppingen 1999, S. 87-129, hier S. 110.

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des Stoffes, die sich in sieben Handschriften und 20 Drucken in einem Entstehungszeitraum vom Ende des 13. Jahrhunderts bis in das Jahr 1661 niederschlägt51 und den Text damit »zum erfolgreichsten Vertreter der Gattung in der Spätphase der Überlieferung«52 machen. Auch der Comic Wiechmanns zeigt: Die Geschichte aus dem Mittelalter fasziniert weiterhin, selbst wenn nun Modifizierungen vorgenommen werden müssen, um sie den Rezipienten zugänglich(er) zu machen.

Z usammenführung Der Vergleich der Handschrift mit dem Comic zeigt, dass beide Formen starke Analogien aufweisen, die jedoch nicht über die Differenzen hinwegtäuschen können: Die Art der Darstellung des Stoffes, der materia, ist ähnlich gewählt, die Umsetzung der Geschichte dabei an die entsprechenden Rezipienten angepasst. So benötigt der Comic eine Kindheitsgeschichte, um die Außergewöhnlichkeit Dietrichs zu belegen, und ersetzt den heutzutage eher unbekannten Typus des wilden Mannes durch zwei andere Riesen, gegen die Dietrich kämpfen muss. Die Handschrift wählt eine weniger individualisierende und realitätsgetreue Darstellung zur Illustration als der Comic. Dieser zeichnet sich durch differierende Panelgrößen, kleinteilige Zeichnungen und Perspektivenvarianz aus – die Handschrift wirkt im Vergleich damit sehr gleichförmig und geordnet. Cpg67 indes gelingt eine enge Verschränkung von Text und Bild, die gewählte Darstellungsform zeigt dabei die besondere Wertschätzung auf, die der Handschrift – und damit der materia – entgegengebracht wird. Sowohl in Cpg 67 als auch im Wiechmann-Comic wird offensichtlich, dass Zeichnungen die Möglichkeit bieten, die Rezeption zu erleichtern und die Wahrnehmung einer Geschichte mit verschiedenen Sinnen zu fördern. Durch die gleichzeitige Wahrnehmung von Text- und Bildebene erscheint das Rezipierte lebhafter und weckt damit zusätzliches Interesse an der Bildgeschichte. Kulturwissenschaftlich perspektiviert zeigen demnach beide Textzeugnisse auf, dass ein konstantes Interesse an der Rezeption von betextetem Bildmaterial besteht, da dieses das Erzählen anschaulicher macht und Raum für zusätzliche Informationen lässt. Obwohl bei der Darstellung im Comic Wiechmanns und in der mittelalterlichen Handschrift häufig ähnliche Möglichkeiten gewählt wurden, kann nicht 51 Neben diesen schriftlichen Überlieferungen findet sich überdies ein Freskenzyklus aus dem 16. Jahrhundert auf der Burg Wildenstein, der ebenfalls die Geschichte Sigenots erzählt. 52 Joachim Heinzle: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik, Berlin/New York 1999, S. 133.

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davon ausgegangen werden, dass Cpg 67 als direkte Vorlage für den Comic fungierte. Die aufgezeigten Analogien können vielmehr als Beleg dafür angeführt werden, dass es legitim und gewinnbringend ist, Analyseverfahren der modernen Comicforschung an eine mittelalterliche Handschrift heranzutragen und auf diese Weise historisch bedingte Differenzen nachzuweisen.

S tudierendenbeiträge

Transformationstechniken und intermediale Zitate in Karasiks und Mazzucchellis Paul Austers Stadt aus Glas R obin -M. A ust Das Problem ist die Geschichte selbst, und ob sie etwas bedeutet oder nicht, muss die Geschichte nicht sagen.1

So der Erzähler von Paul Austers Stadt aus Glas, das 1996, elf Jahre nach Erscheinen des Romans, von Paul Karasik und David Mazzucchelli als Comic inszeniert wurde. Man könnte in diesem Falle auch eher sagen: Das Problem ist die Umsetzung der Geschichte selbst. Wie aus dem Vorwort Art Spiegelmanns hervorgeht, war die Umsetzung von Austers vermeintlicher Kriminalgeschichte und das Finden eines Übertragungskonzeptes vom geschriebenen zum graphischen Roman2 problematisch: Um die Sache […] zu erschweren, sollten [beim ersten Anlauf der Umsetzung] keine stumpfsinnigen »Illustrierten Klassiker« herauskommen, sondern visuelle »Übersetzungen« – tatsächlich lesenswert für ein erwachsenes Publikum. [...] [D]och als wir Austers schmalen Band nochmals lasen, erschien uns diese Wahl geradezu einschüchternd – und eben darum einen Versuch wert! Bei all seinen spielerischen Verweisen auf die Pulp-Literatur ist 1 Paul Auster: Stadt aus Glas, übers. von Joachim A. Frank, München 2012, S. 5. 2 Die etwas ungelenk wirkende, aber an sich unvermeidliche Übersetzung von Spiegelmanns englischem graphic novel ins deutsche graphischer Roman durch Kai Wilksen im Vorwort zu Paul Austers Stadt aus Glas wird in diesem Zusammenhang als nützliche Abgrenzung vom eigentlichen Roman Stadt aus Glas wiederverwendet. Vgl. Art Spiegelmann: Stadt aus Bildern statt aus Worten: Stadt aus Glas, in: Paul Karasik/ David Mazzucchelli: Paul Austers Stadt aus Glas. Nach dem Roman von Paul Auster, Berlin 2006, S. 3.

286 | Robin-M. Aust Stadt aus Glas ein im Kern doch überraschend nonvisuelles Werk, ein komplexes Netz aus Wörtern und abstrakten Ideen in ständig wechselnden narrativen Stilen. (Paul warnte mich, dass mehrere Versuche, seinen Roman in ein Drehbuch umzuarbeiten, kläglich fehlgeschlagen waren.) […] Die sorgfältigen Straffungen (Paul K. hatte die Adaption so angelegt, dass jede Gruppe von Panels proportional genau so viel Raum einnahm wie der entsprechende Abschnitt in Paul A.s ursprünglicher Prosa) mussten noch einmal überdacht werden, damit die Seiten etwas mehr »Luft bekamen«. Einzelne größere Bilder waren erforderlich, um die Augen des Lesers in das enge Raster zu locken.3

Hier fallen bereits verschiedene wichtige Aspekte dieser Literaturinszenierung ins Auge: Einerseits war die Abgrenzung von den Classics Illustrated von Albert L. Kanter, die ab 1941 diverse Klassiker der Weltliteratur ins Comicheftformat verarbeitete, also bunten Unterhaltungscomic ohne künstlerischen Eigenständigkeitsanspruch, von jeher Teil des Konzepts. Die Versuche, den Roman zu verfilmen und die »kläglich fehlgeschlagen waren«, wurden zwar von Spiegelmann eingeklammert – das Verhältnis von Paul Austers Stadt aus Glas und verschiedenen filmischen Vorbildern, besonders dem film noir und seinen intermedialen Nachwirkungen, spielt aber bei dieser Umsetzung eine große Rolle. Es stellt sich daher unter anderem die Frage, wie und ob die Stilanleihen des Kriminalromans und Austers »abstrakte[.] Ideen in ständig wechselnden narrativen Stilen« (SaG 5) auf zeichnerischer Ebene umgesetzt wurden und welche Techniken dem Comic dabei zur Verfügung stehen. Allen voran spricht Spiegelmann jedoch von »Übersetzungen«. Dies ist vermutlich die simpelste, aber auch treffendste Bezeichnung für den Übertragungsprozess vom Roman zum Comic. Durch einen solchen Medienwechsel entstehen einer Übersetzung von einer Sprache in die andere ähnlich zwangsläufig Leerstellen und Übertragungslücken, besonders wenn es sich eben um »ein im Kern doch überraschend nonvisuelles Werk« handelt, das unter anderem auch von seiner »besonders augeprägte[n] und ostentativ zur Schau getragene[n] Intertextualität«4 lebt – andere Ausdrucksformen müssen gefunden werden, um den ursprünglichen Sinngehalt zu bewahren. So auch bei der Übersetzungstechnik von Karasik und Mazzucchelli: Anstatt den Text vorrangig begleitend zu illustrieren, umdeutend zu komprimieren oder komplett diegetisch oder pragmatisch5 zu transformieren, wird die Erzählung in ihrer Gesamtheit so weit wie möglich zeichnerisch und 3 Spiegelmann: Stadt aus Bildern statt aus Worten, S. 4f. 4 Monika Schmitz-Emans: Literatur-Comics. Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur, Berlin/Boston 2012, S. 387. 5 Vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a.M. 1993, S. 404.

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durch Figurenrede dargestellt. Eine Fokussierung auf bestimmte Elemente des Romans findet nicht statt. Der Text wird stattdessen vornehmlich (vor allem um direkte Charakterisierungspassagen) gekürzt, aber in seinen Grundzügen unverändert übernommen, und, sollte der Inhalt nicht direkt darstellbar, »nonvisuell« sein, der in Austers Roman angelegten Basis folgend suggestiv erweitert. Diese Erweiterung geschieht mit Mitteln, die dem Comic durch seine Medialität gegeben oder sogar für diesen exklusiv sind und die deutlich machen, dass es sich hier weniger um einen bloßen Wechsel zwischen zwei Medien, sondern eher um die Überschreitung der Grenzen weit mehrerer Medien handelt. Doch »[w]ie der Roman Austers mit Blick auf seine Beziehungen zu anderen Texten gelesen werden muss, so der Comic mit Blick auf andere Bilder«6, ja sogar auf gestalterische Konventionen und Stilmittel. Ein Beispiel hierfür ist die Szene, in der der jüngere Peter Stillman seine Vorgeschichte erzählt.7 So steht im Roman: Der Körper agierte wie die Stimme [...]. Quinn hatte den Eindruck, dass […] jede Funktion neu erlernt worden war, sodass die Fortbewegung zu einem bewussten Prozess geworden und jede Bewegung in die Teilbewegungen zerlegt war [...].8

Einerseits füllt die dazugehörige Bildsequenz die durch den Medienwechsel entstandenen Übertragungslücken aus. Zeichnerisch ein »visuelles Äquivalent«9 zur transportierten Stimmung der dazugehörigen Passage aus Paul Austers Stadt aus Glas, verändert sie die eigentliche Handlung nicht, sondern kürzt sie auf der Textebene lediglich zusammen, impliziert den vermeintlich so verloren gegangenen Inhalt aber durch die Konnotation bildlicher Signale: Stillmans seitenlanger, bewusstseinsstromartiger Monolog Stillmans aus dem Roman10 wird in seiner Länge und gebrochenen, aber doch gegebenen Kontinuität durch eine ebenso kontinuierliche wie unzusammenhängende, Panelfolge wiedergegeben. Inhaltlich visualisieren die teils naiven, teils verstörenden Bilder den naiven, verstörten Geisteszustand Peter Stillmans und dessen »Art eines Kindes, [die Geschichte] zu erzählen«11. Von der realistischen Zeichnung einer menschlichen Figur über Höhlenmalereien zu unbelebten Gegenständen, die allesamt die Gemeinsamkeit sprechender Öff6 Schmitz-Emans: Literatur-Comics, S. 402. 7 Paul Karasik/David Mazzucchelli: Paul Austers Stadt aus Glas. Nach dem Roman von Paul Auster, Berlin 2006, S. 21-29; im Folgenden zitiert mit der Sigle SaG und Seitenzahl. 8 Auster: Stadt aus Glas, S. 21. 9 Spiegelmann: Stadt aus Bildern statt aus Worten, S. 5. 10 Vgl. Auster: Stadt aus Glas, S. 22-30. 11 Auster: Stadt aus Glas, S. 34.

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nungen haben, charakterisieren diese Bilder die (Sprach-)Verwirrung Stillmans. Auch die »Marionette [...], die ohne Fäden zu gehen versucht«12, als die Stillman beschrieben wird, findet sich im Comic abgewandelt als Endpunkt des Monologs wieder. Dass das erste Panel wiederum Charon, den mythologischen Fährmann vom Styx, als Anfangspunkt der Erzählung verortet, scheint ebenfalls kein Zufall zu sein, schließlich erhält auch für den kleinen Peter die mythologische oder mythologisierte Dimension des Wahnsinns seines Vaters eine verhängnisvolle Bedeutung. Die simple Ausgestaltung der Panels – Objekt vor weißem Hintergrund – visualisiert die reduzierten »maschinenmäßig[en], ruckartig[en]«13 Sätze Stillmans. Der Comic wendet hier andererseits die gezeichneten Äquivalente originär filmischer Stilmittel an: »Dabei gelingt es dem Comic nicht nur sich dem Film anzunähern, sondern gleichzeitig auch ihn […] zu überbieten«14, er reflektiert und übersteigt diesen Ursprung. So nutzt er das Medium und die gegebene Panelstruktur, um erstens gestalterische Praktiken des Films wie Kamerafahrten zu visualisieren, sie aber zweitens auf eine Art und Weise einzusetzen, wie sie für den Realfilm in dieser medialen Homogenität nicht möglich wäre. Zwar könnte diese surreale Szene durchaus auch filmisch umgesetzt werden – auch in einem (Spiel-)Film könnten Kaninchen, Stofftiere, Gitarren oder Tuschenfässchen durch unterschiedliche Trick- und Animationstechniken zum sprechen gebracht werden.15 Allerdings wäre das Ergebnis alleine durch den Produktionsprozess ein transmedialer Bruch und kaum so nahtlos in die restliche Handlung eingebunden wie in Mazzucchellis/Karasiks Graphic Novel: Tusche auf Papier bleibt Tusche auf Papier, egal, ob sie reale oder unmögliche Dinge darstellt;16 die erst in der Imagination des Lesers induzierten Figurenbewegungen sind auf dem Papier so unbelebt wie die gezeigten Objekte;17 das eigentliche Medium und der Ursprung des Dargestellten verändern sich nicht. Die daraus resultierende optische Untrenn12 Auster: Stadt aus Glas, S. 21. 13 Auster: Stadt aus Glas, S. 20. 14 Christian A. Bachmann/Lars Banhold/Véronique Sina: Comics intermedial, interdisziplinär, in: dies. (Hg.): Comics intermedial. Beiträge zu einem interdisziplinären Forschungsfeld, Essen 2012, S. 7-10, hier S. 9. 15 So könnte die gezeigte Kamerafahrt in den Mund, das Innere des Sprechers durch moderne computer generated imagery (CGI) oder die seit inzwischen mehr als einhundert Jahren etablierte stop motion umgesetzt werden. Der klassische Zeichentrickfilm stößt, in diesem Zusammenhang als animierter Comic zu betrachten, nicht auf diese Grenzen, stehen ihm doch ähnliche Mittel zur Verfügung. 16 Vgl. Scott McCloud: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst, Hamburg, 2001, S. 58. 17 Vgl. McCloud: Comics richtig lesen, S. 71.

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barkeit der Realitätsebenen und vergleichweise unauffälligere Brechung der Realitätsillusion im Comic steht in einem engen Zusammenhang mit der den Roman durchziehenden Vermischung von verschiedenen Fiktionalitätsebenen, die für den Protagonisten Quinn wie auch für den Leser kaum trennbar sind.18 Bereits zu Beginn des Comics finden sich weitere zeichnerische Imitationen und Übersteigungen filmtypischer Mittel. Einem establishing shot ähnlich gleitet der Blick des Lesers/Zuschauers, von den Panels geleitet, über Details der Wohnung des Protagonisten und exponiert und kontextualisiert so, der Funktion seines filmischen Vorbilds folgend, die Handlung (vgl. SaG 8f.). Auch hier zeigt sich die dem Comic inzwischen gewissermaßen intrinsische Übersteigung der filmischen Technik: Der vermeintliche Zoom auf eine Häuserwand löst sich letztendlich über den Zwischenschritt labyrinthhafter Linien in einen Fingerabdruck auf (vgl. SaG 10) – erneut etwas, das im Film so homogen und konsequent nicht ohne offensichtlichen medialen Bruch möglich wäre. Stattdessen wird die gewohnte Zoombewegung, ob nun filmisch umsetzbar oder nicht, erst durch die Panelabfolge induziert. Eine weitere Stelle, die filmische Techniken zeichnerisch umsetzt, findet sich später in einer für ein Panel zwischengeschalteten Egoperspektive Quinns (vgl. SaG 100). Die verzerrte, bedrängte Wahrnehmung und Innensicht des Protagonisten wird hier nicht nur durch die eigentliche Ich-Perspektive symbolisiert, sondern auch durch den größeren Bildwinkel, die typischen Verzeichnungen und stürzenden Linien eines (Ultra)Weitwinkelobjektivs verstärkt – erneut eine Praxis aus dem Bereich des Films, der solche Objektive in Kombination mit Egoperspektiven häufig genau für bedrängende, klaustrophobisch anmutende Szenen verwendet. Ein Kameraobjektiv existiert bei dieser gezeichneten Szene natürlich an keiner Stelle des Produktionsprozesses und es wird erst aufgrund seiner impliziten gestalterischen Bedeutung im Film und seiner semiotischen Konnotation von Karasik und Mazzucchelli im Comic imitiert. Aber auch das eigene Genre der Detektivgeschichte – der Architext19 – wird durch diese genuin filmischen Anspielungen reflektiert. Ist Quinn als sein Pseudoautor William Wilson »Autor vieler spannender Kriminalromane« (SaG 9) und Schöpfer des hardboiled detective Max Work, trägt auch der Roman Stadt aus Glas nicht nur mit »all seinen spielerischen Verweisen auf die Pulp-Literatur« (SaG 4) die Züge eines solchen Romans – schließlich wird Quinn selbst innerhalb seiner eigenen Fiktion zu einem hardboiled detective.20 Aber auch diese Annä18 An einer späteren Stelle brechen Mazzucchelli und Karasik jedoch ganz bewusst mit dieser Illusion. 19 Vgl. Genette: Palimpseste, S. 13. 20 Diesen spielt er, um die Identitäts- und Fiktionalitäts(de)konstruktion auf die Spitze zu treiben, unter dem Namen Paul Auster.

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Abb. 1: Karasik/Mazzucchelli: Stadt aus Glas, S. 100.

herung des Romans an das Genre und seines Protagonisten an den Typus führt, wie auch die Suche Quinns, zu keinem konkreten Endpunkt, denn »Auster spielt mit den gattungskonstitutiven Strukturelementen des Kriminalromans und löst sie von innen her auf.«21 Als konsequente Weiterführung finden sich in Paul Austers Stadt aus Glas viele narrative oder visuelle Elemente, die charakteristisch für den film noir der 1940er Jahre sind und der teils als filmische Entsprechung der hardboiled detective-Stories gelten kann.22 Dem film noir, der hardboiled detective story, deren Comicpendant, dem noir comic sowie konkret Paul Austers Stadt aus Glas sind ein gewisses Figureninventar gemein, das sich nicht auf die allgemein »pessimistisch-gebrochene Grundstimmung der Figuren«23 beschränkt: Für Foster Hirsch sind »investigator«, »victim« und »psychopath« die zentralen Figuren [...]. All diese Figuren sind laut Alain Silver und Elizabeth Ward durch zwei Charaktermerkmale gekennzeichnet: »alienation« und »obsession«. Für Michael Walker ergeben sich aus dieser Konstellation zwei typische Protagonisten: Der »seeker-hero« und der »victim-hero« [...].24

21 Schmitz-Emans: Literatur-Comics, S. 385. 22 Vgl. Michael Sellmann: Hollywoods moderner film noir. Tendenzen, Motive, Ästhetik, Würzburg 2001, S. 29-32. 23 Sellmann: Hollywoods moderner film noir, S. 30. 24 Sellmann: Hollywoods moderner film noir, S. 32.

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Diese Typen finden sich in Daniel Quinn verkörpert, zusätzlich zur Rolle des jüngeren Peter Stillmans als (vornehmliches) victim sowie des älteren Peter Stillmans als (vorgeblichen) psychopath. Auch die Figur der (augenscheinlich antiproportional treffend benannten) Virginia Stillman findet sich ganz prominent im Inventar des noir-Repertoires: Quinn kommt bei ihr nicht umhin, sie sich nackt vorzustellen (vgl. SaG 32) und im Nachhinein „eine heimliche Hoffnung« zu hegen, »[d]en Fall so brilliant zu lösen, dass er Virginias Leidenschaft wecken würde« (SaG 66). Sie selbst charakterisiert sich als aufopfernde Ehefrau (vgl. SaG 30-36), motiviert aber nicht nur durch einen Kuss die Begierde und somit Tatkraft des vermeintlichen Privatdetektivs (vgl. SaG 37).25 Aber auch auf zeichnerischer Ebene finden sich Anknüpfungspunkte an den filmischen Prä- und Architext: Auffällig ist der relativ grob anmutende Zeichenstil, der sich (bis auf eine Abweichung ganz am Ende) ausschließlich auf die Farben weiß und schwarz beschränkt und somit harte Kontraste ohne feinere Schattierungen schafft. Der schwarzweiß-Stil eines Undergroundcomics mag aus ökonomischen oder ästhetischen Gründen oder im Zuge der eingangs erwähnten Abgrenzung von quietschbunten Unterhaltungscomics entstanden sein, ist aber bei Paul Austers Stadt aus Glas gleichzeitig auch eine comic noir-konforme26 Reminiszenz an die konvergente Beibehaltung der Farbarmut des film noir, schließlich verwendet dieser die Low-key-Beleuchtung in Opposition zu den high-key-Beleuchtungskonventionen des herkömmlichen Studiostils, das [daraus resultierende] extreme Helldunkel […], dessen harte Kontraste durch undiffundiertes Licht bzw. die weitgehende Vermeidung von Streulicht entstehen. […] Während mit natürlichem Licht […] gestaltete Szenen […] zumeist als Rahmung erzählerischer Einheiten fungieren, spielen die Haupthandlungen in abgedunkelten Räumen, in verschatteten Büros oder unübersichtlichen Appartments, auf regennassen Straßen eingerahmt von dunklen Gebäuden – als monumentalisierter Ausdruck der Ausweglosigkeit oder als Zufluchtsort der Verfolger und Verfolgten, die dort an den Rändern im Dunkel untertauchen können.27 25 »Einen […] wichtigen Charakter im film noir stellt die »femme fatale« oder »circe« dar [...]. Diese Figur zeichnet sich durch ›transgressive sexuality‹ [...] aus und wird als attraktiv, erotisch aufreizend, verführerisch und mysteriös charakterisiert. Sie verkörpert die dunklen sexuellen Sehnsüchte der Männerwelt. […] Trotz der Bedrohung, die die femme fatale für die Männerwelt darstellt, verfallen ihr die männlichen Charaktere dennoch und nehmen den Preis für das Ausleben ihrer dunklen Phantasien bereitwillig in Kauf.« (Sellmann: Hollywoods moderner film noir, S. 33f.) 26 In diesem Zusammenhang gilt mein Dank Dr. Peter Scheinpflug für den Hinweis auf die Gattungskonventionen des comic noir. 27 Burkhard Röwekamp: Vom film noir zur méthode noire. Die Evolution filmischer Schwarzmalerei, Marburg 2003, S. 78.

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Hier zeigt sich weiter: Nicht nur das Figurenrepertoire, auch die Handlungsorte, ihre Darstellung und die daraus resultierende und dadurch transportierte Stimmung von Paul Austers Stadt aus Glas sind charakteristisch für den film noir, finden sich doch all diese Elemente im Roman wie auch im Comic fast vollständig deckungsgleich repräsentiert wieder. Mit ähnlichen Mitteln, die optisch als »Metaphern für Ich-Spaltung«28 fungieren, werden ähnliche Stimmungen erweckt, d.h. »visuelles und narratives Arrangement des Film noir [dienen] der thematischen Perspektive funktional«29. Dabei sind vor allem »[d]as Gefühl der Entfremdung, das Ausgeliefertsein an fremde, höhere Mächte und der Mythos des ›Doppelgängers‹«30 zentrale Effekte dieser visuellen Gestaltung. Auf intradiegetischer Ebene wird der Comic-Quinn ebenfalls zum Inbegriff des thematisierten Genres: Quinn, sonst in Fischgrätsakko und mit aufgeknöpftem Hemd unterwegs, verwandelt sich in den Detektiv der 40er schlechthin, in Krawatte, Fedora und Trenchcoat. Diese fiktionale Typuswerdung markiert David Mazzucchelli dabei zusätzlich durch einen zeichnerischen Eingriff (vgl. SaG 53): Quinn erscheint ursprünglich in einer an Hergé erinnernden (wenn auch variierenden) Simplizität, mit rundem Kopf, Augenbrauen und Knopfaugen, glatt, rund und weitestgehend schattierungslos. Sein Detektiv-Alter-Ego ist noch simpler gezeichnet, gleicht der Figur auf dem Magazincover der Max Work-Krimis (vgl. SaG 9), mit starken Schatten um die Augen, kantig gezeichnet, eher einer Maske denn einem ausgestalteten Gesicht gleichend. Monika Schmitz-Emans folgend kann man auch feststelAbb. 2: Karasik/Mazzucchelli: Stadt aus len: »[D]ie Ähnlichkeit zu CheGlas, oben: S. 9; unten: S. 53. ster Goulds Figur Dick Tracy aus 28 Sellmann: Hollywoods moderner film noir, S. 27. 29 Röwekamp: Vom film noir zur méthode noire, S. 123. 30 Sellmann: Hollywoods moderner film noir, S. 27.

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dem gleichnamigen Comicstrip (1931-1977) ist mehr als nur zufällig.«31 (vgl. Abb. 2) Trotz dieser filmischen Ästhetik bedienen sich Mazzucchelli und Karasik auch diverser, eher comictypischer Stilmittel; Spiegelmann erwähnt in seinem Vorwort in Anspielung auf die Romanhandlung »die Ursprache der Comics« (SaG 5), bringt sie in Verbindung mit der Panelstruktur und den Brüchen und Übergängen in der Erzählung. Die zunehmende Auflösung des uniform grids und die Unordnung der »strengen Reihen winziger Panels« (SaG 5) zum Ende des Comics symbolisieren so beispielsweise den immer stärker an den Tag tretenden Wahnsinn Quinns. (vgl. SaG 134-139) Hierbei handelt es sich bekanntlich um ein relativ gängiges Stilmittel – die Begrenzung und Ordnung des Rahmens und Rinnsteins werden häufig genutzt, um Geschwindigkeit oder Gefühlszustände zu visualisieren und sie den Leser/Zuschauer nachfühlen zu lassen.32 Dass Comics variierende Schriftgrößen, -schnitte oder -typen verwenden, um akustische Phänomene innerhalb oder außerhalb der Sprechblase visuell darzustellen, ist ebenfalls keine neue Erkenntnis.33 Auffällig ist bei Paul Austers Stadt aus Glas die beinahe34 vollständige Abwesenheit von Päng!-Wörtern, also der für viele Comics typischen »graphischen Signale«35, die unterschiedliche Klänge visuell darstellen. Tauchen dann doch Lautmalereien auf, sind es meist Momente, die auf den Protagonisten akustisch und somit auch emotional überwältigend wirken (vgl. SaG 56). Stattdessen findet aber vor allem innerhalb der Sprechblasen eine zusätzliche Charakterisierung durch mehr oder minder subtile Schriftveränderungen statt. So wird beispielsweise die »überraschend sanfte[.] Tenorstimme«36 des älteren Peter Stillman von der sonstigen Sprache der Figuren abgehoben, indem der Text jeder seiner Sprechblasen mit einem Initial versehen wird. Hier findet sich also ein interpikturaler Verweis auf eine vor allem historische Typographiepraxis – also vornehmlich alte, eben mit Initialen geschmückte Bücher, wie beispielsweise das von Stillman rezipierte Paradise Lost John Miltons (1667). Über den Umweg 31 Schmitz-Emans: Literatur-Comics, S. 404. 32 Vgl. z.B. Scott McCloud: Making Comics. Storytelling secrets of Comics, manga and graphic novels, New York 2006, S. 32-34; 45f.; Jakob F. Dittmar: Comic-Analyse, Konstanz 2008, S. 57-66. 33 Vgl. Dietrich Grünewald: Comics. Kitsch oder Kunst? Weinheim/Basel 1982, S. 38. 34 Sieht man ab von der Szene in der Grand Central Station, in der der Lärm des herannahenden Zuges typographisch dargestellt wird – eine unvermeidlich laute Stelle in einem sonst, typographisch wie auf Ebene der Handlung, sehr leisen Werk (vgl. SaG, S. 56). 35 Grünewald: Comics, S. 38. 36 Auster: Stadt aus Glas, S. 97.

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eines bildlichen Signals, eben das Initial, wird so, dem Einsatz der Filmstilmittel ähnlich, eine Assoziation mit einer Konvention ausgelöst und ihre Charakteristik mit der – in diesem Falle archaisch anmutenden – typischen Sprechweise einer Figur verknüpft. Ähnlich verhält es sich auch mit den Szenen, die Quinns Betrachtungen von Obdachlosen darstellen (vgl. SaG 108-110). Durch die Änderung der Schrifttype wird der Wechsel des Erzählers und der Erzählebene ins metametadiegetische37 gekennzeichnet und in Kombination mit surreal-expressionistischen Darstellungen visualisiert. Auch die zum Ende der Graphic Novel eingeführten Passagen (vgl. SaG 113, 139-144) mit Captions in stilisierter Schreibmaschinenschrift markieren einen ähnlichen Wechsel, von Quinns eigenem Bericht hin zum vorgeblichen, anonymen Finder eben dieses Berichts. Erst durch diese Schrift- und somit Erzählerwechsel wird in der Graphic Novel auch deutlich, dass die sonstige Übereinstimmung der Schrift zwischen den eigentlichen Sprechblasen und den (erneut auch noir-typischen38) voice-overs bzw. Captions am oberen Bildrand daher rührt, dass die Handlung des Romans wie auch die des Comics auf einem in der dritten Person verfassten, subjektiven Bericht Quinns basiert. Es handelt sich bei dem größten Teil der Romanhandlung also um eine metadiegetische Erzählung, eingebettet in die Erzählung des anonymen, durch Schreibmaschinenschrift kenntlich gemachten Verfassers (vgl. Abb. 3). Mazzucchelli und Karasik weben zusätzlich zu dieser an sich comictypischen Gestaltung typographischer Elemente weitere inter- oder auch archipikturelle39 Verweise in ihre Inszenierung von Paul Austers Roman ein, die ihren Ursprung in dessen hohem Maß an Intertextualität finden und diese Tendenz um die Bildebene ergänzt weiterführen.40 So ist beispielsweise die mehrfach verwendete Zeichnung des Eis Humpty Dumpty (vgl. SaG 81, 85, 136) ein direktes Zitat von John Tenniels Illustrationen zu Lewis Carrolls Through the Looking Glass (1871). Seine Verwendung im Prä37 Vgl. zu den Erzählebenen v.a. Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 2009, S. 75-80, hier S. 76. 38 Röwekamp: Vom film noir zur méthode noire, S. 102f. 39 Hier in Analogie zu Genettes Begriff des Architexts verwendet (vgl. Genette: Palimpseste, S. 13). 40 Monika Schmitz-Emans teilt diese Verweise in zwei Kategorien ein: »Zu unterscheiden sind erstens direkte Bildzitate (also Montagen bekannter Bilder ins eigene Panel) und indirekte Zitate, bei denen nicht ein bestimmtes Motiv, sondern ein Zeichen- oder Malstil zitiert wird. Zweitens wäre zu differenzieren zwischen Zitaten, die auf jeweils unterschiedliche Bildmedien verweisen: auf Gemälde und Graphiken, auf Photos und Filme – und auf andere Comics.« (Schmitz-Emans: Literatur-Comics, S. 401)

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Abb. 3: Karasik/Mazzucchelli: Stadt aus Glas, S. 113.

text wie auch der gezeichneten Neuinszenierung ergibt sich aus Humpty Dumptys Rolle in der Erzählung sowohl Austers als auch Carrolls. Letztendlich setzen sich Alice und ihr eiförmiger Gesprächspartner, wie auch der ältere Stillman, mit Bedeutung und Ursprung sprachlicher Zeichen, also der Semantik, auseinander41: »Humpty Dumpty: die reinste Verkörperuing des Menschseins. Hören Sie mir aufmerksam zu, Sir. [...] [D]enn wie kann Humpty Dumpty leben, wenn er noch nicht geboren wurde? Und dennoch lebt er – täuschen Sie sich da nicht. Wir wissen es, weil er sprechen kann. Mehr noch, er ist ein Sprachphilosoph. ›Wenn ich ein Wort gebrauche, sagte Humpty Dumpty in leicht verächtlichem Ton, so bedeutet es das, was ich will, dass es bedeutet – weder mehr noch weniger. Die Frage ist nur, sagte Alice, ob Sie machen können, dass Wörter so viele verschiedene Dinge bedeuten. Die Frage ist, sagte Humpty Dumpty wer der Herr sein soll – das ist alles.‹«42 41 Vgl. zur Rolle von Carrolls Figur als ›Sprachphilosoph‹ und Semantiker auf Basis des entsprechenden Abschnitts aus Through The Looking Glass weiterhin auch Wilhelm Köller: Narrative Formen der Sprachreflexion, Berlin 2006, S. 315-348. 42 Die zitierte Passage stammt aus Auster: Stadt aus Glas. S. 107; im Comic findet sich

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Ähnlich verhält es sich mit der Abbildung des babylonischen Turms (vgl. SaG 46), die die Wiener Version des Gemäldes Der Turmbau zu Babel (Pieter Bruegel d.Ä., 1563) reproduziert. Auch hier wird der Diskurs über die Herkunft und Arbitrarität sprachlicher Elemente durch das Sujet thematisiert, ist doch der Turmbau zu Babel der biblische Auslöser für die Sprachverwirrung, letztendlich also des Entstehens verschiedener Sprachen aus einer gemeinsamen, hypothetischen Ursprache.43 Diese separaten, aus der klassischen bildenden Kunst stammenden Zitate tauchen an gerade den Stellen auf, an denen das Verhältnis zwischen Bezeichnung und Bezeichnendem thematisiert wird.44 Durch die Substitution der Zeichnungen Mazzucchellis mit direkten Photokopien, also »Bilder von Bildern«45, wird an dieser Stelle dann mit der bereits angesprochenen Realitätsillusion gebrochen, obwohl diese Passagen auch durchaus abgezeichnet werden könnten und auch vor und nach der Verwendung ihrer direkten Kopie zusätzlich von Mazzucchelli gezeichnet wurden. Doch auf zum Inhalt passend maßgeschneiderte (oder -gezeichnete) Bilder verzichten die Autoren der Graphic Novel, um stattdessen die in Austers Roman omnipräsente Sprachverwirrung zwar nicht direkt durch einen Medien-, aber doch offensichtlichen Quellenwechsel (von Mazzucchellis eigenen Zeichnungen zu bestehenden bekannten Kunstwerken) zu markieren. Vor allem wird so aber die im Prätext vorhandene Intertextualität intermedial, interpiktural fortgeschrieben und der »durch City of Glass vermittelten Zentralidee« Nachdruck verliehen, dass es »in der Welt keine Originale, nichts Authentisches und entsprechend auch keine Fälschungen gibt«46 (vgl. Abb. 4). die Passage gekürzt auf S. 80f. (Hervorhebung im Original) und basiert in beiden Fällen auf einem Auszug aus Through the Looking Glass, dessen deutsche Übersetzung durch Christian Enzensberger wie folgt lautet: »›Wenn ich ein Wort gebrauche‹, sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, ›dann heißt es genau, was ich für richtig halte – nicht mehr und nicht weniger.‹ / ›Es fragt sich nur‹, sagte Alice, ›ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.‹ / ›Es fragt sich nur‹, sagte Goggelmoggel, ›wer der Stärkere ist, weiter nichts.‹« (Lewis Carroll: Alice im Wunderland. Alice hinter den Spiegeln. Zwei Romane, übersetzt und hg. von Christian Enzensberger, Frankfurt a.M. 1963, S. 198) 43 In diesem Zusammenhang findet sich auch noch eine weitere Bibelillustration in die Zeichnungen zu Paul Austers Stadt aus Glas integriert: Die Darstellungen von Adam, Eva und der Schlange sind direkte, wenn auch vergrößerte und zurechtgeschnittene Kopien eines Kupferstichs Albrecht Dürers von 1504. 44 Beim Turm von Babel und Humpty Dumpty konkret, bei Adam und Eva zumindest in der Interpretation Stillmans. 45 Schmitz-Emans: Literatur-Comics, S. 388. 46 Schmitz-Emans: Literatur-Comics, S. 389.

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Abb. 4: Karasik/Mazzucchelli: SaG, links S. 33; rechts S. 45; unten S. 110.

Diese konkreten Bildzitate werden durch weitere Stilzitate neben der generellen noir-Ästhetik ergänzt, die auf interpikturaler Ebene durch ihren assoziierten Bedeutungsgehalt den Zeichenstil Mazzucchellis ergänzen. Mit den eigens erfundenen Piktogrammen, die in Virginia Stillmans Erzählung einen Aspekt von Peters Kindheit und Gefangenschaft pro Panel darstellen (Vgl. SaG S. 33-35), wird nicht nur »auf die semiotischen Systeme des öffentlichen Raumes [...] angespielt«47. Sie haben zusammengenommen einen technisierten, methodische Distanz, Autorität und letztendlich Unmenschlichkeit symbolisierenden Charakter: Das Verhalten des älteren Stillman wird einerseits zunehmend unmenschlicher, und seinem misshandelten Sohn wird die Entwicklung zum vollständigen Menschen und Mitglied der Gesellschaft so verwehrt, wie auch die Piktogramme optisch zwar menschliche Umrisse aufweisen, aber keine individuellen Züge oder Differenzierungen. Damit verknüpft ist andererseits auch Virginias teils professionelle, teils um Fassung bemühte Distanz den Ereignissen gegenüber, von denen sie auch nur 47 Schmitz-Emans: Literatur-Comics, S. 390.

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aus zweiter Hand erfuhr. Während die Erzählung ihres Ehemannes dessen persönliche, intime Innensicht wiedergibt, ist ihr Wissen über die Ereignisse reduziert, abstrahiert, schemenhaft; der Erzählstil ist an der entsprechenden Stelle auch in der literarischen Vorlage knapp. Auch der Aspekt der Autorität und Macht findet sich hier visualisiert: Der Rauswurf des Dienstmädchens, die häusliche Gewalt an Peter, aber auch die Verurteilung des Vaters finden ihre Repräsentation im Comic gerade durch den assoziierten Bedeutungsgehalt der Piktogramme.48 Die Passagen, die Stillmans Theorie von der Sprachentstehung im Paradies illustrieren, erhalten ihren archaisch wirkenden Charakter durch die grobe, simpel schraffierte Linienführung, die stark an mittelalterliche Holzschnitte angelehnt ist (vgl. SaG 45, 49). Ähnlich zitiert Mazzucchelli in Quinns zunehmend manischem Obdachlosen-Exkurs (vgl. SaG 108-110) expressionistische Holz- oder Linolschnitte, beispielsweise auch – ein ähnliches Maß an (urbaner) Armut und Verzweiflung transportierend – an den Stil von Käthe Kollwitz’ Krieg dem Kriege (1923) angelehnt. In die entgegengesetzte Richtung funktioniert die bereits erwähnte letzte Erzählpassage, deren Ebenen- und Erzählerwechsel durch Schreibmaschinenschrift markiert wurde. Zusätzlich zu dieser zeigt sich hier die weniger durch Manie und imaginierte Genrekonventionen verzerrte Weltsicht des eigentlichen Erzählers in einem sanfteren aquarellhaften Stil ohne strikte, begrenzte Panelabfolge, die der harschen, kontrastreichen Charakterisierung von Daniel Quinns eigenem Bericht entgegensteht (vgl. SaG 142f.). Diese Analyse der Transfertechniken in und Einflüsse auf Paul Austers Stadt aus Glas zeigt die Bandbreite der (inter)medialen Gestaltungs- und Zitiermöglichkeiten, die sich dem modernen Comic bieten. Neben intrinsischen Stilmitteln wie der Variation des Schrifftyps und dem Aufbrechen der Panelstruktur ist es vor allem die Nähe zum film noir und noir comic, die weite Teile der Konzeption beeinflusst haben. Dies schlägt sich sowohl in der Ästhetik als auch im Inhalt nieder und visualisiert den bewussten und unbewussten kulturellen und intermedialen Kreislauf zwischen Stilmitteln, Genres, Konventionen, Prä- und Architexten. Paul Austers Stadt aus Glas, 1994 auf Englisch, 1999 das erste Mal auf deutsch erschienen und somit ein noch durchaus aktueller Vertreter des kultur- und literaturgeschichtlich ohnehin sehr jungen Mediums Comic, reiht sich hier in verschiedene architextuelle Themen- und Stilkomplexe, Gattungen und Medienkonventionen ein – Karasiks und Mazzucchelis Graphic Novel schwebt in einem Geflecht von amerikanischem hard-boiled über den film noir bis hin zum eher europäischen

48 Vgl. zur Semantisierung dieser Stilzitate auch Schmitz-Emans: Literatur-Comics, S. 388-391.

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Expressionismus49, neben mittelalterlichen Holzschnitten und Meisterwerken der bildenden Künste, ist also »unter anderem ein Medien-Museum«50. Dadurch findet sich in dieser Übersetzung an einigen Stellen auch eine vor allem suggestive Erweiterung des Prätexts.51 Die »ständig wechselnden narrativen Stile[.]« (SaG Vorwort, 4) aus Paul Austers Romanvorlage finden sich dabei – die dem Prätext immanente Intertextualität fortschreibend – ebenfalls durch zeichnerische und intermediale Stilvielfalt und Bildzitate visualisiert: »Bildliches Pendant einer Welt aus Zitaten und eines entsprechend als intertextuelles Potpourri konstruierten Romans ist die Montage von Bildzitaten«52. Diese aus unterschiedlichsten Quellen gespeiste Intermedialität spielt letztlich auch der Offenheit der Handlung und plakativen Unfestlegbarkeit der Erzählung in die Hände; auf die geistige Verwirrung sowohl des älteren wie auch des jüngeren Stillman, vor allem aber Quinns folgt die optische Verwirrung des Lesers. An dieser Stelle angelangt bleibt sowohl im Sinne des Prätextes, des Comics wie auch dieser Analyse nur ein halb offenes Ende. Die Ursprache dieses Comics ist zumindest umrissen und alle Ungenauigkeiten dieser Geschichte müssen mir zum Vorwurf gemacht werden. Es gab Augenblicke, in denen der Text schwer zu entziffern war, aber ich habe mein Bestes getan und mich aller Deutungen enthalten.53

49 Der film noir wiederum wurde bekanntlich vom Expressionismus beeinflusst (vgl. Sellmann: Hollywoods moderner film noir, S. 27). 50 Schmitz-Emans: Literatur-Comics, S. 401. 51 So identifiziert Monika Schmitz-Emans beispielsweise das Seitenverhältnis der einzelnen Panels in Paul Austers Stadt aus Glas als »ziemlich genau dem nordamerikanischen Format ›Legal‹, einem Standard für Brief- und Schreibmaschinenbögen« (Schmitz-Emans: Literatur-Comics, S. 392), also auch dem vermutlichen Format von Quinns Notizheft, entsprechend. 52 Schmitz-Emans: Literatur-Comics, S. 400. 53 Auster: Stadt aus Glas, S. 175.

Die Panelstruktur kann eigene Geschichten erzählen. Analyse von Paul Karasiks und David Mazzucchellis Paul Austers Stadt aus Glas L isa -C arolin K rause

Der Comic von Paul Karasik und David Mazzucchelli nach Paul Austers Vorlage Stadt aus Glas ist eines jener Werke, die auf besondere Art und Weise mit dem Aufbau der Seite und der Panelstruktur spielen. Fast durchgängig findet der Leser beim Umblättern der festen, glänzenden Seiten ein uniform grid1 mit neun gleich großen Einzelbildern. Aufgrund dieser Einheitlichkeit bleibt auch das ungeübte Auge besonders an Abweichungen von der ›Norm‹ hängen und ruht auf diesen, um sie näher zu betrachten und auf Einzelheiten hin zu untersuchen. Diese Ausnahmen werden dazu verwendet, den Erzählfluss zu lenken und die Aufmerksamkeit des Rezipienten gezielt zu steuern. Der Comic von Mazzucchelli und Karasik bietet sich in dieser Hinsicht geradezu an, um Panelstruktur und Rahmung genauer zu analysieren. Im Folgenden werden einige ausgewählte Panels näher untersucht. Als der 35-jährige Daniel Quinn aufgrund einer Verwechslung für den Detektiv Paul Auster gehalten wird, spielt der Schriftsteller kurzerhand mit, um ganz und gar in der Rolle seines Romanhelden Max Work aufzugehen. Sein Auftraggeber – Peter Stillman – lädt ihn zu einem Gespräch ein, um sein Anliegen vorzubringen. Die erste Begegnung der Beiden wird durch ein Panel eingeleitet, welches die ersten beiden Reihen des uniform grid umfasst.2 Das Erzähltempo wird verlangsamt, der Leser bleibt an diesem Panel sprichwörtlich ›kleben‹. Denn das große Panel beeinflusst das Zeitempfinden3 und lässt den Augenblick des Eintre1 Jakob F. Dittmar: Comic-Analyse, Konstanz 2008, S. 62. 2 David Mazzucchelli/Paul Karasik: Paul Austers Stadt aus Glas, Berlin 2006, S. 20; im Folgenden zitiert mit der Sigle SaG und Seitenzahl. 3 Vgl. Scott McCloud: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst, Hamburg 2001, S. 109.

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tens von Stillman langwierig und beschwerlich erscheinen. Besonders deutlich wird dies im Kontrast zu der sonst so einheitlichen Einteilung in neun Einzelbilder. Die drei darunter liegenden Panels, welche wiederum in das Rahmenraster des uniform grid passen, zeigen eine Handlung von Augenblick zu Augenblick.4 Die Seite kommt ganz ohne Sprechblasen oder Captions aus. Peter Stillman betritt auf dem oberen, großen Panel den Raum, auf den drei kleineren Panels setzt er sich langsam und schwankend auf einen Sessel. Die Rahmung der Panels ist klar und gerade, nur an den Ecken tritt der Strich scheinbar ein Stück weit über, gerade so, als habe der Zeichner die Rahmenlinien mit dem Lineal gezogen und sei dabei mit dem Stift etwas zu weit über die Ecke hinausgefahren. Dadurch entstehen kleine, fast unsichtbare Überschüsse am Rinnstein. Es folgt ein langer Monolog Stillmans (SaG 21-27), welcher der Geschichte durch den Einsatz verschiedener Perspektiven eine gewisse Dynamik verleiht. Zu sehen sind mehrere Seiten im uniform grid. Während Stillman spricht, fällt der Blick des Betrachters auf der ersten Seite durch seinen Mund in einen strudelförmigen Abgrund hinein. Dadurch wird Stillmans Rückblick in die Vergangenheit eingeleitet. Auf der nächsten Doppelseite nähert sich der Blick Panel für Panel einem Fährmann, dem durch Sprechblasen die Stimme Stillmans verliehen wird. Durch die Darstellung ein und desselben Motivs verlangsamt sich der Erzählfluss an dieser Stelle. Dem nächsten Bild – eine Art Höhlenzeichnung – wird nur noch eine Seite gewidmet. Auch hier erscheint der Blick auf die Panels zunächst wie durch ein Fernglas, dann jedoch immer näher kommend, bis schließlich nur noch breite Linien zu erkennen sind. Die langen, geschwungenen Ventile der Sprechblasen führen in den Mund der Höhlenzeichnung. Der Erzählfluss wird nun schneller, da die einzelnen Motive immer weniger Panels in Anspruch nehmen. Was zunächst eine Doppelseite war, wird in Stillmans Monolog zu einer Seite, einer Panel-Reihe, weiter zu zwei einzelnen Panels und schließlich zu einem einzelnen Panel pro Motiv. Nicht die Panelstruktur verstärkt hier den immer schneller werdenden Blick des Rezipienten, sondern die Verteilung der Motive auf die Panels und das damit einhergehende Spiel mit Ferne und Weite. Die starke Beschleunigung mündet in einer ersten, besonders auffälligen Doppelseite, welche den Leser einige Momente in ihren Bann zieht. Quinn ist noch in das Gespräch mit Peter Stillman vertieft. Nach einigen Seiten im uniform grid eröffnet sich nach dem Umblättern zunächst ein schwarzes Panel, das seine Bedeutung erst auf den zweiten Blick entfalten kann (vgl. SaG 28). Der Rinnstein ist nach oben und unten hin durch je eine Linie von der äußeren Umrahmung getrennt. Durch den Einsatz weiterer Linien an den waagerechten Spalten des Rinnsteins entsteht ein dreidimensionaler Effekt, welcher den Rinnstein zu Gefängnis4 McCloud: Comics richtig lesen, S. 78.

Die Panelstruktur in Karasiks/Mazzucchellis Stadt aus Glas | 303

Abb. 1: Karasik/Mazzucchelli: Stadt aus Glas, S. 28f.

gittern werden lässt. Dadurch wird das split panel auf besondere Art und Weise auch zu einer splash page (vgl. Abb. 1). Über dem Schlüsselloch der Gefängnistür befindet sich eine Sprechblase mit einem noch längeren, geschwungenen Ventil. Da dieses sich durch alle Panel-Reihen bewegt, bindet die Sprechblase den Blick des Betrachters an das Panel rechts oben.5 Der Aufbau der Seite steht in einem starken Kontrast zum Inhalt, denn Stillman spricht von Hoffnung, während ein Gefängnis wohl eher auf seinen wahren Gemütszustand und seine Vergangenheit schließen lässt. Direkt daneben befindet sich eine weitere splash page, die den Gegensatz von Gesagtem und Gezeigtem erneut aufgreift (vgl. SaG 29) und das vorangegangene Panel somit unterstützt. Als Quinn beschließt, den ›Fall Stillman‹ anzunehmen, legt er sich ein neues Notizbuch zu. Darin hält er zunächst all seine Gedanken zum Fall fest (vgl. SaG 43). Dem Rezipienten eröffnet sich ein split panel, welches den nachdenklichen Quinn zeigt, der entblößt am Schreibtisch sitzt und in sein Notizbuch schreibt. Der schwarze Hintergrund ist durch verstreute, herausgetrennte Buchseiten unterbrochen. Auf Gedankenblasen wurde verzichtet, dafür sind Quinns Gedanken auf den verstreuten Seiten zu lesen. Durch den Rinnstein wirkt der Blick über dieses Panel, als sei er durch ein Fensterkreuz unterbrochen. Der Betrachter nimmt die Position eines Voyeurs ein, der den Protagonisten in einem intimen Moment heimlich be5 Andreas Platthaus: Hinter den Linien. David Mazzucchellis Stadt aus Glas, in: ders.: Im Comic vereint. Eine Geschichte der Bildgeschichte, Berlin 1998, S. 79.

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obachtet. Die umherfliegenden Notizbuchseiten sind eindeutig als Gedanken, vielleicht sogar als Traum oder Tagtraum Quinns zu verstehen, welchen er unter normalen Umständen vermutlich nicht unbedingt mit der Öffentlichkeit teilen würde. Als Quinn alias Paul Auster wenig später die Verfolgung von Stillman Senior aufnehmen will, entdeckt er am Bahnhof zwei Männer, die äußerlich zu dem Mann auf dem Foto passen könnten (vgl. SaG 59). Er muss sich entscheiden, welchen der beiden Männer er verfolgt und ist somit gezwungen das Risiko einzugehen, möglicherweise dem Falschen zu folgen. Bildlich dargestellt wird diese Szenerie durch drei kleinere Panels, die wiederum von der Form her in die Struktur des uniform grid passen. Darauf folgt ein großes, rahmenloses Panel, welches sich über den Rest der Seite erstreckt und somit den Platz von sechs Einzelbildern des uniform grid einnimmt. Quinn steht mittig im Hintergrund, die Männer gehen nach links und rechts. Bei näherer Betrachtung ist zu erkennen, dass beide über den unsichtbaren Rahmen hinweg aus dem Panel heraustreten. Monika Schmitz-Emans hat darauf hingewiesen, dass es in Stadt aus Glas nur drei rahmenlose Panels gibt, die jeweils eine Krise des Protagonisten markieren.6 So ist es auch an dieser Stelle, denn hier symbolisiert der fehlende Rahmen die Eile und Dringlichkeit, in der sich Quinn für einen der beiden Männer entscheiden muss. Täte er dies nicht, würde er die Spur beider verlieren. Zudem ist Quinns Gesicht stark abstrahiert dargestellt (vgl. Abb. 2, SaG 58f.). Andreas Platthaus sieht einen Zusammenhang zwischen Quinns Cartoongesicht und dem starken psychischen Druck, unter dem der Protagonist an vielen Stellen des Comics steht.7 Der Fall um Stillman Junior und Senior bildet Quinns einzigen Lebensinhalt und dieser droht, in dem rahmenlosen Panel verloren zu gehen. Hier zeigt sich ein Identitätsverlust im doppelten Sinn: Denn nicht nur Quinn wird durch sein vereinfachtes, ausdrucksloses Gesicht jegliche Persönlichkeit genommen; auch die Gesichter der aus dem Panel heraustretenden Männer sehen sich zum Verwechseln ähnlich, sodass beide nur anhand ihrer Kleidung voneinander zu unterscheiden sind. Die zweite rahmenlose Stelle findet sich, als Quinn den ›echten‹ Paul Auster aufsucht, um diesem zu beichten, dass er sich für ihn ausgegeben hat. Er merkt, dass irgendetwas an dem Fall nicht stimmen kann, da auch Auster in Wirklichkeit kein Detektiv, sondern Schriftsteller ist. Als dann noch dessen Familie nach Hause kommt, flieht Quinn regelrecht und rennt zurück in seine Wohnung. Dieses Panel, in dem Daniel Quinn rennt, ist erneut ohne Rahmen dargestellt (vgl. SaG 103). Er läuft ins Ungewisse, ins Unendliche und weiß nicht, was er glauben kann und was nicht. Zudem wurde ihm durch Austers Frau und Sohn noch einmal der Verlust seiner eigenen Familie vor Augen geführt. Die visuell dargestellte Unsicherheit 6 Monika Schmitz-Emans: Literatur-Comics. Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur, Berlin/Boston 2012, S. 78. 7 Vgl. Platthaus: Hinter den Linien, S. 83.

Die Panelstruktur in Karasiks/Mazzucchellis Stadt aus Glas | 305

Abb. 2: Karasik/Mazzucchelli: Stadt aus Glas, S. 58f.

Quinns wird durch das rahmenlose Panel nur noch verstärkt. Obwohl er von der Seite zu sehen ist, hat Quinn an dieser Stelle kein Gesicht. Seine psychische Krise scheint ins Unermessliche zu steigen. Zunehmend interessant werden die panel grids aber zum Ende des Comics hin. Quinn hat vom richtigen Paul Auster erfahren, dass Stillman Senior sich umgebracht hat. Auch dies ist einer der Zeitpunkte, der rahmenlos realisiert wurde (vgl. SaG 125). Quinns Verzweiflung steigert sich. Da sich Virginia und Peter Stillman telefonisch noch immer nicht erreichen lassen, geht Quinn zu deren Haus. Auf einer splash page und drei darauf folgenden, gleich großen Panels ist das leergeräumte Haus der Stillmans zu sehen (vgl. SaG 130f.). Dies verlangsamt das Erzähltempo der vorher durch kleinere, hektische Panels beschleunigten Handlung. Der mittlerweile stark verwahrloste Quinn schlurft regelrecht durch die leeren Räume und begreift dabei scheinbar, dass all seine Arbeit umsonst war. Es ist für den Leser nicht eindeutig, was passiert ist. Die Verzweiflung Quinns ist jedoch auch ohne mit Wörtern gefüllte Sprechblasen oder Captions erkennbar. Er zieht sich aus und legt sich in einen der leeren Räume. Seine Augen sind in den verschiedenen Panels teilweise nicht zu erkennen, sodass Quinns nur schemenhaft angedeutetes Gesicht erneut auf seinen Gemütszustand schließen lässt. Von diesem Zeitpunkt an beginnt seine sonst so geordnete Welt zu bröckeln (vgl. SaG 133-135). Quinn bricht zusammen. Er lebt nicht mehr, sondern vegetiert regelrecht vor sich hin und schreibt. Der Rinnstein wird unregelmäßig und gerät aus den Fugen. Die sonst förmlich starr angeordneten Panels geraten ins Schwanken,

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so wie das Leben des Protagonisten seine Ordnung verloren hat. Sie variieren stark und sind nicht mehr in Reih und Glied platziert, bis sie schließlich wie Postkarten verstreut auf der Seite liegen. Ihre Rahmen erscheinen nicht mehr wie mit dem Lineal gezogen, sondern frei von der Hand. Nach diesen drei Seiten setzt die Paginierung des Comics aus. Der Hintergrund der nächsten Doppelseite zeigt einen steinernen Abgrund, vor dem Quinn bildlich gesprochen steht. Sein Leben hat mittlerweile anscheinend den letzten Sinn verloren. Die 15 Panels fallen den Abgrund hinunter wie einzelne Buchseiten (vgl. Abb. 3, SaG 136f.). Einen Rinnstein gibt es ab dieser Doppelseite nicht mehr. Begrenzt wird das gesamte Bild lediglich durch die Grenzen der Seite. Im tiefen Schwarz der abgebildeten Schlucht ist kein Boden in Sicht. Auf den letzten herunterfallenden Seiten taucht Quinn ins Wasser ein. Es ist nicht klar, ob er ertrinkt oder ob er überhaupt stirbt. Fest steht jedoch, dass diese doppelseitige splash page Quinns sozialen Absturz unterstreicht. In Erscheinung tritt er auf den darauf folgenden Seiten nicht mehr. Zu sehen ist nur das einheitliche Schwarz, der endlose Abgrund, in den die Seiten seines Lebens fallen. Seine Sprache und seine Schriften haben sich verselbstständigt. Die fallenden Blätter sind mit Captions bedruckt, welche dies unterstützen. Dabei ist auffällig, dass das größte Blatt auf der rechten Seite der doppelten splash page mit Schreibmaschinenschrift bedruckt ist, anders, als die restlichen Seiten und alle Captions zuvor. Dies könnte auf einen Erzählerwechsel hindeuten, aber auch darauf, dass die Geschichte selbst als Schriftstück – besser noch: als Comic – vor dem Leser liegt. Das erneute Umblättern schickt den Betrachter nur noch tiefer ins Dunkel.

Abb. 3: Karasik/Mazzucchelli: Stadt aus Glas, S. 136f.

Die Panelstruktur in Karasiks/Mazzucchellis Stadt aus Glas | 307

Auf dieser doppelseitigen splash page ist das ausgefranste Notizbuch Quinns in völlige Dunkelheit gehüllt. Flammen ergreifen Besitz von dem Buch, eine weitere züngelt vom rechten unteren Bildrand herauf. Was mit Quinn passiert ist, bleibt ungeklärt. Zurück bleibt auf der einzigen Seite des Notizbuches nur die Frage: »Was wird geschehen, wenn in dem Notizbuch keine Seiten mehr frei sind?« (SaG 140) Stadt aus Glas ist einer jener Comics, innerhalb derer mit der Panelstruktur gespielt wird, um den Erzählfluss und das Tempo zu lenken. Die Rahmungen sowie der Rinnstein und das panel grid unterstützen zudem den Verlauf der Geschichte und lassen den Leser an Stellen verweilen, die besondere Aufmerksamkeit verdienen. Dadurch erhält der Comic eine große Dynamik. Die wenigen rahmenlosen Panels verdeutlichen die Ungewissheit und Unsicherheit des Protagonisten Daniel Quinn. Die splash pages fallen dem Betrachter sofort ins Auge, da der Rest des Comics meist einheitlich durch ein uniform grid mit neun gleich großen Panels gestaltet ist. Dadurch wird die gesamte Struktur des Comics aufgebrochen, die Panelstruktur erzählt eine eigene Geschichte.

Stimmung und Kolorierung in Ricards und Maëls Kafka-Comic In der Strafkolonie S ascha W inkler

Bereits 1993 wurde uns die Strafkolonie von David Zane Mairowitz und Robert Crumb mit Kafka im Medium Comic gegeben.1 Die Adaption ist nicht koloriert, fragmentarisch aufgebaut und endet bereits mit dem Tod des Offiziers, obschon die originale Erzählung darüber hinausgeht und mit einer weiteren, wichtigen Erkenntnis aufwartet. Das Vertiefen der Geschichte ist hier auch weniger das Ziel, die Adaption will vielmehr die Erzählung in ihren zum Verständnis nötigen Punkten wiedergeben, ihren Inhalt zum vergleichsweise raschen Erfassen anbieten. Einen anderen Ansatz verfolgen Sylvain Ricard und Maël, indem sie der Strafkolonie einen eigenen Comicband widmen. Hier verwenden sie zumeist Übergänge von Augenblick zu Augenblick und von Handlung zu Handlung,2 bewahren auf diese Weise die Nuancen des gegenseitigen Belauerns und Beobachtens. Und gerade dies trägt viel zur Stimmung des Comics bei, denn immerhin wird die Erzählung Kafkas vom Dialog zwischen dem Reisenden und dem Offizier getragen. In der Strafkolonie soll eine Foltermaschine abgeschafft werden, die über Stunden mithilfe von Nadeln Verhaltensgebote in die Rücken der Verurteilten ritzt und sie anschließend durch Aufspießen tötet. Der für das Betreiben der Maschine zuständige Offizier versucht den Reisenden enthusiastisch zu überreden, bei der morgigen Kommandantursitzung für den Erhalt des »eigentümliche[n] Apparats«3 einzutreten. Da dieser ablehnt, sieht der Offizier sich genötigt mit seiner Maschine unterzugehen und opfert sich selbst in ihr. Von diesem Geschehen schockiert, will der Reisende die Kolonie verlassen, wird zuvor in einem Teehaus jedoch Zeuge 1 Vgl. David Zane Mairowitz/Robert Crumb: Kafka, Berlin 2013. 2 Vgl. Scott McCloud: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst, Hamburg 2001, S. 78-82. 3 Sylvain Ricard/Maël: In der Strafkolonie. Nach Franz Kafka, München 2012, S. 3; im Folgenden zitiert mit der Sigle S und Seitenzahl.

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von der in den Bewohnern lauernden Faszination für diese Idee der Tötung. Wichtigster Gegenstand der Geschichte ist demnach die Kommunikation, entsprechend dem unbedingten Überzeugungswillens des Offiziers. Die zentrale Fragestellung der nachfolgenden Betrachtung bezieht sich daher auf die Möglichkeiten der dem Rezipienten angebotenen Figurenkommunikation, welche die Strafkolonie-Adaption bereit hält: Wie steuern Kolorierung und Panelstruktur die Rezeption des Comics? Schon Scott McCloud verweist auf die prinzipielle Bedeutung der Farbe, die zwar im als trivial geltenden Superheldencomic vorrangig kommerziellen Zwecken diene, in anspruchsvollen Comics hingegen Stimmungen vermittle4 und daher bei der nachfolgenden Betrachtung unbedingt in den Fokus genommen werden muss. Die von Maël gewählte Palette in zumeist Grau-, Rot- sowie Gelbtönen unterstreicht die Dialogbeziehung von Figur zu Figur in vielseitiger Weise, da die Farbgestaltung der Panelhintergründe das Lesen des Comics erleichtert und eine Erweiterung der Introspektion anbietet: Sie kann die lokale Hitze darstellen, den insgeheim in der Kolonie geehrten aber veralteten Zeitgeist oder die Müdigkeit des Sich-gegen-den-Fortschritt-Erwehrens, im besonderen jedoch treten die Nuancen der Beziehungsentwicklung zwischen den Figuren stark heraus. Hier wird der Surrealismus der Geschichte in seinem vollen Ausdruck umgesetzt. Die Emotionalität bleibt im Rahmen des Ausdrucks allerdings eine Sache der bildlichen Darstellung und findet sich im Sprechblasentext selbst nicht wieder, stattdessen allerdings in den jeweiligen Panelfarben. So scheinen die Protagonisten bei einem starken Orange laut zu sprechen, bei einem Ocker eher normal und bei einem Grün regelrecht bedrohlich zu flüstern. Da die Kolorierung also auch Einfluss auf die Sprachlautstärke besitzt, gewinnt die Strenge des panel grids von in der Regel drei mal drei Panels ebenfalls einen die Stimmung beeinflussenden Rhythmus,5 denn die Rinnsteine zwischen den Panels stellen durch ihre Funktion als Leerstellen eine Art Blickneutralisierung beim Wechsel vom einen zum nächsten Panel dar und beeinflussen bei der Einteilung der Panels einer Gesamtseite aufgrund der unterschiedlichen Größe der Einzelpanels die jeweilige subjektiv wahrgenommene Handlungsdauer innerhalb derselben, indem sie vor allem also die Wirkungsdauer der jeweiligen Panelfarben begrenzen.6 4 McCloud: Comics richtig lesen, S. 197-200. 5 Auch in der Adaption Paul Austers Stadt aus Glas von Paul Karasik und David Mazzucchelli wird mithilfe des strengen panel grids rhythmisch an ein Gefängnis gemahnt und somit eine dem Rezipienten eher unbewusste Beeinflussung seiner Lesestimmung vorgenommen (vgl. Paul Karasik/David Mazzucchelli: Paul Austers Stadt aus Glas, Berlin 2006). 6 Vgl. Jakob F. Dittmar: Comic-Analyse, Konstanz 2008, S. 120-133.

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Anhand von zwei exemplarischen Stellen möchte ich nun näher auf die Kolorierung und die Symbolik eingehen sowie abschließend auf die Panelstruktur. Als erstes Beispiel eignet sich der Einstieg in den Höhepunkt der Erzählung, als der Offizier seine Bemühungen, den Reisenden für sich zu gewinnen, enthusiastisch beendet. Betrachten wir die Farbwirkung der vier nachgeordneten Panels in Abbildung 1, indem wir sie von oben nach unten lesen: Die orangene Farbe tritt besonders stechend hervor, entsprechend wird ein Höhepunkt markiert, der inhaltlich dem drängenden Überzeugungswillen des Offiziers entAbb. 1: Ricard/Maël: S, S. 34. spricht. Das nächste Panel ist bläulichgrau hinterlegt, um den plötzlichen Abbruch des gerade Geschehenen zu illustrieren: ein Erkalten der Situation, das für den Offizier eine Verschnaufpause, für den Reisenden einen Schockmoment, wohl auch Ungläubigkeit ob des Emotionsausbruchs bedeutet, denn immerhin ist der Reisende von der Brutalität der Maschine abgestoßen. Der Fanatismus des Offiziers überrumpelt ihn in diesem Augenblick und er empfindet tiefen Schrecken. Die Erstarrung des Geschehens weicht im darauffolgenden Panel einem bleichen Ocker. Ein wenig Freude an der starken Deutung vorausgesetzt, liegt hierin sogar eine leichte Schrulligkeit, indem der Offizier in seiner auf eine Antwort heischenden Körperhaltung den Reisenden aus pupillengeweiteten Augen anstarrt, da ihm bereits dämmern müsste, dass seine Bitte abgelehnt wird. Seine Augen sind übrigens im Panelvergleich nur noch schwach geweitet und bereits so weiß, wie die Figuren es im darauffolgenden Panel sein werden. Das erste Gefühl des Misserfolgs mag ihn beschleichen, während der Reisende selbst im Blau-Grau des vorangegangenen Panels gehalten ist und mit einer weiteren Reaktion seines Gegenübers rechnet bzw. im gleichen Augenblick die Situation abschließt und sich wieder fasst. Der Offizier ahnt bereits, worauf die Antwort hinausläuft. Das letzte Panel entbehrt fast völlig der Farbe, ein wenig Braun liegt im Hintergrund, die Entscheidung ist gefallen. Das Fehlen der Farbe untermalt die Unumkehrbarkeit: Die Figuren sind nun weiß, förmlich dem zuvor bunten Geschehen entrückt; der Reisende wird seine Meinung nicht mehr ändern, während dem Offizier das Blut weicht. Hier ist das Licht scheinbar schlagartig ausgeschaltet

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worden. Durch die Kolorierung des Hintergrunds wird nicht nur eine Stimmung erzeugt, die neben dem Text der Sprechblasen eine zusätzliche Dimension des Lesens anbietet (denn die Emotionalität wird innerhalb der Sprechblasen lediglich auf S. 22 betont), sondern auch eine gewisse Induktionshilfe geboten, indem die Phasen der Introspektion mithilfe von Farbe Schritt für Schritt als Reaktionsabläufe sichtbar gemacht werden. Nach Scott McCloud sind auch Zeit und Raum durch die einzelnen Rinnsteine zwischen den Panels rhythmisch getrennt.7 Für diese Trennung gibt es zwar Konventionen, aber keine formulierten Regeln, und so könnten die beiden mittleren Panels beispielsweise gleichzeitig stattfinden. McCloud spricht der Induktion nämlich ebenfalls die Funktion als »Vermittler des Wandels, der Zeit und der Bewegung«8 zu sowie die Möglichkeit, »Augenblicke zu verbinden und gedanklich eine in sich zusammenhängende, geschlossene Wirklichkeit zu konstruieren«9. Im vorliegenden Fall ändert sich lediglich der Blickwinkel des Rezipienten. Dass sich jedoch zeitlich etwas verändert, d.h. eine gewisse Dauer des Vorgangs besteht, wird allein durch die Hintergrundfarbe induziert. Dieses Beispiel zeigt, dass die Komplexität der jeweiligen Figurenintrospektion erheblich von der Kolorierung suggeriert wird. Dabei bleibt es der Wirklichkeitsvorstellung bzw. dem Zeitgefühl des Rezipienten überlassen, über die Dauer des Panelablaufs zu entscheiden. Es liegt auf der Hand, dass vom oberen zum unteren Panel eine Dauer verstrichen sein muss, denn jede Sprechblase stellt eine Zeiteinheit für sich dar.10 Allerdings wird diese Zeit durch die unterschiedlichen Hintergrundfarben als fortlaufend konnotiert, wobei sie wie gesagt auf zwei Ebenen stattfindet: Zum einen verstreicht die reale Zeit, also die der Handlung, zum anderen die in der Gedankenwelt der Figuren. Beide Zeitebenen können ihre jeweils eigene Dauer beanspruchen, lassen sich allerdings gleichzeitig lesen. Ein weiteres signifikantes Beispiel für die Bedeutung der Kolorierung ist die Darstellung der Offiziersrede (vgl. Abb. 2). Die Autoren verzichten hier so weit wie möglich auf Details der Umgebung und untermalen lediglich mit der Darstellung von Stühlen den Monolog des Offiziers, der hier verschiedene Rollen verkörpert. Im zweiten Panel nimmt er beispielsweise die Position des Reisenden ein, indem er durch die Einfarbigkeit des Hintergrunds in der Luft zu schweben scheint und referierend dasteht, als habe er sich soeben zum Sitzungsbericht erhoben. Der Stuhl stellt hier pars pro toto eine komplette Sitzungsrunde vor. Im siebten Panel hingegen sind er und der Stuhl (der auch hier die Sitzung ver7 Vgl. McCloud: Comics richtig lesen, S. 112-118. 8 McCloud: Comics richtig lesen, S. 73. 9 McCloud: Comics richtig lesen, S. 75. 10 Vgl. McCloud: Comics richtig lesen, S. 103.

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bildlicht) einfarbig gehalten, und die Figur kehrt uns den Rücken zu. Diese Haltung nimmt er nun ein, da er kein höherer Verwaltungsbeamter der Kommandantur ist, von welchen er in diesem Moment spricht, und die Darstellung gibt uns zu erkennen, dass er sich jetzt in der Rolle des Außenseiters versteht. Er wendet in Panel acht leicht den Kopf und ist uns im neunten erneut mit dem gesamten Körper zugewandt, jetzt wieder farbig und der Stuhl gilt dem Angesprochenen als Einladung. Allerdings stützt der Offizier sich hinterrücks auf den Stuhl, was seinen Willen zum Ausdruck bringt, die Sitzung manipulieren zu wollen, indem er im Abb. 2: Ricard/Maël: S, S. 31. Hintergrund wirkend die Fäden zieht. Normalerweise wäre seine Person nicht relevant für den Sitzungsablauf, dafür sind seine Position und sein Einfluss zu gering, sodass sich sein Redebeitrag, sein Bericht, während der Sitzung optional versteht und er demnach dafür sorgen muss Einfluss auf die Sitzung nehmen zu können. Er unternimmt dies, indem er sie als Anlass benutzt, den Reisenden zum Vortrag zu bewegen, benötigt diesen zum Erhalt seiner Foltermaschine, und daher ist ihm sein auf der Kommandantursitzung beruhender Plan die einzige Stütze seines Unterfangens. Indem er also nicht sitzt, sondern steht, wird seine Unwichtigkeit – oder eben auch seine Zurückstellung – betont; dennoch nimmt er eine lässige Pose ein, erhebt gar in bestimmender Weise den Finger. Seine Haltung versinnbildlicht demnach seine Einstellung, die von der Gewissheit seines Plans kündet. Zusätzlich sehen wir eine Farbumkehr von Panel sieben nach acht. In Verbindung mit dem Sprechblasentext ergibt sich, dass der Offizier sich als Einzelperson von der Beschlussriege ausgegrenzt fühlt, da er allein und grün-gräulich im weiten Raum schwebt. Er ist dunkler als seine Umgebung, trägt den Ton trockenen Mooses. Er ist alleingelassen in seinen Überzeugungen, die noch aus der Zeit des alten Offiziers – dem Urheber der Foltermaschine – stammen, von dem er häufiger zu sprechen pflegt. Er wirkt leicht gebeugt, wie in seiner Würde gekränkt, und fasst zudem an die Stuhllehne als Zeichen seines Vorhabens, seinen Platz trotz erfahrener Ausgrenzung zu verteidigen. Eine Gemütsumkehr stellt sich ein, da in Panel acht die Umgebung die dunklere Farbe erhält und somit als Widerstand gegen die helle Farbe oder auch ›das edle Begehren‹ des Offiziers bestimmt wird; jetzt verkörpert

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jener ganz sich selbst. Dieses Panel wirkt insofern zusätzlich auf den Rezipienten, da es aus den helleren Panels der Seite heraussticht und somit den Blick einfängt. Um den in der Sprechblase angesprochenen Widerwillen zu verbildlichen, liegt zudem eine schwere Schattierung auf den Schultern der Figur; dieselbe im Gesicht und der verengte Blick weisen auf eine In-sich-Gekehrtheit hin, mit der der Zeichner eine weitere Möglichkeit der Innensicht anbietet. Anhand dieser Seite fällt es uns auch leicht zu verstehen, wie die Hintergrundfarbe Einfluss auf die Sprachlautstärke nimmt, wenn wir zusätzlich zur Körperhaltung auch die Schatten näher betrachten. In Panel eins negiert der Offizier seine Aussage, hebt dazu gar die linke Hand abwehrend in die Höhe. Bereits aus den alltäglichen Gesprächssituationen ist bekannt, dass die Stimme in abwehrenden Gesprächsmomenten höher schlägt. Dasselbe gilt für das Betonen von Nichtigkeiten, von Banalitäten, wie wir es in Panel drei sehen können. Die Hintergrundfarbe ändert sich von Panel vier bis sieben zwar nicht, allerdings ihre Akzentuierung hinsichtlich der sprechenden Person: Von Panel vier bis sechs sind wir dem Offizier wortwörtlich ganz nahe; er spricht von Verbitterung und wirkt nun leiser, indem er uns so nahe ist. Durch die tiefen Schatten, die sich auf seiner Nase und von den Schläfen bis hinab zu den Wangen eingegraben haben, erhöht sich zudem der Grad der Geheimniskrämerei, des Ins-Vertrauen-genommen-Werdens, aber auch jener der Bedrohung. Die Hintergrundfarbe hat sich nicht verändert, da durch das Einbezogenwerden in den Plan, durch das Nähertreten des Offiziers eine gewisse Ebene der Verbundenheit beibehalten werden soll. Er eröffnet dem Reisenden eine Konstanz, eine Sicherheit, die vermitteln soll, dass alles funktionieren wird, nichts schiefgehen kann – und tatsächlich sagt er in Panel sechs: »Darauf gründet sich mein Plan.« (SK 34) Für diese Sicherheit tritt also hier die Farbe ein, für den Sprachton die Schatten. Weshalb die Hintergrundfarbe in Panel sieben nicht erneut die tonale Bedeutung der Panel eins und drei zurückerhält und ebenfalls die der Panel vier bis sechs nicht weiterführt, liegt jetzt allerdings nahe: Der Offizier spricht von der morgigen Kommandantursitzung, demnach von einem Vorgang, in welchem er selbst vorhat den Ton anzugeben. Die Sitzung wird in jedem Fall stattfinden. Und ob der Offizier nun von den Entscheidungen ausgeschlossen wird oder nicht, verändert diesen Fakt nicht. In welchem Ton er uns begegnet, und das meint hier auch erneut, mit welcher Emotion er der Sitzung gegenübersteht, das verrät uns sein gebeugter Körper. Und bei dessen Betrachtung hinsichtlich der Emotionalität und des Sprachtons wären wir erneut bei der moosigen Farbe und den schweren Schatten, wie wir sie bereits weiter oben als das Gefühl von Einsamkeit und Kränkung seitens des Offiziers gedeutet haben: Die Stimmung wird in diesem Fall umgekehrt, sodass sie weniger von der Farbe des Hintergrunds, als vielmehr von

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der Farbe der Figur bestimmt wird und der Hintergrund lediglich zur Kontrastverdeutlichung dient. Wenn die Kolorierungs- und Zeitbedeutung beim Lesen vom einen zum nächsten Panel für die bisherige Betrachtung Gegenstand war, lässt sich das ein Panel festlegende Element nicht überlesen: das panel grid. Wie bereits oben gesagt, beeinflusst es mit seinem drei mal drei-Aufbau ebenfalls die Stimmung des Rezipienten durch seine starre Struktur. Wie im zuerst aufgezeigten Beispiel zu sehen, gibt es auch Abweichungen von diesem Schema, die Panels werden allerdings lediglich horizontal und nie vertikal erweitert. Ricard und Maël benutzen stets drei Grundzeilen, wobei die Aufteilung und Breite innerhalb derselben variiert, diese aber nicht überschreitet. Hiervon ausgenommen ist einzig das Panel, welches die Maschine ratternd in Betriebsbereitschaft zeigt (vgl. SK 18, Abb. 3). Sie wird hier erstmals aktiviert und mag der Bedeutung der Inbetriebnahme, nicht zuletzt aber auch wegen des Surrealismus eines solchen Apparats dieses auffällige Panel erhalten haben: Sie sticht aus der strengen Welt, dem das panel grid entspricht, heraus und ragt als Absurdität empor; im rechten Panel der zweiten Zeile wird durch den unwohl starrenden Blick des Reisenden sowie den unzufriedenen des Offiziers, der einen Makel im Getriebe entdeckt, die Maschine zum widerborstigen Ungetüm und somit qua Überhöhung zum komischen Gegenstand. Im Übrigen lassen die Autoren den Rezipienten das Folterinstrument niemals als Ganzes betrachten11, während die Panels gerade dadurch den Druck der Szenerie weiter ausbauen, indem sie mithilfe der Panels selbst ›verbreitert‹ wird, die Figuren aber zumeist stehend und ihre Körper vom frame abgeschnitten werden. Lesen lässt sich also aus der Breite und (einmaligen) Höhe der Panels ein direkter Rückschluss auf die Dimension der zu diesem Zeitpunkt geschehenden Handlung oder des jeweiligen Moments; auch hierfür gelten die beiden oben ausgewählten Bildbeispiele (vgl. Abb. 1 und 2). Es sei auch hier an McCloud erinnert, der den UnterAbb. 3: Ricard/Maël: S, S. 18. 11 Am ehesten sieht man die Maschine hier auf Seite 18, ferner auf den Seiten 14 und 38, aber immer pars pro toto.

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schied des Zeitablaufs innerhalb von Panels und ihrem Übergang zum nächsten herausstellt.12 Ganz programmatisch entspricht das strenge gutter dem Ausdruck des vollstreckten Urteils als Reminiszenz an ein Gefangensein, genauer gesagt an Gitterstäbe13 – wir sind immerhin in einer Strafkolonie – so wie auch das unsaubere, kratzige Überzeichnen des panel frames den Nadeln der Maschine entspricht. Da der Apparat nie im Ganzen zu sehen ist, wird er auf diese Weise dem Rezipienten ganz nahe gesetzt und dauernd an ihn ermahnt. Als der Offizier ihn in Betrieb nimmt, entfällt diese Funktion zunächst, kann von Maël jetzt mithilfe der Onomatopoesien gesteigert werden, indem die i-Punkte Spitzen und im ganzen Buchstaben Pfeile bilden. Die unangenehme Wirklichkeit der Maschine wird noch einmal betont, indem sie in den Einzelausschnitten ihrer Darstellung als kastenförmig präsentiert wird, wie auch die Panels rechteckig sind. Man sieht den Apparat nicht und blickt ihn doch: Eingelegt im kratzig gezeichneten Panelrahmen, umgeben von den blassen Farben und den Schatten einer altbackenen und skrupelloseren Zeit, übernimmt der gesamte Comic die Unerträglichkeit der Erzählung. Im Vorwort bezeichnet Ricard die Strafkolonie in Bezug auf die Gewaltfaszination der Menschen als einen »Spiegel dessen, was wir sind« (SK 2) und Maël setzt diese Idee expressiv um: Hier dient die Kolorierung vor allem der Introspektion des Subjekts, der Erweiterung der Gefühlswelt. Die Autoren sind dem Werk Kafkas solcherart treu geblieben, dass sie die Figuren nicht nur bildlich in ihrer charakterlichen Tiefe (Kolorierung, Schattierung, Raumpositionierung) anbieten, sondern auch die gesamte jeweilige Panelumgebung zu deren eigener Wiederspiegelung nutzen. Gerade durch diese Darstellung vermitteln Ricard und Maël aber nichtsdestotrotz einen Eindruck, der dem Kafka-Rezipienten bereits bekannt ist: das beklemmende Gefühl, vor etwas zu stehen und es aufgenommen zu haben, obwohl es zwar nicht unmittelbar ausgedrückt ist, aber doch gemeint sein könnte.

12 Vgl. McCloud: Comics richtig lesen, S. 103-105. 13 Es sei auch hier noch einmal vergleichsweise auf die Adaption Paul Austers Stadt aus Glas verwiesen.

Vom Kreistanz zur modernen Weltgeschichte. Der Comic Reigen von Birgit Weyhe als Adaption von Arthur Schnitzlers gleichnamigem Theaterstück A nja J oszt

Für eine Transformation in das Medium Comic eignen sich neben den Werken von insbesondere Franz Kafka auch die Texte Arthur Schnitzlers. Die Affinität seiner Werke zum Visuellen aufgrund der vielen traumartigen Passagen und der damit einhergehenden psychoanalytischen Ebene bieten besondere Gelegenheit für die Verknüpfung von Text und Bild, welche nur die sequenzielle Kunst1 ermöglicht. Aus diesem Grund sind auch Schnitzlers Novellen Traumnovelle2 und Fräulein Else3 bereits als Comics umgesetzt worden. Künstlerisch inszeniert und teilweise modernisiert finden Schnitzlers Werke Einzug in das neue Medium Comic. Neben diesen beiden Comics rekurriert auch Reigen von Birgit Weyhe4 auf ein Werk Arthur Schnitzlers. Während jedoch die meisten Adaptionen den Inhalt ihrer literarischen Vorlagen kürzen, verändern oder modernisieren, zeigen sich zwischen dem Reigen von Birgit Weyhe und dem Hypotext von Arthur Schnitzler auf der Handlungsebene keine Ähnlichkeiten. Bei Birgit Weyhe liegt der Fokus der Handlung auf einer Taufkette, die im Laufe von fast 100 Jahren durch die Hände von zehn Personen an verschiedenen Orten der Welt weitergereicht wird. Man könnte dies als Modernisierung5 der Vorlage weg von der Wiener Gesell1 Scott McCloud: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst, Hamburg 2001, S. 15-17. 2 Jakob Hinrichs: Traumnovelle, Frankfurt a.M. u.a. 2012. 3 Manuele Fior: Fräulein Else. Nach einer Novelle von Arthur Schnitzler, München 2012. 4 Birgit Weyhe: Reigen, Berlin 2012; im Folgenden zitiert mit der Sigle R und Seitenzahl. 5 So stellt etwa Jakob Hinrichs Comic Traumnovelle eine Modernisierung von Schnitzlers Vorlage dar, da die Handlung in die 60erjahre des 20. Jahrunderts verlegt wird; vgl. hierzu den Beitrag von Dietrich Grünewald in diesem Band.

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schaft hin zu einem Fragment hundertjähriger Weltgeschichte betrachten, bei der im Zuge der Globalisierung nicht nur Stereotypen gesellschaftlicher Hierarchiestufen den Reigen tanzen, sondern zehn völlig unterschiedliche Individuen sich die Hand reichen. Die Handlung des Comics weist allerdings nicht eine Parallele zu dem sexuellen Tanz zwischen Mann und Frau auf, den Schnitzler inszenierte. An die Stelle des aus zeitgenössischer Perspektive skandalösen Geschlechtsakts6 zwischen Figuren unterschiedlichster Gesellschaftsschichten, welchen Schnitzler nur mit Gedankenstrichen markiert, tritt bei Weyhe die Übergabe der Taufkette als verbindendes Moment zehn einzelner Begegnungen. Doch während der Geschlechtsakt für Schnitzlers Protagonisten nur die Suche nach Triebbefriedigung und Bestätigung von außen bedeutet, nimmt die Kette für jeden von Weyhes Protagonisten eine eigene, persönliche Bedeutung an und wird so zum Talisman (vgl. R 37), Erinnerungsstück (vgl. R 54) oder einfachem Plunder (vgl. R 103). Es handelt sich folglich nicht nur um eine Modernisierung des Stoffes, und auch die Einordnung als Adaption, welche üblicherweise durch die »Wahrung wesentlicher Handlungselemente gekennzeichnet ist« und sich grundsätzlich in die Kategorien bewahrend, modifizierend und frei einteilen lässt7, erscheint zumindest auf der Handlungsebene als ungerechtfertigt. Die Ähnlichkeit, welche Weyhe durch die Übernahme des Titels impliziert, liegt daher auf einer anderen Ebene. Während der Titel Reigen auf den kreisförmigen Volkstanz des Mittelalters als zugrundeliegendes Strukturprinzip verweist, deuten auch die Untertitel »Zehn Dialoge«8 bzw. »Eine Erzählung in zehn Kapiteln« (R 3) auf eine bei beiden Werken gleiche Strukturierung in zehn Handlungsabschnitte hin. Es liegt also nahe, die Parallelen zwischen literarischer Vorlage und Comicadaption auf struktureller Ebene zu suchen. Die Struktur spielt bei Schnitzlers Reigen eine bedeutsame Rolle. Das Stück gliedert sich in zehn Begegnungen zweier Personen, von denen jeweils eine auch in der folgenden Begegnung auftritt. Diese kettenförmige Struktur setzt sich solange fort, bis in der letzten Szene der Graf als letzte Figur wieder auf die erste Figur, die Dirne, trifft, und der Kreis geschlossen wird. Jede Szene des Stückes weist die gleiche grundsätzliche Handlungsstruktur auf, die aus den Momenten Aufeinandertreffen, Geschlechtsakt und Trennung besteht. Durch diese Aneinan6 Zur Skandal- und Prozessgeschichte von Schnitzlers Reigen vgl. Alfred Pfoser et. al.: Schnitzlers Reigen. Zehn Dialoge und ihre Skandalgeschichte. Analysen und Dokumente, Frankfurt a.M. 1993. 7 Martin Leubner: Adaption, in: Metzler Lexikon Literatur, 3. Auflage, Stuttgart 2007, S. 5. 8 Arthur Schnitzler: Reigen. Zehn Dialoge, hg. von Michael Scheffel, Stuttgart 2002, S. 3.

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derreihung der immer gleichen zugrundeliegenden Handlung entsteht ein eintöniger und auswegloser Kreislauf, der die Figuren gefangen hält. Anhand dieses strukturellen Prinzips formuliert Schnitzler in seinem Theaterstück eine Kritik an der heuchlerischen Sexualmoral des Wiener Fin de Siècle. Der Höhepunkt in der Mitte des Werkes, die Begegnung des Ehepaares, stellt die einzige sexuelle Beziehung dar, welche von der Gesellschaft moralisch anerkannt ist, obwohl die Begegnungen außerhalb der Ehe deutlich häufiger sind. Der Comic von Birgit Weyhe übernimmt diese Struktur weitgehend. Die Handlung gliedert sich in zehn Kapitel, die alle nach dem gleichen Handlungsmuster aufgebaut sind: Eine Figur wird als Besitzer der Taufkette, des verbindenden Symbols, eingeführt, sie begegnet einer weiteren, zuvor unbekannten Figur, und die Kette wird an die nächste Person weitergegeben, welche Protagonist des folgenden Kapitels wird. Als letzter Teil jedes Kapitels folgt ein Ausblick über den Verbleib der Figur. Zwar ist das strukturgebende Reihenprinzip Schnitzlers Reigen sehr ähnlich, es trägt bei Birgit Weyhe aber eine andere Bedeutung für das Gesamtwerk. Der Fokus liegt bei Weyhe vielmehr auf dem einzelnen Individuum und dessen Handlung als auf der strukturellen Form der Begegnung. Diese Betonung der individuellen Lebensgeschichte akzentuiert die Zeichnerin einerseits schriftlich mithilfe eines kurzen Einleitungstextes, in dem jeder Protagonist zu Beginn seines Kapitels vorgestellt wird und welcher den Regieanweisungen des dramatischen Hypotextes ähnelt. Andererseits wird die Individualität der Figuren auch graphisch unterstützt, indem sie jedes Kapitel mit einer eigens gestalteten Titelseite beginnt. Außerdem passt sie ihren Zeichenstil an jede neue Figur, deren Lebensumstände und das jeweilige Zeitgeschehen an. Auffällig ist beispielsweise die Kriegsdarstellung des Ersten Weltkrieges im zweiten Kapitel (vgl. R 28f., 36f.), die sich durch eine ungewöhnliche Panelstruktur auszeichnet. Die vielen kleinen Panels zeigen keine Handlung, sondern schildern die bruchstückhaften Eindrücke der Figur. Dabei werden sie durchgängig von den Worten der Figur begleitet, welche wie Zeilen eines Briefes in den Rinnstein geschrieben stehen. An der Stelle, an der die Figur sich nicht von ihren schrecklichen Erlebnissen lösen kann, kommt auch im Comic keine Handlung zustande und dem Leser wird nur ein Einblick in die unzusammenhängenden Gedanken der Figur gewährt. Auch typographische Mittel nutzt Weyhe, um die individuellen Lebensumstände der Charaktere in den jeweiligen Kapiteln zu unterstreichen. So gebraucht sie beispielsweise zur Zeit des Zweiten Weltkrieges altdeutsche Frakturschrift (vgl. R 47) als stilistisches Mittel und gestaltet den Werbeslogan sowie die Plakate der Wäscherei (vgl. R 90, 95), in der eine der Figuren arbeitet, im typischen Stil des Wirtschaftswunders der 50er Jahre. Neben diesen stilistischen Merkmalen ist der Aufbau von Weyhes Comic strukturell deutlich inkonsequenter als Schnitzlers Vorlage. Die Abfolge der einzelnen Handlungsabschnitte wird bereits durch das erste Kapitel gestört, da dieses

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zeitlich später stattfindet als die Handlung der folgenden Kapitel. Die Szenen von Schnitzlers Drama bauen sich hingegen einer strukturellen Logik nach auf, welche sich weniger aus einer festgelegten zeitlichen Abfolge, sondern vor allem aus den Standesunterschieden der Figuren ergibt. Auch die Struktur innerhalb des ersten Comickapitels gleicht nicht dem zugrundeliegenden Aufbau der anderen Kapitel, da die in der Vergangenheit liegende Übergabe der Kette nicht gezeigt wird, sondern die Protagonistin des ersten Kapitels ihrer Enkelin erzählt, wie sie die Kette ihrem Mann mit in den Ersten Weltkrieg gegeben hat (vgl. R 14). Die für Schnitzler so grundlegende Struktur des unendlichen Kreises, den der Reigen in seiner ursprünglichen Form darstellt, wird im Comic ebenfalls nicht eingehalten. Zum einen ist es aufgrund der Handlungsspanne, welche hier fast einhundert Jahre umfasst, nicht möglich, dass die erste Figur nochmals auf die letzte trifft, um den Kreis zu schließen. Zum anderen endet die Handlung nicht an dem Punkt, an dem eine Figur aus dem ersten Kapitel, nämlich die Enkelin der ersten Besitzerin, die Kette zurückerlangt, sondern wird noch darüber hinaus zwei weitere Kapitel lang fortgesetzt. Durch das letzte Kapitel wird der Reigen abermals unterbrochen, denn die Kette wird in eine Kiste gelegt, wodurch eine erneute Weitergabe verhindert und die Reihe beendet wird, ohne den Reigen zu vervollständigen. Nicht nur die strikte kreisförmige Struktur trägt bei Schnitzler wesentlich zur Deutung des Werkes bei, zusätzlich nutzt er wiederkehrende Symbole, wie die immer wieder auftauchende Angst der Figuren vor der Dunkelheit9, die neben der Darstellung der Sexualität auch deren Gegenteil, die Vergänglichkeit, zum Gegenstand der Handlung machen. Der nahende Tod ist in jeder Begegnung zumindest implizit allgegenwärtig: »Wer weiß, ob wir morgen noch’s Leben haben« meint die Dirne, und während sie sich vor dem Ertrinken in der Donau fürchtet10, ängstigt sich das Stubenmädchen vor der Dunkelheit11 und der Ehegatte grübelt über die Gefahr möglicher Geschlechtskrankheiten nach12. Zwar zeigen Weyhes Figuren nicht dieselben Ängste, doch der barocke Grundgedanke von Vergänglichkeit und nahendem Tod findet sich auch in der Comicadaption wieder. Allerdings verbalisieren die Figuren ihre Ängste häufig nicht selbst, sie werden stattdessen visualisiert. In einigen Fällen wird die visuelle Ebene dabei mit sprachlichen Äußerungen unterstützt. So findet sich in einem Panel neben dem symbolischen Zweig mit schwarzem Trauerflor eine Bemerkung zu dem plötzlichen Tod einer Figur (vgl. R 161), während ein anderes Panel lediglich ein Skelett zeigt (vgl. R 72) und ohne weitere schriftliche Unterstützung auskommt, 9 Schnitzler: Reigen, S. 9 und 12. 10 Schnitzler: Reigen, S. 9. 11 Schnitzler: Reigen, S. 12. 12 Schnitzler: Reigen, S. 66.

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um auf den Tod hinzuweisen. Aus den sprachlichen Todesmotiven, die Schnitzler nutzt, um die Todesnähe der Figuren zu verdeutlichen, werden bei Weyhe für den gleichen Zweck Bildmotive verwendet, welche auf den Tod verweisen. An jeder Stelle des Comics, an der eine Figur den Gedanken an Tod und Vergänglichkeit hegt, visualisiert die Zeichnerin dies in Form von symbolträchtigen Bildern. Diese schieben sich zwischen die eigentliche Handlung und lassen den Leser für einen Moment in das Innenleben des jeweiligen Protagonisten blicken, um ihm das zu zeigen, was für die Figur eine nicht zu verbalisierende Vorstellung des Todes ist. Dabei werden unterschiedliche Grade der Abstraktion genutzt. Neben der direkten Darstellung des Todes in Form einer verstorbenen Person oder ihres Grabes nutzt Weyhe für den Tod typische konventionell geprägte Symbole wie Skelette und Totenköpfe. (Abb.1, R 31,72)

Abb. 1: Weyhe: Reigen, links: S. 31; rechts: S. 72.

Häufiger finden sich aber Panels mit Todessymbolen, welche ihre Bedeutung eher durch kontextgebundene Interpretation erhalten, wie verwelkende Blumen, schwarze rabenähnliche Vögel oder abgebrannte Streichhölzer. Neben der Taufkette fungieren diese regelmäßig auftauchenden Symbole als Leitmotive, welche alle Kapitel miteinander verbinden, ebenso wie die Figuren bei Schnitzler durch ihre Sexualität und ihre Todesgedanken miteinander verbunden sind. (Abb. 2, R 69,123,78)

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Abb. 2: Weyhe: Reigen, links: S. 78; mitte: S. 69; rechts: S. 123.

Diese kettenförmige Verknüpfung von Begegnungen mit dem Tod entspricht dem Motiv des Totentanzes, welches häufig in der bildenden Kunst13 und Literatur als Symbol für Vergänglichkeit genutzt wird. Im klassischen Totentanz wird je eine Figur von einem körperlich dargestellten Tod an die Hand genommen, tanzt mit ihm und lässt sich auf diese Weise in den Tod führen. Dieser figürlich gezeigte Tod, welcher häufig sogar als Freund oder Verführer auftritt, verliert sowohl bei Schnitzler als auch bei Weyhe seine körperliche, menschliche Darstellung und wird durch Worte und Motive ersetzt. An die Stelle, an der im traditionellen Totentanz der Tod selbst erscheint, tritt bei Schnitzler der durch Gedankenstriche implizierte Geschlechtsakt und bei Weyhe die Übergabe der Taufkette. Beide Texte lassen sich so als eine Form des Totentanzes deuten. Auf Grundlage dieser Interpretation zeigen also der Comic und der Hypotext deutliche strukturelle Parallelen. Während Schnitzlers Figuren jedoch scheinbar in dem ausweglosen Kreislauf ihrer Begegnungen gefangen sind und sich so immer wieder aufs Neue ihrer eigenen Vergänglichkeit stellen müssen, bewegen sich Weyhes Figuren unaufhörlich auf ihren Tod zu, sobald sie die Taufkette weitergegeben haben, denn für viele von ihnen endet das Leben bereits auf der letzten Seite des ihnen gewidmeten Kapitels. Auf diese Weise stellt Weyhe alle ihre sonst völlig individuell gestalteten Charaktere auf eine Stufe, denn der Tod erreicht schließlich jeden von ihnen. Damit gibt sie ihrem Werk letztlich eine dem Reigen von Schnitzler sehr ähnliche Grundaussage: Vor dem Tod sind alle Menschen gleich. Sowohl im traditionellen Totentanz als auch bei Schnitzler und Weyhe wird 13 Vgl. dazu Andrea von Hülsen-Esch; Hiltrud Westermann-Angerhausen (Hg.): Zum Sterben schön. Alter, Totentanz und Sterbekunst von 1500 bis heute, Regensburg 2006.

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dies vor allem durch die Auswahl der Figuren hervorgerufen. Üblicherweise wird ein Totentanz von einer Ständereihe getanzt, bei der vom niedrigsten Stand bis zum Herrscher oder Kirchenoberhaupt je eine Person in stereotyper Gestaltung auf den Tod trifft.14 Durch diese Art des Aufbaus werden alle Menschen einbezogen. Schnitzler folgt mit seinem Reigen dem Vorbild des typischen Totentanzes und gestaltet seine Figuren nach gesellschaftlichen Stereotypen, wobei er mit dem untersten Stand, der Dirne, beginnt und die Kette bis zum höchsten Stand, dem Grafen, steigert.15 Weyhe weicht hingegen von diesem Schema ab, indem sie vordringlich Wert auf die individuelle Gestaltung ihrer Charaktere legt. Außerdem weist die Figurenkette des Comics keine offensichtliche Steigerung des gesellschaftlichen Standes der Figuren auf. Dies liegt vor allem darin begründet, dass die Figuren weder epochal noch lokal in eine einheitliche Gesellschaftsform eingeordnet werden können. Obwohl Weyhe nicht die übliche Ständehierarchie des Totentanzes nutzt, erlaubt ihre Figurenkonstellation eine ähnliche Deutung. Die dargestellten Charaktere stammen alle ebenfalls aus unterschiedlichen Lebenssituationen, welche allerdings keine spezielle gesellschaftliche Wertung beinhalten, wie beispielsweise der niedere Stand der Dirne bei Schnitzler. Die breit gefächerte Charakterauswahl Weyhes, welche von der verwitweten, abergläubischen Großmutter (vgl. R 5) über einen jungen Soldaten im Zweiten Weltkrieg (vgl. R 65) bis zum Bootsjungen aus Kenia (vgl. R 127) reicht, unterstützt also genau wie der stereotype Gesellschaftsquerschnitt Schnitzlers die durch den klassischen Totentanz ausgedrückte Gleichwertigkeit der Menschen im Angesicht des Todes. Schnitzler fügt allerdings neben Thanatos auch Eros dieser Aussage bei, da er seine Figuren unabhängig von Stand und Moral das Bett teilen lässt. Indem er lediglich Stereotypen als Figuren wählt und diese nach gesellschaftlicher Hierarchie auftreten und an den Fäden der Gesellschaft ihren Reigen tanzen lässt, verallgemeinert er seine Aussage und überträgt und begrenzt sie gleichzeitig auf die Gesellschaft des Wiener Fin de Siècle. Im Comic spielt Eros hingegen eine nebensächliche Rolle, da nur einzelne Personen eine Liebesbeziehung führen, bei der das Thema der Sexualität nahezu gar nicht aufkommt. Dafür ist die Todeserfahrung bei Weyhe deutlich umfassender als bei Schnitzler, da die Herkunft der Personen, welche mit dem Tod konfrontiert werden, sich nicht nur auf eine Epoche beschränkt. Indem sie mit ihrem Reigen einen Bogen von fast hundert Jahren spannt, der von Montreal über Hamburg bis nach Kenia und zurück reicht, verbindet sie die Biographien von zehn kaum miteinander vergleichbaren Personen. Einige von ihnen erleben den Ersten 14 Christina Samstad: Der Totentanz. Transformation und Destruktion in Dramentexten des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2011, S. 29f. 15 Samstad: Totentanz, S. 278-284.

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oder Zweiten Weltkrieg mit, andere beteiligen sich an den Regierungsumbrüchen in Kenia oder reisen als einfache Touristen dorthin. Weyhe arbeitet jede Figur zu einem Individuum aus und gibt jeder ein eigenes Schicksal. Dieses Schicksal wird vor allem durch die Taufkette bestimmt. Die beiden Situationen, in denen die Kette jeweils den Besitzer wechselt, sind für jede der Figuren in unterschiedlicher Art und Weise schicksalhaft. Jedes Mal, wenn die Kette weitergereicht wird, bedeutet dies für die Figur, die sie abgibt, dass sie sich auf den Tod zubewegt. Für den Empfänger verändert die Taufkette das Leben, indem sie für ihn eine bestimmte Bedeutung annimmt und sein Schicksal auf diese Weise beeinflusst. Für alle Figuren ist die Kette von individueller Bedeutung. Diese kann aber kaum an ihrem materiellen Wert festgemacht werden, denn nur eine der Protagonisten verkauft die Kette tatsächlich gegen Geld. Die meisten verbinden persönliche Erinnerungsmomente mit der Kette oder halten sie für einen Glücksbringer. Obwohl es sich bei der Taufkette mit dem Bild der Jungfrau Maria um ein Objekt des christlichen Glaubens handelt, nimmt die religiöse Bedeutung ebenso wie der materielle Wert ebenfalls eine eher untergeordnete Rolle ein. Wie auch bei Schnitzler erscheint die Rechtfertigung des eigenen Handelns vor Gott für Weyhes Figuren als irrelevant, selbst dann, wenn sie im Besitz der christlichen Kette sind. Insbesondere im letzten Kapitel des Comics wird mit der Darstellung einer lesbischen Beziehung betont, dass die Individualität des Einzelnen, unabhängig von dessen Glauben, im Mittelpunkt steht. Auf dieser Grundlage übt Weyhe Kritik an religiös-kirchlich motivierten Ausgrenzungen. Schließlich fordert der christliche Glaube, dem die Kette entstammt, eine grundsätzliche Gleichheit aller Menschen, sowohl im Tod, als auch im Leben. Weyhe verbildlicht dieses christliche Gebot, indem sie die Taufkette als Symbol der Geburt und damit des Lebens in die Hände ihrer Protagonisten gibt. Obwohl es sich dabei um ein christliches Symbol handelt, werden durch Weyhes Darstellung auch anders- oder ungläubige Personen eingeschlossen. Auch die im Christentum als Sünde verurteilte homosexuelle Beziehung wird durch die Taufkette im Besitz der lesbischen Protagonistin mit allen anderen Charakteren auf eine Stufe gestellt. Das Symbol der Taufkette vereinheitlicht also alle Personen durch ihre ursprüngliche christliche Bedeutung auch im Leben, unabhängig von dem Glauben der Person an sich. Der Symbolgehalt bleibt daher auch dann erhalten, wenn die Figuren sich vom christlichen Glauben distanzieren, wie die letzte Protagonistin es tut. Diese Distanzierung von dem religiösen Wert der Kette ist daher letztendlich der Grund, aus dem die letzte Figur die Taufkette nicht weitergibt, so dass der Kreis des Reigens nicht geschlossen wird. Auf dieser Grundlage sollte die Comicbearbeitung des Reigens schließlich auch als eine Form der Adaption angesehen werden. Dass die für Adaptionen typische Handlungsübernahme der Definition nach nicht gegeben ist, erscheint in diesem Kontext irrelevant, da sich eindeutig andere Aspekte des Hypotextes im

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Comic wiederfinden. Insbesondere die strukturelle Darstellung und der Tod als Leitmotiv werden übernommen und weiter ausgearbeitet. Ein Handlungsschwerpunkt beider Reigen-Fassungen ist die schicksalhafte Verkettung menschlicher Existenzen. Zwar verknüpft Weyhe die Schicksale ihrer Figuren auf eine andere Art als Schnitzler, doch beide machen sie zu einem Teil des Tanzes zwischen Leben und Tod der alle Menschen verbindet. Somit lässt sich der Reigen von Birgit Weyhe als eine freie Form der Literaturadaption charakterisieren, bei der vor allem der formale Aspekt der Struktur und Elemente der Motivik adaptiert werden.

Mythos und Moderne: Zwei Welten in Manuele Fiors Ikarus D enise P fennig

Manuele Fior darf man mit Fug und Recht als einen besonderen Zeichner innerhalb des Comic- und Graphic-Novel-Universums bezeichnen. Sowohl seine eigenständigen Geschichten wie Fünftausend Kilometer in der Sekunde oder Die Übertragung als auch seine literarische Adaption von Arthur Schnitzlers Fräulein Else stechen stilistisch aus dem vielfältigen Comicfundus hervor und zeichnen sich vor allem durch ihren hohen künstlerischen Anspruch aus. Dies gilt auch für sein zweites eigenständiges Album Ikarus, das sich ohne Frage in die Reihe der künstlerisch wertvollen Comics einreihen und sich darüber hinaus auch ein Meisterwerk an Mehrdeutigkeiten nennen darf. Je weiter man in diesen Literaturcomic eintaucht und sich mit ihm auseinandersetzt, mit desto mehr Fragen und Deutungsmöglichkeiten sieht man sich konfrontiert. Dies liegt an der enormen Vielschichtigkeit und den vielen intertextuellen Verweisen von Ikarus, vor allem aber auch an den zwei parallel verlaufenden und nichtsdestotrotz völlig unterschiedlichen Handlungen um die mythischen Gestalten Ikarus und Dädalus auf der einen Seite und den einer modernen Welt entstammenden Architekten Faust auf der anderen. Zwei Handlungsstränge, die unterschiedlicher nicht sein könnten, ganz wie verschiedene Welten. In meinem Beitrag möchte ich zeigen, dass diese beiden Handlungsstränge durch strukturelle, symbolische und intertextuelle Bezüge miteinander verwoben sind. Der eine Handlungsstrang ist im antiken Griechenland verortet und konzentriert sich, Ovids Metamorphosen folgend, auf Dädalus’ und Ikarus’ Flucht vor König Minos. Der andere hingegen nimmt eine moderne Welt in den Blick, in der der Architekt Faust verzweifelt mit der Erforschung des Minotauruslabyrinths kämpft, dass zunehmend zu einer Chiffre der menschlichen Existenz wird. Faust fragt sich »[w]ie viel von uns Denken, Vernunft, Verstand / und wie viel Wahn,

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Halluzination, Wahnsinn... / ...wie viel Monstrum ist.«1 Faust ist auf der Suche nach der Antwort auf die »beunruhigendste[.] aller Fragen« (I 62). Dabei verliert er sich zunehmend selbst und steigert sich nahezu in einen wahnhaften, lebensgefährlichen Zustand hinein. Beide Handlungsebenen laufen parallel nebeneinander, jedes Kapitel konzentriert sich abwechselnd auf nur jeweils eine der beiden Geschichten. Durch diese Trennung der Handlungsstränge, die räumlich-zeitliche Diskrepanz zwischen diesen und die unterschiedlichen thematischen Schwerpunkte wirken sie unverbunden, fast lose, und dennoch ergänzen sie sich an verschiedenen Stellen während des Handlungsverlaufs. Im fünften Kapitel werden die klar gezogenen Abgrenzungen aufgebrochen und zeitweise (zumindest was die Figuren der Gegenwart betrifft) ganz aufgehoben, sodass die beiden Handlungsstränge ineinander übergehen und zu einer gemeinsamen Realität verschmelzen. Am deutlichsten lässt sich dies an dem bildlichen und strukturellen Aufbau des Comics nachvollziehen, der ganz allgemein einen hohen Stellenwert innerhalb des Comics einnimmt. Über ihn schafft Fior es, ein enges Verhältnis zwischen Bild und Text herzustellen. Oftmals wird der Text dabei sogar überflüssig, da die Gefühle und Gemütszustände dem Rezipienten direkt durch das Bild übermittelt werden. Aber vor allem trennt er durch die Seitengestaltung die beiden Handlungsebenen voneinander, beziehungsweise schafft es, eben durch das Abweichen von dem wiederkehrenden gleichen Seitenaufbau, sie auch gleichzeitig darüber miteinander zu verbinden. Anfangs sind die Kapiteleinteilung und -gestaltung der beiden Handlungsebenen klar voneinander getrennt. Zwischen jedem Kapitel findet ein Wechsel innerhalb der Handlungs- und Zeitebene statt, das heißt, auf einen mythischen Teil folgt ein Wechsel zu der modernen Handlungsebene. Jedes dieser Kapitel wird zusätzlich durch eine Splashpage eröffnet, die dem RezipiAbb. 1: Manuele Fior: Ikarus, [S. 38]. 1 Manuele Fior: Ikarus, Berlin 2006, nicht paginiert, [S. 62f.]; im Folgenden zitiert mit der Sigle I und Seitenzahl.

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enten die Zeit gibt, sich in die neue Handlungsebene ein- oder zurückzufinden. Auch die Farbgestaltungen und Panelstrukturen, die von Fior so auffällig unterschiedlich gestaltet wurden, implizieren, dass man es anfangs mit zwei Handlungssträngen zu tun hat. In den Kapiteln der mythischen Welt sind die Panels zu je zwei Zeilen und zwei Spalten angeordnet und durch einen relativ großen Rinnstein voneinander getrennt (Abb. 1). Da sich auf den großformatigen Seiten somit jeweils nur vier Panels befinden, wird den Zeichnungen viel Platz eingeräumt. In Kombination mit den dominierenden Farben Weiß und (zu Abb. 2: Manuele Fior: Ikarus, [S. 28]. geringeren Anteilen) Rot2 und der Szenerie (Kretas weitläufige Küste beziehungsweise keine geschlossenen Räume) erscheinen die Seiten sehr weitläufig, leer und atmosphärisch sehr ruhig. Dahingegen werden die Gegenwartskapitel stark von schwarzer und roter Farbe dominiert. In Verbindung mit der zusammengedrängten Anordnung der Panels, die sich hier mit drei Zeilen und zwei Spalten anordnen und somit viel kleiner ausfallen und weniger Platz zwischen den Panels für den Rinnstein lassen, wirken die Seiten überfüllt und chaotisch, sodass von einer ruhigen Atmosphäre hier nichts mehr zu spüren ist (Abb. 2). Im Gegenteil wirkt alles sehr trist und deprimierend, was der psychischen Disposition der Hauptfiguren entspricht: Fausts wahnhafter Verzweiflung und der Hilflosigkeit seiner Freundin Silvia. Die Abweichung von diesem Muster im fünften Kapitel, genauer gesagt, der fehlende Kapitelwechsel von der modernen Handlungsebene zu der mythischen und die ausgelassene Splashpage, der Farb- und Panelstrukturwechsel innerhalb des laufenden Kapitels – all das markiert die allmähliche Verschmelzung der beiden Handlungen. Die moderne Welt kippt gewissermaßen in die Welt des Mythischen (Abb. 3). Evident wird dies darüber hinaus auch noch einmal an den Figuren, im Speziellen an dem Architekten Faust. Es gibt einige Indizien, die darauf hindeuten, dass dieser und die Ikarusfigur ein und dieselbe Person darstellen, dass Faust sozusagen 2 Wie bereits im ersten Kapitel ersichtlich wird, verwendet Fior die rote Farbe überwiegend für Personen, Dinge und das Meer.

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Abb. 3: Manuele Fior: Ikarus, [S. 76f.].

seine moderne Welt, in der er sich auf der Suche nach der Entschlüsselung des Labyrinths völlig verloren hat, hinter sich lässt und in die Rolle des Ikarus schlüpft, ohne dass dies für die Figuren selbst klar wäre. Faust hat sich für diesen Übergang von seiner zu einer anderen Person nicht entschieden, und Ikarus erlangt nicht Fausts Bewusstsein, obwohl einige Emotionen von Faust an Ikarus wiederzuerkennen sind – bedenkt man zum Beispiel Ikarus’ emotionale Reaktion auf eine Zeichnung von Silvia, obgleich er sie lediglich nur einmal aus der Ferne gesehen hat (vgl. I 1 und 6). Darüber hinaus lassen sich in den Panels Hinweise darauf finden, dass die Handlung der mythischen Welt zeitlich erst einsetzt, nachdem Faust aus seiner gegenwärtigen Welt verschwunden ist.3 Die mythische Welt wird in dieser Lesart zu einem möglichen Resultat von Fausts Wahn, fast wie eine Phantasiewelt, die er sich erschafft, um in ihr die Antworten auf seine quälenden Fragen zu finden, vielleicht auch, um sich wieder auf die wichtigen Dinge zu besinnen, und in der er deshalb den Part des Ikarus übernimmt. Es ist immerhin auffällig, dass es Ikarus ist, der einen Weg aus dem Labyrinth findet und nicht Dädalus, obwohl dieser es konstruiert hat.4 Letztlich bedeutet diese Verschmelzung, dass Faust in der Rolle als Ikarus nicht nur den Weg aus der Gefangenschaft findet, sondern auch zu sich selbst zurück. Denn kaum ist er in die moderne Welt zurückgekehrt, schafft er es, das Labyrinth und damit die Fragen hinter sich zu lassen. Gleichzeitig verschwindet 3 Vgl. die Parallelität der Panelgestaltung in Ikarus (I 5-7 und 80-82). 4 Es war Theseus, der in das Labyrinth ging und durch die Hilfe Ariadnes wieder herausfand (vgl. Publius Ovidius Naso: Metamorphosen, übers. und hg. von Erich Rösch, München 1952, Buch VIII, V. 169-177).

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Ikarus aus seiner mythischen Welt. Fior stellt bildlich nicht dar, dass sich Ikarus zu nah an die Sonne wagt und daraufhin abstürzt, er ist lediglich verschwunden. Damit ergeben sich zwei Lesarten dieses Handlungsstrangs: Zum einen könnte Ikarus – dem mythologischen Plot folgend – in einem Anflug von Selbstüberschätzung abgestürzt sein. In dem Fall vertraut Fior darauf, dass der Rezipient diesen Mythos kennt und den nicht explizit gezeigten Sturz dennoch als gegeben betrachtet. Zum anderen lässt er aber auch die Deutungsmöglichkeit zu, dass Ikarus nicht abgestürzt, sondern aus der mythischen Welt verschwunden ist, als Faust in die moderne Welt zurückkehrte – was folglich heißt, dass diese Welt nie real existiert hat. Konzentriert man sich auf diese zweite Möglichkeit, dann hat Fior eine weitere gravierende Veränderung des Ikarusmythos vorgenommen. Bereits an der Stelle, an der er Ikarus und Dädalus von Minos in das Labyrinth sperren lässt, weicht er von dem überlieferten Mythos ab: Dädalus hat zwar das Labyrinth gebaut, aber weder er noch sein Sohn sind dort eingesperrt worden. Doch im Gegensatz zum Sturz ist dieser Umstand nicht so gewichtig für die Bedeutung des Mythos’. In Ovids Metamorphosen ist der Flug von Vater und Sohn und vor allem der Sturz von Ikarus von ausgesprochener Bedeutung und sogar noch weitaus komplexer, wenn man ihn in Verbindung mit der Rahmenhandlung betrachtet, in die Ovid den eigentlichen Mythos eingebettet hat. In dieser Rahmenhandlung hat Dädalus seinen Neffen Perdix aus Neid auf dessen Fähigkeiten zu töten versucht. Perdix jedoch wird im letzten Moment von den Göttern gerettet und durch sie auch zum Zeuge von Ikarus’ Sturz.5 Ovid lässt Perdix darüber hinaus Dädalus wegen seines Verlusts verspotten, woraufhin man den Sturz viel mehr als Strafe der Götter für Dädalus’ Schuld betrachten muss, anstatt nur als Folge des Ungehorsams.6 Dadurch dass in Manuele Fiors Ikarus der Sturz durchaus nicht mehr als solcher betrachtet werden kann und auch Perdix nur am Rande Erwähnung findet, sein Schicksal aber nicht in den Comic mit einbezogen wird, wird auch der Aspekt der Strafe gänzlich aus dem Mythos entfernt. Und noch etwas wird ausgespart: die Einmischung der Götter und dadurch auch sämtliche Hinweise auf überhaupt irgendeine göttliche Präsenz, obwohl dies ja gerade eines der Hauptmerkmale antiker Mythen ist, besonders in den Metamorphosen. Mythen sollten nicht nur das Welt- und Selbstverständnis der Menschen von damals in den Blick nehmen, sondern die Menschen vor allem auch in Beziehung zu Göttern und deren Einmischung und Einfluss auf die menschliche Welt setzen.7 5 Vgl. Ovidius Naso, Metamorphosen, Buch VIII, V. 183-259. 6 Vgl. Lutz Walther (Hg.): Antike Mythen und ihre Rezeption. Ein Lexikon, Stuttgart 2003, S. 59. 7 Vgl. Michael von Albrecht: Das Buch der Verwandlungen. Ovid-Interpretationen, Düsseldorf/Zürich 2000, S. 50, S. 279 und S. 286.

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Obwohl Fior an dieser Stelle eine maßgebliche Veränderung vornimmt, indem er den Sturz auslässt und auch das Eingreifen der Götter entfernt, greift auch er den Aspekt der Divinität in den mythischen Kapiteln (und teilweise auch in den Kapiteln um Faust) auf; das Göttliche spielt in seiner Erzählung immer noch eine wichtige Rolle, denn genau darüber verknüpft er seine beiden Handlungsebenen stärker mit einer weiteren literarischen Vorlage, nämlich mit Goethes Faust-Tragödien, in denen Divinität ebenfalls eine Rolle spielt. Bereits durch den Namen der Doppelfigur Ikarus/Faust nimmt Fior eine explizit intertextuelle Anspielung vor, die dem Leser sogar noch vor Beginn des Comics geradezu aufgedrängt wird, da dem Comic das Faustzitat »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust« (I, 2) als Paratext vorangestellt wird. Auf der strukturellen Ebene schafft Fior zunächst eine Atmosphäre, in der sich Aspekte des Göttlichen überhaupt erst entfalten können. Um dies zu veranschaulichen, müssen erneut die Panelstrukturen der mythischen Kapitel in den Blick genommen werden. Wie bereits erläutert, sind die Panels und der Rinnstein ungewöhnlich groß und erzeugen dadurch eine Weitläufigkeit und Ruhe, die von der dominanten weißen Farbe noch unterstützt werden. Hinzu kommt, dass diese Ruhe direkt in den Panels durch die Bildinhalte wiedergegeben wird, indem Fior, wie gesagt, vergleichsweise wenig Text benutzt und somit überwiegend die Bilder für sich allein sprechen lässt. Des Weiteren rückt er oft die Szenerie in den Vordergrund: die weißen Strände und das brandende Meer – all dies unterstreicht die Ruhe nicht nur, sondern schafft darüber hinaus eine Atmosphäre von Zeitlosigkeit. Jeder Handlung scheint eine gewisse Langsamkeit zugrunde zu liegen; dass überhaupt Zeit vergeht, wird nur noch anhand von dem Tag- und Nachtwechsel deutlich. Im Gegensatz zu der modernen Handlungsebene hat sie hier kaum noch Bedeutung. Ganz so, als wäre die Welt in eine andere Sphäre enthoben worden, in eine nahezu göttliche oder paradiesische. Der Verweis auf das – möglicherweise auch biblische – Paradies wird zusätzlich auf der symbolischen Ebene durch die Schlange aufgegriffen, die im Grunde keinen Einfluss auf das Geschehen nimmt und von den handelnden Personen auch nicht wahrgenommen wird, aber dennoch gleich zweimal im Comic auftaucht, und zwar dann, wenn Vater und Sohn über die geplante Flucht sprechen oder Dädalus Ikarus ermahnt, ihm zu gehorchen, was ja auch unmittelbar auf den Sturz hindeuten könnte. Sie wird so zu einer Vorausdeutung auf das bevorstehende Unglück, zu einem bösen Omen, und nimmt gleichzeitig ihre biblisch-geprägte Bedeutung als Verführerin an. Man könnte ihre Abbildung im Comic als Hinweis darauf verstehen, dass Ikarus eben nicht auf seinen Vater hört, sondern der Versuchung, seinem Übermut erliegt und deswegen abstürzt. Dieselbe Funktion hat die Schlange, die oft als Symbol das Teuflische figurieren soll, auch in der Faust-Tragödie inne. Mephisto selbst stellt die Verbindung zwi-

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schen sich, der Schlange und ihrer biblischen Rolle her. In der Tragödie heißt es da: »Staub soll er fressen, und mit Lust / Wie meine Muhme, die berühmte Schlange.«8 Auch sie stellt in der Tragödie die Verführerin Fausts dar, der sich nichts mehr wünscht, als die Natur der Dinge in ihrer Gänze zu verstehen – wodurch er in gewisser Weise selbst gottgleich werden würde. Durch sie wird auf intertextueller Ebene eine Verbindung zwischen dem Comic, der mythischen Welt und dem Fauststoff hergestellt. Denn zugleich ist das Suchen nach Antworten, aber auch die Gottgleichwerdung durch Wissen ein Thema, das im Comic aufgegriffen wird. Auch der Architekt-Faust möchte die Fragen aller Fragen beantwortet wissen, und es wird impliziert, dass genau dieses Wissen ihn über die irdischen Dinge erheben würde (vgl. I 51-67). Dass er dies nun ausgerechnet als Ikarus schafft beziehungsweise schaffen muss, hat zwei Gründe. Auf der einen Seite kommt der Architekt-Faust erst in seiner Rolle als Ikarus mit dem Göttlichen in Kontakt, über welches der Comic letztlich stärker mit Goethes Faust in Verbindung gebracht werden kann. Auf der anderen Seite wurde Ikarus in der abendländischen Tradition oft mit einem unerschöpflichen Wissensdrang, aber auch einem Hang zum Selbstzerstörerischen verbunden9. Beide Eigenschaften treffen offensichtlich auf den Faust alias Ikarus aus dem Comic und zu großen Teilen auch auf seinen Namensvetter aus den Tragödien zu. Hinzu kommt, dass Goethe ebenfalls die Verbindung zwischen Faust und Ikarus hergestellt hat, in Form seines Euphorions aus Der Tragödie Zweiter Teil.10 Euphorion, in der griechischen Mythologie eigentlich der Sohn des Achilles und der Helena und von Zeus durch einen Blitz erschlagen, geht im dritten Akt der Tragödie aus einer Verbindung von Faust und Helena hervor. Er wird als übermütiges, wissbegieriges Kind portraitiert, das nicht in die friedliche und paradiesische Atmosphäre des arkadischen Hains passt, weil er von eben jenem Wissensdurst und dem Streben nach Freiheit getrieben wird. Er lernt keine Grenzen kennen und so gipfelt seine eigene Selbstüberschätzung, trotz der Warnungen seiner Eltern, in einem waghalsigen Flugversuch, der letztlich zu seinem Tod führt. An mehr als einer Stelle lassen sich Anlehnungspunkte zwischen den Figuren (Goethes Euphorion, seinem Faust und dem Ikarus des Comics) finden. Am offenkundigsten ist die Ähnlichkeit zwischen Euphorion und dem Ikarus-Mythos: Beide stürzen sich bei einem waghalsigen Flugversuch zu Tode, der Mahnungen ihrer Eltern zum Trotz. Motiviert wird die Waghalsigkeit durch die offensichtliche Selbstüberschätzung, die durch die kindliche Unerschrockenheit bedingt ist. Diesen Bezug stellt auch der Chor in Goethes Faust-Tragödie her, der bei Euphorions 8 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie, hg. von Albrecht Schöne, Frankfurt a.M. 2003, V. 334f. 9 Vgl. Walther: Antike Mythen, S. 62. 10 Vgl. Goethe: Faust, V. 9695-9906.

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Sturz ausruft: »Ikarus! Ikarus! / Jammer genug.«11 Nicht weniger offensichtlich sind auch die Parallelen zur Faust-Figur. Beide, Faust und Euphorion, sind wissbegierig und von einer inneren Unruhe getrieben, die sie dazu drängt, die ihnen auferlegten Grenzen und Regeln zu überschreiten, ohne dabei auf mögliche Gefahren oder Konsequenzen Rücksicht zu nehmen. Unter Berücksichtigung dieser Punkte scheint bereits Goethe in seiner Tragödie und mithilfe seines Euphorions die beiden Figuren Faust und Ikarus, und damit ihre Merkmale und Eigenschaften, miteinander zu vereinen, ebenso wie Fior, der dies allerdings auf eine gänzlich andere Art bewältigt. Der Rückschluss auf den Mythos und Goethes Tragödien wird plausibel, bedenkt man, wie viel die Figuren untereinander gemein haben. Während Goethe dafür aber eine neue Figur erschafft, lässt Fior seine beiden Figuren tatsächlich miteinander verschmelzen; Faust und Ikarus ergänzen sich, sogar soweit, dass die eine Figur die andere braucht und vielleicht sogar bedingt. Zugleich bleibt die Verweisfunktion bestehen: Alle drei Figuren teilen etwas miteinander und lassen so den Rückschluss auf die jeweils andere zu; sowohl der Ikarusmythos als auch Goethes Tragödien sind unverkennbar zu finden. Auf diese Art werden der Comic und seine literarischen Vorlagen immer weiter miteinander verwoben. Es lassen sich immer mehr Anknüpfungspunkte (auch über den Mythos und Goethes Tragödien hinaus) finden, die obendrein zudem immer neue Deutungsmöglichkeiten eröffnen. Man muss sich also eigentlich die Frage stellen, ob man hier überhaupt von zwei Welten sprechen kann. Innerhalb des Comics scheint es einerseits so, als wären die beiden Handlungsebenen Teil von ein und derselben Realität. Auf der anderen Seite lassen sich noch andere Bezüge zu anderen Werken herstellen, sodass sich zahllose Welten auftun. So könnte man zum Beispiel Silvias Übergang in die mythische Handlungsebene mit dem Eintritt von Alice in das Wunderland vergleichen: In beiden Werken spielt eine Tür für das Eintreten in eine (potenziell erfundene) neue Welt eine Rolle und beide kommen zuvor in Berührung mit einer Art magischer Substanz (vgl. I 33f. und 72f.).12 In Silvias Fall handelt es sich dabei zum einen um eine Salbe, die sie von der Haushälterin Martha erhält und die sie sich »an einem Vollmondabend aufs Gesicht streichen« (I, 34) soll, und zum anderen um den Tee, den sie ebenfalls von Martha bekommt und in den diese ohne Silvias Wissen eine Art Pulver streut.13 11 Goethe: Faust, V. 9901f. 12 Vgl. Lewis Carroll: Alice im Wunderland und was Alice hinter dem Spiegel fand, übers. von Barbara Teutsch, Hamburg 1991, S. 16-19. 13 Der Verdacht liegt nahe, dass es sich dabei um ein ›magisches‹ Pulver handelt, betrachtet man die verschlagene Art, mit der Martha Silvia beim Trinken beobachtet und die doppeldeutige Aussage: »Quälen sie sich nicht, es gibt gegen alles ein Mittel!« (I 33); sie weist dort schon auf die zukünftigen Ereignisse und ihre Rolle dabei hin.

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Dass der Tee dadurch magisch wird, bleibt zwar der Interpretation der Rezipienten überlassen, da man über die Wirkung nicht zweifelsfrei urteilen kann, dennoch bleibt die Parallele zu Alice und ihrem magischen ›Trink mich‹-Trank bestehen. Auch sie trinkt ihn, ohne dessen Wirkung zu kennen.14 Auch das Werk, durch das der Ikarusmythos kanonisiert wurde, Ovids Metamorphosen kann man als Grundlage für den Comic betrachten, denn auch in diesem finden ständig Verwandlungen statt: Faust wird zu Ikarus, die kleine, alte Haushälterin Martha verwandelt sich in der mythischen Welt in eine junge, hochgewachsene Frau (vgl. I 79-86) und der Doktor wird zu Minos beziehungsweise Mephisto.15 Und bleibt man bei den Metamorphosen, könnte man entfernt auch noch Ansätze des Orpheus und Eurydike Mythos in vertauschter Rollenverteilung wiederfinden: Silvia reist ihrem Geliebten in eine andere Welt hinterher, um ihn zu retten. Dies sind lediglich einige Ansätze, die ich in meinen Ausführungen genauer in den Blick nehme, viele Fragen und Auffälligkeiten bleiben hingegen unangetastet, so zum Beispiel viele Andeutungen in Gesprächen, Beweggründe für manche Handlungen oder Figurenbeziehungen, die mit einzubeziehen, an dieser Stelle jedoch zu weit abführen würde. Und so bleibt am Ende zu Fiors Ikarus nur noch zu sagen: Er öffnet die Türen zu neuen (literarischen) Welten.

14 Vgl. Carroll: Alice im Wunderland, S. 17. 15 Die Verbindung zwischen dem Doktor und Minos ist leicht herzustellen, da sie sich äußerlich ähneln (vgl. I 27 und 50), darüber hinaus wird in Kapitel 7 durch das Gespräch deutlich, dass er auch der Doktor ist. Die Verwandlung in Mephisto ist hingegen nicht so offensichtlich dargestellt, dennoch wird auch auf ihn durch intertextuelle Verweise hingedeutet: Zum einen wäre da die lange Lebensdauer und seine Erfahrungen mit Menschen, die nach ›mehr‹ strebten, die darauf hindeuten, dass er schon mehrere Jahrhunderte lebt (vgl. I 29). Darüber hinaus spricht der Doktor Mephistos berühmte Worte: »Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.« (I 28) und impliziert im folgenden Gespräch, dass es sich bei dem Problem des Architekten-Faust um ein Spiel, Rätsel oder Wettrennen handelt, bei dem es darum geht, nur die richtige Lösung in der vorgegebenen Zeit zu finden (I 29-31), wie auch schon Mephisto einen Wettstreit mit Gott um die Seele Fausts veranstaltete. Auf der bildlichen Ebene lässt sich außerdem festhalten, dass der Doktor bei seinem ersten Auftritt mit einer Schlangenstatue im Vordergrund abgebildet wird (vgl. I 27).

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Huck Finn – Vom Mississippi an die Saale. Ein Werkstattbericht O livia V ieweg

Nach meiner ersten Graphic Novel Endzeit, die im Jahr 2012 zum Comic-Salon Erlangen erschien, folgte im Jahr darauf Huck Finn (vgl. Abb. 1). Diesmal nicht im Kleinverlag sondern beim bekannten Verlagshaus Suhrkamp, das sich erst kurz zuvor entschlossen hatte, ebenfalls eine kleine Sparte für Graphic Novels zu gründen. Über Andreas Platthaus von der FAZ, der schon seit langem ein Förderer der deutschen Comicszene ist, bekam ich das Angebot, für Suhrkamp ein Comicprojekt zu erarbeiten. Thematisch hatte ich insofern freie Hand, als dass ich mir ein Buch aus dem Programm des Abb. 1: Vieweg: Huck Finn, Cover. Verlags aussuchen konnte, welches ich adaptieren wollte. Obwohl der Verlag ein riesiges Programm an Romanen zur Verfügung stehen hat, fiel meine Wahl sehr schnell auf einen Kinderbuchklassiker aus dem Insel-Verlag, der ebenfalls zu Suhrkamp gehört. Nach kurzem Zögern entschied ich mich vorerst gegen Der Zauberer von Oz, den ich ebenfalls sehr liebe, und landete bei Die Abenteuer des Huckleberry Finn. Der frei und ungebunden lebende, kindliche Held hat mich schon lange fasziniert. Obwohl ich gestehen muss, dass ich das Original von Mark Twain bis dahin nie gelesen hatte. Das holte ich dann schnell nach und war mir sicher, dass diese Geschichte genau zu mir passen würde. Der starke ›Road-Mo-

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vie-Charakter‹ war besonders ausschlaggebend, da ich meine Helden gerne auf Reisen schicke, und dann bevorzugt auch in die freie Natur. Ich zeichne ungern Geschichten, die nur in geschlossenen Räumen spielen, da diese die Gestaltungsmöglichkeiten einschränken. Die vielen Schauplätze in der Natur ließen mir hingegen die Freiheit, ganzseitige Comicseiten zu zeichnen, auf denen man einen Eindruck von der Landschaft erhält – was die Erzählgeschwindigkeit der Geschichte verlangsamt, weil diese Seiten ohne Text auskommen, und man als Leser kurz verschnaufen kann. Abb. 2: Vieweg: Huck Finn, S. 66. Eine sehr frühe Entscheidung war, die Geschichte ins ›Jetzt‹ zu verlegen und bestimmte Änderungen an den Figuren und am Schauplatz vorzunehmen. Trotzdem versuchte ich, mich bei der Umsetzung zu Huck Finn relativ nahe ans Original zu halten und auch originale Textpassagen zu verwenden. Einige davon sind nachträglich geändert worden, weil sie dem verantwortlichen Redakteur zu altbacken und unpassend waren. Einige sind aber erhalten geblieben und funktionieren heute genauso gut wie damals. Das Verwenden solcher Passagen war mir persönlich wichtig, denn ich selber mag keine Adaptionen, in denen man das eigentliche Original nur noch schwach erahnen kann. Deswegen war es mir wichtig, dass auch der Handlungsverlauf weitestgehend der Buchvorlage folgt. Egal wie stark die Modernisierung ausfiel, das Original sollte auf den ersten und auch auf den zweiten Blick erkennbar bleiben. Meine Version von Huckleberry Finn spielt nicht mehr am Mississippi im 19. Jahrhundert, sondern 2013 in Halle an der Saale. Die Entscheidung, es in dieser Stadt spielen zu lassen, ist ebenfalls sehr früh gefallen. Ich wollte gerne eine Stadt nehmen, die einen Fluss im Namen trägt, etwa wie Frankfurt am Main. Optisch interessanter ist für mich Halle in Sachsen-Anhalt gewesen, das seit dem Fall der Mauer, wie viele Ostdeutsche Städte, mit einer Abwanderung der Bevölkerung zu kämpfen hat. Dadurch sind aber auch viele reizvolle, leer stehende Gebäude hervorgetreten, wie etwa die alte Brauerei direkt an der Saale, die ganz prominent auf dem Cover meines Comics zu sehen ist. Stellenweise erobert sich die Natur

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Abb. 3: Vieweg: Textarbeit

die Gebäude der Menschheit zurück. Der besondere Charme einer solchen Stadt lag mir näher als das eben erwähnte Frankfurt am Main. Um an genügend Referenzfotos zu kommen, bin ich selber mehrfach nach Halle gefahren und habe Gebäude und Straßenzüge fotographiert. Das Internet bietet zwar auch eine reichhaltige Sammlung, aber selber vor Ort zu sein bringt viel mehr. Besonders viele Fotos sind im Plattenbaugebiet Halle Neustadt sowie auf der Saale Richtung Wettin entstanden, denn dort spielt ein großer Teil meiner Geschichte (vgl. Abb. 4). Aus dem schwarzen Sklaven Jim habe ich eine asiatische Zwangsprostituierte namens Jin gemacht, weil ich überlegt hatte, wo ganz aktuell in unserer Gesellschaft noch körperliche Sklaverei existiert. Im Original von Huckleberry Finn war die Sklaverei durch Gesetze legitimiert, von der weißen Gesellschaft anerkannt und gewollt.

Abb. 4: Vieweg: Referenzbilder.

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Diesen Fakt konnte ich nicht übertragen. So läuft meine Jin ›nur‹ aus dem Bordell vor ihren Häschern davon, die an der Flüchtigen ein Exempel statuieren wollen. Meinen Huck habe ich in Finn umgetauft. Das ist im Original zwar sein Nachname, ich fand es aber als neuen Vornamen passend, da ›Finn‹ sich in den letzten 10 Jahren zu einem Modenamen für Jungen entwickelt hat, und sich mein Finn allein durch die Namensänderung ganz natürlich in die Gegenwart integrieren ließ. Da die Geschichte im Sommer spielt, habe ich entschieden, ihn die gesamte Zeit nur in Flipflops und Shorts auftreten zu lassen. Ein Hemd trägt er nur in den wenigen Szenen, in denen er sich anpassen muss, um nicht als Streuner aufzufallen. Meine Geschichte beginnt am selben Punkt wie das Original: Huck bzw. Finn wurde im Vorgängerband Tom Sawyers Abenteuer von einer Witwe adoptiert (bei mir ist sie ›nur‹ seine Pflegemutter, da Adoptionen heute etwas komplizierter sind als damals). Doch der Junge fühlt sich unfrei, kann mit den geordneten Verhältnissen, in denen die Witwe lebt, nichts anfangen. Er sehnt sich nach dem unbeschwerten Leben in der freien Natur. Da war er sein eigener Chef, jetzt muss er zur Schule gehen, um endlich Lesen und Schreiben zu lernen. Er trifft sich mit einer Clique von Jungs aus der Nachbarschaft, um Blödsinn zu treiben. Als einer Hucks verschollenen Vater erwähnt, merkt man, wie sehr der Junge davor Angst hat, dass sein Vater – ein notorischer Trinker Abb. 5: Vieweg: Jin und Finn und Schläger – wieder auftauchen könnte. Als der Vater kurze Zeit später tatsächlich wieder in Hucks Leben tritt, ist Huck hin- und hergerissen, ob er seinen Vater fürchten soll oder ob er nicht froh darüber sein muss, dass er nun aus dem langweiligen Leben bei der Witwe fliehen kann. Doch die kurze Harmonie zwischen Vater und Sohn währt nicht lange, und so denkt sich Huck einen Trick aus, um spurlos verschwinden zu können. Zu Beginn seiner Flucht trifft er auf die geflohene Jin. Zusammen planen sie eine große Flucht, weit weg von ihrer bisherigen Heimatstadt. Zeichnerisch ist Huck Finn wahrscheinlich eine Mischung aus westlichen und asiatischen Zeichentraditionen. Da ich selber vieles durch das Lesen von Man-

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gas gelernt habe, ist dieser Einfluss für mich nicht mehr wegzudenken. Das fällt vor allem durch eine bestimmte Mimik auf, oder auch durch die relativ niedlich gezeichneten Hauptfiguren und deren Proportionen. Wobei natürlich auch frankobelgische und amerikanische Comics ihre Figuren gerne verniedlichen. Finale Aussagen über den Zeichenstil zu treffen, ist also schwer, jeder Betrachter sieht andere Einflüsse. Als Zeichenmedium habe ich Bleistift und Tusche sowie eine KolorationsEbene in Orange-Tönen gewählt. Letztere werden am Computer nachträglich hinzugefügt. Alles andere geschieht bei mir aber noch komplett analog, weil ich mich so am sichersten im Umgang fühle, und analoge Arbeiten, gerade heute im digitalen Zeitalter, einen besonderen Charme haben. Vorgezeichnet wurde der Comic mit einem blauen Buntstift. Diese Linien verschwinden nachdem dem Scanvorgang, man muss sie nicht extra wegradieren, wie das früher der Fall war. Danach ziehe ich die Vorzeichnung mit Bleistift nach und füge einige Graustufen mit dem Pinsel und flüssiger Tusche hinzu, weil das eine größere Plastizität erzeugt. Weil ich den Comic nicht schwarz/weiß belassen wollte, habe ich entschieden, noch eine extra Ebene mit einer Farbe hinzuzufügen. Da die Geschichte im Sommer spielt, boten sich warme Farben an. Rot wirkt schnell zu intensiv, wohingegen Gelb schnell zu blass wird. Also fiel meine Wahl auf ein Spektrum aus verschiedenen Orange-Tönen. Die Comicseiten bekommen dadurch noch mal eine ganz andere Wirkung, weshalb ich meistens mit einer Sonderfarbe (wie hier Orange) oder in Vollfarbe arbeite. Der Comic umfasst knapp 140 Seiten und ist bis dahin der längste Comic, den ich gezeichnet habe. Von Mark Twains originaler Geschichte konnte ich allerdings nur Auszüge im Comic umsetzen. Die Buchvorlage ist wesentlich umfassender und hätte den mir zu Verfügung stehenden Rahmen gesprengt. Auch gibt es im Original keinen expliziten Höhepunkt, da verschiedene Episoden sehr gleichwertig behandelt werden. Ich entschied mich dafür, die Familienfehde zum Höhepunkt zu machen, weil Huck bzw. Finn dort dem Trugschluss erliegt, in einer anderen Familie die Geborgenheit zu finden, die er sich insgeheim wünscht und die ihm bisher gefehlt hat. Die Familienfehde endet dramatisch. Über Jin erfährt Finn vom Tod seines Vaters. Finns Grund zur Flucht ist damit also ausgeräumt. Als die beiden während ihrer Fahrt auf dem Fluss auch noch erneut Jins Häschern begegnen, die versichern, dass ihr Boss längst eingebuchtet ist, und sie keinen Anlass mehr sehen, Jin zu jagen, können beide nach Halle zurückkehren. Das Ende ist optimistisch, man kann vermuten, dass die beiden nun eine engere Freundschaft verbindet, die beiden in Zukunft Halt geben wird. Nach der Veröffentlichung von Huck Finn gab es ein positives Medienecho, die Zeitung Die Welt kürte ihn sogar zu einem der besten Comics des Jahres 2013. Auch in der 3Sat-Sendung Kulturzeit war Huck Finn ein Lesetipp, für den extra

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ein kleines Video produziert wurde. 2014 ist Huck Finn auch als spanische Lizenzausgabe erschienen. Letzteres freut mich besonders, da ich nicht damit gerechnet hatte, dass im Ausland jemand an dem Buch Interesse haben könnte, vor allem aufgrund der Wahl des ostdeutschen Schauplatzes.

Abb. 6: Vieweg: Huck Finn, Kolorierung

Autorinnen und Autoren

Robin-M. Aust, B.A., geb. 1989, Master-Student im Fach Germanistik, studentische Hilfskraft am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. – Forschungsschwerpunkte: Intermedialität, Comic, Transformationsanalyse. Svenja Fahr, M.A., geb. 1988, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Ältere Deutsche Literatur an der Christian-Albrechts-Universität Kiel. – Forschungsschwerpunkte: Novellistik, Historische Narratologie, Literatur des Hochmittelalters. PD Dr. Ole Frahm, freier Künstler und Publizist. – Forschungsschwerpunkte: Ästhetik, Geschichte, Theorie von Radio und Comic. – Monographien: Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmans MAUS – A Survivorʼs Tale (2006); Die Sprache des Comics (2010). Univ.-Prof. Dr. phil. Dietrich Grünewald, geb. 1947, Professor für Kunstdidaktik, Kunst und Kunsttheorie des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart an der Universität Koblenz-Landau, seit April 2013 pensioniert. – Forschungsschwerpunkte: Bildgeschichte und Karikatur. – Monographien und Herausgeberschaften: Comics. Kitsch oder Kunst? Die Bildgeschichte in Analyse und Unterricht. Ein Handbuch zur Comic-Didaktik (1982); Wie Kinder Comics lesen. Eine Untersuchung zum Prinzip Bildgeschichte, seinen Rezeptionsanforderungen sowie dem diesbezüglichen Lesevermögen und Leseinteresse von Kindern (1984); Comics (2000); als Hg.: Struktur und Geschichte der Comics. Beiträge zur Comicforschung (2010); als Hg.: Der dokumentarische Comic. Reportage und Biografie (2013). Dr. Torsten Hoffmann, geb. 1973, Juniorprofessor für Neuere deutsche Literatur an der Goethe-Universität Frankfurt. – Forschungsschwerpunkte: Text-Bild-Beziehungen, Interviews, Körper und Literatur, Ästhetiken des Erhabenen, Editionen. – Monographien und Herausgeberschaften: Konfigurationen des Erhabenen.

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Zur Produktivität einer ästhetischen Kategorie in der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts (2006); als Hg.: Lehrer ohne Lehre. Zur Rezeption Paul Cézannes in Künsten, Wissenschaften und Kultur (2008); als Mithg.: Anthropologien der Endlichkeit. Stationen einer literarischen Denkfigur seit der Aufklärung (2011); als Hg.: W.G. Sebald: »Auf ungeheuer dünnem Eis«. Gespräche 1971-2001 (2011); als Mithg.: Echt inszeniert. Interviews in Literatur und Literaturbetrieb (2014). Bettina Jossen, M.A., geb. 1982, Lektorin. – Forschungsschwerpunkte: Theodor Fontane, Comic Studies. Anja Joszt, geb. 1992, Bachelor-Studentin mit der Fächerkombination Germanistik (KF) und Linguistik (EF). Lisa-Carolin Krause, geb. 1991, Bachelor-Studentin mit der Fächerkombination Germanistik (KF) und Anglistik (EF). Joanna Nowotny, M.A., geb. 1988, Doktorandin am Institut für Literatur- und Kulturwissenschaften der ETH Zürich. – Forschungsschwerpunkte: Deutsch-Jüdische Studien, deutschsprachige Gegenwartsliteratur, Comics Studies. Denise Pfennig, geb. 1992, Bachelor-Studentin mit der Fächerkombination Germanistik (KF) und Anglistik (EF). Wolfgang Reichmann, Mag. phil., geb. 1982, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. – Forschungsschwerpunkte: Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Intertextualität und Intermedialität, Nichtlineares Erzählen, Dokumentarische Literatur, Literatur und Krieg, Politische Lyrik, Geschichtslyrik, Hans Magnus Enzensberger, Alexander Kluge, Comics. – Monographie: Der Chronist Alexander Kluge. Poetik und Erzählstrategien (2009). Giovanni Remonato, Doktorand am Institut für Germanistik der Universität Verona. – Forschungsschwerpunkte: Literatur des 20. Jahrhunderts, Comics. Dr. Peter Scheinpflug, geb. 1984, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln. – Forschungsschwerpunkte: Genre-Theorie, Comics als Populärkultur, Medialität und Taktilität. – Monographien: »Touch Windows Now!« Mediale Praktiken und kulturelle Phantasmen des Touchscreens (2013); Genre-Theorie. Eine Einführung (2014); Formelkino. Medienwissenschaftliche Perspektiven auf die Genre-Theorie und den Giallo (2014).

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Prof. Dr. Monika Schmitz-Emans, geb. 1956, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. – Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. bis 20. Jahrhunderts, Literatur und Bilder/ Bildmedien, Geschichte der Poetik. – Monographien: Literatur-Comics. Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur (2012). Poetiken der Verwandlung. (2008); Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens (1995). Mara Stuhlfauth-Trabert, M.A., geb. 1982, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistischen Seminar der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. – Forschungsschwerpunkte: Ökologie und Literatur, Robinsonaden, Literatur und visuelle Medien, Literatur der Jahrhundertwende (1900), Gegenwartsliteratur. – Monographien und Herausgeberschaften: Moderne Robinsonaden. Eine gattungstypologische Untersuchung am Beispiel von Marlen Haushofers Die Wand und Thomas Glavinics Die Arbeit der Nacht (2011); als Mithg.: »Ich will keinem Mann nachtreten«. Weibliches Schreiben zwischen Aufklärung und Romantik: Sophie von La Roche und Bettine von Arnim (2013). Dr. Florian Trabert, geb. 1978, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. – Forschungsschwerpunkte: Intermedialität, Heinrich Heine, Österreichische und Schweizer Literatur, Transfers zwischen der deutschsprachigen, französischen und italienischen Literatur. – Monographien und Herausgeberschaften: »Kein Lied an die Freude«. Die Neue Musik des 20. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Erzählliteratur von Thomas Manns Doktor Faustus bis zur Gegenwart (2011); als Mithg.: Der Grenzgänger Hermann Hesse. Neue Perspektiven der Forschung (2013); Edition: Heinrich Heine: Elementargeister (2013). Sebastian Tupikevics, M.A., geb. 1987, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. – Forschungsschwerpunkte: 18. Jahrhundert, Friedrich der Große, Geschichtstheorie. Olivia Vieweg, Dipl. Vis. Komm., geb. 1987, Comiczeichnerin, Comicautorin, Cartoonistin. Abgeschlossenes Studium im Bereich Visuelle Kommunikation an der Bauhaus-Universität Weimar. – Publikationen: Warum Katzen besser sind als Männer (2009); Warum Katzen die glücklicheren Menschen sind (2010); Warum Katzen keine Diät machen (2011); Huck Finn (2013); Antoinette kehrt zurück (2014); Endzeit (2014); Hingeschlunzt. Auto-Bio-Kram bis 2014 (2014); Bin ich blöd, oder was? Klassenfahrt des Grauens (2014).

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Johannes Markus Waßmer, M.A., geb. 1983, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. – Forschungsschwerpunkte: Krieg und Literatur, Literatur der Moderne, Martin und Paula Buber, Hermann Hesse. – Herausgeberschaften: Als Mithg.: Edition: Georg Munk (Paula Judith Buber): Muckensturm. Ein Jahr im Leben einer kleinen Stadt (2008); Edition: Georg Munk (Paula Judith Buber): Irregang (2009); Martin Buber neu gelesen (= Martin Buber-Studien Bd. 1) (2013); Edition: Gabriele Reuter: Das Tränenhaus (2013); Narrative des Ersten Weltkriegs (2015) [in Vorbereitung]. Sascha Winkler, geb. 1991, Bachelor-Student mit der Fächerkombination Germanistik (KF) und Geschichte (EF).

Lettre Thomas Assheuer Tragik der Freiheit Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß 2014, 274 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2759-6

Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.) Bild ist Text ist Bild Narration und Ästhetik in der Graphic Novel 2014, 286 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2636-0

Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin 2014, 430 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

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Lettre Gregor Schuhen (Hg.) Der verfasste Mann Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900 2014, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2793-0

Heinz Sieburg (Hg.) ›Geschlecht‹ in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen 2014, 262 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2502-8

Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Juni 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

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Lettre Angela Bandeili Ästhetische Erfahrung in der Literatur der 1970er Jahre Zur Poetologie des Raumes bei Rolf Dieter Brinkmann, Alexander Kluge und Peter Handke 2014, 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2823-4

Paul Fleming, Uwe Schütte (Hg.) Die Gegenwart erzählen Ulrich Peltzer und die Ästhetik des Politischen 2014, 244 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2489-2

Leonhard Fuest Poetopharmaka Heilmittel und Gifte der Literatur Februar 2015, 148 Seiten, kart., 22,99 €, ISBN 978-3-8376-2830-2

Christoph Grube Warum werden Autoren vergessen? Mechanismen literarischer Kanonisierung am Beispiel von Paul Heyse und Wilhelm Raabe

Clemens Peck, Florian Sedlmeier (Hg.) Kriminalliteratur und Wissensgeschichte Genres – Medien – Techniken Mai 2015, ca. 250 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2887-6

Armin Schäfer, Karin Kröger (Hg.) Null, Nichts und Negation Becketts No-Thing Juli 2015, ca. 290 Seiten, kart., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2704-6

Natascha Ueckmann Ästhetik des Chaos in der Karibik »Créolisation« und »Neobarroco« in franko- und hispanophonen Literaturen 2014, 584 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2508-0

Martina Wernli Schreiben am Rand Die »Bernische kantonale Irrenanstalt Waldau« und ihre Narrative (1895-1936)

2014, 280 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2852-4

2014, 450 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2878-4

Michael König Poetik des Terrors Politisch motivierte Gewalt in der deutschen Gegenwartsliteratur

Lars Wilhelmer Transit-Orte in der Literatur Eisenbahn – Hotel – Hafen – Flughafen

Januar 2015, 514 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2987-3

März 2015, 344 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2999-6

Claudia Liebrand, Rainer J. Kaus (Hg.) Interpretieren nach den »turns« Literaturtheoretische Revisionen 2014, 246 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2514-1

Sophie Witt Henry James’ andere Szene Zum Dramatismus des modernen Romans Juli 2015, ca. 380 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2931-6

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5. Jahrgang, 2014, Heft 2

Dezember 2014, 208 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2871-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-2871-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die ZiG kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € (international 28,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)

Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014

Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.

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