Positionen und Begriffe Carl Schmitts [5 ed.] 9783428554256, 9783428154258

Helmut Quaritsch, langjähriger Professor für Öffentliches Recht an der heutigen Deutschen Universität für Verwaltungswis

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Positionen und Begriffe Carl Schmitts [5 ed.]
 9783428554256, 9783428154258

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HELMUT QUARITSCH

POSITIONEN UND BEGRIFFE CARL SCHMITTS Fünfte, unveränderte Auflage

DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN

Helmut Quaritsch

POSITIONEN UND BEGRIFFE CARL SCHMITTS

Helmut Quaritsch

POSITIONEN UND BEGRIFFE CARL SCHMITTS Fünfte, unveränderte Auflage

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 1989 2., erweiterte Auflage 1991 3., überarbeitete und ergänzte Auflage 1995 4., unveränderte Auflage 2010

Alle Rechte vorbehalten © 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: CPI buchbücher.de, Birkach Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von Elke Sander Printed in Germany ISBN 978-3-428-15425-8 (Print) ISBN 978-3-428-55425-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-85425-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞



Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort zur 3. Auflage Erneut wurde der Text durchgesehen und die seit der 2. Auflage erschienene Literatur nachgeführt soweit möglich und nötig. Bezugnahmen auf neuere politische Entwicklungen wurden auf den gegenwärtigen Stand gebracht. Für die Biographie Schmitts muß ich mich mit einem allgemeinen Verweis auf das einschlägige Buch von Paul Noack begnügen (Carl Schmitt, Propyläen, 1993), speziell für die Zeit von 1945-1950 auch auf mein Nachwort zu Carl Schmitt, Das internationalrechtliche Verbrechen des Angriffskrieges und der Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege" (Duncker & Humblot, 1994), S. 125 ff., 137 ff. Speyer, im September 1994

Helmut Quaritsch

Vorwort zur 2. Auflage Für die neue Auflage ist der Text durchgesehen und an vielen Stellen verändert worden: hier war zu straffen oder zu berichtigen, dort zu belegen oder näher auszuführen. Die Schmitt-Akte des SSReichssicherheitshauptamtes wurde verwertet, den freundlichen Hinweisen einiger Zeitgenossen und Kenner nachgegangen. Verzichtet habe ich erneut darauf, mich systematisch auseinanderzusetzen mit abweichenden Behauptungen und Interpretationen der Sekundärliteratur. Die kritische Sichtung des in- und ausländischen Schmitt-Schrifttums hat längst das Format eines Großforschungsprojekts erreicht. Das kann ein kleines Buch nicht leisten, das nach Anlaß und Anlage nur eine „Einführung in das Thema Carl Schmitt" ist. Speyer, im August 1990

Helmut Quaritsch 5

Vorwort zur 1. Auflage Diese Schrift zielt nicht auf eine Werkinterpretation, auch wenn jene Abhandlungen und Stücke zum Ausgangspunkt genommen werden, die Carl Schmitt zwischen 1922 und 1939 geschrieben hatte und 1940 erneut publizierte in dem Band „Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar—Genf—Versailles". Anhand dieses Bandes werden vielmehr jene Vorstellungen, Überzeugungen und Ideen benannt und belegt, die zwischen den Weltkriegen das Denken Carl Schmitts, vor allem sein politisches Denken bestimmten. Ohne die Kenntnis seiner Leitmotive und seiner Arkana sind viele seiner Schriften nicht voll zu verstehen. Das bestätigen bisher unbekannte Zeugnisse und Selbstzeugnisse, die erstmals herangezogen werden konnten. Manches mag nun verständlicher sein, das geistige Profil Carl Schmitts jedoch fremder werden. Indes geht es hier nicht darum, Carl Schmitt zu verwerten, sondern ihn zu erkennen. Der Text führt eine These über die „vierfache Prägung Carl Schmitts" aus, aufgestellt im Berliner Wissenschaftskolleg am 15. Juni 1987. Die Ausführung wurde vorgetragen der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Sektion der Görres-Gesellschaft am 3. Oktober 1988 anläßlich der Bayreuther Generalversammlung. Zur Ausweitung des Typoskripts trugen bei die Bayreuther Debatte, biographische Hinweise sowie Ergänzungen, die mir einige hervorragende Kenner der Schmittschen Werke und der Sekundärliteratur vermittelten. Für alle diese Hilfen, vorbehaltlos und uneigennützig gewährt, möchte ich auch an dieser Stelle herzlich danken. Besonders verpflichtet bin ich Herrn Ernst Rudolf Huber, Freiburg, der sich der Mühe einer kritischen Durchsicht derjenigen Teile des Typoskripts unterzog, mit denen er eigene Erinnerungen verknüpft; der große Verfassungshistoriker auch der Weimarer Zeit stand Carl Schmitt als Schüler und Kollege gerade in jenen Jahren nahe. In zwei langen Gesprächen vermittelte er mir ein deutlicheres Bild der Zeit und der Persönlichkeit Carl Schmitts. Für die Fehler und Irrtümer dieser Schrift ist, wie vorsorglich zu bemerken ist, nur der Autor verantwortlich. Speyer, im Mai 1989 6

Helmut Quaritsch

Inhaltsverzeichnis I. Der mehrdeutige Carl Schmitt

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II. Über „Positionen" und Begriffe

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III. Grundprägungen Carl Schmitts

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1. Der Katholik

25

2. Der Etatist

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3. Der Nationalist

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IV. Der Konvertit 1933-1936 V. Abschied vom Kampf mit Weimar — Genf — Versailles Namen- und Autoren Verzeichnis

83 121 125

Tum quod antiquis scriptoribus rarus obtrectator, neque refert cuiusquam, Punicas Romanasve acies laetius extuleris: at multorum, qui Tiberio regente poenam vel infamias subieri, posteri manent. Tacitus , Ann. IV 33.

I. Der mehrdeutige Carl Schmitt Es liegt nahe, diesen Text mit einem Zitat aus dem Vorwort des Buches zu eröffnen, dessen Titel ich zum Motto gewählt habe, also mit jenen ironischen Überlegungen, die Carl Schmitt den Vorreden seiner Kollegen widmete, die versuchten, „nahe- oder fernliegende Bemerkungen vorwegzunehmen und allen möglichen törichten oder böswilligen Unterstellungen durch gute und ehrliche Worte zuvorzukommen. ... aber auch den Besten und Klügsten unter ihnen ist das nicht gelungen. Darum will ich mich nicht damit aufhalten 1 ." Die Wahrheit dieser wie beiläufig hingeworfenen Zeilen ist ebenso evident, wie das literarische Geschick bemerkenswert ist, mit dem hier ein Autor seinen künftigen Rezensenten vorweg auf die Finger klopfte. Ich setze hinzu: Ohne Kollegenschelte wird niemand über Carl Schmitt referieren können. Denn jeder Meinung wird sofort eine andere Meinung entgegengestellt, für die sich durchaus Gründe finden ließen. Diese Mehrdeutigkeit des Streitobjekts hat verschiedene Ursachen. Eine dieser Ursachen ist das Vexierbild seiner wissenschaftlichen Arbeit: Es ist Rechtswissenschaft im strengen Sinne, es ist Geisteswissenschaft, dann wieder Sozialwissenschaft, gelegentlich auch Theologie. Carl Schmitt ist Staatsrechtler, aber ebenso Kulturkritiker und Geschichtsphilosoph gewesen. Schon die „Politische Romantik", erschienen 1919, war Historiographie, Philosophiegeschichte und Literatursoziologie — ich will mich nicht festlegen —, jedenfalls kein Produkt rechtswissenschaftlicher Bemühungen. Dieses Buch hatte er 1917 und 1918 geschrieben, als er in München Wehrdienst leistete2. Mit 1 Carl Schmitt, Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar — Genf — Versailles 1923-1939, Hamburg 1940, Neudruck Berlin 1988, S. 5. 2 Einzelheiten bei Piet Tommissen, in: Helmut Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum — Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 76 f.

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ihm hatte er einige kleine Säulenheilige der deutschen Geistesgeschichte ziemlich unsanft gebeutelt und auf die Erde geholt. Es erregte Aufsehen bei Historikern wie Friedrich Meinecke und Literaturwissenschaftlern wie Ernst Robert Curtius; auch Georg Lukäcs ließ das Buch nicht ohne Kommentar 3 . Die noch in Greifswald entstandene Schrift „Politische Theologie — Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität", erste Fassung 1922, läßt sich fachlich überhaupt nicht einordnen, sie ist multidisziplinär schlechthin. Das Buch und das Thema erregten die Geister von Hugo Ball bis Jacob Taubes 4. Sein Beitrag in der Festschrift für den Bonner Zivilrechtler Ernst Zitelmann „Zur geistesgeschichtlichen Lage des heutigen Parlamentarismus", 1923 selbständig erschienen, gehört sicher nicht in das Fach „Parlamentsrecht", der Text ist allenfalls dem Staatsrecht im weitesten Sinne zuzuordnen. Die heutige Politikwissenschaft würde diese Schrift wohl gern für sich reklamieren, wenn ihr der Inhalt mehr behagte. Dann, 1923, „Römischer Katholizismus und politische Form", das stilistisch eindrucksvollste Buch aus seiner Feder; es ist Soziologie, Theologie, Geistesgeschichte, aber kein Kirchenrecht noch überhaupt Rechtswissenschaft. 3 Friedrich Meinecke rezensierte das Buch („Die Schrift gehört zu dem Bedeutendsten, was im letzten Jahrzehnt über die Romantik geschrieben ist") in der Historischen Zeitschrift Bd. 121 (1920), S. 292 - 296; Ernst Robert Curtius schrieb Carl Schmitt einen sehr langen Brief, abgedruckt in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen Bd. 218 (1981), S. 10 ff. Georg Lukäcs rezensierte die 2. Aufl. 1925, bezeichnete das Werk als „sehr bekannt, ja fast berühmt", das „mit Recht... starken Widerhall" gefunden habe. Lukacs versah sein Lob mit dem üblichen marxistischen Vorbehalt, Carl Schmitt habe nicht untersucht, „welche Schicht die deutschen Romantiker repräsentiert haben, welchem gesellschaftlichen Sein die Struktur ihres Denkens entspricht" (Archiv f. d. Geschichte des Sozialismus u. d. Arbeiterbewegung, 13. Jg. [1928], S. 307/08). Über das Werk und seine Wirkungen s. Joseph W. Bender sky, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 465ff. 4 Hugo Ball, Carl Schmitts politische Theologie, in: Hochland, 21. Jg. (1923/24), Bd. 2, S. 261-286; Jacob Taubes (Hrsg.), Religionstheorie und Politische Theologie, Bd. 1: Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, München 1983, mit Beiträgen von E.-W. Böckenförde, P. Koslowski, H. Lübbe, O. Marquard, R. Maurer, J. Taubes u. a. Der Aufsatz von H. Ball ist wohl die erste Gesamtwürdigung des Werkes und der Persönlichkeit Carl Schmitts; er ist erneut abgedruckt in dem von Taubes herausgegebenen Werk S. 100-115. Zum Thema selbst auch G. Maschke: Der Staat 28 (1989), S. 557ff.; Heinrich Meier, Die Lehre Carl Schmitts, Stuttgart 1994.

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Ich könnte mit der Durchmusterung und Zuordnung seiner Schriften so fortfahren, es ergäbe sich immer dasselbe Bild: in den Nachbarwissenschaften wurzelte Carl Schmitts zweite wissenschaftliche Existenz. Mühelos schien er von der einen zur anderen zu wechseln: ein Jahr nach dem Erscheinen von „Römischer Katholizismus und politische Form" und der „Geistesgeschichtlichen Lage des heutigen Parlamentarismus", im Jahre 1924 also, referierte er auf der ersten Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Jena über „Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsverfassung". Der „Begriff des Politischen" erschien als Aufsatz 1927, die „Verfassungslehre" im Jahre darauf; das eine politische Soziologie, das andere ein juristisches Lehrbuch. Natürlich konnte und wollte Carl Schmitt seine wissenschaftlichen Existenzen nicht völlig voneinander trennen. In der „Verfassungslehre" werden die Institutionen und Rechtssätze immer wieder geistesgeschichtlich unterfüttert, das macht den Reiz dieses Buches aus. Auch ist der „Begriff des Politischen" ursächlich für die Trennung zwischen dem „politischen" und dem „unpolitischen" Teil der Verfassung 5. Seine juristische Schrift über den „Hüter der Verfassung" ist gewiß nicht frei von Erwägungen jenseits aller Rechtssätze, und im Völkerrecht hat er seine juristischen Fähigkeiten und Schlüsse durchaus in den Dienst seiner politischen Anschauungen gestellt. Andererseits trug er rechtswissenschaftliche Themen und Begriffe in die Nachbarwissenschaften hinein und erörterte sie mit nachbarwissenschaftlichen Mitteln: Souveränität, Repräsentation, Entscheidung, Krieg und Frieden, Neutralität, Legalität und Legitimität. Vor allem irritierte und verblüffte er jenseits der juristischen Fachgrenzen mit einem spezifisch juristischen Instrument, nämlich mit dem Denken in Begriffen — ich komme darauf zurück. Umgekehrt vermittelte er den Juristen Namen und Lehren, die sie ohne ihn nie kennengelernt hätten: aus England den Philosophen Thomas Hobbes und die Pluralisten Cole und Laski, aus Frankreich den Syndikalisten Georges Sorel und seinen Schüler, den Sozialisten Edouard Berth ; den Spanier Donoso Cortes entriß er der Vergessenheit nicht nur für die Juristen. 5

Ernst-Wolfgang S. 283 ff.

Böckenförde,

in: Complexio Oppositorum (FN 2),

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Die zweite, wichtigere Ursache der Meinungsverschiedenheiten über Carl Schmitt ist das geistige Doppelleben, das Carl Schmitt als Wissenschaftler und als politischer Denker führte, als ordentlicher Professor wie als Betrachter und Deuter der politischen Zeitläufte 6 . Als Jurist hielt er sich (vor 1933) an die wissenschaftlichen Maximen seiner Profession: als Rechtstheoretiker hat er beachtliche, als Verfassungs- und Völkerrechtshistoriker bedeutende Monographien geschrieben, seine staatsrechtlichen Schriften zum Verfassungsrecht der Weimarer Republik gehören zum Besten, was in diesem Jahrhundert aus deutscher Juristenfeder gekommen ist. Aber seine Leistungen als Jurist hatten ihm nur unter Fachgenossen Ansehen und Rang verschafft; national berühmt und öffentlich umstritten war der politische Schriftsteller Carl Schmitt. Seine Schriften zum Verfassungsrecht der Weimarer Republik blieben Arbeiten eines Juristen, der sich zwar einfallsreich und artistisch behende im Gerüst der Normen bewegte, aber von ihm gehalten wurde und in ihm verblieb; die Gegenkontrolle war jederzeit möglich. Das gilt entsprechend für seine geistes- und sozial wissenschaftlichen Arbeiten. Dem politischen Denker Schmitt hingegen fehlten die normativen Haltegriffe, an ihre Stelle traten die drei materialen Grundprägungen seines Daseins — er war Katholik, er war Etatist, und er war Nationalist. Diese Prägungen steuerten seine Erkenntnisinteressen ebenso, wie sie seine Lagebeschreibungen und Situationsdeutungen bestimmten. Gewiß war er auch Ästhet. Das Ästhetische, d. h. der Wille, Form gegen Chaos zu stellen7, ist eine in diesem Zusammenhang formale Kategorie, eine Prägung, die bei Carl Schmitt stets im Auge zu behalten ist; ich werde ihr näher nachgehen zum Stichwort „Denken in Begriffen". Anzumerken wäre noch, daß Carl Schmitt die Römische Kirche wie den Staat — vornehmlich den preußischen Staat — auch als Verkörperung des Prinzips „Form" sah, das Ästhetische sich also dem Katholischen 6 Günter Maschke hat zu Recht darauf hingewiesen, für das Verständnis der Schmittschen Texte sei es stets nützlich herauszufinden, „ob er nun vorrangig als politischer Denker, als Jurist, als Kulturkritiker oder als Geschichtsphilosoph spricht" (in: Complexio Oppositorum [FN 2], S. 193/94). 7

Vgl. G. Maschke, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 221; s. auch Joseph H. Kaiser, ebenda, S. 324.

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wie dem Etatistischen seines Denkens verband — wohl auch dem Nationalen, da ihm der Begriff „Menschheit" zeitlebens als diffus, chaotisch und betrügerisch verdächtig blieb. Diese „Grundprägungen" sind nicht als vorgegebene Formen mit festem Inhalt mißzuverstehen. Es sind eher „Grundstimmungen", früher oder später erworben, die ein so lebhafter wie eigenständiger Geist wie Carl Schmitt individuell verarbeitete. Dabei konnte er durchaus an den oberen wie an den unteren Rand des Begriffsrahmens geraten: Seine Katholizität war radikal, das geistige Bild seiner Konfession war damals aber auch bunter als heute. Sein Nationalismus hingegen ist in den 20er Jahren als gewöhnlicher Patriotismus empfunden worden. Habent fata sua notiones. Die vier Grundprägungen des Schmittschen Denkens möchte ich an der Sammlung jener 36 Aufsätze, Vorträge und Rezensionen aufweisen, die er im Sommer 1939 zusammenstellte und 1940 unter dem Titel „Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar — Genf — Versailles 1923 -1939" veröffentlichte. Eine solche Sammlung ist für das Selbstverständnis eines Autors jedenfalls dann aufschlußreich, wenn dieser Autor — wie Carl Schmitt — dank enormer Produktivität aus einem großen Bestand wirklich auswählen kann. Deutsche Autoren standen im Jahre 1939 unter dem Druck totalitärer Anpassungszwänge. Diese spezielle Lage mußte die literarische Selbstdarstellung beeinflussen, vielleicht sogar verzerren. Um so wichtiger sind dann jene Stücke, die nicht in das damals gewünschte Bild oder nicht einmal unter den linientreuen Titel paßten; aufschlußreich sind auch solche Texte, die auf der offiziellen Linie gelegen hätten, aber nicht aufgenommen wurden. Hinzu kommt: Schon damals gab es einen „Fall Carl Schmitt". Im Sommer 1936 war er Objekt intensiver Ermittlungen des SD, des Geheimdienstes der SS gewesen. Ende 1936 war er im „Schwarzen Korps" — Wochenzeitung der SS — scharf angegriffen worden und hatte gleichzeitig seine Funktionen als Leiter der „Reichsfachgruppe Hochschullehrer des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen" sowie als Herausgeber der „Deutschen Juristen-Zeitung" verloren 8 . Seither wußte alle Welt, daß er sich in eine Gesellschaft 8 Im einzelnen vgl. Joseph W. Bender sky, Carl Schmitt - Theorist for the Reich, Princeton N. J. 1983, S. 234ff., unter Auswertung der 292 Seiten starken Akte des SS-Reichssicherheitshauptamtes (zit. SD-Akte, Institut

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begeben hatte, die ihn als Kampfgenossen gar nicht wollte, jedenfalls jetzt nicht mehr wollte. Die Vergangenheit holte ihn ein. Jetzt war er verdächtig durch seine Feier der Römischen Kirche in „Römischer Katholizismus und politische Form" — der „Kirchenkampf" setzte voll ein 1937 — und seine Nähe zum letzten Reichskanzler der Weimarer Republik, dem verhaßten v. Schleicher, der die NSDAP zu spalten versucht hatte. Zudem hatte er öffentlich die „Sonderaktionen" der SS im Rahmen der RöhmAffare in unangreifbarer Form als „schlimmes Unrecht" verurteilt und „eine besonders strenge Strafverfolgung" der Täter gefordert 9. Sein etatistisch-juristisches Denken paßte nicht in die von Volk und Rasse beherrschte Gedankenwelt des Nationalsozialismus, die jetzt — in Theorie und Praxis — immer schärfer aus dem „nationalen" Rahmen der Jahre 1933/34 hervortrat. Die allgemeinen ideologischen Stützen der „nationalen Erhebung", an die sich so viele unterschiedliche Geister gehalten hatten, wurden zunehmend brüchig. Das NS-System war mittlerweile so fest etabliert, daß es nicht mehr auf die Unterstützung berühmter Professoren aus Weimarer Zeit angewiesen war. Es war daher kein Zufall, sondern durch die Entwicklung des Systems bedingt, daß die Vorbehalte, die Kollegen mit „nationalerer" Vergangenheit schon immer gegen Schmitt vorgebracht hatten, nunmehr offene Ohren fanden 10 . Zufrieden schrieb der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, am 5. Januar 1937 an den Reichsrechtsführer Frank: „Ich muß Ihnen leider bekennen, daß ich der Ansicht des ,Schwarzen Korps' bin, und freue mich um so mehr, daß Sie wohl aus ähnlichen Erwägungen heraus Schmitt seiner Ämter enthoben haben ... 1 1 ." Drei Tage später, am 8. Januar 1937, verschickte das Amt Rosenberg in seinen für die Parteidienstfür Zeitgeschichte, Archiv, Fa 503, 1-2); Günter Maschke in seinem Nachwort zu der von ihm besorgten Neuausgabe von Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Köln 1982, S. 181 ff. 9 In: „Der Führer schützt das Recht", Positionen und Begriffe, Nr. 23, S. 202. Dazu hinten nach F N 161. 10 Die SD-Akte (FN 8) nennt S. 96, 110, 111, 217 und 218 als solche Beschwerdeführer Paul Gieseke (1888-1967), Bornhack/Leipzig (wohl Conrad Bornhak, 1861 -1944) und K. A. Eckhardt (1901 -1979), aber auch einen Angriff der Ztschr. „Der deutsche Student" wegen der Äußerungen Schmitts Mitte Juli 1932 auf Burg Lobeda (hierzu E. R. Huber, Complexio Oppositorum [FN 2], S. 37), den Gauleiter Koch im Februar 1934 unterstützte; Abschriften seines Briefes an Schmitt sandte Koch an Göring und Frank (SD-Akte S. 216-17).

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stellen bestimmten „ M i t t e i l u n g e n zur weltanschaulichen Lage" eine 14 Seiten lange weltanschauliche Expertise über Carl S c h m i t t 1 2 . Vorgeworfen wurde i h m u. a., er habe 1930 „ d e n Juden H u g o Preuss . . . begeistert gelobt", 1932 die Nationalsozialisten offen bekämpft u n d versucht, ihnen den Weg zur M a c h t zu verlegen, nämlich i n seiner Schrift „Legalität und L e g i t i m i t ä t " . H a u p t v o r w u r f war jedoch, er sei ein ideologisches Werkzeug der katholischen Kirche. A u f diesen V o r w u r f , ausgebreitet auf zehn Seiten, werde ich noch i n einem anderen Zusammenhang eingehen. — I m Juli 1939 sezierte i h n das Organ der v o n Alfred Rosenberg geleiteten „Dienststelle für Schrifttumspflege" erneut ideologisch 1 3 . Kenntnisreich u n d nicht ohne Respekt vor dem „scharfen Intellekt" des Wissenschaftlers, „der sich rühmen durfte, seit zwei Jahrzehnten die Flugbahnen politischer Begriffe vorgedacht zu haben", wurde festgestellt: „ C . Schmitt hat, nachdem er einmal Bewunderer des geschlossenen katholischen Systems geworden ist, 11 Wiedergabe dieses Textes durch G. Maschke (FN 8), S. 192. Himmler konnte sich auf den Abschnitt „Äußerungen Carl Schmitts über die Arbeit der SS" in der SD-Akte (dort S. 35 f.) stützen, den Bendersky (FN 8, S. 234) so zusammenfaßt: „... the investigators learned that Schmitt considered the SS a major ideological opponent and had made snide jokes about the Gestapo". 12 Mitteilungen zur weltanschaulichen Lage, 3. Jg., Nr. 1 v. 8.1.1937. Herausgeber war „Der Beauftragte des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Erziehung der NSDAP". Die „Mitteilungen" trugen den Vermerk „Vertraulich". Eine Kopie der „Mitteilungen" hat mir Günter Maschke, Frankfurt, überlassen; ihm danke ich auch die Kenntnis einiger weiterer Texte. Zum „Amt Rosenberg" s. Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner, Stuttgart 1970; Helmut J. Fischer, Hitlers Apparat, Kiel 1988, S. 35 ff. - Die zit. „Mitteilungen" sind nach Abschluß dieses Textes von G. Maschke erstmals mit einer Einleitung und vielen kommentierenden Anmerkungen ediert worden in: Zweite Etappe, Bonn, Oktober 1988, S. 96-111. 13 Dr. Gustav Berger, Ein Staatsrechtslehrer als „Theologe der bestehenden Ordnung", in: Bücherkunde, 6. Jg., Heft 7, Juli 1939, S. 332-338. Die „Bücherkunde" war Organ der „Dienststelle für Schrifttumspflege bei dem Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung der NSDAP und der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums"; s. auch H. J. Fischer (FN 12), S. 39. „Berger" war kein Pseudonym; Dr. jur. Gustav Berger war Reichsamtsleiter der NSDAP, tätig im Außenpolitischen Amt. Er ist seit März/April 1945 verschollen, vermutlich gefallen oder freiwillig aus dem Leben geschieden (Auskunft Dr. GottfriedNeeße gegenüber Herrn Kollegen Piet Tommissen, Brüssel, der mir diesen Sachverhalt freundlicherweise mitteilte).

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die Zwangsjacke der Katholizität nicht auszuziehen vermocht. Selbst in seiner fast offiziösen Schrift ,Staat, Bewegung, Volk 4 finden sich die eigentümlichen Linien dieser Denkweise ..." A m Ende der siebenseitigen Analyse steht der Satz, der Carl Schmitt den Lehrstuhl vor die Tür des nationalsozialistischen Hauses setzte: „Wir glauben, daß es vielleicht anderen Staatsphilosophen gelingt, die Zusammenhänge zwischen Volkstum und Staat, zwischen Hoheit und Führertum, Entscheidung und Macht usw. zu erkennen und im Geiste des Nationalsozialismus zu formulieren." Diese Feststellung war nicht die vorweg gegebene Begründung für den Einlieferungsschein in das Konzentrationslager Dachau; man lebte schließlich noch im Frieden und in Berlin, nicht im Moskau der 30er Jahre mit ihren stalinistischen „Säuberungen". Nicht einmal ein Partei-Ausschluß verfahren wurde eingeleitet. Die zuständige Instanz verzichtete lediglich, aber deutlich auf Schmittsche Beiträge zur nationalsozialistischen Staats- und Weltanschauung. Wenn Carl Schmitt es nicht schon 1936 begriffen hatte, so wußte er es jetzt: Seine Absicht — rückblickend betrachtet: seine naive Absicht —, den nationalsozialistischen Staat auf seine Weise zu interpretieren und dadurch zu gestalten, war endgültig gescheitert; alle Kollaboration war vergeblich gewesen. Aber er war Ordinarius an der Universität Berlin und Preußischer Staatsrat. Bei der literarischen Selbstdarstellung konnte sich der berühmte Rechtslehrer mehr herausnehmen als ein Jungakademiker, der in jenen Jahren Privatdozent werden wollte, oder ein Privatdozent, der auf einen Lehrstuhl wartete. Carl Schmitts Ruf als Nationalsozialist war ruiniert; da konnte er schon etwas ungenierter publizieren. Soviel zur persönlichen Situation Carl Schmitts im August 1939.

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II. Über „Positionen44 und „Begriffe 44 Der Titel „Positionen und Begriffe" benennt zwei eigentümliche Merkmale Schmittschen Denkens. „Positionen" sind die Realitäten der politischen Lage, in die er sich gestellt sah, die er aber auch als agonale Situationen entdeckte, der Nährboden der politischjuristischen Begrifflichkeit: „... haben alle politischen Begriffe, Vorstellungen und Worte einen polemischen Sinn; sie haben eine konkrete Gegensätzlichkeit im Auge, sind an eine konkrete Situation gebunden, deren letzte Konsequenz eine (in Krieg oder Revolution sich äußernde) Freund-Feind-Gruppierung ist, und werden zu leeren und gespenstischen Abstraktionen, wenn diese Situation entfällt. Worte wie Staat, Republik, Gesellschaft, Klasse, ferner: Souveränität, Rechtsstaat, Absolutismus, Diktatur, Plan, neutraler oder totaler Staat usw. sind unverständlich, wenn man nicht weiß, wer in concreto durch ein solches Wort betroffen, bekämpft, negiert oder widerlegt werden soll 14 ."

Positionen des Autors Carl Schmitt waren die Weimarer Republik und das Dritte Reich mit ihrer jeweiligen „Lage", außenpolitisch wechselten sie von der Besetzung des linksrheinischen Gebiets durch die französische Armee — dazu schrieb er drei Abhandlungen — bis zur Errichtung des deutschen Protektorats Böhmen und Mähren am 16. März 1939, mit dem Hitler den Rubikon überschritt, der die Revision des Versailler Vertrages von der imperialen Herrschaft über fremde Völker getrennt hatte. 14 Tage später hielt Carl Schmitt in Kiel seinen Vortrag über „Völkerrechtliche Großraumprinzipien", in dem er selbst auf die wesentliche Verschiedenheit der politischen Gesamtlage zwischen 1937 und 1939 hinwies. Das Resultat dieser neuen Situation, der „Begriff des Reiches, der auf einer volkhaften, von einem Volk getragenen Großraumordnung beruht", war allerdings wenig deutlich formuliert 15 ; Carl 14

Der Begriff des Politischen, 2. Ausg., München 1932, S. 18 = Ausgabe Berlin 1963, 3. Aufl. 1991, S. 31. 15 Ablehnend z. B. Friedrich Berber, der statt „Großraum" und „Reich" lieber „Bund" sagen wollte (Die Neuordnung Europas und die Aufgabe der außenpolitischen Wissenschaft, in: Auswärtige Politik, 9. Jg. [1942], S. 189, 192 ff.). Der rumänische Rezensent Mihail Manoilesco 2 Quaritsch

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Schmitt war in der Opposition ungleich stärker als in der Affirmation. Es kann diese ganz unscharfe Umschreibung jedoch auch Resultat einer ungewissen „Position" sein, die Carl Schmitt veranlaßte, die Antwort offenzuhalten und der Zukunft zu überlassen. Oder er hat die eigene Meinung verhüllt, um seinen Gegnern diesseits wie jenseits der Grenzen den Angriff zu erschweren. In seiner geopolitisch orientierten, „völkerrechtlichen" Großraumordnung sollten die Staaten als Nationalstaaten (ohne ius ad bellum) bestehen bleiben, die Beziehungen des deutschen Hegemons zu seinen ost- und südosteuropäischen Nachbarn verblieben im Völkerrecht, während nationalsozialistische Theoretiker wie Höhn, Best u. a. Schmitts völkerrechtlicher die „völkische", auf rassischer Einheit beruhende Großraumordnung entgegensetzen sollten, für die dann Protektorat und Generalgouvernement die unseligen wie schändlichen Beispiele boten. Wie dem auch sei: So leidenschaftlich Carl Schmitt definierte, so genau er um die Abhängigkeit des Denkens von der „konkreten Situation" wußte, so rasch und glatt ihm die Wörter aufs Papier kamen — alles Bedingungen von Präzision und Klarheit —, seine Ergebnisse ließ

stellte 1943 ziemlich kritische Fragen, in: Weltwirtschaftliches Archiv Bd. 57 (1943 I), S. 85-87. Manoilesco war Verf. von Büchern über den Protektionismus und die Einheitspartei, auch Staatssekretär im rumänischen Finanzministerium (freundliche Mitteilung von Herrn Kollegen Piet Tommissen). R. Höhn ist dem rumänischen und anderen Autoren 1944 entgegengetreten mit der These, Nationalismus und Nationalstaat, Staat und Souveränität seien überlebt und überholt (in: Politische Wissenschaften, hrsg. v. Franz Alfred Six, Heft II, Berlin 1944, S. 102-106). Einen guten Überblick über die damalige Großraum-Debatte, besonders über den Gegensatz zwischen Carl Schmitt und Reinhard Höhn, vermittelt der zeitgenössische Aufsatz von Dr. jur. habil. Rudolf SuthoffGroß, Deutsches Recht, 13. Jg., 5./12. Juni 1943, S. 625-628. Die offizielle deutsche Außenpolitik, die gegenüber den Vereinigten Staaten eine „deutsche Monroe-Doktrin" geltend machte, und die dazugehörige Großraumtheorie Schmitts hat Lothar Gruchmann kritisch aufgearbeitet (Nationalsozialistische Großraumordnung, Stuttgart 1962). — Grundsätzlich zum Begriff des Großraumes: Joseph H. Kaiser, Europäisches Großraumdenken — Die Steigerung geschichtlicher Größen als Rechtsproblem, in: Epirrhosis — Festgabe für Carl Schmitt, Bd. 2, Berlin 1968, S. 529-548; Piet Tommissen, in: Tijdschrift voor Sociale Wetenschappen, 33. Jg. (1988), S. 133ff., mit umfangreichen Nachweisen S. 147ff. Ausführlich jetzt Mathias Schmoeckel, Die Großraumtheorie, Berlin 1994.

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er gelegentlich im Schatten, hüllte sie esoterisch ein, weil er seinen Feinden unbegreiflich bleiben wollte. In einem Brief an Armin Möhler hat er 1948 diese Immunisierungstechnik selbst geschildert (vgl. A. Möhler, in: Complexio Oppositorum [FN 2], S. 141 ff.). — Dunkelheit und Zweideutigkeit können dazu dienen, einen rational unbefriedigenden oder schlicht dürftigen Gedankengang gegen Einwände zu immunisieren, das ist die von Ernst Topitsch an bedeutenden Beispielen aufgehellte „Immunisierungsstrategie" (Erkenntnis und Illusion, 2. Aufl., Tübingen 1988, S. 124-240). Dunkelheit kann in Zeiten, in denen öffentliches, von der offiziellen Linie abweichendes Denken gefahrlich ist, ein Mittel der Selbstverteidigung und des Überlebens sein; Leo Strauss beschrieb diese Situation für die Autoren des Mittelalters und der frühen Neuzeit und forderte ein entsprechendes Textverständnis (Persecution and the art of writing, Chicago 1952; ders ., Naturrecht und Geschichte, Stuttgart 1956, S. 171 f., 206 FN 43); Jerry Z. Muller hat die Notwendigkeit, diese Lage bei Autoren zu berücksichtigen, die nach 1933 im Dritten Reich und nach 1945 unter der Besatzung in West und Ost publizierten, hervorgehoben und am Beispiel Hans Freyer dargetan (The other God that failed. Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism, Princeton UP 1987, S. 290fT.; ders ., Geschichte und Gesellschaft Bd. 12 [1986], S. 289, 306 ff.). — Bei Carl Schmitt ist gelegentlich eine spezielle Variante anzutreffen: „Carl Schmitt hüllt das Zentrum seines Denkens in Dunkelheit, weil das Zentrum seines Denkens der Glaube ist" (Heinrich Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und „Der Begriff des Politischen" — Zu einem Dialog unter Abwesenden, Stuttgart 1988, S. 77). Die theologischen Voraussetzungen seines Denkens sind moderner wissenschaftlicher Diskussion weder zugänglich noch können solche Voraussetzungen wissenschaftlich anerkannt werden. Deshalb spricht er sie nicht aus oder verhüllt sie in Andeutungen. Das gilt besonders für den „Begriff des Politischen" über die konkreten Feindsetzungen hinaus; der Feind ist der Garant des göttlich gewollten Lebensernstes (s. H. Meier, ebenda, S. 75 ff.).

Die „Positionen" liegen nicht nur in der wechselnden Umwelt dessen, der sie mit Begriffen erfaßt. „Positionen" sind auch die Brillengläser des Beobachters. Ernst Rudolf Huber hat die doppelte Bedeutung des Wortes „Position" 1941 treffend so beschrieben: „Die Position ist die konkrete Gebundenheit der Theorie an Ort und Zeit, zugleich auch die feste Stellung, die der Theoretiker selbst in Ort und Zeit einnimmt. Es ist der selbstbewußte Anspruch, auch in wechselnden Situationen eine feste Position der Theorie und der persönlichen Haltung bekundet zu haben, der in diesem Buchtitel ausgedrückt wird 16 ." 16

Ernst Rudolf Huber, „Positionen und Begriffe". Eine Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, Ztschr. ges. StW (ZgS) Bd. 101 (1941), S. 1 -44, hier S.4.

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Begriffe nahm Carl Schmitt todernst. Otto v. Bismarck hatte in seinen „Gedanken und Erinnerungen" den Bericht über die Indemnitätsvorlage beendet mit dem Wort: In verbis simus faciles! 17 . Carl Schmitt entsetzte sich über diese verbale Nonchalance, seine Devise lautete: Ne simus faciles in verbis 18 . Was das 19. Jh. vielleicht nicht wissen konnte, ist im 20. Jh. aber nachgerade ein Gemeinplatz: Im Kampf der Geister ist die Besetzung eines Begriffs so wichtig wie im Kriege die Eroberung einer Festung. Besessen von einer Leidenschaft der Definition 19 konnte er Begriffe, so berichtet Christian Meier aus persönlichen Begegnungen, „regelrecht sehen, sie stellten Realitäten für ihn dar" 2 0 . In unserem Sammelband beschäftigen sich allein neun Aufsätze und Vorträge schon nach der Überschrift ausschließlich mit Begriffen: „Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff" (1924), „Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie" (1926), „Der Begriff des Politischen" (1927), „Übersicht über die verschiedenen Bedeutungen und Funktionen der innerpolitischen Neutralität des Staates" (1931), „Reich — Staat — Bund" (1933), „Der Begriff der Piraterie" (1937), „Über das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind" (1938), „Völkerrechtliche Neutralität und völkische Totalität" (i938), „Neutralität und Neutralisierungen" (1939), „Großraum gegen Universalismus" (1939).

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Gedanken und Erinnerungen, Bd. 2, Stuttgart 1898, S. 70. Carl Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches, Hamburg 1934, S. 21. 19 E. R. Huber (FN 16), S. 2. Über die politische Bedeutung des Definierens und der Begriffsbildung hat sich Carl Schmitt in seinem von Veit Rosskopf im Januar 1933 aufgenommenen und am 1. Februar gesendeten Rundfunkgespräch geäußert; der Text ist enthalten in: Piet Tommissen, Over en in zake Carl Schmitt, Eclectica, 5. Jg. Nr. 2, Brüssel 1975, S. 113 ff., dort besonders S. 115. Ebenfalls abgedruckt ist S. 89-109 das Rundfunkgespräch mit Dieter Groh und Klaus Figge, gesendet vom Südwestfunk in der Reihe „Zeitgenossen" am 6. Februar 1972. — Über Rosskopf s. Piet Tommissen, in: ders. (Hrsg.), Schmittiana 1, Brüssel 1988, S. 65 F N 29. 18

20 Christian Meier, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 605, und ebenda, S. 537ff. allgemein zu Art und Bedeutung seiner Begriffsbildung mit dem zutreffenden Ergebnis: „Man kann die Bedeutung der Begriffe (und der Begriffsbildung) im Werk Carl Schmitts kaum überschätzen" (S. 554); ebenso bereits 45 Jahre vorher E. R. Huber (FN 16).

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Wie wichtig für ihn die Auseinandersetzung um Begriffe und Begrifflichkeit war, ist auch daran zu erkennen: Er nahm in diesen Sammelband eine Rezension auf, die gar nicht hineinpaßte, da sie mit Weimar, Genf und Versailles nichts zu tun hatte: 1924 war Friedrich Meineckes „Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte" erschienen. Der 38jährige Jurist und Bonner Ordinarius Carl Schmitt nahm sich 1926 im Heidelberger „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" das schnell bekannt gewordene Werk des berühmten Historikers vor. Fast devot fragt er gleich zu Beginn: „Was könnte man Neues zum Thema des Buches sagen, was dieser grenzenlos vielseitige Kenner der Jahrhunderte nicht bereits vorweggenommen hätte und was nicht sofort seinen Platz fände in dem Mosaik der tausend Nuancen, in denen seine ,Idee der Staatsräson' lebt?" Dann zitiert er Friedrich Meinecke mit dem Satz: „Der reiche Inhalt der Idee der Staatsräson läßt sich nicht in die engen Fesseln einer begrifflichen Definition schlagen (S. 259)." Das gibt Carl Schmitt das Stichwort zu einem erbarmungslosen Verriß. „Natürlich wird", so setzt Carl Schmitt hinzu, „wiederholt gesagt, was unter dem Wort verstanden sein soll: Staatsräson ist bald dasselbe wie Machiavellismus, bald Machtpolitik, oder Macht- und Lebenswille der Staaten, oder sogar Zwangsläufigkeit im politischen Handeln4 (vgl. S. 369); Machtproblem und Machtpolitik sind nur die modernen Ausdrücke für Staatsräson (S. 511); im 19. Jh. wird Staatsräson das innere Bewegungsgesetz des Staates als eine Individualität (S. 489) usw. Aber jede begriffliche Festlegung ist sorgfältig vermieden." Dann bringt Carl Schmitt erst einmal Ordnung in die möglichen Aspekte des Themas „Staatsräson", als stände er mit einem Stück Kreide an der Tafel des Seminarraumes, und erklärt: „Es mag Nationalismus 4 sein, mit Begriffsschablonen zu arbeiten; es ist ein auf demselben Niveau verbleibender Irrationalismus, jede Begrifflichkeit zu vermeiden. Der Verzicht auf den Begriff enthält ... einen Verzicht auf eine strenge Architektur überhaupt." Carl Schmitt richtet wissenschaftlich hin, wenn er am Ende dieser Rezension schreibt: „Denn nicht nur das Spezifische des Begriffes [der Staatsräson] geht verloren — das hat den Verfasser ex professo niemals interessiert —, sondern auch die historische Individualität der Vorstellung... So rächt sich der mißachtete Begriff." Carl Schmitt läßt den Begriff als Erinnyen walten.

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Seine Begriffe bildete Carl Schmitt nicht absichtslos oder wohlwollend gegenüber dem Status quo, sie waren Instrumente des Kampfes, den er gegen das geführt hatte, was er hier unter den Stichworten „Weimar — Genf — Versailles" zusammenfaßte. Ernst Rudolf Huber schrieb dazu in seiner großen Rezensionsabhandlung über unseren Sammelband 1941: „Die Methode dieses Kampfes besteht darin, daß mit dem Mittel der Definition der echte Begriff einer politischen Institution bestimmt und eben dadurch der Abfall der faktischen Einrichtungen von ihrem eigenen Wesen bewußt gemacht wird. So tritt die Entartung der politischen Institutionen sichtbar hervor; durch die Definition des ursprünglichen Sinnes wird die Dekadenz verdeutlicht 21."

Das gilt sicher nicht allgemein für die Begriffe Carl Schmitts, wohl aber, wenn es sich um Institutionen handelte, die für Weimar, Genf oder Versailles standen. Muster dieses Verfahrens sind die Abhandlungen über das Verhältnis von Demokratiebegriff und Staatsbegriff von 1924 sowie über Parlamentarismus und moderne Massendemokratie von 1926. Heute mag uns das Angriffsziel dieser Begriffsbildungen ebenso bedenklich erscheinen wie die Konfrontation des „echten" Begriffs mit der tristen Realität. Die Polemiken gegen das angelsächsische und westeuropäische Verständnis von Demokratie wie auch gegen das deutsche Vielparteienparlament der 20er Jahre haben indes Erkenntnisse zutage gefördert, die man nicht vermissen möchte. Die bloß kommentierende Wissenschaft war dazu nicht fähig. Die mit Richard Thoma geführte Auseinandersetzung 22 sollten diejenigen, die über den Parlamentarismus schreiben, getrost noch einmal lesen, um nicht dem Irrtum zu verfallen, die Beschreibung des Nutzens der parlamentarischen Maschinerie rechtfertige schon den Parlamentarismus als System. Carl Schmitt hatte dem Reichstag die Daseinsberechtigung nicht bestritten: „Wie alles, was besteht und erträglich funktioniert, ist er nützlich, nicht mehr und nicht weniger 23 ." Er fragte aber, ob „Diskussion und Öffentlichkeit", für 21

E. R. Huber (FN 16), S. 12. In der Einleitung zu der 1926 erschienenen 2. Aufl. der „Geistesgeschichtlichen Lage des heutigen Parlamentarismus", abgedr. auch in: Hochland, 23. Jg. (1925/26), S. 257-270; ebenso dann in: Positionen und Begriffe, Nr. 7, S. 52 ff. 23 Positionen und Begriffe, Nr. 7, S. 54. 22

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ihn konstituierende Momente der parlamentarischen Idee, denn noch vorhanden seien. Diese Infragestellung hat den Funktionswandel des Parlaments überhaupt erst bewußt gemacht. Carl Schmitts Begriffsleidenschaft wurzelte in seiner juristischen Profession, und Carl Schmitt war Jurist bis ins Mark. Rechtsanwendung ist im täglichen Handwerk Begriffs- und Subsumtionstechnik. Sieg oder Niederlage im Prozeß, Freispruch oder drei Jahre Haft können von Bestimmung und Anwendung eines Begriffs abhängen. Das brauche ich hier nicht näher darzulegen. Carl Schmitts Begriffsdenken hatte noch eine zweite Quelle, es war auch verwurzelt in der künstlerischen Revolution, die zwischen 1910 und 1920 stattfand; für sie stehen Namen wie Franz Blei, Hugo Ball, Carl Einstein, Theodor Däubler, Paul Klee, Robert Musil und Gottfried Benn. Die persönlichen Verbindungen und die geistigen Übereinstimmungen des jungen Schmitt mit der malenden und dichtenden Avantgarde jener Zeit sind erst neuerdings nachgewiesen worden von Ellen Kennedy und Roman Schnur 2*. Leitgedanke der Avantgarde war die Zertrümmerung der Wirklichkeit und ihre Rekonstruktion mit neuen Mitteln; die philosophische Basis lieferte der Neukantianismus. An der literarischen Revolution hat sich Carl Schmitt zwar beteiligt, nämlich als erster und wichtigster Kommentator von Theodor Däubler in den Jahren 1912 und 1916 wie als Essayist 1917 in der Zeitschrift „Summa", aber die Maximen des neuen Sehens und Schreibens verwirklichte er auch und vor allem in seinen eigenen Bereichen. Der als chaotisch empfundenen Wirklichkeit setzte er seine Begriffe entgegen, die „echten" Begriffe, denn so „stimmte die Welt wenigstens in der Sprache" 25 . Das Ästhetische hat bei Carl Schmitt also durchaus 24

Ellen Kennedy, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 233 ff.; Roman Schnur, Der Staat Bd. 27 (1988), S. 437, 447 ff. Auf Carl Schmitts „ästhetischen Pol" hat in diesem Zusammenhang Piet Tommissen hingewiesen (in: Criticon, Nr. 30 [1975], S. 177ff., 179). Intensive Kontakte pflegte Schmitt mit den Malern Werner Gilles (1894-1961), Werner Held (1904-1954) und Ernst W. Nay (1902-1968), mit letzterem führte er einen ausführlichen Briefwechsel über Raum und RaumbegrifT in der modernen Malerei und in der Politik, wovon Nay ziemlich viel verstanden haben muß. Auf den österreichischen Maler und Schriftsteller Albert P. Gütersloh (1887-1973), mit dem Schmitt ebenfalls ausführlich korrespondierte, hat Schmitt deutlich gewirkt (Sonne und Mond, 1962; besonders „Der innere Erdteil", 1966); freundliche Mitteilung von Herrn G. Maschke, Frankfurt.

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einen künstlerischen Nährboden, ist aber nichts Spielerisches oder Erbauliches, nichts für Gemüt oder Seele, ist vielmehr „Formgebung durch Begriffsbildung" 26 , und das kennzeichnet das juristische wie politische Denken Carl Schmitts. Der Heidelberger Soziologe und Nationalökonom Carl Brinkmann schrieb 1940 von der Schmittschen „Begriffsmagie" und dem „fast unheimlichen Leben" seiner Begriffe 27 . Das ist eine unbewußte Reaktion auf den ästhetischen Kern dieser Begrifflichkeit, die in einem sensiblen Leser anderes ansprach als das Ordnungsbedürfnis der Wissenschaft. Die künstlerische Seite seiner Existenz hat dem Wissenschaftler Schmitt manchen Streich gespielt. Der dramatische Stil und die häufig essayistische Form, bedacht auf breite Wirkung, ließen Zuspitzungen in Übertreibungen umschlagen, die den kollegialen Widerspruch provozieren mußten. Selbst mit den so wichtigen Begriffen ging er gelegentlich eher lässig um: Der „Begriff des Politischen" war, wie er selbst bald erkannte und zugab, kein „Begriff", sondern ein „Kriterium". Fernerhin: Der Begriff des „totalen" Staates sollte zwei entgegengesetzte Wirklichkeiten abdecken — solche Fehler vermeiden auch kleinere Geister. Für den Ästheten geht die Gleichsetzung von Begriff und Kriterium hingegen völlig in Ordnung, oder: ist die Verwechselung dieser Termini belanglos. Die Verwendung eines Wortes für verschiedene Sachverhalte ist ein raffinierter Effekt, wenn zwischen jenen Sachverhalten verborgene Gemeinsamkeiten bestehen oder ein identischer Schein die Identität der Sachen vorspiegelt. Diese Deutung verwandelt die wissenschaftlichen Irrtümer Schmitts nicht in wissenschaftliche Wahrheiten, zieht aber deren Ursache ans Licht. Erklärt sind ebenso die gereizten Reaktionen der wissenschaftlichen Umwelt gegenüber Schmitt schlechthin, aber auch der große Erfolg der Schmittschen Schriften beim literarischen Publikum. 25

Ch. Meier, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 554. Volker Neumann in der Speyerer Debatte des Referats von E. Kennedy über das Ästhetische bei Carl Schmitt (in: Complexio Oppositorum [FN 2], S. 262). Das Zitat auch bei R. Schnur (FN 24), S. 450. Mit der „romantischen" Ästhetik, die Schmitt in der „Politischen Romantik" erörterte (2. Aufl. 1925, S. 147 ff. u. passim), hat eine solche Ästhetik nichts zu tun. 27 Schmollers Jahrbuch, 64. Jg. (1940), S. 493 (Rezension von „Positionen und Begriffe"). 26

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I I I . Grundprägungen Carl Schmitts 1. Der Katholik Die entschiedene K a t h o l i z i t ä t des jungen Carl Schmitt ist unbestritten. Der bekannteste Beleg ist die 1923 i n erster, 1925 i n zweiter Auflage erschienene Schrift „Römischer Katholizismus u n d politische F o r m " 2 8 , seine katholische A n t w o r t a u f Max Webers „Protestantische E t h i k u n d der Geist des K a p i t a l i s m u s " 2 9 . N i c h t minder charakteristisch für die Eigenart der Schmittschen K a t h o l i z i t ä t ist ein 1917 veröffentlichter Aufsatz über „ D i e Sichtbarkeit der K i r c h e " 3 0 , radikal christlich die Einleitung zu der Selbstbiographie des Pietisten Johann Arnold Kanne (1773-1824), der sich vor allem seiner Erweckung u n d der Folgen erinnerte. Carl Schmitt ließ diese merkwürdige Schrift 1919 i m Furche-Verlag m i t einer für i h n sehr aufschlußreichen Einleitung erneut d r u c k e n 3 1 . 28

Dazu Helmut Rumpf, Carl Schmitt und Thomas Hobbes, Berlin 1972, S. 17 ff; Klaus Kröger, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 159 ff, und die Diskussion ebenda, S. 167 ff, besonders die Deutung Josef Isensees, S. 172-174, sowie Gary L. Ulmen, ebenda, S. 341 ff. - Carl Schmitt hat über einige Folgen in seiner persönlichen Umgebung berichtet, vgl. das von Piet Tommissen wiedergegebene Rundfunk-Interview aus dem Jahre 1972, in: Over en in zake Carl Schmitt ( F N 19), S. 95 f. In einer zeitgenössischen Gegenschrift wurde Schmitt „ein fundamentales Mißverstehen der Kirche, ihrer Weltsendung, ihrer Gestalt und Wirkform" vorgeworfen, entstanden aus den juridischen Denkformen Schmitts (Ernst Michel, Politik aus dem Glauben, Jena 1926, S. 28-45). 29 G. L. Ulmen, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 342ff.; ders., Politischer Mehrwert. Eine Studie über Max Weber und Carl Schmitt, Weinheim 1991. 30 Summa, 1. Jg. (1917/18), Zweites Viertel, S. 71-80. 31 Aus meinem Leben. 2. Aufl., Berlin 1941 (!) bei W. Keiper. Die bis 1817 reichenden Erinnerungen Kannes waren 1824 zuerst veröffentlicht worden, s. Julius Riffert, ADB Bd. 15 (1882), S. 77 f. Carl Schmitt ist auf diesen Text im Zusammenhang mit seinen Studien zur „Politischen Romantik" gestoßen. „Wir, die wir nicht zur literarischen Ochrana gehören, dürften ihn nicht beachten, wenn er nicht darauf verzichtet hätte, sich in antithetischen Psychologismen romantisch zu bespiegeln ... Die geistige Aktualität dieses Mannes liegt darin, daß er aus den ewigen Kreisen naturphilosophischer Gesetzmäßigkeit und aus den unendlichen Wieder25

Seine K a t h o l i z i t ä t hielt sich gewiß nicht i m Rahmen der sonntäglichen Predigt, bischöflicher Hirtenbriefe u n d den Verlautbarungen der Zentrumspartei. Aufgewachsen i n dem katholischen Reizklima Ostwestfalens, das noch unter der Spannung des Kulturkampfes stand, gehörte er zur intellektuellen Garde des katholischen Renouveau; spezielle u n d radikale Akzente folgten aus der Faszination, die A u t o r e n wie Donoso Cortes u n d Leon Bloy auf i h n ausübten 3 2 . Seine K a t h o l i z i t ä t ist nicht nur Religion u n d Konfession, sie ist zugleich K u l t u r - K a t h o l i z i s m u s , der rebelliert gegen die K u l t u r Revolution, die seit der A u f k l ä r u n g des 18. Jh. i n Europa die überkommenen christlichen Bestände ununterbrochen abbaut. Eine A n m e r k u n g , die Schmitt 1917 i n die Buribunken-Satire einsetzte, belegt diese Überzeugung: „Schmitt leistet sich die geradezu unglaubliche Behauptung, alles, was es an wahrem Respekt vor dem Geistigen auf der Erde noch gebe, sei das Erbe des mittelalterlichen Christentums, von dem wir noch wie Lehrlinge, die die Portokasse unterschlagen haben, ein paar kurze Jahrhunderte in dulci jubilo leben, um dann zu erkennen, wie eine entchristlichte Welt in Wirklichkeit über Kunst und Wissenschaft denke. Ich weise diese freche Behauptung im Namen der gesamten Buribunkologie mit schärfster Entrüstung zurück 33 ." künften und Entwicklungen der Geschichte entschlossen den Sprung in die Paradoxie des Christentums tat und dadurch auch den Weg aus dem Gefängnis seines rücksichtslosen Egoismus fand: die Anklagen, die er bisher gegen andere gerichtet hatte, kehrte er nunmehr gegen sich selbst" (Carl Schmitt, Einleitung S. 4, München, Herbst 1918). 32 Im einzelnen s. P. Tommissen (FN 24), S. 177 ff. Über Einfluß und Bedeutung seiner frommen Familie, seiner Erziehung im katholischen Internat (Konvikt Bernardinum in Attendorn) und einiger Lehrer berichtet Carl Schmitt in dem Rundfunk-Interview 1972, wiedergegeben von P. Tommissen, Over en in zake Carl Schmitt (FN 19), S. 92-94. - G. Maschke benennt drei Quellen für Carl Schmitts speziellen Katholizismus: die gegenrevolutionäre politische Philosophie von de Maistre, de Bonald und Donoso Cortes, die antiliberale Polemik von Papst Pius IX. und dessen „Syllabus" von 1864 und der französische und deutsche Renouveau catholique nach der Jahrhundertwende (in: Klaus Hansen/Hans Lietzmann [Hrsg.], Carl Schmitt und die Liberalismuskritik, Opladen 1988, S. 56). Th. Gil, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Bd. 74 (1988), S. 521 ff., verwendet in diesem Zusammenhang das Stichwort „Gegenaufklärung". 33

Die Buribunken, in: Summa, 1. Jg. (1917/18), Viertes Viertel, S. 89106, 91 FN. 26

Diese Position ist cum grano salis zu verstehen. Schmitts geistiger Fundus war nicht identisch mit dem üblichen philosophischen Fundament katholischer Theologen. Der gründliche altsprachliche Unterricht des deutschen humanistischen Gymnasiums vor dem Ersten Weltkrieg (Latein, Griechisch, Hebräisch) war bei ihm auf fruchtbaren Boden gefallen. Er hatte Weisheit und Poesie der Antike ungefiltert aufgenommen; nach dem Zeugnis Christian Meiers konnte er noch im achten Lebensjahrzehnt nicht bloß lateinisch formulieren, sondern auch „lateinisch denken". Philosophie, Dichtung und Musik der europäischen Neuzeit waren kritisch verarbeitet und stets präsent, nicht mit der konfessionellen Sonde geschieden. Für die Autoren Frankreichs, Spaniens und Englands benötigte er keinen Übersetzer. Das Buribunken-Zitat erhellt aber seine später so gut getarnte geistige Zitadelle, und diese radikale Kernposition hat Schmitt nie geräumt, allenfalls begradigt, soweit der Protestantismus in Frage stand 3 *. Darwin war ihm zeitlebens ein Greuel, mit Nietzsche, auf dessen Schwester er pseudonym eine grobe Satire veröffentlicht hatte 3 5 , wollte er unter keinen Umständen in Verbindung gebracht werden 36 . Lessings Ringparabel war für ihn das Resultat eines „Neutralisierungsprozesses", eine abscheuliche Nichtentscheidung, im Grunde ein übler Betrug: „Als Inhalt des Bekenntnisses bleibt dann schließlich nur ein Häufchen Wertphilosophie übrig" 3 7 — schärfer konnte Schmitt nicht urteilen. Aus seiner radikalkatholischen Position ergab sich von selbst eine kritische Einstellung gegenüber den katholischen Realitäten M In seiner Tischrede, die er vor wenigen Freunden am Vorabend seines 50. Geburtstages, also am 10. Juli 1938 hielt, führte er aus: „Dann trat im Sommer 1926 Heinrich Oberheid in mein Leben ein als Student der evangelischen Theologie. Er wurde für mich, der ich aus dem katholischen Teil Westfalens stamme, zu einem wahren Indikator in die Welt, ohne deren innerste Eroberung man nicht Deutscher sein kann — in die Welt des lutherischen Christentums, lutherischer Gottes- und Gnadengläubigkeit, Luther-Sprache — Muttersprache!" (Der Text dieser bisher unveröffentlichten Rede ist mir von Herrn Eberhard v. Medem, Düsseldorf, und Herrn Joseph H. Kaiser, Freiburg, zur Verfügung gestellt worden). Über Heinrich Oberheid (1894-1977) s. Heiner Faulenbach, Ein Weg durch die Kirche: Heinrich Josef Oberheid, Köln 1992. 35

Johannes Negelinus mox doctor (mit Fritz Eisler), Schattenrisse, Leipzig 1913, S. 17 - 20. Zur Publikation dieser Schrift vgl. P. Tommissen, in: ders. (Hrsg.), Schmittiana 1 (FN 19), S. 45 F N 7. 36 s. Armin Möhler, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 131. 37 Der Staat Bd. 4 (1965), S. 62/63.

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seiner Zeit. In „Römischer Katholizismus und politische Form" hatte er von Kirche und Klerus ein ideales, durch geistige und politische Überlegenheit geprägtes Bild skizziert 38 . Verglichen mit diesem Bilde einer ecclesia militans et triumphans konnten die Kirche des 20. Jh. und ihre weltlichen Agenturen einen allenfalls unvollkommenen, wenn nicht betulichen Eindruck hinterlassen. Schmitts (stumme) Enttäuschung und Kritik an dieser Wirklichkeit berührten indes niemals sein Bekenntnis zu Glaube und Dogma. Für den Katholiken aber sind Glaube und Dogma untrennbar mit Kirche und Klerus verbunden; das hatte er selbst in „Römischer Katholizismus und politische Form" eindringlich vorgetragen. Seit 1936 war Carl Schmitt wegen seiner „katholischen" Schriften angegriffen worden, zuerst zweimal im „Schwarzen Korps", dann 1937 und 1939 vom Amt Rosenberg; ich erwähnte das bereits. In den „Mitteilungen zur weltanschaulichen Lage" vom 8.1.1937 hatte die Aufzählung der juristischen und politischen Verfehlungen Schmitts in Weimarer Zeit mit der Feststellung geendet: „Dieser Überblick an inneren Widersprüchen, die aus der Fülle des Materials herausgegriffen sind, könnte zu der Ansicht verleiten, hier ein Beispiel vollendeter politischer Charakterlosigkeit zu sehen. Doch läßt sich eine einheitliche Linie feststellen, die sich durch alle Schriften sehr deutlich hindurchzieht: im Hintergrund der rechtlichen und politischen Begriffe steht die Macht der Katholischen Kirche."

Dann ging es los: Carl Schmitt habe die Infallibilität des Papstes verteidigt, den berüchtigten spanischen Katholiken Donoso Cortes als „Nachfahren der Großinquisitoren" gepriesen, Volk und Staat zu vergänglichen, der ewigen Kirche nachgeordneten Größen herabgewürdigt, Jesuiten wie Przywara und Gundlach hätten ihn einen großen Staatslehrer genannt, sein „Konkretes Ordnungsdenken" von 1934 sei nur ein anderer Name für Neothomismus usw., usw. Wer Freund oder Feind sei, „liegt in erster Linie bei den theologischen Denk Voraussetzungen". Nach 14 Schreibmaschinenseiten endete die Untersuchung mit den im Jahre 1937 ideologisch vernichtenden Sätzen: „Dieser neutrale Begriff der Politik aber, und das ist das Erstaunlichste, wird zum Herren gemacht über die tragenden Werte der nationalsozialistischen Weltanschauung, in erster Linie über den Begriff des Volkes. 38 Vgl. K. Kröger, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 159 ff., und die anschließenden Diskussionsbeiträge (S. 167-180).

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Dieser Kern unserer Weltanschauung wird herabgewürdigt zur Sphäre der Selbstverwaltung. Das Volk ist ein bescheidener Teil des Feldes, auf dem die theologischen Gegensätze ausgetragen werden. Das ist der Kern der Lehre Carl Schmitts." N a c h der etwas höflicheren Wiederholung dieser Angriffe i m Sommer 1939 i n der Rosenbergschen „Bücherkunde", die ich bereits schilderte, k a n n m a n nicht sagen, über die offizielle weltanschauliche Charakterisierung Carl Schmitts sei inzwischen Gras gewachsen. Es k o m m t dabei gar nicht darauf an, ob SS u n d N S D A P Carl Schmitt richtig einschätzten. Die Annahme, Carl Schmitt wolle oder könne den Nationalsozialismus katholisch unterwandern, kennzeichnet den „antikatholischen A f f e k t " des Amtes Rosenberg und sein F e i n d b i l d 3 9 . So absurd deshalb die Polemik heute auch anmutet; wichtig ist, daß maßgebende Instanzen dergleichen glaubten, da irgendein öffentlicher Widerspruch ausgeschlossen war u n d auch niemals erhoben worden ist. Es spricht indes manches dafür, daß die Nationalsozialisten den geistigen K e r n Carl Schmitts schärfer sahen als manche Autoren, die sich nach 1945 m i t i h m beschäftigten 4 0 . Ich verweise für 39

Vgl. jetzt G. Maschke (FN 12), S. 98. - Gleiches gilt für die SS, das Thema „Carl Schmitt und der Katholizismus" nimmt im Abschlußbericht des SD mehr als ein Drittel des gesamten Textes ein (S. 204-214 d. Akte): „Hinzu kommt, dass Schmitt auch nach 1933 keine klare Stellung gegenüber dem Katholizismus eingenommen hat. Seine Taktik dabei ist es, entweder dem Problem des Katholizismus auszuweichen oder ihn als harmlos hinzustellen. Auf der Judentagung im Herbst 1936 fiel es auf, dass er ängstlich ablenkte, wenn sich irgendwo der Ansatz zeigte, neben dem Judentum auch den Katholizismus als zersetzend im deutschen Rechtsdenken hinzustellen. Noch 1935 versuchte Carl Schmitt, der bereits 1923 in seinem Buch, Römischer Katholizismus und politische Form 4 eine einzigartige Kenntnis des politischen Katholizismus bewies, diesen als harmlos hinzustellen, indem er erklärte, die Katholische Kirche habe politisch eine kaum ins Gewicht fallende Macht, das Problem des politischen Katholizismus könne von Seiten des Staates mühelos gelöst werden" (S. 212 d. Akte). Der letzte Satz bezieht sich auf die Diskussion im „Reichsfachschaftslager der Juristen" in Berlin-Westend im Februar 1936 (Bericht in der SD-Akte S. 22-24). 40 Zu den katholischen Absetzbewegungen nach 1945 gehört die unbelegte Behauptung von Hans Berger, Staatssekretär und Chef des Bundespräsidialamts unter Lübke: „Im Grunde war schon in den Anfangen seiner wissenschaftlichen Publikationen der agnostische Grundzug unverkennbar. Er suchte jenseits aller Metaphysik den zentralen Punkt seiner rechtsund staatsphilosophischen Untersuchungen in rein irdischen Fakten und

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dieses Problem auf die Ergebnisse, die Heinrich Meier und Günter Maschke vorgelegt haben 41 . Sein eigentliches Arkanum erhellt eine Tagebuchnotiz Carl Schmitts vom 16. Juni 1948: „Das ist das geheime Schlüsselwort meiner gesamten geistigen und publizistischen Existenz: das Ringen um die eigentlich katholische Verschärfung (gegen die Neutralisierer, die ästhetischen Schlaraffen, gegen Fruchtabtreiber, Leichenverbrenner und Pazifisten). Hier, auf diesem Wege der katholischen Verschärfung 42, kam Theodor H.[aecker] mit mir nicht mehr mit; hier blieben sie alle von mir weg, selbst Hugo Ball. Es blieben mir nur Konrad Weiss und treue Freunde wie Paul Adams 43 ." bietet daher fast mehr eine Geschichtsphilosophie als eine Staatslehre" (Hochland, 58. Jg.[1965/66], S. 67-76 [68]). Über Berger (1909 —1985) und seine Kontakte zu Schmitt s. P. Tommissen, in: ders. (Hrsg.), Schmittiana II, Brüssel/Weinheim 1990, S. I l l FN 98. 41 Heinrich Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und „Der Begriff des Politischen" — Zu einem Dialog unter Abwesenden, Stuttgart 1988, dort bes. S. 75 ff.; G. Maschke: Der Staat 28 (1989), S. 557ff. 42

Möglicherweise antwortete Carl Schmitt hier auf seinen Freund Franz Blei (1871 -1942), der über ihn in der Emigration geschrieben hatte: „Das christliche Grundgefühl vom Jammertal dieser Erde hat bei diesem katholischen Gelehrten eine protestantische Schärfe bekommen ..." (in: Franz Blei, Zeitgenössische Bildnisse, Amsterdam 1940, wiederabgedruckt in: Der Pfahl, Bd. 2, München 1988, S. 293-298 [295]). 43 Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, hrsg. v. E. v. Medem, Berlin 1991, S. 165. Der Satiriker und christliche Denker Theodor Haecker (1879-1945) war (1921 konvertierter) Mitarbeiter am „Brenner" und am „Hochland", seit 1935 hatte er Rede-, seit 1939 Druckverbot, s. Eugen Blessing, Theodor Haecker, Gestalt und Werk, Nürnberg 1959; Walter Schnarwiler, Theodor Haeckers christliches Menschenbild, Frankfurt/M. 1962; über den Poeten, Pazifisten und (konvertierten) Anarchisten Hugo Ball (1886-1927) s. den Katalog der Ausstellung Hugo Ball — Leben und Werk. Publica-Verlagsgesellschaft, Berlin 1986, 282 S.; über den katholischen Schriftsteller und Dichter Konrad Weiß (18801940), bis 1920 in der Redaktion des „Hochland", s. Carl Franz Müller, Konrad Weiss, Freiburg/CH 1965, und Friedhelm Kemp/ Karl Neumrth, Der Dichter Konrad Weiß. 1880-1940, Marbach a. N. 1980; Ludo Verbeeck, Konrad Weiß, Weltbild und Dichtung, Tübingen 1970, sowie die Bemerkungen und Nachweise von A. Möhler, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 147. Über das Verhältnis von Carl Schmitt zu Theodor Haecker, Hugo Ball und Konrad Weiß vgl. P. Tommissen, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 80, 82; Wilhelm Nyssen, ebenda, S. 184ff., über Konrad Weiß; zu Paul Adams vgl. P. Tommissen, in: ders. (Hrsg.), Schmittiana 1 (FN 19), S. 62 FN 17. Das Verhältnis von Carl Schmitt zu Hugo Ball hat Ellen Kennedy unter Auswertung des Carl Schmitt-Nachlasses erörtert (Ztschr. f. Politik, 35. Jg. [1988], S. 143-161).

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Ich kann nicht beurteilen, wie sehr die Angriffe der Nationalsozialisten Carl Schmitts Beziehungen zu seiner Umwelt belasteten; die Rezensenten von „Positionen und Begriffe" taten so, als sei nichts geschehen — die Rosenbergsche „Bücherkunde" gehörte wohl auch nicht zur bevorzugten oder zur Pflichtlektüre deutscher Professoren 44. Carl Schmitt jedenfalls zeigte 1939 Flagge (katholische Flagge, seine katholische Flagge), indem er die Aufsätze über Donoso Cortes aus den Jahren 1927 und 1929 in „Positionen und Begriffe" erneut veröffentlichte. Wie bei den anderen Aufsätzen auch, vermerkte er sorgfaltig den ersten Erscheinungsort: „Donoso Cortes in Berlin 1849" war 1927 in der „Festschrift für Carl Muth zu dessen 60. Geburtstag" erschienen; „Der unbekannte Donoso Cortes" war 1929 in der von eben diesem Carl Muth seit 1903 herausgegebenen katholischen Intellektuellen-Zeitschrift „Hochland" publiziert worden. Es ist leider nicht überliefert, was das Amt Rosenberg über diesen Neudruck dachte und darüber, daß Carl Schmitt ausnahmsweise bibliographische Angaben hinzufügte und auf die Rezension eines Buches über Donoso im Jahre 1936 durch Eugen Wohlhaupter verwies, der als kirchentreuer Katholik (und Beinahe-Präsident der Görres-Gesellschaft) bekanntermaßen alles andere als persona grata war 4 5 . Wie dem auch sei: beide Aufsätze hatten nichts zu tun mit Weimar, Genf, Versailles, sie konnten allein dazu dienen, die katholische „Position" des Autors zu dokumentieren. Die warmherzigen Schilderungen des spanischen Diplomaten und Schriftstellers, der so katholisch war, wie es nur ein Spanier sein konnte, und dessen rabiate Katholizität auch für das 19. Jh.

44 Die meisten Rezensionen kamen aus ausgezeichneten Federn: Hans Freyer, Deutsche Rechtswissenschaft Bd. 5 (1940), S. 261 -266; X (Wilhelm Grewe), Frankfurter Zeitung Nr. 207/208 v. 24.4.1940; Ulrich Scheuner, Europäische Revue, 16. Jg. (Juni 1940), S. 357-359; Carl Brinkmann, Schmollers Jahrbuch, 64. Jg. (1940), S. 493-495; E. R. Huber (FN 16), S. 1 44; Jürgen v. Kempski, Ztschr. f. Politik, 1941, S. 258 f.; M. Manoilesco (FN 15), S. 85-87. 45

Positionen und Begriffe, S. 314 zu Nr. 9. Schmitt nahm es Wohlhaupter im Jahre 1939 also nicht mehr übel, daß dieser drei Jahre zuvor seine Einladung abgelehnt hatte, auf der sog. Judentagung über den jüdischen Einfluß auf die deutsche Rechtsgeschichtswissenschaft zu referieren, s. dazu wie allgemein über Wohlhaupter: Hans Hattenhauer, Rechtswissenschaft im NS-Staat - Der Fall Eugen Wohlhaupter, Heidelberg 1987, dort S. 25 zu der erwähnten Einladung.

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ungewöhnlich war, der den Untergang Preußens vorhergesagt und die deutsche Einheit zur Illusion erklärt hatte, dazu die ironische Wiedergabe der Befürchtungen Bismarcks vor katholischen Koalitionen — alles das widersprach deutlich dem Zeitgeist von 1939, also dem Jahr der Zusammenstellung von „Positionen und Begriffe" 46 . Aus diesem öffentlichen Widerspruch möchte ich folgern: Carl Schmitt war 1939 weder besonders ängstlich noch besonders vorsichtig, er war auch kein Opportunist. Wäre er es gewesen, hätte er auf den Neudruck der Donoso-Aufsätze verzichtet. Fernerhin: Sein inneres Verhältnis zur Katholizität war intakt, es war unberührt geblieben von der äußeren Trennung. Seine erste (1915 eingegangene) Ehe mit Pawla (Pauline) Dorotic hatte das Landgericht Bonn am 18. Januar 1924 wegen arglistiger Täuschung für nichtig erklärt (§ 1334 BGB). Das von ihm gleichfalls angestrengte kirchliche Verfahren auf Nichtigerklärung der Ehe scheiterte; wederdas Erzbischöfliche Offizialat von Köln (18.6.1925) noch das Bischöfliche Offizialat Münster als Berufungsinstanz (9.7.1926) konnten sich dazu entschließen, die Voraussetzungen von can. 1083, 1092, 4 CIC als erwiesen anzusehen47. Mit der zweiten staatlichen Eheschließung 1926 und bis zum Tode seiner zweiten Frau Duska im Jahre 1950 war Carl Schmitt exkommunizert.

46 Die Rezensenten haben auf den Wiederabdruck der Donoso-Aufsätze nur selten reagiert: J. v. Kempski „freute" sich, diese Arbeiten „hier wiederzufinden" (FN 44), S. 259, H. Freyer hob hervor: „Da sind z. B. die Namen, auf die er wirksam hingewiesen hat, zwei vor allem: Georges Sorel und Donoso Cortes. Heute sind beide zu allgemein bekannten Schürzungspunkten im Liniengefüge des 19. Jahrhunderts geworden; damals waren sie, wo nicht unbekannt, so jedenfalls unausgewertet und stellten förmliche Entdeckungen dar" (FN 44), S. 261. E. R. Huber meinte, Carl Schmitt habe „die katholische Restaurationsphilosophie, insbesondere Donoso Cortes ... in dieser Auseinandersetzung [mit der liberalen Demokratie] schon eher um ihrer positiven Sinngebung willen verwandt" (FN 16), S. 12. Jetzt Juan Donoso Cortes, Werke, Bd. 1, Weinheim 1989, mit der großen Einleitung des Hrsg. Günter Maschke, S. XIII-LI. 47 Freundliche Mitteilung von Herrn Kollegen Joseph H. Kaiser. Daß Schmitt die Rota Romana als letzte Instanz angerufen hat, ist zwar mehrfach mündlich bezeugt, aber aktenmäßig nicht nachgewiesen. Auf jeden Fall hat er das Verfahren nicht zu. Ende geführt, sei es, weil ihm „das Ganze zu dumm gewesen ist" (freundliche Mitteilung von Frau Anni Stand,

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Dieser Sachverhalt hat jüngst zu der Behauptung geführt, Carl Schmitts Einstellung gegenüber der katholischen Kirche habe sich durch seinen erfolglosen kirchlichen Eheprozeß „erheblich gewandelt. A u s einem erklärten gläubigen M i t g l i e d der Kirche war für viele Jahre ein K r i t i k e r u n d Skeptiker gegenüber kirchlichen A u t o r i t ä t e n geworden, der die Amtskirche als ,zölibatäre Bürokratie' bezeichnete" 4 8 . Das ist so nicht richtig. Das W o r t v o n der „zölibatären Bürokratie" — eine Wendung, die M a x Weber sicher gern erfunden haben würde — findet sich bereits 1923 i n „Römischer Katholizismus u n d politische F o r m " , es war m i t dem ganzen Text der 2. Auflage v o m bischöflichen I m p r i m a t u r a m 17.7.1925 abgesegnet w o r d e n 4 0 u n d w i r d als Sehweise den angelsächsischen Gegnern der katholischen Kirche unterstellt 5 0 . Gewiß brachte i h n das damals geltende katholische Kirchenrecht (anders seit 1983 can. 1098 C I C ) i n eine

Plettenberg), sei es, weil seine zweite Frau Duska ihn darum gebeten hat (freundliche Mitteilung von Herrn Kollegen Klaus Kröger, Gießen). Eine Rolle dürfte auch die bekannte Langsamkeit und die kirchenrechtliche Chancenlosigkeit des römischen Verlahrens gespielt haben. - Der langjährige Plettenberger Gesprächspartner Schmitts, Herr Ernst Hüsmert, Herscheid, führt die „unglaubliche Blindheit Schmitts im Falle seiner ersten Frau auf die expressionistisch-zeitgemäße Überhöhung des weiblichen Prinzips" zurück (Schreiben an den Verf. vom 4.5.1989). Von Einfluß können auch die besonderen Zeitumstände gewesen sein: Anfang 1915 Assessorexamen in Berlin, 13. Februar Eheschließung in Düsseldorf, 16. Februar 1915 Beginn des Militärdienstes in München. Im übrigen sind hohe Intelligenz im Beruf und praktische Vernunft in mulieribus nicht notwendig verschwistert. - Über Duska Schmitt, geb. Todorowic, s. die Tagebucheintragungen von Ernst Jüngers Frau Gretha v. Jeinsen bei Horst Mühleisen, in: P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana 1 (FN 19), S. 111/12; Günther Krauss, Criticön Nr. 96 (1986), S. 184. Vgl. auch Nicolaus Sombart, Jugend in Berlin 1933-1943, München 1984, S. 253/4. 48 Bernd Rüthers, Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, München 1988, S. 160, mit Einzelheiten aus zweiter Hand über Pawla Dorotic (S. 160 f.). 49 Erschienen in der Schriftenreihe „Der katholische Gedanke", Veröffentlichungen des Verbandes der Vereine Katholischer Akademiker zur Pflege der katholischen Weltanschauung, Bd. X I I I , Theatiner-Verlag München. 50 S. 6. Als dieses Wort Flügel bekommen hatte, gehörte es zu Schmitts Wortschatz, so in dem Rundfunk-Interview 1972 (s. P. Tommissen, Over en in zake Carl Schmitt [FN 19], S. 95).

3 Quaritsch

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menschlich extrem belastende und juristisch wie gesellschaftlich schwierige Situation. Als deutscher Ordinarius konnte er unmöglich weiter mit einer Frau verheiratet bleiben, die mit Wohnungseinrichtung und Bibliothek verschwunden war und dann als Hochstaplerin entlarvt wurde. Ebenso unmöglich konnte er eine andere Frau als „Lebensgefahrtin" wählen — dazu wäre keine „bürgerliche" Frau bereit gewesen, und die akademische Umwelt hätte dergleichen auch kaum sanktionslos hingenommen. Der DoroticSkandal hatte schon genug Gesprächsstoff geliefert; von der Schadenfreude seiner wissenschaftlichen Konkurrenten über den Kollegen Schmitt, der seinen Allerweltsnamen exotisch aufgeputzt hatte und auf eine Hochstaplerin hereingefallen war, konnte man noch in den 50er Jahren hören. Wollte Schmitt den Zölibat vermeiden und eine zweite Ehe eingehen, so mußte er bewußt gegen das Kirchenrecht verstoßen und künftig auf den Empfang der Sakramente verzichten. Aber Carl Schmitt war viel zu intelligent, viel zu sehr Jurist und auch viel zu katholisch, als daß ihn ein Urteil oder ein Fehlurteil kirchlicher Gerichte in eigener Sache (so es ein Fehlurteil gewesen sein sollte) hätte zum „Skeptiker" wandeln können. „Ich bin so katholisch wie der Baum grün ist", pflegte er zu sagen 51 , und in einem Brief des Jahres 1948 an einen Adressaten, der ihm gerade seine Konversion zum katholischen Glauben mitgeteilt hatte, formulierte er die konstitutionelle Differenz zwischen dem geborenen und dem konvertierten Katholiken so: „Für mich ist der katholische Glaube die Religion meiner Väter. Ich bin Katholik nicht nur dem Bekenntnis, sondern auch der geschichtlichen Herkunft, wenn ich so sagen darf, der Rasse nach 5 2 ." Diese Zeugnisse aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkriege bestätigt zunächst ein Text aus dem Jahre 1929: In dem berühmten Vortrag vor der Kant-Gesellschaft in Halle über „Staatsethik und pluralistischer Staat" verwahrte sich Carl Schmitt gegen den Sozialisten Harold Laski, der die Römische Kirche mit den Gewerkschaften über einen pluralistischen Leisten geschlagen hatte:

51 Vgl. Bernard Willms, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 167, mit dem Zusatz: „Natürlich ist auch diese Selbstauskunft zwiespältig: denn einerseits ist die starke Prägung gemeint, andererseits kann dies bei einem so hoch reflektierten Mann auch heißen: Ich bin zwar katholisch wie der Baum grün ist, aber ich denke mir darüber auch mein Teil." 52 Glossarium (FN 43), S. 131.

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„Die Römisch-Katholische Kirche ist kein pluralistisches Gebilde, und in ihrem Kampf gegen den Staat ist der Pluralismus wenigstens seit dem 16. Jahrhundert auf der Seite der nationalen Staaten. Eine pluralistische Sozialtheorie widerspricht sich selbst, wenn sie den Monismus und Universalismus der Römisch-Katholischen Kirche zum Universalismus der zweiten oder dritten Internationale säkularisiert, gegen den Staat ausspielt und dabei immer noch pluralistisch bleiben will 53 ."

Ich bin mir zwar nicht sicher, ob dieser Einwand auf Laskis Argumentationsebene lag und daher als Widerlegung überhaupt geeignet war. Daraufkommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Entscheidend ist vielmehr das Festhalten an der katholischen Grundposition 1930 und danach. Auch nach seinem Eintritt in die NSDAP. Die 3. Ausgabe des „Begriffs des Politischen" (1933) paßte er an mehreren Stellen der neuen Situation an 5 4 . Ebenfalls neu und apodiktisch stellte er fest: „E. Troeltsch (in seinen „Soziallehren der christlichen Kirchen") und der Baron Seilliere (in vielen Veröffentlichungen über Romantik) haben an dem Beispiel zahlreicher Sekten, Häretiker, Romantiker und Anarchisten gezeigt, daß die Leugnung der Erbsünde alle soziale Ordnung zerstört", und er setzt hinzu, was der neuen Weltanschauung ebenfalls ganz fremd war: „Der methodische Zusammenhang zwischen theologischen und politischen Denkvoraussetzungen ist also klar 5 5 ." Es mag dieser Ausspruch nicht spezifisch katholisch sein, als Grundannahme aller christlichen Staatslehren gehörte er zu dem, was die katholischen Autoritäten über den Menschen, die soziale Ordnung, mithin über den Staat dachten.

53 Vortrag auf der 25. Tagung der Deutschen Kant-Gesellschaft in Halle am 22. Mai 1929, Kant-Studien Bd. 35 (1930), S. 28-42; hier zit. nach dem Wiederabdruck in: Positionen und Begriffe, Nr. 16, S. 133ff., 137/38. Abgeschwächt, aber immer noch deutlich wird diese Ansicht vorgetragen im „Begriff des Politischen" in den Ausgaben 1932/1963 (S. 4 und S. 28 ff.) sowie in der Ausgabe Hamburg 1933 (S. 24/25). 54 Nachweise bei H. Meier ( F N 41), S. 15 F N 5. 55 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 3. Ausg., Hamburg 1933, S. 45. Gemeint sind Ernest Seilliere, Le mal romantique — Essai sur l'imperalisme irrationnel, Paris 1908; ders., L'imperalisme democratique — Hobbes, Rousseau, Proudhon, Paris 1917; Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912. Zur Bedeutung dieser Stelle s. Günter Maschke, Der Tod des Carl Schmitt, Wien 1987, S. 49 FN 71, und H. Meier (FN 41), S. 62.

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2. Der Etatist M i t der Erwähnung des Vortrages über „Staatsethik und pluralistischer Staat" ist die etatistische Position Carl Schmitts angesprochen. Der Etatist sieht durch die verschiedenen und wechselnden Formen der Staaten auf den gemeinsamen Kern, auf den Staat als eine souverän den inneren Frieden durchsetzende und garantierende politisch-administrative Herrschaftsordnung. Für den Etatisten ist der Staat historisch und systematisch das Primäre, die Form wie überhaupt die Verfassung des Staates das Sekundäre: Über die Verfassung des Staates kann erst entschieden und die Staatsform erst dann praktiziert werden, wenn und solange der Staat als solcher existiert. Das gilt besonders für eine so anstrengende und von so vielen zusätzlichen Bedingungen abhängende Staatsform wie die der liberalen Demokratie. Für den Etatisten ist der „Staat" (wie das Volk) nicht identisch mit seiner geschriebenen Verfassung. Scheitert eine Verfassung, endet der Staat regelmäßig nicht in Anarchie; die staatlichen Apparaturen von Verwaltung und Gerichtsbarkeit laufen weiter, angetrieben durch die Aufgaben des Tages und die Ansprüche der Bürger. Eine neue Verfassung tritt nach einiger Zeit an die Stelle der alten, wie 1918/19 im Deutschen Reich, wie 1958 beim Wechsel von der Vierten zur Fünften französischen Republik. Oder es findet eine Metamorphose auf die Rohformen des kontinentaleuropäischen Staates der Neuzeit statt. Solche Rückbildungen auf einfache Formen stellt der Etatist nach dem Scheitern der liberaldemokratischen Versuche in der Dritten Welt immer wieder fest. So unzivilisiert die Diktatur auch sein mag; dem weit- und verfassungsgeschichtlich orientierten Etatisten ist sie Resultat einer anders nicht zu bewältigenden Lage und lieber als dauernde Anarchie und Bürgerkrieg. Jenseits solcher extremen Situationen glaubt der Etatist an die Sicherung der individuellen Freiheit durch den Staat und ist sich der Bedrohung dieser Freiheit durch nichtstaatliche Gruppen gewiß. Das Herz des Staates bilden für ihn der staatliche Gesetzgeber, der den wie auch immer gearteten „ständischen" Vertragsgesetzgeber überwunden hat, die traditionelle Bürokratie und die Gerichtsbarkeit, die das Monopol der Gewaltanwendung besitzen und die staatliche Macht nach öffentlichen und anerkannten Regeln (Legalität) ausüben. Der Schematismus bürokratischer Subsumtion praktiziert Egalität, hingegen Parteien und Gruppen nach ihren besonderen Interessen 36

u n d Idealen handeln, also M o m e n t e der Ungleichheit bilden. Vorstellungen der Parteien u n d Gruppen bedürfen zur Allgemeinverbindlichkeit der Legalisierung, für deren Durchsetzung dann allein Verwaltung u n d Gerichte zuständig sind. N a t ü r l i c h weiß der Etatist, daß Legalität Unrecht nicht verhindern kann, aber er weiß auch, daß die w i r k l i c h großen Verbrechen stets außerhalb der Staatsbürokratie geschehen. I m Einparteienstaat steht der Etatist a u f der Seite des Staates, also auf verlorenem Posten. D i e Partei sieht sich als legitimer Vollstrecker des Volkswillens u n d der öffentlich allein anerkannten Interessen, ihre Berufung a u f die führende Rolle der „Arbeiterklasse" oder der „Bewegung" führt logischerweise zu dem Grundsatz „ D i e Partei befiehlt dem Staat". Der Staat denaturiert z u m Werkzeug u n d A p p a r a t der Partei, er ist nicht mehr allein H ü t e r des Allgemeinen, sondern zugleich u n d zunehmend nur noch Instrument des parteilich Besonderen 5 6 . 56

Die offenen und versteckten Kollisionen zwischen Partei und Staat waren bekanntlich vom ersten bis zum letzten Tage des Dritten Reiches ein Dauerthema, s. nur Peter Diehl-Thiele, Partei und Staat im Dritten Reich, München 1969; Karl Teppe, Der Staat 15 (1976), S. 367ff; RolfGrawert, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Hdb. StR Bd. 1, Heidelberg 1987, S. 150ff.; die Beiträge zur Verwaltung im Dritten Reich, in: Jeserich/Pohl/v. Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 4, Stuttgart 1984, S. 653-1168 passim; jetzt vor allem die grundlegende Arbeit von Dieter Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1989. In den kommunistischen Staaten war dieser Gegensatz kaum spürbar, weil zu Beginn der kommunistischen Herrschaft die alten Verwaltungs- und Gerichtsstrukturen zerschlagen und das Personal gänzlich ausgewechselt wurden. - In der Emigration wurden die Vorgänge fur 1935 noch anders gesehen: „Tatsächlich hat sich die Bürokratie im Dritten Reich schon heute eine ähnliche Sonderstellung wie die Reichswehr erobert. Wie die Reichswehr der einzige Waffenträger der Nation ist, so ist sie der alleinige Träger der Verwaltungsfunktion des Staates. Wie der Angriff der SA auf das Waffenmonopol der Wehrmacht, so ist der Angriff der Partei auf das Verwaltungsmonopol der Bürokratie im Grunde schon abgeschlagen ... Die Deutsche Gemeindeordnung ist von Hitler und Frick unterzeichnet, aber in ihrem entscheidenden Inhalt stammt sie von Popitz und Carl Schmitt" („Deutschland-Berichte" der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands [Sopade], Januar 1935, B 27, Reprint 6. Aufl., Frankfurt/M. 1982, S. 133). Die Bezugnahme auf Popitz und Schmitt war unrichtig. An der DGO 1935 hat Schmitt überhaupt nicht mitgearbeitet, Popitz ließ sich nur durch einen Mittelsmann unterrichten (freundliche Mitteilung von Herrn Dr. habil. Kurt G. A. Jeserich, Bergisch Gladbach). 37

Etatist war Carl Schmitt bereits in der 1914 erschienenen Monographie über den „Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen", mit der er seine antiindividualistische Rechts- und Staatstheorie formulierte 57 (nach seiner strafrechtlichen Dissertation über „Schuld und Schuldarten", 1910, „Gesetz und Urteil", 1912, also das dritte Buch, das der Referendar Schmitt veröffentlichte). Der Vortrag „Staatsethik und pluralistischer Staat" von 1929 führte die englischen Pluralisten in Deutschland ein, seine Auseinandersetzung mit Cole und Laski markierte seine prinzipielle, nämlich etatistische „Position", an die er 1940 in „Positionen und Begriffe" erinnerte. Der Vortrag gehört zum Besten, was Carl Schmitt jemals publizierte, er macht auch klar, weshalb Katholizismus und Etatismus für ihn keine Gegensätze bildeten. Als Katholik und Vertreter der ecclesia triumphans konnte er 1923 von seiner Kirche selbstsicher die berühmten vier Wörter sagen: „Sie ist die Erbin", der vergänglichen Staatsformen nämlich und der sterblichen Leviathane überhaupt 58 . Als Staatsrechtslehrer aber stand er auf der Seite des „konkreten" Staates. Er wußte schon 1914 um die nur vom Staat zu erbringende „unerhörte Leistung, ein Meer zügellosen und bornierten Egoismus und rohester Instinkte wenigstens äußerlich eingedämmt und unschädlich gemacht und selbst den einflußreichen Bösewicht wenigstens zur Heuchelei gezwungen zu haben" 5 9 . Hinter diesem pessimistischen Menschenbild steht das Dogma von der Erbsünde. Die Erbsünde aber ist nun einmal der Dreh- und Angelpunkt des anthropologischen Glaubensbekenntnisses von Carl Schmitt 60 , es fließt unmittelbar und kaum verhüllt in seine Staatstheorie ein. Hier und jetzt ist 57 s. Hasso Hof mann, Legitimität gegen Legalität, 1964, 2. Aufl., Berlin 1992, S. 41 ff., bes. 51 ff.; H. Rumpf ( FN 28), S. 13ff.; Michele Nicoletti, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 114ff. Ein zeitgenössischer Rezensent nannte das Buch in einer relativ ausführlichen Besprechung „eine bedeutsame und edle Erneuerung Fichteschen Geistes" (Carl Brinkmann, Deutsche Literaturzeitung 1915, Nr. 10, Sp. 521-523 [522]). 1916 akzeptierte die Straßburger Fakultät eine gekürzte Fassung als Habilitationsschrift Schmitts (freundliche Mitteilung von Herrn Kollegen Piet Tommissen). 58

Römischer Katholizismus und politische Form (FN 49), S. 52. Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, Tübingen 1914, S. 84. 60 s. die Formulierung von H. Meier (FN 41), S. 66; Alexander Demandt, Der Staat Bd. 27 (1988), S. 23 ff., 29; auch G. Maschke (FN 55), S. 49, unter 59

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„die politische Einheit ... höchste Einheit, nicht, weil sie allmächtig diktiert oder alle anderen Einheiten nivelliert, sondern weil sie entscheidet und innerhalb ihrer selbst alle anderen gegensätzlichen Gruppierungen daran hindern kann, sich bis zur extremen Feindschaft (d. h. bis zum Bürgerkrieg) zu dissoziieren. Da wo sie ist, können die sozialen Konflikte der Individuen und sozialen Gruppen entschieden werden, so daß eine Ordnung, d. h. eine normale Situation besteht61."

In diesen beiden Sätzen sind Eigenart und Aufgabe des souveränen Staates in der Schmittschen Theorie beschrieben. Carl Schmitt hat die Unterdrückung des Bürgerkrieges als Aufgabe und Leistung des Staates immer wieder hervorgehoben. Das war keine persönliche Marotte und nicht der Schreckputz eines bürgerlichen Staatstheoretikers. Er war Zeitgenosse der deutschen Bürgerkriege 1919-1923 gewesen und in München Augenzeuge von Aufstieg und Fall der Räterepublik. „ A m Morgen", so wird berichtet, „war er wie üblich zur Arbeit [im Bayerischen Kriegsministerium] erschienen, etwas später wurden Schmitt und seine Kollegen von Revolutionären unterbrochen, und einer von diesen erschoß einen Offizier neben Schmitts Schreibtisch" 62 . — „So etwas", hätten unsere Klassiker gesagt, „so etwas vergißt sich nicht." Vielleicht gab es in Europa Jahre und Jahrzehnte, in denen der innere Frieden unwiderruflich eingekehrt, Bürgerkriegslagen ebenso unwiderruflich vergangen erschienen. Das hat sich seit dem Ende der 60er Jahre geändert. Seither können organisierte Gruppen nicht nur in Südeuropa hohe Politiker, Staats- und Wirtschaftsfunktionäre in Gefangenschaft abführen oder auf offener Straße erschießen. Das Fahren in gepanzerten Limousinen gehört zum normalen Alltag unserer Führungsschicht. Internationale Konferenzen müssen unter dem Schutz von Polizeiregimentern stattfinden. In aller Welt werden Flugpassagiere visitiert wie unrasierte Subjekte, die eine Razzia in schlecht beleuchteten Etablissements antrifft. Krieg und Frieden sind nicht mehr grundverschiedene Aggregatzustände sozialen und staatlichen Seins; sie sind ersetzt durch „Krieg im Frieden", durch das Wechselspiel von Bombenattentat und,policebombing4 — Carl Schmitt nannte das „Weltbürgerkrieg". Sein Hinweis auf Wilhelm Stapel, Der christliche Staatsmann, Hamburg 1932, S. 169ff. (Sündenfall als Ursprung des Freund/Feind-Kriteriums). 61 Staatsethik und pluralistischer Staat ( F N 53) = Positionen und Begriffe, Nr. 16, S. 141. 62 E. Kennedy (FN 43), S. 151.

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Insistieren auf der Verhinderung des Bürgerkriegs als primäre Staatsaufgabe k a n n nicht mehr als bloß individuelles Trauma eines ängstlichen L a w and Order-Juristen belächelt u n d abgebucht werden. Südlich des R i o Grande wie i n vielen fragilen Staatswesen Afrikas u n d Asiens steht der Bürgerkrieg ohnehin latent a u f der politischen Tagesordnung — wie i m Deutschen Reich 1932. A u s den i m Herbst u n d W i n t e r 1932/33 gehaltenen Vorträgen entstand der Aufsatz über die „Weiterentwicklung des totalen Staats i n D e u t s c h l a n d " 6 3 . E i n Jahr zuvor hatte Carl Schmitt den „totalen Staat" definiert als die „Selbstorganisation der Gesellschaft", unterschieden v o m „liberalen, nichtinterventionistischen Staat" der Vergangenheit 6 4 . Die „Weiterentwicklung" dieses i n alle wirtschaftlichen, kulturellen etc. Bereiche expandierenden u n d intervenierenden Staates sah er „ f ü r die Zustände des heutigen Deutschlands" i n der Unfähigkeit des Staates, N e i n zu den Interventionsansprüchen der Parteien u n d pluralistischen Gruppen zu sagen: „Der heutige deutsche Staat ist total aus Schwäche und Widerstandslosigkeit, aus der Unfähigkeit heraus, dem Ansturm der Parteien und der organisierten Interessen standzuhalten. Er muß jedem nachgeben, jeden zufriedenstellen, jeden subventionieren und den widersprechendsten Interessen gleichzeitig zu Gefallen sein. Seine Expansion ist die Folge, wie gesagt, nicht seiner Stärke, sondern seiner Schwäche"65. Der „totale Staat" aus Stärke hingegen „läßt in seinem Innern keinerlei staatsfeindliche, staatshemmende oder staatsspaltende Kräfte aufkommen. Er denkt nicht daran, die neuen 63

Veröffentlicht Anfang Februar 1933 in der „Europäischen Revue" = Positionen und Begriffe, Nr. 21, S. 185 ff. = Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954 (1958,2. unveränd. Aufl., Berlin 1985), S. 359ff. 64 „Die Wendung zum totalen Staat", veröffentl. im Dezember 1931 ebenfalls in der „Europäischen Revue", zugleich S. 73-91 des 1931 erschienenen Buches „Der Hüter der Verfassung" (3. unveränd. Aufl., Berlin 1985) = Positionen und Begriffe, Nr. 17, S. 146ff. Zu dem häufig mißverstandenen Begriff des „totalen" Staates ist auf die förderlichen Bemerkungen von G. Maschke (FN 8), S. 227-242 hinzuweisen. 65 Positionen und Begriffe, Nr. 21, S. 187. 35 Jahre später hat Rüdiger Altmann diesen Sachverhalt in ein einprägsames Bild gefaßt: „Aber dieser entkernte Staat überlagert mit seinem Apparat immer weitere Bereiche der Gesellschaft. Er gleicht einem kastrierten Kater, der an Umfang zunimmt — was ihm fehlt, ist die Potenz" (Späte Nachricht vom Staat, Stuttgart 1968, S. 49). 40

Machtmittel seinen eigenen Feinden und Zerstörern zu überliefern und seine Macht unter irgendwelchen Stichworten, Liberalismus, Rechtsstaat oder wie man es nennen will, untergraben zu lassen. Ein solcher Staat kann Freund und Feind unterscheiden"66. Gefährdet sah Carl Schmitt den Staat v o r allem durch die Steigerung der technischen M i t t e l der Massenbeeinflussung. „Auf die neuen technischen Mittel, Film und Rundfunk, ... muß jeder Staat selbst die Hand legen. Es gibt keinen noch so liberalen Staat, der über das Film- und Lichtspielwesen und den Rundfunk nicht mindestens eine intensive Zensur und Kontrolle für sich in Anspruch nimmt. Kein Staat kann es sich leisten, diese neuen technischen Mittel der Nachrichtenübermittlung, Massenbeeinflussung, Massensuggestion und Bildung einer ,öffentlichen*, genauer: kollektiven Meinung einem anderen zu überlassen"67. Gerade diese Darlegungen haben kürzlich besonders empört u n d zu der Feststellung veranlaßt, C a r l Schmitt habe die „ A l l m a c h t der neuen Machthaber [von 1933] ... sehend, j a sehnend herbeigeschrieben" 6 8 . Es war gewiß kein begrifflicher Volltreffer, den pluralistisch geschwächten wie den autoritär „ s t a r k e n " Staat m i t demselben Etikett zu versehen. D i e semantische Verwandtschaft m i t Ernst Jüngers „ t o t a l e r M o b i l m a c h u n g " suggerierte demjenigen, der die erklärenden Aufsätze Schmitts nicht kannte, einen Staat, der alle Kräfte der N a t i o n i n Dienst n i m m t . Insofern ist Carl Schmitt an Mißverständnissen nicht unschuldig. Die Leser der „Europäischen Revue" hingegen, i n der dieser Aufsatz nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler a m 30.1.1933 erschien, werden diesen Text keineswegs als Forderung u n d Bestätigung der nach dem Reichstagsbrand ergriffenen staatlichen Maßnahmen 66

Positionen und Begriffe, Nr. 21, S. 186. Positionen und Begriffe, Nr. 21, S. 186. 68 B. Rüthers (FN 48), S. 169. Rüthers übersieht Art. 118 Abs. 2 Satz 1 RV (Erlaubnis der Lichtspiel-Vorzensur) und das Faktum, daß gerade die Herzensrepublikaner des Reichsinnenministeriums 1923 ff. versucht hatten, den Rundfunk „zum Zweck der politischen Propaganda" für den Weimarer Verfassungsstaat zu instrumentalisieren; s. Hans Bausch, Der Rundfunk im politischen Kräftespiel der Republik, Tübingen 1956, S. 17ff., unter Darstellung der „politischen" und „unpolitischen" Rundfunk-Konzeptionen mit Hinweis S. 22 FN 14 auf Carl Schmitts einschlägige Stellungnahme zur besonderen Intensität des Politischen, wenn das „Unpolitische" der eigenen Haltung betont wird („Begriff des Politischen", Ausg. 1932, S. 8 F N 2 = Ausg. 1963, S. 21 FN 2). 67

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verstanden haben. Die von Carl Schmitt apostrophierte „Parteiagitation" und die „propagandistische Massenbearbeitung" zielten natürlich nicht auf die vergleichsweise altmodische Wahlwerbung derjenigen Parteien, die den Weimarer Verfassungsstaat stützten. Diese Darlegungen richteten sich gegen die NSDAP, deren Propagandafeldzüge 1932 anläßlich der Wahl des Reichspräsidenten und der Reichstagswahlen nach Quantität und Qualität alles bisher in Deutschland Dagewesene in den Schatten stellten. „Ihr Witz und ihr Einfallsreichtum, der erstmals auch die modernen technischen Medien einsetzte, erwies sich erneut allen Konkurrenten hochüberlegen 69 ." Die Nationalsozialisten waren die ersten, die Tonfilme anfertigten und den Kinobesitzern für das Vorprogramm aufnötigten 7 0 . In dem bis dahin „unpolitischen", jedenfalls nur den Vertretern der Regierung offenstehenden Rundfunk waren erstmals führende Nationalsozialisten zu hören, nämlich am 14. Juni 1932 Gregor Strasser, am 18. Juli 1932 Joseph Goebbels 71 . Den Lesern der „Europäischen Revue" waren diese Sachverhalte aus dem Miterleben zu bekannt, als daß sie darauf noch besonders hingewiesen werden mußten. Diese Ereignisse und Daten und Schmitts Forderung, der Staat möge Tonfilme und Rundfunk kontrollieren, sind keine nachträglich verknüpften Zufalle. Seit 1931 war Carl Schmitts Argumentationsrichtung überdeutlich. In „Legalität und Legitimität", erschienen im August 1932, setzte er sich mit der Rechtmäßigkeit der gegen die NS-Organisationen und ihre Anhänger getroffenen Maßnahmen auseinander. Er repetierte seine einschlägigen Ausführungen im „Hüter der Verfassung" (1931): Verfassungswidrig seien sie nur, wenn man den ersten („politischen") Teil der Weimarer Reichsverfassung, also die Bestimmungen über die Staatsform und die Staatsorgane, im Sinne der Wertneutralität eines funktionalistischen Legalitätssystems mißverstehe 72. Kluge 69

Joachim Fest, Hitler, Frankfurt/M. 1973, S. 442. J. Fest, ebenda, S. 442. 71 Vgl. H. Bausch (FN 68), S. 125 ff., 133; Ansgar Diller, Rundfunkpolitik im Dritten Reich, München 1980, S. 24, 48 ff., beide unter Hinweis auf die von einem Rundfunkmann vorgenommene Vorzensur der GoebbelsRede und den bis zum 1.2.1933 währenden Ausschluß Hitlers vom Rundfunk. 72 Der Hüter der Verfassung, 1931 (FN 64), S. 113; Legalität und Legitimität, 1932 (5. unveränd. Aufl., Berlin 1991), S. 50-52. — Vier 70

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Zeitgenossen erkannten sofort, daß „ L e g a l i t ä t u n d L e g i t i m i t ä t " gegen die Nationalsozialisten geschrieben war u n d v o n den Weimarer Verfassungsentscheidungen retten sollte, was noch zu retten war. E i n zentrales Stück des Buches wurde i m „Deutschen V o l k s t u m " 7 3 u n d a m 19. Juli 1932 i n der „Täglichen Rundschau" vorveröffentlicht. Die R e d a k t i o n dieser dem Reichswehrminister Schleicher nahestehenden Tageszeitung hängte dem Text eine „ N u t z a n w e n d u n g " an, der C a r l Schmitt nie widersprochen hat. „Wer den Nationalsozialisten am 31. Juli die Mehrheit verschafft, obwohl er nicht Nationalsozialist ist und in dieser Partei nur das kleinere Übel sieht, der handelt t ör i c h t . Er gibt dieser weltanschaulich und politisch noch gar nicht reifen Bewegung die Möglichkeit, die Verfassung zu ändern, das Staatskirchentum einzuführen, die Gewerkschaften aufzulösen usw. Er liefert Deutschland dieser Gruppe völlig aus. Deshalb: es war bisher unter Umständen gut, die Widerstandsbewegung Hitlers zu fördern, am 31. Juli ist es überaus gefahrlich, weil die 51 Prozent der NSDAP eine »politische Prämie4 von unabsehbarer Tragweite geben." Diese Interpretation beruhte nicht auf einem journalistischen Mißverständnis. So schrieb a m 6. September 1932 der damalige Leiter des Presseamts der Reichsregierung i m Auswärtigen A m t Erich Mareks (Sohn des bekannten Historikers) an Carl Schmitt: „ . . . nachdem wir bereits 14 Tage uns bemühen, Ihre „Legalität und Legitimität" in kleiner Münze unter das Volk zu bringen, möchte ich Ihnen nun auch persönlich meinen herzlichen Dank dafür sagen, dass Sie dieses Buch erstens geschrieben und zweitens mir geschickt haben. In der Jahre später warfen ihm die Nationalsozialisten vor: „Erst er, Carl Schmitt, ebnete auf seiner ,neuen' Lehre der Regierung Brüning den Weg zu ihren Gewaltmassnahmen" (Mitteilungen zur weltanschaulichen Lage vom 8.1.1937 [FN 12], S. 3, unter Hinweis auf seine Lehre über die Begrenzung der Verfassungsänderungen und mit ausführlichem Zitat aus „Legalität und Legitimität", S. 50-51). Auch die SS versäumte nicht festzustellen, Schmitt habe mit „Legalität und Legitimität" eine „geradezu entscheidende Handhabe zur Verewigung der autoritären Regierung und zur Verhinderung der legalen Machtübernahme durch den Nationalsozialismus" gegeben (SD-Akte [FN 8], S. 195 mit vielen Wortzitaten). Auf Schmitts rückblickende Kommentierung von „Legalität und Legitimität" sei, weil oft übersehen, nachdrücklich hingewiesen (Verfassungsrechtliche Aufsätze [FN63], S. 345-350). 73

„Legalität und gleiche Chance politischer Machtgewinnung", 15. Jg. 1932, S. 557-564. 43

strengen Wissenschaftlichkeit seines Aufbaus und seiner Deduktion und in dem Reichtum seines Inhalts ist es für uns ein vorzügliches Arsenal im Kampf um die Zukunft. Ich weiß, dass man bei einer Popularisierung zu politischen Zwecken Ihren Gedanken eigentlich nicht gerecht wird, aber ich hoffe, dass Ihnen diese politische Benutzung nicht zu unsympathisch sein wird Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir uns gelegentlich einmal sprechen könnten. Wären Sie bereit, in der zweiten Hälfte dieser Woche mit mir zu frühstücken? Ich werde mir gestatten, Sie deshalb in den nächsten Tagen anzurufen .. ," 7 4 . N i c h t minder deutlich die briefliche Reaktion v o n Franz L. Neumann, damals A n w a l t der Bauarbeitergewerkschaft u n d zuletzt, d. h. vor seiner E m i g r a t i o n 1933, Rechtsberater des SPDVorstandes: „Meinen aufrichtigsten Dank für die freundliche Uebersendung Ihres neuesten Buches »Legalität und Legitimität4, das ich mit größter Spannung bereits zweimal gelesen habe. Ich stimme in den kritischen Teilen des Buches restlos mit Ihnen überein. Auch ich stehe auf dem Standpunkt, daß die parlamentarische Demokratie nur so lange funktionieren kann, wie die Durchführung des Prinzips der gleichen Chance möglich ist. Stellt sich heraus, daß dieser Grundsatz zur Gewinnung innerpolitischer Macht versagt, dann muß notwendig auch der parlamentarische Gesetzgebungsstaat handlungsunfähig werden. Ich werde es für die nächste Zeit als meine Aufgabe betrachten, diese Ihre Meinung auch ökonomisch und soziologisch zu fundieren ..." 7 5 . Z u r gleichen Zeit beriet Schmitt das Reichswehrministerium, das den „Staatsnotstand" durchspielte, m i t dem ein destruktives M i ß trauensvotum (gegen A r t . 54 Satz 2 R V ) ignoriert, das Parlament aufgelöst, die nach A r t . 25 Abs. 2 R V notwendigen Neuwahlen innerhalb v o n 60 Tagen aber ausgesetzt bzw. aufgeschoben werden sollten, weil eine parlamentarische Mehrheit für den Weimarer Verfassungsstaat nicht mehr zu erwarten w a r 7 6 . Schmitts Etatis74 Abgedruckt auch von Piet Tommissen, in: Liber memorialis. Economische Hogeschool Limburg 1979, S. 183/84 (zu Mareks s. auch hinten F N 206). 75 Der Brief ist vollständig (nicht ganz korrekt) wiedergegeben in: Rainer Erd (Hrsg.), Reform und Resignation — Gespräche über Franz Neumann, Frankfurt/M. 1985, S. 79 f. George Schwab hat sich ebenda S. 50ff. über das persönliche und wissenschaftliche Verhältnis Neumanns zu Schmitt näher geäußert. 76

Zu den Staatsnotstandsplänen s. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 7, Stuttgart 1984, S. 1076ff., 1154ff., 44

mus, seine Forderung nach einem „starken Staat", der Freund und Feind zu unterscheiden vermag, war in der Situation des Jahres 1932 eine Entscheidung für den in Weimar verfaßten Staat. Suspendiert werden sollten jene einzelnen Elemente der Verfassung, deren buchstabengetreue, aber sinnwidrige Anwendung zum Untergang des Ganzen führen mußten (und geführt haben). Schmitts Vorträge im Winter 1932/33 wie die Veröffentlichung in der „Europäischen Revue" bereiteten die gegen Hitler gerichteten Staatsnotstandspläne des Reichswehrministeriums publizistisch vor und sollten ihre juristischen Flanken schützen. Die geplante Aussetzung der Reichstagswahlen stand hinter Schmitts scharfer Kritik an Parteien, Parlament und Wahlen, sie paßte exakt auf die innenpolitische Lage des Jahres 1932. In der Wählerschaft gab es keinen „Grundkonsens" über die Modalitäten des politischen Zusammenlebens. Seit der Reichstagswahl am 31. Juli 1932 wurde die absolute Parlamentsmehrheit von undemokratischen Parteien gebildet, die sich als Bürgerkriegsparteien mit Bürgerkriegsarmeen gegenüberstanden und sich nur über die Ablehnung des Weimarer „Systems" und der sie noch halbwegs mittragenden, in die Minderheit geratenen bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie einig waren: „Zwischen fünf organisierten Systemen, von denen jedes in sich total ist und jedes, konsequent zu Ende gedacht, das andere aufhebt und vernichtet, also z. B. zwischen Atheismus oder Christentum, gleichzeitig zwischen Sozialismus oder Kapitalismus, gleichzeitig etwa zwischen Monarchie oder Republik, zwischen Moskau, Rom, Wittenberg, Genf und Braunem Haus und ähnlichen inkompatiblen Freund-Feind-Alternativen, hinter denen feste Organisationen stehen, soll ein Volk mehrmals im Jahr optieren! Wer sich klar macht, was das bedeutet, wird nicht mehr erwarten, daß aus einer solchen Prozedur eine handlungs- und aktionsfahige, auch nur lose zusammenhaltende, für eine politische Willensbildung geeignete Mehrheit hervorgehen könnte" 77 .

1227ff; ders., in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 39ff. (zu Schmitts Beteiligung). Über seine eigenen Mitwirkungen hat Schmitt bei der Erörterung dieser Pläne noch 1972 geschwiegen (s. P. Tommissen, Over en in zake Carl Schmitt [FN 19], S. 99ff). Zu der bekannten Vortragsnotiz v. 26.1.1933 {Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 3, Stuttgart 1966, S. 587 f.) s. jetzt Helga Worm, Der Staat Bd. 27 (1988), S. 75ff. 77

Positionen und Begriffe, Nr. 21, S. 189.

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Diese Charakterisierung der Wahlen ist i n heutiger Sicht eine Klage über den fehlenden Grundkonsens und die parlamentarische Folge: „Auf dem demokratischen System der Weimarer Verfassung lastet ein solches Parlament mit seiner gleichzeitig machtunfähigen und machtzerstörenden Negativität wie ein körperlich und geistig kranker Monarch auf den Einrichtungen und dem Bestand einer Monarchie. Der heutige Deutsche Reichstag ist kein Reichstag im Sinne der Weimarer Verfassung ... Auch das Mißtrauensvotum ist kein Mißtrauensvotum im Sinne eines parlamentarischen Regierungssystems, denn ihm entspricht heute weder die Fähigkeit noch die Bereitschaft, eine handlungsfähige und verantwortungsbewußte Regierung zu bilden" 78 . Heute ist die Einsicht unbestritten, daß ein demokratischer u n d freiheitlicher Verfassungsstaat nur lebensfähig ist, freie Wahlen nur sinnvoll sind, wenn die Wählermehrheit solche Parteien favorisiert, die sich nach A b l a u f ihrer Regierungszeit erneut der freien Parteienkonkurrenz u n d freien Wahlen stellen. Diese Voraussetzung t r a f 1932 weder für die äußerste Rechte noch für die äußerste L i n k e zu: Seit dem 31. Juli besaßen N S D A P (230) u n d K P D (89) zusammen 319 v o n 608 Sitzen i m Reichstag. Bei der W a h l a m 6. November 1932 hatte die N S D A P zwar 34 Sitze eingebüßt, die K P D aber elf Sitze hinzugewonnen, beide zusammen hielten immer noch die Reichstags-Mehrheit (296 Mandate v o n 584 insgesamt); i m Berliner Verkehrsstreik A n f a n g November 1932 hatten Linksu n d Rechtsextremisten W i l l e n u n d Fähigkeit zur Zusammenarbeit bewiesen 7 9 . 78

Positionen und Begriffe, Nr. 21, S. 189/90. Schmitt spielt hier an auf das Mißtrauensvotum am 12.9.1932, s. zum Vorgang selbst E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (FN 76), Bd. 7, S. 1092 ff. — Den parlamentarischen Defekt des destruktiven Mißtrauensvotums hat Carl Schmitt als erster entdeckt und zu bekämpfen versucht (Verfassungslehre, München 1928, 8. Aufl., Berlin 1993, S. 345), aber vergeblich: „Der Ansicht C. Schmitts, wonach ein Mißtrauensbeschluß unwirksam sein soll, wenn die Motive der für ihn stimmenden Fraktionen ,sich offen widersprechen'... ist de lege ferenda vollauf zuzustimmen; daß sie bereits lex lata, m. a. W. aus Art. 54 als dessen Sinn herauszulesen sei, kann ich mit Thoma ... nicht zugeben" (Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl., Berlin 1933, Erl. 6, S. 322). — Das Bonner Grundgesetz hat den Vorschlag Schmitts aus dem Jahre 1928 praktikabel gemacht durch die notwendige Verbindung von Mißtrauensvotum und Kanzlerneuwahl (Art. 68). 46

Carl Schmitt kann seine antipluralistische Demokratietheorie und die Grundlagenkritik am Parlamentarismus vorgeworfen werden; ihm ist nicht zuzurechnen, daß sich die führende Schicht Weimars niemals zu einem durchgreifenden und wirksamen Schutz des Verfassungsstaates gegen seine Feinde verstand und auch die letzten Chancen des „Staatsnotstandes", weil zu riskant oder „rechtswidrig", nicht wahrnehmen mochte. Der Jurist Schmitt hatte seit 1928 zur Verteidigung der Weimarer Verfassung eine (richtige) Theorie über die Grenzen der Verfassungsänderung vorgetragen, zur Verteidigung der Regierung und eines funktionsfähigen Parlaments eine plausible Theorie über Mißtrauensvoten entwickelt. Der politische Denker Schmitt hatte mit seiner FreundFeind-Unterscheidung klargemacht, daß auch innerhalb eines Staates Feindschaften entstehen und in Gewalt und Bürgerkrieg münden können. Die juristischen Instrumente hatte Weimars staatsrechtliche Prominenz verschmäht, sein politischer Realismus war als unchristliche Radauphilosophie abgetan worden. Von Carl Schmitt war jedenfalls nicht zu lernen, daß eine demokratische Regierung den Verfassungsstaat nur durch Reden, Leitartikel und die Hoffnung auf den richtig ausgefüllten Stimmzettel schützen dürfe und seine Todfeinde („dann werden Köpfe rollen") als Politclowns oder unartige Kinder behandeln müsse. Noch in letzter Stunde der Weimarer Republik diffamierte der Vorsitzende der Zentrumsfraktion des Reichstages, Prälat Ludwig Kaas (1881-1952), Carl Schmitts Interpretationen des Verfassungsgesetzes, die den Zugriff parlamentarischer Mehrheiten auf die verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen, also die „Verfassung", abwehren sollten 80 . Kaas4 Brief vom 26. Januar 1933 an den 79

s. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (FN 76), Bd. 7, S. 1138f. 80 Carl Schmitt definierte die Verfassung „im positiven Sinne" ( = positiver Verfassungsbegriff) als „Gesamt-Entscheidung über Art und Form der politischen Einheit eines Volkes", die als Akt der verfassunggebenden Gewalt dem Verfassungsgesetz vorausliege, infolgedessen nicht durch das Parlament als Verfassungsgesetzgeber mit Zweidrittelmehrheit geändert oder beseitigt werden könne. Zur Weimarer „Verfassung" in diesem Sinne rechnete er: die Entscheidung für die Demokratie, die Entscheidung für die Republik (und gegen die Monarchie), die Entscheidung für die bundesstaatliche Struktur des Reiches, die Entscheidung für eine grundsätzlich parlamentarisch-repräsentative Form der Gesetzgebung und Regierung sowie die Entscheidung für den bürgerlichen Rechtsstaat

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Reichskanzler Schleicher, veröffentlicht a m 29. Januar 1933 i n den Zentrums-Zeitungen „ G e r m a n i a " u n d „ K ö l n i s c h e Volkszeitung", offenbart i n selten deutlicher Weise die Unfähigkeit der Politiker Weimars zu erkennen, was die Glocke geschlagen hatte u n d die Stunde gebot: „Aufgrund einer Andeutung Ihrerseits gelegentlich unserer letzten Besprechung [am 16. Januar 1933] habe ich die von verschiedenen Seiten ins Feld geführten juristischen Konstruktionen zugunsten einer sog. notstandsrechtlichen Verschiebung des Wahltermins einer eingehenden Prüfung unterworfen und möchte nicht verfehlen, Ihnen von dem Ergebnis dieser Prüfung in aller Offenheit Kenntnis zu geben. So wie ich damals schon mit Nachdruck mich gegen die das gesamte Staatsrecht relativierenden Grundtendenzen von Carl Schmitt und seinen Gefolgsmännern aussprach, so kann ich auch in diesem besonderen Falle nur eindringlichst vor dem Beschreiten des Weges warnen, dessen Rechtfertigung juristisch unmöglich ist. Die Hinausdatierung der Wahl wäre ein nicht zu leugnender Verfassungsbruch, mit all den Konsequenzen rechtlicher und politischer Natur, die sich daraus ergeben müßten. Wer die Geschichte der innenpolitischen Entwicklung seit dem Sturz des Kabinetts Brüning rückschauend prüft und sachlich wertet, wird zu dem Ergebnis kommen müssen, daß von einem echten Staatsnotstand gar nicht geredet werden kann, sondern höchstens von dem Notstand eines Regierungssystems, das durch die Begehung eigener und durch die Duldung oder gar Ermunterung fremder Fehler in die heutige schwierige Lage in steigendem Tempo hineingeglitten ist. Aus diesem Engpaß führt nicht der Verfassungsbruch hinaus, sondern nur die ernsthafte und planvolle Rückkehr zu Methoden, welche die in der Verfassung ruhenden Möglichkeiten zur Herbeiführung tragfahiger Regierungskombinationen zu sinngemäßer Auswirkung bringen .. ." 8 1 O b sich Schleicher i n der Unterredung a m 16. Januar auf Schmitt bezogen hatte oder Kaas die öffentlichen Vorträge Schmitts i m W i n t e r 1932/33 genügten, ist w o h l nicht mehr feststellbar. Jedenfalls: Kaas lehnte nunmehr das Präsidialregime m i t einem toleriermit seinen Prinzipien: Grundrechte und Gewaltenunterscheidung (Verfassungslehre [FN 78], S. 20 ff, 23/24). 1949 ist das Ziel dieser Theorie durch Art. 79 Abs. 3 GG positives Verfassungsgesetz geworden, so daß in der Buhdesrepublik zwischen Verfassung und Verfassungsgesetz nicht mehr unterschieden werden muß. 81 Vollständig wiedergegeben von Rudolf Morsey, in: Erich Matthias/Rudolf Morsey (Hrsg.), Das Ende der Parteien 1933, Düsseldorf 1960, S. 428 f.

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ten Minderheitskanzler ab und forderte die „Rückkehr... zu den in der Verfassung ruhenden Möglichkeiten ... zur Herbeiführung tragfahiger Regierungskombinationen". Das konnte in diesem Zeitpunkt und bei den Mehrheitsverhältnissen im Reichstag nur auf die Beauftragung Hitlers mit der Regierungsbildung hinauslaufen 82 . Die „legale" Regierungsübernahme Hitlers nahm Kaas in Kauf, um die Verletzung des Art. 25 Abs. 2 RV zu vermeiden 83 . Auch wenn man Kaas zugute halten muß, daß jenseits seines Horizonts lag, was Hitler aus dieser Chance machen würde: Kaas argumentierte buchstabengläubig wie ein Inspektor im Grundbuchamt, der zwischen erstrangigen und zweitrangigen Gründen nicht unterscheidet. Aber er tönte wie ein Politiker: „... die das gesamte Staatsrecht relativierenden Grundtendenzen von Carl Schmitt und seinen Gefolgsmännern" — Carl Schmitt also war der Verfassungsfeind, natürlich, hatte er doch das Recht der Reichstagsfraktionen auf jederzeitiges, mit jedem Motiv und jedem Bundesgenossen ausübbares Mißtrauensvotum „relativiert", hatte er vor allem die Kompetenz des Reichstages auf unbegrenzte Verfassungsänderung beschränkt, also „relativiert", nun wollte er auch noch die in Art. 25 Abs. 2 RV festgelegte Frist für Reichstagswahlen „relativieren". Das war zuviel für den Vorsitzenden der Reichstags-Fraktion einer verfassungstreuen Partei, er mußte diesen Schmitt öffentlich demaskieren als einen „Relativisten", ein Begriff, der den frommen Lesern der „Germania" gewiß eine Gänsehaut bescherte. Kaas sprach auch mit der Autorität eines geistlichen Herrn und dem fachlichen Ansehen eines Professors für Kirchenrecht (seit 1921) — mußte er es nicht wissen? Die Bedeutung der Veröffentlichung dieses Briefes — publizistische Vorbereitung und Unterstützung der Ernennung Hitlers zum

82 s. R. Morsey, a.a.O., S. 338; ders., Der Untergang des politischen Katholizismus, Stuttgart 1970, S. 85. 83 Durfte nach seiner Ansicht die Neuwahl des Reichstages nicht über die 60-Tage-Frist des Art. 25 Abs. 2 RV hinausgeschoben werden, so kam ihm zwei Monate später kein rechtliches Argument in den Sinn, als der Reichstag als Gesetzgebungsorgan überhaupt ausgeschaltet wurde; es war Kaas, der die Zustimmung der Zentrumsfraktion zum „Ermächtigungsgesetz" vom 24. März 1933 im Reichstag bekanntgab, s. die Dokumentation von Rudolf Morsey, Das „Ermächtigungsgesetz" vom 24. März 1933, Göttingen 1968, Neudr. 1976, S. 49 f.

4 Quaritsch

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Kanzler — erkannte Schmitt sofort. A m 29. Januar 1933 vermerkte er i n seinem Tagebuch: „Schlecht geschlafen, keine Post, aber in der ,Germania' der Brief von Kaas an die Reichsregierung, der unter Nennung meines Namens vor meiner Auslegung von Artikel 48 warnt und sie für verfassungswidrig erklärt. So wird der Alte gezwungen, Hitler zu ernennen. Ich war sehr aufgeregt, telefonierte mit Popitz, der mir riet, einen Brief an Kaas zu schreiben. Ich fand das lächerlich, dieser trüben Inkarnation grenzenloser Kompatibilitäten nachzulaufen ... Rief nochmals Popitz an und überlegte eine Antwort. Popitz meinte, man müßte mich jetzt opfern, wenn es zweckmäßig sei." I n seinem an Kaas gerichteten Brief v o m 30. Januar 1933 verwahrte sich Carl Schmitt gegen die A r t u n d Weise, wie er hier öffentlich angegriffen worden war. M i t einem einzigen Satz brachte er seine bisherigen Stellungnahmen u n d das eigentliche Problem zur Sprache und a u f den Punkt: „ I c h relativiere nicht das Staatsrecht, sondern kämpfe gegen einen Staat u n d Verfassung zerstörenden Mißbrauch, gegen die Instrumentalisierung des Legalitätsbegriffes u n d gegen einen wert- u n d wahrheitsneutralen Funktionalismus." D a n n appellierte er an das professorale Ehrgefühl des Kanonisten Kaas: „Auf die Entstellungen einer bestimmten Art von Presse und die Unwahrheiten, die ein unwissender Parteimann neulich im Landtag über mich verbreitet hat, brauchte ich nicht zu erwidern. An Sie, hochgeehrter Herr Kollege, richte ich diese Erklärung, weil Sie in Ihrer Eigenschaft als Professor des Kirchenrechts auch dem Stande der deutschen Rechtsgelehrten angehören und in der gleichen Eigenschaft die uralte Schwierigkeit des Notstandsproblems kennen. Ich halte es für ein Unrecht, wegen abweichender Ansicht und Stellungnahme, die wissenschaftliche Arbeit, die rechte Gesinnung und sogar den Namen eines deutschen Rechtsgelehrten, ja, unter der Bezeichnung »Gefolgsmänner' selbst diejenigen, die zu dem gleichen oder einem ähnlichen wissenschaftlichen Ergebnis gekommen sind, mit Warnungen vor Illegalität in Zusammenhang zu bringen und in der Öffentlichkeit politisch zu verdächtigen..." 84. 84

Der Brief ist zuerst veröffentlicht von P. Tommissen, Over en zake Carl Schmitt (FN 19), S. 111/12, erneut in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 53/54. Der erwähnte „unwissende Parteimann" war der SPD-Abgeordnete Nölting, der gemäß Bericht der „Vossischen Zeitung", Nr. 31 v. 19.1. 1933, behauptet haben soll, Carl Schmitt suche zu beweisen, wie man mit Hilfe von Art. 48 der Reichsverfassung höchst legal aus der Republik eine Monarchie machen könne (der Zeitungsbericht ist wiedergegeben von P. 50

Die Erinnerung an kollegiale Umgangsformen wird Kaas wenig beeindruckt haben. Carl Schmitt hatte jedenfalls eine Lektion in politischer Polemik erhalten, die er nicht vergaß. Es verwechselt die Kausalitäten, wer Carl Schmitt zum Herbeischreiber des NS-Regimes erklärt, weil am 30. Januar 1933 Hitler Reichskanzler wurde, und nun seinerseits eine, aber eine ganz andere Freund-Feind-Unterscheidung traf und durchsetzte, auch Rundfunk und Film in seinen Dienst stellte. Post hoc ergo propter hoc, das ist bekanntlich die Logik des Aberglaubens. Deshalb kann auch nicht aus dem Überlaufen Schmitts im Frühjahr 1933 geschlossen werden, er sei schon vor der „Machtergreifung" für den totalitären Staat Hitlers eingetreten. Er hätte es dann gewiß vermieden, in jenem Aufsatz „Moskau" und „Braunes Haus" als Stichworte für K P D und NSDAP ohne Vorbehalt und Wimpernzucken über einen Kamm zu scheren 85. Der „totale" Staat Schmitts war auch als „starker" Staat nicht totalitär. Wenn in der Bundesrepublik der Rundfunk nicht, wie Schmitt forderte, „Staatsrundfunk" ist, so ging das bisher nur deshalb gut, weil das Grundgesetz aus den Ereignissen der Jahre 1930-1933 die notwendigen Konsequenzen zog und außerdem zureichende Sicherungen gegen verfassungsfeindliche Gruppen und Parteien vorhält 8 6 . Der Wechsel Schmitts zu Hitler war eine Wende, die jeden Kenner Schmitts und der damaligen Verhältnisse überraschte; hier war eine andere Kausalität am Werk. In den letzten Wochen der Weimarer Republik formulierte Carl Schmitt seinen Etatismus — wie in den Jahren zuvor! — nicht wert- und verfassungsneutral. Seinen verfassungsgebundenen Etatismus konnte er jetzt aber nur mit der einzigen Institution verknüpfen, die noch verfassungsgemäß funktionierte und für die Verfassung (im Sinne der 1919 getroffenen „Grundentscheidungen") stand. So ließ er seinen letzten Aufsatz in Weimarer Zeit enden: „Hätte nicht die eine letzte Säule der Weimarer Verfassungsordnung, der Reichspräsident und seine aus vorpluralistischen Zeiten stammende Tommissen, Complexio Oppositorum [FN 2], S. 86). - Die Tagebuchnotiz Schmitts vom 29.1.1933 bei Eberhard Straub, Die Götterdämmerung der Moderne, Heidelberg 1987, S. 86. 85 Positionen und Begriffe, Nr. 21, S. 189. 86 Vgl. Art. 67, 68 und Art. 9 Abs. 2, 21 Abs. 2 GG sowie die einschlägigen Vorschriften des Strafgesetzbuchs gegen den „Verfassungsverrat" (§§84-92 StGB). 4*

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Autorität, bisher standgehalten, so wäre wahrscheinlich das Chaos auch in aller Sichtbarkeit und in der äußerlichen Erscheinung bereits vorhanden und selbst der Schein der Ordnung verschwunden"87. Als Carl Schmitt diesen Aufsatz 1940 erneut veröffentlichte, las sich seine Beschreibung der Weimarer Spätphase als ein Stück Verfassungsgeschichte; u m den besonderen Zweck des Textes wußten w o h l nur noch wenige. N i c h t zu verkennen war jedoch, welche „ P o s i t i o n " Carl Schmitt i m W i n t e r 1932/33 verteidigte: die „ W e i marer Verfassungsordnung" u n d den Reichspräsidenten als deren „letzte Säule". D i e Nationalsozialisten hatten diesen Zusammenhang nicht vergessen, als ein Schüler Schmitts den Begriff des (starken) totalen Staates auf den NS-Staat anwendete 8 8 . Der Chefideologe der N S D A P , Alfred Rosenberg, sah auch die Gefahr, m i t der Betonung des „Staates" könnte die Partei i n den zweiten Rang abfallen: „Würden wir fortlaufend vom totalen Staat sprechen, so würde nach und nach bei jüngeren Nationalsozialisten und kommenden Geschlechtern wieder der Begriff des Staates an sich ins Zentrum rücken und die Handlungen der Staatsbeamten würden als das Primäre empfunden werden. Betonen wir aber schon heute mit aller Deutlichkeit, daß es eine bestimmte politische Weltanschauung und Bewegung ist, die das Recht der Totalität beansprucht, so werden die Blicke der Generationen sich eben auf diese Bewegung richten und das Verhältnis zwischen Staat und NSDAP in einem ganz anderen Licht erblicken, als wenn man die Staatlichkeit an sich als das Höchste bezeichnen würde... Aus all diesen Gründen empfiehlt es sich für alle Nationalsozialisten, nicht mehr vom totalen Staat zu sprechen, sondern von der Ganzheit (Totalität) der nationalsozialistischen Weltanschauung, von der NSDAP als dem Körper dieser Weltanschauung

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Positionen und Begriffe, Nr. 21, S. 190. Ernst Forsthoff, Der totale Staat, Hamburg 1933. 89 In dem Leitartikel unter dem Titel „Totaler Staat?", Völkischer Beobachter, 9.1.1934, erneut abgedruckt in: Alfred Rosenberg, Blut und Ehre, Bd. 2: Gestaltung der Idee, Reden und Aufsätze 1933-1935, hrsg. v. Thilo v. Trotha, 2. Aufl. München 1936, S. 20-22. Der Herausgeber bemerkt erläuternd: „Die Prägung vom »totalen Staat4 hat mit dem Nationalsozialismus so wenig zu tun wie etwa Moeller v. d. Brucks inhaltslose Formel vom ,Recht der jungen Völker 4. Dieser Aufsatz hat das Denken über die gefährdeten Rangverhältnisse wieder zurechtgerückt44 (S. 20). 88

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Rosenberg wußte auch u m den eigentlichen Urheber der Formel v o m „totalen Staat" und intervenierte gegen Schmitts NS-Karrier e 9 0 . A l s einige Jahre später das Karriere-Problem ausgestanden war, hat Carl Schmitt Rosenbergs Verdikt ignoriert, den Begriff des totalen Staates erneut aufgenommen u n d gerechtfertigt, nunmehr aber i n Fortsetzung der Jüngerschen „ T o t a l e n M o b i l m a c h u n g " v o n 1930 u n d i m H i n b l i c k a u f den nächsten K r i e g der G r o ß m ä c h t e 9 1 . Der „totale K r i e g " , der allumfassende, m i t allen zur Verfügung stehenden M i t t e l n geführte K r i e g — Ludendorffs „Totaler K r i e g " erschien 1935 — , war zur gleichen Zeit auch i n der europäischen Völkerrechtswissenschaft keine unbekannte Kategorie. D e r polnische Völkerrechtler Zygmunt Cybichowski, Warschau, schrieb einen 1939 veröffentlichten Aufsatz über den „totalen K r i e g i m Lichte des Völkerrechts" u n d ordnete diesem Begriff die englische, aus dem englischen Seebeuterecht abgeleitete (dem Haager Kriegsrecht widersprechende) Auffassung des Krieges als Waffenkampf, Wirtschaftskrieg u n d K u l t u r k r i e g z u 9 2 . Dieser angloamerikanische

90 Als Bormann für den „Stellvertreter des Führers" am 12. Juni 1934 Alfred Rosenberg mitteilte, für die beabsichtigte „Hochschulkommission" seien der „Staatsrat Dr. Schmidt [sie] und Dr. Fischer" als „Referenten für juristische Hochschulangelegenheiten" vorgesehen, widersprach der Adressat am 21. Juni 1934: „... halte ich für unmöglich, da Prof. Schmidt [sie] früher sehr deutlich für die Weimarer Verfassung eingetreten ist, dann rein staatsrechtlich auf den totalen Staat hinsteuerte und nicht jenes Kriterium der Bewegung mitbringt, um hier an zentraler Stelle Sitz und Bestimmung zu haben". Am 2. Oktober 1934 widersprach Rosenberg in einem Brief an den „Sehr geehrten Parteigenossen Heß" erneut: „Das Gleiche habe ich Dr. Frank in Bezug auf Prof. Karl Schmidt [sie] mitgeteilt. Ich halte das für notwendig, dass auch er nicht in der Hochschulkommission in Erscheinung tritt, da diese ein zentrales Parteiamt ist und Schmidt, der früher die Entwicklungsfähigkeit der preußischen Verfassung lobte, und später erster Berater von Brüning war, wird zwar heute alles begründen, was der Führer verordnet, kann aber unmöglich in weltanschaulich-nationalsozialistischer Bestimmimg in der Parteileitung tätig sein" (Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte München, München 1983, micro-fiche-edition S.201, 189, 137). 91 In dem Vortrag vom 5. Februar 1937 über „Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat", in: Völkerbund und Völkerrecht, 4. Jg. (1937), S. 139145 = Positionen und Begriffe, Nr. 28, S. 235 ff, 239; Völkerrechtliche Neutralität und völkische Totalität, in: Monatshefte für Auswärtige Politik, 5. Jg. (1938), S. 613-618 = Positionen und Begriffe, Nr. 32, S.255ff, besonders S. 257/58.

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Begriff des (totalen) Krieges setzte sich seit 1939 gegenüber dem kontinentalen endgültig d u r c h 9 3 . Der Machtzuwachs der weltlichen Gewalt durch die konfessionelle Entzweiung u n d die religiösen Bürgerkriege des 16. Jh. haben Carl Schmitt 1941 dazu geführt, den modernen Staat aus eben diesen Ereignissen entstehen zu lassen. F ü r diesen Sachverhalt wählte er religiöse Ereignisse, nicht etwa die Entmachtung der Stände, das stehende Heer, die Bürokratisierung oder was sonst noch immer angeführt werden könnte; das kennzeichnet die katholische Orientierung seines Denkens: „Aus den konfessionellen Bürgerkriegen entsteht in Frankreich der Gedanke der souveränen politischen Entscheidung, die alle theologischkirchlichen Gegensätze neutralisiert und das Leben säkularisiert, auch wenn die Kirche Staatskirche wird. In dieser Lage haben die Begriffe Staat und Souveränität in Frankreich ihre erste maßgebende juristische Ausprägung gefunden. Damit tritt die spezifische Organisationsform »souveräner Staat' in das Bewußtsein der europäischen Völker" 94 . 92

Melanges Streit, Bd. 1, Athen 1939, S. 149ff, 153f.; ähnlich, wenn auch knapper und ohne das Verdikt der Völkerrechtswidrigkeit: Carl Schmitt, Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat (FN 91), S. 238/39. Nach Schmitt soll der Begriff des „totalen Krieges" um 1920 in Frankreich entstanden sein, s. ebenda, S. 235 m. weit. Nachw. Ausführlicher begründete Schmitt Wortwahl und Begriffsbestimmung in einem Brief vom 5.9.1960 an den französischen Schriftsteller und Sprachtheoretiker Jean-Pierre Faye, abgedruckt und kommentiert von Piet Tommissen in seiner Abhandlung über J.-P. Faye: Anti-totalitair Denken in Frankrijk, in: Eclectica, 13. Jg., Nr. 55-57, Economische Hogeschool, Brüssel 1984, S. 52-54. 93 Vgl. Dietrich Steinicke, Wirtschaftskrieg und Seekrieg. Die allgemeine völkerrechtliche Anerkennung des anglo-amerikanischen Kriegsbegriffs und ihre Rechtsfolgen, Hamburg 1970. 94 Staatliche Souveränität und freies Meer - Über den Gegensatz von Land und See im Völkerrecht der Neuzeit, Vortrag auf der Historikertagung in Nürnberg am 8. Februar 1941, in: Das Reich und Europa, Leipzig 1941, S. 79-105, 2. Aufl. 1941, S. 91-117 = (stark gekürzt) Verfassungsrechtliche Aufsätze (FN 63), S. 375; Hervorhebungen im Text. Näher ausgeführt wird diese historische Verortung in dem 1945 abgeschlossenen, 1950 erstmals veröffentlichten Buch „Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Ius Publicum Europaeum", 1. Aufl., Köln 1950, 3. unveränd. Aufl., Berlin 1988, S. 96 ff. - Über die Nürnberger Tagung berichtete Gerhard Ritter in einem Brief an Hermann Oncken am 27.2.1941 mit dem Zusatz: „... daß wir Historiker die Pflicht haben, den Staatstheoretikern von der Art Carl Schmitts, mit dem ich übrigens in Nürnberg lange Unterhaltungen hatte, das Feld bei der Bearbeitung politischer Lebensfragen nicht allein zu überlassen" (in: Klaus Schwabe/Rolf Reichardt, Gerhard Ritter - Ein 54

Zugleich endete die Verbindlichkeit der kirchlichen Lehre über diesseitige Angelegenheiten; auch für res mixtae beanspruchte der Staat das letzte W o r t . D e n Theologen ersetzte der Jurist. F ü r diesen Sachverhalt benannte Carl Schmitt den Italiener Albericus Gentiiis, der i n seinem Kriegsvölkerrecht v o n 1588/89 den Theologen re iusta causa belli zu schweigen geboten hatte: „Silete, Theologi, i n munere a l i e n o 9 5 . " Carl Schmitt schätzte Gentiiis höher ein als Grotius 96, er nannte i h n einen „bewußt weltlichen", einen „echten J u r i s t e n " 9 7 , Bezeichnungen, die verdeutlichen, wie sympathisch i h m dieser Gentiiis w a r 9 8 . Zugleich meinte er, die politischer Historiker in seinen Briefen, Boppard 1984, S. 361, 363). Ritter war übrigens der einzige deutsche Historiker, den Schmitt in dem gedruckten Text seines Vortrages lobend erwähnte (Das Reich und Europa, 2. Aufl., S. 99). 95 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde (FN 94), S. 92 und 131. Das Zitat in Albericus Gentiiis, De Jure belli libri tres, 112, S. 92 des fotomechanischen Neudrucks in: Classics of International Law, Washington 1931. - Gentiiis (1552-1608) war mit seinem protestantischen Vater vor religiöser Verfolgung aus Italien nach Deutschland geflohen, ging schließlich nach England und lehrte seit 1581 in Oxford. Sein „Kriegsvölkerrecht" erschien 1588/89 in London als „Prima commentatio de jure belli", eine zweite, neu bearbeitete Auflage 1589 in Hanau unter dem Titel „De jure belli tres". Die dritte ebenda erschienene Auflage liegt dem Neudruck zugrunde. Über Leben und Werk des Gentiiis s. Coleman Phillipson im Übersetzungsband der zit. Classics of International Law, Washington 1933, S. 12a-51a, und Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 2. Auflage, Baden-Baden 1988, S. 247ff. 96 Der Nomos der Erde (FN 94), S. 129 ff. 97 Der Nomos der Erde (FN 94), S. 86, 91. 98 Carl Schmitt hat den Satz des Gentiiis: „Silete, Theologi..." mehrfach wiederholt, so in: Ex Captivitate Salus, Köln 1950, S. 70, und in seiner Rezensionsabhandlung über neuere Hobbes-Literatur (Der Staat Bd. 4 [1965], S. 55). In der 1963 veranstalteten Neuausgabe von „Der Begriff des Politischen", S. 117, suchte er der Sentenz des Gentiiis, die für ihn offenbar zentrale Bedeutung besaß, die persönliche Spitze zu nehmen: „Wenn ich an dieser und an anderen Stellen ... besonderes Verständnis für den Ausruf des Albericus Gentiiis bekunde, so heißt das nicht, daß ich den Theologen undankbar wäre, deren Beteiligung die Diskussion über den Begriff des Politischen wesentlich vertieft und gefördert hat: auf evangelischer Seite vor allem Friedrich Gogarten und Georg Wünsch, auf katholischer P. Franziskus Stratmann O. P., P. Erich Przywara SJ, Werner Schöllgen und Werner Becker." Auch in dem Rundfunk-Interview 1972 ist Schmitt auf Gentiiis zurückgekommen (s. P. Tommissen, Over en in zake Carl Schmitt [FN 19], S. 96). Die Vorliebe für diesen Satz ist vielleicht Folge einer frühen Prägung durch jene beiden Lehrer, die den Knaben Schmitt über die Absurdität der 55

Zeit des Staates ginge n u n zu Ende, ein D i k t u m , über das er 1963 nicht einmal mehr ein W o r t verlieren w o l l t e " , die EG-Europäer werden i h m mittlerweile zustimmen wollen. Das aber ist nicht mehr seine Zeit. Er verstand sich als „der letzte, bewußte Vertreter des ius publicum E u r o p a e u m " 1 0 0 , u n d dieses europäische ius p u b l i c u m war das Recht der modernen europäischen Staatlichkeit, es gehört i n die Zeit des 16. bis zum 20. Jh., geistesgeschichtlich markieren (in seiner Sicht) Anfang u n d Ende die Juristen-Namen Bodin u n d Schmitt. Diese Selbstverortung schloß freilich die Beschreibung jener neuen Gebilde nicht aus, die er an die Stelle der Nationalstaaten treten sah, nämlich den „ G r o ß r a u m " u n d die „ G r o ß r a u m o r d n u n g " 1 0 1 . Es war sein Schicksal, daß er als deutscher, i n Berlin lebender Jurist seine Entdeckung an jenem Beispiel exemplifizieren mußte, dessen tatsächliche Struktur u n d Erscheinung die Begriffe für lange Zeit ungenießbar machten. Die Sache selbst war damit nicht erledigt. Der Großraum des „sozialistischen Lagers", dessen Einheit u n d Eigenheiten der russische Hegemon mehrfach militärisch sichern mußte, (bis 1918 geltenden) geistlichen Schulaufsicht belehrten, also einer Kompetenz „in munere alieno": „Das sind Dinge, deren Wirkung mir erst ganz spät zum Bewußtsein kam" (ebenda, S. 93). 99 Vorwort von 1963 zum „Begriff des Politischen", S. 10. 100 Ex Captivitate Salus ( F N 98), S. 75. 101 Carl Schmitt veröffentlichte seinen am 1. April 1939 in Kiel gehaltenen Vortrag „Völkerrechtliche Großraumprinzipien" selbständig unter dem Titel „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht" 1939 (4. Aufl., Berlin 1941). Den Schlußteil des Vortrages publizierte er unter dem Titel „Der Reichsbegriff im Völkerrecht" in der Zeitschrift „Deutsches Recht", 6. Jg. (1939), Heft 11 vom 29. April, S. 341-344. Dieser Aufsatz ist unter Nr. 36 in „Positionen und Begriffe", S. 303-312, abgedruckt. Der Aufsatz „Großraum gegen Universalismus" arbeitet eine Überlegung des Kieler Vortrages näher aus und wurde zunächst in der „Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht", 6. Jg., Heft 7, Mai 1939, S. 333-337, veröffentlicht. In „Positionen und Begriffe" erscheint dieser Text unter Nr. 35, S. 295-302. - Die beste Interpretation der Schmittschen Großraumtheorie schrieb damals Ernst Rudolf Huber, der nüchtern und leicht distanziert den Widerspruch zum geltenden Völkerrecht feststellte und auch im übrigen, auf semantische Hüllen verzichtend, die Dinge beim Namen nannte: „Schmitts Lehre vom völkerrechtlichen Großraum hat den Sinn, die politische Wirklichkeit des Imperialismus als einen rechtlichen Tatbestand anzuerkennen und sie zur Grundlage eines neuen völkerrechtlichen Systems zu machen" (FN 16, S. 36-44 [39]). 56

wurde 45 Jahre von aller Welt respektiert; das gegen die nichtsozialistischen Länder, besonders gegen die Vereinigten Staaten gerichtete „Interventionsverbot" war das wichtigste ungeschriebene Prinzip der Außenpolitik der Supermächte; Gorbatschows Verzicht auf die Breschnew-Doktrin von 1968 änderte daran nichts. Auf der anderen Seite riskierten die Vereinigten Staaten 1962 den Dritten Weltkrieg, um die sowjetische Intervention durch kubanische Raketenpräsenz zu beseitigen. Auch nach Auflösung des „Warschauer Paktes" wirkt das Interventionsverbot fort. Die Westmächte versichern, aus der Schwäche des Moskauer Hegemons „keine Vorteile" ziehen zu wollen; den osteuropäischen Staaten bleibt der Eintritt in die NATO verwehrt. Rußland selbst spricht 1994 von der besonderen Stellung des „nahen Auslands", was die baltischen Staaten mit ihren starken russischen Minderheiten als Bedrohung der gerade errungenen Unabhängigkeit empfinden müssen. Es bleibt abzuwarten, ob künftig z. B. aus der „Organisation für die afrikanische Einheit", der islamischen Staatenwelt und in Südamerika „Großräume" entstehen, die das Konzept auch ohne Hegemon als zukunftsträchtig erweisen. Die Chancen einer solchen Entwicklung, die nicht notwendig so imperialistisch und so negativ verlaufen muß wie die ersten Realisierungen, stehen deshalb nicht schlecht, weil das universalistische System der Vereinten Nationen sein Hauptziel, die Kriegsverhütung, verfehlte und der Rückzug der beiden Supermächte aus ihren übermächtigen Positionen nicht mehr ausgeschlossen erscheint. Das „Interventionsverbot für raumfremde Mächte" könnte eines Tages auch in Europa zu Ehren kommen, wenn sich nämlich der gesamteuropäische Wirtschaftsraum zu einem politischen Raum gewandelt hat, der die amerikanische und russische Mitherrschaft ebenso beendet, wie es den Deutschen nach dem 30jährigen Krieg gelungen ist, im Laufe von über 150 Jahren die schwedische Herrschaft und die französische Intervention abzuschütteln. Dergleichen wird in Frankreich auch in Regierungskreisen gedacht und geäußert, so von dem sozialistischen Verteidigungsminister Jean Pierre Chevenement, der sich nicht vorstellen kann, daß langfristig 320 Millionen Europäer von 250 Millionen Amerikanern abhängen. Europa „muß vollständig eigenständig sein, völlig unabhängig von allen", doch fügt er hinzu: „Geschichte eilt mit Weile" (s. Rüdiger Moniac, in „Die Welt", Nr. 238 v. 11.10.1988, S. 6). Diese Vision ist noch ein

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Trugbild. Die Wirren auf dem Balkan seit der Sezession von Slowenien und Kroatien 1990 boten den Europäern die Chance, einen europäischen Konflikt selbst zu lösen. Widerstreitende Interessen und eingeübte Timidität ließen die Europäer nach den (unwilligen) Vereinigten Staaten rufen, wodurch auch Rußland auf dem Balkan wieder präsent wurde. Carl Schmitt hat sich mit den möglichen Folgen einer politischen Einheit Europas 1928 befaßt und den Widerstand der USA wie Rußlands vorhergesagt („Der Völkerbund und Europa", in: Positionen und Begriffe, Nr. 11, S. 88ff., 96).

3. Der Nationalist Carl Schmitt war Nationalist u n d auf das K o n t o dieser „Posit i o n " geht sein „ K a m p f m i t Weimar — G e n f — Versailles", dem die meisten Aufsätze v o n „Positionen u n d Begriffe" gewidmet s i n d 1 0 2 . Z u r Terminologie ist anzumerken: Carl Schmitt galt i n Weimarer Zeit nur als „ n a t i o n a l e r " , bestenfalls als M a n n der Rechten. Heute definieren w i r anders. Carl Schmitt formulierte das überall u n d immer gültige Credo des Nationalismus, als er 1932 schrieb: „... nicht alle Dinge haben einen Tauschwert. F ü r politische Freiheit z. B. und politische Unabhängigkeit gibt es kein gerechtes Äquivalent, mag die Bestechungssumme noch so groß s e i n 1 0 3 . " Carl Schmitts Nationalismus hatte eine eher unauffällige Vorgeschichte. A l s 1914 u n d danach viele Professoren u n d Schriftsteller den Feind m i t Druckerschwärze bekämpften, hat Carl Schmitt geschwiegen 1 0 4 . Seine nichtjuristischen Aufsätze u n d A b h a n d l u n 102

Auf den „Nationalisten" Schmitt hat in Deutschland G. Maschke aufmerksam gemacht; Auslöser des Schmittschen Nationalismus soll die Rheinland-Besetzung durch die Franzosen gewesen sein (in: Complexio Oppositorum [FN 2], S. 193, 215ff.; ders. [FN 55], S. 58fT., 132ff.). 103 Diese Sätze beenden die exkursartig und kleingedruckt geführte Auseinandersetzung mit Franz Oppenheimer, in: Der Begriff des Politischen, 2. Ausg. 1932, S. 64 = Ausgabe 1963, S. 76. Auf diesen Schlüsselsatz hat A. Demandt (FN 60), S. 32, hingewiesen. 104 Angelsächsischen Carl Schmitt-Kennern ist das aufgefallen, s. J. W. Bendersky (FN 8), S. 15 f.; E. Kennedy (FN 43), S. 147. - Auch die Abhandlung über „Diktatur und Belagerungszustand", erschienen 1916 in der „Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft", Bd. 38, S. 138162, nimmt nicht etwa juristische Erfahrungen im Bayerischen Kriegsministerium auf. Diese „staatsrechtliche Studie" war eine verfassungsgeschicht-

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gen, die er zwischen 1914 u n d 1918 verfaßte, erscheinen seltsam zeitabgewandt. Er schrieb über Theodor D ä u b l e r 1 0 S , über die K i r c h e 1 0 6 , eine Satire auf Tagebuchschreiber, tatsächlich „eine v o n Einfallsreichtum u n d Anspielungen überschäumende Parodie auf den Historismus u n d die F o r t s c h r i t t s g l ä u b i g k e i t " 1 0 7 — kein W o r t v o m K r i e g e 1 0 8 . Ebensowenig allerdings griff er nach K a p i t u l a t i o n u n d Revolution zur Friedensschalmei, er beschwor nicht den „Geist v o n W e i m a r " , und er rechnete auch nicht m i t den Hohenzollern ab. Opportunist war er weder 1914 noch 1918, der Zeitgeist konnte i h n nicht beflügeln u n d schon gar nicht fortreißen. D e m wilhelminischen und protestantischen Berlin hatte der mittellose katholische Student aus dem Sauerland distanziert gegenübergestanden, als Beobachter u n d A u ß e n s e i t e r 1 0 9 , m i t der Freiwilligen-

liche Bewertung der Rechtsinstrumente, die bei den englischen Unruhen 1780 sowie den Vorgängen in Frankreich 1793 und Preußen 1848 eingesetzt wurden, um - wie könnte es anders sein - „den begrifflichen Gegensatz von Belagerungszustand und Diktatur zu bestimmen" (S. 138 F N 1). Es handelt sich also um eine Vorstudie zur 1921 erschienenen Schrift „Die Diktatur". 105 Theodor Däublers „Nordlicht". Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes, 1916, 2. Aufl., Berlin 1991; ein Aufsatz, den Carl Schmitt bereits im Jahre 1912 geschrieben hatte („Theodor Däubler, Der Dichter des ,Nordlichts'"), ist jetzt publiziert worden, vgl. P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana 1 (FN 19), S. 22-39. 106 Die Sichtbarkeit der Kirche, in: Summa (FN 30). 107 Reinhart Koselleck mit einer ausführlichen Interpretation der „Buribunken" (FN 33), in: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Utopieforschung, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 1, 8-14; s. auch die Bemerkungen von E. Kennedy (FN 43), S. 153. 108 Im Dritten Reich ist ihm seine literarische Produktion in der „Etappe" vorgeworfen worden, so von seinem Kollegen Otto Koellreutter, der am 28. Mai 1937 an den Klassensekretär der „Akademie für Deutsches Recht", Werner Weber, schrieb: „Daß ich als Frontsoldat einen Mann wie Carl Schmitt, der zwar besonders gern über den Krieg schreibt, der aber m. W. nie eine Kugel pfeifen hörte, sondern darüber hinaus, während andere an der Front waren, in der Heimat Schriften voll schwülstigen Aesthetizismus schrieb (1916 Theodor Däublers Nordlicht), nicht als Bannerträger des Nationalsozialismus anerkennen kann, vertrete ich jederzeit" (Bundesarchiv R 61/78, Blatt 42, zit. Hans-Rainer Pichinot, Die Akademie für Deutsches Recht, Diss. jur. Kiel 1981, S. 101). 109 s. Carl Schmitt, Berlin 1907, in: P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana 1 (FN 19), S. 11-21.

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meidung (vernünftigerweise) bis z u m bestandenen Assessorexamen A n f a n g 1915 gewartet. Dennoch, die deutsche Niederlage t r a f i h n schwer u n d nachhaltig. 20 Jahre später, a m Vorabend seines 50. Geburtstages, bedankte er sich bei den wenigen vertrauten Gästen m i t einer erst jetzt bekannt gewordenen Tischrede, i n der es u. a. hieß: „Gegen Ende des Krieges 1918 kam ich zu meinem Freund Georg Alexander Krause in sein gastliches Haus. Die Monate des Zusammenbruchs waren auch für mich die Zeit schlimmster Verzweifelung und aussichtsloser Depression. Ich habe bei ihm ein wahres Asyl gefunden in einer Phase schwärzester Verzweifelung, eine wahre Rettimg, für die kein Wort des Dankes ausreicht" 110. A u c h wenn m a n die Schmittschen Superlative abzieht (die Superlative waren seine w o h l einzige stilistische Schwäche); geschildert bleibt eine schmerzliche seelische Verletzung. Die deutsche Niederlage wurde als eigene empfunden, die Schuldzuweisung i m Kriegsschuldartikel des Versailler Vertrages als ungerechte, persönliche S c h m a c h 1 1 1 .

110 Diese Beschreibung war nicht eine „nachträgliche Selbstinterpretation" aus der Sicht des Jahres 1938 auf das Jahr 1918. Denn der Industrielle Georg Alexander Krause, dem Carl Schmitt in dieser Weise dankte, saß bei diesen Worten an seinem Tisch, ebenso Frau Lilly v. Schnitzler, Frau seines Kollegen im bayer. Kriegsministerium Georg v. Schnitzler (1884-1962), die er 1915 in München kennengelernt hatte und die er in dieser Tischrede 1938 als „die beste Weggenossin dieser 20 Jahre" pries. Diesen Gästen hätte er nichts vormachen können. - Zum Text dieser Rede am 10. Juli 1938 vgl. vorn F N 34. Über G. v. Schnitzler s. P. Tommissen, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 77, sowie in: Schmittiana I I (FN 40), S. 115. 111 Auf die Bedeutung, den der „niederschmetternde Eindruck des Versailler Vertrages und seine Garantie durch den Genfer Völkerbund" für die zwischen 1923 und 1933 entstandenen Schriften Schmitts hatte, wies bereits Has so Hofmann hin (FN 57, S. 93). Den gleichfalls als Motiv mitveranschlagten Verlust der Straßburger Privatdozentur wird man indes vernachlässigen dürfen, da Schmitt drei Monate nach seiner Entlassung aus dem Heeresdienst durch Vermittlung von Moritz Julius Bonn am 1. September 1919 hauptamtlicher Dozent an der Handelshochschule München und am 1. Oktober 1921 Ordinarius an der Universität Greifswald wurde, vgl. Piet Tommissen, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 78, 80. Richtig wird allerdings von Hofmann die französische Besetzung des Rheinlandes als „Pfand" für ausgebliebene Reparationen angeführt, die

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Zwei Beiträge belegen Carl Schmitts allgemeine „nationalistische" Position: sein Bericht über Georges Sorel aus dem Jahr 1923 und der „Begriff des Politischen" von 1927. Die Schriften und Aufsätze, die er in Auseinandersetzung mit „Weimar — Genf — Versailles" verfaßte, sind gleichsam Konkretisierungen hic et nunc seines Weltbildes, das wohl zwischen 1917 und 1922 Farbe und Form angenommen hatte. Die Revolution in Rußland hatte Carl Schmitt wie viele Europäer tief beeindruckt. Seine 1921 veröffentlichte verfassungsgeschichtliche Studie „Die Diktatur" umfaßt den Zeitraum von Machiavelli bis zur Weimarer Verfassung, beschäftigt sich nur im Vorwort mit der sozialistischen Literatur zur Diktatur des Proletariats, wählt aber dennoch den Untertitel: „Von den Anfangen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf' 112 . Souveränität und revolutionärer Klassenkampf sind die historischen Wasserscheiden der Neuzeit, sie trennen die Neuzeit vom Mittelalter und die neuzeitliche Vergangenheit von Gegenwart und Zukunft. In der Festgabe für den Bonner Zivilrechtler Ernst Zitelmann sezierte Carl Schmitt die „geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus" und den parlamentarischen Betrieb, wie er ihn sah. Ihnen stellt er eine politische Theorie der revolutionären Gewalt gegenüber, eingekleidet in die Wiedergabe der Vorstellungen von Georges Sorel (18471922), den er auf diese Weise in Deutschland weithin präsent machte 113 . Man wird kaum fehlgehen, wenn man in dem Bericht

Carl Schmitt in Bonn miterlebte und die ihn ebenso erregte wie die meisten Deutschen. „Versailles" als Ursache für einen prinzipiellen politischen Anschauungswandel schildert Ralf Dreier für den Rechtsphilosophen Julius Binder (1870-1939), in: Rechtswissenschaft in Göttingen, hrsg. v. Fritz Loos, Göttingen 1987, S. 435, 444 ff. 112 Wie die „Politische Romantik" (1919) noch veröffentlicht unter dem Namen Carl Schmitt- Dor otic, beide bereits im Verlag Duncker & Humblot, damals München/Leipzig. 113 In den bibliographischen Angaben verweist Carl Schmitt auf seinen „ersten theoretischen Hinweis auf SoreF in seinem Buch „Die Diktatur", München 1921, S. 147 (Positionen und Begriffe, S. 313). — Erst 1928 erschien Georges Sorels Hauptwerk „Reflexions sur la violence" in deutscher Sprache, übersetzt von Ludwig Oppenheimer mit einem Vorwort von Gottfried Salomon und einem Nachwort von Edouard Berth. Salomon wie Berth betonten nachdrücklich, Sorel habe mit dem italienischen

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über Sorel ein wichtiges Stück der Geschichtsphilosophie Carl Schmitts nach 1917 entdeckt, daß nämlich hinter den großen Umwälzungen (wozu Schmitt auch die Revision einer Niederlage rechnete) mythische Bilder stehen: D i e Vorstellung v o n R u h m u n d großen N a m e n bei den Griechen, die E r w a r t u n g des Jüngsten Gerichts i m alten Christentum, der Glaube an die „ V e r t u " u n d an die revolutionäre Freiheit während der französischen Revolution, die nationale Begeisterung der deutschen Freiheitskriege v o n 1813: „In der Kraft zum Mythus liegt das Kriterium dafür, ob ein Volk oder eine andere soziale Gruppe eine historische Mission hat und sein historischer Moment gekommen ist. Aus der Tiefe echter Lebensinstinkte, nicht aus einem Räsonnement oder einer Zweckmäßigkeitserwägung, entspringen der große Enthusiasmus, die große moralische Dezision und der große Mythus. In unmittelbarer Intuition schafft eine begeisterte Masse das mythische Bild, das ihre Energie vorwärtstreibt und ihr die Kraft zum Martyrium wie den Mut zur Gewaltanwendung gibt. Nur so wird ein Volk oder eine Klasse zum Motor der Weltgeschichte. Wo das fehlt, läßt sich keine soziale und politische Macht mehr halten, und kein mechanischer Apparat kann einen Damm bilden, wenn ein neuer Strom geschichtlichen Lebens losbricht. Demnach kommt alles darauf an, wo heute diese Fähigkeit zum Mythus und diese vitale Kraft wirklich lebt. Bei der modernen Bourgeoisie, dieser in Angst um Geld und Besitz verkommenen, durch Skeptizismus, Relativismus und Parlamentarismus moralisch zerrütteten Gesellschaftsschicht, ist sie gewiß nicht zu finden. Die Herrschaftsform dieser Klasse, die moderne Demokratie, ist nur eine ,demagogische Plutokratie'. Wer ist also heute der Träger des großen Mythus 114 ?" F ü r Carl Schmitt ist es nicht das internationale Proletariat Sorels, sondern die N a t i o n , denn „ d i e Energie des Nationalen ist größer als die des K l a s s e n k a m p f m y t h u s " 1 1 5 . Beleg u n d Beispiel

Faschismus nichts zu tun. Eine frühere deutsche wissenschaftliche Beschäftigung mit Sorel ist z. B. bei Walter Benjamin anzutreffen (Zur Kritik der Gewalt, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 47. Jg. [1920/21], S. 809-832). 114 Positionen und Begriffe, Nr. 1, S. 11. 115 Über den wohl nur partiellen Einfluß von Sorel auf Schmitt, s. Jozef van Bellingen, Georges Sorel en Carl Schmitt, in: Maurice Weyembergh (Hrsg.), Georges Sorel (1847-1922): Tijdschrift voor de Studie van de Verlichting en van het Vrije Denken Nr. 2, 1986/87, S. 195-217; Maschke, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 219. 62

sind für ihn auch Mussolinis Rede vor dem „Marsch auf Rom" 1922 und die Folgen: Demokratie und Parlamentarismus wurden „verächtlich beiseite geschafft" 116 . Das war vorschnell subsumiert. Der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus schlugen sehr bald um in nackten Imperialismus, verrieten also das Gesetz, nach dem sie angetreten. Langfristig scheint Carl Schmitt indes richtig prognostiziert zu haben. Der Klassenkampfmythus weicht vor den „nationalen Energien" immer mehr zurück; das wurde zuletzt auch im Moskauer Ideenzentrum des Klassenkampfes eingesehen und akzeptiert 117 . In der Dritten Welt sollte die sozialistische Revolution in aller Regel zugleich eine Bevölkerung in eine Nation verwandeln. In Europa sind es die Nationen, die um nationale Freiheit wie um die Freiheit des einzelnen kämpfen: am 17. Juni 1953 die Deutschen, im Oktober 1956 die Ungarn, im Frühling 1968 die Tschecho-Slowaken, seit 1980 die Polen. Am 16. November 1988 wurde die Sowjetrepublik Estland durch ihren Obersten Sowjet für „souverän" erklärt, wenig später Estnisch wieder zur Staatssprache erhoben; der Oberste Sowjet Lettlands folgte diesem Beispiel am 29. Juli 1989, das Parlament Litauens am 11. März 1990. Üblen Repressionen der sowjetischrussischen Besatzungsmacht trotzend, vermochten die baltischen Völker 1991 ihre staatliche Unabhängigkeit zurückzugewinnen. Auch in den anderen osteuropäischen Staaten war die Einführung demokratischer Freiheit im Innern verbunden mit der na116

Positionen und Begriffe, Nr. 1, S. 17. - Auf Schmitts Verhältnis zum italienischen Faschismus kann hier nicht eingegangen werden. Seine Bewunderung für Mussolini und sein Respekt für das italienische System waren evident; vgl. E. R. Huber, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 106; P. Tommissen, ebenda, S. 92; W. Schieder, VIZ, 37. Jg. (1989), S. 1 -21. Für einen „sehr großen Mann" hat allerdings auch ein Kenner vor Ort den Duce gehalten (s. G. Schöllgen, Ulrich v. Hassell, 1881-1944. München 1990, S. 64 und passim). Faschisten waren Schmitt und Hassell so wenig, wie Alfred Kerr Kommunist war, der 1932(!) drucken ließ: „Das Factum ,Sowjetrepublik4 ist für mein Bewußtsein eine der größten und beglückendsten Tatsachen" (s. Walter Huder, in: Th. Koebner [Hrsg.], Weimars Ende, Frankfurt/M. 1982, S. 307). 117

s. die Stellungnahme des Sekretärs des Auswärtigen Ausschusses des Unionssowjets des Obersten Sowjets der UdSSR und Mitglied des ZK Wadim W. Sagladin am 3.12.1988 im 86. Bergedorfer Gesprächskreis, Protokoll Nr. 86, S. 13.

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tionalen Unabhängigkeit gegenüber Moskau. Der Aufstand der Nationen gegen die staatlichen Klassenkampfzentralen brachten das Ende des „sozialistischen Lagers" wie des praktizierten Sozialismus überhaupt. Nach dem Verbot der KPdSU am 29. August 1991 zerfiel auch das großrussische Reich der Zaren: Georgien, die Ukraine, Weißrußland und Moldavien verselbständigten sich ebenso wie Armenien, Aserbaidschan und die moslemischen Randstaaten Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan. Die Verbindung von innerer und äußerer Freiheit, von Demokratie und Nation wurde auch zwei Staatsbildungen von 1919 zum Verhängnis: Jugoslawien zerfiel 1990 in seine nationalen Partikel, 1992 lösten Tschechen und Slowaken ihre staatliche Verbindung. Die Energie des Nationalen hat sich als dauerhafter und stärker als der „Klassenkampfmythus" erwiesen; darüber kann am Ende des 20. Jahrhunderts kein Zweifel mehr bestehen. Die „Action Fran9aise", für die Carl Schmitt in den 20er Jahren ein starkes Interesse entwickelte 118 , führte ihm vor, daß sich Nationalismus und Katholizismus nicht ausschließen müssen. Auch sonst durften einige Merkmale und Argumentationen auf Sympathien bei ihm rechnen: die scharfe Kritik an der modernen Kultur, die antiromantische und antiliberale Stoßrichtung, natürlich auch der Syllabus-Katholizismus. Der Monarchismus und Antisemitismus der A. F. wird ihn damals ebensowenig interessiert haben wie der rabiate Deutschenhaß, den sie zu dieser Zeit pflegte 119 . 118

Die Zeitschrift dieser Gruppe hielt er an seinem Bonner Lehrstuhl. Er pflegte sie in der Institutsbibliothek zu lesen. Freundliche Mitteilung von Herrn Kollegen Ernst Rudolf Huber, Freiburg, der diesen Vorgang als Student häufig beobachtete. 119 Die Action Fran5aise war zu Beginn der 20er Jahre Gegenstand wissenschaftlicher Aufmerksamkeit Bonner Romanisten, so von Ernst Robert Curtius und Hermann Platz. Die zu diesem Thema von Waldemar Gurion geschriebenen Bücher spiegeln wohl auch die Ansichten Carl Schmitts wieder, sind jedenfalls stark von ihm beeinflußt (W. Gurian, Die politischen und sozialen Ideen des französischen Katholizismus 1789-1914, Mönchen-Gladbach 1929; ders., Der integrale Nationalismus in Frankreich, Frankfurt/M. 1931). Über den aus Rußland stammenden katholischen Publizisten jüdischer Herkunft Gurian, mit dem Schmitt eine Zeitlang eng befreundet war, s. Heinz Hürten, Waldemar Gurian, Mainz 1972, S. 12 f. u. passim. Gurian hat in der Emigration Schmitt als „Kronjuristen" scharf angegriffen (dazu hinten nach FN 260).

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Die Wiedergabe eines Teils der ersten Fassung des „Begriffs des Politischen" aus dem Jahre 1927 120 begründete Carl Schmitt mit den „von Emigranten-Zeitschriften gemachten Versuche[n], einige Verbesserungen, die ich später vorgenommen habe, als unanständige Gesinnungsänderungen darzustellen" 121 . Aber das kann nicht der einzige Grund gewesen sein. Denn der „Begriff des Politischen" beschreibt zugleich seine Ansprüche an Volk und Staat, die als geschichtlich unmittelbare, als souveräne Größen in Freiheit und Unabhängigkeit existieren wollen; deshalb gehört „Der Begriff des Politischen" zu seinem „Kampf mit Genf und Versailles" 122 . Diese Bestimmung wurde und wird zwar meistens übersehen, weil die Bezugnahmen auf Berth , Duguit und Laski, die den „Tod des Staates" diagnostiziert hatten, und die eher abstrakten Freund-Feind-Erörterungen auf ein spezifisch und allein staatstheoretisches Problem hinzudeuten schienen. Die Ausweitung dieser Partien in der Ausgabe 1932, die sich mit den in den Staatstheorien vorausgesetzten Menschenbildern befassen oder mit dem Verhältnis von Liberalismus und Demokratie, beförderten dieses verbreitete Mißverständnis. Die in „Positionen und Begriffe" abgedruckten Stücke aus der „Urfassung" von 1927 machen indes klar, daß sich Carl Schmitt im „Begriff des Politischen" primär mit „ G e n f auseinandersetzt und mit dem Pazifismus, d. h. mit der in den 20er Jahren in Deutschland verbreiteten Hoffnung, der Völkerbund werde durch seine Organe und Beschlüsse das staatliche ius belli überflüssig machen und einseitiger Gewaltverzicht den Frieden bewahren: „Der Genfer Völkerbund hebt die Möglichkeit von Kriegen nicht auf, so wenig wie er die Staaten aufhebt. Er führt neue Möglichkeiten von Kriegen ein, erlaubt Kriege, fördert Koalitionskriege und beseitigt eine Reihe von Hemmungen des Krieges dadurch, daß er gewisse Kriege legitimiert" 123. 120 Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik Bd. 58 (1927), S. 1 33; erneut abgedruckt sind die Seiten 11-21. Nach Vilmos Holczhauser, Konsens und Konflikt - Die Begriffe des Politischen bei Carl Schmitt, Berlin 1990, arbeitete Carl Schmitt mit drei verschiedenen Begriffen des Politischen. Diese wichtige Untersuchung konnte ich nicht mehr berücksichtigen. 121 Positionen und Begriffe, S. 314. 122 Das betont auch G. Maschke (vgl. die Nachweise vorn F N 102). 123

Positionen und Begriffe, Nr. 8, S. 74.

5 Quantsch

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In der 1926 publizierten Schrift „Die Kernfrage des Völkerbundes" hatte er prophezeit, was auch für die „Vereinten Nationen" eingetroffen ist, daß nämlich die Großmächte die Weltorganisation als Instrument zur Verwirklichung der eigenen Interessen gebrauchen, im Ernstfall aber ohne Völkerbund, Sicherheitsrat etc. handeln: „Die englische Regierung wird sich gern des Völkerbundes bedienen, um ihre Ansprüche auf das Mossulgebiet zu legalisieren, aber solange England eine Großmacht ist, wird es sich durch keine internationale Instanz vorschreiben lassen, wofür im Ernstfall die englische Flotte zu kämpfen hat. Im entscheidenden Augenblick wird es immer Richter in eigener Sache bleiben, und das heißt eben Souveränität" 124.

Diese Formulierung aus dem Jahre 1926 wurde z. B. aktuell, als die Royal Navy 1982 zu den Falkland-Inseln aufbrach. Für Carl Schmitt bedeuteten bedingungsloser Pazifismus und Unterwerfung unter Genfer Mehrheitsbeschlüsse — also Beschlüsse der Sieger von 1918/19 — den Verzicht auf das, was er die „politische" Entscheidung nannte. In der „Sphäre des Politischen" bleibt ein Volk, wenn es im Frieden seine Interessen selbst definieren und danach handeln kann. Für den Krieg, nach Carl Schmitt „für den extremsten Fall" — über dessen Vorliegen es aber selber entscheidet —, muß es „die Unterscheidung von Freund und Feind selber bestimmen. Darin liegt das Wesen seiner politischen Existenz. Hat es nicht mehr die Fähigkeit oder den Willen zu dieser Unterscheidung, so hört es auf, politisch zu existieren. Läßt es sich von einem Fremden vorschreiben, wer sein Feind ist und gegen wen es kämpfen darf oder nicht, so ist es kein politisch freies Volk mehr. Ein Krieg hat seinen Sinn nicht darin, daß er für hohe Ideale oder für Rechtsnormen, sondern darin, daß er gegen den eigenen Feind geführt wird" 1 2 5 .

Was Carl Schmitt hier darlegt, ist in der Sache eigentlich nichts Neues. Es ist die Essenz der Briefe und Denkschriften, die der preußische Bundestagsgesandte Otto v. Bismarck aus Frankfurt nach Berlin schickte, um eine Politik ausschließlich im Interesse Preußens durchzusetzen: Gegen die Liberalen, die Preußen gern in einen „Gefalligkeitskrieg" gegen das absolutistisch regierte Ruß124 125

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Die Kernfrage des Völkerbundes, Berlin 1926, S. 11. Positionen und Begriffe, Nr. 8, S. 71.

land gehetzt hätten, gegen die konservativen Brüder v. Gerlach, die Preußen auf die Heilige Allianz, d. h. auf die reaktionäre und Preußen bevormundende Politik Österreichs sowie gegen Frankreich und den „Revolutionär" Napoleon III. einzuschwören versuchten. Bismarck wollte Krieg nur im preußischen (später: im deutschen) Interesse führen. Schmitt — der Erste Weltkrieg hatte zehn Millionen Menschen das Leben gekostet — engte die Rechtfertigung des Krieges viel weiter ein: „Es gibt keinen rationalen Zweck, keine noch so richtige Norm, kein noch so ideales Programm, keine Legitimität oder Legalität, die es rechtfertigen könnte, daß Menschen sich gegenseitig dafür töten... Auch mit ethischen und juristischen Normen kann man keinen Krieg begründen 126 ."

Krieg darf nur geführt werden zur „seinsmäßigen Behauptung der eigenen Existenzform gegenüber einer ebenso seinsmäßigen Verneinung dieser Form". Das soll bedeuten: Krieg ist nur zulässig, wenn es ums Ganze geht, und dieses Ganze ist der Kampf um die nationale Freiheit gegen diejenigen, die einem Volk diese Freiheit — unter welchem Vorwand auch immer — nehmen wollen. Die Unterscheidung zwischen Freund und Feind hat „außenpolitisch" also mehrere Funktionen: (1) Im Frieden sind diejenigen Staaten als „Feinde" zu erkennen, die mit den Mitteln des Völkerrechts — z. B. mit dem Versailler Vertrag — und internationalen Organisationen — z. B. mit dem Völkerbund — den unterlegenen Kriegsgegner dauernd niederhalten und eine Revision des ungerechten Friedensvertrages verhindern wollen. (2) Die Bestimmung des Feindes ist Kennzeichen der Souveränität; wer sich den Feind von einer internationalen Organisation vorschreiben läßt, ist nicht mehr souverän. (3) Krieg darf nur gegen den eigenen Feind geführt werden, kriegerischer Feind ist nur, wer uns die Freiheit nehmen oder eine andere Verfassung aufzwingen will; das ist die zitierte „seinsmäßige Verneinung der eigenen Existenzform". M i t dieser nur auf den ersten Blick kryptischen Formel war die plumpe, aber ehrwürdige Unterscheidung zwischen verbotenen Angriffskriegen und erlaubten Verteidigungskriegen überwunden. Gleichzeitig war die iusta causa belli auf den schlechterdings 126

Positionen und Begriffe, Nr. 8, S. 71.

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existentiellen Fall beschränkt. Das hatte Carl Schmitt schon 1928 das Lob katholischer Pazifisten eingetragen — bei aller Ablehnung im übrigen 127 . Die gekürzte Fassung des „Begriffs des Politischen", die Carl Schmitt nunmehr in „Positionen und Begriffe" veröffentlichte, ließ diese Einschränkungen viel klarer hervortreten als die vollständige Schrift. Deutlicher wurde auch, daß die FreundFeind-Unterscheidung keine bellizistische Theorie begründete 128 . Carl Schmitt schrieb wie ein Autor des 16. und 17. Jh., also mit kaschierten Schlüsselsätzen, mit Hintersinn für Adepten, verborgen in Zweideutigkeiten, die dem flüchtigen Leser als „schillernd" erscheinen mußten 1 2 9 . Im Spätsommer 1939 wird er bei der Zusammenstellung von „Positionen und Begriffe" den Brandgeruch des nächsten Krieges schon gespürt haben. Deshalb wollte er wohl seine Auffassung von iusta causa belli noch einmal signalisieren. Die Theorie des Mythus — auf den nationalen Punkt gebracht — und der „Begriff des Politischen" mit seinen Umschreibungen des politisch bewußten, zwischen Freund und Feind unterscheidenden Volkes, bilden Grundlage und Rahmen von Carl Schmitts Kampf mit „Weimar — Genf — Versailles". Auch mit „Weimar". Dem katholischen Bewunderer von Donoso Cortes mag der Liberalismus mit seiner „unernsten", die Häresie wie den öffentlichen Atheismus gestattenden Permissivität verhaßt 130 und der angelsächsisch-protestantische Konstitutionalismus — die Verfassung der verachteten modernen Bourgeoisie 131 127 P. Franziskus Stratmann O. P., in: „Der Friedenskämpfer", 4. Jg. (1928), Nr. 5, S. 1 -7, Nr. 6, S. 1 -7, 6/7. Die Ablehnung war so formuliert: „Der Katholik kann mit solchen Anschauungen keine Gemeinschaft mehr haben. Sie gehören restlos in die Welt des Unglaubens." Stratmann hielt, wie hinzuzufügen ist, seine vorkonstantinische Position für die katholisch allein mögliche. Auf Stratmann hat Carl Schmitt 1963 recht freundlich hingewiesen (s. vorn F N 98). 128 H. Meier zitiert in diesem Zusammenhang aus dem 1936 von Carl Schmitt veröffentlichten Handbuchartikel zum Stichwort Politik in: Hermann Franke (Hrsg.), Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissenschaften, Bd. 1, Berlin 1936, S. 549. Hier setzte sich Carl Schmitt deutlich von der „rein kriegerischen" Auffassung des frühen Ernst Jünger ab, indem er sich zu der „politischen Ansicht" bekannte, „daß Kriege sinnvollerweise des Friedens wegen geführt werden und ein Mittel der Politik sind". Dazu H. Meier (FN 41), S. 74f. mit F N 74. 129

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Dazu etwa H. Meier (FN 41), S. 70 FN 64.

und der Sieger von 1918 — innerlich fremd geblieben sein. Die „katholische Disposition" für autoritäre Führung 1 3 2 mag fernerhin eine Rolle gespielt haben, dokumentiert durch das große Interesse, das er in den 20er Jahren der antiparlamentarischen „Action Fransaise" entgegenbrachte 133. Das aber war nicht die entscheidende Ursache. Seine Ablehnung richtete sich nicht gegen die Weimarer Verfassung schlechthin, sondern gegen deren ersten Hauptteil, der das parlamentarische System normierte; der zweite Hauptteil mit den „Grundrechten und Grundpflichten der Deutschen" verdiene, „von Selbstwidersprüchen und Kompromißmängeln befreit und nach seiner inneren Folgerichtigkeit entwickelt zu werden" 1 3 4 . Sein Kampf gegen den Weimarer Parlamentarismus, das liberaldemokratische System der Parteien und Verbände wurzelte nicht in prinzipieller Republikfeindschaft — Monarchist ist er nie gewesen —, auch nicht in prinzipieller Ablehnung von gesellschaftlichem und politischem „Pluralismus" (das ist eine Legende). Er glaubte vielmehr, eine in den Grundfragen heterogene und „verfeindete" Gesellschaft — heute würden wir sagen: eine Gesellschaft ohne „Grundkonsens" —, „Weimar" also sei unfähig, (1) die „soziale Frage" und (2) die seit 1918/19 anstehende nationale Aufgabe zu lösen, nämlich den Versailler Vertrag zu revidieren und die deutsche Großmachtstellung zurückzugewinnen 135 — wo stand 130 Über den religiösen Grund der Liberalismus-Feindschaft Carl Schmitts s. H. Meier ( F N 41), S. 37 ff., und G. Maschke, in: K. Hansen/H. Lietzmann (FN 32), S. 56. 131 Vgl. seine Kennzeichnung in: Positionen und Begriffe, Nr. 1, S. 11 (hier bei FN 114). Die Texte, die Carl Schmitt der Kritik des Bourgeois widmete, hat H. Meier zusammengestellt ( F N 41), S. 45 FN 39. 132 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933, Freiburg i. Br. 1988, S. 60 ff. (Text von 1961), sowie Karl Egon Lonne, ebenda, S. 130ff., 139ff., zum Streitstand. 133 Vgl. vorn F N 119. 134 Legalität und Legitimität, 1932 (FN 72), S. 97/98, unter Hinweis auf den Grundrechtskatalog Friedrich Naumanns. 135 Diese Motive hat G. Maschke erneut sehr pointiert ausgeführt, in: K. Hansen/H. Lietzmann (FN 32), S. 63 ff. - Über die Stellungnahme Schmitts zum „Pluralismus" s. Quaritsch, Der Staat 19 (1980), S. 29, 46 ff. Notwendigkeit und Wirkung des „Grundkonsenses" im Parteienstaat hat Schmitt 1930 so beschrieben: „Wird nun der Staat zu einem pluralistischen Parteienstaat, so kann die Einheit des Staates nur so lange bestehen, als die zwei oder mehreren Parteien sich einigen, indem sie gemeinsame Prämissen anerkennen. Die Einheit beruht dann insbesondere auf der von allen

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denn geschrieben, daß große Mächte stets englisch oder französisch sprechen müssen? Dazu schien ihm ein Mythus nationaler Befreiung notwendig, den das pluralistische Parteien- und Verbändesystem Weimars unmöglich erzeugen konnte. Der Kampf mit „Genf' und „Versailles" setzte also den Kampf mit „Weimar" voraus. Nicht zufallig trug Carl Schmitt die „Theorie des politischen Mythus" in seinem Text über die „Geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus" vor (und nahm sie als ersten Aufsatz in „Positionen und Begriffe" auf). Diagnose und Therapie (oder was er dafür hielt) standen auf demselben Blatt. Carl Schmitt war kein politischer Agitator. Als Jurist und Professor für öffentliches Recht durfte er den Boden des geltenden Verfassungsrechts nicht verlassen. Sein „Kampf mit Weimar" blieb daher stets eigentümlich gebrochen. Der Jurist Carl Schmitt hatte 1928 mit seiner „Verfassungslehre" auf 404 Druckseiten ein Lehrbuch vorgelegt, das anhand der Weimarer Verfassung „den Typus einer rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung mit einer bis auf den heutigen Tag überzeugenden Systematik entwickelt hat", wie er selbst stolz und zu Recht 1954 in der Vorbemerkung des ersten Neudrucks feststellte (1993 erschien die achte unveränderte Auflage). Seine 1931 abgegebene Stellungnahme zum viel diskutierten Thema „Reichs- und Verfassungsreform" hielt sich im Rahmen der von Weimar gesetzten Eckwerte; seine Kritik richtete sich gegen methodische Blindheit und — im Wahlrecht — gegen die seit den letzten der 20er Jahre sichtbare Fehlentwicklung der Abstimmung für „Parteiarmeen" 136 . Sein Parteien anerkannten Verfassung, die als gemeinsame Grundlage unbedingt respektiert werden muß. Staatsethik wird dann zur Verfassungsethik. Je nach der Substantialität, der Eindeutigkeit und der Autorität der Verfassung kann darin eine sehr wirksame Einheit liegen" (Positionen und Begriffe, S. 144). 136

„Reichs- und Verfassungsreform", in: Deutsche Juristen-Zeitung, 36. Jg. (1931), Sp. 6-11. - Schmitt beteiligte sich an den Arbeiten des 1928 gegründeten, von allen bürgerlichen Parteien getragenen „Bundes zur Erneuerung des Reichs" („Luther-Bund"), dem der ehemalige Reichskanzler und nunmehrige Reichsbankpräsident Luther vorstand; zu den führenden Mitgliedern gehörten u. a. Oberbürgermeister Konrad Adenauer, Köln, Bürgermeister Petersen, Hamburg, aber auch der prominente Sozialdemokrat und Oberpräsident von Hannover, Gustav Noske; vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd. 7, S. 672/73, 674 ff. Schmitt sorgte 1930 dafür, daß sein Bonner Schüler und Doktorand Karl Lohmann wissenschaftlicher Mitarbeiter des Luther-Bundes wurde (freundliche Mit-

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Beitrag im „Handbuch des Deutschen Staatsrechts", erschienen 1932, ist wohl der einzige, den Juristen aus diesem Werk noch heute regelmäßig zitieren 137 . Aber was der Jurist den Juristen erklärte, erschien Carl Schmitt als homo politicus zur gleichen Zeit überholt. In einem Vortrag über den „bürgerlichen Rechtsstaat", erschienen in zwei katholischen Zeitschriften 1928, hat er seine verfassungspolitische Auffassung dargelegt 138 . Die Verfassung von 1919 ließ er nur gelten als „Notbau". In der Realisierung des bürgerlichen Rechtsstaats ist sie „in gewissem Sinne etwas Posthumes ... sie verwirklicht Forderungen, Ideale und Programme, die schon 1848 aktuell waren. Es ist so, wie wenn ein junger Mann von 20 Jahren, der sich um ein gleichaltriges Mädchen bemüht hat, weil er zugunsten eines Nebenbuhlers abgewiesen wurde, Jahrzehnte später die Witwe erringt."

Aber diese Witwe ist nicht das, was der Mann jetzt braucht. Der bürgerliche Rechtsstaat „hatte den Sinn der Integration des Bürgertums in den monarchischen Staat. Diesen Sinn hat er erfüllt." Was ist heute, also nach den Revolutionen von 1917 und 1918, die Aufgabe? Carl Schmitt antwortet: „Heute geht es darum, das Proletariat, eine nicht besitzende und nicht gebildete Masse, in eine politische Einheit zu integrieren." Und der Aufsatz endet: „Gerade die zentrale Aufgabe, das Proletariat in den neuen Staat zu integrieren, läßt die Unzulänglichkeit der Methoden des bürgerlichen Rechtsstaates erkennen." Diese Fundamentalkritik hätten auch linke Staatsrechtler formulieren können; sie haben das später auch getan, z. B. Otto Kirchheimer 1930 und Hermann Heller 1931 139 . Carl Schmitt argumentierte hier jedoch nicht marxiteilung von Herrn Dr. jur. habil. Karl Lohmann, Heiligenberg, vom 29.5.1989 an den Verf.). 137 Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, Tübingen 1932, S. 572-606 = Verfassungsrechtliche Aufsätze (FN 63), S. 181-230 („Grundrechte und Grundpflichten"). 138 Abendland, 3/1928, S. 201 ff. - Eine von Werner Becker angefertigte Niederschrift eines Vortrages mit gleichem Titel ist in der Zeitschrift „Die Schildgenossen", 1928, S. 127 ff., erschienen (Piet Tommissen, in: FSC. Schmitt, Berlin 1959, S. 285). 139

Vgl. Otto Kirchheimer, Politik und Verfassung, Frankfurt/M. 1964, S. 30ff.; Hermann Heller, Ges. Schriften, Bd. 2, Leiden 1971, S. 411 ff. Über den 1933 emigrierten Otto Kirchheimer (1905-1965), den Schmitt 1928 in Bonn promovierte, s. John H. Herz, in: Wolfgang Luthardt/Alfons Söllner

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stisch 140 . Er vertrat den „christlichen Sozialismus" („Solidarismus"), der von Heinrich Pesch und Max Scheler (in seiner kath. Phase) begründet und von Carl Muth („Hochland"), Theodor Steinbüchel und anderen katholischen Intellektuellen in Weimarer Zeit in Distanz zum Zentrum und in Gegnerschaft zum marxistischen wie zum National-Sozialismus vertreten wurde 1 4 1 . Der „Abendland"-Vortrag enthüllt ein Stück von Schmitts verfassungspolitischer Kritik, nicht mehr. In seiner Verfassungsrechtslehre ist diese Distanz zum Weimarer Verfassungswerk nicht wirksam geworden. Schmitt folgte in Weimarer Zeit dem Berufsethos des Juristen, ein Gesetz lege artis anzuwenden, auch wenn er als Gesetzgeber die Norm anders gefaßt haben würde. Wäre Schmitt wirklich „Totengräber" Weimars und „Wegbereiter" des Dritten Reiches gewesen, dann hätte er nicht von 1928-1932 immer wieder und gegen die herrschende Lehre dem Verfassungsgesetzgeber den (Hrsg.), Verfassungsstaat, Souveränität, Pluralismus. Otto Kirchheimer zum Gedächtnis, Opladen 1989, S. 11 -23, bes. S. 12, über das Verhältnis zu Schmitt. Herz berichtet über die unausgeglichenen Verhaltensweisen Kirchheimers auch gegenüber Freunden; sie erklären wenigstens teilweise die ungewöhnlichen Reaktionen Kirchheimers gegenüber George Schwab, der an der Columbia-University seinen Ph. D. mit einer Schrift über Carl Schmitt erwerben wollte (s. George Schwab, in: Schmittiana 1 [FN 19], S. 70, 79ff., und S. 81 F N 37, über die Konsequenzen, die Schmitt daraufhin gegenüber Kirchheimer zog). Der letzte Brief, mit dem Kirchheimer dem „sehr geehrten Herrn Professor" versicherte, er würde sich sehr freuen, „wenn es vielleicht eine Gelegenheit gäbe, Sie wiederzusehen", datiert vom 4.7.1961. 140 Diesen Weg versperrte ihm seine katholische Grundposition. Die Linke war damals prinzipiell kirchenkritisch eingestellt. Unvergessen waren Bebels Sentenzen über den „religiösen Spuk" und „Christentum und Sozialismus stehen sich gegenüber wie Feuer und Wasser". Umgekehrt hatte die katholische Kirche den marxistischen Sozialismus ebenso scharf abgelehnt, s. Georg Beyer, Katholizismus und Sozialismus, Berlin 1927; Walter Friedberger, Die Geschichte der Sozialismuskritik im katholischen Deutschland zwischen 1830 und 1914, Frankfurt/M. 1978. Insofern war Schmitt notwendig auf die „bürgerliche" Seite verwiesen, die dem katholischen Verständnis Raum ließ. Ob er auch 1933-1936 als „bürgerlicher" Rechtstheoretiker angesehen werden darf, wie Ingeborg Maus annimmt (Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus, 2. Aufl., München 1980), erscheint mir überaus zweifelhaft. Definiert man den „Bürger" so weit, ist alles „bürgerlich", was nicht marxistisch denkt. 141 Vgl. Richard van Dülmen, in: Ztschr. f. bayer. Landesgeschichte, Bd. 36, 1973, 254ff., bes. 279ff.; Alois Baumgartner, Sehnsucht nach Gemeinschaft - Ideen und Strömungen im Sozialkatholizismus der Weimarer Republik, München 1977, S. 118 ff.

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Zugriff auf die grundlegenden Verfassungsentscheidungen (s. vorn F N 80) verwehren wollen, das destruktive Mißtrauensvotum bekämpft und die Maßnahmen gegen verfassungsfeindliche Parteien und ihre Anhänger — auch und gerade gegen die Nationalsozialisten — verteidigt (Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 113; Legalität und Legitimität, 1932, S. 50-52). Im Frühjahr 1930 waren andere Sorgen drängender geworden als die Integration des Proletariats. Sein Vortrag über „Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates" am 8. April 1930 endete: „Zur Verfassungsloyalität gehört es, die Möglichkeiten einer Verfassung zu benutzen, bevor man an gefahrliche Katastrophen oder an eine allgemeine Kapitalflucht aller staatlichen Substanz denkt" (erneut veröffentlicht in: Verfassungsrechtliche Aufsätze [FN 63], S. 41 ff., 58). Auch seine Abhandlung über „Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung" (1931) diente der Festigung des staatlichen und des gesellschaftlichen Status quo. Wären Schmitts „wissenschaftliche [!] und politische Grundpositionen" vor 1933 tatsächlich so eindeutig „antiparlamentarisch, antidemokratisch und antiliberal" gewesen, wie B. Rüthers erneut behauptet (Carl Schmitt im Dritten Reich, 2. Aufl., München 1990, S. 57), dann hätten G. Anschütz und R. Thoma, beide unzweifelhaft parlamentarisch, demokratisch und liberal gesonnen und mit Schmitts Schriften wohlvertraut, als Herausgeber des bedeutenden, die Summe des Weimarer Verfassungsrechts ziehenden „Handbuchs des Deutschen Staatsrechts" (2 Bde., 1930/32), nicht gerade Schmitt mit dem wichtigen Einführungsartikel zu den „Grundrechten und Grundpflichten" (s. F N 137) beauftragt. Ein antiliberaler usw. Verfassungsfeind hätte diese Chance gewiß anders genutzt, als Schmitt in seinem bis heute fortwirkenden Beitrag. Gleichwohl kann man noch 1990 in der Schmitt-Studie eines Juristen lesen: „Was Carl Schmitt nach 1933 schrieb, war so antidemokratisch und antiliberal wie sein Schrifttum vorher. Nur die völkischrassische Verpackung war neu" (Rüthers, a. a. O., S. 147). Überraschenderweise hat Carl Schmitt gerade den „ A b e n d l a n d " - A u f s a t z 1940 nicht i n „Positionen und Begriffe" aufgenommen, es ist überhaupt kein einziger Aufsatz anzutreffen, der sich gegen die Weimarer Verfassung als solche richtet. Die Bezugnahme auf das zu integrierende Proletariat hätte der Wiederveröffentlichung keineswegs entgegengestanden, beanspruchte doch der Nationalsozialismus, gerade diese Aufgabe besonders rasch u n d gründlich gelöst zu haben. Weshalb also fehlt der A n g r i f f gegen den bürgerlichen Rechtsstaat i n „Positionen u n d Begriffe"? I m Jahre 1939 hätte dieser Beitrag den „ K a m p f m i t W e i m a r " viel populärer demonstrieren können als die mittelbaren (wenn auch deutlichen) Distanznahmen i n den Erörterungen des Demokratiebegriffs ( N r . 2) u n d des Parlamentarismus ( N r . 7). Möglicherweise 73

urteilte Carl Schmitt 1939 über die sozialen Defekte der Weimarer Verfassung milder als 1928. Der „Abendland"-Beitrag hätte seine prinzipielle Stellung zur Weimarer Verfassung negativer erscheinen lassen, als sie es gewesen war. Für diese Annahme spräche auch, daß Carl Schmitt seinen staatsphilosophischen Leitstern Thomas Hobbes in dem 1938 erschienenen „Leviathan" zum Ahnherrn des bürgerlichen Rechtsstaats erklärt hatte, den er bei dieser Gelegenheit geradezu liebevoll ins Gedächtnis seiner Leser rief 142. Das konnte schon überraschen, war vielleicht nicht falsch, 1938 in Deutschland aber keine Empfehlung. Kritische Zeitgenossen lasen diesen Text als Erinnerung an halkyonische Tage, oppositionelle Rechtsreferendare variierten den Schlußsatz dieses merkwürdigen Buches: Non jam frustra doces, Carl Schmitt. Konnte also der „Kampf mit Weimar" als wenig dokumentiert und eher zurückgenommen angesehen werden, so sind „ G e n f und „Versailles" noch voll im Visier. Diese Stichworte für den 1920 gegründeten Völkerbund — das Deutsche Reich wurde 1926 als Mitglied aufgenommen — und den 1920 in Kraft getretenen Friedensvertrag 143 bezeichnen zwar verschiedene rechtliche Phänomene, Carl Schmitt sah sie aber unter einem einzigen Blickwinkel. Zuerst 1924 hatte er „Die Kernfrage des Völkerbunds" aufgeworfen 1 4 4 , sie dann im deutschen Beitrittsjahr 1926 ausgearbeitet und mit demselben Titel selbständig veröffentlicht, deren Zusammenfassung er in „Positionen und Begriffe" erneut publizierte (S. 43 f.). Die „Kernfrage" stellte für ihn Art. 10 der Völkerbundsatzung: „Die Bundesmitglieder verpflichten sich, die Unversehrtheit des Gebiets ... gegen jeden äußeren Angriff zu wahren." Das Rechtsproblem war für ihn nicht, ob der territoriale Status quo, den der Versailler Vertrag geschaffen hatte, gegen gewaltsame Änderungen geschützt werden sollte; das ergab sich aus dieser Vertragsregel deutlich genug, und „daran könnte das entwaffnete und getretene Land kaum denken" 1 4 5 . Die Kernfrage war für ihn, ob über den Begriff des „echten Bundes", den er bei dieser Gelegenheit erstmals 142

C. Schmitt (FN 8), S. 100-106. Einzelheiten bei E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (FN 79), Bd. 5, Stuttgart 1978, S. 1173ff.; Bd. 7, S. 16ff. 144 Schmollers Jahrbuch, 48. Jg. (1924), H. 4, S. 1 -26; die Fundstelle ist in „Positionen und Begriffe", S. 313, mit 1925 falsch angegeben. 145 Die Kernfrage des Völkerbundes (FN 124), S. 38. 143

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entwickelte 146 , der territoriale Status quo so legitimiert werden würde, wie das durch die Heilige Allianz und den Deutschen Bund beabsichtigt und weithin gelungen war. Dann würde auch die friedliche Revision des Versailler Vertrages ausgeschlossen sein, es „würden die Grenzzerreißungen deutschen Gebietes besonders im Osten, die Abtrennung Oberschlesiens, Danzigs und des Memelgebiets, der Ausschluß vieler Millionen Deutscher von ihrem nationalen Staate, die Wegnahme der Kolonien, usw. ebenfalls unter die Garantie fallen". Konnte er sich 1926 noch nicht entschließen, die „Kernfrage" zu beantworten, weil das Kriterium des echten Bundes — die „Homogenität" der Bundesmitglieder — noch nicht zu klären war, so hatten zehn Jahre später der Austritt Japans und Deutschlands (1933), der Eintritt der Sowjetunion (1934), aber auch die Vernichtung Abessiniens — Mitglied des Völkerbundes wie Italien — die Frage endgültig beantwortet: keine Homogenität. „Dieses Kommen und Gehen erinnert eher an ein Hotel als an einen Bund oder an irgendeine dauernde politische Ordnung oder Gemeinschaft 147 ." Ein Jahr zuvor hatte die Revision des Versailler Vertrages mit der Rückkehr des Saarlandes und dem Ende der sog. Demilitarisierung des Rheinlandes begonnen. Die Aufsätze zum Völkerbund sind besonders charakteristisch für Carl Schmitts Denk- und Argumentationsweisen. Wie er hat kein Völkerrechtler seiner Zeit die machtpolitischen Interessen der Beteiligten so unbarmherzig bloßgelegt, auch das Verhältnis der Vereinigten Staaten zu Südamerika und zum europäischen Kontinent unter dem Aspekt der Herrschaft durch Intervention gewürdigt 148 . Die Beschreibung der Hegemonialmacht USA in „Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus" 149 ist 146 Näher ausgeführt zwei Jahre später in der „Verfassungslehre" (FN 78), S. 361 fT. 147 „Die siebente Wandlung des Genfer Völkerbundes", in: Deutsche Juristen-Zeitung, 41. Jg. (1936), Sp. 785 ff. = Positionen und Begriffe, Nr. 25, S. 21 Off., 211. 148 Der Völkerbund und Europa, in: Hochland, 25. Jg. (1927/28), S. 345ff. = Positionen und Begriffe, Nr. 11, S. 88-97. Das Thema „Carl Schmitt on the US in World Affairs" erörtert unter dem Obertitel „American Imperialism and International Law" kenntnisreich Gary L. Ulmen, in: Telos (New York, N. Y.) Nr. 72, 1987, S. 43-71. 149 in: Auslandsstudien (Königsberg) Bd. 8 (1933) = Positionen und Begriffe, Nr. 19, S. 162-180 (Vortrag im Jahre 1932).

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Politikwissenschaft reinsten Wassers 150 , und die Lektüre ist auch nach einem halben Jahrhundert nicht ohne Reiz und Erkenntniswert. Aber alle diese politischen Bloßstellungen und Einschätzungen der realen Lage führen nicht zum moralischen Protest, appeal to heaven oder zur Forderung einer zusätzlichen Turnstunde — Carl Schmitt fallt zurück in seine Profession und bildet mit dem neuen Rechtsbegrifif „Bund" eine Rubrik für Staatenverbindungen, um anhand dieser Konstruktion — gebildet aus historischem Material — den Völkerbund begrifflich zu erfassen. Aus dem Subsumtionsergebnis wird dann auf Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer (friedlichen) Revision des Versailler Vertrages geschlossen. Das war eine verblüffende, höchst kunstvolle und — hat man sich von seiner Verblüffung erholt — durchaus schlüssige gedankliche Operation. Man versteht, weshalb Carl Schmitt selbst in den schulmäßigen „Übungen im öffentlichen Recht" an der Universität Bonn 1924 „durch die überraschenden Abschweifungen seines Denkens, die dann ebenso überraschend in den Kern der behandelten Sache zurückführten, in Bann schlug" 1 5 1 . Gebildete und politisch kompetente Leser seiner Völkerbundsschrift, wie der bekannte Auslandskorrespondent Paul Scheffer und der Herausgeber der „Europäischen Revue", Prinz Karl Anton Rohan, waren, obgleich über den Völkerbund gegensätzlicher Ansicht, gleichermaßen fasziniert 152 . M i t „Versailles" setzte sich Carl Schmitt, was den Vertrag selbst angeht, eher moderat auseinander: „Hier soll nicht in eine 150 Ausländer, die Carl Schmitts juristische Beschäftigung mit dem deutschen Recht weniger interessiert, sehen dies deutlicher. So nannte Gianfranco Miglio ihn in seinem Vorwort zur italienischen Ausgabe einiger Schriften Carl Schmitts (1971) den „großen Alten der europäischen Politikwissenschaft", s. die Übersetzung in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 275. 151 So berichtet 62 Jahre später sein damaliger Hörer Ernst Rudolf Huber, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 34. Ernst Forsthoff ein anderer berühmter Jurist und Schmitt-Schüler, erzählte 1962, er habe die ersten vier Semester ziemlich lustlos studiert; was Rechtswissenschaft eigentlich sei, habe er blitzartig im fünften Semester begriffen, nämlich anhand eines Falles aus dem Jagdrecht, dessen Lösung Carl Schmitt in der öffentlich-rechtlichen Übung vorgeführt habe. 152 Die Briefe der Genannten vom 21.6.1926 und vom 10.5.1926 an Carl Schmitt über die „Kernfrage" hat jetzt P. Tommissen publiziert (in: Complexio Oppositorum [FN 2], S. 96 und 97).

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Kritik dieses Instruments eingetreten werden 153 ." Es kommt ihm vielmehr darauf an, die neuen Techniken hegemonialer Herrschaft zu enthüllen, als deren Folge „Worte wie Unabhängigkeit, Freiheit, Selbstbestimmung und Souveränität ihren alten Sinn verlieren" 154 . Dieser Text aus dem Jahre 1925 ist heute so aktuell wie vor 70 Jahren; er liest sich wie ein Kommentar z. B. zu den „Grundprinzipien der europäischen Sicherheit", die von der Präger Tagung des Warschauer Paktes vom 25./26.1.1972 verabschiedet wurden: Unverletzbarkeit der Grenzen, Gewaltverzicht und friedliche Koexistenz, Souveränität und Nichteinmischung, vielfaltige Beziehungen, Einstellung des Wettrüstens usw. Der Aufsatz „Der Status quo und der Friede", 1925 in der Zeitschrift „Hochland" veröffentlicht 155 , war lange Zeit beklemmend gegenwärtig. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der äußere Status quo mit dem Stichwort „Frieden" verbunden und durch KSZE-Schlußakten u. ä. Abkommen gesichert. Nicht nur aus dem Osten war zu hören: Wer „die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges", also die größte territoriale Kriegsbeute der neueren Geschichte Europas, vor allem aber die Teilung Deutschlands in Frage stelle, „gefährdet den Weltfrieden", was denn wohl bedeuten sollte, daß sich der Sieger jegliche Erörterung der Grenzen von 1945 verbat, ggf. mit seinen Panzerarmeen und Atomraketen dem Friedensstörer den Dritten Punischen Krieg zu bereiten gedachte. Durch die Verbindung von Status quo und Frieden sollten ohne Friedensvertrag aus Besatzungs- und Verwaltungsgrenzen echte Staatsgrenzen („Friedensgrenzen") werden. Wie der äußere wurde auch der innere Status quo zur Bedingung des Friedens erklärt, nämlich die Rolle der jeweiligen Führungsmacht und der ungeschmälerte Bestand des jeweiligen Lagers. 153 Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik, Flugschriften zum Rheinproblem Nr. 4, 1925 = (verkürzt) Positionen und Begriffe, Nr. 3, S. 26ff., 32. — Erst im Sommer 1945 beschäftigte er sich mit den Art. 227 ff. des Versailler Vertrages, also den Artikeln über Kriegsverbrechen und Kriegsschuld, nämlich in der im August 1945 abgeschlossenen, lange unveröffentlichten Schrift: „Das internationalrechtliche Verbrechen des Angriffskrieges und der Grundsatz ,Nullum crimen, nulla poena sine lege"4, hrsg. von H. Quaritsch, Berlin 1994. 154 Positionen und Begriffe, Nr. 3, S. 30. 155 in: Hochland, 23. Jg. (1925/26), S. 1-9 = Positionen und Begriffe, Nr. 4, S. 33-42.

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War Carl Schmitt, indem er gegen G e n f u n d Versailles rebellierte, ein nationalistischer Außenseiter? Das war er nicht. Carl Schmitts Vortrag a u f der „Jahrtausendfeier der Rheinlande" i n K ö l n am 14. A p r i l 1925 über „ D i e Rheinlande als Objekt internationaler P o l i t i k " 1 5 6 ließ der Generalsekretär der Rheinischen Zentrumspartei, W i l h e l m Hamacher, durch den Anglisten Karl Rick ins Englische übersetzen u n d m i t Leitsätzen versehen unter dem Titel „ T h e Rhinelands as an Object o f International Politics" veröffentlic h e n 1 5 7 . D i e Zentrumspartei stand i n Weimar namensgerecht i n der M i t t e des Parteienspektrums, Hamacher war kein heimlicher Rechtsabweichler. Carl Schmitt galt 1927 als politisch dem rechten Flügel des Zentrums nahe stehend. Das geht aus einem vertraulichen Schreiben hervor, das der Vorsitzende der Bonner Ortsgruppe des Zentrums, Rechtsanwalt Johannes Henry (1876-1958), am 21. Mai 1927 an den Vorsitzenden der Zentrumsfraktion im Preußischen Landtag, Dr. Joseph Heß, richtete: „Auf Veranlassung von Dr. Wester teile ich Ihnen folgendes mit. Herr Schmitt bezeichnet sich offen als Zentrumsmann, ist zweifellos ein solcher und hat auch schon in unserer Zentrumsakademikervereinigung geredet. Er gilt auch bei seinen Kollegen als ausgesprochener Zentrumsmann. Diese Stellung scheint stark weltanschaulich beeinflußt zu sein. Auf jeden Fall ist er rechtsstehend, wie sich das auch aus seinen verschiedenen Schriften ergibt. Über seine Stellung zur heutigen Staatsform konnte ich Zuverlässiges nicht erfahren. Verschiedene Studenten, die ich dieserhalb interpelliert habe (urteilsfähige junge Leute), erklärten mir, daß aus dem Kolleg darüber nichts festzustellen sei. — Soeben habe ich der Sicherheit halber noch mit Universitätsprofeßor [sie] Dr. Neuß, der Ihnen bekannt ist, gesprochen. Er verkehrt mit Schmitt. Er meinte, daß Schmitt seiner Überzeugung nach überzeugter Republikaner sei, auf keinen Fall sei er Monarchist." Der Briefschreiber schildert anschließend den fatalen Ausgang der ersten Ehe Schmitts und berichtet über die Abweisung der kirchlichen Ehescheidung in den deutschen Instanzen. „Die Sache hängt, wie mir eben Neuß sagte, augenblicklich in Rom. Zwischendurch macht der unglückliche Kunde dann die Dummheit, erneut zu heiraten, trotzdem Dechant Hinsenkamp ihn ausdrücklich verwarnt hatte. Professorenungeschicklichkeit. Alles sucht ihm zu helfen. Im übrigen ist Schmitt zweifellos eine ganz große Kanone. Hoffentlich ist Ihnen mit diesen Auskünften gedient. Mit bestem Gruße" (Stadtarchiv Bonn, Nachlaß 156 157

S. 95. 78

Vgl. FN 153. Köln 1925, s. P. Tommissen, in: Complexio Oppositorum (FN 2),

Henry; mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Herrn Kollegen Rudolf Morsey, Speyer). Mit diesem Brief war den offenbar ins Auge gefaßten Plänen einer politischen Verwendung Carl Schmitts im Rahmen des Zentrums der Boden entzogen. Dechant Hinsenkamp war Pfarrer von St. Martin, Bonn; er hatte am 5.2.1926 „als Pfarrer des Münsters" Carl Schmitt ebenso ehrerbietig wie deutlich gebeten, sich die neue Eheschließung „nochmals ernsthaft zu überlegen" (freundliche Mitteilung von Herrn Kollegen Joseph H. Kaiser, Freiburg). Der erwähnte Neuß war Dr. theol. Wilhelm N., o. Prof. für christliche Archäologie und Kunstgeschichte an der Universität Bonn, geb. 24.7.1880, gest. 31.12.1965. Neuß gehörte 1934 zu den anonymen Verfassern der katholischen „Studien zum Mythus des 20. Jahrhunderts" von Alfred Rosenberg. Dr. med. Fritz Wester, geb. 6.6.1880, war Mitglied des Preuß. Landtags. Bemerkenswert, daß ein Jurist und Zentrumspolitiker wie Henry, der die Schriften Schmitts sicher nicht nur vom Hörensagen kannte, den Autor z. B. der „Geistesgeschichtlichen Lage des Parlamentarismus" weder als Republikfeind noch als „antidemokratischen" Denker verstand, sondern bloß als „rechtsstehend", aber als „zweifellosen Zentrumsmann" beschrieb. Die Maßstäbe damals waren offenbar andere als diejenigen, die nach 1945 angelegt wurden. Henrys Bericht ist auch für Carl Schmitts Verhalten im Hörsaal aufschlußreich: Er hat in Weimarer Zeit das Katheder des Staatsrechtlers nicht zu politischen Stellungnahmen mißbraucht. Übrigens auch nicht zu konfessionellen Bekenntnissen. In der Aussprache über das Carl Schmitt-Referat des Verf. vor der rechts- und staatswissenschaftlichen Sektion der Görres-Gesellschaft am 3. Oktober 1988 in Bayreuth tadelte ein ehemaliger Hörer seiner staatsrechtlichen Vorlesung in Berlin 1940, man habe „nicht merken können, daß er katholisch war". Das halte ich allerdings für einen Vorzug.

Auch die Medien, die Carl Schmitt offenstanden, waren für extremistische Publikationen nicht bekannt. Von den 21 Vorträgen und Aufsätzen, die bis Februar 1933 erschienen waren und die in „Positionen und Begriffe" seinen „Kampf mit Weimar — Genf — Versailles" dokumentierten, waren vier im „Hochland" 1 5 8 , drei im Heidelberger „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialp o l i t i k " 1 5 9 , drei in der „Europäischen Revue" 1 6 0 und zwei in 158

Im „Hochland" waren erschienen: „Der Status quo und der Friede" (23. Jg. [1925/26], S.l-9); „Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie" (23. Jg. [1925/26], S. 257-270); „Der Völkerbund und Europa" (25. Jg. [1927/28], S. 345-354); „Der unbekannte Donoso Cortes" (27. Jg. [1929/30], T. 2, S. 491-496). 159 „Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum StaatsbegrifT (Bd. 51 [1924], S. 819-823); „Zu Friedrich Meineckes ,Idee

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„Schmollers J a h r b u c h " 1 6 1 erschienen, der Rest i n Festschriften, „Auslands-Studien", „ K a n t - S t u d i e n " u. ä. „Versailles" wurde nicht nur i n der M i t t e u n d a u f der Rechten als ungerechtes u n d revisionsbedürftiges D i k t a t der Sieger empfunden; der Sozialdemokrat Scheidemann hatte m i t seiner „verdorrten H a n d " ein geflügeltes W o r t geprägt. D e r große M a x Weber hatte seine Vorlesungen i n M ü n c h e n 1919 m i t dem politischen Bekenntnis eröffnet: „ W i r können n u r ein gemeinsames Ziel haben: aus dem Friedensvertrag einen Fetzen Papier zu machen"; das Recht a u f R e v o l u t i o n gegen die Fremdherrschaft lasse sich nicht aus der Welt schaffen 1 6 2 . Hans Kelsen bekämpfte auch rechtswissenschaftlich das Verbot des Anschlusses von Deutsch-Österreich an das Deutsche Reich i m Vertrag v o n St. G e r m a i n u n d die „Kriegsschuldlüge" des Versailler Vertrages 1 6 3 . So prinzipiell verschieden M a x Weber, Hans Kelsen u n d Carl Schmitt auch gedacht haben m ö g e n 1 6 4 : über „Versailles"

der Staatsräson*" (Bd. 56 [1926], S. 226-234); „Der Begriff des Politischen" (Bd. 58 [1927], S. 1-33). 100 „Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen" (5. Jg. [1929], Heft 8, S. 517-530. unter dem Titel: „Die europäische Kultur im Zwischenstadium der Neutralisierung"); „Die Wendung zum totalen Staat" (7. Jg. [1931], Heft 4, S. 241 -250); „Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland" (9. Jg. [1933], Heft 2, S. 65-70). 161 Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche: „Das Doppelgesicht des Genfer Völkerbundes" (48. Jg. [1924], S. 1-26); „Wesen und Werden des faschistischen Staates" (53. Jg. [1929], Heft 1, S. 107-113). 162 Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1929, 2. Aufl., Tübingen 1974, S. 344-45. - Carl Schmitt berichtete in einem Brief vom 21. August 1976: „Ich habe Max Weber damals persönlich erlebt und war sogar Mitglied seines Dozenten-Seminars Winter 1919/20: Ein Revanchist, das Radikalste von allem Revanchismus gegenüber Versailles, was ich je erlebt habe - wenigstens an starken Redensarten, neben denen auch Scheidemanns »verdorrte Hand4 harmlos klingt" (mitgeteilt von P. Tommissen, in: Complexio Oppositorum [FN 2], S. 79). 163 Hans Kelsen, Die staatsrechtliche Durchführung des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich (Wien 1927) = Zeitschrift für öffentliches Recht (Wien) Bd. 6 (1927), S. 329-352; ders., Zollunion und Völkerrecht, in: Der deutsche Volkswirt (Berlin), 5. Jg. (1931), S. 995-998; ders., Die Kriegsschuldfrage im Lichte der Rechtswissenschaft, in: Die Friedenswarte (Basel), 33. Jg. (1933), S. 1-6. 164 Zu Max Weber und Carl Schmitt vgl. G. L. Ulmen, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 341 ff.

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waren sie einer Meinung und nicht nur sie. Nicht Adolf Hitler im Zirkus Krone, sondern Konrad Adenauer formulierte als Präsident des Deutschen Katholikentages in seiner Eröffnungsansprache am 28. August 1922: „Man hat das deutsche Volk ausgehungert und zu Boden geworfen. Von dem zusammengebrochenen (Volke) hat man ein Schuldbekenntnis erpreßt, ihm Bedingungen auferlegt, die seine nationale und staatliche Existenz vernichten, seine Wirtschaft zerstören, Millionen einem langsamen Tode preisgeben, den Rest in unerträglicher Knechtschaft und Sklaverei halten. In der europäischen Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit gibt es kein Dokument, das so allen menschlichen, allen christlichen Grundsätzen hohnspricht, wie das Diktat von Versailles. Eine furchtbare Schuld, die Verantwortung für ein namenloses materielles und moralisches Elend haben seine Urheber auf sich geladen .. ," 1 6 5 .

Die Deutschen hatten auf die 14 Punkte Wilsons gesetzt und fühlten sich betrogen. Ihr Bild von einem Friedensvertrag war geprägt durch die Friedensschlüsse von 1814,1866 und 1871. Diese Frieden aber hatten die Minister gekrönter Häupter diktiert, die sich um die Leidenschaften der Völker und die öffentliche Meinung in ihren Staaten wenig zu kümmern brauchten. Die demokratischen Regierungen des Westens hingegen hatten ihre Soldaten viereinhalb Jahre in den Hunnenkrieg geführt; sie mußten den Überlebenden die Siegesbeute vorzeigen, die Verlierer als unterworfen und tributpflichtig darstellen, um sich selbst als erfolgreich und den blutigen Waffengang als sinnvoll erscheinen zu lassen. Diesen Zusammenhang und seine Zwänge sahen die Besiegten nicht, auch nicht Carl Schmitt. Es ist ihnen allerdings zuzugeben: Weshalb sollten Besiegte berücksichtigen, daß die Sieger zu Gefangenen ihrer eigenen Propaganda geworden waren? Carl Schmitt geriet also durch seinen Kampf mit Weimar—Genf — Versailles nicht in eine Außenseiterposition. Er folgte allerdings 165 Die Rede ist abgedruckt in der Dokumenten-Sammlung von Ernst Rudolf Huber /Wolfgang Huber, Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 4, Berlin 1988, S. 385. „Über die Notwendigkeit, die Revision des Friedensvertrages herbeizuführen, bestand Einmütigkeit in fast allen deutschen Lagern" (E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte [FN 76], Bd. 7, S. 19). Den Katholikentag 1922, die Einstellungen des Klerus und der Zentrumspolitiker schildert z. B. Heinrich Lutz, Demokratie im Zwielicht. Der Weg der deutschen Katholiken aus dem Kaiserreich in die Republik 1914-1925, München 1963, S. 73ff., 95ff.

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auch nicht den Standarten der „herrschenden Meinung", die Richard Thoma und Gerhard Anschütz, Rudolf Smend und Erich Kaufmann im Staatsrecht aufgerichtet hatten. Der Völkerrechtler Schmitt hätte auch als Mitarbeiter an Wehbergs „Friedenswarte" zumindest international eine bessere Presse gehabt — nein, Opportunist war er auch in Weimar nicht.

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IV. Der Konvertit 1933-1936 Wie nun spiegelt sich die Wende von 1933 in „Positionen und Begriffe" wider? Nach 1933 hatte er ca. 40 Aufsätze mit überwiegend nationalsozialistischem Inhalt verfaßt. Wer zu Wölfen reden will, muß mit den Wölfen heulen. Dieses politische Schreibwerk endete mit dem Verlust seiner amtlichen Funktionen Ende 1936. Zwischen 1937 und 1939 schrieb er — neben dem Buch über Thomas Hobbes — zwölf Abhandlungen und Aufsätze, die zumeist den äußeren Angelegenheiten gewidmet waren, darunter einen so bedeutenden Text wie „Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff" 166 . Diese Aufsätze widersprachen gewiß nicht der offiziellen deutschen Außenpolitik, sie waren aber doch auch entfernt von der NS-Polemik und Propaganda, die in seinen Aufsätzen zwischen 1933 und 1936 häufig anzutreffen waren. Aus der umfangreichen Produktion der Jahre 1933-1936 übernahm Carl Schmitt in „Positionen und Begriffe" sechs Aufsätze, von denen eigentlich nur zwei in den „Kampf mit Weimar — Genf — Versailles" hineinpaßten 167 . Zwei hatten einen allgemeinen staatsrechtlichen Inhalt 1 6 8 , und einer beschäftigte sich mit der 166 1. Aufl., München 1938, 2. Aufl., Berlin 1988. - Zur Periodik der Schriften Schmitts und ihren leitenden Ideen s. den Versuch Hasso Hofmanns (FN 57), S. 5 f.; neuerlich Manfred Lauermann, in: Hansen/Lietzmann (FN 32), S. 37, 46 ff. 167 „Über die innere Logik der Allgemeinpakte auf gegenseitigen Beistand", zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift „Völkerbund und Völkerrecht", 2. Jg. (1935/36), S. 92-98 = Positionen und Begriffe, Nr. 24, S. 204209; „Die siebente Wandlung des Genfer Völkerbundes", in: Deutsche Juristen-Zeitung v. 1.7.1936, 41. Jg., Sp. 785-789 = Positionen und Begriffe, Nr. 25, S. 210-213. 168 Die Kölner Antrittsvorlesung „Reich — Staat — Bund" am 20. Juni 1933, zuerst veröffentlicht in: Positionen und Begriffe, Nr. 22, S. 190-198; „Vergleichender Überblick über die neueste Entwicklung des Problems der gesetzgeberischen Ermächtigungen; »Legislative Delegationen4", Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Bd. 6 (1936), S. 252268 = Positionen und Begriffe, Nr. 26, S. 214-228; vgl. auch ebenda, S. 316: „Eine französische Übersetzung ist in den ,Melanges Edouard Lambert4 unter dem Titel Revolution recente du probleme des delegations legislatives4, Lyon 1938, erschienen.44

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Frage, wie denn das 1935 neu eingerichtete Lehrfach „Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit" behandelt werden solle 169 . Noch weniger paßte zu „Weimar — Genf — Versailles" der unter Nr. 23 wiedergegebene berüchtigte Aufsatz, der die Erschießung Röhms und anderer SA-Führer Ende Juni 1934 rechtfertigen sollte: „Der Führer schützt das Recht!" 1 7 0 . Mit ihm hatte Carl Schmitt gezeigt, wie sich ein Autor schon durch die Überschrift eines einzigen Aufsatzes automatische Verdammnis zuziehen kann, nur weil ihm seine Neigung zum dramatischen Ausdruck verbot, diese Darlegungen juristisch ordinär mit „Probleme des Gesetzes über Maßnahmen der Staatsnotwehr vom 3. Juli 1934" zu überschreiben. Dieser Aufsatz wirft zwei Fragen auf: (1) Weshalb hat Carl Schmitt ihn 1934 geschrieben? (2) Weshalb ließ er diesen Aufsatz 1940 erneut drucken? Beginnen wir mit der zweiten Frage. Carl Schmitt hat diesen Aufsatz nicht repetiert, weil er zum Thema seiner Sammlung gehörte oder weil er ihn rechtswissenschaftlich für bedeutsam hielt; so viel Selbstkritik dürfen wir ihm unterstellen. Vermutlich sah er für den Neudruck zwei Gründe. Mit diesem Aufsatz rechtfertigte er als einziger Rechtswissenschaftler von Rang eine Tat, die juristisch nicht zu rechtfertigen war. Er hatte sich öffentlich zu Hitlers Mordbefehlen bekannt, als alle anderen Lehrstuhlinhaber schwiegen. Das war sein Alibi, das er 1940 jenen Nationalsozialisten entgegenhielt, die ihn 1936, 1937 und 1939 als Ultramontanen und Judenfreund angegriffen hatten. Über „Nationalsozialismus und Rechtsstaat" und „Nationalsozialistisches Rechtsdenken" — zwei weitere Aufsätze des Jahres 1934 171 — hatten auch andere Juristen geschrieben. Der Aufsatz zur „RöhmAffare" konnte an Regimetreue nicht überboten werden. Zu überbieten war der Aufsatz von 1934 nur durch sein Referat (Einleitung und Schlußwort) über „Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist", das er im Oktober 169 „Über die neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte", Jahrbuch der Akademie für Deutsches Recht, 3. Jg. (1936), S. 10-15 = Positionen und Begriffe, Nr. 27, S. 229-234. 170 Deutsche Juristen-Zeitung v. 1.8.1934, 39. Jg., Sp. 945-950 = Positionen und Begriffe, Nr. 23, S. 199-203. 171 „Nationalsozialismus und Rechtsstaat", Deutsche Verwaltung 1934, S. 35-42 = Juristische Wochenschrift 1934, S. 713-718; „Nationalsozialistisches Rechtsdenken", in: Deutsches Recht, 4. Jg. (1934), S. 225-229.

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1936 auf der Tagung der „Reichsgruppe Hochschullehrer" i m „ N S Rechtswahrerbund" gehalten h a t t e 1 7 2 . A b e r gerade diesen Aufsatz n a h m Carl Schmitt nicht i n „Positionen u n d Begriffe" auf. Weshalb also fehlte das „Juden-Referat"? Es umschrieb i n dieser Fassung keine wirkliche Position Schmitts, bildete vielmehr — das vermutete schon der S D — ein Instrument i m K a m p f u m M a c h t u n d Einfluß, das obsolet geworden war, nachdem er diesen K a m p f verloren h a t t e 1 7 3 . A b e r n u r die Sprache u n d die Maßlosigkeit der Forderungen waren dem damals üblichen Stil angepaßt. Carl Schmitt ist i n den 30er Jahren Antisemit aus Überzeugung gewesen. D a f ü r gibt es nicht nur gedruckte Zeugnisse 1 7 4 . Die Gründe dieser Verirrung sind heute schwer auszumachen, zumal ihn gegen diesen W a h n seine guten persönlichen Beziehungen u n d Freundschaften v o n Fritz Eisler bis O t t o Kirchheimer eigentlich hätten immunisieren m ü s s e n 1 7 5 . V o r Ansteckung durch ideologische Epidemien sind 172

Deutsche Juristen-Zeitung, 41. Jg. (1936), Sp. 1193-1199; über die (relativ schwach besuchte) Tagung selbst s. Horst Göppinger jJohann Georg Reißmüller, Die Verfolgung der Juristen jüdischer Abstammung durch den Nationalsozialismus, Villingen 1963, S. 72-85; vgl. auch Horst Göppinger, Juristen jüdischer Abstammung im „Dritten Reich", 2. Aufl., München 1990, S. 153 ff. 173

Einen nur instrumentalen (opportunistischen) Charakter unterstellen J. W. Bendersky ( F N 8), S. 234, und B. Rüthers (FN 48), S. 138. Für die Veranstaltung wie für Form und Inhalt seiner Ansprachen wird diese Annahme zutreffen. Die SS vermerkte am 7.9.1936: „Die Judenfrage auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft ist in Deutschland erledigt. Die maßgeblichen Vertreter sind von den Lehrstühlen entfernt. Wenn Schmitt jetzt eine derartige Tagung aufzieht, so hat das 2 Gründe: 1) nur von dem Gegner, der gefahrlich ist, nämlich der Kirche, abzulenken und auf ein Gebiet hinzulenken, wo der Nationalsozialismus sowieso schon gesiegt hat, 2) sich nationalsozialistisch zu rehabilitieren. In den letzten Wochen hat Schmitt derartig schwere Fehler gemacht, dass er eine solche Rehabilitierung unbedingt braucht" (SD-Akte, S. 47). 174 Vgl. die Berichte von N. Sombart (FN 47), S. 259-266; Jacob Taubes, Ad Carl Schmitt - Gegenstrebige Fügung, Berlin 1987, S. 25; Ernst Hüsmert, Die letzten Jahre von Carl Schmitt, in: P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana 1 (FN 19), S. 49. 175 Die SD-Akte ( F N 8, S. 186-194) berichtet über Schmitts Beziehungen zu Erich Kaufmann (ausführlich), Moritz Julius Bonn, Franz Blei, Waldemar Gurian, Otto Kirchheimer, Ludwig Feuchtwanger (Duncker & Humblot), Eduard Rosenbaum, Direktor der Commerzbibliothek Hamburg, Gerhard Lassar, Hermann Heller, Ernst Landsberg, zitiert aus seiner Schrift über Hugo Preuss und schließt daraus, er sei gar kein Antisemit:

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offenbar auch Menschen m i t den Erfahrungen u n d Denker v o m Range Schmitts nicht gefeit. Carl Schmitts tatsächlicher A n t i j u daismus war nicht eigentlich nationalsozialistischer Provenienz, also nicht „rassisch" v e r w u r z e l t 1 7 6 , hatte auch nichts zu t u n m i t „ H a ß u n d N e i d " auf Größe u n d M a c h t des israelischen Gottesvolkes, wie Jacob Taubes unterstellte 1 7 7 . Vielleicht erinnerte er sich der alten christlichen E m p ö r u n g über das V o l k , das sich v o n Anfang an mehrheitlich der Erkenntnis verschloß, „ t h a t Jesus is the C h r i s t " 1 7 8 . Das wäre traditionsgeschichtlich nicht originell, i n den 30er Jahren aber ein Außenseitermotiv gewesen. A r t u n d I n h a l t seiner späteren einschlägigen Behauptungen u n d D a r l e g u n g e n 1 7 9 deuten eher „Carl Schmitt hat sich der jeweiligen Lage in einer Weise angepasst, wie sie charakterloser nicht gedacht werden kann" (S. 194). 176 „Die ganze Romantik der Rassenlehren beruht auf ähnlichen, namentlich morphologischen Spekulationen, und Leute, die sich Realpolitiker zu nennen lieben, machen naturwissenschaftliche, angeblich exakte Rassenunterschiede geltend, während sie im Grunde nur moralische Deutungen meinen. Selbst der Gegensatz von Kreis und Ellipse ist noch nicht vergessen; er hat in der Vergleichung von Lang- und Rundschädeln, Dolicho- und Brachycepilalen, eine noch ziemlich intensive Fortexistenz" (Theodor Däublers Nordlicht, München 1916, S. 14). Schmitt hat nach 1933 das Bekenntnis zu den biologischen Rassenlehren vermieden, indem er von „Artgleichheit" sprach, ein Terminus, der mehrere Deutungen zuließ. 177 F N 174, S. 25, mit der weiteren, für einen Katholiken von der Art Schmitts ganz abwegigen Annahme, Schmitt habe Christentum als „Judentum für die Völker" begriffen, eine Formulierung Disraelis („Tancred"), den er als Politiker bewunderte, dem er aber im übrigen außerordentlich kritisch gegenüberstand; vgl. etwa „Land und Meer", 3. Aufl., KölnLövenich 1981, S. 95, mit der überdeutlichen Verweisung auf S. 17 (2. Aufl., Stuttgart 1954, S. 56 m. S. 8/9). Zu Schmitts Disraeli-Verständnis N. Sombart (FN 47), S. 261 ff. 178 Heinrich Meier, dem ich den Hinweis auf die Interpretation von Jacob Taubes danke, hat in diesem Sinne die Texte angeführt, in denen sich Schmitt auf diesen Satz des Th. Hobbes beruft (s. dens. [FN 41], S. 90 Anm. 101). 179 Leviathan (1938), S. 86ff. (Spinoza), S. 106ff. (F. J. Stahl); vgl. dazu G. Maschke in der Ausgabe von 1982 (FN 8), S. 207-212; außerdem: Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte, 1939, S. 13 F N 3; in der 4. Aufl. 1941 ist dieser Text gestrichen, weil übernommen in den Aufsatz: „Der neue Raumbegriff in der Rechtswissenschaft", in: Raumforschung und Raumplanung, 1940, S. 441. Nachdem der Aufsatz als eigenes Kapitel unter dem Titel „Der Raumbegriff in der Rechtswissenschaft" in die 4. Aufl. der „Großraumordnung" übernommen worden war, findet sich dort die inkriminierte Stelle auf S. 63.

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darauf hin, daß er A n f a n g der 30er Jahre v o n einer antijüdischen Spielart des französischen Rechtskatholizismus erfaßt worden w a r 1 8 0 . Wie dem auch sei: 1939 w i r d Schmitt erkannt haben, daß er m i t seinen Referaten v o n 1936 „ z u w e i t " gegangen war, u m es euphemistisch zu formulieren. Tagung u n d Referat hatten i h n einigen seiner bekanntesten u n d nächsten Schüler e n t f r e m d e t 1 8 1 . I n der sog. Reichskristallnacht zwei Jahre später hatte die SA nicht nur fast 200 Synagogen angezündet u n d 7.500 Geschäfte demoliert, es waren auch 91 Juden ums Leben g e k o m m e n 1 8 2 ; Freund Popitz hatte deswegen (vergeblich) seinen R ü c k t r i t t eingereicht. Der Pogrom mußte selbst dem gutgläubig-optimistischen Beobachter gezeigt haben, welch 4 tödliches Potential der offizielle Antisemitismus i n sich barg. - Drei Jahre später spricht Schmitt die Folgen der Judenvertreibung für das geistige Leben i n Deutschland an. I n einem Brief an Erwin von Beckerath v o m 7. Juni 1941 beklagt er sich über die „deprimierende Povertät" der Reden, die bei der Trauerfeier für Werner Sombart gehalten worden waren. Er setzt hinzu: „Müssen wir auch diese Standespflicht emigrierten Juden überlassen? Oder Amerikanern? Ist es schon soweit, daß man sich an den Satz Franz von Baaders aus dem Jahre 1820 erinnert: Die Exkommunikation der Intelligenz, die einige servile Narren heute (1820!) fordern, wird mit der Exkommunikation aus der Intelligenz beantwortet werden" 183 . 180 Günther Krauss (Criticön Nr. 96, 1986, S. 181) vermutete, für Schmitts Antisemitismus könne ursächlich gewesen sein das Buch des von ihm geschätzten Georges Bernanos (1888-1958), La grande peur des bien-pensants (zuerst Paris 1931, selbständig zuletzt 1969), eine Biographie seines geistigen Ziehvaters, des französischen Antisemiten Edouard Drumont (1844-1917), Verfasser von „La France Juive", 1886, und „La fin d'un monde", 1889; von ihm ist Bernanos 1938 abgerückt („Les cimetieres sous la lune"). Bernanos kam aus der Action Fran9aise, aber auch Drumont gehörte zur katholischen Rechten. Jedenfalls hat Schmitt „La grande peur" gelesen (Mitteilung P. Tommissen, Schmittiana II [FN 40], S. 104 F N 12), die deutsche Übersetzung von Drumont, „La France Juive" (Das verjudete Frankreich. Versuch einer Tagesgeschichte) war 1889 in 6., 1894 in 7. Aufl. bei Deubner, Berlin, in zwei Teilen von insgesamt 884 S. erschienen. Eine „Volksausgabe" von 424 S. befindet sich mit einigen Anstreichungen in der nachgelassenen Bibliothek Schmitts. 181 Der Bruch mit Ernst Forsthoff, über den auch B. Rüthers (FN 47), S. 139, berichtet, dauerte allerdings nur bis zum Kriegsende. 182 s. Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich, München 1988, S. 485; ausführlich jetzt Hans-Jürgen Döscher, „Reichskristallnacht" — Die Novemberpogrome 1938, Berlin 1988.

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Das war anno 1941 ziemlich unvorsichtig formuliert, eine grimmige Reverenz gegenüber der jüdischen Emigration und eine unbewußt hellsichtige Vorwegnahme des eigenen Schicksals. Der Aufsatz zur Röhm-Affäre hatte in den Augen Schmitts einen weiteren Vorzug. Carl Schmitt hatte nicht nur die Ermordung der SA-Führer gerechtfertigt. Er war auch der einzige deutsche Rechtswissenschaftler gewesen, der öffentlich — und festgehalten in der Deutschen Juristen-Zeitung — eine „besonders strenge Strafverfolgung" derjenigen gefordert hatte, die bei dieser „Gelegenheit" in „Sonderaktionen" alte und neue Rechnungen beglichen, indem sie u. a. den katholischen Konservativen Erich Klausener und den Jungkonservativen Edgar Julius Jung 1 8 4 umbrachten 185 . Schmitt berief sich dabei auf Presse-Erklärungen Görings und Gürtners, die diese Taten aber gar nicht gemeint hatten 186 . Aus dem betroffenen Personenkreis hob Schmitt die „Unterführer" hervor, deren „Treuebruch der Führer gesühnt" habe. Schleicher und den Generalmajor v. Bredow, die Hitler in seiner Reichstagsrede ausdrücklich des Hoch- und Landesverrats bezichtigt hatte, erwähnte er nicht einmal andeutungsweise. Die Leser seines Aufsatzes konnten annehmen, Schmitt rechtfertige zwar die Ermordung der SA-Führer, verlange aber die „besonders strenge Strafverfolgung" derer, die außerhalb dieses Personenkreises gemordet hatten 1 8 7 . Die Auskunft Schmitts, er habe den Aufsatz geschrieben auf 183 Abgedruckt von P. Tommissen, in: Liber memorialis, Tien Jaar. Economische Hogeschool Limburg 1979, S. 184/85. Über die Beziehungen Schmitts zum Hause W. Sombarts vgl. N. Sombart (FN 47 a. E.), S. 248 ff. 184 Zu Jung s. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (FN 76), Bd. 6, Stuttgart 1981, S. 172 m. FN 20; Bd. 7, S. 463; Armin Möhler, Die konservative Revolution, 3. Aufl., Darmstadt 1989, S.412f.; Karlheinz Weißmann, Criticon Nr. 104 [1987], S. 245ff. 185 Die amtliche Totenliste zum 30. Juni — 3. Juli 1934 umfaßt 83 Namen, von denen 57 mit SA, SS (5) und HJ (1) verbunden waren (vgl. Heinrich Bennecke, Die Reichswehr und der „Röhm-Putsch", München 1964, S. 87/88). 186 Gemeint waren „wilde" Aktionen in Schlesien, vgl. L. Gruchmann (FN 182), S. 457, 459 ff. 187 Es versteht sich fast von selbst, daß der Staatssekretär im Reichs- und Preuß. Justizministerium, Roland Freister, in seinen RechtfertigungsAufsätzen und -Reden die Erklärungen Görings und Gürtners und die Forderung Carl Schmitts gänzlich ignorierte, vgl. R. Freister, Des Führers Tat und unsere Pflicht, in: Deutsche Justiz 1934, S. 850-851, sowie der

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Veranlassung des damaligen Reichswehrministers Blomberg und eines Vetters des ermordeten v. Bredow, u m öffentlich die Rehabilitierung Schleichers u n d v. Bredows zu fordern, ist daher nicht ohne weiteres als nachträgliche, aber unglaubwürdige Rechtfertigung abzuweisen 1 8 8 . Carl Schmitt w i l l den A r t i k e l nach langen Gesprächen m i t P o p i t z 1 8 9 auch geschrieben haben, u m die alleinige Verantwortung Hitlers festzunageln; daher auch die Abweisung der „nachträglich zu legalisierenden u n d indemnitätsbedürftigen Maßnahme des Bericht über einen Vortrag Freislers in der Deutschen Hochschule für Politik am 29.5.1935 über „Staatsnotwehr im Lichte des Nationalsozialismus" (Deutsche Justiz 1935, S. 856-57). 188 Die Aussage Carl Schmitts ist überliefert durch Hans Dietrich Sander, der zugleich erinnert an den Nachruf Georg Lukäcs' auf Gorki im Jahr der „Säuberung" 1936, in dem Lukäcs (ebenso vergeblich) die „Stalinsche Sorge um den Menschen" gegen jede Form der Barbarei anrief (DeutschlandArchiv 8/1968, S. 826). Über die Beziehungen Carl Schmitts zur Reichswehr vgl. auch R. Schnur (FN 24). 189 Johannes Popitz (1884-1945), bedeutender Steuerrechtler und Finanzwissenschaftler, Muster des hochgebildeten Angehörigen der Ministerialbürokratie, 1922 Hon.-Professor in Berlin, Dozent an der Handelshochschule, 1925 -1929 Staatssekretär im Reichsfinanzministerium, seit Oktober 1932 Reichsminister unter v. Papen u. Schleicher, 1933 Preußischer Staatsrat und Finanzminister unter Göring, 1932-1944 Mitglied der „Mittwochs-Gesellschaft", seit 1939 im Zentrum des Widerstandes, am 21. Juli 1944 verhaftet, am 3. Oktober 1944 zum Tode verurteilt, am 2. Februar 1945 in Plötzensee hingerichtet; vgl. Gerhard Schulz u. Johanna Bödeker, in: Der Staat Bd. 24 (1985), S. 485 - 511, 513 - 525 m. weiteren Nachweisen. Die persönlichen Beziehungen zu C. Schmitt und die enge Verschränkung ihrer Anschauungen erörtert Lutz-Arwed Bentin, Johannes Popitz und Carl Schmitt, München 1972, bes. S. 123 ff. Aufschlußreich auch sein Bericht, daß Carl Schmitt zum Initiator einer Popitz-Festschrift wurde, die 1944 zu dessen 60. Geburtstag herausgebracht werden sollte, und deren Vorbereitung (die vor allem Werner Weber anvertraut war) auch nicht nach Popitz4 Verhaftung abgebrochen wurde (S. 128). Popitz4 Tochter Cornelia berichtete im Jahre 1946: „Mein Vater hielt Carl Schmitt für einen Menschen, der im tiefsten ohne politischen Instinkt ist und realpolitischen Fragen daher immer fremd gegenüberstehen würde, der aber vor allem aus moralischen Gründen das damalige System auf jeden Fall ablehnte. In Carl Schmitts Haus wurde daher völlig offen über alle politischen Fragen gesprochen, und Carl Schmitt äußerte sich ganz klar über die Notwendigkeit einer Änderung, wenn er auch seiner Art nach keinen aktiven Weg sah. Nach der Verhaftung meines Vaters zeigte sich Professor Schmitt als echter Freund trotz eigener Gefahrdung. Er unterstützte meinen Vater regelmäßig mit Lebensmitteln und half mir bei allen Schwierigkeiten im Hause44 (S. 128). 89

Belagerungszustandes". Er wiederholte Hitlers Verantwortungsbekenntnis 190 und beschrieb die Mord-Aktion als „echte Gerichtsbarkeit" und „höchste Justiz" 1 9 1 . Gegen diese Selbst-Interpretation ist freilich einzuwenden: A n der alleinigen Verantwortung Hitlers bestand überhaupt kein Zweifel, nachdem dieser selbst sich vor dem Reichstag und aller Welt so deutlich zu seiner „Verantwortung" bekannt hatte. Glaubte Schmitt, ein Aufsatz aus seiner Feder — dazu mit diesem Inhalt — müsse noch hinzutreten, so überschätzten er und Popitz die Bedeutung professoraler Texte. Er überschätzte aber auch die Lesefahigkeit seiner und der nachgeborenen Zeitgenossen, wenn er die provokative Überschrift seines Aufsatzes auch als Appell an Hitler verstanden wissen wollte, „jetzt Träger und Beschützer des Rechts zu sein und die erreichte politische Einheit im Innern zu sichern" 192 . Carl Schmitt mag während der Röhm-Aktionen vom 30. Juni bis zum 3. Juli 1934 um sein Leben gefürchtet haben 193 . Die Morde an Schleicher und v. Bredow wie die an Jung und Klausener zielten auf Positionen, die 18 Monate vorher Schmitt selbst besetzt hatte; auch der Name Gregor Strasser gehört hierher, denn ihm war in Schleichers „Querfront-Plan" eine v/ichtige Rolle zugedacht. Diese Furcht war nicht unbegründet, denn Carl Schmitts Anteil an den vor allem gegen die NSDAP gerichteten Notstandsplänen des Reichswehrministeriums vom Spätsommer 1932 bis zum Januar 1933 194 war den Nationalsozialisten nicht verborgen geblieben 195 . Die Schußrich190 „In dieser Stunde war ich verantwortlich für das Schicksal der deutschen Nation und damit des deutschen Volkes oberster Gerichtsherr" (Positionen und Begriffe, Nr. 23, S. 200). 191 Carl Schmitt stand hier im Gegensatz zum Reichsjustizministerium unter Gürtner, das er (wie auch sonst bis 1936) nationalsozialistisch zu überholen suchte, s. L. Gruchmann (FN 182), S.453f. 192 G. Maschke (FN 55), S. 73. 193 J. W. Bendersky (FN 8), S.212f. Kurz nach den Ereignissen berichtete Schmitt seinem flämischen Interpreten Victor Leemans: „Ich hatte Angst" (Mitteilung Leemans gegenüber seinem Landsmann Piet Tommissen). 194 s. vorn bei F N 75. Zum letzten Weimarer Kabinett unter Reichskanzler Schleicher und dessen Querfront-Plan s. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte ( F N 78), Bd. 7, S. 1158 f., 1162ff. u. 1274. FriedrichKarl von Plehwe, Reichskanzler Kurt von Schleicher, Esslingen 1983, S. 243 ff. 195 Die in der 1. Auflage geäußerte gegenteilige Vermutung ist so nicht aufrechtzuerhalten; die SD-Akte verweist auf Schmitts „private Arbeiten

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tungen mußten Schmitt auch klarmachen, wie verhaßt und immer noch gefürchtet seine einstige Position den Nationalsozialisten war. Wohl deshalb fühlte er sich zu einer außerordentlichen Loyalitätsbekundung veranlaßt, die andere Professoren gar nicht nötig hatten, weil von ihnen keiner so mit den Regierungen Papen und Schleicher gegen die NSDAP gearbeitet hatte wie gerade Schmitt 1 9 6 . Der Hauptschlag hatte sich gegen die SA-Führung gerichtet. Schmitt stand auf der Seite der Reichswehr und des Staates; die Ausschaltung der Bürgerkriegsarmee Röhms hat er sicherlich begrüßt 197 . Nur: Wurde die „zweite Revolution" durch Erschießung der SA-Führer verhindert 198 und wollte man deshalb das Ergebnis politisch billigen, dann waren doch die Mittel juristisch nicht zu rechtfertigen. Revolutionäre Gruppen mögen den Kampf um Macht und Überleben häufig oder immer so austragen, nämlich extra legem, mit Genickschuß und Peleton. Hier aber hört das Staatsrecht wirklich auf. Der Revolution, die ihre Kinder frißt, darf der Jurist in einer „Juristen-Zeitung" keinen guten Appetit wünschen; das verstößt seit Papinian gegen die Zunftregeln 199 . 1932, die sich mit der Möglichkeit eines Putsches der Wehrmacht und dem alten Regime befaßten" (S. 202 und 225). Diese im Dezember 1936 getroffene Feststellung kann der SS bereits im Sommer 1934 bekannt gewesen sein. 196 Vgl. E. R. Huber, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 33, 39 ff. 197 Damals wußte er wohl nicht, daß Röhm und die SA-Führer Opfer einer machiavellistischen Kabale geworden waren, an der sich Angehörige der Reichswehr (v. Reichenau) kräftig beteiligt hatten, s. Immo v. Fallois, Kalkül und Illusion. Der Machtkampf zwischen Reichswehr und SA, Berlin 1994. — In der Untergrundliteratur wurde Schmitts Position anhand einer ausführlichen Exegese seiner 1934 erschienenen Schrift „Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches" so bestimmt: „Schmitt schwört jedenfalls auf die Reichswehr und die Militärdiktatur" („Deutschland-Berichte" der SPD, Juli/August 1934, B 21 [FN 56], S. 367). 198 Hierzu Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 Nationalsozialismus und Bolschewismus, Frankfurt/M. 1987, S. 225ff. 199 Jean Bodin, dessen Denken Carl Schmitt sich brüderlich verwandt fühlte (Ex Captivitate Salus [FN 98], S. 64), erörterte das Tyrannenproblem einmal unter ausschließlich juristischen Gesichtspunkten, also töteten Brutus und Cassius berechtigterweise einen Tyrannen ex defectu tituli (Six livres de la Republique, Paris 1583, II 5, S. 299). An anderer Stelle urteilte der politische Historiker Bodin: In dieser Perspektive war Caesar der

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Zur ersten Frage: Weshalb hatte sich Carl Schmitt in eine Lage gebracht, die es ihm geraten sein ließ, über den Führer zu schreiben, „der das Recht schützt"? Ich schicke dieser Frage eine gleichsam methodische Bemerkung vorweg. Es haben sich in Frühjahr und Sommer 1933 viele Berühmtheiten und ausgezeichnete Gelehrte freiwillig zur neuen Regierung bekannt, die Namen Benn und Freyer, Heidegger und Schmitt stehen pars pro toto. Auf dieses Bekenntnis wird gemeinhin und seit über 50 Jahren mit der entrüsteten Frage reagiert: „Wie konnte das geschehen?"200. Erklärungsversuche der Betroffenen werden so kommentiert, als entschuldigte ein Oberlandesgerichtspräsident seinen Ladendiebstahl mit dem Mundraub-Paragraphen. Klassengeprägte Fehlhaltungen, geistige Mängel oder moralische Defekte werden vermutet, psychoanalytische Erwägungen über die Folgen kleinbürgerlicher oder ländlicher Herkunft angestellt, um Geist und Seele derjenigen auszuloten, die einer Gangsterbande zujubelten, ihre Verbrechen unterstützten und rechtfertigten. Diese Sicht ist der Lage der 30er Jahre in Deutschland unangemessen. Sie unterstellt, jeder anständige und halbwegs intelligente Mensch habe erkennen müssen, ein wie einmalig verbrecherisches Regime im Frühjahr 1933 in die Reichskanzlei einzog. Damit wird die Verweigerung derjenigen, die aus freien Stücken Nein sagten und bei ihrem Nein blieben, zur normalen, weil politisch wie moralisch selbstverständlichen Verhaltensweise erklärt (und so zugleich unterbewertet). Auf Nachsicht wegen menschlicher Schwäche können allenfalls jene rechnen, die das notwendige Minimum an Hakenkreuz-Loyalität zur Existenz- und Laufbahnsicherung bekundeten. bedeutendste Herrscher, von dem die Geschichte weiß; er wurde grausam von Verschwörern ermordet (ebenda, IV 1, S. 520). Im einzelnen zu den verschiedenen Betrachtungsweisen Bodins s. Helmut Quaritsch, in: Roman Schnur (Hrsg.), Staatsräson, Berlin 1975, S.43, 56 ff. 200 Zuletzt z. B. B. Rüthers (FN 48), S. 15 u. passim. Weniger selbstsicher hat diese Frage Jacob Taubes formuliert: „Irgendetwas verstehe ich von dem Nationalsozialismus nicht, wenn ich nicht verstehen kann, wieso Schmitt und Heidegger von ihm überhaupt angezogen wurden" (J. Taubes [FN 174], S. 48). - Die professionelle Zeitgeschichtsschreibung ist über diese Fragestellung längst hinaus, ihre nüchterne Arbeitsweise ist aber von den Nachbarwissenschaften wie von der Öffentlichkeit noch nicht rezipiert worden. Die folgenden Bemerkungen richten sich gegen die dort üblichen Schablonen.

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Die Prämisse ist falsch, sie ü b e r n i m m t die Seh weise der 1933 Verfolgten, also der politischen u n d intellektuellen Führungsschicht der Weimarer Republik u n d vornehmlich der Gruppen, die der NS-Staat als „ M a r x i s t e n u n d Juden" bezeichnete u n d ohne {Collaborations- oder Duldungschance zu Feinden erklärte. Die Verfolgten-Perspektive ist zwar zugleich die offizielle Auffassung der Bundesrepublik, die sich seit ihrer Entstehung i m ideologischen Kriegszustand m i t dem D r i t t e n Reich befindet. Dieser K r i e g m i t der Vergangenheit u n d seine Dauer hat einsehbare Ursachen, aber v o n i h m ist ein ausgeleuchtetes geschichtliches Panorama nicht zu erwarten — K r i e g ist eine schlechte Flugzeit für die Eule der Minerva201. I n dieser Situation ist kein R a u m für Apologie. Wie es nicht mehr u m Anklageschriften gehen kann, so nicht u m Plädoyers zugunsten eines Schuldigen. Es geht vielmehr u m den A b l a u f u n d die Ursachenzusammenhänge, u m das Verstehen u n d die individualisierende Analyse, i n der die Handelnden selbst zu Worte kommen, ohne daß ihnen ein ungeduldiger Staatsanwalt ständig über den M u n d fahrt. D i e methodischen Postulate des Historismus gelten 201

An der Allegorie möchte ich trotz der Einwände von B. Rüthers (Carl Schmitt im Dritten Reich, 2. Aufl., München 1990, S. 143) festhalten, wird sie doch von Rüthers eifernder Argumentation durchgehend gestützt. Zu verweisen ist beispielhaft auf seine Behauptungen, Schmitts Freund-Feind-Definition habe den Genocid billigend eingeschlossen (S. 133, 136), oder das „Dritte Reich" habe „mit begeisterter Unterstützung zahlreicher führender Wissenschaftler" den „Völkermord zum Staatsziel" erhoben (S. 143). Was Schmitt und andere führende Wissenschaftler seit dem Frühjahr 1933 äußerten und publizierten, war eigentlich schlimm genug, man muß ihnen (und mit dem „Staatsziel" allen Deutschen) nicht auch noch Kenntnis und Förderung des ungeheuerlichen „scelus infandum" (C. Schmitt, Das internationalrechtliche Verbrechen des Angriffskrieges [FN 153], S. 16, 86 ff.) zuschreiben, das zu den gehüteten Geheimnissen der NS-Gewaltherrschaft in Polen und Rußland gehörte. Solche und andere Ausführungen sind eigentlich nur als „politisch-moralisches Integrationsritual" verständlich, wie Vilmos Holczhauser formuliert, der als Ausländer die politischen Bedingtheiten bestimmter Teile der Schmitt-Literatur distanzierter und daher schärfer sieht: „In Sachen Carl Schmitt kann man kaum Irrtümer begehen, die einen professionell disqualifizieren würden — solange man nur demaskiert, verurteilt, warnt. Alle Vorsichten, privaten oder institutionalisierten Kontrollmechanismen, die sonst leidlich funktionieren, werden im Falle Carl Schmitts außer Kraft gesetzt" (Konsens und Konflikt [FN 120], S. 259). 93

indes bei tonangebenden Geschichtsschreibern als überholt und gestrig 202 . Ein solches Verdikt überrascht nicht, es ist notwendige Voraussetzung für die (nachträgliche) Teilnahme des Historikers am ideologischen Krieg der politischen Systeme. Wer nämlich jene Postulate ernst nimmt, neutralisiert die eigene Position und fallt als Kampfgenosse aus. Die deutsche Geschichte 1933 -1945 wird auf das Erlebnis der Verfolgten dieser Zeit reduziert: bedrückend, fremd, kriminell. Nationalsozialisten und ihre Anhänger als Träger dieser abartigen Herrschaft müssen also dumm oder böse gewesen sein. Entsetzen und Ratlosigkeit folgen, wenn unzweifelhaft bedeutende und integre Persönlichkeiten als jahrelange Anhänger des Nationalsozialismus entdeckt werden. Die Reaktionen sind verschieden: Maler und Musiker sind als politische Träumer entschuldigt. Die akademischen Spitzenbegabungen der Kieler Juristenfakultät z. B., aber auch Ernst Forsthoff \ Ulrich Scheuner und'andere Fixsterne am Wissenschaftshimmel der Bundesrepublik, zählten 1933 noch keine 40 Jahre, sie werden zwar getadelt, aber als damals politisch unreife Pimpfe mit Nachsicht behandelt. Aber Heidegger, Freyer und vor allem Schmitt, der große politische Analytiker? Damit das Geschichtsbild wieder stimmt, wird entweder angenommen, sie seien gar keine richtigen Anhänger des Nationalsozialismus gewesen, was mit nichtöffentlichen Äußerungen von Unmut und Verdrossenheit gegenüber Regime und Ideologie dokumentiert wird, die jeder zweite Kreisleiter ebenso vorweisen könnte. Oder es werden die berühmten Wissenschaftler als Schaumschläger oder Betrüger entlarvt: „Selten hat ein Jurist die Rechtswissenschaft so gehaßt, wie dieser Professor der Rechte" (Hans Mayer über Schmitt, Anwaltsblatt 1988, S. 3; im Text hervorgehoben). Hinzu treten die Eitelkeiten und Konkurrenzen des akademischen Betriebes. Wer das große Licht verdunkelt, läßt die kleinen Lichter heller strahlen. Die Fußnoten sind nicht zu zählen, in denen Doktoranden und Habilitanden Carl Schmitt den Eselstritt versetzten. Das wissenschaftliche und moralische debunking verkennt die Eigenart politischer Bekenntnisse und Werturteile, die stets auf perspektivischen Wahrnehmungen, selektiven Verkürzungen und mentalitätsbedingten Abwägungen beruhen — Anhängerschaft wäre sonst unmöglich. Die Psychologie des „politischen Irrtums" muß indes noch geschrieben werden. 202 s. Wolfgang J. Mommsen in seiner Abhandlung über „Gegenwärtige Tendenzen in der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik" (Geschichte und Gesellschaft, 7. Jg. [1981], S. 149-188 passim, bes. S. 182, 187). Deute ich die Überlegungen von Reinhart Koselleck richtig, so liegt die große historiographische Chance der Besiegten nicht darin, sich nachträglich auf die Seite der Sieger zu schlagen (in: Christian Meier/Jörn Rüsen [Hrsg.], Historische Methode. Theorie der Geschichte, Bd. 5, München 1988, S. 13, 51 ff.).

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Reiches Material bieten dazu auch die Verhaltensweisen der Intelligenz in Rußland nach der Oktober-Revolution 1917 sowie der intellektuellen Anhänger des stalinistischen Rußlands in Mittel- und Westeuropa zwischen den Weltkriegen, aber auch nach 1945, vgl. etwa Walter Laqueur/George L. Mosse, Linksintellektuelle zwischen den beiden Weltkriegen (München 1967, 1969 = Left-Wing Intellectuals between the Wars, in: Journal of Contemporary History 2/1966, London). Für die Bekenntnisse selbst: Gerd Koenen, Die großen Gesänge. Lenin, Stalin, Mao, Castro... Sozialistischer Personenkult und seine Sänger von Gorki bis Brecht, von Aragon bis Neruda, Frankfurt/M. 1987.

Große Teile des Schrifttums über Carl Schmitt sind in diesem Sinne Kampfliteratur, gewidmet einem Defätisten und Überläufer, also einem Feind, dessen Verhalten unter Generalverdacht steht, dessen Werk Drachensaat sein muß, und der den Pranger nicht verlassen darf: de hoste nil nisi male. Eine solche Sicht kann hohes Niveau erreichen, wie Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen" (1918) oder Schmitts „Kernfrage des Völkerbundes" (1926), aber die Kampfperspektive bietet nur Teilansichten. Mit ihnen wird sich auf Dauer die Geschichtsschreibung ebensowenig begnügen können, wie Historiker die Herrschaft Sullas nur mit den Augen jener sehen dürfen, die auf seinen Proskriptionslisten standen (die Kernfrage des sog. Historikerstreits). Wenn 1933 nicht nur bedeutende akademische Berufsvertretungen, z. B. der „Deutsche Richterbund" den sog. Umschwung begrüßten, sondern auch die meisten Berufsdiplomaten des Auswärtigen Amts 2 0 3 , dann ist die Regierung Hitler attraktiv gewesen nicht nur für hungernde Fürsorgeempfänger, verängstigte Kleinbürger, entwurzelte Landsknechte, stellungslose Akademiker, auftragslose Rüstungsindustrielle und verschuldete Großgrundbesitzer, sondern eben auch für einen Berufsstand, der nach Herkunft, Ausbildung, Status, nationalen und internationalen Erfahrungen über Durchblick verfügte und für Abenteuer mit unabsehbarem Ausgang gewiß nicht zu haben war. Berufsdiplomaten sind (wie höhere Beamte) gewöhnlich von der Unersetzbarkeit des Systems überzeugt, dem sie dienen. Bejahten sie dennoch eine so prinzipielle Alternative, wie es die Regierung Hitler war, dann muß das System Weimar in ihren 203

H.-A. Jacobsen, Zur Rolle der Diplomatie im Dritten Reich, in: K. Schwabe (Hrsg.), Das Diplomatische Korps 1871-1945, Boppard 1985, S. 171, 173 ff. Ein exemplarischer Fall: U. v. Hassell, seit 1932 deutscher Botschafter in Rom, hingerichtet 1944 (vgl. G. Schöllgen [FN 116], S. 64ff.).

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Augen am Ende gewesen sein. Die immensen sozialen und die schwierigen nationalen Probleme erschienen ihnen nur lösbar durch einen völlig neuen politischen Anfang, den nach der tatsächlichen Angebotslage im März 1933 nur Hitler setzen konnte — alle anderen Möglichkeiten wurden als verbraucht angesehen. Wie sehr der Parlamentarismus diskreditiert und wie abgelebt der erste Hauptteil der Weimarer Verfassung erschien, sollten die Verfassungspläne des bürgerlichen Widerstandes gegen Hitler 1938-1944 verdeutlichen; sie alle beruhten auf einer entschiedenen Ablehnung des Weimarer „Systems" 204 . Das Ermächtigungsgesetz, das die Reichsregierung zum Gesetzgeber machte, war getragen von einem breiten Mitte-Rechts-Konsens; nicht nur NSDAP und Deutschnationale, sondern auch Bayerische Volkspartei, Zentrum und die fünf Abgeordneten der „Deutschen Staatspartei" hatten dem verfassungsändernden „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" zugestimmt, unter ihnen jener Theodor Heuss, MdR, Dozent an der Berliner Hochschule für Politik, der Carl Schmitt am 20. Januar 1930 so artig zu dessen Rede über den Weimarer Verfassungsvater Hugo Preuss gratuliert hatte 2 0 5 . Was wir heute als Beseitigung des Parlamentarismus und rechtliche Begründung des autoritären Regierungsstaates als Einleitung zur Hitler-Diktatur verdammen, galt damals auch klugen und politisch erfahrenen Leuten als unvermeidbar, als Genesungsrezept, als Radikalkur. 204

Vgl. Hans Mommsen, Gesellschaftsbild und Verfassungspläne des deutschen Widerstandes, in: H. Graml (Hrsg.), Widerstand im Dritten Reich, Frankfurt 1984, S. 14 ff., 56ff. 205 Der Brief ist wiedergegeben von P. Tommissen, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 84. Theodor Heuss hatte im März 1933 „den Text einer Ablehnungsformulierung und einer Enthaltungsrede entworfen", unterlag dann aber in der 3:2-Abstimmung seiner Fraktion, vgl. E. Matthias/R. Morsey (Hrsg.) (FN 81), S. 68 ff. Auch seinen nachgelassenen Erinnerungen {Theodor Heuss, Vierteljahreshefte f. Zeitgeschichte, 15. Jg. [1967], S. 1,6 ff.) ist nicht zu entnehmen, weshalb er in dieser schicksalhaften Frage die Fraktionsdisziplin für so wichtig hielt und die SPD mit ihrem Nein allein ließ, obgleich die fünf Abgeordneten der Deutschen Staatspartei nur durch eine Listenverbindung mit der SPD in den Reichstag gekommen waren. Er hat allerdings schon am 24.3.1933 gewußt, daß dieses „Ja" falsch war und er diese Fehlentscheidung nie mehr aus seiner Lebensgeschichte auslöschen könne (a. a. O., S. 6). Carl Schmitt hat auf die an ihm geübte Kritik, die Heuss in mehreren Reden als Bundespräsident vorbrachte, deshalb empfindlich reagiert (vgl. G. Maschke [FN 55], S. 68f.), weil er als Jurist der Stimmabgabe für das Ermächtigungsgesetz konstitutive Bedeutung für die Entstehung des NS-Regimes zumaß.

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Wer das nicht nachvollziehen will, kann die Lage im Frühjahr 1933 nicht begreifen. Zur Entstehung des Ermächtigungsgesetzes: Hans Schneider, Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, Bonn 1960; die „Bedenken" in der Dokumentation von Rudolf Morsey, Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 (Göttingen 1968, Neudr. 1976); dort auch der Bericht von Hermann Dietrich, MdR, der mit Heuss gegen das Gesetz hatte stimmen wollen und erkennen mußte, daß die eigenen Anhänger das Ermächtigungsgesetz bejahten: „... in meinem ganzen Leben habe ich nie eine solche Zustimmungskundgebung vor allen Dingen schriftlicher Art bekommen wie zu dieser Abstimmung damals, als es sich um das Ermächtigungsgesetz gehandelt hat. Das hat mich eigentlich stutzig gemacht, ob ich auf dem richtigen Weg sei" (S. 69). Der Tendenz einiger Historiker, die Bedeutung des Ermächtigungsgesetzes herunterzuspielen, weil die eigentliche normative Grundlage der nationalsozialistischen Herrschaft die Notverordnung v. 28.2.1933 gewesen sei, kann der Jurist nicht folgen: Ohne die Verfassungsänderung durch das Ermächtigungsgesetz hätte die NSDAP den Parlamentarismus nicht „legal" beseitigen können, hätte zu jedem Gesetz — z. B. dem Aktiengesetz von 1937 — der Reichstag zu den notwendigen Lesungen zusammengerufen werden müssen. Zwischen dem 24.3.1933 und dem 8.5.1945 erließ die Reichsregierung immerhin 986 formelle Gesetze (s. die Übersicht bei R. Morsey, a. a. O., S. 65, unter Hinweis auf die Untersuchung von Ottobert L. Brintzinger, Dt. Rundschau 80, 1954, S. 349-355). Aufgrund der Verordnung v. 28.2.1933 wäre die Inanspruchnahme formeller Gesetzlichkeit unmöglich gewesen. Der Reichstag beschloß nach dem 24. März 1933 nur das „NeuaufbauG" v. 30.1.1934, die drei sog. Nürnberger Gesetze v. 15.9.1935, nämlich das ReichsflaggenG, das ReichsbürgerG, das „BlutschutzG", die Verlängerungsgesetze zum ErmächtigungsG am 30.1.1937 und 30.1.1939 sowie das Gesetz zur Wiedervereinigung Danzigs mit dem Reich v. 1.9.1939 (s. Brintzinger, a. a. O., S. 353). Vor allem aber beruhigte die „verfassungsrechtliche Legalität" die Bürokratie, die im 3. Reich die neuen, von der Reichsregierung beschlossenen Gesetze zu vollziehen hatte, eine These Carl Schmitts, die weithin Zustimmung gefunden hat, vgl. „Das Problem der Legalität" (1950), in: C. Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 440,442. Es war dies keine nachträgliche Deutung; so hatte Schmitt ganz ungeniert die Aufgabe des ErmächtigungsG in seinem Vortrag auf dem NS-Juristentag am 3.10.1933 bestimmt (Deutscher Juristentag 1933. Ansprachen und Fachvorträge, bearb. v. Rudolf Schraut, Berlin 1933, S. 242, 244). Zutreffend würdigen das ErmächtigungsG Reinhard Mußgnug, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 4 (FN 56), S. 328 f.; Rolf Gr awert (FN 56), S. 146, 148 m. weit. Nachw.

Um diese Vorbemerkung abzuschließen: Die Entscheidungssituation des Jahres 1933 können wir nachträglich nicht umbilden, z. B. 7 Quaritsch

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durch eine andere Sitzverteilung im Reichstag, durch einen 50jährigen Ebert als Reichspräsidenten statt des 85jährigen Hindenburg. Auch in die Köpfe von 1933 können wir nicht die Erfahrungen hineinlegen, die erst danach zu sammeln waren. Ebenso können wir nicht den Deutschen damals den Wertekanon der Deutschen von heute unterstellen. Zurück zu Carl Schmitt. Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler deprimierte ihn so, daß er am 31. Januar seine Vorlesungen ausfallen lassen mußte 2 0 6 . In der ersten Hälfte des Monats Februar und danach stand er zur neuen Regierung in erkennbarer Opposition 2 0 7 . In diesem Monat erschien sein Aufsatz über die „Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland", in dem er die Reichstagswahlen, in Einklang mit dem „Staatsnotstandsplan" Schleichers, als schädlich denunzierte 208 . A m 1. Februar ging ein Rundfunkinterview in den Äther, das er mit dem Journalisten Veit Rosskopf im Januar 1933 aufgenommen hatte; mit ihm wiederholte er seine Bedenken gegen die Reichstagswahlen209. Interview und Text platzten hinein in den neuen Wahlkampf. Reichskanzler Hitler 206 Die Tagebuchnotizen lauteten am 27. Januar 1933: „Der Hindenburg-Mythos ist zu Ende, der Alte war schließlich auch nur ein MacMahon. Scheußlicher Zustand. Schleicher tritt zurück; Papen oder Hitler kommen. Der alte Herr ist verrückt geworden." An diesem Tage hatte Ministerialdirektor Erich Mareks, ein Offizier aus Schleichers engstem Kreis, Schmitt aufgesucht, um ihn über den „Stellungswechsel des Reichspräsidenten und über die damit eingetretene Undurchführbarkeit des dritten Notstandsplans zu unterrichten" (E. R. Huber, in: Complexio Oppositorum [FN 2], S. 49). Am 28. Januar 1933: „Traurig zu Bett. Also das ist das Ende, kümmerlich. Konnte nicht einschlafen." Am 31. Januar 1933: „Sagte meine Vorlesung ab. Konnte nicht arbeiten. Lächerlicher Zustand. Las Zeitung. Regte mich auf, geriet in Wut, so verging der Tag." Die Tagebuchnotizen nach Eberhard Straub (FN 84), S. 86. - Rückblickend urteilte Schmitt 1972 über Hindenburg scharfsichtiger, indem er „Eidestrauma" und „Prozeßallergie" des Greisen hervorhob (in dem FN 19 zit. Rundfunkgespräch m. Dieter Groh, der mir freundlicherweise das vollständige Typoskript der Sendung zur Verfügung stellte). 207 Vgl. den Bericht des später emigrierten Ferdinand A. Hermens über einen Besuch bei Carl Schmitt in der Kölner Universität in der ersten Hälfte des Februar 1933 in: Hochland, 59. Jg. (1966/67), S. 337 ff. Noch am 4. April 1933 beschreibt Schmitt in seinem Tagebuch die politische Lage als „grauenerregend". Vgl. auch hinten nach FN 222. 208

s. vorn, nach FN 64. Das Interview ist abgedruckt in: P. Tommissen, Over en in zake Carl Schmitt (FN 19), S. 113 ff., 118. 209

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hatte die Auflösung des Reichstages z u m 1. Februar beim Reichspräsidenten durchgesetzt. Der N a m e Carl Schmitt fehlt i n der Erklärung, m i t der am 3. M ä r z 1933 ca. 300 Professoren u n d Privatdozenten öffentlich ihre Unterstützung der Regierung H i t l e r versprachen 2 1 0 . D i e Wahlen a m 5. M ä r z 1933 brachten der N S D A P 43,9 Prozent der W ä h l e r s t i m m e n 2 1 1 . Was Carl Schmitts Sinn so entschieden wandelte, läßt sich nur vermuten; der kommentierende R ü c k b l i c k des Vierundachtzigjährigen i m Jahre 1972 schweigt über die geistigen Interna, gewährt aber einige A n h a l t s p u n k t e 2 1 2 . M i t dem „ T a g v o n Potsdam" a m 21. M ä r z 1933 schien H i t l e r i n die preußische Spur einzuschwenken. Das „Ermächtigungsgesetz" v o m 24. M ä r z 1933 schuf staatsrechtlich eine neue Lage. F ü r den Juristen Carl Schmitt war es verfassungswidrig; das hatte er seit 1928, zuletzt 1932 i n „ L e g a l i t ä t u n d L e g i t i m i t ä t " gegen die herrschende, v o n Richard T h o m a u n d Gerhard Anschütz repräsentierte Positivisten-Meinung vorhergesagt 2 1 3 ; n u n ,,rächt[e] sich die W a h r h e i t " 2 1 4 . Der Jurist Carl Schmitt kannte aber auch die 210

„Die deutsche Geisteswelt für Liste 1Völkischer Beobachter Nr. 62 v. 3.3.1933, Süddt. Ausgabe, Beiblatt. 211 Der übliche Hinweis, Hitler habe mit der nur zehnprozentigen Steigerung seiner Wählerstimmen (gegenüber den für ihn verlustreichen Wahlen am 6.11.1932) nicht die absolute Mehrheit erreicht, ist zwar richtig, verdeckt aber die realen Stimmverhältnisse: Die zweitstärkste Partei, die SPD, erhielt nur 18,3 Prozent, die KPD 12,3 Prozent, das Zentrum 11,2 Prozent und die Deutsch-Nationalen, die mit der NSDAP die Regierung bildeten, noch 8 Prozent der Stimmen. Für die Parteien der Weimarer Verfassung stimmten also nur noch ca. 30 Prozent der Wähler. Unter solchen Voraussetzungen hätte die KPdSU (B) 1917 auch eine „legale Revolution" veranstalten können ... 212

Vgl. P. Tommissen, Over en in zake Carl Schmitt (FN 19), S. 89-109. Verfassungslehre (FN 78), S. 20, 103,104; Legalität und Legitimität (FN 72), S. 30 ff., 37,40,49,61,97/98. Die herrschende Auffassung: Richard Thoma, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, Tübingen 1930, S. 182f., 193f., Bd. 2, Tübingen 1932, S. 153ff.; ders., in: Hans C. Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 1, Berlin 1929, S. 38 ff.; Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs (FN 78), Art. 76 Erl. 3, S. 404-406. Anschütz hat seine Auffassung „in einem menschlich wie sachlich gleichermaßen beeindruckenden Brief* vom 16. Juli 1930 an Carl Schmitt auch persönlich dargelegt (vgl. Ernst Forsthoff, Der Staat Bd. 6 [1967], S. 150.) 213

214 Schlußsatz von „Legalität und Legitimität" (FN 72), S.98. - In der 39seitigen Gesamtwürdigung Schmitts durch das„Reichssicherheitshaupt-

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berühmte Erkenntnis des Reichsgerichts aus dem Jahre 1920, m i t der die revolutionären Arbeiter- u n d Soldatenräte des Novembers 1918 zu Staatsorganen erklärt worden waren, „ w e i l die Rechtmäßigkeit der Begründung kein wesentliches M e r k m a l der Staatsgewalt i s t " 2 1 5 . O b er sich als Jurist a u f den revolutionär geschaffenen neuen Boden der Tatsachen stellen wollte oder nicht — das war eine Frage, die der politische Carl Schmitt beantworten mußte. Gerhard Anschütz hatte noch i n der 14. Auflage seines Kommentars, erschienen A n f a n g 1933, die Ansicht Carl Schmitts über die Grenzen der Verfassungsänderung als „politische Forderung . . . vielleicht" (!) für „beachtlich", de lege lata aber als unhaltbar bezeichnet 2 1 6 ; als Jurist mußte er das Ermächtigungsgesetz für amt" (Höhn?) gehen die Zitate aus dieser Schrift engzeilig über sechs Seiten (195-200 der SD-Akte, FN8). Aus ihnen wird gefolgert: „... als der Nationalsozialismus in das entscheidende Stadium des Kampfes um die Macht eintrat, gab Schmitt mit diesem Buch eine geradezu entscheidende Handhabe zur Verewigung der autoritären Regierung und zur Verhinderung der legalen Machtübernahme durch den Nationalsozialismus" (S. 195); „Hier tritt klar zutage, daß Professor Schmitt noch 1932 in seiner Art einer der gefahrlichsten Gegner des Nationalsozialismus war" (S. 200 d. Akte). Auch wenn man die zweckbedingten Übertreibungen abzieht - in der Sache waren diese Feststellungen richtig. 215 RG, Urt. des Dritten Zivilsenats vom 8.7.1920, RGZ Bd. 100, S. 25 (27). Weitere Rechtsprechung und Lehrmeinungen referiert E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (FN 76), Bd. 6, Stuttgart 1981, S. 5ff.; s. auch Ernst Rudolf Huber, Rechtsfragen der Novemberrevolution, in: FS Schaffstein, Göttingen 1975, S. 53 ff. - Carl Schmitt hat das Ermächtigungsgesetz vom 24.3.1933 trotz der verfassungsändernden Reichstags-Mehrheit als revolutionären Akt gewertet, seine Rechtsansicht also nicht geändert; vgl. Carl Schmitt, Das Reichsstatthaltergesetz, Berlin 1933, S. 9; ders., Staat, Bewegung, Volk, Hamburg 1933, S. 7. Geändert hatte sich seine politische Bewertung. 216 G. Anschütz (FN 78), S. 405. Wie phantasielos, um nicht zu sagen: geistig beschränkt, auf Schmitts Lehre reagiert wurde, zeigt z. B. die Rezension des nicht eben unbedeutenden Wiener Kollegen Leo Wittmayer, der die Schmittsche Unterscheidung zwischen Verfassung und Verfassungsgesetz als „neunaturrechtlich" mißverstand und die Beispiele Schmitts für unzulässige Verfassungsänderungen (das Reich in einen Einheitsstaat zu verwandeln, „Bayern im Wege des Art. 76 RV einfach zu streichen oder Preußen gegen seinen Willen zum Reichsland zu erklären") als Möglichkeiten bezeichnete, „an die kaum jemand denkt, auch nur an die Wand zu malen, geschweige denn daraus methodische [!] Schlüsse zu ziehen" (Reichsu. PreußVerwBl. 1929, S. 10). Ein anderer österreichischer Rezensent sprach in diesem Zusammenhang von „Folgerungen, deren Unhaltbarkeit auf den ersten Blick erkennbar ist", bedauerte „dies völlige Versagen im

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verfassungsrechtlich einwandfrei halten. Seinen Antrag auf vorzeitige Emeritierung begründete der 66jährige politisch; er könne Sinn und Geist des neuen Staatsrechts im Hörsaal nicht vermitteln 217 . Das war gewiß sehr ehrenwert, wurde auch respektiert 218 , schlug damals aber keine Welle. Für den 44jährigen Carl Schmitt lag die Sache anders. Das Ermächtigungsgesetz beseitigte den Parlamentarismus, also das System, das Carl Schmitt mit „Weimar" identifiziert und bekämpft hatte, weil es nach seiner Auffassung den Kampf gegen Genf und Versailles verhinderte. Hitler war jedoch in seinen Augen der falsche Mann am richtigen Platz. Was sollte er tun? Macht besitzt eine eigentümliche Anziehungskraft; es entzieht sich ihr nur schwer, wer öffentlich wirken will. Um so stärker war die Gravitation einer so großen und so unwiderstehlichen Macht, die 1933 innerhalb weniger Wochen in Deutschland entstanden war. M i t dieser Macht mußten in Schmitts Augen die sozialen wie nationalen Probleme gelöst werden können, wenn sie überhaupt lösbar waren. Kein mühsames Verhandeln mit Veto-Gruppen, keine Hinnahme von Halbheiten, keine Zwänge zum Kompromiß. Das war die Situation, die nicht nur die faschistischen Systeme Europas zwischen den Weltkriegen, sondern alle monistischen Staatskonstruktionen erstreben und voraussetzen, die „nationale Unabhängigkeit und soziale Gerechtigkeit" verwirklichen wollen. Die meisten Staaten Afrikas und Asiens sind auch ohne Mussolini, Stalin oder Hitler heute noch so konstruiert, zu schweigen von China und Rußland. Die nationale Aufbruchstimmung des Frühjahrs 1933, Fahnen, Märsche und Lieder haben Carl Schmitt wohl davon überzeugt, daß hier „der große Enthusiasmus" am Werk, Methodologischen" und hielt Schmitts eingrenzende Auslegung des Art. 76 RV offenbar für eine juristische Lachnummer: „... klingt so ungewöhnlich, daß sich der Berichterstatter nicht versagen kann, die nachfolgende Stelle des Buches wörtlich anzuführen", nämlich Verfassungslehre (FN 78), S. 104/05, vgl. Walter Henrich, (Österr.) Ztschr. f. Öff. Recht Jg. 8 [1929], S. 626, 629/30. 217 Den wesentlichen Text des Emeritierungsantrages hat E. Forsthoff in seiner bedeutenden Gedenkrede auf Gerhard Anschütz wiedergegeben (FN 213, S. 139). 218 s. Ernst-Wolfgang Böckenförde in seiner Würdigung von Anschütz, in: Semper apertus. FS Universität Heidelberg, Bd. 3, Berlin 1985, S. 167ff., 173 m. F N 28.

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„ein neuer Strom geschichtlichen Lebens" losgebrochen war, wie er 1922 den nationalen Mythus beschrieben hatte 2 1 9 . In „Volk" und „Reich" glaubten Hunderttausende einen überpersönlichen Daseinszweck gefunden zu haben. In der neuen „Volksgemeinschaft" schienen Gegensätze und Feindschaften aufgehoben, an denen die Deutschen seit Jahrhunderten gelitten hatten: zwischen Katholiken und Protestanten, Preußen und Nichtpreußen, Adel und Bürger, Gebildeten und Ungebildeten. „ M a n soll nicht vergessen und sich nicht ausreden lassen, daß der Nationalsozialismus eine enthusiastische, funkensprühende Revolution, eine deutsche Volksbewegung mit einer ungeheuren seelischen Investierung von Glauben und Begeisterung w a r 2 2 0 . " Die „braunen Bataillone" versprachen die Integration des Proletariats in den Staat, die der bürgerliche Rechtsstaat nicht hatte erreichen können. Die anhebende Disziplinierung und nationale Ausrichtung des öffentlichen Lebens erschienen notwendig für die Zusammenfassung aller Kräfte, die dem Kampf mit Versailles und der Rückgewinnung der deutschen Großmachtstellung vorausgehen mußte. An „katholischer Verschärfung" kein Mangel: Ein kalter Wind schlug die liberalen Fenster zu; für das, was Carl Schmitt „die Neutralisierer, die ästhetischen Schlaraffen, die Fruchtabtreiber und Pazifisten" nannte, brach eine schlechte Zeit an. Alfred Rosenberg und Heinrich Himmler standen 1933 nicht im Vordergrund. Eine breite Welle von Kircheneintritten, die vielen Braunhemden in den nunmehr wieder gut besuchten Gottesdiensten und der rasche Abschluß des Reichskonkordats versprachen eine neue Nähe von Kirche und Staat. Das Regierungsprogramm schien offen für vernünftige Lösungen. Mitzuarbeiten aber erschien notwendig, damit die neue Regierung vor weiteren und allzu vielen Dummheiten bewahrt blieb und die Vernunft letztlich die Oberhand behielt. Was auf der Minusseite stand — der Verlust pluralistischer Freiheit, die Konzentrationslager für aktive Gegner des Nationalsozialismus, der 219

s. vom bei F N 114. Thomas Mann, Tagebücher 1944-1.4.1946, hrsg. v. Inge Jens, Frankfurt/ M. 1986, S. 78 (Eintragung am 17. Juli 1944). Aus der Perspektive der unmittelbaren Betroffenheit und des Zeitgenossen hat Th. Mann die deutschen Vorgänge mit kaum zu überbietender Schärfe beurteilt, s. Tagebücher 1933-1934,Frankfurt/M. 1977,S. 21 (Eintragungam27. März 1933) und durchgehend. 220

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Antisemitismus, der die Juden aus dem öffentlichen Leben u n d die jüdischen Kollegen von der Universität vertrieb — , alles das wurde als akzidentell, nicht essentiell gewertet (heute sehen w i r es — wie die O p f e r — g e n a u umgekehrt); es wurde als hic et nunc unvermeidbarer Preis des revolutionären Durchbruchs einer neuen Zeit h i n g e n o m m e n 2 2 1 . Die Revolutionen v o n 1789 und 1917 hatten — aus der Sicht des Jahres 1933 — gleiche u n d schlimmere Exzesse gezeitigt. Z u m ersten M a l i n seinem Leben ließ sich Carl Schmitt v o m (Un-)Geist des Tages u n d der Zeit ergreifen u n d i n den emotionalen Erdrutsch des Jahres 1933 mitreißen; er folgte der Aufforderung seines Freundes Popitz, am Reichsstatthaltergesetz m i t z u w i r k e n 2 2 2 . Dauerte die deutliche Abneigung gegen das neue System noch fort, so muß irgendwann i m A p r i l 1933 die innere 221 Wie die Entwicklung auch von klugen Regimegegnern eingeschätzt wurde, zeigt ein an Schmitt gerichteter Brief vom 7. September 1933. Der Absender - er emigrierte 1934 und wurde in der Bundesrepublik ein bekannter Politikwissenschaftler - kommentiert sein C. S. übersandtes Buch u. a. so: „Wenn die Entwicklung auch hierin der italienischen parallel geht, werden solche Publikationen m. E. auch im nationalsozialistischen Deutschland, dessen grosse nationale Möglichkeiten ich voll anerkenne, auf die Dauer keine Missverständnisse zu befürchten haben. Die Wahlrechtsschrift trägt noch ganz den Stempel der Vergangenheit. In der Arbeit über die Soziologie der antiparlamentarischen Bewegungen hoffe ich jedoch die Probleme der Gegenwart aus dem Geiste der Gegenwart behandeln zu können. Ich werde allerdings dabei nicht verfehlen, daraufhinzuweisen, dass man die Stosskraft der nationalsozialistischen Bewegung hin und wieder zu sehr auf störende Akzidentien hat gehen lassen, die dem Ganzen und seinem Erfolg nicht förderlich sind. Es ist das jedoch eine Kritik, die das Prinzipielle bejaht und sich nur gegen Mittel wendet; hoffentlich kommt bald die Zeit, wo sie auch in Deutschland so willkommen ist wie in Italien." 222 Carl Schmitt befand sich auf seiner üblichen Osterreise nach Rom, als er in seinem Münchener Hotelzimmer am 31. März 1933 ein Telegramm vorfand: „Morgen nachmittag fünf Uhr Sitzung im Staatsministerium". „Jetzt begann die Mitarbeit - am Samstag, dem 1. April 1933" (RundfunkInterview 1972 [FN 19], S. 106); ebenda, S. 106/07, auch zu den preußischen Absichten, die Popitz mit dem ReichsstatthalterG verband. Die offizielle Aufforderung durch Vizekanzler v. Papen v. 31. 3. 1933 (BA Koblenz, R 53/77, S. 140) nennt als Mitglieder der Kommission Reichsinnenminister Frick, Reichsminister a.D. Popitz, Professor Carl Schmitt und Vizekanzler v. Papen; im Auftrage von Reichspräsident und Reichskanzler solle „das Verhältnis zwischen Reich und Ländern endgültig" geregelt werden durch „Einsetzung von Staatspräsidenten seitens des Reichs für die einzelnen Länder": „Die zweite abschließende Besprechung müßte am Mittwoch, den 5. April stattfinden". Das zweite Gesetz, zu dem er hinzugezogen wurde, war das Preuß. GemeindeverfassungsG vom 15.12.1933 (FN 19, S. 109).

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Wende vollzogen worden sein. A m 1. Mai 1933 wurde er Mitglied der NSDAP. Die Aufforderung zur Mitarbeit am ReichsstatthalterG allein reichte nicht aus, Schmitt für das neue Regime zu begeistern. Noch am 4. April war er froh, Berlin verlassen zu können. An diesem Tage notierte er in seinem Tagebuch: „Dann zur Deutschen Gesellschaft. Traf ... [Name unleserlich]. Erich Kaufmann kam hinzu. Der arme Popitz saß dazwischen, tatsächlich wie der Knabe Jesus im Tempel. Keiner sieht das Problem. Jeder hofft durchzuschlüpfen. Gut, daß ich nach Köln komme. Es ist grauenerregend". Die erwähnte Deutsche Gesellschaft war ein Treffpunkt der hohen Ministerialbürokratie und einiger tonangebender Universitätsprofessoren. Erich Kaufmann (1880-1972) gehörte mit R. Smend und Schmitt zu den prominenten (jüngeren) antipositivistischen Staatsrechtslehrern der Weimarer Zeit. Kaufmann war seit 1917 o. Prof., 1920 in Bonn, seit 1927 Rechtsberater des Auswärtigen Amtes und Hon.-Prof. in Berlin, 1934 zwangsentpflichtet, 1938 in die Niederlande emigriert, 1950-1958 wieder Rechtsberater des AA. In die Nachkriegsdebatte um C. Schmitt griff er ein mit einem offenen Brief an Ernst Forsthoff („Carl Schmitt und seine Schule", Dt. Rundschau, 84. Jg. [1958], S. 1013-1015, wiederabgedruckt in Erich Kaufmann, Ges. Schriften, Bd. 3, Göttingen 1960, S. 375-377). Zum Verhältnis zwischen Schmitt und Kaufmann jetzt P. Tommissen, Schmittiana II (FN 40), S. 132. — Auch Schmitts retrospektiver Bericht über die erste Rede Hitlers vor hohen Beamten und Militärs anläßlich der Verkündung des Reichsstatthaltergesetzes am 7. April 1933 läßt ihn noch als distanzierten Beobachter erscheinen (Over en in zake Carl Schmitt [FN 19], S. 107/08). Die „innere Wende" ist also etwa Mitte bis Ende April geschehen. — Über den Vorgang seines Parteieintritts berichtete Carl Schmitt 1972: „Ich habe mich in Köln erst Ende April 1933 bei der Ortsgruppe angestellt; es war eine lange Schlange. Ich habe mich einschreiben lassen wie viele andere (PG-Nr. 2 098 860"), F N 19, S. 106. B. Rüthers hat das für Heidegger und Schmitt überlieferte Datum des NSDAP-Eintritts phantasievoll gedeutet (Carl Schmitt im Dritten Reich [FN 201], S. 34). Dem Sachverhalt fehlt jedoch jegliche Symbolik: Da die Münchener Zentrale mit der Flut der Neuzugänge bürokratisch völlig überfordert war, wurden alle Eintritte dieser Zeit auf den 1. Mai 1933 datiert.

Die Entscheidung für Hitler war für diejenigen, die über „Weimar — Genf — Versailles" gleich oder ähnlich dachten wie Carl Schmitt, nur verlockend, nicht zwingend. Ernst Jünger z. B., befreundet mit Carl Schmitt seit 1930, lehnte bekanntlich alle Offerten ab; seine Warnung schlug Carl Schmitt in den W i n d 2 2 3 . 104

A u c h der katholische Journalist Franz Kramer — nach dem Kriege Begründer des „Rheinischen M e r k u r " — , hat 1933 i n einem langen Gespräch noch versucht, Carl Schmitt u m z u s t i m m e n 2 2 4 . W i r müssen aber erkennen: I n der großen Gruppe jener, die sich aus freien Stücken der „nationalen Erneuerung" anschließen oder verweigern konnten, bildeten die Nein-Sager die Ausnahme — was ihnen moralisch wie intellektuell u m so höher anzurechnen ist. War Carl Schmitt 1933 Opportunist, ein charakterloser Ehrgeizling? Er hat 1933 nicht nur einen Fuß a u f ein kleines Trittbrett gestellt, u m rechtzeitig wieder abspringen zu können, wie das ein solcher Zeitgenosse w o h l getan hätte. Ganz i m Gegenteil, er nahm keinerlei Rückversicherung auf, bemühte sich nirgendwo um Rückendeckung, er brach alle Brücken hinter sich ab: er weigerte sich, eine Resolution der K ö l n e r Fakultätskollegen zugunsten des amtsenthobenen Hans Kelsen zu unterschreiben 2 2 5 , verließ den liberalen Verlag Duncker & H u m b l o t wie die Görres-Gesells c h a f t 2 2 6 , schrieb einen K u r z - K o m m e n t a r zum Reichsstatthalter223 Vgl. H. Mühleisen, in: P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana 1 (FN 19), S. 108 ff., 112/113. 224 s. G. Krauss, in: P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana 1 (FN 18), S. 62. Wie emotional überhitzt die Gemüter damals sein konnten, illustriert die Tagebucheintragung Schmitts vom 9. April 1933 über ein Gespräch mit der aus Holland stammenden Ehefrau von Popitz (gest. 1936) über Hitler: „... Sie nennt ihn einen Christus, ein Genie, und sieht sein tragisches Ende voraus." 225 Das ist das einzige, was die Akten der Kölner Universität hergeben über die angebliche Hetze Carl Schmitts gegen Hans Kelsen (freundliche Mitteilung von Herrn Kollegen Hans-Jürgen Becker, Regensburg). Den Text des Fakultätsschreibens vom 18.4.1933, unterzeichnet von H. C. Nipperdey (Dekan), H. Lehmann, H. Planitz, G. J. Ebers, A. Coenders und G. Bohne, hat jetzt Hans-Jürgen Becker veröffentlicht in der „Festschrift der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600 Jahr-Feier der Universität zu Köln", Köln 1988, S. 23-26. Auch Frank Golczewski, der die Vorgänge um die Entlassung Kelsens untersuchte, hat keine zusätzlichen Aktivitäten Schmitts im Zusammenhang mit der Entlassung Kelsens feststellen können; er kommt zu dem Ergebnis: „Konsequenzen für den Hergang der Ereignisse dürften weder der Brief noch Schmitts Weigerung, ihn zu unterschreiben, gehabt haben" (Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus, Köln 1988, S. 302 F N 17). 226 Die Geschäftsstelle der Görres-Gesellschaft beantwortete seine Austrittserklärung vom 5. September 1933 durch Schreiben vom 7. September 1933 mit der Bitte, seinen Entschluß zu revidieren „oder wenigstens Teilnehmer der Gesellschaft" zu bleiben.

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gesetz227 und wurde grundsätzlich mit der Schrift „Staat — Bewegung — V o l k " 2 2 8 . Gewiß, er heulte mit den Wölfen, um sich ihnen verständlich zu machen. Viele Aufsätze, die bis 1936folgten, waren aber nur Wolfsgeheul, geschrieben im revolutionären Fieber und gekennzeichnet durch den Niveauverlust, dem kein Schriftsteller oder Wissenschaftler entgehen kann, wenn er im Dienst einer Partei schreibt 229 . Geblieben waren der unmittelbare Zugriff und die Treffsicherheit seines Stils; die polemische Verschärfung schlug Wunden, die nie verheilten. „Schauerlich", so lautete 1947 sein eigenes Urteil 2 3 0 , aber diese Selbstverurteilung schaffte seine Texte nicht aus der Welt. Da er sich vor 1933 gegen die NSDAP exponiert hatte, mußte er wie ein Konvertit stets besondere Zuverlässigkeit und Glaubenstreue beweisen. Der große Chor derer, die vor 1933 die Melodie von Weimar nur mitgesummt hatten, brauchte nach 1933 nur die Noten zu wechseln. Carl Schmitt hingegen wollte nicht nur mitsingen, sondern auch den Ton angeben. Das zwang ihn zu lauter Stimme, d. h. zur Radikalität. Sein Aufsatz zur Röhm-Affäre 1934, das „Juden-Referat" 1936, aber auch seine Stellungnahme zur Reform des Strafverfahrens 231 , sind daher weniger als Überzeugungstaten zu werten, denn als Konvertiten-Bekenntnisse — was ihren Inhalt nicht verändert, seine prinzipielle und echte Zustimmung zur „nationalen Revolution" nicht in Frage stellen soll, aber Situation und Motivation erklärt. Das Ziel, auf das neue Regime durch Interpretation einzuwirken, mochte ohnehin objektiv unmöglich sein, weil Hitler — die letztlich allein maßgebliche Ideendirektion — für rechtliche Argumente unzugänglich war. Auch überlassen Einparteienstaaten die leitenden Ideen nicht den Einfallen der Professoren, sie werden von Parteizentralen und Propagandaministerien formuliert — nicht nur Schmitt mußte diese Lektion noch lernen. Carl Schmitt konnte aber schon deshalb 227

Das Reichsstatthaltergesetz, Berlin 1933, 24 S.; 1934 erschien das neunte und zehnte Tausend (P. Tommissen [FN 138], S. 278). 228 Staat, Bewegung, Volk — Die Dreigliederung der politischen Einheit, Hamburg 1933,46 S., 3. unveränderte Aufl. 1935 (P. Tommissen [FN 138]). 229 Vgl. GerdKoenen, Die großen Gesänge. Lenin, Stalin, Mao, Castro... Sozialistischer Personenkult und seine Sänger von Gorki bis Brecht, von Aragon bis Neruda, Frankfurt/M. 1987. 230 Die drei Verhöre durch Robert Kempner sind wiedergegeben in: 1999 - Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 2. Jg. 1987, Heft 1, S. 109-122. Das Zitat: S. 121. 231 s. L. Gruchmann (FN 182), S. 994-1003.

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nicht in argumentativer Weise wirken, weil ihn seine KonvertitenPosition notwendig auf den radikalen Flügel der NS-Juristen trieb. Was er eigentlich sagen wollte, also seine Interpretation der „nationalen Revolution", konnte er nur mit einer „zweiten Stimme" sagen, sie aber blieb viel zu leise oder mißverständlich 232 . So geriet er zwischen alle Fronten: Die Regimegegner sahen in ihm nur den Überläufer, die Nationalsozialisten mißtrauten ihm, weil er 1932/33 gegen sie publiziert und nach 1933 seine katholische Position nicht aufgegeben hatte, die konservativen Juristen des Reichsjustizministeriums verübelten ihm seine NS-Radikalität und rächten sich auf ihre Weise: Als Carl Schmitt infolge der Angriffe durch SS und NSDAP seine öffentlichen Ämter abgeben mußte, strich ihn der Präsident des Reichsjustizprüfungsamts Palandt am 15. Dezember 1936 von der Liste der Prüfer für das juristische Staatsexamen233. Seine radikalsten Stellungnahmen hat Carl Schmitt in einer merkwürdigen Weise so übertrieben, daß sie in sich unglaubwürdig wurden, auch in nationalsozialistischen Ohren falsch klingen mußten. Die Behauptung, der Führer habe bei der Röhm-Aktion „höchste Justiz" geübt, nahm den Anspruch Hitlers, als „oberster Gerichtsherr" gehandelt zu haben, nicht nur als Metapher, sondern als juristisch bare Münze. Damit klassifizierte er Hitler als absoluten Fürsten im Sinne der Souveränitätsdoktrin des 17. und 18. Jh. In eine solche Position konnte aber Hitler im Sommer 1934 vor dem Tode des Reichspräsidenten Hindenburg nach geltendem NSStaatsrecht unmöglich einrücken, unbeschadet der Feststellung, daß nach dem Ermächtigungsgesetz, das damals noch ernstgenommen wurde, die Gesetzgebung beim Kollegialorgan Reichsregierung lag, nicht beim Reichskanzler Hitler. Carl Schmitt wußte das, und ebenso, daß die deutschen Juristen — auch die NS-Juristen — die Unsinnigkeit seiner Behauptungen durchschauten. — In seinem sog. Juden-Referat nahm er Bezug auf „den großartigen Kampf des Gauleiters Julius Streicher", den „jüdische Emigranten... als etwas 232 Dazu rechnet etwa das „Konkrete Ordnungsdenken" mit der Bezugnahme auf Hauriou: „Metaphysik gegen Positivismus, Pluralismus gegen Monismus, institution gegen regle de droit" (Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934, S. 42ff., 55). Die Bemerkungen von Vilmos Holczhauser treffen das Problem genau (in: Dritte Etappe, Bonn, März 1989, S. 31, 40 ff.). 233 SD-Akte (FN 8), S. 217; ungenau L. Gruchmann (FN 182), S. 1003.

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,Ungeistiges' bezeichnen k o n n t e n " 2 3 4 . Dieser Satz mußte seine professoralen Zuhörer u n d die Leser wenigstens befremden. D e n n Streichers „ S t ü r m e r " galt unter akademisch gebildeten Nationalsozialisten als degoutant, i n der Hitlerjugend war der Vertrieb dieses Blatts untersagt; als ein Gauleiter den öffentlichen Aushang verbot, blieb Streichers Beschwerde beim Obersten Parteigericht ebenso erfolglos wie bei H i t l e r 2 3 5 . Carl Schmitt wußte, seine Zuhörer u n d Leser würden den „jüdischen Emigranten" i n ihrer Einschätzung des Streicherschen „ K a m p f e s " als etwas „Ungeistiges" zustimmen — wollte er diese Z u s t i m m u n g provozieren? Einen auch i m Sinne der NS-Ideologie grotesken M i ß g r i f f leistete sich Schmitt schließlich i n seiner Stellungnahme zum E n t w u r f einer neuen Strafprozeßordnung Ende September 1 9 3 6 2 3 6 . Hier schlug er u. a. vor, Urteile sollten künftig nicht mehr „ I m 234 In dem Eröffnungsreferat der Tagung des NSRB am 3./4. Oktober 1936. Dieser Text ist nur abgedruckt in der selbständigen Publikation „Das Judentum in der Rechtswissenschaft", Heft 1: „Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist", Berlin o. J. (1936), S. 15. In der „Deutschen Juristen-Zeitung", 41. Jg. (1936), Sp. 1193 -1199, ist nur das von ihm gehaltende „Schlußwort" wiedergegeben. - Nach einem Bericht in der SD-Akte (FN 8) vom 7.9.1936 hatte Gauleiter Streicher sein Erscheinen zugesagt (S. 47). Nachdem Heydrich den Gauleiter vor Schmitt „gewarnt" hatte, schrieb die Kanzlei Streichers am 1. Oktober 1936 pikiert zurück: „Für die Mitteilung über Herrn Prof. Dr. Carl Schmitt, Berlin, läßt Ihnen Herr Gauleiter Streicher vielmals danken. Der Gauleiter wird an der Tagung der Reichsgruppe Hochschullehrer am 3. und 4. Oktober nicht teilnehmen. Prof. Carl Schmitt ist Reichsgruppenwalter der Hochschullehrer und hat im besonderen Auftrage des Reichsrechtsführers, Reichsminister Dr. Frank, Herrn Gauleiter Streicher zu der Tagung eingeladen. Herr Gauleiter Streicher läßt Sie daher bitten, auch Reichsminister Pg. Dr. Frank über Prof. Carl Schmitt das Entsprechende mitzuteilen. Heil Hitler!" (S. 62 d. Akte). 235

Hartmann Lauterbacher, Erlebt und mitgestaltet, Preuß. Oldendorf 1984, S. 253. Den allgemeinen Vorbehalten, die Herbert Obenaus gegen diese Gauleiter-Memoiren vorgebracht hat (Niedersächs. Jahrbuch 58 [1986], S. 352-355), schließe ich mich selbstverständlich an. 236 Referat vor der wissenschaftlichen Abteilung des NS-Rechtswahrerbundes. Die Stellungnahme Schmitts wurde gekürzt mit einer zusätzlichen Denkschrift des Rechtswahrerbundes veröffentlicht von dem geschäftsführenden Leiter des wissenschaftlichen Ausschusses des NSRB, RA und Notar Rilk. Über Anlaß und Einzelheiten vgl. Wolf-Peter Koch, Die Reform des Strafverfahrens im Dritten Reich, Diss. jur. Erlangen-Nürnberg 1972, S. 185 ff.; L. Gruchmann (FN 182), S. 994. 108

Namen des Volkes" ergehen, sondern „ I m Namen des Führers"; dem „Führer" als dem „obersten Gerichtsherrn" seien auch alle Todesurteile und Urteile auf „Ächtung" zur Bestätigung vorzulegen 2 3 7 . Angesichts der tatsächlichen Machtfülle Hitlers im Jahre 1936 lag es nicht ganz fern, den „ F u R K " mit dem souveränen Fürsten des Hochabsolutismus zu vergleichen. Neben der viel berufenen, indes nie genau bestimmten „Führergewalt" und allem Führerkult zum Trotz spielte aber das „Volk" in der offiziellen NSLehre eine zentrale, wenn auch ebenfalls nie genau umschriebene Rolle. Die Annahme des Schmittschen Vorschlages hätte die wirkliche Machtverteilung im Deutschen Reich in einer Weise offengelegt, die ganz sicher die Gegner des Nationalsozialismus in ihren Ansichten über die schrankenlose Diktatur Hitlers bestätigt, seine Anhänger wegen der Verabschiedung des „Volks" tief verstört haben würde. Carl Schmitts Vorschlag war daher — vom System selbst her betrachtet — schlechterdings peinlich und unmöglich. Das mußte jeder erkennen, der nur etwas von der ideologischen Atmosphäre des Jahres 1936 mitbekommen hatte — oder sollte Carl Schmitt für den ideologischen Bedarf des NS-Regimes jedes Organ gefehlt haben? Nimmt man die drei erörterten Fälle zusammen, so sind zwei Schlüsse denkbar: Der ideologische Konvertit Schmitt meinte alle anderen Juristen in „Führertreue" und Antisemitismus übertreffen zu müssen. Oder er legte in seine Bekenntnisse bewußt so viel byzantinische Übertreibung hinein, daß sie bei näherer Betrachtung den Adepten als Narrenjubel und Nonsens-Proskynese erkennbar wurden, mit denen er — bei aller Zustimmung im Grundsatz — die Übertreibungen und Auswüchse einer Ideologie und eines Systems verspottete, das ihn dafür bestenfalls wegen Übereifers tadeln durfte. Gegen die erste Alternative sprechen die deutlichen und groben Fehler, die Carl Schmitt dann gemacht hätte, für die zweite, daß er für solche systemimmanenten Fehler eigentlich zu intelligent war, und er seinen Prokop natürlich im Kopf hatte. Ein solches Spiel im Spiel, getrieben bis zu einer „Parodie von sich selbst" 238 , ist Carl Schmitt zuzutrauen. Aber der Teufel läßt sich nicht ungestraft kitzeln, und wer so mit Entsetzen 237

s. L. Gruchmann (FN 182), S. 997. Carl Schmitt, Hamlet oder Hekuba - Der Einbruch der Zeit in das Spiel, Düsseldorf 1956, S. 45. 238

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scherzt, trägt das Risiko solchen Spiels — Carl Schmitt hat es 1936, 1945 und danach verloren. Persönlicher Ehrgeiz ist bei seinem Frontwechsel nicht auszuschließen 239 , auch wenn die seit Gurions „Deutschen Briefen" verbreitete Annahme sicher verkehrt ist, hier habe ein gewissenloser Opportunist nur getrachtet, im Kampf ums Dabeisein einen Logenplatz zu gewinnen. Wie bei vielen seiner Zeitgenossen war der „Gesinnungswandel" echt — es gibt auch solche DamaskusErlebnisse —, aber zusätzliche Anlässe und Motive sind immer möglich. In Berlin hatte er seit 1928 nur an der Handelshochschule gelehrt 240 . Den Ruf an die Universität Köln hatte er im Dezember 1932 angenommen, an dieser Universität aber nur im Sommersemester 1933 gewirkt 2 4 1 . Jetzt erhielt er einen Ruf an die Berliner Universität, den er annahm; die Rufe nach München, Leipzig und Heidelberg lehnte er a b 2 4 2 . A m 11. Juli 1933 — sein 45. Geburtstag — ernannte ihn Göring zum „Preußischen Staatsrat"; er wurde auch Herausgeber der „Deutschen Juristen-Zeitung" und Leiter der „Reichsfachgruppe Hochschullehrer des Bundes nationalsozialistischer Juristen" 243 . Wenn er nach dem Kriege in sein Tagebuch 239 Dieses Motiv nennt als mitverursachend G. Krauss, der ihm damals als Schüler und Doktorand nahestand (in: P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana 1 [FN 19], S. 60). 240 Über die Gründe, die ihn vermutlich den Ruf auf den Lehrstuhl von Hugo Preuss und Walther Schücking annehmen ließen, s. J. W. Bendersky (FN 8), S. 190; Günther Krauss, in: Criticon Nr. 95 [1986], S. 128f.; E. R. Huber und A. Möhler, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 36, 68 f., 70. 241 Einzelheiten bei P. Tommissen, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 85 f.; G. Krauss, in: P. Tommissen (Hrsg.), Schmittiana 1 (FN 19), S. 64ff.; F. Golczewski (FN 225), S. 299 ff. Die Kölner Antrittsvorlesung am 20.6.1933 über „Reich — Staat — Bund" ist in „Positionen und Begriffe" erstmals veröffentlicht worden (Nr. 22, S. 190-198). 242 Rundfunk-Interview 1972, s. P. Tommissen, Over en in zake Carl Schmitt (FN 19), S. 109. 243 Über die im Juni 1934 vollzogene Okkupation der „Deutschen Juristenzeitung" durch die „Reichsfachgruppe Hochschullehrer" - sie dauerte bis Ende 1936 - berichtete der Verleger Heinrich Beck 30 Jahre danach: „Baumbach wurde als Schriftleiter abgesetzt; der Berliner Professor Carl Schmitt mußte an seine Stelle als Herausgeber treten ... Daß die Gruppe »Hochschullehrer4 wirtschaftlich eine viel zu schmale Basis für eine Zeitschrift dieser Art bildete, hätte auch ihren neuen Auguren klar sein müssen. Positiv war an der neuen Lösung nur zu bewerten, daß Carl Schmitt trotz seiner politischen Festlegung ein überragender Geist war, der durch

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schrieb, der Preußische Staatsrat bedeute ihm mehr als ein Nobelpreis 244 , dann verband er den Titel mit jenem Preußen, das ihm Johannes Popitz vermittelt hatte 2 4 5 , einem mittlerweile imaginären Staatswesen. Die tatsächlichen Kompetenzen, die er als Zeitschriften-Herausgeber und Fachgruppenleiter bis Ende 1936 besaß, mögen für Professoren bedeutend gewesen sein; deren „Macht" erschöpft sich normalerweise in der Entscheidung über Zensuren und der Mitwirkung an Berufungsvorschlägen. Für einen Juristen ist echte Macht im Staatsapparat zu Hause, und diese Macht blieb Carl Schmitt versagt. Im Sommer 1936 soll im Stabe des Stellvertreters des Führers erwogen worden sein, den Reichsjustizminister Gürtner durch den Reichsrechtsführer Frank abzulösen, der möglicherweise den Staatssekretär Schlegelberger durch Schmitt ersetzen würde. Diese Nachricht ist m. W. nur überliefert durch eine entsprechende SDMeldung des SS-Sturmbannführers Prof. Dr. Reinhard Höhn an den Chef des SS-Sicherheitshauptamtes Heydrich: „Staatssekretär Stuckart teilte mir am 26.8. [1936] folgendes mit: Im Stab des Stellvertreters des Führers wird stark erwogen, ob nicht nach dem Parteitag Gürtner abtreten und an seine Stelle der Reichsminister Frank treten soll. Auch der Staatssekretär Lammers habe ähnliche Andeutungen gemacht. Man sei der Ansicht, daß sich dies auf die Dauer nicht umgehen lasse. Der Reichsminister Frank habe den von ihm eingesetzten Schriftleiter Karl Lohmann die Fortführung der Zeitschrift im wissenschaftlichen Sinne ermöglichte" (Festschrift zum 200jährigen Bestehen des Verlages C. H. Beck 1793-1963, München 1963, S. 172). „Um die Redaktionsgeschäfte kümmerte sich Carl Schmitt wenig, er kam aber häufig in die Berliner Verlagsfiliale, um seine Beiträge zu formulieren" (Hermann Weber, in: Juristen im Portrait, Festschrift zum 225jährigen Jubiläum des Verlages C. H. Beck, München 1988, S. 328). 244 „Ich bin dankbar, daß ich Preußischer Staatsrat und nicht Nobelpreisträger geworden bin" (freundliche Mitteilung von Herrn Eberhard v. Medem). Das Ernennungsdatum im Rundfunk-Interview 1972, s. P. Tommissen, Over en in zake Carl Schmitt (FN 19), S. 109. 245 In der F N 34 bereits zitierten Rede am 10. Juli 1938 führte Carl Schmitt aus: „Drei Jahre später, 1929, erfuhr ich in Berlin durch Johannes Popitz eine weitere, nicht nur für meinen Stand und meinen Beruf als Lehrer des öffentlichen Rechts, sondern für meine menschliche Bildung ebenso wesentliche Einführung in den Preußischen Staat, preußische Verwaltung und preußischen Stil mit seiner typisch deutschen Spezifizierung, ohne deren Kenntnis meine Bildung und mein Wesen fragmentarisch geblieben wären."

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neulich auch i m engeren Kreis darüber gesprochen. Die größte Gefahr besteht darin, daß der Staatsrat Schmitt dann Staatssekretär anstelle v o n Schlegelberger w i r d " 2 4 6 . O b der Schmitt betreffende Satz ebenfalls auf Stuckart usw. zurückzuführen ist, muß wegen des Wechsels v o m K o n j u n k t i v i n den I n d i k a t i v , dessen Bedeutung jedem Juristen klar ist, bezweifelt werden; die Formulierung läßt eher darauf schließen, daß sie aus Vermutung, Befürchtung oder Kombinationsgabe des Berliner Fakultätskollegen H ö h n hervorgegangen ist. — Schmitt war bereits i m Winter 1935/36 von dem Rechtshistoriker (und Himmler-Protege) Karl August Eckhardt 247 intern angegriffen u n d i m Februar 1936 öffentlich v o n NSStudenten wegen seines politischen Katholizismus u n d seiner falschen Deutungen des Verhältnisses von „Bewegung" und V o l k attackiert worden 2 4 ®. Deshalb ist der Staatssekretärs-Plan eigentlich nicht sehr realistisch, allenfalls ein vages Personalspiel gewesen, 246 S. 42 der FN 8 zit. SD-Akte über Carl Schmitt; Text auch bei Wolfgang Schieder, Vierteljahreshefte f. Zeitgeschichte, 37. Jg. (1989), S. 16 FN 87; L. Gruchmann (FN 182), S. 994. 247 K. A. Eckhardt (1901-1979) entzieht sich allen Schablonen der Vergangenheitsbewältigung: Freikorpskämpfer, mit 22 Jahren Priv.-Doz., wegen überragender wiss. Leistungen 1928 Ordinarius in Kiel, 1930 an der Handelshochschule Berlin, 1932 in Bonn: „Kein Germanist war in der Weimarer Zeit so erfolgreich wie E.". 1931 (heimlich) SA-Mann, 1932 NSDAP-Mitglied, 1934 in der einflußreichen Hochschulabt. des Ministeriums Rust (Ref. „Recht, Staat, Politik, Wirtschaft und Geschichte"), 1935 im Persönl. Stab Himmlers, SS-Sicherheitshauptamt, 1937 von Hitler abgelehnt wegen kompromißlerischer Haltung gegenüber jüdischen Kollegen, von Himmler und Heydrich gehalten und 1938 zum SS-Sturmbannführer befördert. Mitherausgeber der Festschrift zum 40. Geburtstag Himmlers (1941), seinen Beitrag hätte er indes 1928 wie 1948 in jeder rechtshistorischen Zeitschrift änderungslos publizieren können. Trotz dieser „Nebentätigkeiten" und jahrelangen Heeresdienstes im Kriege, „gehört E. in den Jahren 1933-45 zu den produktivsten deutschen Rechtshistorikern". Nach Gefangenschaft und Entnazifizierung akzeptierte er einsichtig seine Entfernung aus dem Hochschullehreramt und bewältigte am privaten Schreibtisch die schwierigsten rechtshistorischen Editions-Aufgaben. Bei seinem Tode 1979 hinterließ er ein rechtshistorisches Lebenswerk von fast 30.000 Druckseiten. Im einzelnen vgl. die musterhafte, nichts auslassende und nichts beschönigende Würdigung von Hermann Nehlsen, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. Bd. 104 [1987], S. 497536, dort auch die wörtlichen Zitate. 248 Vgl. J. W. Bendersky (FN 8), S. 230 f. Über den Vorgang, der sich im Februar 1936 auf dem „Reichsfachschaftslager der Juristen" in BerlinWestend abspielte, befindet sich in der SD-Akte der Bericht eines Studenten

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wie es Stäbe zu allen Zeiten lieben. Gürtner blieb jedenfalls Reichsjustizminister bis zu seinem Tode am 29.1.1941, Schlegelberger Staatssekretär bis 1942. Im Nachhinein wird man auch Carl Schmitts objektive Eignung für das in Frage stehende Amt bezweifeln müssen. An Schnelligkeit des Denkens fehlte es ihm nicht, sein enormes Arbeitstempo hätte jeder Anforderung standgehalten, aber seine lose Zunge, stets bereit zu nunmehr lebensgefahrlichen Sarkasmen, konnte er nicht bändigen; auch wäre er mit seinen Ansprüchen an die Gesprächspartner seinem Minister wohl bald auf die Nerven gegangen. Vor allem aber: ein Staatssekretär steht einem großen bürokratischen Apparat vor. An dieser Schnittstelle von Politik und Verwaltung genügen nicht Intelligenz und Arbeitskraft; Brillanz ist eher hinderlich. Ein Staatssekretär hat zunächst zu wissen, was er selbst tun muß und was er delegieren kann. Schon in diesem Punkte war Schmitt unsicher. Das zeigte sich im August 1932, als er sich bei den Verhandlungen mit Eugen Ott, Leiter des politischen Referats im Reichswehrministerium, durch den jungen Ernst Rudolf Huber vertreten ließ 2 4 9 . Gewiß war Huber — Privatdozent seit 1931 — der anstehenden „redaktionellen" Arbeit sachlich gewachsen und Schmitts Vertrauen würdig. Aber eine geheime Besprechung mit Offizieren über die „erweiterte Anwendung" einer Diktatur-Vollmacht des Staatspräsidenten (Art. 48 RV) dürfte in jedem Stadium Chefsache für den Rechtsberater sein. Dem Verdacht, Carl Schmitt habe sich vielleicht nicht zu sehr involvieren und der Verantwortung durch einen Urlaub in Plettenberg entziehen wollen, ist E. R. Huber, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 40, 52, wohl zu Recht entgegengetreten. Überhaupt ist es eine Legende, Carl Schmitt sei vorsichtig oder gar ängstlich gewesen. Es genügt der Hinweis auf seine Beziehungen zu Popitz nach dessen Verhaftung am 21. Juli 1944 (s. vorn F N 189). In der zweiten Hälfte des Krieges, als kritische Köpfe locker auf den Schultern saßen, äußerte er sich z. B. am 4. August 1943 im Speisesaal des Berliner „Hotel Bristol" bei einer sehr offen und deutlich geführten Unterhaltung über die Zustände und das Regime so temperamentvoll, d. h. nicht gerade leise, daß sich seine Gesprächspartner — Ministerialdirektor Dr. Segelken aus dem Reichsjustizministerium und Prof. Dr. Hans Peter oder Referendars, danach C. S. versucht habe, „den Einfluß des Katholizismus in der Rechtslehre überhaupt zu leugnen" (S. 22-24 der Akte). 249 Über den Vorgang s. E. R. Huber, in: Complexio Oppositorum (FN 2), S. 40, 52, 56. 8 Quaritsch

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Ipsen, Hamburg, in Segelkens Abteilung nebenamtlich für die Verwaltungsgerichtsbarkeit zuständig — verstohlen nach ungeeigneten Mithörern umsahen (freundliche Mitteilung von Herrn Kollegen Hans Peter Ipsen, Mölln, der als Teilnehmer der Runde Zeit, Ort und Mitwirkende in seinem Tagebuch festhielt). — Wenn es richtig ist, was dem Sozialisten Wolf gang Abendroth zugetragen worden ist, dann hat Schmitt 1943 und 1944 viel riskiert: „Der einzige, der manchen seiner Kollegen klar zu machen versuchte, daß der Krieg verloren war und daß es deshalb darauf ankäme, sich vorsichtig umzuorientieren, war Professor Carl Schmitt. Es gelang ihm nicht, die anderen zu überzeugen; nicht einmal jene, die Anhänger seiner eigenen Schule waren, konnte er auf seine Seite bringen. Sie meinten offensichtlich, daß Schmitt sich irre" (Ein Leben in der Arbeiterbewegung, 3. Aufl., Frankfurt 1981, S. 212). Die Siegeszuversicht der deutschen Professoren wird von Abendroth aber wohl überschätzt.

Ein Staatssekretär muß fernerhin ständig Meinungsverschiedenheiten ausgleichen, Streitigkeiten schlichten oder akzeptabel entscheiden, es müssen äußere Pressionen abgefedert, Politiker wie Ministerialbeamte überzeugt werden, ohne deren Selbstbewußtsein zu kränken. Dazu gehört eine hohe Reizschwelle, vor allem die Kunst, sich auch Unsinn aufmerksam und geduldig anzuhören. Gerade die Fähigkeit des Zuhörens, des ruhigen Abwägens, der sicheren Entscheidung scheint Carl Schmitt in jenen Jahren gefehlt zu haben — auch im gewohnten akademischen Bereich. Der damals 19jährige stud. jur. Otto Bachof, im Wintersemester 1933/34 aus der großen Zahl der Bewerber zugelassen zum ersten Seminar Schmitts an der Berliner Universität, gab nach wenigen Wochen sein Seminarthema zurück und schied empört aus dem Seminar aus. Schmitts „Intoleranz und die autoritäre Diskussionsführung" stießen ihn ab. Seminarteilnehmern, die einen Vertreter abweichender Meinungen zitierten, pflegte Schmitt das Wort abzuschneiden oder strafte sie mit Nichtachtung. Besonders der Name Otto Koellreutter — K. wollte gleichfalls den NS-Staat juristisch interpretieren 250 — wirkte auf Schmitt „wie ein rotes Tuch" 2 5 1 . Gewiß 250 Otto Koellreutter (1883 -1972), Volk und Staat in der Verfassungskrise, Berlin 1933; ders., Der Deutsche Führerstaat, Tübingen 1934; ders., Volk und Staat in der Weltanschauung des Nationalsozialismus, Berlin 1935; ders., Grundfragen unserer Volks- und Staatsgestaltung, Berlin 1936. - Die Abneigung Schmitts hat K. herzhaft erwidert, vgl. vorn FN 108; weitere Beschwerden Koellreutters über Schmitt aus dem Jahre 1937 dokumentiert M. Messerschmidt, Militärgeschichtliche Mitteilungen 9,1971, S. 80 F N 78. Ausführlich erörtert Bendersky das Verhältnis Koellreutter — Schmitt (FN

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gab es auch solche Professoren, nicht nur bei den Juristen und nicht nur im Deutschen Reich 2 5 2 . Aber einen solchen Seminarstil hätten die berühmten Doktoranden Schmitts in den Bonner Jahren gewiß nicht goutiert. Ernst Rudolf Huber, Ernst Friesenhahn und Werner Weber, nicht zuletzt Otto Kirchheimer würden ein autoritär geführtes Seminar ebenso rasch wieder verlassen haben wie Otto Bachof In Schmitts Seminar an der Berliner Handelshochschule, „einer ausgesuchten Runde von Angehörigen der Berliner Intelligenz- und Bildungsschicht" 253 , saßen auch fertige Juristen: wieder Otto Kirchheimer — "ein wohlbeleibter, viel redender Mann" — , Werner Weber, inzwischen im Preußischen Kultusministerium, Franz L. Neumann, damals ein beschäftigter Vertreter der Gewerkschaften, und andere junge Berliner Rechtsanwälte, belesen, munter und schlagfertig; „auch dubiose Figuren gab es, mehr von links als von rechts" 254 . Das Seminar hätte sich bei einer intoleranten Leitung schnell geleert. Waren Schmitt die neuen Ämter und Würden zu Kopf gestiegen, wollte er das „Führerprinzip" im Seminar einführen? Möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich; dazu war er zu alt und zu erfahren im Universitätsbetrieb. Schmitt verdrängte, wenn dieses Psychologisieren ausnahmsweise gestattet ist, auf diese Weise seine Unruhe 8, S. 222ff.). - Nach 1945 haben sich Schmitt und Koellreutter versöhnt, allerdings ist der Briefwechsel nur zum Teil erhalten, da Koellreutters Erben den brieflichen Nachlaß und mit ihm die Originalbriefe Schmitts vernichteten (freundliche Mitteilung von Herrn Kollegen Carl Hermann Ule, Heidelberg). 251 Freundliche Mitteilung von Herrn Kollegen Otto Bachof Tübingen. Der Sachverhalt ist (verkürzt) auch wiedergegeben von Hermann Weber in dem Autorenportrait Otto Bachof, in: FS Beck-Verlag 1988 (FN 243), S. 118. 252 Vgl. Jacob Taubes (FN 174), S. 9 f., über eine traumatische Erfahrung im Seminar L. v. Muralts an der Universität Zürich im Jahre 1942. 253 E. R. Huber, Complexio Oppositorum (FN 2), S. 36. 254 So erinnert sich Günther Krauss, der als Student der Rechtswissenschaft im Wintersemester 1930/31 und im Sommersemester 1931 an dem Seminar Schmitts über die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft teilnahm („Criticon" Nr. 96 [1986], S. 180). Über die Teilnahme von Franz L. Neumann und Otto Kirchheimer hat Schmitt selbst bereits 1931 berichtet, vgl. „Freiheitsrechte und institutionelle Garantien", in: Verfassungsrechtliche Aufsätze (FN 63), S. 168; s. auch George Schwab, in: Erd (Hrsg.), Reform und Resignation (FN 75), S. 50. 8'

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und Unsicherheit, die ihn auf dem neuen Terrain der Politik befallen hatte. Auch die Juristentugend des Audiatur et altera pars und die Fähigkeit des ruhigen Ausgleichs beherrschte er nicht mehr. Dem jungen Hubertus Bung, ein rechtsdogmatisch wie organisatorisch gleichermaßen begabter Jurist, ausgewiesen auch in katholischer Theologie, hatte Schmitt die Geschäftsführung der „Wissenschaftlichen Abteilung" des NS-Rechtswahrerbundes übertragen. Bung geriet 1934 in eine Auseinandersetzung mit einem hohen Funktionär des NSRB. „Carl Schmitt war erregt über diese Angelegenheit, schob die Schuld auf Bung und lehnte es ab, ihn im Rechtswahrerbund in Schutz zu nehmen. Hierüber war wieder Bung empört und nahm seinen Abschied 255 ." Interventionen von Frau Duska Schmitt wie von Günther Krauss blieben erfolglos. Das war kein Befähigungsnachweis für eine ministeriale Spitzenposition. Was war los mit Carl Schmitt? Krauss berichtete dem alten Freunde Paul Adams, nunmehr Journalist beim Münchener Rundfunk. Adams antwortete brieflich am 3. Dezember 1934 mit eigenen Erfahrungen und lieferte zugleich eine hellsichtige Diagnose: „Die Lage von Schmitt ist ja furchtbar. Er hat mich in München aber vergleichsweise noch gut behandelt. Neu war mir seine abrupte Art, meine Ansichten und ihre Darlegung abzuwerten ... Politisch wird er m. E. niemals von den Nationalsoz. acceptiert werden. Sein Stil, seine Genialität, seine im Grunde solitäre Existenz werden immer Anstoß erregen. Er wäre besser nach München gegangen und hätte an der Peripherie existiert. Er ist diesen ständigen Belastungen nicht gewachsen 256 ." Carl Schmitt war gewöhnt an die druckfreie Berufssituation des in Forschung und Lehre erfolgreichen Ordinarius. Den Lasten des administrativen und politischen Geschäfts war er in der Tat nicht gewachsen. Den Heimlichkeiten und Intrigen, den Kampfansagen, Fraktionen 255 Günther Krauss, Erinnerungen an Carl Schmitt - Das Jahr 1934, in: P. Tommissen, Schmittiana I I (FN 40), S. 90,100. Über die späteren Beziehungen von Bung (1908-1981) zu Schmitt berichtet Tommissen, ebenda, S. 110/11. 256 G. Krauss, a. a. O. - Paul Adams (1894-1961) war Carl Schmitt wohl während seines Literatur-Studiums in Bonn begegnet; er hatte über Grabbe und Shakespeare gearbeitet und war dann Redakteur der kulturellen Beilage („Zu neuen Ufern") der Zentrumszeitung „Germania" geworden (s. P. Tommissen, Schmittiana 1 [FN 19], S. 62 FN 17; ausführlicher Günther Krauss, Criticon Nr. 96 [1986], S. 180).

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und wechselnden Koalitionen glaubte er sich wohl durch „politisches" Verhalten anpassen zu müssen, also nicht nach der Richtigkeit der Entscheidung zu fragen, sondern nach ihrem Wert und Gewicht im Spiel der Kräfte und Kampf der Mächte. M i t seinem abrupten, intoleranten Verhalten gegenüber Jüngeren und Schwächeren überspielte er seine Nervosität, suchte er seine innere Unsicherheit zu verdrängen. Carl Schmitt bildete also keine Ausnahme von der bekannten unfreundlichen Regel: Professoren in der Politik sind wie Pastorentöchter in der Fremde, da hört man schlimme Dinge. Vielleicht wäre eine politische oder MinisterialKarriere Schmitts im Jahre 1927 oder 1931 glücklicher und ohne Persönlichkeitsveränderung verlaufen 257 . Im Dritten Reich waren die Bedingungen des politischen Konkurrenzkampfes völlig verändert. Durchsetzen und auf Dauer halten konnte sich nur der robuste, bedenkenlose Machttechniker. Diese Lage hat Schmitt gewiß erkannt. Indem er versuchte, robust und bedenkenlos zu sein, literarisch wie administrativ, überschätzte er seine objektiven wie subjektiven Möglichkeiten und machte Fehler. Zudem mußte er täglich gewärtigen, daß ihm ein Dossier über seine früheren Positionen den Boden unter den Füßen wegzog. Carl Schmitt bewunderte Politiker, die für eine verlorene Sache kämpften, die 257 Eine hypothetische Hypothese, denn das Zentrum als die einzige Partei, die an Schmitt interessiert war (s. vom nach FN 157) und ihn auf diesen Karriereweg hätte bringen können, war daran durch die Exkommunikation Schmitts gehindert. Auffällig oft hatte Schmitt Schwierigkeiten mit seiner Umwelt: Der Unterprimaner mußte trotz vorzüglicher schulischer Leistungen wegen kirchlich nicht genehmer Lektüre und „unerlaubten Besuchs einer Gaststätte" das katholische Internat verlassen. Der Student und Referendar war finanziell abhängig von Verwandten und Gönnern, der praktizierende Katholik stieß auf Vorbehalte in der akademischen Welt des Deutschen Reiches. Die bürgerliche Reputation des jungen Ordinarius 1922 angeschlagen durch den Dorotic-Skandal, von den kirchlichen Sakramenten seit 1926 ausgesperrt wegen der zweiten, nur staatlich geschlossenen Ehe. Nach 1933 mit fast allen relevanten Größen im Konflikt: mit den Emigranten und der NSDAP, mit der SS und dem Reichsjustizministerium. 1945/46 „automatic arrest" im Internierungslager Berlin-Lichterfelde Süd, 1947 als Zeuge und „possible defendant" inhaftiert in Nürnberg. Verlust des Lehrstuhls, im Fach und in der Öffentlichkeit verrufen als „Kronjurist des Dritten Reiches", deshalb auch ohne Zugang zu den großen Publikationsorganen. In wie merkwürdiger Weise seine Rückkehr in die Staatsrechtslehrervereinigung vereitelt wurde, schildert unbefangen Wolfgang Abendroth, Ein Leben in der Arbeiterbewegung, 3. Aufl., Frankfurt 1981, S. 213.

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zwischen allen und gegen alle Parteien standen und dennoch überlebten: König Jakob I., Sohn der Maria Stuart, hat er hinreißend porträtiert 258 . Aber zu einer vergleichbaren Rolle fehlten ihm und dem Regime die Voraussetzungen. Er gehörte weder ans Regiepult (das war bereits besetzt) noch auf die Bühne, die Drehbücher hatten sich ohnehin andere vorbehalten. Es war sein Unglück, daß er glaubte, schadlos aus der Rolle des ecrivain heraustreten zu können. Es war sein Glück, daß ihm die eigentlichen Akteure mißtrauten und ihm die Führung der professoralen Juristen-Claque bald wieder entzogen. So wurde er auf seine eigentliche Aufgabe zurückgeworfen, auf die Position des Beobachters, der Gang und Ziel der Handlung deutete. Wer ihn allerdings, wie das seit über 50 Jahren geschieht, mit dem Titel des nationalsozialistischen „Kronjuristen" schmückt und schmäht, kennt weder Kronjuristen, die diesen Namen verdienen, noch weiß er um die Zuständigkeiten im Deutschen Reich und die Bedeutung des Rechts für die Herrschaft Hitlers. So Carl Schmitt nach Macht strebte, hat er sie jedenfalls nie besessen, und im Reichsjustizministerium hätte er die Kompetenzen des „Kronjuristen" auch nie gefunden. Schlegelberger war der Staatssekretär für das Zivilrecht. Das Öffentliche Recht und das Völkerrecht, Schmitts eigentliche Domäne, hatten keine eigene Abteilung, es waren Referate, die an das gewichtigere Handels- und Verkehrsrecht angehängt waren — das „Staatsrecht" wurde (soweit es überhaupt noch existierte) im Reichsinnenministerium bearbeitet 2 5 9 . Von Anfang bis Ende war es der Chef der Reichskanzlei, 258 Hamlet oder Hekuba (FN 238), S. 28-31. - Nicolaus Sombart glaubt, das Hamlet-Buch als Selbstdeutung Schmitts und der deutschen Männer seit Wilhelm II. psychoanalytisch entschlüsselt zu haben (Politische Vierteljahresschrift, 29. Jg. [1988], S. 474-487). Seine teils indezenten, teils überraschenden Resultate könnten sich freilich bei näherer Kenntnis der Schmittschen Biographie als wenigstens problematisch erweisen. Der Leser lernt jedenfalls, daß er Begriffe wie „Entscheidung" oder „Glaubensspaltung", aber auch die „Angst vor dem Chaos" vermeiden sollte, damit nicht der politische Psychoanalytiker im „Lexikon des Unbewußten" nachschlägt (vgl. S. 480). Kritisches zur Deutung Sombarts hat P. Tommissen angemerkt (Schmittiana I I [FN 40], S. 133 ff.). 259 Schlegelberger war im wesentlichen zuständig für die Abteilungen IV (Bürgerliches Recht, bürgerliche Rechtspflege) und V (Handelsrecht, Verkehrsrecht, Öffentliches Recht und Völkerrecht). Nach dem Geschäftsverteil ungsplan des Reichs- und Preuß. Justizministeriums vom 22.10.1934

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Staatssekretär Hans Heinrich Lammers, der Hitler juristisch beriet und seine Entscheidungen mit rechtlichen Hüllen versah 260 . „Ich habe niemals Macht gesucht und niemals Macht besessen" (Glossarium [FN43], S. 158, am 4.6.1948; Korrektur der 1. Aufl., S. 110). — Der Titel des „Kronjuristen" ist in der Emigrationsliteratur seit dem Sommer 1934 nachgewiesen, vielleicht in Reaktion auf den Artikel „Der Führer schützt das Recht", so z. B. in den „Deutschland-Berichten" der SPD, Juli/August 1934, B 20 (1. Jg. 1934 [FN 56], S. 366). Der Publizist Waldemar Gurian versah seinen ersten gegen den einst verehrten Freund gerichteten Artikel in den „Deutschen Briefen" vom 26.10.1934 mit der Überschrift: „Carl Schmitt, der Kronjurist des III. Reiches"; der einleitende Satz lautete: „Carl Schmitt, der Staatsrechtsprofessor an der Universität Berlin, wird in der Öffentlichkeit immer häufiger als Kronjurist des III. Reiches genannt" (Deutsche Briefe 1934-1938, ein Blatt der katholischen Emigration, bearb. v. Heinz Hürten, Mainz 1969, Bd. 1, S. 52; die weiteren Auseinandersetzungen mit Schmitt weist das Register im Bd. 2, S. 1175 nach). Sollte Gurian seine Bezeichnung aus der reichsdeutschen Öffentlichkeit übernommen haben, so war für Juristen der ironische Ton unverkennbar. Was Gurian in der Emigration als Kampfbegriff recht sein mußte, darf der wissenschaftlichen Darstellung nicht billig sein, es sei denn, es soll „Kriegsliteratur" in dem vorn (nach FN 202) angesprochenen Sinne geschrieben werden. Die SS mochte ebenfalls nicht auf den „Kronjuristen" verzichten: „1931/32 war er der Kronjurist der Regierungen Brüning, Papen, Schleicher und gab diesen in seinen Schriften die rechtlichen Grundlagen für das Notverordnungsrecht und für die Niederhaltung des Nationalsozialismus im Rahmen der Reichsverfassung" (S. 194/95 d. SD-Akte, FN 8). — In seiner Tagebucheintragung vom 14. Dezember 1943 hat Ernst Jünger aus Anlaß eines Briefes von Carl Schmitt das Wort vom Kronjuristen aufgenommen und bemerkt: „Carl Schmitt ist unter allen Geistern, die ich kennenlernte, jener, der am besten definieren kann. Als klassischer Rechtsdenker ist er der Krone zugeordnet, und seine Lage wird notwendig schief, wo eine waren von den neun Referaten der Abteilung V nur drei dem Öffentlichen Recht und Völkerrecht gewidmet, im Geschäftsverteilungsplan vom April 1941 waren von den 19 Vollreferaten der Abteilung V nur noch die Referate 8 und 9 mit typisch öffentlich-rechtlichen und völkerrechtlichen Fragen beschäftigt. Freisler war zuständig für Abteilung I I (Strafgesetzbuch, bäuerliches Recht), I I I (Strafrechtspflege [Einzelsachen] und Strafvollzugsverwaltung), VI (Preuß. Haushalts- und Verwaltungssachen) sowie das Reichsjustizprüfungsamt unter Palandt. Zum ganzen vgl. L. Gruchmann (FN 182), S. 106, 1149ff., 1170ff. 260 Zusammenfassend D. Rebentisch (FN 56), S. 424ff.

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Garnitur des Demos die andere ersetzt. Bei der Heraufkunft illegitimer Mächte bleibt an der Stelle des Kronjuristen ein Vakuum, und der Versuch, es auszufüllen, geht auf Kosten der Reputation. Das sind so Mißgeschicke des Berufs" (Das zweite Pariser Tagebuch, in: Werke, Bd. 3, Stuttgart, 1963, S. 204). Carl Schmitt hat diesen Text bereits im Manuskript gelesen und am 17.4.1948 in seinem Glossarium (FN 43, S. 129) mit diesem Ergebnis kommentiert: „Jawohl und vielen Dank für die richtige Diagnose!"

Auch gesellschaftlich blieb er ein Fremdling. Das bürgerlich-protestantische Berlin hat den gelehrten Emporkömmling aus dem katholischen Sauerland wohl bewundert, als genialen Paradiesvogel jedoch nicht ganz ernstgenommen; sein ungewöhnlich weiter Bildungsfundus, seine intellektuelle Neugier rundum, die sich auch auf Außenseiter wie Alfred Schuler und Otfried Eberz erstreckte, seine unerwarteten Einfalle und Überlegungen konnten seine Berliner Umwelt nicht nur verblüffen, sondern auch befremden 261 . Carl Schmitt selbst hat sich in der bereits zitierten Rede an seine engsten Freunde am 10. Juli 1938 wohl richtiger gesehen: „Jeder von Ihnen kennt meine großen Schwächen, meine Neugierde, Begeisterungsfahigkeit. die Fähigkeit, sich betrügen zu lassen 262 ." Die Fähigkeit, sich zu begeistern und sich betrügen zu lassen, war, wie wir heute wissen, keine Besonderheit der Schmittschen Existenz. Beide Eigenschaften teilte er mit seinem Volk und seiner Zeit.

261

s. N. Sombart (FN 47), S. 268,274 ff. (betr. Schuler); den Hinweis auf Otfried Eberz (1878-1958) danke ich Herrn Ernst Hüsmert. Wichtige Bestände des geistigen Haushalts Schmitts hat G. Krauss aufgelistet (Criticon Nr. 96 [1986], S. 183 f.). Bei Schmitt ist „Interesse" nicht mit Sympathie oder gar Zustimmung gleichzusetzen. Die von Sombart geschilderte Schuler-Szene gerät in ein anderes Licht durch den Text, mit dem Schmitt am 26.12.1941 Schuler als „neiderfüllten Deutschen, giftgeschwollenen Heilsbringer und Disraeli-gläubigen Judenfeind" charakterisierte (s. P. Tommissen, Schmittiana I I [FN 40], S. 134, 160 FN 102, unter Hinweis auf Ernst Jünger, Scheidewege, 1987/88, S. 192). 262 Vgl. FN 34.

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V. Abschied vom Kampf mit Weimar — Genf — Versailles Carl Schmitt hat sich stets geweigert, einige wichtige der vor 1933 erschienenen Aufsätze aus „Positionen und Begriffe" herauszunehmen und mit anderen, z. B. der Rede über Hugo Preuss, in einem Bande „Staatstheoretische Aufsätze" so zusammenzufassen, wie dies mit den „Verfassungsrechtlichen Aufsätzen" 263 geschehen war. Vermutlich sah er seinen 1922 begonnenen „Kampf mit Weimar — Genf — Versailles" als Einheit, aber schon 1939 als beendet an. Seine Wendung zu Raum und „Großraum" ist noch aus der politischen Situation der Zeit erwachsen 264 , aber diese Themen verselbständigten sich; sie führten zu „Land und Meer" (1942) und zum „Nomos der Erde", ein Buch, das erst 1950 veröffentlicht wurde, dessen Typoskript aber bereits 1945 im wesentlichen abgeschlossen war. Gewiß hat Carl Schmitt seinen professoralen Kriegsdienst an der Heimatfrorit noch durch drei Artikel in der Wochenzeitung „Das Reich" abgeleistet 265 . Aber das waren kühle Reproduktionen und im Ton moderate Subsumtionen von Nr. 35 2 6 6 und 36 2 6 7 dieses Bandes, in der Analyse übrigens gar nicht so falsch, wie die weltpolitische Lage seit dem Zweiten Weltkriege belegt. In dem repräsentativ aufgemachten Journal ließ sich durchaus schreiben —jedenfalls meinten das so bedeutende Geister wie die Kollegen Eduard Spranger und Benno von Wiese 268 —, und wer wollte, konnte aus den dort angestellten Überlegungen auch auf einen anderen „Beschleuniger wider Willen" schließen. Wie dem auch sei: „Positionen und Begriffe" ziehen einen Strich unter 263

Vgl. F N 63.