Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles: 1923-1939

»Man kann, sagt Heraklit, nicht zweimal durch denselben Fluß gehen. So kann man auch nicht zweimal dieselbe Rede halten

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Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles: 1923-1939

Table of contents :
Positionen und Begriffe
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
l. Die politische Theorie des Mythus (1923)
2. Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff (1924)
3· Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik (1925)
4. Der Status quo und der Friede (1925)
5- Das Doppelgesicht des Genfer Völkerbundes (1926)
6. Zu Friedrich Meineckes „Idee der Staatsräson“ (1926)
7. Der Gegensat} von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie (1926)
8. Der Begriff des Politischen (1927)
9. Donoso Cortes in Berlin, 18491 * * * V (1927)
io. Demokratie und Finanz (1927)
11. Der Völkerbund und Europa (1928)
12. Völkerrechtliche Probleme im Rheingebiet (1928)
13. Wesen und Werden des faschistischen Staates1 (1929)
ig. Wesen und Werden des faschistischen Staates1 (1929)
14. Der unbekannte Donoso Cortes (1929)
15. Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen (1929)
I.
y.
17. Die Wendung zum totalen Staat (1931)
18. Übersicht über die verschiedenen Bedeutungen und Funktionen des Begriffes der innerpolitischen Neutralität des Staates (1931)
19-Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus
21. Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland
(Januar 1933)
I.
22. Reich — Staat — Bund (1933)
23- Der Führer schützt das Recht (1934)
24· Über die innere Logik der Allgemeinpakte auf gegenseitigen Beistand (1935)
25. Die siebente Wandlung des Genfer Völkerbundes
26. Vergleichender Überblick über die neueste Entwicklung des Problems der gesetzgeberischen Ermächtigungen ; „Legislative Delegationen“ (1936)
27. Uber die neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte
I.
28. Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat (1937)
I.
29. Der Begriff der Piraterie (1937)
30. Uber das Verhältnis der Begriffe Krieg undFeind (1938)
31. Das neue Vae Neutris! (1938)
32. Völkerrechtliche Neutralität und völkische Totalität
33· Über die zwei großen „Dualismen“ des heutigen Rechtssystems (1939)
34. Neutralität und Neutralisierungen (1939)
35. Großraum gegen Universalismus (1939)
36. Der Reichsbegriff im Völkerrecht (1939)
Hinweise
Namenverzeichnis
Sachverzeichnis

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Positionen und Begriffe im Kampf m it W e im a r -G e n f—V ersailles 1 9 2 3 -1 9 3 9

Von

C a rl S c h m i t t

Hanseatische

Verlagsanstalt

Hamburg

G e d r u c k t in der H anseatischen Verlagsanstalt A k tie n g e se lls ch a ft, Hamburg -Wandsbek Copyright 1940 by Hanseatische Verlagsanstalt Aktiengesellschaft, Hamburg 36 / Printed in Germany

Vorwort Man kann, sagt H eraklit, nickt zweim al durch denselben F luß gehen. So kann man auch nicht zweimal dieselbe Rede halten oder denselben A uf­ satz schreiben. Die folgenden Reden und Aufsätze aus den Jahren 1923 bis 1939 sind dieser W ahrheit in vollem Maße unterw orfen und w ollen ihr in keiner Weise entgehen. Sie sind in einem bestim m ten Augenblick in den Fluß der Zeit eingegangen und heute längst nicht m ehr in m einer Hand. Die Benennung „Reden und Auf sätze“ träfe freilich nicht ganz zu. Manches ist w eder Rede noch Aufsatz, sondern Vorlesung; anderes n u r k urze Zu­ sammenfassung. Mancher Begriff wächst erst nach w iederholten Ansätzen und U m kreisungen ans Licht. Die beiden Abschnitte über die innenpolitische N eutralität (S. 157) und über das V erhältnis von K rieg und Feind (S. 244) sind nicht m ehr als begriffsklärende Übersichten, wie sie sich bei Sem inar­ übungen ergeben. Sie um reißen einen Fragenbereich und dienen dazu, im W irrw a rr der Schlagworte die F rage richtig zu stellen. Es ist zw ar längst bekannt, daß jede A ntw ort von der Fragestellung abhängt, doch ist das für viele wichtige Fragen des Verfassungs- und Völkerrechts praktisch kaum beachtet. In den westlichen D em okratien w erden heute noch große P ro­ bleme des 20. Jahrhunderts un ter den Fragestellungen der T alleyrandund der Louis-Philipp-Zeit behandelt und entsprechend beantw ortet. In Deutschland hat die rechtswissenschaftliche E rörterung solcher Problem e dem gegenüber einen großen Vorsprung. W ir haben das durch E rfahrungen erkauft, die oft h a rt und b itter w aren, aber der V orsprung ist unbestreitbar. Alles w eitere ist auf den folgenden Seiten gedruckt zu lesen. Nach langer A rbeit in meinem Fach kenne ich viele V orreden aller A rt. D a r­ u nter sind manche, in denen der A utor versucht, nahe- oder fernliegende Bedenken vorw egzunehm en und allen möglichen törichten oder bös­ artigen U nterstellungen durch gute und ehrliche W orte zuvorzukommen. Solche A utoren hoffen, einer spezifischen Berufsgefahr, den „Geschossen der V erleum dung“, den „tela calum niae“, zu entgehen. A ber auch den Besten und K lügsten u nter ihnen ist das nicht gelungen. D arum w ill ich mich nicht dam it aufhalten. Doch grüße ich jeden echten Gegner, und vor keinem weiche ich aus, der sich m ir auf dem Wege der wissenschaftlichen W ahrheit stellt. Möge also jed er nach seinem Sinn sich dieses bequemen Zugangs zu m einen Reden und Aufsätzen bedienen. „W illkommen, gut und bös!“ 20. August 1939

Carl Schmitt

Inhaltsverzeichnis Seite

1. Die politische Theorie des Mythus (1923) ................................................. 2. Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staats­ begriff (1924) .................................................................................................................. 3. Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik (1925) ................................... 4. Der Status quo und der Friede (1925) .................................................................. 5. Das Doppelgesicht des Genfer Völkerbundes (1926) ........................................... 6. Zu Friedrich Meineckes „Idee der Staatsräson“ (1926) ....................................... 7 . Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie (1926) 8. Der Begriff des Politischen (1927) .......................................................................... 9. Donoso Cortes in Berlin, 1849 (1927) ...................................................................... 10. Demokratie und Finanz (1927) .................................................................................. 11. Der Völkerbund und Europa (1928) ..................'.................................................... 12. Völkerrechtliche Probleme im Rheingebiet (1928) ............................................... 13. Wesen und Werden des faschistischen Staates (1929) ....................................... 14. Der unbekannte Donoso Cortés (1929) ................................................................ 15. Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen (1929) .............. 16. Staatsethik und pluralistischer Staat (1930) ........................................................ 17. Die Wendung zum totalen Staat (1931) ................................................................ 18. Übersicht über die verschiedenen Bedeutungen und Funktionen der inner­ politischen Neutralität des Staates (1931) .............................................................. 19. Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus (1932) ......................... 20. Schlußrede vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig in dem Prozeß Preußen contra Reich (1932) ....................................................................................................... 21. Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland (1933) ........................... 22. Reich - Staat - Bund (1933) ..................................................................................... 23. Der Führer schützt das Recht (1934) ...................................................................... 24. Über die innere Logik der Allgemeinpakte auf gegenseitigen Beistand (1935) 25. Die siebente Wandlung des Genfer Völkerbundes (1936) ............................... 26. Vergleichender Überblick über die neueste Entwicklung des Problems der gesetzgeberischen Ermächtigungen; „Legislative Delegationen“ (1936) .......... 27. Über die neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte (1936) ........................... 28. Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat (1937) .............................................. 29. Der Begriff der Piraterie (1937) .............................................................................

9 19 26 33 43 45 52 67 75 85 88 97 109 115 120 133 146 158 162 180 185 190 199 204 210 214 229 235 240

30. Über das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind (1938) ........................... 244 31. Das neue Vae Neutris! (1938) ................................................................................... 251

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Inhaltsverzeichnis Seile

32. 33. 34. 35. 36.

Völkerrechtliche Neutralität und völkischeTotalität (1938) .............................. 255 Uber die zwei großen „Dualismen“ desheutigen Rechtssystems (1939) .. 261 Neutralität und Neutralisierungen (1939) ........................................................... 271 Großraum gegen Universalismus (1939) ........................................................... 295 Der Reichsbegriff im Völkerrecht (1939) ........................................................... 303 Hinweise ....................................................................................................................... 313 Sachregister .................................................................................................. 318 Namenregister .............................................................................................................. 320

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l. Die politische Theorie des Mythus (1923) Es darf hier wiederholt werden, daß unsere Betrachtung ihr Interesse konsequent auf die ideelle G rundlage politischer und staatsphilosophischer Tendenzen richtet, um die geistesgeschichtliche Situation des heutigen Parlam entarism us und die K raft der parlam entarischen Idee zu erkennen. Lag in der Marxistischen D ik tatu r des Proletariats immer noch die Möglich­ keit einer rationalistischenD iktatur, so beruhen die Lehren von der direkten Aktion alle m ehr oder weniger bew ußt auf einer Irrationalitätsphilosophie. In der W irklichkeit, wie sie in der bolschewistischen Herrschaft auftrat, zeigte sich, daß im politischen Leben sehr verschiedene Ström ungen und Tendenzen nebeneinander w irksam sein können. Obwohl die bolsche­ wistische Regierung aus politischen G ründen die Anarchisten unterdrückte, enthält der Komplex, in dem sich die bolschewistische A rgum entation ta t­ sächlich bewegt, ausgesprochen anarcho-syndikalistische Gedankengänge, und daß die Bolschewisten ihre politische Macht gebrauchen, um den Anarchismus auszurotten, vernichtet die geistesgeschichtliche V erw andt­ schaft ebensowenig, wie die U nterdrückung der Levellers durch Crom well seinen Zusammenhang mit ihnen auf hebt. Vielleicht ist der M arxismus auf russischem Boden gerade so hemmungslos aufgetreten, weil hier das prole­ tarische D enken von allen Bindungen w esteuropäischer T radition und allen den moralischen und Bildungsvorstellungen, in denen M arx und Engels noch ganz selbstverständlich lebten, endgültig gelöst w ar. Die Theorie von der D ik tatu r des Proletariats, wie sie heute offiziell ist, w äre zwar ein schönes Beispiel dafür, wie ein der geschichtlichen Entwicklung sich bew ußter Rationalism us zur G ew altanw endung schreitet; auch lassen sich in der G e­ sinnung, in der A rgum entation, in der organisatorischen und adm inistrativen D urchführung zahllose P arallelen zur jakobinischen D ik tatu r von 1793 zeigen, und die ganze Unterrichts- und Bildungsorganisation, die von der Sow jetregierung im sogenannten „P roletkult“ geschaffen w urde, ist ein herrlicher F all einer radikalen E rziehungsdiktatur. A ber damit ist noch nicht erklärt, w arum gerade auf russischem Boden die Ideen des Industrie­ proletariats m oderner G roßstädte zu solcher Herrschaft gelangen konnten. D er G rund liegt darin, daß neue, irrationalistische Motive der G ew alt­ anwendung mit w irksam gewesen sind. Nicht der aus einer extrem en Über­ treibung in sein Gegenteil umschlagende Rationalism us, der in Utopien phantasiert, sondern eine neue Bew ertung rationalen Denkens überhaupt, ein neuer Glaube an Instinkt und Intuition, der jeden G lauben an die Dis­ kussion beseitigt und es auch ablehnen w ürde, durch eine Erziehungs­ diktatu r die Menschheit reif zur Diskussion zu machen.

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Die politische Theorie des Mythus

Von den Schriften der Theorie einer direkten A ktion ist in Deutschland eigentlich nur Enrico F erris „revolutionäre M ethode“ dank der Übersetzung von Robert Michels (in der Grünbergschen Sammlung der H auptw erke des Sozialismus) bekanntgew orden. D ie D arlegung im folgenden h ält sich an die „Réflexions sur la violence“ von Georges Sorel1, die den geistesgeschicht­ lichen Zusammenhang am deutlichsten erkennen lassen. Dies Buch hat außerdem den Vorzug zahlreicher origineller historischer und philosophi­ scher Aperçus und bekennt sich offen zu seinen geistigen Ahnen, zu P ro u ­ dhon, B akunin und Bergson. Sein Einfluß ist bedeutend größer, als m an auf den ersten Blick erkennen könnte, und ist sicher noch nicht erledigt. Bene­ detto Croce m einte zwar von Sorel, er habe dem m arxistischen Traum eine neue Form gegeben, doch habe bei der A rbeiterschaft der demokratische G edanke endgültig gesiegt. Nach den Ereignissen in R ußland und in Italien w ird man das nicht m ehr so endgültig annehm en können. Die G rundlage jen e r Reflexionen über die G ew alt ist eine Theorie unm ittelbaren kon­ k reten Lebens, die von Bergson übernom m en und u n ter dem Einfluß von zwei Anarchisten, Proudhon und Bakunin, auf Problem e des sozialen Lebens übertragen wird. F ü r Proudhon und für B akunin bedeutet Anarchismus einen Kam pf gegen jede A rt systematischer Einheit, gegen die zentralisierende U ni­ form ität des m odernen Staates, gegen die parlam entarischen Berufs­ politiker, gegen B ürokratie, M ilitär und Polizei, gegen den als m etaphysi­ schen Zentralismus empfundenen Gottesglauben. Die Analogie der beiden Vorstellungen von Gott und Staat drängte sich Proudhon unter dem Einfluß der Restaurationsphilosophie auf. E r gab ih r eine revolutionäre, an ti­ staatliche und antitheologische W endung, die B akunin zur letzten Konse­ quenz geführt h a t*23*. Die konkrete Individualität, die soziale W irklichkeit des Lebens w ird in jedem um fassenden System vergew altigt. D er E inheits­ fanatism us der A ufklärung ist nicht w eniger despotisch wie die Einheit und Identität der m odernen D em okratie. Einheit ist Sklaverei; auf Z entralis­ mus und A utorität beruhen alle tyrannischen Institutionen, mögen sie nun, wie in der m odernen D em okratie, durch das allgem eine W ahlrecht sanktio­ n iert sein oder nicht8. B akunin gibt diesem Kam pf gegen G ott und Staat den C h arak ter eines Kampfes gegen Intellektualism us und gegen die über­ lieferte Form der Bildung überhaupt. E r sieht — m it gutem G rund — in der Berufung auf den V erstand eine Prätention, das H aupt, der Kopf, das G ehirn einer Bewegung zu sein, also w ieder eine neue A utorität. Auch die Wissenschaft hat nicht das Recht, zu herrschen. Sie ist nicht das Leben, sie schafft nichts, sie konstruiert und erhält, aber sie versteht nu r das A llge­ meine, das A bstrakte und opfert die individuelle F ülle des Lebens auf dem A ltar ih rer A bstraktion. Die K unst ist für das Leben der Menschheit ! nack ^er ^ Auflage, Paris 1919; erste Publikation 1906 im „Mouvement socialiste . 2 Politisdie Theologie, S. 45. 3 B a k u n i n , Oeuvres t. IV, Paris 1910, p. 428 (in der Auseinandersetzung mit Marx aus dem Jahre 1872), II p. 34, 42 (das Referendum als neue Lüge).

Die politische Theorie des Mythus

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wichtiger als die Wissenschaft. D erartige Ä ußerungen Bakunins stimmen mit G edanken von Bergson überraschend überein und sind mit Recht h er­ vorgehoben w orden1. Aus dem unm ittelbaren, imm anenten Leben der A rbeiterschaft selbst hat man die Bedeutung der Gewerkschaften und ihrer spezifischen Kampfmittel, besonders des Streikes, erkannt. So w urden Proudhon und Bakunin die Väter des Syndikalismus. Aus dieser Tradition, gestützt auf Argumente, die er der Philosophie Bergsons entnahm , ent­ standen die Gedanken von Sorel. In ihrem M ittelpunkt steht die Theorie vom M ythus. Sie bedeutet den stärksten Gegensatz zum absoluten R ationa­ lismus und seiner D iktatur, aber auch, weil sie eine Lehre unm ittelbarer aktiver Entscheidung ist, zu dem relativen Rationalism us des ganzen Kom­ plexes, der sich um Vorstellungen wie Balancierung, öffentliche Diskussion und Parlam entarism us gruppiert. Die K raft zum H andeln und zu einem großen Heroismus, alle große geschichtliche A ktivität, liegt in der Fähigkeit zum M ythus. Beispiele solcher M ythen sind für Sorel: die Vorstellung von Ruhm und großem Namen bei den Griechen, oder die E rw artung des Jüngsten Gerichts im alten C hristen­ tum, der G laube an die „v ertu“ und an die revolutionäre F reiheit w ährend der großen Französischen Revolution, die nationale Begeisterung der deut­ schen Freiheitskriege von 1813. In der K raft zum M ythus liegt das K rite­ rium dafür, ob ein Volk oder eine andere soziale G ruppe eine historische Mission hat und sein historischer Moment gekommen ist. Aus der Tiefe echter Lebensinstinkte, nicht aus einem Räsonnement oder einer Zweck­ m äßigkeitserw ägung, entspringen der große Enthusiasmus, die große moralische Dezision und der große Mythus. In unm ittelbarer Intuition schafft eine begeisterte Masse das mythische Bild, das ihre Energie vorw ärts­ treib t und ih r die K raft zum M artyrium wie den Mut zur Gew altanw endung gibt. N ur so w ird ein Volk oder eine Klasse zum Motor der Weltgeschichte. Wo das fehlt, läßt sich keine soziale und politische Macht m ehr halten, und kein mechanischer A pparat kann einen Damm bilden, wenn ein neuer Strom geschichtlichen Lebens losbricht. Demnach kommt alles darauf an, wo heute diese F ähigkeit zum M ythus und diese vitale K raft wirklich lebt. Bei der m odernen Bourgeoisie, dieser in Angst um Geld und Besitz ver­ kommenen, durch Skeptizismus, Relativism us und Parlam entarism us moralisch zerrütteten Gesellschaftsschicht, ist sie gewiß nicht zu finden. Die Herrschaftsform dieser Klasse, die m oderne D em okratie, ist nur eine „demagogische P lu to k ratie“. W er ist also heute der T räger des großen Mythus? Sorel sucht zu beweisen, daß nu r noch die sozialistischen Massen des Industrieproletariats einen M ythus haben, und zw ar im G eneralstreik, an den sie glauben. Es ist viel w eniger wichtig, was der G eneralstreik heute wirklich bedeutet, als welchen G lauben das P ro letariat mit ihm verbindet, zu welchen T aten und O pfern er es begeistert, und ob er eine neue Moral zu produzieren verm ag. D er G laube an den G eneralstreik und an eine 1 Fritz B r u p b a c h e r , Marx und Bakunin, ein Beitrag zur Gesdiidite der inter­ nationalen Arbeiterassoziation (ohne Jahreszahl), S. 74 ff.

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Die politische Theorie des Mythus

durch ihn herheizuführende ungeheure K atastrophe des ganzen sozialen und wirtschaftlichen Lebens gehört daher zum Leben des Sozialismus. Aus den Massen selbst, aus der U nm ittelbarkeit industrieproletarischen Lebens, ist er entstanden, nicht als eine Erfindung von Intellektuellen und L iteraten, nicht als eine Utopie; denn die Utopie ist nach Sorel ein P ro d u k t ratio n a­ listischen Geistes und will nach einem mechanischen Schema von außen das Leben meistern. Das bürgerliche Ideal friedlicher V erständigung, bei der alle ihren V or­ teil finden und jeder ein gutes Geschäft macht, w ird unter den Gesichts­ punkten dieser Philosophie zu einer A usgeburt feigen Intellektualism us; die diskutierende, transigierende, parlam entierende V erhandlung erscheint als ein V errat am Mythus und an der großen Begeisterung, auf die alles an ­ kommt. Dem m erkantilen Bild von der Balance tritt ein anderes entgegen, die kriegerische Vorstellung einer blutigen, definitiven, vernichtenden E nt­ scheidungsschlacht. Gegen den parlam entarischen K onstitutionalism us tra t dieses Bild 1848 von beiden Seiten auf: von der Seite der überlieferten O rd ­ nung im konservativen Sinne, rep räsen tiert durch einen katholischen Spanier, Donoso Cortes, und im radikalen A narchosyndikalism us bei Proudhon. Beide verlangen eine Entscheidung. Alle G edanken des Spaniers bewegen sich um den großen Kam pf (la gran contienda), um die furchtbare K atastrophe, die bevorsteht und die n u r von der m etaphysischen F eigheit eines diskutierenden Liberalism us v erkannt w erden kann; und Proudhon, für dessen Denken hier die Schrift „La G uerre et la P a ix “ charakteristisch ist, spricht von der den Gegner vernichtenden Napoleonischen Schlacht, der „Bataille Napoléonienne“. Alle G ew altsam keiten und Rechtsverletzungen, die zu dem blutigen Kampf gehören, erhalten, nach Proudhon, ihre geschicht­ liche Sanktion. Statt der relativen, einer parlam entarischen B ehandlung zugänglichen Gegensätze erscheinen jetz t absolute A ntithesen. „Es kom m t der Tag der radikalen V erneinungen und der souveränen B ejahungen“ ; keine parlam entarische Diskussion k ann ihn aufhalten; das von seinen Instinkten getriebene Volk w ird die K atheder der Sophisten zerschlagen1 — alles Äußerungen von Donoso, die wörtlich von Sorel stam m en könnten, nur daß der Anarchist auf der Seite der Instin kte des Volkes steht. F ü r Donoso ist der radikale Sozialismus etw as G roßartigeres als die liberale Transigenz, weil er auf die letzten Problem e zurückgeht und auf rad ik ale Fragen eine entscheidende A ntw ort gibt, weil er eine Theologie hat. G erade Proudhon ist hier der Gegner, nicht w eil er der 1848 am m eisten genannte Sozialist w ar, gegen den M ontalem bert eine berühm te P arlam entsrede ge­ halten hatte, sondern weil er ein radikales P rinzip rad ik al v e rtritt. D er große Spanier verzw eifelte angesichts der dummen A hnungslosigkeit der Legitimisten und der feigen Schlauheit der Bourgeoisie. N ur beim Sozialismus sah er noch das, was er Instinkt (el instinto) nannte, w oraus er den Schluß zog, daß auf die D auer alle P arteien fü r ihn arbeiten. So gew innen die 1 „Llegua el dia de las negationes radicales o de las afirmaciones soberanas" Obras IV p. 155 (in dem Lssay über Katholizismus, Liberalismus und Sozialismus)

Die politische Theorie des Mythus

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Gegensätze w ieder geistige Dimensionen und oft eine geradezu eschatologisdie Spannung. Anders als bei der dialektisch konstruierten Spannung des Hegelischen M arxismus handelt es sich hier um unm ittelbare, intuitive G ew alt und um mythische Bilder. M arx konnte von der Höhe seiner Hegelischen Schulung Proudhon als einen philosophischen D ilettanten behandeln und ihm zeigen, wie arg er Hegel m ißverstanden hatte. H eute w ürde ein rad ik aler Sozialist mit Hilfe einer heute m odernen Philosophie M arx zeigen können, daß er hier n u r ein Schulmeister w ar und noch ganz in der intellektualistischen Überschätzung westeuropäisch-bürgerlicher Bildung stedcte, w ährend der arm e, abgekanzelte Proudhon jedenfalls den Instinkt für das wirkliche Leben arbeitender Massen besaß. In den Augen von Donoso w ar der sozialistische Anarchist ein böser Dämon, ein Teufel, und für Proudhon ist der K atholik ein fanatischer G roßinquisitor, über den er zu lachen versucht. Daß hier die beiden eigentlichen G egner w aren und alles andere provisorische H albheit, ist heute leicht zu erkennen. Alle die kriegerischen und heroischen Vorstellungen, die sich mit Kampf und Schlacht verbinden, w erden von Sorel w ieder ernst genommen. Sie sind die großen Impulse intensiven Lebens. Das P ro letariat muß den Klassen­ kam pf ernst nehmen, als einen w irklichen Kampf, nicht als ein Stichwort für Parlam entsreden und demokratische W ahlagitation. Es versteht ihn aus einem Lebensinstinkt, nicht wissenschaftlich konstruierend, sondern eine große M ythe schaffend, die ihm den Mut zur Entscheidungsschlacht gibt. F ü r den Sozialismus und seinen Klassenkam pfgedanken besteht daher keine größere G efahr als B erufspolitiker und Beteiligung am parlam entarischen Betrieb. Sie zerm ürbt den großen Enthusiasm us in Geschwätz und Intrige und tötet alle echten Instinkte und Intuitionen, aus denen die moralische Dezision entspringt. Was das menschliche Leben an W ert hat, kommt nicht aus einem Räsonnement; es entsteht im Kriegszustände bei Menschen, die, von großen mythischen B ildern beseelt, am Kampfe teilnehm en. Es hängt ab „d’un état de guerre auquel les hommes acceptent de participer et qui se trad u it en m ythes précis“ (Réflexions p. 319). Kriegerische, revolutionäre Begeisterung und die E rw artung ungeheurer K atastrophen gehören zur Intensität des Lebens und bewegen die Geschichte. A ber der Schwung muß aus den Massen selbst kommen; Ideologen und Intellektuelle können ihn nicht erfinden. So sind die Revolutionskriege von 1792 entstanden; so die Epoche, die Sorel m it R enan als die größte Epopöe des 19. Jahrhunderts feiert, nämlich die deutschen F reiheitskriege von 1813. Aus der irrationalen Lebensenergie einer anonymen Masse entspringt aller Heroismus. Jede rationalistische D eutung w ürde die U nm ittelbarkeit des Lebens fälschen. D er M ythus ist, wie erw ähnt, keine Utopie; denn diese, ein P ro­ dukt räsonnierenden Denkens, fü h rt höchstens zu Reformen; den kriege­ rischen Elan darf man nicht mit einem M ilitarismus verwechseln; und vor allem will die G ew altanw endung dieser Irrationalitätsphilosophie etwas anderes sein als D iktatur. Sorel haßt, wie Proudhon, allen Intellektualis­ mus, alle Zentralisierung, Uniform ierung und verlangt doch auch, wie

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Proudhon, strengste Disziplin und Moral. Die große Schlacht w ird kein W erk wissenschaftlidier Strategie sein, sondern eine „accum ulation d’ex­ ploits héroïques“ und eine Entfesselung der „force individualiste dans les masses soulevées“ (Réflexions p. 376). Die schöpferische Gewalt, wie sie aus der Spontaneität enthusiasm ierter Massen bricht, ist infolgedessen etw as anderes als D iktatur. Rationalism us und alle Monismen, die ihm folgen, Zentralisation und U niform ität, ferner die bürgerlichen Illusionen von dem großen Mann, gehören nach Sorel zur D iktatur. Ihr praktisches R esultat ist systematische Unterjochung, justizförm ige G rausam keit und ein mechanischer A pparat. Die D ik tatu r ist nichts als eine aus rationalisti­ schem Geist geborene m ilitärisch-bürokratisch-polizeiliche Maschine. Die revolutionäre G ew altanw endung der Massen dagegen entspringt dem un­ m ittelbaren Leben, oft w ild und barbarisch, aber niem als systematisch grausam und unmenschlich. D ik tatu r des Proletariats bedeutet auch für Sorel, wie für jeden, der den geistesgeschichtlichen Zusammenhang sieht, eine W iederholung von 1793. W enn der Revisionist Bernstein die Meinung ausgesprochen hat, diese D ik tatu r w erde verm utlich die eines Klubs von Rednern und L iteraten sein, so dachte er eben an die Im itation von 1793, und Sorel erw idert ihm (Réflexions, p. 251): die Vorstellung einer D ik tatu r des Proletariats ist ein E rbteil aus dem ancien régime. Sie hat zur Folge, daß man, wie die Jako­ biner es getan haben, einen neuen bürokratischen und m ilitärischen A pparat an die Stelle des alten setzt. Das w äre eine neue H errschaft von Intellek­ tuellen und Ideologen, aber keine proletarische Freiheit. Auch Engels, von dem das W ort stammt, daß es bei der D ik tatu r des Proletariats zugehen w erde wie 1793, ist in den Augen von Sorel ein typischer R ationalist1. A ber daraus folgt nicht, daß es bei der proletarischen Revolution revisionistischfriedlich-parlam entarisch zugehen müßte. Vielm ehr tritt an die Stelle der mechanisch-konzentrierten Macht des bürgerlichen Staates die schöpferische proletarische Gewalt, an die Stelle der „force“ die „violence“. Diese ist nur ein kriegerischer Akt, keine juristisch und adm inistrativ form ierte Maß­ nahme. M arx hat die Unterscheidung noch nicht gekannt, weil er noch in den überlieferten politischen V orstellungen lebte. Die proletarischen, nicht­ politischen Syndikate und der proletarische G eneralstreik sind spezifisch neue Kampfmethoden, die eine W iederholung der alten politischen und m ilitärischen M ittel ganz unmöglich machen. F ü r das P ro letariat gibt es daher n u r eine G efahr, daß es sich seine K am pfm ittel durch die parlam entarische D em okratie aus der H and nehmen und p aralysieren läßt (Réflexions p. 268). W enn m an einer so entschieden irrationalistischen Theorie mit A rgu­ m enten entgegentreten darf12, so w ird man auf m ehrere Unstim m igkeiten 1 Matériaux d’une théorie du prolétariat, Paris 1919, p. 53. 2 Daraus, daß er sich auf Bergson stützt, wird man keinen Einwand gegen Sorel entnehmen können. Er legt eine Philosophie konkreten Lebens seinen politischen Theorien des Antipolitisdien, d. h. des Antiintellektuellen, zugrunde, und eine soldie Philosophie hat, wie der Hegelianismus, im konkreten Leben viele versdiiedene Seiten. In Frankreich hat Bergsons Philosophie gleichzeitig einer Rückkehr zur kon-

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hinw eisen müssen, nicht also auf Fehler im Sinne einer abstrakten Logik, sondern auf unorganische W idersprüche. Zunächst versucht Sorel die rein ökonomische Basis des proletarischen Standpunktes beizubehalten und geht, trotz m ancher Einwände, immer entschieden von M arx aus. Er hofft, das P ro le ta riat w erde eine Moral ökonomischer Produzenten schaffen. D er K lassenkam pf ist ein Kampf, der sich auf ökonomischer Basis mit ökonomi­ schen M itteln abspielt. Im vorigen K apitel w urde gezeigt, daß M arx aus einer systematischen und logischen Notw endigkeit seinem Gegner, dem Bourgeois, auf das ökonomische G ebiet gefolgt ist. H ier hat also der Feind das T e rra in bestimmt, auf dem m an käm pft, und auch die Waffen, d. h. die S tru k tu r der Argum entation. W enn m an dem Bourgeois auf das ökono­ mische Gebiet folgt, w ird man ihm auch in D em okratie und Parlam entaris­ mus folgen müssen. A ußerdem w ird man ohne den wirtschaftlich-technischen Rationalism us der bürgerlichen Ökonomie sich vorläufig wenigstens auf ökonomischem Gebiete nicht bewegen können. D er vom kapitalistischen Z eitalter geschaffene Mechanismus der Produktion hat eine rationalistische Gesetzm äßigkeit in sich. Aus einer M ythe kann m an wohl den Mut schöpfen, ihn zu zerschlagen; soll er aber w eitergeführt w erden, soll die Produktion sich noch w eiter steigern, was auch Sorel selbstverständlich will, so w ird das P ro letariat auf seinen M ythus verzichten müssen. Ebenso wie die Bourgeoisie w ird es durch die Übermacht des Produktionsmechanism us in eine rationalistische und mechanistische M ythenlosigkeit hineingeraten. H ier w ar M arx auch im vitalen Sinne konsequenter, weil er rationalistischer w ar. A ber vom Irratio n alen aus gesehen, w ar es ein V errat, noch ökono­ mischer und noch rationalistischer sein zu wollen als die Bourgeoisie. B akunin h at das durchaus richtig empfunden. Die Bildung und Denkweise von M arx blieben noch im Ü berlieferten, das hieß damals im Bürgerlichen, so daß er in eine geistige A bhängigkeit von seinem G egner geriet. Trotzdem h at er gerade durch seine K onstruktion des Bourgeois eine für den M ythus im Sinne von Sorel unentbehrliche A rbeit geleistet. Die große psychologische und geschichtliche Bedeutung der M ythen­ theorie kann gar nicht geleugnet werden. Audi die mit den M itteln Hegelischer D ialektik unternom m ene K onstruktion des Bourgeois hat dazu ge­ dient, ein Bild von einem G egner zu schaffen, auf das alle Affekte von Haß und Verachtung sich häufen konnten. Ich glaube, die Geschichte dieses Bildes vom Bourgeois ist ebenso wichtig wie die Geschichte des Bourgeois servativen Tradition, zum Katholizismus und einem radikalen, atheistischen An­ archismus gedient. Das ist keineswegs ein Zeichen innerer Falschheit. In dem Gegen­ satz der Rechts- und Links-Hegelianer hat dies Phänomen eine interessante Analogie. Man könnte sagen, daß eine Philosophie selber aktuelles Leben hat, wenn sie leben­ dige Gegensätze belebt und die kämpfenden Gegner als lebendige Feinde gruppiert. Unter diesem Gesichtspunkt ist es beachtenswert, daß nur Gegner des Parlamentaris­ mus aus Bergsons Philosophie diese Belebung geschöpft haben. Der deutsche Libera­ lismus der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte, im Gegensatz dazu, den Begriff des Lebens gerade für das parlamentarisch-konstitutionelle System verwertet und im Parlament den lebendigen Träger der Gegensätze des sozialen Lebens gesehen; vgl. oben Kap. II.

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selbst. Eine zuerst von A ristokraten geschaffene Spottfigur w ird im 19. J a h r­ hundert von romantischen K ünstlern und D ichtern w eitergeführt. Seitdem die W irkung von Stendhal sich v erbreitet, verachten alle L iteraten den Bourgeois, auch w enn sie von ihm leben oder w enn sie zur L ieblingslektüre eines bürgerlichen Publikum s w erden, w ie M urger m it seiner Bohème. W ichtiger als solche K arik atu ren ist der H aß sozial deklassierter Genies, wie B audelaire, der dem Bild im m er neues Leben gibt. Diese in Frankreich von französischen A utoren angesichts des französischen Bourgeois ge­ schaffene Figur stellen M arx und Engels in die Dim ensionen einer w elt­ geschichtlichen K onstruktion. Sie geben ih r die B edeutung des letzten R epräsentanten einer in Klassen zerteilten Menschheit, des letzten Feindes der Menschheit überhaupt, des letzten odium generis hum ani. So w urde das Bild unendlich erw eitert und m it einem großartigen, nicht nu r weltgeschichtlidien, sondern auch m etaphysischen H in terg ru n d nach dem Osten w eitergetragen. H ier konnte es dem russischen H aß gegen die K om pliziertheit, K ünstlichkeit und den Intellektualism us w esteuropäischer Zivilisation neues Leben geben und von ihm selber neues Leben empfangen. Auf russischem Boden vereinigten sich alle Energien, die dieses Bild geschaffen hatten. Beide, der Russe w ie der P ro letarier, sahen je tz t im Bourgeois die Inkarnation alles dessen, was wie ein tödlicher Mechanismus ihre A rt Leben zu knechten suchte. Das Bild w ar von W esten nach O sten gew andert. H ier aber bemächtigte sich seiner ein M ythus, der nicht m ehr rein aus K lassenkam pfinstinkten wächst, sondern starke nationale Elem ente enthält. Sorel hat, als eine A rt Testam ent, der letzten A uflage seiner Reflexionen über die G ew alt 1919 eine Apologie für Lenin beigefügt. E r nennt ihn den größten T heoretiker, den der Sozialismus seit M arx gehabt hat, und vergleicht ihn als Staatsm ann m it P eter dem Großen, n u r daß heute um gekehrt nicht m ehr ein w esteuro­ päischer Intellektualism us R ußland sich assim iliert, vielm ehr um gekehrt die proletarische G ew altanw endung hier m indestens eines erreicht hat, nämlich, daß R ußland w ieder russisch gew orden ist, M oskau w ieder die H auptstadt, und daß die europäisierte, ih r eigenes Land verachtende russische Oberschicht vernichtet w urde. D ie proletarische G ew altanw en­ dung h at R ußland w ieder moskowitisch gemacht. Im Munde eines in te r­ nationalen M arxisten ist das ein m erkw ürdiges Lob, denn es zeigt, daß die Energie des N ationalen größer ist als die des K lassenkam pfm ythus. Auch die anderen Beispiele von M ythen, die Sorel erw ähnt, beweisen, soweit sie in die neuere Zeit fallen, die Ü berlegenheit des N ationalen. D ie revolutio­ nären K riege des französischen Volkes, die spanischen und deutschen F re i­ heitskäm pfe gegen Napoleon sind Sym ptom e einer nationalen Energie. Im N ationalgefühl sind verschiedene Elem ente auf höchst verschiedenartige W eise bei den verschiedenen V ölkern w irksam : die m ehr n atu rh aften Vor­ stellungen von Rasse und Abstamm ung, ein anscheinend m ehr fü r keltoromanische Stämme typischer „terrism e“; dann Sprache, T radition, Bew ußt­ sein gemeinsam er K ultur und Bildung, Bew ußtsein einer Schicksalsgemein-

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schaft, eine Empfindlichkeit für das Verschiedensein an sich — alles das bewegt sich heute eher in der Richtung zu nationalen als zu Klassengegen­ sätzen. Beides kann sich verbinden, w ofür als Beispiel die Freundschaft zwischen dem M ärtyrer des neuen irischen Nationalbew ußtseins, Padraic Pearse, und dem irischen Syndikalisten Connolly genannt sei, die beide als O pfer des D ubliner Aufstandes 1916 starben. Auch kann ein gemeinsamer ideeller G egner eine m erkw ürdige Übereinstim mung bew irken; so trifft die A blehnung der Freim aurerei durch den Faschismus zusammen m it dem H aß von Bolschewisten gegen diesen „perfidesten Betrug der A rbeiterklasse durch eine radikalisierende Bourgeoisie“1. A ber wo es zu einem offenen Gegensatz der beiden M ythen gekommen ist, hat bis heute der nationale M ythus gesiegt. Von seinem kommunistischen Feind hat der italienische Faschismus ein grausiges Bild entw orfen: das mongolische Gesicht des Bolschewismus; es hat sich als w irkungsvoller erw iesen als das sozialistische Bild vom Bourgeois. Bisher gibt es n u r ein einziges Beispiel dafür, daß unter bew ußter Berufung auf den M ythus D em okratie und Parlam entarism us verächtlich beiseitegeschafft w urden, und das w ar ein Beispiel für die irrationale K raft des nationalen Mythus. In seiner berühm ten Rede vom O ktober 1922 in Neapel, vor dem Marsch auf Rom, sagte Mussolini: „W ir haben einen M ythus geschaffen, der M ythus ist ein Glaube, ein edler Enthusiasmus, er braucht keine R ealität zu sein, er ist ein A ntrieb und eine Hoffnung, G laube und Mut. U nser M ythus ist die Nation, die große Nation, die w ir zu einer konkreten R ealität machen wollen.“ In derselben Rede nennt er den Sozialismus eine inferiore Mythologie. D ie geistesgeschicht­ liche Bedeutung dieses Beispiels ist deshalb so groß, weil der nationale Enthusiasm us auf italienischem Boden eine demokratische und parlam en­ tarisch-konstitutionelle T radition hatte und die nationale Einigung Italiens u nter demokratischen Ideen zustande gekommen ist. — D ie Theorie vom M ythus ist der stärkste Ausdruck dafür, wie sehr der relative Rationalism us des parlam entarischen Denkens an Evidenz verloren hat. D aß anarchistische A utoren aus Feindschaft gegen A utorität und Ein­ heit die Irratio n alität des Mythischen entdeckt haben, konnte nicht hindern, daß sie an der G rundlage einer neuen A utorität, eines neuen Gefühls für O rdnung, D isziplin und H ierarchie m itgearbeitet haben. Die ideelle G efahr dieser Irratio n alitäten ist groß. Letzte, wenigstens in einigen Resten noch bestehende Zusam m engehörigkeiten w erden aufgehoben in dem P luralis­ mus einer unabsehbaren Zahl von Mythen. F ü r die politische Theologie ist das Polytheism us, wie jed e r M ythus polytheistisch ist. A ber als gegen­ w ärtige ideelle Tendenz kann man ihn nicht ignorieren. Vielleicht hat der parlam entarische Optimismus die Hoffnung, auch diese Bewegung zu rela­ tivieren und, wie im faschistischen Italien, alles über sich ergehen zu lassen, bis w ieder diskutiert w ird, vielleicht auch die Diskussion selbst zur Diskussion zu stellen, sofern n u r eben diskutiert wird. Doch w ird es nicht12 1 Äußerung Trotzkis über die Freimaurerei auf dem 4. Weltkongreß der dritten Internationale (l.D ez. 1922). 2

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ausreichen, wenn er nach solchen Angriffen auf seine Fundam ente n u r d a r­ auf hinweisen kann, daß es für ihn immer noch keinen Ersatz gibt, w enn er also den antiparlam entarischen Ideen n u r sein „Parlam entarism us — was sonst“? entgegenzusetzen vermag.

2. Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff (1924) D en Begriff der modernen D em okratie bestimm t T h o m a 1 nach dem, „was heute nun einmal herrschender Sprachgebrauch ist“. Danach ist je d e r Staat demokratisch, der auf „dem Fundam ent des allgemeinen und gleichen W ahlrechts“ beruht. Das demokratische Ideal von Freiheit und Gleichheit läßt zwar im Bereich des Demokratischen eine Unterscheidung von radikalem ( = egalitärem ) und liberalem ( = antiegalitärem ) Demo­ kratism us zu; der egalitäre D em okratism us führt konsequent zu Volks­ entscheiden über alle wichtigen Fragen, wirtschaftlich zum Kommunismus, w ährend der liberale die rechtliche Gleichheit nur als die Grundlage eines die natürliche Ungleichheit cler Menschen frei entfaltenden sozialen Lebens ansieht; verfassungstechnisch äußert sich der Gegensatz der beiden Ideale von F reiheit und Gleichheit in den beiden A rten der m odernen Dem okratie, der repräsentativen und der gemischten (die letzte ist eine mit radikaldemokratischen Einbauten, wie Referendum , Volksinitiative, Recall usw. versehene repräsentative D em okratie, da es praktisch keine reine unm ittel­ bare D em okratie geben kann). Imm er aber bleibt für den Begriff das all­ gemeine und gleiche W ahlrecht aller erwachsenen Staatsangehörigen (nicht notwendig auch der Frauen) das Wesentliche. Sobald verfassungsmäßig dieses „Fundam ent“ feststeht, h at die rechtliche und überhaupt die wissen­ schaftliche Behandlung der Angelegenheit eine D em okratie anzunehmen, ohne w eitere Fragen nach dem wirklichen Herrscher zu stellen. Denn D em okratie ist ein Rechtsbegriff. Doch bedeutet moderne D em okratie mehr als eine bloße Staatsform (wie z. B. parlam entarische Monarchie oder die verschiedenartigen republikanischen Staatsform en); sie kann verschiedene Form en haben, denn auch in einer Monarchie kann das allgemeine, gleiche W ahlrecht „Fundam ent des G anzen“ sein. D er einzige ausschließliche Gegensatz der D em okratie ist jede A rt von Privilegienstaat. Mit der alten aristotelischen D reiteilung — Monarchie, A ristokratie und D em okratie — ist die m oderne D em okratie nicht m ehr zu erfassen. Soweit die teils terminologischen, teils methodologischen K larstellungen des ersten Kapitels. Das zweite K apitel unternim m t in ähnlicher Weise eine Begriffsbestim­ mung des m odernen Staates und stellt einen doppelten Staatsbegriff fest.*& 1 Richard T h o m a , Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff. Prolegomena zu einer Analyse des demokratischen Staates der Gegenwart. Erinnerungsgabe für Max Weber, ÎI. Bd., S. 37—64. München, Duncker & Humblot, 1923. 2*

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Die alte, ursprüngliche A uffassung verstand unter „S taat“ den wirklichen, konkreten „Status“ von H errschaftsm itteln in der H and individueller M achtfaktoren, regierende H erren und ihre O rganisationen, also eine „Macht prästierende H errschaftsgruppe“ innerhalb des Volkes. Im G egen­ satz dazu sieht eine m odernere V orstellung im Staat das „Ganze der gegen­ seitigen Bezogenheiten einer H errschaftsorganisation, eines Volkes und eines Landes“, und macht aus dem Staat eine Körperschaft. Beide Staats­ begriffe haben Recht, zwischen ihnen „ist nicht zu rechten“, m an m uß sie nur richtig unterscheiden. Als zweckmäßigeren Sprachgebrauch empfiehlt Thom a „allein dasjenige O b je k t Staat zu nennen, das der allgem eine Sprachgebrauch und die M ehrzahl der Ju risten so bezeichnen, d. h. den sinnlich nicht w ahrnehm baren, im vollen Um fang seines Soll-Inhaltes nie­ mals realisierbaren, als E inheit auf gefaßten V erband eines Volkes auf einem Gebiet unter einer V erbandsorganisation“. D er Staat ist eine Ein­ heit, die nach juristischen und ethischen N orm en sein soll, allerdings kom mt eine „Kom plikation“ hinzu: die G eltung dieser N orm en kann n u r dann b e­ hauptet werden, wenn sie fü r eine hinreichende Zahl von Menschen rea lite r Motiv des V erhaltens ist, so daß erst das „Zusammenspiel der ideellen norm ativen Einheit m it der R ealität einer gewissen tatsächlichen A nerken­ nung“ den Staat ergibt. E rst innerhalb dieses gemeinsam en W ertbegriffes scheiden sich die D eutungsbegriffe nach ihren Erkenntniszw ecken: politische H istorie (Staat als historisch-politische Macht), politische Ökono­ m ik (Staat als R egulator und als F a k to r des W irtschaftslebens) und E thik (Staat als ideale Einheit, welcher Pflichten geschuldet w erden und welche Pflichten hat). F ü r die Soziologie im Sinne Max W ebers ist der Staat ein Zusammenspiel von verschieden m otivierten Individualhandlungen, -Unter­ lassungen und -bereitschaften, dessen Ergebnis eine H errschaft einer Viel­ zahl von (in verschiedenen G raden) A nordnenden über eine sehr viel größere Zahl von Gehorchenden ist; hier ist also das individuelle V erhalten das im sozialen Geschehen allein Reale, w ährend der juristische Staats­ begriff, indem er eine E inheit über der V ielheit herstellt, synthetisch ist. D er Staat h at demnach nicht etw a eine juristische und eine soziologische „Seite“, auch nicht eine „D oppelnatur“, er ist überh au p t kein soziales, sondern ein „G edankengebilde“. D er juristische Staatsbegriff (Staat = Körperschaft) ist der äußerste Pol der synthetischen, der soziologische (Staat == herrschafterzeugender Kom plex von m annigfaltigen sozialen Verhaltungsweisen) der äußerste Pol einer analytischen Betrachtungsweise. Die Frage, was der Staat an und fü r sich sei, w ird als eine m etaphysische Frage unbeantw ortet gelassen (S. 56). Nachdem das erste K apitel den Begriff der D em okratie, das zweite den des Staates bestimm t hat, w ird im d ritten das V erhältnis von Staat und D em okratie behandelt. Ist die m oderne D em okratie eine H errschafts­ organisation und ein dem okratisch geordneter V erband somit ein Staat? Nach den Ergebnissen der beiden vorangehenden K apitel w ird m an nicht ein einfaches Ja oder Nein erw arten. Ein Staat im Sinne von V olksverband

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und juristischer Person, in der alle H errschaft n u r übertragene O rgan­ kom petenz ist und n u r die Staatspersönlichkeit als Ganzes herrscht, ein Staat in solchem Sinne ist die D em okratie sogar „verhältnism äßig weniger fiktiv“ als jede andere Staatsform. Staat im Sinne von herrschender G ruppe ist sie nicht, doch bilden sich auch in der D em okratie herrschende Gruppen, nu r sind sie, w enn sie legitim bleiben wollen, gezwungen, durch M ehrheits­ entscheidungen zu herrschen, „die sie m ittels ih rer Argumente, Suggestio­ nen und Vorteilsgew ährungen hinter sich bringen“. Legitime Herrschaft ist in der D em okratie „Eroberung der staatlichen B etriebsdirektion mit den gesetzlich erlaubten M itteln des Zusammenschlusses und der Stimmen­ w erbung“. D er V erw altungsapparat, die militärische und soziale Büro­ k ratie regiert zwar den Staat, aber u n ter der Leitung einer anderen H e rr­ schaftsgruppe, nämlich der politischen Parteien, denen es gelang, die Macht zu erobern. So ist in der D em okratie der einheitliche Status der Macht zerschlagen, „um einer fluktuierenden Vielheit frei gebildeter G ruppen den Platz zu räum en“. H errscher in der m odernen D em okratie sind die H äupter der politischen Parteien. P artei und Presse fordern die Ent­ scheidungen, in denen sich der Volkswille zu betätigen scheint. Homogene Gesellschaften (z. B. heute noch die Vereinigten Staaten von Amerika) bilden zw ar unabhängig von Parteisuggestionen eine öffentliche Meinung („das Produkt der W echselw irkung zwischen Zeitung und Zeitungsleser“), das kann m an als eine A rt Volkswillen betrachten. In weniger homogenen Ländern, namentlich da, wo der Sozialismus oder konfessionelle Gegen­ sätze eine einheitliche Durchschnittsmeinung in allen wichtigen Fragen ausschließen, ist der Begriff des Volkswillens „um so fiktiver“ (S. 63). Volkswille ist dann eben der herrschende Parteiw ille, den das Volk duldet. P arteien sind in jed e r D em okratie notwendig, weil diese nicht in einer Gesinnungs-, sondern in einer Kampfgemeinschaft ihr eigentliches Lebens­ elem ent hat, in der jede P artei die Macht erobern will. W enn die U nter­ suchung über die Rechtsformen hinaus zu den R ealitäten Vordringen soll, muß sie zu einer Untersuchung der politischen P arteien und ih rer Beziehun­ gen zu den wirtschaftlichen M achtfaktoren übergehen, die den Parteikam pf finanzieren. Mit diesem Ausblick schließt die in ihrem gedanklichen M aterial wie in präzisierenden Form en außerordentlich reichhaltige Abhandlung. Doch w erden gerade infolge der etwas zu sehr punktierenden Präzision mancher W endungen die Stellen sofort sichtbar, an denen die Problem atik im Interesse einer terminologischen Einigung offengelassen w ird und an denen Fragen unbeantw ortet bleiben, die man stellen darf, auch wenn die Ab­ handlung n u r Prolegom ena enthalten soll. Die Frage nach dem Begriff der m odernen D em okratie w ird beantw ortet m it einem Hinweis auf den „heute nun einm al herrschenden Sprachgebrauch“, auf den „weitläufigen und von der W issenschaft zu übernehm enden Sprachgebrauch“. Nichts ist weniger k lar als dieser, das allgem eine und gleiche W ahlrecht zum „Fundam ent des G anzen“ machende Sprachgebrauch; er unterscheidet ja nicht einmal

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zwischen einem W ahlrecht, d. h. einem Recht, periodisch die leitenden Persönlichkeiten zu bestimm en, und einem Entscheidungsrecht, d. h. dem Recht, selber, etw a durch Ja oder Nein, sachliche Entscheidungen zu treffen. W enn W ahlrecht die Benennung persönlicher „R epräsentanten“ bedeutet, so ist es geschichtlich, psychologisch, begrifflich und in der Idee etw as anderes als die sachliche Entscheidung. D afür ist die E igenart des Begriffes der R epräsentation zu stark und seine Bedeutung zu sehr zentral für das öffentliche Recht. D er heutige Sprachgebrauch b eru h t in W ahrheit darauf, daß seit dem 19. Jah rh u n d ert das „Volk“ imm er größer w urde und die von der alten klassischen D em okratie ganz selbstverständlich ausgeschlossene M a s s e aufnahm . Q uantitativ dehnte sich die Beteiligung am politischen Leben immer m ehr aus; das w ar der dem okratische Fortschritt. Die Forde­ rung des W ahlrechts der Frauen, die F orderung einer H erabsetzung des W ahlalters, alles, was die Zahl der W ahlberechtigten verm ehrte, hieß infolgedessen „dem okratisch“. Es w ar konsequent, die w eitere Ausdehnung auf sachliche Entscheidungen, R eferenden usw. ebenfalls demokratisch zu nennen. M ehr läßt sich über den allgem einen Sprachgebrauch nicht sagen; er m üßte dazu führen, n u r die „egalitären“ Tendenzen als demokratisch zu bezeichnen. Eine so un k lare W endung w ie „Fundam ent des G anzen“ reicht ebenfalls für eine Begriffsbestim mung nicht aus. D er Sprachgebrauch kann auch die wichtige Unterscheidung der beiden A rten der D em okratie, der repräsentativen und der unm ittelbaren, nicht sachlich begründen, er könnte die repräsentative höchstens als inkonsequentes Residuum und als Konzession an praktische N otw endigkeiten gelten lassen, welche Konse­ quenz er wohl nur deshalb nicht ziehen darf, weil nun einm al die V er­ einigten Staaten von A m erika den Anspruch erheben, V orkäm pfer der dem okratischen F reiheit zu sein und ihre politischen W erturteile den w eitläufigen Sprachgebrauch, d. h. die W eltpresse beherrschen. Aus dem Sprachgebrauch ist auch nicht die entfernteste A ndeutung dafür zu ent­ nehmen, daß im Kam pf fluktuierender P arteien das Lebenselem ent der D em okratie liege; der P arteikam pf w ird im G egenteil als ein Übel betrachtet, und auch D em okraten sehen vielfach gerade in der L abilität des heutigen Parteiw esens einen G rund fü r die K risis der D em okratie. W as Thom a von der öffentlichen M einung sagt, daß sie „das P rodukt einer W echselw irkung zwischen Zeitung und Zeitungsleser“ sei, gilt ebensosehr von der Bedeutung politisch ak tu eller W orte, und die Bedeutung des W ortes D em okratie h at sich nicht etw a erst einm al seit A ristoteles, sondern im letzten Jah rh u n d ert oft geändert, m it den politischen Zielen und Affekten von Freunden und Feinden. Schon diese ganz naheliegenden Bedenken machen es unmöglich, den täglich wechselnden Sprachgebrauch als letzte Instanz zu behandeln. Bei allem R espekt vor der Macht und U nw iderstehlichkeit dem okratischer V orstellungen braucht man doch auf dem G ebiet der Begriffsbestimmung die Entscheidung nicht der öffentlichen M einung zu überlassen.

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E rst in der D em okratie soll der Satz, daß der Staat eine Körperschaft ist, „vollkomm ene W ahrheit“ geworden sein (S. 48). D er Staat als volksverbindende juristische Person, die Staatspersönlichkeit, die als solche selber herrscht (im Gegensatz zu den in concreto herrschenden Menschen oder G ruppen), ist „in der D em okratie sogar verhältnism äßig w eniger fiktiv als in jed e r andern Staatsform “ (S. 57). Diese Ä ußerung fällt um so m ehr auf, als in der soziologischen Betrachtung vom Volkswillen gesagt w ird, er sei eine „Illusion“, wenn d aru n ter eine bewußte, positive Initiative verstanden w erden solle; das Volk w ird, nach Hegel, als der Teil der N ation bezeichnet, der nicht weiß, was er w ill oder, fügt Thoma hinzu, bestenfalls in einigen A ngelegenheiten weiß, was er (verschiedene G ruppen aus verschiedenen Motiven) nicht will. In A m erika gebe es noch eine öffent­ liche Meinung, in den europäischen D em okratien sei sie längst proble­ matisch. „U m so f i k t i v e r “, heißt es w eiter (S. 63), „ist der Begriff des Volkswillens gew orden.“ W ir dürfen in Parenthese bem erken: und um so bedenklicher die einfache Ü bernahm e des „weitläufigen“ Sprach­ gebrauchs. In der Sache aber erhebt sich ein anderes Bedenken. In W irklichkeit ist „der ideelle Staatsw ille der D em okratie der auf Volks­ bew illigung oder D uldung beruhende W ille der jew eils herrschenden Parteiorganisation“ (S. 63). W enn nun der W ille des Staates eine n u r gedachte Größe ist, dann ist es juristisch gleichgültig, ob man ihn in dem R esultat der zufällig am W ahl- oder Abstim m ungstag sich ergebenden M ehrheitsentscheidung findet, oder in der Entscheidung periodisch gewähl­ te r R epräsentanten, oder in der eines dauernden „R epräsentanten der N ation“, als welcher in der Verfassung von 1791 auch der König auftritt. J u r i s t i s c h k ann also, wie Thom a seine Begriffe bestimmt, die Demo­ k ratie als Staat nicht in einem besondern Sinne „vollkommene W ahrheit“ sein. D er S taat w ird als ein „G edankending“ definiert und „herrscht“ „als solcher“ in der absolutesten Monarchie oder B ürokratie nicht m ehr und nicht w eniger fiktiv wie in Rousseaus Korsika. W eder die B erufung auf den Sprachgebrauch noch eine „form ale“ Betrachtungsw eise können die F rage nach dem V erhältnis von D em okratie und Staat beantw orten. D afür dürfte m indestens ein w eiterer Schritt unumgänglich sein, der über die Feststellung, daß D em okratie auf dem allgem einen, gleichen W ahlrecht beruhe, hinausgeht und der ideellen S tru k tu r des Begriffes näherkom m t. In W ahrheit hat Thoma diesen Schritt getan, indem er die D em okratie als „Selbstregierung“ bezeichnet (S. 63). A llerdings fließt das bedeutungsvolle W ort anders als mit der sonst beobachteten Sorgfalt, ja B ehutsam keit der Ausdrucksweise, nu r beiläufig und unversehens ein, aber doch imm er an entscheidender Stelle. Die „vollkommene W ah rh eit“ der D em okratie im Sinne des „juristischen“ Staatsbegriffs kan n nämlich n u r d arin liegen, daß sie eine „sich selbst regierende Genossenschaft aller erwachsenen Staatsangehörigen“ ist (S. 46); ihr ausschließlicher G egensatz ist daher der „Privilegienstaat“, die prinzipielle V erneinung aller P rivilegien ist ihr wesentlich (S. 44); sie erhält

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auf diese W eise eine universale, über den Rang einer einfachen Staatsform hinausgehende Bedeutung (S. 45). Das alles beweist, daß auch das a ll­ gemeine gleiche W ahlrecht n u r den Sinn hat, die S e l b s t r e g i e r u n g , d. h. eine bestimm te A rt Id en tität zu verw irklichen. Eine Definition der D em okratie muß daher ausgehen von den Identitätsvorstellungen, die allem demokratischen D enken typisch sind (Identität von H errscher und Beherrschten, Regierenden und Regierten, Staat und Volk, S ubjekt und O b je k t politischer A utorität), w orauf ich mehrfach hingew iesen habe1. Thoma lehnt es ab, seinen Begriff anders als nach dem Sprachgebrauch zu bestimm en und verzichtet insbesondere ausdrücklich darauf, die Demo­ k ratie nach einem Zusamm enhang m it einer W eltanschauung zu u n ter­ scheiden. „Innere und notw endige V erknüpfungen irgendeiner W elt­ anschauung m it irgendeiner A rt D em okratism us bestehen nicht“ (S. 42 Anm.). Zur W iderlegung von Kelsens Satz, daß der demokratische G edanke den Relativism us als W eltanschauung voraussetze, w ird bem erkt, angel­ sächsische Independenten, R ationalisten des linken N aturrechts und K atho­ liken seien D em okraten, aber keine R elativisten gewesen. Mit diesem geschichtlichen Hinweis dürfte kaum w iderlegt sein, daß ein Zusammen­ hang mit einer W eltanschauung möglich ist. N atürlich können demokratische Forderungen und Institutionen, ebenso wie religiöse, zu politischen M itteln relativ iert werden. In der T ak tik des außen- und innerpolitischen Kampfes wie in der konkreten geistesgeschichtlichen Situation kommt es oft zu m erkw ürdigen Allianzen. Das schließt begriffliche und wesentliche Zu­ samm enhänge mit W eltanschauungen keineswegs aus. Es scheint, als w ollte der A utor gerade in dieser wichtigen F rage den Leser einer U nklarheit überlassen. D enn w ährend er zunächst jede H eranziehung einer W elt­ anschauung für die Begriffsbestimmung der D em okratie ablehnt, definiert er einige Seiten später (S.46) innerhalb der D em okratie ihre beiden A rten (repräsentative und gemischte D em okratie) nach dem Gegensatz von „G eistesrichtungen“ innerhalb des „gemeinsamen Ideals der F reiheit und Gleichheit“. W oher haben Ideale und Geistesrichtungen die K raft, inner­ halb eines Begriffes eine differentia specifica zu konstituieren, w enn sie nicht mit dem Begriff selbst wesentlich Zusammenhängen? Und w enn die D em okratie wirklich nichts m it W eltanschauung zu tu n hat, so kann sie niem als in irgendeinem Sinne die „vollkomm ene W ahrheit“ einer Staats­ persönlichkeit realisieren und niem als m ehr sein, als in der politischen und verfassungsrechtlichen Technik eine Staatsform neben andern. Alles was darü b er hinausgeht, macht es notwendig, in die Bestimmung des Begriffs jen e Identität — auf der auch seine ganze Idealität b eru h t — aufzunehm en. Aus den verschiedenen Identitätsvorstellungen e rk lären sich alle spezifisch dem okratischen Phänom ene: die Unterscheidung von rep räsen tativ er und unm ittelbarer D em okratie b eru h t darauf, daß der Begriff der R epräsentation noch personalistische Elem ente beibehält, 1 Politische Theologie, S. 44, 45. Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Par­ lamentarismus, S. 13 ff.

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w ährend die unm ittelbare D em okratie eine s a c h l i c h e Identität zu realisieren sudiit, so daß die beiden A rten der D em okratie auf zwei A rten von Identitätsvorstellungen zurückzuführen sind; ferner: die soziologische E igenart des Parteikam pfes in der D em okratie besteht darin, daß jede P a rte i nicht n u r m it dem „w ahren“ W illen des Volkes sich identifiziert, sondern vor allem um die M ittel käm pft, mit deren H ilfe m an dem W illen des Volkes seine Richtung geben und ihn bilden kann; und schließlich entspringt jedes in der Geschichte bisher auftretende Ethos dem okratischer Überzeugung solchen Identitätsvorstellungen, das der Jakobiner sowohl w ie das verborgenere Pathos d er M onroedoktrin, die Thesen W ilsons und der Versuch, durch eine wirtschaftliche D em okratie der Iden tität ihre ganz reale W irklichkeit zu geben.

3· Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik (1925) Rede gehalten zur Jahrtausendfeier der Rheinlande in Köln am 14. April 1925 Ihs ist schmerzlich, von den R heinlanden als einem O b j e k t in ter­ nationaler P olitik zu sprechen. A ber die G efahr, daß rheinisches Land in einen solchen Zustand hineingerät und das rheinische Volk zum bloßen A nnex eines O bjektes erniedrigt wird, besteht immer noch, und oft in unserer tausendjährigen Geschichte ist der Schatten dieser G efahr auf uns gefallen. D ie furchtbare Separatistenzeit und die Krise des Herbstes 1923 sind noch in aller E rinnerung. D am als zeigte sich nicht nu r die Möglichkeit einer T rennung von Deutschland, sondern auch die tiefe Unsittlichkeit eines Zustandes, der eintritt, w enn die staatliche A utorität sich auflöst und ein Volk in politische V erzw eiflung hineingetrieben wird. H eute scheint vielen das Schlimmste glücklich überw unden. A ndere Pläne und Kombi­ nationen, deren Verw irklichung nicht w eniger aus dem Rheinland ein O b je k t frem der Politik machen w ürde, halten w ir heute im Vergleich mit jen en schlimmen M onaten vielleicht für unbedenklich, für leere Projekte, w ie sie in bew egten Zeiten zu D utzenden auftreten. A ber w ir dürfen unsere Vorsicht nicht auf geben und müssen auch diese Pläne und Absichten im Auge behalten. W ir hören von Bestrebungen, das durch den V ertrag von V ersailles dem ilitarisierte Gebiet, also im wesentlichen die Rheinlande, von dem übrigen D eutschland durch besondere Einrichtungen und Kon­ trollen zu tren n en und zwischen beiden eine völkerrechtliche Verschieden­ heit herbeizuführen; m it H ilfe eines Systems ständiger internationaler Kommissionen, durch w eitgehende Einw irkungs- und Kontrollbefugnisse ein besonderes Regime zu errichten und auf diese Weise die deutsche Staatsgew alt m ehr oder w eniger zu beseitigen; aus den R heinlanden eine A rt v erlängerten Saargebietes zu machen oder schließlich einfach durch eine grenzenlose D auer der Besetzung Land und Volk in ein M aterial für Sicherheitsm aßnahm en zu verw andeln. W ieviel von diesen Plänen sich verw irklicht, w erden die kom m enden M onate und J a h re zeigen. H ier muß an solche schwebenden P ro je k te erin n ert werden, weil sie alle e i n Kennzeichen tragen: aus den R heinlanden ein O b jek t internationaler P olitik zu machen und den O bjektcharakter zu organisieren und zu legalisieren, nachdem diese L änder infolge der Besetzung schon zu einer A rt P fandobjekt gew orden sind. Es gehört zu dem politischen Bewußtsein, zu welchem eine Geschichte von tausend Jah ren uns verpflichtet und berechtigt, daß w ir uns die besondere, neue, w enn ich so sagen darf, m oderne A rt dieser G efahr deut-

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lieh machen. Die Form en und Methoden, mit denen ein Land und ein Volk zum O b jek t internationaler Politik gemacht wird, haben sich nämlich gew andelt und sind nicht m ehr dieselben wie noch im 19. Jahrhundert. Alte W orte und Denkgewohnheiten w erden w eitergetragen und können leicht dazu führen, die politische W irklichkeit zu verbergen. Ein gutm ütiger Mensch könnte heute glauben, daß sich niem als ein europäisches Land sicherer fühlen dürfte als gerade jetzt. D enn die lange Geschichte des Kampfes um den Rhein w ar eine Geschichte des Kampfes um die politische A n n e x i o n rheinischer Gebiete, ebenso wie der Kampf um ElsaßLothringen ein Kampf um Annexionen w ar. H eute aber spricht niemand m ehr von Annexion. Im Namen der F reiheit und des Selbstbestimmungs­ rechtes auch der kleinen Völker und Nationen hat die W elt vier Jahre Krieg geführt. Zahlreiche neue Staaten sind auf G rund des Selbstbestimmungs­ rechtes und des N ationalitätenprinzips entstanden. Seltsame Zerreißungen und Verschiebungen natürlicher G renzen und Zusamm engehörigkeiten hat man durch dieses Prinzip gerechtfertigt. W ilson e rk lärte am 11. F ebruar 1918 als A ntw ort auf die deutsche E rklärung über den Frieden, „daß Völker und Provinzen nicht von einer Staatshoheit zur anderen ver­ schachert w erden dürfen, als w ären sie bloß Sachen oder Steine in einem Spiel“, und ferner, „daß jede durch diesen Krieg aufgeworfene Gebiets­ frage im Interesse und zugunsten der beteiligten Bevölkerungen gelöst w erden muß und nicht als Gegenstand eines bloßen Ausgleichs oder Kompromisses zwischen verschiedenen Staaten“. In den Vorschlägen und Entw ürfen der französischen D elegierten auf der Pariser Friedens­ konferenz w ird im F rü h ja h r 1919 zw ar immer w ieder verlangt, daß die W estgrenze Deutschlands mit dem Rhein zusam m enfallen müsse, es w ird aber gleichzeitig immer betont, daß keineswegs das linke R heinufer annektiert w erden solle. Die öffentliche Meinung der ganzen Erde scheint sich zu em pören bei dem G edanken, daß ein Volk zum Gegenstand einer Annexion gemacht w ird. W enn m an soviel vom Selbstbestimmungsrecht der Völker hört, könnte man leicht glauben, daß heute überhaupt kein Volk m ehr O b je k t internationaler Politik w erden kann, denn Selbst­ bestimmung heißt doch wohl, daß ein Volk als Subjekt seine eigene politische und staatliche Existenz bestimmt, also das Gegenteil davon, daß es O b jek t wird. A ber bleiben w ir bei dem, was unsere tausendjährige Geschichte uns so eindringlich lehrt, bei unserer Vorsicht. W enn heute ein politisch gebildeter Mensch hört, daß die großen Seemächte eine Abrüstungs­ konferenz veranstaltet und beschlossen haben, den Bau der Riesenkriegs­ schiffe, der sogenannten capital ships, zu beschränken, so verm utet er leicht, daß diese Abrüstung, die gewiß sehr zu begrüßen ist, wohl nur veraltete Typen trifft, aber leider gerade nicht die wirklich modernen Waffen, auf die es ankommt, nämlich Luftflotte und Unterseeboote. Ähnlich w ird dieser vorsichtige Mensch, w enn er sieht, mit welcher Freigebigkeit ideale P rin­ zipien zugebilligt w erden, den Verdacht nicht unterdrücken können, daß

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es sich bei dem Verzicht auf Annexionen vielleicht um den Verzicht auf eine Methode handelt, auf die es nicht m ehr ankommt, weil m an andere, w irksam ere und vorteilhaftere M ethoden gefunden hat. In der T at ist die alte kontinental-europäische Methode der politischen Annexion, wie sie sich zum Beispiel an dem Kam pf um Elsaß-Lothringen zeigt, von der m odernen W eltpolitik aus betrachtet eine ziemlich unm oderne Sache. Im Zeitalter des Im perialism us haben sich andere Form en der Beherrschung herausgebildet, die gerade eine offene politische U nterw erfung verm eiden und das Land, das beherrscht w erden soll, als Staat bestehen lassen, ja, wenn es notwendig ist, einen neuen unabhängigen Staat schaffen, dessen F reiheit und Souveränität ausdrücklich proklam iert w ird, so daß scheinbar das Gegenteil dessen geschieht, was m an als H erabw ürdigung eines Volkes zum O b jek t frem der Politik bezeichnen könnte. An einigen Beispielen läßt sich diese Entwicklung erkennen. Zunächst gaben die Großmächte im 19. Ja h rh u n d ert dem sogenannten P r o t e k t o ­ r a t einen neuen Inhalt und beherrschten hauptsächlich halbzivilisierte Staaten, deren Bevölkerung sie keine Staatsbürgerrechte verleihen konnten, in der Weise, daß sie die außenpolitische V ertretung des Staates ü b er­ nahmen, eine A rt Vormundschaft einrichteten, dem „beschützten“ Staate aber eine gewisse selbständige innerpolitische Existenz beließen. Diese Methode braucht hier n u r erw ähnt zu werden. Es handelt sich dabei um Staaten, die nicht im europäischen Sinne zivilisierte Staaten sind, z. B. Tunis, M arokko und die malaiischen Protektorate. D as könnte einen Europäer sehr beruhigen. Es kom mt hinzu, daß die Entwicklung auf dem B alkan insbesondere seit 1878 auf dem W ege über sogenannte P rotektorate zur nationalen Selbständigkeit geführt hat. Rum änien, B ulgarien und Serbien sind auf diese W eise freie Staaten geworden. In dem Falle Bosnien und Herzegowina, die seit 1878 unter österreichisch-ungarischer V er­ w altung standen, kam es 1908 zu einer offenen Annexion. Vielleicht könnte m an also aus dieser Entwicklung auf dem B alkan entnehm en, daß ein europäisches Volk entw eder nationale Selbständigkeit erhalten oder offen annektiert w erden muß. W iew eit dieser Optim ism us gegenüber der Form des P rotektorats berechtigt ist, kan n aber leider dahingestellt bleiben, nicht nur deshalb, weil m an politisch. die ausw ärtige V ertretung Danzigs an Polen übertragen hat, — das kann m an n u r auf G rund oberflächlicher Analogien als wirkliches P ro tek to rat bezeichnen, sondern vor allem aus einem anderen G runde: die Form des P rotektorats ist selbst schon w ieder veraltet und durch ein neues V erfahren ersetzt, welches darin besteht, dem zu beherrschenden Staate auch außenpolitisch seine Handlungsbefugnis zu belassen, ihn ausdrücklich als frei und unabhängig anzuerkennen, ihm sogar die E tikette der Souveränität zu verleihen, die H errschaft aber u n ter dem Namen „K ontrolle“ durch die Besetzung entscheidender Punkte, durch wirtschaftliche A usbeutung oder durch eigenartige Interventionsrechte zu sichern. H eute herrscht England über Ä gypten, obwohl das englische P ro tek to rat 1922 feierlich aufgehoben und Ä gypten als freier souveräner

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Staat anerkannt ist. Die Herrschaft Englands beruht rechtlich auf vier Vorbehalten, die bei der Anerkennung gemacht w urden und England zur Intervention berechtigen: Verteidigung und Schutz des Suezkanals durch England; Schutz der frem den Interessen in Ä gypten durch England; Schutz Ä gyptens gegen fremde Angriffe durch England; Verwaltung des Sudans, d. h. des oberen Nillaufes durch England. Das genügt als rechtliche G rund­ lage, um im Ernstfälle einen englisch-ägyptischen Konflikt als interne A ngelegenheit Englands erscheinen zu lassen, wie das (anläßlich der Erm ordung eines englischen Offiziers) im November 1924 geschah. Es genügte ferner, um es zu erreichen, daß im März 1925 ein den Engländern nicht genehmes Parlam ent binnen 12 Stunden nach seinem Zusam m entritt aufgelöst war. Ein Begriff wie „Schutz frem der Interessen“ ist wegen seiner Unbestimmtheit besonders geeignet, einem auf ihm aufgebauten In ter­ ventionsrecht den C h arak ter einer wirklichen H errschaft zu geben. Auch die sogenannte K ontrolle der Vereinigten Staaten von Am erika über Kuba, H aiti, San Domingo und Panam a ist hier zu erw ähnen. D er „kontrollierte“ Staat w ird als frei, unabhängig und souverän bezeichnet, obwohl seine gesamte politische Existenz in entscheidenden Fällen durch die V ereinigten Staaten bestimm t wird. Die vier Fälle dieser Herrschaft der V ereinigten Staaten sind in sich wiederum sehr verschieden. Das Charakteristische daran ist, daß sich eine rechtliche Form der Herrschaft entw ickelt hat, welche darin besteht, ein Besetzungsrecht mit einem Inter­ ventionsrecht zu verbinden. Das Interventionsrecht hat den Sinn, daß der eingreifende Staat über gewisse unbestimmte, jedoch für die politische Existenz des andern Staates wesentliche Begriffe, wie Schutz frem der Interessen, Schutz der U nabhängigkeit, öffentliche O rdnung und Sicherheit, E inhaltung internationaler V erträge usw., entscheidet. Bei allen diesen Interventionsrechten ist immer zu beachten, daß infolge der Unbestimmt­ heit solcher Begriffe die herrschende M ä h t n a h ihrem Ermessen e n tsh e id et ' und d a d u rh die p o litish e Existenz des kontrollierten Staates in der Hand behält. Schließlich sei n o h mit einem W ort daran erinnert, daß durch den V ertrag von Versailles die d e u tsh e n Kolonien nicht etw a von den alliierten H a u p tm ä h ten annek tiert oder als Kolonien übernommen wurden, sondern die Form von sogenannten M andaten erhielten, die im Namen des Völker­ bundes ausgeübt werden. Bei den sogenannten A-M andaten (Syrien, Palästina, Irak) ist sogar gesagt, diese Gemeinwesen hätten eine so lh e Entwicklungsstufe erreicht, „daß sie in ihrem Dasein als unabhängige Nation vorläufig anerkannt w erden können u nter der Bedingung, daß die R a tsh lä g e und die U nterstützung eines M andatars ihre Verwaltung bis zu dem Zeitpunkt leiten, wo sie im stande sein werden, s i h selbst zu leiten“ (A rtikel 22 des V ersailler Vertrages). Trotzdem muß man sagen, daß Eng­ land über Palästina und Ira k und F ra n k re ih über Syrien wirklich h e rrs h t, weil der M andatar selbst darüber en tsh eid et, worin die S ih e rh e it und

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O rdnung in diesen G ebieten besteht, wie w eit ihre U nabhängigkeit geht, w iew eit sie im stande sind, sich selbst zu leiten usw. Um den Sinn dieser neuen, die offene politische Annexion oder A n­ gliederung verm eidenden M ethoden zu verstehen, müssen w ir zunächst nach dem I n t e r e s s e fragen, welches die herrschende Macht von der Annexion abhält. Das nächstliegende Interesse ist überaus k la r und einfach: es soll verhindert werden, daß die B evölkerung des beherrschten Gebietes die Staatsangehörigkeit des beherrschenden Staates erw irbt. Dieses Interesse an der F ernhaltung unerw ünschter neuer Staatsbürger zeigt, wie sehr sich die Verhältnisse im Laufe des 19. Jahrhunderts geändert haben. In der alten europäischen Politik herrschte die Vorstellung, daß Bevölke­ rungszuwachs gleich Machtzuwachs ist. D as w ar im Z eitalter der K abinetts­ politik und der absoluten Regierungen möglich. Eine demokratische V er­ fassung aber zwingt die Staaten, gegenüber einem Bevölkerungszuwachs vorsichtig zu sein, weil m an natürlich nicht jed e r beliebigen Bevölkerung gleiche Staatsbürgerrechte verleihen kann. In den Staaten, welche dem N ationalitätsprinzip entsprechen und reine N ationalstaaten sind, w erden Bevölkerungsteile von frem der N ationalität meistens sehr unerw ünscht sein. In noch viel höherem G rade ist die Tendenz, Frem de fernzuhalten, bei einem im perialistischen Staate selbstverständlich. Denn ein solcher Staat w ill die W elt wirtschaftlich beherrschen, aber natürlich nicht an den V orteilen dieser H errschaft beteiligen. Es kommen noch w eitere G ründe hinzu, um eine offene politische Annexion als nachteilig erscheinen zu lassen. Nach der völkerrechtlichen L ehre von der sogenannten Staaten­ sukzession, d. h. den G rundsätzen, die beim Wechsel der staatlichen H e rr­ schaft über ein Gebiet zu beobachten sind, m üßte nämlich bei einem G ebiets­ erw erb nicht n u r die B evölkerung des erw orbenen Gebietes die Staats­ angehörigkeit des erw erbenden Staates erhalten, sondern dieser Staat m üßte auch in manche Verbindlichkeiten des Vorgänger Staates eintreten, Staatsschulden ganz oder zum Teil übernehm en usw. Auch hier hat die Umgehung der politischen Annexion den Vorteil, daß, juristisch gesprochen, die rechtlichen Folgen einer Staatensukzession verm ieden werden. Statt einer derartigen Sukzession w ird ein System von Interventionsrechten geschaffen. Die F o l g e dieser M ethode ist, daß W orte wie U nabhängigkeit, F re i­ heit, Selbstbestimmung, Souveränität ihren alten Sinn verlieren. Die politische G ew alt des kontrollierten Staates w ird m ehr oder w eniger aus­ gehöhlt. E r hat nicht m ehr die Möglichkeit, in einem entscheidenden Konfliktsfall über sein politisches Schicksal selbst zu entscheiden. E r kann über seine wirtschaftlichen Reichtüm er nicht m ehr verfügen. Es kommt nicht d arauf an, daß das Interventionsrecht des Frem den, wenn alles gut geht, n u r ausnahm sweise ausgeübt w ird. Entscheidend ist, daß der beherrschte oder kontrollierte Staat nicht m ehr in seiner eigenen Existenz die m aßgebende Norm seines politischen H andelns findet, sondern in den Interessen und in der Entscheidung eines Frem den. Ein Frem der inter-

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veniert, wenn es ihm in seinem eigenen politischen Interesse erscheint, zur A ufrechterhaltung dessen, was er als Sicherheit und Ordnung, als Schutz frem der Interessen und des Privateigentum s (d. h. seines Finanz­ kapitals), als E inhaltung internationaler V erträge usw. bezeichnet. Er entscheidet über jene unbestim m ten Begriffe, auf denen sein Interventions­ recht beruht, und infolge ih rer Unbestim m theit hat er eine grenzenlose Macht. Das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes v erliert dadurch seine Substanz. Ein Frem der verfügt über das, was ihn interessiert und bestimmt, was „O rdnung“ ist; den ihn nicht interessierenden Rest überläßt er gerne dem beherrschten Volk u nter Namen wie Souveränität und Freiheit. W ir dürfen niemals vergessen, was ein Sachverständiger der Vereinigten Staaten auf der Pariser Friedenskonferenz im Jahre 1919 anläßlich der Beratungen über das Saargebiet gesagt hat — D r. H askins ist sein Name, den w ir auch nicht vergessen wollen — : daß ein Volk die Bodenschätze seines eigenen Landes kontrolliert, m eint er mit größter Selbstverständlichkeit, gehört nicht zu seinem Selbstbestimmungsrecht. So kann einem Volke buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen werden, obwohl es immer noch den Namen eines freien und sogar souveränen Volkes trägt. Diese m odernen Methoden, die das W ort H errschaft verm eiden und Kontrolle vorziehen, unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkte von der politischen Annexion alten Stils. Durch die politische Annexion w urde der A nnektierte inkorporiert. Das soll hier keineswegs als Ideal verteidigt werden, aber es h atte doch wenigstens den Vorzug der Offenheit und der Sichtbarkeit. D er Sieger übernahm m it dem Land und seiner Bevölkerung auch eine politische V erantw ortlichkeit und eine R epräsentation. Das annektierte Gebiet h atte sogar die Möglichkeit, ein Teil des neuen Staates zu werden, mit ihm zusammenzuwachsen und dadurch der entw ürdigenden Situation eines bloßen O b jekts zu entgehen. Alles das fehlt bei den moder­ nen Methoden. D er kontrollierende Staat sichert sich alle militärischen und wirtschaftlichen V orteile einer Annexion ohne deren Lasten. Ein englischer Jurist, Baty, form uliert eine besonders interessante Konsequenz m oderner M ethoden folgenderm aßen: die Bevölkerung derartiger Gebiete hat w eder wirkliche Staatsbürgerrechte noch den Schutz, den A usländer und Frem de genießen. W as innerhalb des kontrollierten Landes als staat­ liche A utorität au ftritt, ist m ehr oder weniger abhängig von der E nt­ scheidung des Frem den und nur eine Fassade vor dessen Herrschaft, die in einem System von V erträgen unsichtbar gemacht ist. In den bisherigen Beispielen w ar nicht von europäischen Völkern die Rede. P rotektorate und M andate gelten sogar offiziell als Form en der H errschaft über halb- oder nichtzivilisierte Völker. Mit erbaulichen W orten spricht der eben erw ähnte A rtikel 22 der V ölkerbundssatzung von den Völkern, „die noch nicht im stande sind, sich unter den besonders schwierigen Bedingungen der heutigen W elt selbst zu leiten“ und daher „der Vormundschaft eines M andatars unterstellt w erden müssen“. Aber die Erde ist klein und, was das wichtigste ist, die alte überlieferte Vor-

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Stellung, die m ehr als m an weiß die völkerrechtliche P rax is noch im 19. Jah rh u n d ert beherrscht hat, nämlich die Einteilung der Menschheit in christliche und nichtchristliche V ölker, die G leichstellung von C hristentum und Zivilisation und dam it die G rundlage des R espekts vor den euro­ päischen V ölkern, alles das ist entfallen. Ein A bgrund tre n n t uns von der Zeit, da m an in völkerrechtlichen L ehrbüchern noch vom christlichen V ölker­ recht und vom Recht der christlichen N ationen sprach. D er größte Schritt auf dem W ege zu dieser E ntthronung Europas w ar der V ertrag von V er­ sailles. Ich möchte nicht sagen, daß er die S ouveränität Deutschlands auf­ gehoben hat. A ber w enn das nicht der F all ist, w enn Deutschland in einem bescheidenen Rahm en im m er noch die M öglichkeit einer deutschen P olitik hat, so liegt das einm al an der Zahl der G egner, denen es sich in diesem V ertrag unterw irft, und fern e r an der Entw icklung der letzten Jahre, aber nicht an dem V ertrage selbst. H ier soll nicht in eine K ritik dieses In stru ­ m ents eingetreten w erden. Es ist n u r notwendig, d arau f hinzuw eisen, daß der V ertrag m ehrere je n e r gefährlichen, unbestim m ten Begriffe enthält, welche die G rundlage ständiger Interventionen w erden können, wenn sie nicht in ih re r ganzen T ragw eite sofort erk a n n t w erden. Sie können ganz Deutschland in ein politisches O b je k t verw andeln. Sie betreffen ins­ besondere die Rheinlande, die ja fü r alle d erartigen B estrebungen das nächstliegende O b je k t und der gegebene Schauplatz sind. H ierhin gehören folgende Begriffe, die viel genannt w erden und deren je d e r für Deutschland ein Schicksal enthalten kann: R eparation, Sanktion, Investigation und O kkupation. D er Umfang der R e p a r a t i o n e n w ar nach dem V ersailler V ertrag so grenzenlos, daß d arin eine ewige U nter­ w erfung Deutschlands lag. E rst nach langen, quälenden Bem ühungen kam es zu der heute geltenden Regelung des D aw esplanes, der wenigstens einen Überblick über das Maß der Leistungspflicht gestattet. Das S a n k t i o n s ­ recht k ann bei einer einseitigen und w illkürlichen Auslegung ebenfalls eine imm er erneute völlige U nterw erfung D eutschlands enthalten, w enn jede alliierte Macht, sei es u n ter B erufung auf den § 18 der Anlage 2 zum Abschnitt 1 Teil VIII des V ersailler V ertrages, sei es u n ter B erufung auf ein allgem eines grenzenloses R epressalienrecht, deutsches G ebiet m ilitärisch besetzen und die deutsche Industrie beschlagnahm en kann. Das Nach­ forschungsrecht, das der V ölkerbund nach A rtik el 213 über Deutschland erhält, solange der V ertrag von V ersailles gilt, das sogenannte I n v e s t i ­ g a t i o n s recht, welches durch M ehrheitsbeschluß des V ölkerbundsrates ausgeübt w erden kann, legt ebenfalls unabsehbare Auslegungen nahe, w enn m an bedenkt, daß ein m oderner K rieg nicht n u r mit m ilitärischen M itteln im engeren Sinne g eführt w ird, sondern die ganze Industrie und W irtschaft eines Landes erfaßt. W as die O k k u p a t i o n , die Besetzung deutschen G ebietes angeht, deren eigentlicher Schauplatz ja die R heinlande sind, so ist sowohl die S tärke der B esatzungstruppen unbestim m t als auch die Befugnis der B esatzungsbehörden außerordentlich groß. D enn w enn sie zu allem berechtigt sind, was sie für die „Sicherheit und W ürde der

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B esatzungstruppen“ für notwendig erklären, so liegt hier w iederum einer jen e r unbestim m ten Begriffe vor, wie Schutz frem der Interessen usw., welche die staatliche A utorität des besetzten Gebietes gefährden und in kritischen Zeiten, wie im H erbst 1923, überhaupt beseitigen können. Die Besetzungsfristen sind ebenfalls so umschrieben, daß die Möglichkeit einer einseitigen Auslegung nahegelegt w ird. W enn z. B. die Kölner Zone nach Ablauf von fünf Jahren geräum t w erden soll unter der Bedingung, daß der V ertrag „getreulich erfüllt ist“ (A rtikel 429), so erhebt sich natürlich w iederum als erste Frage, w er über die getreuliche Erfüllung entscheidet und ob die zahllosen V orwände und U nklarheiten, zu welchen derartige W endungen Anlaß geben, in das politische Ermessen einer V ertragspartei gestellt sind. D ie bekannte These Poincares endlich, daß die Besetzungs­ fristen, auch diejenige von 15 Jahren, überhaupt noch nicht zu laufen begonnen hätten, sei hier n u r mit einem W orte erw ähnt. Sie zeigt den ganzen A bgrund von Unbestim m theit, dessen O pfer Deutschland nach diesem V ertrag w erden kann. Die Folge aber aller dieser systematischen Unbestim m theiten ist furchtbar. D enn ein F riedensvertrag hat doch wohl den Sinn und den Zweck, den Krieg zu beendigen und den Zustand des Friedens zu begründen. Durch solche Unbestim m theiten aber w ird die Grenze zwischen K rieg und Frieden selbst unbestimm t gelassen, und elem entare Begriffe, wie Krieg und Frieden, ohne deren k lare U nter­ scheidung ein Zusammenleben der Völker überhaupt unmöglich ist, ver­ lieren ihren einfachen Sinn und lösen sich auf in einen quälenden Zwischenzustand.

4. Der Status quo und der Friede (1925) Das große W ort der politischen E rörterungen ist heute status quo. Alle R edensarten, m it denen m an die gegenseitigen Forderungen zu kenn­ zeichnen sucht, alle politischen Vorschläge und Gegenvorschläge, V orstellun­ gen wie: Sicherheit, G arantie, U nverletzlichkeit der Verträge, H eiligkeit der Grenzen, bew egen sich um diesen Begriff. Man hat für die O rganisierung des Friedens drei V erfahren vorgeschlagen, von deren D urchführung man den Frieden der E rde erhofft, über deren Reihenfolge man allerdings streitet und besonders auf der V ölkerbundsversam m lung vom Septem ber 1924 dis­ k u tie rt hat: Sicherheit, Schiedsgericht und Abrüstung. Auf diese Reihenfolge scheint m an sich vorläufig geeinigt zu haben; ob sie bestehen bleibt oder nicht, ob es vielleicht besser w äre, m it der A brüstung oder mit einem all­ gemeinen Schiedsgericht zu beginnen: jedes dieser W orte besagt schließlich Status quo. Ausdrücklich h at die deutsche Regierung in ihrem Memoran-3 3

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dum vom 9. F eb ru ar 1925 eine G arantie des gegenw ärtigen status quo am Rhein vorgeschlagen und dam it eine Reihe von V erhandlungen und Be­ sprechungen eröffnet, in deren V erlauf imm er vom status quo die Rede ist. Bezeichnenderweise spricht m an heute vom status quo und nicht von dem status quo ante, der zur Zeit der alten D iplom atie eine beliebte F ormel w ar. Man nimmt also den heute bestehenden Zustand. W orin er besteht, ist anscheinend leicht zu erkennen, denn w ir haben ihn ja vor Augen. W as zu­ nächst den status quo am R hein betrifft, von welchem am m eisten die Rede ist, so w ird er offenbar in erster Linie dadurch gekennzeichnet, daß die Rheinlande b e s e t z t e s G e b i e t sind. D er V ertrag von V ersailles, das Rheinlandabkom m en m it allen seinen K onsequenzen und seiner Praxis, Verordnungsrecht der in teralliierten Rheinlandkom m ission, Q u a rtie r­ anspruch und Beschlagnahme von W ohnungen, Ausw eisung von Deutschen usw., alles gehört zu dem heute noch bestehenden Zustand. G erade die F rage der Besetzung w ird aber heute offiziell von der F rage der G arantie des status quo getrennt, obwohl sie in der Sache nicht davon zu trennen ist. Man begnügt sich auf deutscher Seite m it A ndeutungen darüber, daß der Abschluß eines „Sicherheitspaktes“ auf die Zustände im besetzten G ebiet „nicht ohne Einfluß“ bleiben könne, möchte also bei der Regelung des status quo am Rhein von dem absehen, was als status quo unm ittelbar in die Augen springt. Auch die Frage, ob Deutschland in den V ölkerbund eintritt, soll von der F rage der G arantie des status quo getrennt w erden, obwohl der E in tritt Deutschlands entw eder dem status quo eine neue G arantie hinzufügt oder eine Möglichkeit seiner Ä nderung herbeiführt, jedenfalls also für den status quo nicht gut ignoriert w erden kann. Offiziell w ird heute die Besetzung der R heinlande m it etw as anderem verbunden, m it der E n t­ waffnung Deutschlands. Die Entw affnungsnoten der alliierten R egierungen vom 5. Januar 1925 und vom 6. Juni 1925 machen die Räum ung der K ölner Zone davon abhängig, daß die deutsche R egierung eine Reihe w eitgehender Entwaffnungsvorschriften erfüllt. D ie Räum ung der folgenden Zonen bleibt deshalb ebenfalls von der Entwaffnung Deutschlands abhängig, setzt also eine w eitergehende m ilitärische K ontrolle Deutschlands voraus, d. h. ein Investigationsrecht, welches französischen Ansprüchen genügen muß, auch wenn es nach A rt. 213 des V ersailler V ertrages vom V ölkerbundsrat aus­ geübt w ird. Auf diese W eise bleibt die Besetzung eine m ilitärische Frage, weil sie mit dem verbunden bleibt, was Frankreich u n ter seiner m ilitäri­ schen Sicherheit versteht; eine folgenreiche V erbindung, wenn m an sich an das erinnert, was G eneral M organ in seinem berühm ten Aufsatz über die Entwaffnung Deutschlands ausgeführt hat. „W ie die Sache steht, liegt die wirkliche Sicherheit des europäischen Friedens nicht in den Ergebnissen, welche die Kontrollkommission oder ein vom V ölkerbund organisierter Ausschuß erreicht oder zu erreichen hofft, sondern in der Besetzung der R heinlande und der Brückenköpfe am Rhein, besonders des M ainzer Brückenkopfes. D er letztere ist das historische E infallstor nach Deutschland,

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und w er ihn beherrscht, k ann Deutschland ins H erz treffen, die Verbindung vom N orden und Süden trennen und die Mobilmachung lähm en1.“ D er status quo am R hein ist w eiterhin dadurch gekennzeichnet, daß die Rheinlande noch über die G renzen des besetzten Gebietes hinaus e n t ­ m i l i t a r i s i e r t e s G e b i e t sind. Es ist Deutschland untersagt, auf dem linken R heinufer und auf dem rechten Ufer innerhalb einer 50 Kilometer östlich des Stromes verlaufenden Linie Befestigungen anzulegen; in dieser Zone ist die ständige oder zeitweise U nterhaltung oder Sammlung von Streitkräften untersagt; jede m ilitärische Übung, jede Maßnahme, die als V orkehrung einer Mobilmachung gelten kann, ist verboten. Durch eine solche Bestimmung w erden die R heinlande vom übrigen Deutschland völkerrechtlich unterschieden. Sie sind zw ar noch nicht neutralisiert, wo­ durch ih r außenpolitisches Schicksal von dem des übrigen Deutschland ge­ trennt w ürde, doch darf m an die Folgen der bestehenden Unterscheidung nicht verkennen. Kein deutscher Soldat darf jem als w ieder rheinischen Boden betreten, auch dann nicht, w enn es sich um die Niederschlagung von A ufruhr und U nruhen handelt; jed e r Eisenbahnbau, jed er Straßenbau, alle denkbaren V erkehrseinrichtungen und industriellen Anlagen können bei einer einseitigen Auslegung unter den grenzenlosen Begriff der „Vor­ kehrung einer Mobilmachung“ gebracht werden. Eine alliierte Note vom 25. Mai 1922 hat den Bau irgendeiner harm losen Eisenbahnstrecke auf dem linken R heinufer als eine solche V orkehrung bezeichnet und auf diese Weise mit den grenzenlosen Auslegungen bereits begonnen. Auch hier enthält der vorhin erw ähnte Aufsatz des G enerals Morgan eine interessante Prognose: „Die einzige A rt, das R heinland endgültig zu dem ilitarisieren“, sagt er wörtlich, „ist entw eder, daß m an es annektiert oder, was im großen und ganzen auf dasselbe hinausläuft, daß man es dauernd besetzt hält.“ Selbst wenn m an es räum t, m eint er, und w enn die Deutschen wirklich keine Truppengarnisonen in dieses G ebiet legen, w äre es immer noch ein „A rsenal“, und zw ar deshalb, weil fast alle großen chemischen F abriken in der entm ilitarisierten Zone liegen und w ährend des W eltkrieges die gesamte deutsche H erstellung von Explosivstoffen zu 78 v. H., von G ift­ gasen zu 94 v. H., auf diesem G ebiete stattfand. Inhaltlich gehen die Entm ilitarisierungsbestim m ungen sehr weit, und das R heinland könnte dadurch einer Sonclerbehandlung unterw orfen werden, wie sie eine große Provinz eines großen Staates bisher noch niemals erfahren hat. Trotzdem enthalten jene A rtikel 42—44 nach französischer Auffassung einen Mangel. W enn Deutschland die Entm ilitarisierungs­ bestimm ungen verletzt, so gilt das zw ar als eine feindselige H andlung gegen jeden alliierten Staat, es gilt als eine beabsichtigte Störung des W elt­ friedens12, aber es bleibt den einzelnen alliierten Staaten, insbesondere Eng1 Quarterly Review, Oktober 1924. In Morgans V o r t r a g über das Sidierheitsproblem vom 4. Mai 1925 (abgedruckt: Revue des deux mondes vom 15.6.1925) wird die Bedeutung von Köln hervorgehoben und Köln als Clé de la Sécurité bezeichnet. 2 Art. 44 lautet in der offiziellen deutsdien Übersetzung: „Jeder etwaige Verstoß Deutschlands gegen die Bestimmungen der Art. 42 und 43 gilt als eine feindselige

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land, überlassen, welche praktischen Folgerungen sie aus der feindlichen Handlung ziehen wollen. Nach allgem einen völkerrechtlichen G rundsätzen besteht nämlich keine Verpflichtung, auf eine feindliche H andlung m it militärischen Aktionen zu reagieren. Infolgedessen ist die Bestim­ mung des G enfer Protokolls vom 2. O ktober 1924, Art. 10, besonders wichtig, durch welche die V erletzung einer entm ilitarisierten Zone einem A n g r i f f im Sinne dieses Protokolls gleichgestellt w ird, w oraus fü r die Unterzeichner des Protokolls die Pflicht entsteht, gegen den A ngreifer militärisch vorzugehen. Nun ist das G enfer Protokoll vorläufig noch nicht verbindlich und hat anscheinend keine Aussichten, es zu w erden. Ein G arantiepakt über die entm ilitarisierte Zone w ird also praktisch bedeuten, daß eine Pflicht der Beteiligten entsteht, gegen D eutschland vorzugehen, wenn etwas geschieht, was u nter die w eiten Bestim mungen der A rt. 42—44 subsum iert w erden kann. D ieser aus O kkupation und E ntm ilitarisierung zusammengesetzte status quo am Rhein ist n u r ein Teil des großen Systems von Belastungen und Einschränkungen der staatlichen A utorität Deutschlands, wie sie sich aus dem V ertrag von V ersailles und seiner D urchführung ergeben. D ahin gehören das Investigationsrecht des V ölkerbundsrates nach Art. 213 des Vertrages, die territo rialen Zerreißungen der deutschen G renzen im Osten, die A btrennung deutscher Stämme vom Deutschen Reich, die Last der Reparationen, die ausländische K ontrolle der Deutschen Reichsbank und vor allem der deutschen Eisenbahnen, über welche der frem de Eisenbahn­ kommissar Befugnisse ausüben kann, die zw ar ausdrücklich als „Ausnahm e­ befugnisse** bezeichnet w erden*1, aber gerade darin den Zusamm enhang mit der Frage der Souveränität beweisen; es gehören ferner hierhin die Be­ schränkungen des Baues von Luftfahrzeugen und alle die H underte von Vertragsbestim mungen, die heute D eutschland bedrücken. D ie R heinlande sind in dieser Hinsicht nu r ein besonders belasteter Teil des Deutschen Reiches. Das w äre also der status quo am R hein und der status quo Deutschlands. Wer hat ein Interesse daran, ihn zu garantieren? W er h at insbesondere ein Interesse an den Rheinlanden? Im allgem einen kann ein Land aus sehr v e r­ schiedenen G ründen so viel internationales Interesse finden, wie es heute mit den R heinlanden der Fall ist. Ein Land k ann wegen seines Reichtums, wegen seiner Rohstoffe, insbesondere seiner Erdölquellen und Erzlager, das Handlung gegen die Signatarmächte des gegenwärtigen Vertrages und als Versuch einer Storung des Weltfriedens.“ Es handelt sich aber weniger darum, daß ein V e r ­ s u c h einer Störung des Weltfriedens vorliegt, als daß die böse Absicht vermutet und eine flagrante Sdiuld Deutsdilands fingiert wird. Der französische Text sagt, Deutsch­ land werde betrachtet „comme cherchant à troubler la paix du monde“ und der englisdie Text „as c a l c u l a t e d to disturb the peace of the world“. Für das geplante System einer Definition des „Angreifers“ ist das von großer Bedeutung. 1 Satzung der Deutschen Reichsbahngesellschaft (Anlage zu § 1, Absatz des Ge­ setzes über die Deutsche Reidisbahngesellschaft vom 30. August 1924); § 24; zu den „Ausnahmebefugnissen“ des Eisenbahnkommissars gehört das Redit, den Betrieb der Reichsbahnen selbst zu übernehmen, oder „letzten Endes“ zu verpachten.

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verhängnisvolle Interesse der Großmächte erregen. F ü r die Rheinlande kommt das heute wohl nicht in Betracht; vorläufig sollen sie, ebensowenig wie Deutschland, nicht erobert und annektiert werden; solange die Gegner mit den R eparationsleistungen zufrieden sind, besteht vielm ehr ein gegen­ teiliges Interesse. Ein Land kann ferner durch seine geographische Lage politisch interessant w erden; es k ann für eine oder m ehrere Großmächte als V erbindungsstraße wichtig sein, wie Ä gypten für das britische Weltreich. F ür diese A rt politischen Interesses ist der Ausspruch eines hervorragenden englischen Sachverständigen, Sir W illiam H ayter, bem erkensw ert: „In Griechenland und B ulgarien“, m eint er, „können w ir Revolutionen zulassen; in Ä gypten dagegen muß Ruhe und O rdnung herrschen, damit die große V erbindungsstraße des britischen W eltreiches, insbesondere der Weg nach Indien, nicht gestört w ird.“ Ein Land kann außerdem als Glacis oder als Aufmarschgebiet in Betracht kommen, wie das heute die Situation der R hein­ lande gegenüber Frankreich ist. Endlich kann das internationale politische Interesse zum Schutze eines anderen Landes und zur Vermeidung von Kollisionen einen Pufferstaat oder ein anderes Zwischengebilde als zweck­ mäßig erscheinen lassen. H eute braucht diese A rt Interesse nicht m ehr zu der alten Form des E tat-tam pon zu führen, für welche Belgien das berühm te Beispiel ist; der gleiche Zweck k ann auch durch E ntm ilitarisierung oder durch N eutralisierung gewisser Zonen erreicht werden. Die m odernere M ethode h at in dem G enfer Protokoll vom 2. O ktober 1924 bereits eine A rt offizieller A nerkennung gefunden. D em ilitarisierte Zonen, heißt es in A rt. 9 dieses Protokolls, dienen dazu, einem Angriff vor­ zubeugen; die Einrichtung solcher Zonen zwischen Staaten ist deshalb ge­ eignet, die V erletzung des Protokolls (d. h. die Verletzung des im Protokoll garantierten status quo) zu verhindern; solche Zonen sollen unter ein zeit­ weiliges und dauerndes System von Revisionen gestellt werden, welche der V ölkerbund organisiert. D er englische G eneral Spears h at neulich den Vor­ schlag gemacht, an den G renzen aller Staaten, die nicht an R ußland an­ grenzen, dem ilitarisierte Zonen einzurichten, dam it „der G rund ihrer Rüstungen, nämlich die Wache gegen Rußland, k la r w äre“1. Ein holländi­ scher Pazifist hat unlängst eine 50-Kilometer-Zone vorgeschlagen, um den Haag und die Rheinm ündung zu dem ilitarisieren12. Es versteht sich von selbst, daß der Staat, dem eine solche entm ilitarisierte oder neutralisierte Zone auferlegt w ird, dadurch degradiert ist. Daß eine wirkliche Großmacht sich solche Einschränkungen ih re r Souveränität zumuten läßt, ist nicht w ahr­ scheinlich, und niem and dürfte ernstlich auf den G edanken kommen, die englische Küste zu entm ilitarisieren. Es zeigt sich auch hier, daß bei allen Friedensbestrebungen die schwierige F rage gar nicht den Frieden betrifft — denn alle sind selbstverständlich darü b er einig, daß sie den Frieden wollen —, sondern es frag t sich, w er darüber entscheidet, was in concreto Friede ist, was in concreto eine Störung oder G efährdung des Friedens 1 Europäische Revue, 15. Juli 1925. 2 Foreign affairs, Juli 1925.

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enthält und durch welche konkreten M ittel der gefährdete Friede geschützt und der gestörte Friede w iederhergestellt w ird. Im m er bleibt die Frage die gleiche: Quis iudicabit? Allgemein gesprochen, b eru h t also das internationale politische Interesse an den R heinlanden als einem besetzten und einem dem ilitarisierten G ebiet auf seiner geographischen Lage, nach welcher es im Schnittpunkt englischer, französischer und deutscher Interessen liegt. N ur u n ter diesem A spekt läßt sich erkennen, was der status quo am R hein bedeutet. Die einzelnen Mächte haben für ihre Betrachtung sehr verschiedene Gesichtspunkte. Infolgedessen bedeutet das W ort status quo fü r jeden etw as anderes. Das e n g l i s c h e Interesse geht vorläufig wohl dahin, daß der F riede auf dem europäischen K ontinent nicht gestört w ird; die E rhaltung des Friedens entspricht sowohl den ökonomischen Interessen englischen H andels und englischer Industrie, als auch dem politischen Interesse am Bestände des englischen W eltreiches. Was diesem W eltreich an G efahren drohen könnte, liegt heute anscheinend nicht auf dem europäischen K ontinent, sondern in R ußland und Asien und beruht auf dem Bündnis, welches der proletarische Sozialismus der Sow jet­ republik mit dem N ationalgefühl u nterdrückter V ölker Asiens und A frikas geschlossen hat. F ür Deutschland scheint eine Vereinigung von N ationalis­ mus und Kommunismus nicht in Betracht zu kommen, obwohl sie gelegent­ lich gefordert w urde. Im m erhin darf man die Möglichkeit nicht ignorieren, zumal die Parteien, welche bisher in D eutschland den N ationalism us für sich in Anspruch nahmen, mit den wachsenden Schwierigkeiten der w irt­ schaftlichen und politischen Lage vor ganz neue Problem e gestellt w erden, u nter deren Einw irkung sich die überlieferten Ideenverbindungen leicht auflösen können. N ur dieser eine Gegner, das Bündnis von Bolschewismus und N ationalis­ mus, könnte eine auf Kampf und K rieg gerichtete P olitik Englands herbei­ führen und die W elt nach dem Kreuzzug gegen Deutschland möglicherweise noch einen w eiteren Kreuzzug erleben lassen. Im übrigen geht das politische Interesse Englands durchaus auf den F rieden und die A ufrechterhaltung des heutigen status quo der Erde, d. h. die A ufrechterhaltung der englischen W eltherrschaft. Das W ort status quo h at also für England einen großen, ein­ fachen Sinn. In den V erhandlungen über den sog. G aran tiep ak t kom m t es für England darauf an, keine neuen Verpflichtungen zu übernehm en und darauf hinzuweisen, daß in der V ölkerbundssatzung bereits das Höchst­ maß englischer Verbindlichkeiten enthalten sei. Das f r a n z ö s i s c h e Interesse am status quo richtet sich darauf, keines von den Rechten aufzugeben, welche der V ertrag von V ersailles fü r F ra n k ­ reich und seine V erbündeten enthält. D ieser V ertrag h at ja die wesentliche Eigenschaft, ein Interventionsvertrag in dem spezifischen Sinne des W ortes zu sein, d. h. durch absichtlich unbestim m te Begriffe dem politisch und militärisch überlegenen V ertragsgegner ständige Interventionen zu erm ög­ lichen. Das berühm te Recht auf Sanktionen ist n u r ein A nw endungsfall dieser systematischen Interventionstechnik. Es kom m t fü r Frankreich dar-

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auf an, für die sehr weitgehenden, bestehenden Möglichkeiten zusätzliche „Sicherheiten“, d. h. hier insbesondere eine Bindung der englischen Regie­ rung zu schaffen. F ü r Frankreich heißt status quo unveränderte Beibehal­ tung des V ersailler V ertrages m it allen östlichen und westlichen Grenzen, mit einem vom Deutschen Reich getrennten Österreich, m it allen Einschrän­ kungen der Souveränität Deutschlands, mit O kkupation, E ntm ilitarisierung, Sanktionen und Investigationen, vor allem aber mit der eigenartigen Ver­ bindung, in welche die französische Politik die Besetzung der R heinlande mit der m ilitärischen Sicherheit Frankreichs gebracht hat. Es w urde schon erw ähnt, daß die V erbindung der Besetzungsfrage mit der Entwaffnung Deutschlands von besonderer Tragw eite ist, nicht nur militärisch, sondern für das ganze System der V erhandlungen über den status quo am Rhein. Die eigentliche R äum ungsfrage ist, kon k ret gesprochen, immer die Frage der Räum ung von Mainz. E rst w enn diese Frage aktuell wird, zeigt sich, was die bekannte A rgum entation Frankreichs eigentlich bedeutet, welche O kkupation und Sicherheit und um gekehrt Sicherheit und O kkupation des linken R heinufers m iteinander identifiziert und imm er w ieder geltend macht, daß Frankreich auf die A btrennung der R heinlande nu r deshalb verzichtet habe, w eil ihm ein G arantievertrag mit den V ereinigten Staaten und mit England in Aussicht gestellt w urde, daß diese Voraussetzung nicht eingetreten und deshalb die F rage der Räum ung der besetzten Gebiete mit den R äum ungsfristen des V ersailler V ertrages nicht erledigt sei1. F ü r F rankreich ist also status quo = V ersailler V ertrag. Politisch be­ deutet das: A ufrechterhaltung der m ilitärischen und politischen Hegemonie Frankreichs auf dem europäischen K ontinent; A ufrechterhaltung der m ili­ tärischen und politischen Ü berlegenheit eines bewaffneten Volkes von vierzig M illionen Menschen über ein unbewaffnetes von sechzig Millionen; eines bew affneten Volkes m it abnehm ender G eburtenzahl über ein unbe­ waffnetes sta rk wachsendes Volk, dessen Industrie vergebens einen Ausweg sucht. Das d e u t s c h e Interesse am status quo ist im Vergleich sowohl zu dem englischen w ie zu dem französischen etw as sehr Bescheidenes, ja geradezu Erbärmliches. Es ist das Interesse, wenigstens zu verhindern, daß keine neuen Verpflichtungen eintreten und nicht durch die einseitige Auslegung 1 Eine juristische Unterscheidung aus der völkerrechtlichen Lehre vom Garantie­ vertrag könnte hier aufklärend wirken und manche Mißverständnisse der Tages­ presse beseitigen. Das Wort „Garantievertrag“ hat eine doppelte Bedeutung; es be­ zeichnet entweder den sogenannten Garantievertrag im eigentlichen Sinne, bei welchem die Garantie eines bestimmten Zustandes der wesentliche Inhalt des Vertrages ist imd die Garantie unabhängig von andern Verträgen eine s e l b s t ä n d i g e Bedeutung hat; oder aber den sogenannten a k z e s s o r i s c h e n Garantievertrag, bei welchem die Garantie nur als Sicherungsmittel zur Erzwingung vertraglicher Pflichten einem Vertrage h i n z u g e f ü g t wird. Offenbar geht das Bestreben Frankreichs dahin, aus dem von Deutschland vorgeschlagenen Garantievertrag ein bloßes Akzessorium der Friedensverträge zu machen, während der deutsche Vorschlag eine selbständige Garantie im Auge hat. Für diese wichtige, in den schwebenden Erörterungen über den „Garantiepakt“ leider kaum beachtete Unterscheidung ist die Pariser Doktor­ these von M. Milovanovitch, 1888, die eingehendste völkerrechtliche Behandlung der Garantieverträge, heute noch von großem Interesse und geschichtlich sehr lehrreich.

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der unbestim m ten Begriffe des V ersailler V ertrages im m er neue L asten und Erschütterungen entstehen. Es ist das Interesse, w enigstens die W ährung stabil zu halten und vor neuen Sanktionen, R epressalien und anderen Be­ lastungen zu schützen. Es ist ein Interesse, das nicht, wie der englische G e­ sichtspunkt, die ganze E rde oder, wie der französische, w enigstens E uropa überschaut, sondern ein auf den nächsten Augenblick und die nächste A tem ­ pause gerichtetes Interesse eines vor allem an seiner Industrie interessierten Volkes. Im Schnittpunkt des W eltinteresses von E ngland und des kontinentalen europäischen Interesses von F rankreich stehen D eutschland und insbeson­ dere die R heinlande. In dieser Lage k ann ganz D eutschland und können insbesondere die R heinlande herabsinken zum bloßen A usgleichsobjekt zwischen jenem englischen und diesem französischen Interesse. D as ist der politische status quo Deutschlands und der status quo am Rhein. Jede Legalisierung dieses Zustandes w ürde den O b je k tc h a ra k te r verew igen. *

* *

Bei der großen V erschiedenheit der V orstellungen vom status quo ist es eigentlich erstaunlich, daß m an sich auf diesen Status zu einigen sucht und glauben kann, in einem solchen Begriff eine gemeinsame, einigende G rundlage zu haben. W ie konnte gerade dieser Begriff heute zu solcher Be­ deutung gelangen? Das W ort bezeichnet doch zunächst n u r ein F aktum , einen bloß tatsächlichen Zustand, w enn sich auch bei n ä h e re r B etrachtung herausstellt, daß man hier die Sachlage nicht von der Rechtslage trennen kann. Als die Koalition der europäischen Mächte N apoleon I. besiegt hatte, sprach m an von L egitim ität und m einte dam it fü r die außenpolitische Situation ebenfalls eine G arantie des status quo. D ie berühm ten D iplom aten der Heiligen Allianz w aren nicht edler gesinnt als die Staatsm änner der heutigen D em okratien. A ber sie sprachen w enigstens von L egitim ität und g arantierten nicht ein bloßes F aktum , eine bloß tatsächliche politische Situation, sondern einen Zustand, den m an fü r n o r m a l hielt. Man garan ­ tierte sich gegenseitig eine außenpolitische O rdnung und w ar klug genug zu wissen, daß die \ roraussetzung je d e r außenpolitischen O rdnung eine homogene innerpolitische O rdnung ist. D er dynastische Legitim itätsbegriff, auf welchem die innerpolitische O rdnung der H eiligen A llianz beruhte, ging in den demokratischen R evolutionen der folgenden G eneration zugrunde. A ber selbstverständlich versucht jed e r Sieger, dem durch den Sieg erreichten politischen Zustand die G arantie der Legitim ität zu geben. D er V ertrag von V ersailles bestätigt diese E rfahrung. In dem B estreben, die politische A us­ nutzung der N iederlage des G egners zu legitim ieren, geht er sogar w eiter als jem als ein V ertrag der Weltgeschichte. E r benutzt die Idee des V ölker­ bundes und die in allen L ändern v erb reiteten pazifistischen G efühle und Ideen, um eine besonders rad ik ale A rt von L egitim ierung zu erreichen. Die pazifistischen Bem ühungen, die sich an diesen V ertrag anschließen, insbeson­ dere der Versuch einer Beilegung alle r Konflikte durch ein Schiedsrichter-

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liches V erfahren, die m erkw ürdige Juridifizierung der Politik und ähnliche als große Fortschritte auf dem Wege von der Macht zum Recht gefeierten E r­ scheinungen können ja n u r ein Ergebnis haben: den Zustand, den der Ver­ trag von V ersailles geschaffen hat, zu legitim ieren. D er R uf nach der H e rr­ schaft des Rechts, der etwas sehr Sympathisches und Ideales hat, bekommt hier einen höchst gefährlichen politischen Sinn, nämlich den der Legiti­ m ierung eines sehr problem atischen Zustandes. D aß alle internationalen M einungsverschiedenheiten künftig im W ege eines justizförm igen Ver­ fahrens beigelegt w erden sollen, bedeutet nur, daß diejenigen, welche nach den bestehenden V erträgen im Recht sind, dauernd im Recht bleiben. Die G arantie, welche sich die Mächte der Heiligen Allianz gegenseitig gaben, w ar eine bescheidene und vernünftige Sache im Vergleich zu der phan­ tastischen Juridifizierung, die heute den Sieger legitim ieren soll. Gelingt es wirklich, auf diese W eise jeden K rieg zu beseitigen, so hat der Stärkere nicht n u r die Macht und den Besitz, sondern auch das Redit, und es w ird etw as Schlimmeres geben als Kriege: die justizförm ige Beseitigung des politischen oder w irtschaftlidien Gegners der nicht in einem Kriege besiegt, sondern in einem Prozeß zum Tode veru rteilt und exekutiert w ird. Es ist sehr m erkw ürdig, daß gerade in einer Zeit rapider V eränderungen und technischer Fortschritte der status quo g arantiert w erden soll. Es ist seltsam, daß ein Zeitalter, dessen D enken von den Vorstellungen ewigen W erdens, ewigen Fließens und substanzlosen Funktionierens ganz be­ herrscht ist, gerade auf politischem Gebiete einen bestehenden Zustand stabilisieren möchte. Das ist schon an sich etwas W iderspruchsvolles, aber der eigentliche W iderspruch liegt noch tiefer.. W oher entsteht — um diese Frage zu w iederholen — das Bedürfnis nach einer G arantie des status quo? D a r­ aus, daß der Wunsch nach Ruhe, F rieden und Gerechtigkeit sich mit der Un­ fähigkeit verbindet, ein rechtliches Prinzip, ein Legitim itätsprinzip, zu finden. Man k ann n u r einen Rechtszustand garantieren, nicht etwas bloß Faktisches, und auch den Rechtszustand nur, w enn er als n o r m a l em pfun­ den w ird. Ist dem aber so — m an kann es vernünftigerw eise nicht be­ streiten —, so erscheint der innere W iderspruch in dem moralischen Zu­ stand des heutigen E uropa als etw as Schreckliches. Die faktisch bestehenden Zustände sind so unbefriedigend, so abnorm und infolgedessen so wenig stabil, daß die Sehnsucht nach Stabilität täglich stärker wird. Aus der Sehn­ sucht nach F rieden und Stabilität entsteht die Forderung einer G arantie des status quo, d. h. einer Stabilisierung. A ber die Stabilisierung des gegen­ w ärtigen Zustandes w ürde gerade diesen unbefriedigenden, jed er Stabili­ tä t erm angelnden Zustand stabilisieren, und das Ergebnis wäre, daß man durch eine künstliche Verewigung und Legalisierung nicht etw a Ruhe und Frieden, sondern neue Konflikte, neue Verschärfung der Gegensätze und eine Verewigung der m angelnden Stabilität erreichte. Ein gefährlicher, für ganze V ölker vielleicht tödlicher Zirkel! Das ist das Fatale dieses ganzen Systems der Legalisierung und Juridifizierung des status quo. Man sagt uns : Die G arantie des status quo ist der Friede. Gewiß, der Friede, sogar d e r

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Friede, nämlich der Friede von Versailles. Ein auf dieser Basis stabilisierter status quo ist ebenso problematisch wie jen e r Friede selbst problematisch ist. Audi hier zeigt sich die Fülle von inneren W idersprüchen, von denen die politische und moralische Lage Europas heute beherrscht ist. W enn der status quo nicht der Friede i s t , wie kann seine G arantierung den Frieden herbeiführen? Die Sehnsucht nach dem Frieden entspringt doch gerade der Friedlosigkeit des bestehenden Zustandes. Den müden und gequälten Men­ schen, die vor allem Ruhe und Frieden suchen, w ird eine G arantie ver­ sprochen, die nichts g arantiert als die Ursache aller U nruhe und F ried­ losigkeit. Die europäischen Völker haben im Laufe des letzten Jahrhunderts von mancherlei gehört, daß es der F riede sein soll: die Heilige Allianz w ar der Friede; das französische Kaiserreich unter Napoleon III. w ar der Friede: dann hörten w ir w ährend des Krieges: die D em okratie ist der Friede; w ir hörten: der Völkerbund ist der Friede, und hören jetzt: die G arantie des status quo ist der Friede. A ber wenn der status quo nicht selbst schon der Friede ist, so ist seine G arantie etw as Schlimmeres als ein Krieg, nämlich die Legalisierung eines unerträglichen Zwischenzustandes von Krieg und Frieden, in welchem der politisch Mächtige dem politisch Schwachen nicht nur das Leben, sondern auch sein R edit und seine Ehre nimmt.

5- Das Doppelgesicht des Genfer Völkerbundes (1926) Die K ernfrage des G enfer Bundes ist, ob er den status quo von Ver­ sailles legitim iert, und das ist w iederum davon abhängig, ob diese Ver­ einigung zahlreicher Staaten als ein w irklicher Bund betraditet werden muß. F ragt m an nach dem Kennzeichen des wirklichen Bundes, nach G arantie und Hom ogenität und nach den konkreten Prinzipien für diese G arantie und für das M indestmaß von Gleichartigkeit, so erhält man keine Antwort. D er berühm te deutsche Kom m entar zur Völkerbundssatzung von Schücking und W ehberg spricht davon, daß der Genfer Völkerbund einen „Januskopf“ habe, dessen eines A ntlitz die Züge des „im perialistischen“ Zeitalters trage, aus dem der W eltkrieg geboren sei, dessen anderes Antlitz aber beherrscht w erde von den Zügen des Solidarismus, von dem allein die Rettung der Zukunft kommen könne. „Gelingt es nicht, ihn in K ardinal­ punkten aus- und um zugestalten, so w ird er allerdings dem Schicksal der Heiligen A llianz verfallen“. A ber von der Heiligen Allianz könnte der Völkerbund lernen, daß kein Bund ohne Legitim itätsprinzip bestehen kann, und einen „Januskopf“ h at er nicht nur in seiner Mischung von Vorkriegs­ und Nachkriegsideen, sondern in etwas vielleicht viel Gefährlicherem, näm ­ lich darin, daß er es absichtlich im unklaren läßt, wieweit er ein echter Bund ist oder nicht und w iew eit infolgedessen die unvermeidlichen Konse­ quenzen des Bundescharakters zur Anwendung kommen. Auf diese Weise ist es möglich, daß französische Juristen den A rtikel 10 der Völkerbundsatzung so auslegen, als seien darin alle grundlegenden G arantien des echten Bundes gegeben, w ährend sie den A rtikel 19, der Änderungsmög­ lichkeiten vorsieht, so behandeln, als habe das Genfer Gebilde mit einem wirklichen Bunde nichts zu schaffen; deutsche Pazifisten dagegen versuchen die in A rtikel 10 enthaltene G arantie zu beschränken und dafür dem A rtikel 19 eine große Anwendungsmöglichkeit zu geben. Es besteht nun die große G efahr, daß der G enfer V ölkerbund von F all zu Fall verschiedenen Staaten ein verschiedenes Gesicht zeigt und sich absichtlich nicht entscheidet, sondern bald die H altung eines wirklichen Bundes annimmt, mit allen dazu gehörigen Ansprüchen auf G arantie und Gleichartigkeit und mit allen lnterventionsm öglichkeiten, bald aber nur als Büro, als praktisch brauch­ bare Konferenz- und Verm ittlungsgelegenheit gelten will. So kann er aller­ dings zwei Gesichter haben, eines nach W esten und ein anderes nach Osten. Er kann den westlichen Großmächten gegenüber als dienstbereites, be­ scheidenes Zweckgebilde vorsichtig und unverbindlich auftreten, w ährend er einem schwachen und entw affneten Staat das hoheitsvolle Antlitz strengen Rechtes zeigt und ihn, wenn er den politischen Interessen einer

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Das Doppel gesicht des Genfer Völkerbundes

Großmacht im Wege steht, justizförm ig exekutiert. Die w eitere G efahr liegt darin, daß in dieser U nklarheit der Schein des Rechts und der Rechtsförm igkeit auf politische Gegensätze ausgedehnt w ird, die sich einem form alen V erfahren entziehen. Nach schlimmen E rfahrungen fürchten alle Freunde des Rechtes nichts m ehr als politische Prozesse und die Politisie­ rung der Justiz. Man hat nicht nu r aus praktischen und theoretischen G rün­ den der G ew altenteilung die politische G ew alt von der richterlichen unab­ hängig gemacht1, sondern hält auch gerade im Interesse der Rechtspflege den Richter von der Politik fern und sucht die schwere G efährdung, die dem Ansehen des Rechts durch solche Prozesse droht, sorgfältig zu verm eiden. W ürde nun die Beilegung aller internationalen Gegensätze dadurch organi­ siert, daß man die Staaten einem justizförm igen oder wenigstens einem form alisierten V erfahren unterw irft, so w äre, w enn wirklich alle sich u n te r­ w erfen, dem Völkerrecht die Aufgabe zugem utet, ohne k lare Prinzipien und ohne feste Regeln die furchtbarsten Konflikte im Nam en des Rechts zu entscheiden. Die Behandlung der M ossulfrage ist hier ein bedenklicher Präzedenzfall. Die politische Justiz w ürde ein neues Gebiet von großer, phantastischer Ausdehnung erhalten, und es gäbe politische Prozesse, die das Unrecht solcher Justiz zu den ungeheuren Dim ensionen w eltpolitischer Gegensätze steigerten. W er dürfte es wagen, diese schlimmste G efährdung des Rechts im Namen des Rechts zu versuchen? Das ist die Lage, in der Deutschland dem G enfer V ölkerbunde b eitritt. Es begibt sich damit in eine internationale V erbindung, von der einige vieles Nützliche erw arten, andere Schädliches befürchten. A ber niem and d arf sich darüber täuschen, daß bis heute die K ernfrage des V ölkerbundes absichtlich noch offengelassen und der B undescharakter dieser Einrichtung noch nicht bestimm t ist. Das lose Gefüge m ancherlei internationaler Be­ ziehungen, das heute noch als ein vieldeutiges, jed e r beruhigenden Aus­ legung zugängliches Kompositum erscheint, kan n m orgen vielleicht ein straffes System w erden und alle Konsequenzen eines echten Bundes und echter Solidarität entfalten. Es w ird gut sein, sich d arüber klarzuw erden, denn wenn Deutschland M itglied des V ölkerbundes ist, muß es auch in der Lage sein, bei solchen fundam entalen V eränderungen oder Festlegungen gleichberechtigt m itzuw irken. Sonst bedeutet seine M itgliedschaft im V ölkerbund die Verewigung seiner N iederlage, und sein E in tritt in den Bund w äre nur die Ergänzung zu der horrenden und beispiellosen A b­ lieferung seiner Waffen: die w eniger sinnfällige, aber nicht w eniger folgen­ reiche A blieferung seiner Rechte.

1 Rudolf Smend, Die politische Gewalt im Verfassungsstaat und das Problem der Staatsform, Festgabe der Berliner juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl, Tübingen 1923.

Zu Friedrich Meineckes „Idee der Staatsräson'

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6. Zu Friedrich Meineckes „Idee der Staatsräson“ (1926) Die Eigenschaften und Vorzüge, auf denen der Ruhm dieses W erkes1 beruht, halten in einer ganz besonderen W eise die K ritik von ihm fern. Nicht nur w eil die große Leistung, der Reichtum an historischen Einsichten und Erkenntnissen und der Überblick über vier Jahrhunderte politischen Denkens eher die höchste B ew underung als eine K ritik nahelegen, sondern auch deshalb, weil gerade die charakteristischen Eigenschaften des Buches: psychologische Feinheit, vorsichtig abwägendes Verständnis für gegen­ teilige und w idersprechende Ansichten und vor allem die Ablehnung einer begrifflichen F ixierung — jedem Versuch einer K ritik zuvorkommen. Was könnte man Neues zum Them a des Buches sagen, was dieser grenzenlos vielseitige K enner der Jah rh u n d erte nicht bereits vorweggenommen hätte und was nicht sofort seinen Platz fände in dem Mosaik der tausend Nuancen, in denen seine „Idee der Staatsräson“ lebt? „D er reiche Inhalt der Idee der Staatsräson läßt sich nicht in die engen Fesseln einer begrifflichen Definition schlagen“ (S. 259). Natürlich w ird w iederholt gesagt, was u n ter dem W ort verstanden sein soll: Staatsräson ist bald dasselbe wie M achiavellismus, bald Machtpolitik, oder Machtund Lebenswille der Staaten oder sogar „Zwangsläufigkeit im politischen H andeln“ (vgl. S. 369) ; M achtproblem und M achtpolitik sind nur die m oder­ nen Ausdrücke für Staatsräson (S. 511); im 19. Jah rh u n d ert w ird Staats­ räson das innere Bewegungsgesetz des Staates als einer Individualität (S. 489) usw. A ber jede begriffliche Festlegung ist sorgfältig vermieden. Dadurch w ird die Möglichkeit gewonnen, eine Vorstellung durch vier Ja h r­ hunderte hindurch zu v erw erten und an ih r ein großes M aterial zu orien­ tieren. A ndererseits w ird allerdings auch auf die Intensität eines entschei­ denden und deshalb ordnenden und gruppierenden Begriffes verzichtet und damit auf einen A ufbau im eigentlichen Sinne. Eine geistesgeschichtliche D arstellung k ann ihre S tru k tu r n u r durch Begriffe erhalten. Es mag „Rationalism us“ sein, mit Begriffsschablonen zu arbeiten; es ist ein auf dem­ selben N iveau verbleibender Irrationalism us, jede Begrifflichkeit zu v er­ meiden. D er Verzicht auf den Begriff enthält nicht nur einen Verzicht auf jede Spannung dialektischer Entwicklung, wie sie bei Hegel und den be­ deutenderen H egelianern einen oft gew altigen A ufbau ermöglicht, sondern auf eine strenge A rchitektur überhaupt. Die Folge ist, daß die S tru k tu r des W erkes sich lockert und schließlich in einer Reihe von Essays und P or­ träts eine Reihe von A utoren geschildert w ird, die vom 16. bis 19. Ja h r­ hundert das Them a Staatsräson und M achtpolitik in mancherlei V ariatio­ nen behandelt haben. D er Verzicht auf Begrifflichkeit und A rchitektur ist aber w iederum nicht so entschieden, daß jede innere Linie fehlte, die zahlreichen, um die „Idee der Staatsräson“ sich bewegenden M einungen und Ansichten in einem 1 Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Gesdiidite. München und Berlin (Oldenbourg) 1924.

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Zu Friedrich Meinedees „Idee der Staatsräson'

chaotischen Gewimmel durcheinanderliefen und höchstens durch die R eihen­ folge der Jahrhunderte eine gewisse Übersichtlichkeit entstände. Es läßt sich vielm ehr eine einfache Linie erkennen, die vom 16. zum 19. Jah rh u n d ert geht, von M achiavelli zu R anke und Treitschke, vom Absolutism us zum N ationalstaat, wobei M achiavelli, Friedrich der G roße und H egel „als die drei m arkantesten G ipfel“ hervorragen (S. 456). Es w ird sogar von einem „Fortschritt“ in der Lehre von der Staatsräson gesprochen“ (S. 481). W äh­ rend im 16. Jah rh u n d ert n u r ein erster Hauch historischen D enkens, n u r die erste Ahnung der geistigen Persönlichkeit des Staates zu verspüren ist, sieht der „neue“ Historism us, die „neue“ Staatsräson die großen und mächtigen Individualitäten der Geschichte. D ie Idee der Staatsräson w ird dadurch „nichts anderes als die individuelle Idee des Staates, die das Individuum des einzelnen Staatsm annes beherrscht“ (S. 482). D ie alte Staatsräson dachte abstrakt, rationalistisch, generell, mechanisch; sie setzte eine im m er gleiche menschliche N atur voraus. D ie neue entdeckt das konkrete, individuelle Leben der einzelnen Staaten. D en W endepunkt bezeichnet die Philosophie des deutschen Idealism us; sie h at die wesentlichen Ideen der Iden tität von N atur und Geist, Politik und Moral, und die Individualität der Staaten und Völker gefunden. H ier ist also eine Linie, eine Entwicklung, sogar ein Fortschritt. Doch kann m an nicht sagen, daß das W erk auf dieser Linie be­ ruhe. Es ist nicht so, als steigere sich in Hegelischer W eise der A ufbau, je m ehr es zur G egenw art hingeht und als gipfele die Entwicklung in der G egenw art oder wenigstens in der Staatsidee des 19. Jahrhunderts. Gew iß ist R anke m it besonderer Feinheit, ja Innigkeit behandelt; er ist die F igur des W erkes, welcher der A utor als H isto rik er offenbar am nächsten v e r­ w andt ist. A ber das begründet noch keine Steigerung oder K ulm ination des W erkes selbst. Die Linie, die vom alten M achiavellism us zum neuen historischen Wissen um die Individualität des Staates gezogen w ird, be­ zeichnet, wenn ich so sagen darf, n u r das Minimum von Entwicklung, ohne das es nun einmal in einer geschichtlichen D arstellung nicht geht. Im übrigen liegt der G rundgedanke des W erkes in etw as anderem . E r schließt die Vorstellung einer fortlaufenden Entw icklungslinie ebenso wie die einer dialektischen Steigerung aus und enthält einen in G egensätzen b a la n ­ cierenden moralischen Dualism us. D ieser Dualism us erscheint bald als der G egensatz von Sein und Sollen, bald von Macht und Sittlichkeit, bald in anderen G estalten. Jedenfalls w ird die Idee der Staatsräson von ihm beherrscht. Doch handelt es sich nicht um den Gegensatz von Regel und Ausnahm e in dem Sinne, daß eine geltende Regel, etw a das jus commune oder ein allgem eines M oralgebot aus Rück­ sichten einer „Staatsräson“ durchbrochen und diese A usnahm e dann im H in­ blick auf die besonders geartete Situation oder den N otfall gerechtfertigt würde. Solche K onstruktionen sind in der Geschichte der L ehre von der Staatsräson sehr häufig. Sie beruhen auf dem G egensatz von norm alen und abnorm en Fällen. Wo sie auftauchen — besonders in der L ite ratu r des 16. und 17. Jahrhunderts —, w erden sie als „logisch-juristisch“ bezeichnet (z. B.

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S. 151, 165, 382) und die A bneigung des A utors gegen das Logisch-Juristische ist offenbar so groß, daß dieses P rä d ik a t genügt, um derartige K onstruk­ tionen und die Bücher, die sich m it ihnen beschäftigen, anscheinend grund­ sätzlich zu ignorieren. A ber die K onstruktion der „Ausnahm e“ h ätte ihm die ganze Problem atik seines „individuellen Lebensgesetzes“ und seiner „individuellen Staatsräson“ zeigen können, w eil ein solches individuelles Gesetz natürlich keine Ausnahm e kennt, wie das „allgem eine M oralgebot“, zu welchem das Buch sich ebenfalls schließlich bekennt. Mir scheint die Frage nach der N orm alität oder A bnorm ität der konkreten Situation von grundlegender Bedeutung zu sein. W er davon ausgeht, daß ein abnorm er Zustand vorliegt — sei es nun, daß er die W elt in einer radikalen Ab­ norm ität erblickt, sei es, daß er n u r eine besondere Situation fü r abnorm hält — w ird das Problem von Politik, M oral und R edit anders lösen, als w er von ih re r prinzipiellen, n u r durch kleine Störungen getrübten N orm a­ lität überzeugt ist. O b m an den Menschen fü r von N atur gut oder von N atur böse hält, ist in der staatstheoretischen L ite ratu r m eistens n u r eine Um­ schreibung oder eine besondere A nw endung dieses fundam entalen Gegen­ satzes. Aus der A nnahm e der abnorm en Situation ergeben sich besonders geartete, dezisionistische Konsequenzen, ergibt sich ein Sinn fü r Durch­ brechungen, fü r eine, oberflächlicherweise sogenannte „ Irratio n a litä t“ (im Religiösen z. B. fü r die Lehre von der Prädestination), A nerkennung außer­ ordentlichen H andelns und Eingreifens, wie des a deo excitatus, ferner D ik­ tatu r, aber auch Begriffe w ie Souveränität und Absolutismus, also Vor­ stellungen, die Meiriecke m it seiner schlagw ortartig erw eiterten Staatsräson in V erbindung bringen w ill, die er aber in ih re r Besonderheit nicht beachtet. Sein D ualism us verm eidet sowohl diese metaphysisch-logische, wie die juristische Seite des Problem s und bleibt im Moralischen, d. h. in der libe­ ralen T radition des 18. und 19. Jahrhunderts, die zw ar durch das große historische V erständnis fü r die Individualität jedes staatlichen Lebens m odifiziert w ird, aber d afür auch ihre w iderspruchslose Einfachheit verliert. Zum Staat gehört, w ie im m er w ieder betont w ird, Macht. A ber die Macht soll sich in die Sphäre des Ethischen erheben und dort mit etw as ih re r N atur Frem dem , sogar Gegensätzlichem verbinden. „K ratos und Ethos zu­ sammen bauen den S taat und machen Geschichte“ (S. 5). D er Gegensatz von Macht und E thik ru ft nun fast von selbst zahlreiche andere G egensatzpaare hervor, geht in sie über, verbindet sich m it ihnen in den verschiedensten Kom binationen, und so spiegelt sich der in der Idee der Staatsräson liegende Dualism us in vielen A ntithesen, von denen folgende zu erw ähnen sind: I. D e r m o r a l i s c h e D u a l i s m u s — Ethos Kratos — Sittliches Gebot Staatsräson — Denken Handeln — Sittliche Forderung Realität Politik — Moral — Sittlichkeit Machtpolitik — Ethische Norm Egoistisches Interesse

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II. D i e r e c h t l i c h e S e i t e d e s D u a l i s m u s Egoismus — Vertragstreue Macht — Redit ( De r G e g e n s a t z v o n S t a a t s r ä s o n und V ö l k e r r e c h t ist nur ein A n ­ w e n d u n g s f a l l , vgl. S. 260 u. 520) Empirisdie Wirklichkeit — Naturredit III. D i e m e t a p h y s i s c h e Natur Naturhafte Notwendigkeit Natur Natur Schicksal Das Dunkle Dämonische, Vulkanische, ► Irrationale, Leben Böse Teufel

Seite des D u a l i s m u s — Sittlichkeit — Sittengesetz — Geist — Kultur — Vernunft — Das Rationale Gut Gott

Diese kurze Übersicht soll nicht etw a den Reichtum des Buches erschöpfen und die Fülle der Nuancen in Fesseln schlagen, sondern nu r zeigen, daß die Grundanschauung des W erkes vieler verschiedener Erscheinungsformen fähig ist, aber doch immer auf der Spannung eines moralischen Dualism us beruht. Ausdrücklich w ird der Versuch des deutschen Idealismus, die Gegen­ sätze in einer Identitätsphilosophie aufzuheben, als etwas heute nicht m ehr Mögliches behandelt. „W ir sagen heute, daß das Vernünftige wohl sein soll, aber nicht schlechthin ist. Die K luft zwischen Sein und Sollen erscheint uns größer, die tragische Schuld der M achtkämpfe deshalb schwerer als dem älteren deutschen Idealismus, der die O ffenbarung G ottes in der Geschichte nicht groß, gewaltig und um fassend genug sich vorstellen konnte und auch die Abgründe des Lebens von ih r beglänzt sah“ (S. 506). Es bleibt also beim Dualismus. Jene kurze Übersicht zeigt allerdings schon, daß eine große Zahl von Kombinationen, V erbindungen, Vertauschungen und Über­ gängen möglich ist, zumal wenn jede begriffliche Abgrenzung prinzipiell verm ieden wird. Auch sind Um stellungen aus einer Reihe in die andere möglich. Es gibt z. B. einen vernünftigen Egoismus, eine rationalistische Staatsräson (hier w ird das W ort Rationalism us zur Kennzeichnung einer historischen Epoche), und innerhalb der Staatsräson kann selbst w ieder ein Dualism us gefunden werden, weil sie i n s i c h eine N atur- (und Nacht-) und eine V ernunftseite hat (vgl. S. 459). D aß gerade solche Verschlingungen und Verwicklungen einen H istoriker wie Meinecke besonders interessieren, ist begreiflich. Nun liegt es für manche m oderne H istoriker sehr nahe, gegen­ über den prim itiven Gegensätzlichkeiten von M achiavellismus und A nti­ machiavellismus, M acchtpolitik und Moral, die Gesichtspunkte der deut­ schen Identitätsphilosophie, gegenüber dieser deutschen Identität w iederum die Berechtigung des Gegensatzes geltend zu machen, und so aus einem beständigen Wechsel des Standpunkts, einem ewigen H in und H er, eine A rt von Ü berlegenheit zu machen. F ü r Meineckes Buch trifft das aber nicht zu.

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Es nimmt vielm ehr am Schluß ausdrücklich Stellung, allerdings — wie hier bereits gesagt w erden muß — nicht so, daß diese Stellung als ein notwen­ diges Ergebnis des G esam tw erkes, als eine conclusio erscheint. Die Lehre von einer besonderen Staatsm oral, „die selbst Troeltsch 1916 noch tiefsinnig nannte“, w ird als irrefü h ren d bezeichnet (S. 533). Die R ettung der staat­ lichen Individualität ist ein sittliches Recht, aber wenn sie „auf Kosten des allgem einen M oralgebotes“ erfolgt, so ist das „tragische Schuld“ und „mit strenger W ahrung des allgem einen M oralgebots“ zu beurteilen (S. 534). Gegenüber den deutschen Identitäts- und Individualitätsvorstellungen, ins­ besondere gegenüber Hegel, der M achiavelli w ieder zu E hren brachte und den M achtgedanken zu stark sanktionierte, kommen w ir also w ieder „zu einem neuen Dualism us, der aber vollkom m ener und organischer sich zu sein bem üht, als der frü h e re “ (S. 536). — Das letzte W ort des Buches ist eine „gereinigte und w ahrhaft weise Staatsräson“ (S. 537). Bei jedem D enker läßt sich ein G rundbild feststellen, das für seine geistige Eigenart charakteristisch ist. Beispiele solcher Bilder sind die W aage (die Balance), der O rganism us (der w ieder ein Baum, ein Tier oder ein menschlicher O rganism us sein kann) oder mechanische Bilder, wie die Maschine; B ilder von der A rchitektur; die w iederum ganz anders gearteten V orstellungen von Kam pf und Schlacht usw. Die Lehre von diesen Bildern ist noch wenig entw ickelt und leicht der G efahr ausgesetzt, sich im Psychologischen oder einfach in p lattester Rom antik aufzulösen1. Aber den W ert eines charakterisierenden Moments w ird man ihnen zubilligen müssen, besonders da, wo ein W erk auf einer dualistischen Spannung beruht. Lösungen wie Bestehenlassen des D ualism us brauchen notwendigerweise ein charakteristisches Bild. F ü r Meinecke dürfte das Bild von der Pendel­ schwingung seine G rundeinstellung am besten verdeutlichen. Nach ihm stehen w ir heute in einer Zeit, in welcher der Pendel von dem Macht­ gedanken und dem Monismus der deutschen Identitäts- und Individuali­ tätsauffassung weg zu einem starken Dualism us von Politik und Moral schwingt. „Spätere Geschlechter mögen vielleicht w ieder zu einer neuen Identitätsphilosophie zu gelangen suchen, und so mag sich die Pendel­ schwingung zwischen dualistischer und monistischer W eltansicht immer w iederholen“ (S. 536). Zu diesem Dualism us — denn auch der Gegensatz von Monismus und D ualism us w ird zu einem balancierenden Dualism us — gelangt der A utor aber n u r deshalb, weil er durch die Betonung des D ualis­ mus eine Schranke fü r die überm äßige Staatsräson zu finden hofft — ein etwas pädagogisch-moralischer G rund, der jedoch keineswegs gering zu schätzen oder unheroisch zu nennen ist, sondern an die H altung der großen Zeit des Liberalism us erinnert. Am besten h at Gentz sie einmal zum Aus­ druck gebracht, als er sagte, daß er sich immer auf die Seite stelle, die je ­ weils verkannt und mißachtet w erde. Trotzdem bedeutet diese H altung 1*4 1 Insbesondere scheint es mir gefährlich, die organischen Bilder als Ausdruck „agrarischen“, die mechanisdien als Ausdruck „industriellen“ Denkens zu behandeln; vgl. darüber die hübsche Auseinandersetzung bei Wyndham Lewis, The art of being ruled. London 1926, S. 32 ff. 4

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einen sehr auffälligen Verzicht auf die rein historische K ontem plation, die sonst gerade die Stärke und den Reichtum des Buches ausmacht. Das „allgem eine M oralgebot“ und das Völkerrecht, dessen Norm en die Staatsräson unterw orfen w erden soll, sind nun leider keine unproblem ati­ schen Größen, die am Ende eines von solchem historischem W issen erfüllten W erkes als Schluß erscheinen könnten. O bw ohl der V erfasser den „ver­ hüllten und schwebenden D ualism us“ bei R anke ablehnt, w eil er „nicht die letzte mögliche Lösung des Problem s bedeuten k onnte“ (S. 487), und obwohl er sich mit persönlicher Entschiedenheit zum allgem einen M oralgebot be­ kennt, ergibt sich aus dem W erk keine Entscheidung. Das Problem liegt nämlich gar nicht in der inhaltlichen N orm ativität eines M oral- oder Rechts­ gebotes, sondern in der Frage: W er entscheidet? D ie große staatsphilo­ sophische L iteratu r des 17. Jahrhunderts, insbesondere Hobbes und Pufendorff, haben dieses q u i s j u d i c a b i t ? im m er betont. Meinecke spricht wohl da­ von, daß es über den Staaten keinen Richter gibt (S. 505, vgl. auch S. 371, 262), aber das Problem als solches ignoriert er, vielleicht aus A ntipathie gegen alles, was an etw as Juristisches erinnert. In der Sache läßt es sich nicht ignorieren. N atürlich w ollen alle n u r Recht, Moral, E thik und Frieden; keiner w ill Unrecht tun; aber die in concreto allein interessante Frage ist immer, w er im konkreten F all darü b er entscheidet, was rechtens ist; w orin der Friede besteht; was eine Störung oder G efährdung des Friedens ist, m it welchen M itteln sie beseitigt w ird, w ann eine Situation norm al und „befriedet“ ist usw. Dieses quis ju d icab it zeigt, daß innerhalb des Rechts und des allgem einen M oralgebots w iederum ein D ualism us steckt, der diesen Begriffen die Fähigkeit nimmt, als einfache Gegensätze der „Macht“ entgegenzutreten und zu ih r in einer Pendelschwingung sich zu bewegen. Das Recht, insbesondere das V ölkerrecht, ist nämlich entw eder einfach Legitim ität des status quo und sanktioniert den bestehenden Besitzstand; dann dient es der Macht der Besitzenden. O der es begründet Ansprüche der Nichtbesitzenden und erscheint dann als ruhestörendes, revolutionäres Prinzip. Dieses Problem der L egitim ität des status quo und der norm alen Situation, das ich öfters, zuletzt in m einer Schrift über „Die K ernfrage des V ölkerbundes“ behandelt habe, sei hier n u r angedeutet. Es muß den A spekt des grundlegenden Dualism us von K ratos und Ethos völlig ändern. Ist so das allgemeine M oralgebot in sich nicht ohne w eiteres überzeugend, so hat auch die Sanktionierung, die es bei Meinecke erhält, etw as U nent­ schiedenes. Ein aus G ründen der M achtpolitik vorgenom m ener Verstoß gegen dieses Gebot w ird als „tragische“ Schuld angesehen. Das mag sie sein; aber das ist keine Sanktion, sondern ein Übergang ins Ästhetische. „T ra­ gisch“ ist keine Kategorie, die, w enn m an einm al ein moralisches Gebot ernst nimmt, die letzte A ntw ort auf einen Konflikt geben könnte. Das W ort ist höchstens ein Ausdruck, der inneren Problem atik dieses moralischen G e­ botes selbst, eine Umschreibung tiefen B edauerns und der Erschütterung, die aus der historischen Einsicht in die Ohnm acht des Gebotes oder in die Unverm eidlichkeit der Durchbrechung entsteht, aber es kann nicht der

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überzeugende Schluß eines W erkes sein, in welchem das Problem der Staatsräson von der moralischen Seite gestellt wird. Ein solches W ort be­ deutet, daß das Buch kein letztes W ort hat. Eine nu r historische Schilde­ rung braucht allerdings auch kein letztes W ort zu haben. Anders aber ein W erk, das nun einm al den Standpunkt des M oralgebotes anerkannt hat. Vom historischen Interesse aus erhebt sich dann ein w eiterer Zweifel. Ist die „Idee der Staatsräson“ wirklich ein geeigneter G rundgedanke, um eine umfassende D arstellung des Staats- und Machtproblems der letzten Jahrhunderte zu tragen? Ist sie nicht in ihrem spezifischen Sinn an eine be­ stimmte Epoche, an den Absolutismus des 16. und 17. Jahrhunderts, gebun­ den und für die folgenden Jahrhunderte zu wenig charakteristisch und zentral, als daß eine historische D arlegung sich an diesem Begriff orien­ tieren könnte? D er Gesam teindruck von Meineckes Buch macht diesen Zweifel noch stärker, obwohl die F rage an sich dem H istoriker natürlich nicht unbekannt geblieben ist. Fast die H älfte des Buches behandelt das Zeitalter des w erdenden Absolutismus, besonders Machiavelli, Botero, Boccalini, C am panella, Richelieu, den Herzog Heinrich von Rohan, G. Naudet. Im zweiten Buch beherrscht Friedrich der Große das Interesse; das dritte enthält Essays über Hegel, Fichte, R anke und Treitschke, von denen Fichte auf n u r acht Seiten behandelt w ird. Das Schwergewicht des W erkes ruht unverhältnism äßig stark auf der ersten H älfte und dem Kapitel über Friedrich den Großen. Dem 19. Jah rh u n d ert w ird der Begriff der Staats­ räson fremd, obwohl das M achtproblem in neuen Formen, insbesondere als „Im perialism us“ bestehen blieb und sich noch ungeheuer verschärfte. Eine Ideenverbindung wie Ratio Status ist eben doch zu fest an bestimm te Be­ griffe gebunden, als daß sie sich fü r ganz verschiedene Jahrhunderte politi­ schen Denkens zum gemeinsamen O rientierungspunkt eignete. Im Zeitalter der K abinettspolitik hat die Politik eine andere „V ernunft“, einen anderen Sinn und einen anderen Stil als in einer demokratischen Zeit, deren A rt Politik m indestens zur H älfte Technik der öffentlichen Meinung ist. Und ebenso wie die Ratio ändert sich der Begriff des Staates. Die Wortgeschichte von Staat ist noch nicht geschrieben. Sie beginnt jedenfalls nicht erst m it Machiavelli. Lange vor dem 16. Jah rh u n d ert w ar es der Sprache veneziani­ scher Politik möglich, sogar schon vom „Leben unseres Staates“, von der vita nostri status zu sprechen. Aus den vielen „status“, die es gab, konnte sich e i n status als d e r status hervorheben, ein Begriff, der von res publica und civitas, erst recht aber von Gemeinwesen oder Commonwealth zu u n ter­ scheiden ist, und wesentlich einer Sphäre angehört, deren Besonderheit in Meineckes Buch kaum h erv o rtritt, der Sphäre der P u b l i z i t ä t im Gegen­ satz zu allem P rivaten und allem ökonomischen. In die gleiche Sphäre ge­ hören Begriffe wie R epräsentation, Person (zum großen Unterschied von Persönlichkeit oder gar Individualität), D ignitas und Ehre. D ieser status bedeutet die grundlegende und um fassende Einheit einer substantiellen, seinsmäßigen, wesentlich öffentlichen O rdnung, er hat die innere R ationali­ tät eines Seins und w ill deshalb „in suo esse perseverare“. Dadurch bleibt 4*

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er immer im Zusammenhang m it einem (man sagt heute in falscher A nti­ these) statischen Ordnungsbegriff. Sobald sog. dynamische V orstellungen irgendwelcher A rt1 herrschend werden, v e rliert der Begriff seinen Sinn. Dem ökonomisch-technischen D enken der G egenw art erscheint er über­ haupt unverständlich und „unsachlich“. D aher k ann heute sogar sein An­ spruch, in eminentem Sinne die soziale E i n h e i t darzustellen, b estritten werden, wie das in der „pluralistischen“ S taatstheorie von L a s k i ge­ schieht. Ich halte das zw ar nicht fü r eine Staatstheorie, sondern fü r die N e­ gation einer solchen und für ein Sym ptom der Auflösung, aber ich darf ge­ stehen, daß es m ir interessanter und ak tu eller scheint als die Klischees der staatsrechtlichen Kom pendien oder gar die P rodukte der methodologischen Inflation. So sind w ir von ratio und status heute w eit entfernt. F ü r einen H isto­ rik e r wie Meinecke konnte das nicht unbem erkt bleiben. W enn er tro tz­ dem versuchte, die Idee der Staatsräson auch noch im 19. und sogar noch im 20. Jah rh u n d ert als M ittelpunkt seiner D arstellung beizubehalten, so w ar ihm das n u r möglich, weil er den Begriff zu einer ganz allgem einen Vor­ stellung von M achtstreben, M achtpolitik und dergleichen erw eiterte und ihn einem ebenso allgem einen M oralgebot gegenüberstellte. Höchst auf­ fällig, ja widerspruchsvoll. D enn nicht n u r das Spezifische des Begriffes geht verloren — das hat den V erfasser ex professo niem als interessiert — son­ dern auch die historische Individualität der V orstellung. Es entfällt also gerade das, was der H istoriker gegenüber dem generellen M oralismus frü h erer Jahrhunderte sonst im m er betont und was die Ü berlegenheit der neueren deutschen Geschichtsschreibung ausmacht. So rächt sich der m iß­ achtete Begriff. W enn w ir ins Allgem eine gehen und von den historischen Besonderheiten absehen, dann ist nämlich die „gereinigte“ oder „w ahrhaft w eise“ Staatsräson schließlich nichts anderes, als die „gute“ Staatsräson, die schon im 16. und 17. Ja h rh u n d e rt einer schlechten, cattiva ragione di stato entgegengesetzt w urde.

7. Der Gegensat} von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie (1926) I. Parlamentarismus In einer im Sommer 1923 erschienenen A bhandlung über den P a rla ­ m entarism us habe ich D i s k u s s i o n und Ö f f e n t l i c h k e i t als die Prinzipien bezeichnet, in denen die Institution des Parlam ents ihre geistige G rundlage hat. D ie vielerö rterte K risis des P arlam entarism us b e ru h t für eine ideengeschichtliche B etrachtung darauf, daß m an heute, infolge der 1 Über den Gegensatz der statisdien und der dynamischen Staats- und Regie­ rungsformen: Rudolf Smend, Die politisdie Gewalt im Verfassungsstaat und das Problem der Staatsform. Tübingen 1923, S. 22.

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Entwicklung der m odernen M assendemokratie, den G lauben an jene P rin ­ zipien verliert. Die K lassiker des politischen Liberalismus und Vorkäm pfer des kontinentalen Parlam entarism us sahen noch mit voller Überzeugung in der öffentlichen Diskussion nicht n u r ein H eilm ittel gegen politische Korruption, sondern auch den moralischen W ert und die Überlegenheit des Parlam ents. D er typische V ertreter dieses Glaubens ist Guizot, ein typischer L iberaler der Louis-Philipp-Zeit. Das Parlam ent ist für ihn der Platz,' wo in öffentlicher Diskussion durch A rgum ent und Gegenargum ent die W ahrheit und Richtigkeit am sichersten gefunden wird. Entfällt dieser Glaube, w ird die öffentliche Diskussion zu einer nichtssagenden Form alität und verlegt sich die Entscheidung aller wesentlichen Fragen in geheime Sitzungen enger Komitees, so ist auch die geistige G rundlage des P a rla ­ m entarismus entfallen. Soweit gegen diese Thesen ein sachlicher, nicht nur durch politische Be­ fürchtungen bestim m ter Einw and erhoben w urde — wie von Richard T h o m a in einer ausführlichen, gedankenreichen K ritik im Archiv für Sozialwissenschaften, 1925, Bd. 53, S. 212 ff. —, geht er dahin, daß ich die geistige G rundlage des Parlam entarism us in ganz veralteten G edanken­ gängen finde, wenn ich Diskussion und Öffentlichkeit für die beiden w esent­ lichen Prinzipien des Parlam ents halte. D erartiges sei vielleicht vor einigen G enerationen m aßgebende Vorstellung gewesen, heute aber stände das P arlam ent längst auf einer ganz anderen Basis. D aß der Glaube an Öffentlichkeit und Diskussion heute als etw as V eraltetes erscheint, ist auch meine Befürchtung. Es fragt sich deshalb nur, welcher A rt denn die neuen A rgum entationen oder Ü berzeugungen sind, die dem Parlam ent seine neue geistige G rundlage geben. N atürlich ändern sich im Lauf der Entwicklung sowohl die Institutionen als auch die Ideen der Menschen. Ich sehe aber nicht, w orin der heutige Parlam entarism us, wenn die P rin ­ zipien der Diskussion und der Öffentlichkeit wirklich entfallen, eine neue G rundlage finden könnte und w eshalb die W ahrheit und Richtigkeit des Parlam ents dann noch einleuchtend w ären. Wie jede große Institution, so hat auch das P arlam ent besondere, eigentümliche Ideen zur Voraussetzung. W er sie kennenlernen will, w ird sich gezwungen sehen, auf Burke, Bentham, Guizot und J. St. Mill zurüdkzugehen, und w ird dann feststellen müssen, daß nach ihnen, ungefähr seit 1848, wohl zahlreiche praktische Erwägungen, nicht aber neue prinzipielle Argum ente vorgebracht worden sind. Im letzten Jah rh u n d ert hat man das freilich kaum bem erkt, weil der Parlam entarism us m it der vordringenden D em okratie in enger Verbindung gleichzeitig vordrang, ohne daß beides genau unterschieden w urde1. H eute 1 Ein ganz typisches Beispiel ist die Definition des Parlamentarismus in dem Buch des Senators Prof. Gaetano Mosca, „Teorica dei Governi e Governo Parlamentäre'*, 2. Auflage, Mailand 1925 (1. Auflage 1883), S. 147; er versteht darunter eine Regie­ rung, in welcher die politische Überlegenheit (la preminenza politica) im Staate Elementen zusteht, welche direkt oder indirekt aus einer Volkswahl hervorgehen. Audi die beliebte Gleichstellung von Repräsentativverfassung und Parlamentarismus enthält dieselbe Verwechslung.

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aber, nach dem gemeinsamen Sieg, tritt der G egensatz zutage und kann der Unterschied von liberal-parlam entarischen und m assendemokratischen Ideen nicht länger unbeachtet bleiben. Man w ird sich also mit jenen, wie Thoma sich ausdrückt, „verschim melten“ G rößen beschäftigen müssen, weil n u r aus ihren G edankengängen heraus das Spezifische des P arlam entaris­ mus zu erkennen ist und n u r bei ihnen das P arlam ent den C h a ra k te r einer eigenartig fundierten Institution erhält, die sowohl gegenüber den Konse­ quenzen der unm ittelbaren D em okratie als gegenüber Bolschewismus und Fascismus eine geistige Ü berlegenheit w ahren kann. D aß der heutige parlam entarische B etrieb das kleinere Übel ist, daß er imm er noch besser sein w ird als Bolschewismus und D ik tatu r, daß es unabsehbare Folgen haben w ürde, w enn m an ihn beseitigt, daß er „sozial-technisch“ eine ganz praktische Sache ist, alles das sind interessante und zum Teil auch richtige Erw ägungen. A ber es ist nicht die geistige G rundlage einer besonders gearteten Institution. D er P arlam entarism us besteht heute als R egierungs­ m ethode und politisches System. W ie alles, was besteht und erträglich funktioniert, ist er nützlich, nicht m ehr und nicht w eniger. Es läßt sich vieles dafür geltend machen, daß es so wie heute imm er noch besser geht als bei unerprobten andern M ethoden und daß ein Minimum von O rdnung, wie es heute doch tatsächlich vorhanden ist, durch leichtsinnige E xperim ente gefährdet w ürde. D erartige Überlegungen w ird jed e r verständige'M ensch durchaus gelten lassen. A ber sie bew egen sich nicht in der Sphäre eines prinzipiellen Interesses. So anspruchslos w ird doch wohl niem and sein, daß er mit einem „Was sonst?“ eine geistige G rundlage oder eine moralische W ahrheit fü r erw iesen hielte. Alle spezifisch parlam entarischen Einrichtungen und Norm en erhalten erst durch Diskussion und Öffentlichkeit ihren Sinn. Das gilt insbesondere von dem verfassungsm äßig heute offiziell noch anerkannten, w enn auch praktisch kaum noch geglaubten G rundsatz, daß der A bgeordnete von seinen W ählern und seiner P artei unabhängig ist; es gilt von den Vor­ schriften über R edefreiheit und Im m unität der Abgeordneten, über die Öffentlichkeit der Parlam entsverhandlungen usw. Diese Einrichtungen w erden unverständlich, w enn das Prinzip der öffentlichen Diskussion keinen G lauben m ehr findet. Es ist nicht so, als könnte man einer Insti­ tution nachträglich beliebige andere Prinzipien unterschieben, und wenn ih re bisherige G rundlage entfällt, irgendwelche E rsatzargum ente einfügen. Wohl kann dieselbe Institution verschiedenen praktischen Zwecken dienen und deshalb verschiedene praktische Rechtfertigungen erfahren. Es gibt eine „Heterogonie der Zwecke“, einen B edeutungsw andel der p ra k ­ tischen Gesichtspunkte und einen Funktionsw andel der praktischen M ittel, aber es gibt keine H eterogonie der Prinzipien. W enn w ir zum Beispiel m it M ontesquieu annehmen, daß das Prinzip der Monarchie die „E hre“ ist, so läßt sich dieses Prinzip nicht einer dem okratischen R epublik unterschieben, ebensowenig wie sich auf dem P rinzip der öffentlichen Diskussion eine Monarchie fundieren läßt. Zw ar scheint das G efühl fü r die Besonderheit

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der Prinzipien zu schwinden und eine grenzenlose U nterschiebbarkeit für möglich gehalten zu w erden. In der eingangs erw ähnten Besprechung von Thoma ist das eigentlich der G rundgedanke aller Einwände, die er gegen meine A bhandlung erhebt. A ber leider v e rrä t er keineswegs, welches denn die angeblich so zahlreichen, neuen Prinzipien des Parlam entarism us eigentlich sind. E r begnügt sich damit, in einem kurzen Hinweis von wenigen W orten „nur die Schriften und Reden von Max W eber, Hugo Preuß und Friedrich N aum ann aus den Jahren 1917ff.“ zu erw ähnen. Was bedeutete der Parlam entarism us für diese gegen das kaiserliche Regie­ rungssystem ankäm pfenden deutschen D em okraten? Im wesentlichen und höchsten ein M ittel der politischen Führerauslese, einen sicheren Weg, politischen D ilettantism us zu beseitigen und die Besten und Tüchtigsten zur politischen Führerschaft gelangen zu lassen. Ob das Parlam ent ta t­ sächlich die F ähigkeit besitzt, ejne politische Elite zu bilden, ist sehr zweifelhaft geworden. H eute w ird m an wohl nicht m ehr so hoffnungsvoll über dieses A usleseinstrum ent denken; viele w erden derartige Hoffnungen schon als veraltet ansehen, und das W ort „Illusionen“, das Thoma gegen Guizot gebraucht, könnte leicht auch jene deutschen D em okraten treffen. Was die zahlreichen Parlam ente der verschiedenen europäischen und außereuropäischen Staaten an politischer Elite in H underten von M inistern ununterbrochen hervorbringen, rechtfertigt keinen großen Optimismus. A ber noch schlimmer und für jene Hoffnungen fast vernichtend: in manchen Staaten hat es der Parlam entarism us schon dahin gebracht, daß sich alle öffentlichen A ngelegenheiten in Beute- und Kom prom ißobjekte von Parteien und Gefolgschaften verw andeln und die Politik, weit davon ent­ fernt, die A ngelegenheit einer Elite zu sein, zu dem ziemlich verachteten Geschäft einer ziemlich verachteten Klasse von Menschen geworden ist. F ür eine prinzipielle Betrachtung ist das jedoch nicht entscheidend. W er glaubt, der Parlam entarism us g arantiere die beste politische Führerauslese, hat diese Überzeugung heute allerdings meistens nicht m ehr als ideellen Glauben, sondern als eine nach englischen V orbildern konstruierte, auf dem K ontinent zu erprobende, praktisch-technische Hypothese, die man vernünftigerw eise sofort aufgibt, wenn sie sich nicht bew ährt. Doch kann sich seine Ü berzeugung auch mit dem G lauben an Diskussion und Öffent­ lichkeit verbinden, und dann gehört sie zur prinzipiellen Argum entation des Parlam entarism us. Das P arlam ent ist jedenfalls nur so lange „w ahr“, als die öffentliche Diskussion ernst genommen und durchgeführt wird. „Diskussion“ h at hier aber einen besonderen Sinn und bedeutet nicht ein­ fach Verhandeln. W er alle möglichen A rten von V erhandeln und Ver­ ständigung als Parlam entarism us und alles andere als D ik tatu r oder G ew altherrschaft bezeichnet — wie M. J. B o n n in seiner „Krisis der europäischen D em okratie“ und auch R. T h o m a in seiner obengenannten Besprechung —, um geht die eigentliche Frage. Auf jedem G esandten­ kongreß, jedem D elegiertentag, in jed er D irektorensitzung wird ver­ handelt; ebenso wie zwischen den K abinetten der absoluten Monarchen,

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zwischen ständischen O rganisationen, zwischen C hristen und T ürken ver­ handelt w urde. D araus ergibt sich noch nicht die Institution des m odernen Parlam ents. Man darf die Begriffe nicht auflösen und das Spezifische der Diskussion nicht außer acht lassen. Diskussion bedeutet einen Meinungs­ austausch, der von dem Zweck beherrscht ist, den G egner mit rationalen A rgum enten von einer W ahrheit und Richtigkeit zu überzeugen oder sich von der W ahrheit und Richtigkeit überzeugen zu lassen. Gentz — hierin noch von dem L iberalen B urke b elehrt — form uliert es treffend: Das C harakteristische aller R epräsentativverfassungen (er m eint das moderne Parlam ent zum Unterschied von ständischen V ertretungen) ist, daß die Gesetze aus einem K a m p f d e r M e i n u n g e n (nicht aus einem Kampf der Interessen) hervorgehen. Zur Diskussion gehören gemeinsame Über­ zeugung als Prämisse, B ereitw illigkeit, sich überzeugen zu lassen, Un­ abhängigkeit von parteim äßiger Bindung, U nbefangenheit von egoistischen Interessen. H eute w erden die m eisten eine solche U ninteressiertheit kaum für möglich halten. A ber auch diese Skepsis gehört zur Krise des P a rla ­ m entarismus. Die eben erw ähnten, offiziell noch geltenden Bestimmungen der parlam entarischen Verfassungen lassen deutlich erkennen, daß alle eigentüm lich-parlam entarischen Einrichtungen diesen besonderen Begriff der Diskussion voraussetzen. D er überall w iederkehrende Satz zum Bei­ spiel, daß jed e r Abgeordnete V ertreter nicht einer Partei, sondern des ganzen Volkes und an keinerlei Anw eisungen gebunden ist (auch die W eim arer Verfassung hat ihn in A rtikel 21 aufgenommen), die typisch w iederkehrenden G arantien der R edefreiheit und die Vorschriften über die Öffentlichkeit der Sitzungen sind n u r bei richtig verstandener Dis­ kussion sinnvoll. V erhandlungen dagegen, bei denen es nicht darauf ankommt, die rationale Richtigkeit zu finden, sondern Interessen und Gewinnchancen zu berechnen und durchzusetzen und das eigene Inter­ esse nach Möglichkeit zur G eltung zu bringen, sind natürlich auch von mancherlei Reden und E rörterungen begleitet, aber nicht im prägnanten Sinne Diskussion. Zwei Kaufleute, die sich nach einem K onkurrenzkam pf einigen, sprechen über die beiderseitigen wirtschaftlichen Möglichkeiten; jed e r sucht selbstverständlich seinen Vorteil wahrzunehm en, und so kommen sie zu einem geschäftlichen Kompromiß. D ie Öffentlichkeit ist bei dieser A rt von Verhandlung ebenso unangebracht, wie sie bei einer w ahren Diskussion vernünftig ist. V erhandlungen und Kompromisse hat es, wie gesagt, überall in der Weltgeschichte gegeben. D ie Menschen wissen, daß es meistens vorteilhafter ist, sich zu vertragen, als zu streiten, und ein m agerer Vergleich besser als ein fetter Prozeß. Das ist zweifellos richtig, aber nicht das Prinzip einer besonders gearteten Staats- oder Regierungs­ form. Die Lage des Parlam entarism us ist heute so kritisch, weil die Ent­ wicklung der m odernen M assendemokratie die argum entierende öffent­ liche Diskussion zu einer leeren F orm alität gemacht hat. Manche Normen des heutigen Parlam entsrechtes, vor allem die Vorschriften über die Un-

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abhängigkeit der A bgeordneten und über die Öffentlichkeit der Sitzungen, w irken infolgedessen wie eine überflüssige Dekoration, unnütz und sogar peinlich, als hätte jem and die H eizkörper einer m odernen Zentralheizung mit roten Flam m en angem alt, um die Illusion eines lodernden Feuers hervorzurufen. Die P arteien (die es nach dem T ext der geschriebenen Ver­ fassung offiziell gar nicht gibt) treten heute nicht m ehr als diskutierende Meinungen, sondern als soziale oder wirtschaftliche M achtgruppen ein­ ander gegenüber, berechnen die beiderseitigen Interessen und Machtmög­ lichkeiten und schließen auf dieser faktischen G rundlage Kompromisse und Koalitionen. Die Massen w erden durch einen Propagandaapparat ge­ wonnen, dessen größte W irkungen auf einem Appell an nächstliegende Interessen und Leidenschaften beruhen. Das Argum ent im eigentlichen Sinne, das für die echte Diskussion charakteristisch ist, verschwindet. An seine Stelle tritt in den V erhandlungen der P arteien die zielbewußte Berechnung der Interessen und Machtchancen; in der Behandlung der Massen die plakatm äßig eindringliche Suggestion oder — wie W alter Lippmann in einem sehr klugen, aber zu sehr im Psychologischen verhafteten amerikanischen Buche „Public O pinion“, London 1922, sagt — das „Sym­ bol1“. Die L ite ratu r zur Psychologie, Technik und K ritik der öffentlichen Meinung ist heute sehr groß12. Man darf deshalb wohl als bekannt voraus­ setzen, daß es sich heute nicht m ehr darum handelt, den Gegner von einer Richtigkeit oder W ahrheit zu überzeugen, sondern die M ehrheit zu ge­ winnen, um m it ih r zu herrschen. Was C avour als den großen Unterschied zwischen Absolutismus und konstitutionellem Regime bezeichnet, daß der absolute M inister befiehlt, der konstitutionelle denjenigen, der gehorchen soll, überzeugt, muß heute seinen Sinn verlieren. C avour sagt ausdrücklich: „Ich (als konstitutioneller M inister) überzeuge davon, daß ich r e c h t habe“, und nur in diesem Zusammenhang tu t er den berühm ten Ausspruch: „La plus m auvaise des C ham bres est encore préférable à la m eilleure des Anti­ cham bres.“ H eute erscheint das Parlam ent eher selbst als eine riesige Antichambre vor den Bureaus oder Ausschüssen unsichtbarer Machthaber. H eute w irk t es wie eine Satire, wenn man den Satz von Bentham zitiert: „Im P arlam ent treffen sich die Ideen, die B erührung der Ideen schlägt Funken und fü h rt zur Evidenz.“ W er erinnert sich noch der Zeit, da Pré1 Ein kürzlich erschienenes, interessantes und witziges, trotz aller literarisdien und gedanklichen Sprünge sehr beachtenswertes Buch, Wyndham Lewis, „The art of being ruled“, London (Chatto und Windus) 1926, erklärt diesen Übergang vom In­ tellektuellen zum Affektiven und Sensuellen dadurch, daß infolge der modernen Demokratie der männliche Typus zurückgedrängt wird und eine allgemeine Femini­ sierung eintritt. 2 Doch trifft gerade hier eine Feststellung zu, die Robert Michels im Vorwort zur 2. Auflage seiner „Soziologie des Parteiwesens“ (S. XVIIÏ) macht, „daß auf dem Gebiete sowohl der theoretischen, zumal aber dem der angewandten Massenpsycho­ logie . . . die deutsche Wissensdiaft hinter der französischen, italienischen, amerika­ nischen und englischen um einige Dezennien an Arbeitsleistung, aber auch an Inter­ esse zurücksteht“. Dem wäre nur hinzuzufügen, daß ein Buch wie das von Robert Michels, mit seinem erstaunlichen Reichtum an Material und an Gedanken, doch wohl geeignet ist, ein Dezennium des Rüdestandes zu kompensieren.

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vost-Paradol gegenüber dem „persönlichen Regim e“ Napoleons III. den W ert des Parlam entarism us d arin erblickte, daß dieser bei jed er Ver­ schiebung der wirklichen Macht den w irklichen Inhaber der Macht zwinge, sofort offen hervorzutreten, und die R egierung infolgedessen, in einer „w underbaren“ Übereinstim mung von Schein und Sein, im m er die stärkste Macht bedeute? W er glaubt noch an diese A rt von Öffentlichkeit? U nd an das Parlam ent als die große „T ribüne“? Die Beweisgründe von B urke, Bentham, Guizot und J. St. Mill sind also heute veraltet. Auch die zahlreichen Definitionen des P arlam entaris­ mus, die man heute noch in angelsächsischen und französischen Schriften findet und die in Deutschland anscheinend wenig bekannt sind, Definitionen, in denen der Parlam entarism us wesentlich als governm ent by discussion erscheint, m üßten danach als „verschimmelt“ gelten. Gut. W enn m an dann immer noch an den Parlam entarism us glaubt, w ird m an wenigstens neue A rgum ente angeben müssen. Ein Hinweis auf Friedrich N aum ann, Hugo Preuß und Max W eber genügt dann nicht m ehr. Bei allem R espekt vor diesen M ännern w ird heute niem and ih re Hoffnung teilen, durch das Parlam ent sei die Bildung einer politischen Elite ohne w eiteres garantiert. Solche Überzeugungen sind heute tatsächlich erschüttert, und als ideeller G laube können sie nu r bestehen, solange sie sich m it dem G lauben an D is­ kussion und Öffentlichkeit verbinden. Was in den letzten Jahrzehnten an neuen Rechtfertigungen für den Parlam entarism us vorgebracht w orden ist, besagt schließlich immer nur, daß heutzutage das Parlam ent als brauch­ bares, sogar unentbehrliches Instrum ent sozialer und politischer Technik gut oder wenigstens leidlich funktioniert. Das ist, um es nochmals zu v er­ sichern, eine durchaus plausible A rt der Betrachtung. A ber man w ird sich doch auch für die tiefere B egründung interessieren müssen, für das, was M ontesquieu das Prinzip einer Staats- oder Regierungsform nennt, fü r die spezifische Überzeugung, die zu dieser w ie zu jen e r großen Insti­ tution gehört, für den G lauben an das Parlam ent, den es tatsächlich ein­ mal gegeben hat und den m an heute nicht m ehr findet. In der Geschichte der politischen Ideen gibt es Epochen großer Im pulse und Zeiten der W indstille eines ideenlosen status quo. So ist die Epoche der Monarchie zu Ende, wenn der Sinn für das Prinzip des Königtums, fü r die Ehre, verlorengeht, w enn Bürgerkönige erscheinen, die statt ih rer W eihe und ih rer Ehre ihre B rauchbarkeit und Nützlichkeit zu bew eisen suchen. D er äußere A pparat monarchischer Einrichtungen k ann dann noch lange stehenbleiben. Trotzdem h at die Stunde der M onarchie geschlagen. Die Überzeugungen, die eigentlich zu dieser und keiner anderen Institution gehören, erscheinen dann veraltet; an praktischen R echtfertigungen w ird es nicht fehlen, aber es ist n u r Tatfrage, ob Menschen oder O rganisationen auftreten, die sich als tatsächlich ebenso brauchbar oder noch brauchbarer erw eisen wie die Könige und durch dieses einfache F aktum die Monarchie beseitigen. Ähnlich v erhält es sich m it den „sozial-technischen“ Recht­ fertigungen des Parlam ents. W ird das Parlam ent aus einer Institution von

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evidenter W ahrheit zu einem bloß praktisch-technischen Mittel, so braucht nur in irgendeinem Verfahren, nicht einmal notwendigerweise durch eine offen sich exponierende D iktatur, via facti gezeigt zu werden, daß es auch anders geht, und das P arlam ent ist dann erledigt. II. D e m o k r a t i e D er G laube an den Parlam entarism us, an ein g o v e r n m e n t b y d i s c u s s i o n , gehört in die G edankenw elt des Liberalismus. Er gehört nicht zur Demo­ kratie. Beides, Liberalism us und D em okratie, muß voneinander getrennt werden, dam it das heterogen zusammengesetzte Gebilde erkannt wird, das die m oderne M assendem okratie ausmacht. Jede w irkliche D em okratie beru h t darauf, daß nicht n u r Gleiches gleich, sondern, mit unverm eidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nicht gleich behandelt w ird. Zur D em okratie gehört also notwendig erstens Homogeni­ tä t und zweitens — nötigenfalls — die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen. Als Illustrierung dieses Satzes sei mit einem W ort an zwei verschiedene Beispiele m oderner D em okratien erinnert: an die heutige T ürkei mit ih rer radikalen Aussiedlung der Griechen und ihrer rücksichts­ losen T ürkisierung des Landes — und an das australische Gemeinwesen, das durch Einw anderungsgesetzgebung unerwünschten Zuzug fernhält. Die politische K raft einer D em okratie zeigt sich darin, daß sie das Frem de und Ungleiche, die Hom ogenität Bedrohende, zu beseitigen oder fernzuhalten weiß. Bei der F rage der Gleichheit handelt es sich nämlich nicht um abstrakte, logisch-arithmetische Spielereien, sondern um die Substanz der Gleichheit. Sie kann in bestim m ten physisdien und moralischen Q uali­ täten gefunden werden, z. B. in der staatsbürgerlichen Tüchtigkeit, der άρετή, die klassische D em okratie der virtus (vertu). In der D em okratie englisdier Sektierer des 17. Jahrhunderts gründete sie sich auf die Über­ einstimmung religiöser Überzeugungen. Seit dem 19. Jahrhundert besteht sie vor allem in der Zugehörigkeit zu einer bestimm ten Nation, in der nationalen Hom ogenität1. Immer ist die Gleichheit nur so lange politisch interessant und wertvoll, als sie eine Substanz hat und deshalb wenigstens die M öglidikeit und das Risiko einer Ungleichheit besteht. Es gibt vielleicht einzelne Beispiele fü r den idyllischen Fall, daß ein Gemeinwesen sich in jeder Beziehung selbst genügt, daß gleichzeitig jed er seiner Bewohner ebenfalls diese glückliche A utarkie besitzt und jed er jedem andern phy­ sisch, psychisch, moralisch und ökonomisch so ähnlich ist, daß eine Homo­ genität ohne H eterogenität vorliegt, was in prim itiven Bauerndem okratien oder K olonistenstaaten eine Zeitlang möglich sein könnte. Im übrigen muß man sagen, daß die D em okratie — weil zur Gleichheit immer auch eine 1 Die zur Demokratie gehörige politisdie Substanz kann m. E. nicht im bloß Ökonomischen liegen. Aus der ökonomischen Gleichheit folgt nodi keine politisdie Homogenität; wohl können — negativ — große ökonomische Ungleidiheiten eine sonst bestehende politische Homogenität aufheben oder gefährden. Die weitere Aus­ führung dieser Thesen gehört in einen anderen Zusammenhang.

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Ungleichheit gehört — einen Teil der vom Staate beherrschten Bevölkerung ausschließen kann, ohne aufzuhören, D em okratie zu sein, daß sogar im allgemeinen bisher zu einer D em okratie im m er auch Sklaven gehörten oder Menschen, die in irgendeiner Form ganz oder halb entrechtet und von der Ausübung der politischen G ew alt ferngehalten w aren, mögen sie nun Barbaren, Unzivilisierte, Atheisten, A ristokraten oder G egenrevolutio­ näre heißen. W eder in der athenischen Stadtdem okratie noch im englischen W eltreich sind alle Bewohner des Staatsgebietes politisch gleichberechtigt. Von den über 400 Millionen Bew ohnern des englischen W eltreiches sind über 300 Millionen nicht englische Bürger. W enn von englischer Demo­ kratie, „allgemeinem“ W ahl- oder Stimmrecht und „allgem einer“ Gleich­ heit die Rede ist, so werden diese H underte von M illionen in der englischen D em okratie ebenso selbstverständlich ignoriert wie die Sklaven in der athenischen Dem okratie. D er m oderne Im perialism us h at zahlreiche neue, der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung entsprechende H e rr­ schaftsformen herausgebildet, die sich in demselben Maße ausdehnen, wie sich innerhalb des M utterlandes die D em okratie entwickelt. Kolonien, Protektorate, M andate, Interventionsverträge und ähnliche Form en der Abhängigkeit ermöglichen es heute einer D em okratie, eine heterogene Bevölkerung zu beherrschen, ohne sie zu S taatsbürgern zu machen; sie von dem demokratischen Staate abhängig zu machen und doch gleichzeitig von diesem Staate fernzuhalten. Das ist der politische und staatstheoretische Sinn der schönen Form el: die Kolonien sind staatsrechtlich Ausland, völker­ rechtlich Inland. D er „weitläufige Sprachgebrauch“, d.h. der Sprachgebrauch der angelsächsischen W eltpresse, dem R. Thom a sich u n terw irft und den er sogar für eine staatstheoretische Definition als m aßgebend anerkennt, läßt das alles unbeachtet. F ü r ihn ist angeblich jed e r Staat, in welchem das allgemeine und gleiche W ahlrecht „zum Fundam ent des G anzen“ gemacht ist, eine D em okratie. B eruht etw a das englische W eltreich auf dem allgemeinen und gleichen W ahlrecht aller seiner Bew ohner? Auf diesem Fundam ent könnte es keine Woche bestehen; die Farbigen w ürden mit ungeheurer M ehrheit die W eißen überstim m en. Trotzdem ist das eng­ lische W eltreich eine D em okratie. Ähnlich v erh ält es sich m it Frankreich und anderen Mächten. Das allgemeine und gleiche W ahl- und Stimmrecht ist vernünftigerw eise n u r die Folge der substanziellen Gleichheit in nerhalb des K reise der Gleichen und geht nicht w eiter als diese Gleichheit. Ein solches gleiches Recht hat einen guten Sinn, wo Hom ogenität besteht. Diese A rt Allgem ein­ heit des W ahlrechts aber, die der „weitläufige Sprachgebrauch“ meint, bedeutet etwas anderes: Jeder erwachsene Mensch, bloß als Mensch, soll eo ipso jedem anderen Menschen politisch gleichberechtigt sein. Das ist ein liberaler, kein dem okratischer G edanke; er setzt eine M enschheitsdem okra­ tie an die Stelle der bisher bestehenden, auf der V orstellung substantieller Gleichheit und Hom ogenität beruhenden D em okratie. H eute herrscht auf der Erde keineswegs diese allgem eine M enschheitsdemokratie. Von allem

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andern abgesehen schon deshalb nicht, w eil die Erde in Staaten, und zw ar meistens sogar national homogene Staaten, geteilt ist, die innerhalb ih rer selbst auf der G rundlage nationaler Hom ogenität eine D em okratie zu verw irklichen suchen, im übrigen aber keineswegs jeden Menschen als gleichberechtigten B ürger behandeln1. Auch der demokratischste Staat, sagen w ir die V ereinigten Staaten von Am erika, ist w eit davon entfernt. Frem de an seiner Macht oder seinem Reichtum zu beteiligen. Bisher hat es noch keine D em okratie gegeben, die den Begriff des Frem den nicht gekannt und die Gleichheit aller Menschen verw irklicht hätte. W ollte m an aber mit einer M enschheitsdem okratie E rnst machen und w irklich jeden Menschen jedem andern Menschen politisch gleichstellen, so w äre das eine Gleichheit, an der jed e r Mensch k ra ft G eburt oder Lebensalters ohne w eiteres teilnähm e. Dadurch h ätte man die Gleichheit ihres W ertes und ih rer Substanz beraubt, weil m an ih r den spezifischen Sinn genommen hätte, den sie als politische Gleichheit, ökonomische Gleichheit usw., ku rz als Gleichheit eines bestim m ten G ebietes hat. Jedes G ebiet h at nämlich seine spezifischen G leichheiten und Ungleichheiten. So sehr es ein Unrecht wäre, die menschliche W ürde jedes einzelnen Menschen zu mißachten, so w äre es doch e in e ’unverantw ortliche, zu den schlimmsten Form losigkeiten und daher zu noch schlimmerem Unrecht führende Torheit, die spezifischen Be­ sonderheiten der verschiedenen G ebiete zu verkennen. Im Bereich des Poli­ tischen stehen sich die Menschen nicht ab stra k t als Menschen, sondern als politisch interessierte und politisch determ inierte Menschen gegenüber, als Staatsbürger, R egierende oder Regierte, politische V erbündete oder Gegner, also jedenfalls in politischen Kategorien. In der Sphäre des Poli­ tischen kann m an nicht vom Politischen ab strah ieren und n u r die allgem eine Menschengleichheit übriglassen; ebenso wie im Bereich des ökonom ischen nicht Menschen schlechthin, sondern Menschen als Produzenten, Konsu­ m enten usw., das heißt n u r in spezifisch ökonomischen K ategorien, be­ griffen w erden. Eine absolute Menschengleichheit w äre also eine Gleichheit, die sich ohne Risiko von selbst versteht, eine Gleichheit ohne das notw endige K orrelat der U ngleichheit und infolgedessen eine begrifflich und praktisch nichtssagende, gleichgültige Gleichheit. N un gibt es zw ar nirgends eine solche absolute Gleichheit, solange, w ie eben erw ähnt, die verschiedenen Staaten der E rde ihre S taatsbürger von an dern Menschen politisch u n ter­ scheiden und eine politisch abhängige, aber aus irgendwelchen G ründen unerw ünschte B evölkerung von sich fernzuhalten wissen, indem sie eine völkerrechtliche A bhängigkeit m it einer staatsrechtlichen F rem dheit v er­ binden. D agegen scheint w enigstens i n n e r h a l b der verschiedenen m odernen dem okratischen Staaten eine allgem eine Menschengleichheit 1 Insofern besteht ein „Pluralismus“, und der soziale Pluralismus, in den nach der Prognose von M. J. Bonn, Die Krisis der europäischen Demokratie, 1925, die heutige, angebliche Menschheitsdemokratie sich auflösen wird, ist in anderer, wirk­ samerer Form längst vorhanden und immer vorhanden gewesen.

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durchgeführt zu sein, zw ar keine absolute Gleichheit aller Menschen, weil selbstverständlich die Frem den, die N ichtstaatsangehörigen, ausgeschlossen bleiben, aber doch, innerhalb des Kreises der Staatsangehörigen, eine relativ weitgehende Menschengleichheit. Es ist aber zu beachten, daß in diesem Falle die nationale Hom ogenität meistens um so stärk er betont und die relativ allgemeine Menschengleichkeit innerhalb des Staates durch den entschiedenen Ausschluß aller nicht zum Staate gehörenden, außerhalb des Staates verbleibenden Menschen w ieder aufgehoben wird. Wo das nicht der Fall ist, wo ein Staat ohne Rücksicht auf die nationale oder andere A rten der Homogenität die allgem eine Menschengleichheit auf politischem Gebiete durchführen wollte, w ürde er der Konsequenz nicht entgehen können, daß er die politische Gleichheit in demselben Maße entw ertet, wie er sich der absoluten Menschengleichheit annähert. Und nicht n u r das. Es w ürde auch, ebenfalls in demselben Maße wie vorhin, das Gebiet selbst, also die Politik selbst, entw ertet und etw as Gleichgültiges werden. Man hätte nicht nu r die politische Gleichheit ih re r Substanz beraubt und für den einzelnen Gleichen w ertlos gemacht, auch die Politik w äre in dem Maße wesenlos geworden, als für ih r G ebiet mit solchen wesenlosen Gleich­ heiten Ernst gemacht ist. Die Gleichgültigkeit erfaßt auch die Angelegen­ heiten, die mit den Methoden einer substanzlosen Gleichheit behandelt werden. Die substantiellen Ungleichheiten w ürden keineswegs aus der W elt und aus dem Staat verschwinden, sondern sich auf ein anderes Gebiet, etwa vom Politischen ins W irtschaftliche, zurückziehen und diesem Gebiet eine neue, unverhältnism äßig starke, überlegene Bedeutung geben. Bei politischer Scheingleichheit muß ein anderes Gebiet, auf welchem die substantiellen Ungleichheiten sich dann durchsetzen, heute also z. B. das ökonomische, die Politik beherrschen. Das ist ganz unverm eidlich und für eine staatstheoretische Betrachtung der w ahre G rund der vielbeklagten Herrschaft des ökonom ischen über Staat und Politik. Wo eine gleichgültige, ohne das K orrelat einer Ungleichheit gedachte Gleichheit ein Gebiet menschlichen Lebens tatsächlich erfaßt, v erliert auch dieses G ebiet selbst seine Substanz und tritt in den Schatten eines anderen Gebietes, auf welchem dann die Ungleichheiten m it rücksichtsloser K raft zur G eltung kommen. Die Gleichheit aller Menschen als Menschen ist nicht D em okratie, sondern eine bestimmte A rt Liberalismus, nicht Staatsform , sondern individua­ listisch-hum anitäre Moral und W eltanschauung1. A uf der u nklaren Ver­ bindung beider beruht die m oderne M assendemokratie. Trotz alle r Be­ schäftigung mit Rousseau und trotz der richtigen E rkenntnis, daß Rousseau 1 Diese Unterscheidung hat ein sehr beachtenswerter Aufsatz von Werner Becker in der Zeitschrift „Sdiildgenossen“, September 1925, gut ausgeftihrt; die Arbeit be­ ruht auf einem in meinem politischen Seminar, Sommersemester 1925, gehaltenen ausgezeidineten Referat. Der Aufsatz von H. Hefele, „Hodiland“, November 1924, betont ebenfalls einen Gegensatz von Liberalismus und Demokratie. Dodi bleibe ich sowohl Bedcer wie Hefele gegenüber bei der Definition der Demokratie als einer Identität von Regierenden und Regierten.

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am Anfang der m odernen D em okratie steht, scheint m an noch nicht be­ m erkt zu haben, daß schon die Staatskonstruktion des C ontrat social diese beiden verschiedenen Elem ente inkohärent nebeneinander enthält. Die Fassade ist liberal: B egründung der Rechtm äßigkeit des Staates auf freien Vertrag. A ber im w eiteren V erlauf der D arstellung und bei der E nt­ wicklung des wesentlichen Begriffes, der volonté générale, zeigt sich, daß der w ahre S taat nach Rousseau n u r existiert, wo das Volk so homogen ist, daß im wesentlichen Einstim m igkeit herrscht. Es darf nach dem C ontrat social im Staate keine P arteien geben, keine Sonderinteressen, keine reli­ giösen Verschiedenheiten, nichts, was die Menschen trennt, nicht einm al ein Finanzwesen. D er von bedeutenden Nationalökonom en, wie A lfred W eber1 und C arl B rinkm ann12, bew underte Philosoph der m odernen D em okratie sagt in allem Ernst: Finanz ist etw as fü r Sklaven: ein mot d’esclave (Buch III, Kap. 15, Abs. 2), wobei zu beachten ist, daß für Rousseau das W ort „Sklave“ die ganze folgenreiche Bedeutung hat, die ihm in der demo­ kratischen Staatskonstruktion zukomm t; es zeichnet den nicht zum Volk Gehörigen, den Nicht-Gleichen, den Nicht-Citoyen, dem es nichts nützt, daß er in abstracto „Mensch“ ist, den Heterogenen, der an der allgem einen Hom ogenität nicht teilnim m t und deshalb m it Recht ausgeschlossen w ird. Die Einm ütigkeit muß nach Rousseau so w eit gehen, daß die Gesetze s a n s d i s c u s s i o n zustande kommen. Sogar Richter und P artei müssen dasselbe wollen (Buch II, Kap. 4, Abs. 7), wobei nicht einm al gefragt w ird, welche von den beiden P arteien, ob K läger oder Beklagte dasselbe wollen; kurz, in der bis zur Iden tität gesteigerten Hom ogenität versteht sich alles von selbst. W enn ab er E inm ütigkeit und Übereinstim m ung aller W illen mit allen wirklich so groß sind, wozu braucht dann noch ein V ertrag geschlossen oder auch n u r k o n stru iert zu w erden? D er V ertrag setzt doch Verschieden­ heit und G egensätzlichkeit voraus. D ie Einm ütigkeit ist, ebenso wie die volonté générale, entw eder vorhanden oder nicht vorhanden, und zw ar, wie A lfred W eber treffend gesehen hat, n a t u r h a f t vorhanden. Wo sie besteht, ist w egen ih re r N atu rhaftigkeit der V ertrag sinnlos; wo sie nicht besteht, nützt kein V ertrag. D er G edanke des freien V ertrages aller mit allen kom mt aus einer ganz andern, gegensätzliche Interessen, Verschieden­ heiten und Egoismen voraussetzenden G edankenw elt, aus dem L iberalis­ mus. D ie volonté générale dagegen, w ie Rousseau sie k onstruiert, beru h t auf der Hom ogenität. N ur das ist konsequente D em okratie. Nach dem C ontrat social b e ru h t also der Staat trotz des Titels und trotz der einleiten­ den V ertragskonstruktion nicht auf K ontrakt, sondern wesentlich auf Homogenität. Aus ih r ergibt sich die dem okratische Identität von R egieren­ den und R egierten. Auch die Staatstheorie des C o n trat social enthält einen Beweis dafür, daß man die D em okratie richtigerw eise als Identität von R egierenden und R egierten definiert. Diese in m einer Schrift „Politische Theologie“ (1922) 1 Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Stuttgart 1925. 2 Archiv für Sozialwissenschaften, August 1925, Bd. 54, S. 533.

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und in der A bhandlung über den P arlam entarism us vorgeschlagene Defi­ nition ist, soweit sie bem erkt w urde, teils abgelehnt, teils abgeschrieben w orden. Ich möchte daher noch erw ähnen, daß sie zw ar in ih re r Anw endung auf die heutigen Staatstheorien und in ih re r E rw eiterung zu einer Reihe von Identitäten neu ist, im übrigen aber einer alten, m an k an n sagen klassischen und aus diesem G runde wohl nicht m ehr bekannten Ü ber­ lieferung entspricht. W egen ihres Hinweises auf interessante, heute be­ sonders aktuelle staatsrechtliche K onsequenzen mag hier die Form ulierung von Pufendorff (De Ju re N atu rae et Gentium , 1672, Buch VII, K apitel VI, § 8) zitiert w erden: in der D em okratie, wo derjenige, der befiehlt, und derjenige, der gehorcht, derselbe ist, k an n der Souverän, d. h. die aus allen B ürgern bestehende Versam m lung, beliebig Gesetze und Verfassung ändern; in einer Monarchie oder A risto k ratie — ubi alii sunt qui im perant, alii quibus im peratur — ist nach Pufendorffs M einung ein gegenseitiger V ertrag und daher eine Beschränkung der Staatsgew alt möglich. *

Eine populäre V orstellung sieht heute den P arlam entarism us in der M itte zwischen Bolschewismus und Faschismus von zwei Seiten bedroht. D as ist eine einfache, aber äußerliche G ruppierung. D ie Schwierigkeiten des parlam entarischen B etriebes und der parlam entarischen Einrichtungen erwachsen in W ahrheit aus den Z uständen der m odernen Massendemo­ kratie. Diese fü h rt zunächst zu einer K risis der D em okratie selbst, weil m it der allgem einen Menschengleichheit das Problem der zu einer Demo­ k ra tie notw endigen substanziellen Gleichheit und H om ogenität nicht gelöst w erden kann. Sie fü h rt fern er zu einer von der K risis der D em okratie wohl zu unterscheidenden K risis des Parlam entarism us. Beide K risen sind heute gleichzeitig aufgetreten und verschärfen sich gegenseitig, sind aber begrifflich und tatsächlich verschieden. Als D em okratie sucht die m oderne M assendem okratie eine Id en tität von R egierenden und R egierten zu ver­ w irklichen und begegnet auf diesem W ege dem P arlam ent als einer nicht m ehr begreiflichen, veralteten Institution. W enn m it der dem okratischen Iden tität E rnst gemacht w ird, kan n nämlich im E rnstfall keine andere verfassungsm äßige Einrichtung vor der alleinigen M aßgeblichkeit des irgendw ie geäußerten, unw idersprechlichen W illens des Volkes stand­ halten. Ihm gegenüber hat insbesondere eine auf der D iskussion von un­ abhängigen A bgeordneten beruhende Institution keine selbständige E xi­ stenzberechtigung, um so w eniger, als der G laube an die D iskussion nicht demokratischen, sondern liberalen U rsprungs ist. M an k ann heute drei K risen unterscheiden: die K risis der D em okratie — von ih r spricht M. J. Bonn, ohne den Gegensatz von lib eraler M enschengleichheit und demo­ kratischer Hom ogenität zu beachten —; fern e r eine K risis des m odernen Staates (Alfred W eber) und endlich eine K risis des Parlam entarism us. Die hier in F rage stehende K risis des P arlam entarism us b e ru h t darauf, daß D em okratie und Liberalism us w ohl eine Zeitlang m iteinander ver-

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bunden sein können, wie auch Sozialismus und D em okratie sich verbunden haben, daß aber diese L iberaldem okratie, sobald sie zur Macht gelangt, sich ebenso zwischen ih ren Elem enten entscheiden muß wie die Sozial­ dem okratie, die übrigens, weil die m oderne M assendemokratie wesentlich liberale Elem ente enthält, in W ahrheit eine Sozial-Liberal-D em okratie ist. In der D em okratie gibt es n u r die Gleichheit der Gleichen und den W illen derer, die zu den Gleichen gehören. Alle anderen Institutionen verw andeln sich in wesenlose sozial-technische Behelfe, die nicht imstande sind, dem irgendw ie geäußerten W illen des Volkes einen eigenen W ert und ein eigenes Prinzip entgegenzusetzen. Die Krisis des m odernen Staates beruht darauf, daß eine Massen- und M enschheitsdemokratie keine Staatsform, auch keinen dem okratischen Staat zu realisieren vermag. Bolschewismus und Faschismus dagegen sind wie jede D ik tatu r zw ar antiliberal, aber nicht notw endig antidem okratisch. In der Geschichte der D em okratie gibt es manche D iktaturen, Cäsarism en und andere Beispiele auffälliger, fü r die liberalen Traditionen des letzten Jahrhunderts un­ gewöhnlicher Methoden, den W illen des Volkes zu bilden und eine Hom ogenität zu schaffen. Es gehört zu den undemokratischen, im 19. Ja h r­ hundert aus der Verm engung m it liberalen G rundsätzen entstandenen Vorstellungen, das Volk könne seinen W illen nur in der Weise äußern, daß jed er einzelne Bürger, in tiefstem Geheimnis und völliger Isoliertheit, also ohne aus der Sphäre des P rivaten und Unverantwortlichen herauszu­ treten, unter „Schutzvorrichtungen“ und „unbeobachtet“ — wie die deutsche Reichsstimmordnung vorschreibt — seine Stimme abgibt, dann jede ein­ zelne Stimme reg istriert und eine arithm etische M ehrheit berechnet wird. Ganz elem entare W ahrheiten sind dadurch in Vergessenheit geraten und der heutigen S taatslehre anscheinend unbekannt. Volk ist ein Begriff des öffentlichen Rechts. Volk existiert n u r in der Sphäre der Publizität. Die einstimmige M einung von hundert M illionen P rivatleuten ist w eder W ille des Volkes, noch öffentliche Meinung. D er W ille des Volkes kann durch Zuruf, durch acclamatio, durch selbstverständliches, unwidersprochenes Dasein ebensogut und noch besser demokratisch geäußert w erden als durch den statistischen A pparat, den man seit einem halben Jahrhundert mit einer so m inutiösen Sorgfalt ausgebildet hat. Je stärker die K raft des demo­ kratischen Gefühls, um so sicherer die Erkenntnis, daß D em okratie etwas anderes ist als ein R egistriersystem geheim er Abstimmungen. Vor einer nicht n u r im technischen, sondern auch im vitalen Sinne unm ittelbaren D em okratie erscheint das aus liberalen G edankengängen entstandene Parlam ent als eine künstliche Maschinerie, w ährend diktatorische und cäsaristische M ethoden nicht n u r von der acclamatio des Volkes getragen, sondern auch unm ittelbare Ä ußerungen demokratischer Substanz und K raft sein können. Auch wenn der Bolschewismus unterdrückt und der Faschismus fern­ gehalten w ird, ist deshalb die Krisis des heutigen Parlam entarism us nicht im geringsten überw unden. D enn sie ist nicht als Folge des A uftretens 5 5

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dieser beiden Gegner entstanden; sie w ar vor ihnen da und w ürde nach ihnen fortdauern. Sie entspringt den Konsequenzen der m odernen Massen­ dem okratie und im letzten G runde dem Gegensatz eines von moralischem Pathos getragenen liberalen Individualism us und eines von wesentlich politischen Idealen beherrschten dem okratischen Staatsgefühls. Ein Ja h r­ hundert geschichtlicher V erbindungen und gemeinsam en Kampfes gegen den fürstlichen Absolutismus hat die E rkenntnis dieses Gegensatzes auf­ gehalten. H eute aber tritt seine E ntfaltung täglich stä rk e r hervor und läßt sich durch keinen weitläufigen Sprachgebrauch m ehr verhindern. Es ist der in seiner Tiefe unüberw indliche Gegensatz von liberalem EinzelmenschBewußtsein und dem okratischer Hom ogenität.

8. Der Begriff des Politischen (1927) Als man erkannte, welche große Bedeutung den wirtschaftlichen V er­ einigungen innerhalb des Staates zukommt, und insbesondere das A n­ wachsen der G ew erkschaften bem erkte, gegen deren wirtschaftliches Macht­ mittel, den Streik, die Gesetze des Staates ziemlich machtlos w aren, hat man etwas voreilig den Tod und das Ende des Staates proklam iert. Das geschah, soviel ich sehe, als eigentliche D oktrin erst seit 1906 und 1907 bei französischen Syndikalisten1. Von Staatstheoretikern, die in diesen Zusammenhang gehören, ist D uguit der bekannteste; er hat seit 1901 den Souveränitätsbegriff und die Vorstellung von der personalen Einheit des Staates zu w iderlegen versucht, mit manchen treffenden A rgum enten gegen eine unkritische Staatsm etaphysik, aber im wesentlichen doch den eben dargelegten, eigentlichen Sinn des Souveränitätsgedankens verfehlend. Dasselbe gilt von der w eitaus interessantesten Staatslehre, die im letzten Jahrzehnt aufgestellt w orden ist, der sogenannten pluralistischen Staats­ theorie von H arold J. L aski12. Ih r Pluralism us besteht darin, die souveräne Einheit des Staates, d. h. die politische Einheit zu leugnen und immer wieder hervorzuheben, daß der einzelne Mensch in vielen verschiedenen sozialen Verbindungen lebt: er ist M itglied einer Religionsgesellschaft, einer Gewerkschaft, eines Sportklubs und vieler anderer „Assoziationen“, die ihn von F all zu F all verschieden stark bestimmen, ohne daß man von einer dieser Assoziationen sagen könnte, sie sei absolut m aßgebend und souverän. V ielm ehr können sich die verschiedenen V erbindungen, jede auf einem verschiedenen Gebiet, als die stärksten erweisen. Es w äre z. B. denkbar, daß die M itglieder einer Gewerkschaft, wenn dieser Verband die Parole ausgibt, keine Kirche m ehr zu besuchen, trotzdem zur Kirche 1 „Cette chose énorme. . . la mort de cet être fantastique, prodigieux, qui a tenu dans Phistoire une place si colossale: l’Etat est mort.“ E. Berth, dessen Ideen von Georges Sorel stammen, in Le Mouvement socialiste, Oktober 1907, p. 314. Léon Duguit zitiert diese Stelle in seinen Vorträgen Le droit social, le droit individuel et la transformation de l’Etat, 1. Aufl. 1908; er begnügt sich damit, zu sagen, daß der souveräne und als Person gedachte Staat tot oder am Sterben sei (S. 150: L’Etat personnel et souverain est mort ou sur le point de mourir). In Duguits Werk L’Etat, Paris 1901, linden sich soldie Sätze noch nicht, obwohl die Kritik des Souveränitäts­ begriffes schon die gleiche ist. Interessante weitere Beispiele dieser syndikalistischen Diagnose des heutigen Staates bei Esmein, Droit constitutionnel (7. Auflage von Nézard) 1921,1 , S. 55 ff. Die syndikalistische Lehre ist auch hinsichtlich ihrer Diagnose des Staates von der marxistischen Konstruktion zu unterscheiden. Für die Marxisten ist der Staat nicht tot oder am Sterben, er ist vielmehr als Mittel zur Herbeiführung der klassen- und erst damit staatlosen Gesellschaft notwendig und vorläufig noch wirklich. 2 Studies in the Problem of Sovereignty 1917; Authority in the Modern State 1919, Foundation of Sovereignty 1921, A Grammar of Politics 1925. 5*

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gehen, aber gleichzeitig eine von der Kirche erlassene A ufforderung, aus der Gewerkschaft auszutreten, ebenfalls nicht befolgen. D er geschichtliche Vorgang, den Laski mit besonderer Vorliebe z itie rt und der auf ihn offen­ b ar einen großen Eindruck gemacht hat, ist Bismarcks „K ulturkam pf gegen die römische Kirche. E r soll beweisen, daß selbst ein S taat von der ungebrochenen K raft des Bismarckschen Reiches nicht souverän und a ll­ mächtig w ar. Ebensowenig ist der Staat auf wirtschaftlichem G ebiet all­ mächtig. Das alles trifft zweifellos zu, und die W endungen von der „A ll­ macht“ des Staates sind eben n u r oberflächliche R edensarten der Juristen. A ber dam it ist die F rage noch nicht beantw ortet, welche „soziale E inheit“ (wenn ich einm al hier den ungenauen, liberalen Begriff des „Sozialen“ über­ nehm en darf) den Konfliktsfall entscheidet und die m aßgebende G ru p ­ pierung nach F reund und Feind bestim m t. W eder eine Kirche, noch eine G ew erkschaft h ätte einen Krieg, den das Deutsche Reich u n ter Bismarck beschloß, verboten oder verhindert. N atürlich konnte Bismarck dem Papst nicht den K rieg erklären, aber n u r w eil der P apst selber k ein ju s belli m ehr hatte. Es w äre jedenfalls keine Instanz denkbar gewesen, die einer den Ernstfall betreffenden Entscheidung der dam aligen deutschen Regie­ rung hätte entgegentreten können, ohne dam it selber zum politischen Feinde zu w erden und von allen Konsequenzen dieses Begriffes getroffen zu werden. Das genügt, um einen vernünftigen Begriff von S ouveränität und Einheit zu begründen. D ie politische E inheit ist eben ihrem W esen nach die m aßgebende Einheit, gleichgültig aus welchen M otiven sie ihre letzten psychischen K räfte zieht. Sie ex istiert oder sie ex istiert nicht. W enn sie existiert, ist sie die höchste, d. h. im entscheidenden F all bestim m ende Einheit. Daß der Staat eine E inheit ist, und zw ar die m aßgebende E inheit, b eru h t auf seinem politischen C h a ra k te r. Eine pluralistische Theorie, welche diese E inheit b estreitet und eine politische Assoziation neben andere, z. B. religiöse oder ökonomische Assoziationen stellt, verm ag auf die Frage nach dem spezifischen. In h alt des Politischen keine A ntw ort zu geben. In keinem der vielen Bücher von Laski w ird m an eine bestim m te Definition des Politischen finden, obwohl im m er von Staat, P olitik, Souve­ rän ität und „G overnm ent“ die Rede ist. D er Staat verw andelt sich in eine Assoziation, die mit andern Assoziationen k o n k u rrie rt. E r w ird eine Gesellschaft neben und zwischen manchen andern Gesellschaften, die in n er­ halb oder außerhalb des Staates bestehen. D as ist eben d er „P luralism us“ dieser Staatstheorie. D ie frü h ere Ü berlegenheit des Staates, seine „H oheit“ gegenüber der Gesellschaft und sein „Monopol“ der höchsten Einheit, sind dam it selbstverständlich entfallen. Es bleibt aber, genauer betrachtet, bei Laski ganz unklar, was nunm ehr der „Staat“ ü b e rh a u p t noch sein soll. Bald erscheint er in alter, lib eraler W eise als bloßer D iener der w esent­ lich ökonomisch bestim m ten Gesellschaft, bald aber pluralistisch als eine besondere A rt Gesellschaft, d. h. eine Assoziation neben anderen Asso­ ziationen. Es m üßte nun doch vor allem k larg e ste llt w erden, aus welchem

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Grunde die Menschen dazu kommen, neben den religiösen, ökonomischen und anderen Assoziationen auch noch politische Assoziationen zu bilden, und w orin der spezifisch politische Zweck dieser Assoziationen besteht. Hier liegt eine fundam entale U nklarheit; eine k lare und einfache Linie des G edankenganges ist nicht zu erkennen. Diese pluralistische Staats­ theorie ist eben vor allem selber pluralistisch, d. h. sie hat kein einheitliches Zentrum, sondern zieht ihre gedanklichen Motive aus sehr verschiedenen Ideenkreisen (Religion, W irtschaft, Liberalism us, Sozialismus usw.) und ignoriert den zentralen Begriff jed e r Staatslehre, das Politische. In W ahr­ heit gibt es keine politische „Gesellschaft“ oder „Assoziation“, es gibt nur eine politische Einheit, eine politische Gemeinschaft. Die reale Mög­ lichkeit der G ruppierung von F reund und Feind genügt, um über das bloß Gesellschaftlich-Assoziative hinaus eine m aßgebende E inheit zu schaffen, die etw as spezifisch A nderes und gegenüber den übrigen Asso­ ziationen etw as Entscheidendes ist1. E ntfällt diese Einheit, so entfällt auch das Politische selbst. N ur solange das Wesen des Politischen nicht er­ kannt oder nicht beachtet w ird, ist es möglich, eine politische „Assoziation“ pluralistisch neben eine religiöse, ökonomische oder andere Assoziation zu stellen und sie mit ihnen in K onkurrenz treten zu lassen. Aus dem Begriff des Politischen ergeben sich allerdings, w ie unten gezeigt w erden soll, pluralistische Konsequenzen, aber nicht in dem Sinne, daß i n n e r ­ h a l b der politischen E inheit an die Stelle der m aßgebenden Freund- und F eindgruppierung ein Pluralism us tre ten könnte, ohne m it der Einheit auch das Politische selbst zu zerstören. Zum Staat als einer wesentlich politischen E inheit gehört das jus belli, d. h. die reale Möglichkeit, im gegebenen Fall k ra ft eigener Entscheidung den Feind zu bestim m en und ihn zu bekäm pfen. Mit welchen technischen M itteln der K am pf geführt w ird, welche H eeresorganisation besteht, wie groß die Aussichten sind, den K rieg zu gewinnen, ist hier gleichgültig, solange das die politische E inheit bildende Volk bereit ist, für seine Exi­ stenz und seine U nabhängigkeit zu käm pfen, wobei es k ra ft eigener Ent­ scheidung bestim m t, w orin seine U nabhängigkeit und F reiheit besteht. Die Entwicklung der m ilitärischen Technik scheint dahin zu führen, daß viel­ leicht n u r noch wenige V ölker übrig bleiben, denen ihre industrielle Macht es erlaubt, einen aussichtsreichen K rieg zu führen, w ährend kleinere Völker freiw illig oder notgedrungen auf das ju s belli verzichten, wenn es ihnen nicht gelingt, durch eine richtige Bündnispolitik ihre Selbständigkeit zu w ahren. Mit dieser Entw icklung ist nicht bewiesen, daß Krieg, Staat und Politik überh au p t auf gehört haben. Jede Ä nderung und Um wälzung der menschlichen Geschichte und Entw icklung hat neue Form en und neue Dimensionen der politischen G ruppierung hervorgebracht und frü h er be­ stehende politische G ebilde vernichtet. 1 „Wir können sagen, daß sich am Tage der Mobilisierung die Gesellschaft, die bis dahin bestand, in eine Gemeinschaft umformte“, Lederer, Archiv f. Soz.-Wiss. 39 (1915), S. 349.

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D er Staat als die m aßgebende politische E inheit h a t eine ungeheure Befugnis bei sich konzentriert: die Möglichkeit, K rieg zu führen und damit offen über das Leben von Menschen zu verfügen. D enn das ju s belli enthält eine solche Verfügung; es bedeutet die doppelte Möglichkeit: von A n­ gehörigen des eigenen Volkes Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft zu verlangen, und auf der Feindesseite stehende Menschen zu töten. Die Befugnis, in der Form eines S trafurteils über Leben und Tod eines Menschen zu verfügen, das ju s vitae ac necis, kan n auch einer anderen, innerhalb der politischen E inheit bestehenden Verbindung, etw a der Fam ilie oder dem Fam ilienhaupt zustehen, nicht aber das ju s belli, solange die politische Einheit als solche vorhanden ist. Auch ein Recht der B lut­ rache zwischen den Fam ilien oder Sippen m üßte w ährend eines Krieges suspendiert werden, wenn überhaupt eine politische E inheit bestehen soll. Ein menschlicher Verband, der auf diese K onsequenzen des ju s belli v er­ zichten wollte, w äre kein politischer Verband, denn e r w ürde auf die Möglichkeit verzichten, m aßgebend darü b er zu entscheiden, w en er als Feind betrachtet und behandelt. Durch diese Macht über das physische Leben der Menschen erhebt sich die politische Gem einschaft üb er jede andere A rt von Gemeinschaft oder Gesellschaft. Innerhalb dieser Gem ein­ schaft können dann w ieder politische U ntergebilde bestehen m it eigenen oder übertragenen Befugnissen, aber, solange die E inheit besteht, nicht mit einem selbständigen jus belli. Eine religiöse Gemeinschaft, eine Kirche, k an n von ih ren Angehörigen vielleicht verlangen, daß sie für ihren G lauben sterben und den M ä rty re r­ tod erleiden, aber nur des eigenen Seelenheils wegen, nicht fü r die religiöse Gemeinschaft als solche. In einer ökonomisch bestim m ten Gesellschaft, deren O rdnung, d. h. berechenbares F unktionieren im Bereich w irtschaft­ licher Kategorien vor sich geht, kann u n ter keinem denkbaren Gesichts­ punkt verlangt werden, daß irgendein M itglied der Gesellschaft im Interesse des ungestörten F unktionierens sein Leben opfere. Mit öko­ nomischen Zweckmäßigkeiten eine solche F orderung zu begründen, w äre ein W iderspruch gegen die individualistischen Prinzipien der Gesellschaft und aus ökonomischen Normen oder Idealen niem als zu rechtfertigen. D er einzelne Mensch mag freiw illig sterben w ofür er w ill. D ie ökonomisch funktionierende Gesellschaft w ird auch M ittel finden, einen S törer a u ß er­ halb ihres Kreislaufs zu stellen und ihn auf eine nicht gew altsam e, „fried­ liche A rt unschädlich zu machen, d. h. k o n k ret gesprochen, ihn nötigen­ falls verhungern zu lassen. A ber es gibt kein Program m , keine N orm und keine Zweckhaftigkeit, aus deren Inhalt, mag er noch so richtig, vernünftig oder erhaben sein, ein Verfügungsrecht über das physische Leben and erer Menschen entstehen könnte. Von den Menschen im E rnst zu fordern, daß sie Menschen töten und bereit sind, zu sterben, dam it H andel und Industrie der Überlebenden blühe oder die K onsum kraft der E nkel gedeihe, ist grauenhaft und verrückt. Den Krieg als Menschenmord verfluchen und dann von den Menschen zu verlangen, daß sie K rieg führen und im K riege

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töten und sich töten lassen, dam it es „nie w ieder K rieg“ gebe, ist ein m anifester Betrug. D er Krieg, die Todesbereitschaft käm pfender Menschen, die physische Tötung von anderen Menschen, die auf der Seite des Feindes stehen, alles das hat keinen norm ativen, sondern nu r einen existenziellen Sinn, und zw ar in der R ealität der Situationen des wirklichen Kampfes gegen einen wirklichen Feind, nicht in irgendwelchen idealen Program men oder N orm ativitäten. Es gibt keinen rationalen Zweck, keine noch so richtige Norm, kein noch so ideales Program m , keine Legitim ität oder Legalität, die es rechtfertigen könnte, daß Menschen sich gegenseitig dafür töten. Wenn eine solche physische Vernichtung menschlichen Lebens nicht aus der seinsmäßigen Behauptung der eigenen Existenzform gegenüber einer ebenso seinsmäßigen V erneinung dieser Form geschieht, so läßt sie sich eben nicht rechtfertigen. Auch mit ethischen und juristischen Normen kann man keinen K rieg begründen. G ibt es wirklich Feinde in der seinsmäßigen Bedeutung, wie es hier gemeint ist, so ist es sinnvoll, und zwar politisch sinnvoll, sie nötigenfalls physisch abzuw ehren und m it ihnen zu kämpfen. Das ist keine Legitim ierung oder Rechtfertigung, sondern hat einen rein existenziellen Sinn. Daß die G erechtigkeit nicht zum Begriff des Krieges gehört, ist seit Grotius im allgem einen an erk an n t1. Die K onstruktionen, die einen ge­ rechten Krieg fordern, dienen gewöhnlich selbst w ieder einem politischen Zweck. Von einem politisch geeinten Volk verlangen, daß es nur aus einem gerechten G runde Krieg führe, ist nämlich entw eder etwas ganz Selbst­ verständliches, wenn es heißt, daß nur gegen einen wirklichen Feind Krieg geführt w erden soll; oder aber es versteckt sich dahinter das politische Bestreben, die Verfügung über das ju s belli in andere H ände zu spielen und Gerechtigkeitsnorm en zu finden, über deren Inhalt und Anwendung im Einzelfall nicht das Volk selbst entscheidet, sondern irgendeine andere Instanz, welche auf diese Weise bestimmt, w er der Feind ist. Solange ein Volk in der Sphäre des Politischen existiert, muß es, w enn auch nu r für den extrem sten F all — über dessen Vorliegen es aber selber entscheidet — die Unterscheidung von F reund und Feind selber bestimmen. D arin liegt das W esen seiner politischen Existenz. H at es nicht m ehr die Fähigkeit oder den W illen zu dieser Unterscheidung, so hört es auf, politisch zu existieren. Läßt es sich von einem Frem den vorschreiben, w er sein Feind ist und gegen w en es käm pfen darf oder nicht, so ist es kein politisch freies Volk mehr. Ein Krieg hat seinen Sinn nicht darin, daß er für hohe Ideale oder für Rechtsnormen, sondern darin, daß er gegen den eigenen Feind geführt w ird. Alle T rübungen dieser K ategorie von Freund und Feind erklären sich aus der Verm engung mit irgendwelchen A bstraktionen oder Normen. Ein politisch existierendes Volk kann also nicht d arau f verzichten, gegebenenfalls F reu n d und Feind durch eigene Bestimmung auf eigene 1 De iure belli ac pacis, i. I, c. I, N. 2: „Justitiam in definitione (sc. belli) non in clu d o /

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G efahr zu unterscheiden* E ntfällt diese Unterscheidung, so entfällt das politische Leben überhaupt. Es steht einem Volk keineswegs frei, durch irgendwelche Proklam ationen und Verzichte dieser schicksalvollen U nter­ scheidung zu entgehen. E rk lä rt ein Teil des Volkes, keinen Feind m ehr zu kennen, so stellt er sich nach Lage der Sache auf die Seite der Feinde und hilft ihnen, aber die Unterscheidung von F reund und Feind ist damit nicht beseitigt. Behaupten die B ürger eines Staates von sich, daß sie persön­ lich keine Feinde haben, so hat das m it dieser F rage nichts zu tun, denn ein Privatm ann hat keine politischen Feinde; er k ann m it solchen E r­ klärungen höchstens sagen wollen, daß er sich aus der politischen Gem ein­ schaft, zu welcher er seiner Existenz nach gehört, heraussteilen und nur noch als Privatm ann leben will. Es w äre ferner ein Irrtum , zu glauben, ein einzelnes Volk könnte durch eine Freundschaftserklärung an alle W elt oder dadurch, daß es sich freiw illig entwaffnet, die Unterscheidung von Freund und Feind beseitigen. A uf diese W eise w ird die W elt nicht entpolitisiert und nicht in einen Zustand reiner M oralität oder W irtschaft­ lichkeit versetzt. W enn ein Volk die M ühen und das Risiko fürchtet, so w ird sich schon ein anderes Volk finden, das ihm diese M ühen abnimmt, indem es seinen „Schutz gegen äußere Feinde“ und dam it die politische Herrschaft übernim mt. D er Schutzherr bestim m t dann den Feind, k ra ft des ewigen Zusammenhangs von Schutz und G ehorsam 1. Es w äre tölpelhaft, zu glauben, ein wehrloses Volk habe nu r noch Freunde, und eine krapulose Berechnung, der Feind könnte vielleicht durch W iderstandslosigkeit ge­ rü h rt werden. So wenig ein Mensch durch den Verzicht auf eine ästhetische oder wirtschaftliche Produktivität die W elt in den Zustand reiner M oralität überführt, so wenig kann ein Volk durch den Verzicht auf die politische Entscheidung einen rein moralischen oder ökonomischen Zustand der Menschheit herbeiführen. Dadurch, daß ein Volk nicht m ehr die K raft oder den Wollen hat, sich in der Sphäre des Politischen zu halten, verschwindet das Politische nicht aus der W elt. Es verschwindet n u r ein schwaches Volk. Aus dem Begriffsmerkmal des Politischen folgt der Pluralism us der Staaten. Die politische Einheit setzt die reale Möglichkeit des Feindes und dam it eine andere, koexistierende, politische E inheit voraus. Es gibt des­ halb auf der Erde, solange es überhaupt einen Staat gibt, im m er m ehrere Staaten und kann keinen die ganze Erde und ganze Menschheit um fassen­ den WTelt„staat“ geben. D ie politische W elt ist ein Pluriversum , kein Uni­ versum. Insofern ist jede Staatstheorie pluralistisch, w enn auch in einem anderen Sinne als dem der oben besprochenen pluralistischen T heorie von Laski. Die politische Einheit kann ihrem W esen nach nicht universal sein. Sind die verschiedenen V ölker und M enschengruppen der E rde alle so geeint, daß ein Kampf zwischen ihnen real unmöglich w ird, hört also die Unterscheidung von F reund und Feind auch der bloßen E ventualität nach 1 Diese „mutual relation between Protection and Obedience“ wollte Hobbes durch den „Leviathan“ zum Bewußtsein bringen; vgl. die Schlußworte der englischen Aus­ gabe von 1651, S. 396.

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auf, so gibt es n u r noch W irtschaft, Moral, Recht, Kunst usw., aber keine Politik und keinen Staat m ehr. O b und wann dieser Zustand der Erde und der Menschheit eintreten w ird, weiß ich nicht. Vorläufig ist er nicht da. Es w äre eine unehrliche Fiktion, ihn als vorhanden anzunehmen, und eine handgreifliche Verwechslung, zu meinen, weil heute jeder Krieg zwischen Großm ächten leicht zu einem „W eltkrieg“ w ird, müßte die Be­ endigung dieses Krieges den „W eltfrieden“ und damit jenen idyllischen Endzustand der Staatenlosigkeit bedeuten. Die Menschheit als solche kann keinen Krieg führen, denn sie hat keinen Feind, wenigstens nicht auf diesem Planeten. D er Begriff der Menschheit schließt den Begriff des Feindes aus, weil auch der Feind nicht aufhört, Mensch zu sein, und dam it die spezifische Unterscheidung entfällt. Daß K riege im Namen der Menschheit geführt w erden, ist keine W ider­ legung dieser einfachen W ahrheit, sondern hat nur einen besonders inten­ siven politischen Sinn. W enn ein Staat im Namen der Menschheit seinen politischen Feind bekäm pft, so ist das kein Krieg der Menschheit, sondern ein Krieg, den ein bestim m ter Staat gegen einen andern führt. D er Name der Menschheit könnte, weil m an nun einmal solche „Namen“ nicht ohne gewisse Konsequenzen führen kann, nu r die schreckliche Bedeutung haben, daß dem Feind die Q u a litä t des Menschen abgesprochen und dadurch der Krieg besonders unmenschlich w ird. A ber abgesehen von diesem hoch­ politischen M ißbrauch des unpolitischen Namens „Menschheit“ gibt es keine Kriege der Menschheit als solcher. Menschheit ist kein politischer Begriff, ihm entspricht auch keine politische E inheit oder Gemeinschaft und kein Status. Die Menschheit der naturrechtlichen und liberal-individualistischen D oktrinen ist eine universale, d. h. alle Menschen der Erde umfassende Gesellschaft, ein System von Beziehungen zwischen einzelnen Menschen, das erst dann vorhanden ist, w enn die reale Möglichkeit des Kampfes aus­ geschlossen und jede Freund- und Feindgruppierung unmöglich geworden ist. In dieser universalen Gesellschaft wrird es dann keine Völker als poli­ tische E inheiten und deshalb auch keinen Staat m ehr geben. Die Idee eines V ölkerbundes entspricht bisher n u r einer sehr unklaren Tendenz, den unpolitischen Zustand der Universal-Gesellschaft „Mensch­ heit“ zu verw irklichen. D eshalb w ird fast immer ziemlich kritiklos für diesen V ölkerbund beansprucht, daß er universal sein müsse, d. h. alle Staaten der ganzen E rde umfasse. U niversalität m üßte aber völlige Ent­ politisierung und dam it Staatenlosigkeit bedeuten. Um so widerspruchs­ voller erscheint die 1919 gegründete G enfer Einrichtung, die man als „V ölkerbund“ oder, nach ihrem offiziellen Namen, besser als „Völkergesell­ schaft“ (Société des nations) bezeichnet. D ieser Völkerbund ist ein zwischen­ staatliches Gebilde, er setzt Staaten als solche voraus, regelt einige ihrer gegenseitigen Beziehungen und garan tiert sogar ihre politische Existenz. E r ist nicht n u r keine universale, sondern nicht einmal eine internationale Organisation, wenn man das W ort „international“, wie es richtig und ehrlich ist, von „zwischenstaatlich“ unterscheidet und nur fü r die wirklich internatio-

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nalen Bewegungen, d. h. fü r solche Vorbehalt, die, über die G renzen der Staaten hinweg- und durch ihre M auern hindurchgehend, die bisherige Im perm eabilität des Staates ignorieren, wie z. B. die d ritte Internationale. H ier zeigen sich gleich die elem entaren Gegensätze von international und zwischenstaatlich, von entpolitisierter U niversal-G esellschaft und zwischen­ staatlicher G arantie des status quo der staatlichen G renzen, und es ist im G runde kaum begreiflich, w ie eine wissenschaftliche Behandlung des „V ölkerbundes“ daran Vorbeigehen und die V erw irrung sogar noch u n ter­ stützen kann. D er Genfer V ölkerbund hebt die Möglichkeit von K riegen nicht auf, so wenig wie er die Staaten aufhebt. E r fü h rt neue Möglichkeiten von K riegen ein, erlaubt Kriege, fördert K oalitionskriege und beseitigt eine Reihe von Hemmungen des Krieges dadurch, daß er gewisse Kriege legitim iert. Wie er bis heute besteht, ist er ein System von D iplom aten­ konferenzen, kom biniert m it einem V erw altungsbüro, dem G eneral­ sekretariat. E r ist, wie ich an an d erer Stelle1 gezeigt habe, kein Bund, wohl aber möglicherweise ein Bündnis. N ur insofern zeigt sich in ihm der echte Begriff der Menschheit noch w irksam , als seine eigentliche T ätigkeit auf hum anitärem , nicht - politischem G ebiete liegt und er wenigstens eine „Tendenz“ zur U niversalität hat; angesichts seiner w irklichen Verfassung und der selbst innerhalb dieses sogenannten „Bundes“ bestehen bleibenden Möglichkeit eines Krieges ist diese „Tendenz“ allerdings n u r eine Phrase. Ein nicht universaler V ölkerbund kann natürlich n u r dadurch politische Bedeutung erhalten, daß er ein Bündnis, eine K oalition darstellt. Dam it w äre das jus belli nicht beseitigt. Ein V ölkerbund als universale Menschheits­ organisation m üßte die schwierige Leistung vollbringen, erstens allen bestehen bleibenden menschlichen G ruppierungen das ju s belli effektiv wegzunehm en und zweitens trotzdem selber kein ju s belli zu übernehm en, denn sonst w ären U niversalität, Menschheit, Gesellschaft, k u rz alle w esent­ lichen M erkm ale w ieder entfallen. Um faßt ein „W eltstaat“ die ganze E rde und die ganze Menschheit, so w äre er demnach keine politische Einheit und nu r m it einer R edensart ein Staat zu nennen. W ürde tatsächlich auf der G rundlage einer w irtschaft­ lichen und verkehrstechnischen E inheit die ganze Menschheit und die ganze E rde geeint, so w äre das eine „soziale“ Einheit, das heißt eine zwischen den P o laritäten von Ethik und Ökonom ik den Indifferenzpunkt suchende „Gesellschaft“. Es w äre auch kein „Im perium “, sondern m üßte jedeu poli­ tischen C h a ra k te r verlieren.

1 Die Kernfrage des Völkerbundes. Berlin 1926.

D o n o so C ortes in Berlin, 1849

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9. Donoso Cortes in Berlin, 18491*V(1927) D ie K reuzzeitung h atte in einer Notiz aus Paris vom 4. Mai 1853 Donoso Cortes folgenden Nachruf gewidmet: „Nidit nur Spanien, die gesamte Christenheit hat durch den gestern Abend nach 9 Uhr hier erfolgten Tod des spanischen Gesandten am Hofe Louis Napoleons einen schweren Verlust erlitten. Don Joaquin José Maria Donoso Cortes, Marques "de Valdegamas, war 1809 geboren, wenn ich nicht irre, also nodi im frischesten Mannes­ alter und gehörte zu jenen spezifisch katholischen Staatsmännern, die deshalb schon die besten Vertreter der katholisdien Könige Spaniens sind, die aber eine weit über die Grenzen ihres Vaterlandes hinausgehende Bedeutung erhalten, wenn sich die tiefe katholisdie Überzeugung mit so aufierordentlidien diplomatisdien Talenten paart, wie bei dem verewigten Donoso Cortes. Man hat diesen spanischen Staats­ mann einen spanischen Montalembert nennen wollen. Das ist fast eine Beleidigung für ihn, denn Montalembert mag ein katholischer Parteiführer seyn, ein katholischer Staatsmann ist er nicht, dazu ist er noch heute ein viel zu unverbesserlicher Orleanist. Sie werden sidi nodi des tiefen Eindrucks erinnern, den die Kammerreden und Schriften von Donoso Cortes zu madien pflegten, und wie dieselben auch von conservativen Nicht-Katholiken hochgeschätzt und als gewaltige Waffe gegen die Revo­ lution angesehen wurden! Sie haben Gelegenheit gehabt, diesen ausgezeichneten Mann in Berlin kennen zu lernen; Spanien konnte durch Niemanden besser ver­ treten seyn als durch ihn. Seit dem 28. März 1831 war er hier accreditiert. Sein Bruder, der durch eine telegraphische Depesche aus Madrid hierherberufen worden, findet ihn nidit mehr am Leben.“

Man könnte nach solchen W orten glauben, Donoso habe in Deutschland einen großen Erfolg gehabt, obwohl er sich noch nicht ein Jah r — von F eb ru ar bis Novem ber 1849 — als spanischer Bevollmächtigter in Berlin aufgehalten hat. In W ahrheit muß man sagen, daß sein politisches W irken, soweit P reußen oder D eutschland in Frage steht, „auf einer W asserwelle geschrieben“ w ar. Seine Reden w urden in Berlin bew undert, der König selbst zitierte seinen Ausspruch über die F ra n k fu rte r Nationalversam m lung aus der M adrider Rede vom 30. Januar 18502. A ber was an Erinnerung von ihm zurückblieb, erscheint wie ein schwaches, getrübtes Bild. Die Persön­ lichkeit des Mannes, der ihn in Deutschland literarisch bekannt zu machen suchte und übersetzte, F ranz Joseph Buß, konnte dem katholischen Spanier wenig Interesse oder gar Sym pathien gewinnen. Buß w ar ein höchst pro­ blematischer, abstoßender Mensch, den K arl Biederm ann in seinen „Er­ innerungen aus der Paulskirche“ (Leipzig 1849) im Gegensatz zu den „feinen“ — w ie K etteier und D öllinger — als Typus des „groben U ltram ontanen“ hinstellt, den K arl F rey tag als den „W iderw ärtigsten von allen U ltram ontanen“ bezeichnet und der in der Allgemeinen Deutschen Bio­ graphie wohl den schlimmsten biographischen A rtikel erhalten hat, den 1 Eine wichtige Quelle, die offiziellen Berich!e, welche Donoso seiner Regierung nach Madrid schickte, ist noch nicht zugänglich. Die folgende Darstellung ist daher auf die veröffentliditen Briefe angewiesen, wie sie die spanische Ausgabe der Werke (im folgenden mit O b r a s zitiert), die französische Ausgabe von 1838 (zitiert V e u i 11 o t) und die Veröffentlichung des Grafen Adhémar d'Antiodie, Paris 18 8 0 (zitiert: A n t i o c h e ) , enthalten. Die spanische Ausgabe ist nach meinen Erfahrungen in Deutschland selten; ich habe daher im allgemeinen auf Veuillot verwiesen. * Vgl. Otto Hoetzsch, Peter von Meyendorff, Bd. II S. 285, Berlin 1925, über den zitierten Ausspruch vgl. unten.

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man in einem akademischen W erke finden kann, wo er mit starken Aus­ drücken als ein zynisches und verlogenes, psychopathologisches Subjekt erscheint1. Wie man nun immer über diesen Buß denken mag, es ist keine gute Position, von einem solchen Mann in Deutschland präkonisiert zu werden. Viel wichtiger aber und für das in Deutschland w eiterlebende Bild von Donoso gefährlich ist eine Bem erkung Bismarcks, der in seinen „Gedanken und E rinnerungen“ den Namen dieses Spaniers in eine der­ artig affekterfüllte Region versetzt, daß es für viele gute Deutsche 'eine A rt Inferno bedeutet. Bismarck spricht davon, daß der Papst 1870 mit einem Siege Frankreichs über Deutschland rechnete und eine N iederlage des evangelischen Preußen für einen Gew inn des Katholizism us gehalten hätte. Die päpstlichen Beziehungen zum kaiserlichen Frankreich, namentlich zur K aiserin Eugenie, w aren freundschaftlichster A rt. „Es w ürden sich die gesta Dei per Francos vielleicht um einige neue Fortschritte der päpstlichen Macht bereichert haben, und die Entscheidung der konfessionellen Kämpfe, die nach der Meinung katholischer Schriftsteller (Donoso C ortes de Val dé­ gainas) schließlich ,auf dem Sande der M ark Brandenburg* auszufechten sind, w ürde durch eine Ubermachtstellung Frankreichs in Deutschland nach verschiedenen Richtungen hin gefördert w orden seiij.“ Österreich und Frankreich, m eint Bismarck, w ären auf dem gemeinsamen Boden des Katholizismus einander näher gekommen und h ätten nach dem Kriege ihre Revanche gesucht. Daß in diesem Zusammenhang der Name Donoso Cortes auftaucht — den meisten Lesern der „G edanken und E rinnerungen“ sicher frem d und seltsam — ist ein Zeichen von Bismarcks tiefsten Instinkten und eine beachtenswerte Nachwirkung aus den Revolutionsjah ren . Donoso w ar am 22. F eb ru ar 1849 in Berlin angekommen. Sein M ißtrauen gegen Preußen, seine Abneigung gegen B erlin w aren schon vor der An­ kunft entschiedene Sache und w urden durch seinen A ufenthalt n u r v erstärkt, als sich immer m ehr zeigte, daß der antirevolutionäre nordische Block — Rußland, Preußen, Österreich — nicht zustande kam. D ie politische und geistige Atm osphäre Berlins w ar dem katholischen Spanier unerträglich; er w ar glücklich, als er vor einer in Berlin drohenden Epidemie nach Dresden flüchten konnte. D er einzige, der ihm nahestand, w ar der rus­ sische Baron Meyendorff12, dessen p o litische Bem ühungen, soweit sie Deutschland betrafen, dahin gingen, auf der G rundlage einer gegen­ revolutionären Politik den F rieden zwischen P reußen und Österreich und dem deutschen Dualism us zu erhalten. M eyendorff hat die preußischen Konservativen in einer interessanten W eise beeinflußt. Von Bismarck spricht er als seinem Freund3, Leopold von Gerlach, der ihn in seinen D enk1 Artikel v. Schulte, Bd. 47 S. 407. 2 Tn dem von Otto Hoetzsdi herausgegebenen Briefwechsel Meyendorffs wird Donoso Bd. II S. 274 und S. 283 erwähnt. Meyendorff nennt ihn den „Montalembert espagnol , rühmt seine große Rede (vom 30. Januar 1850) und fügt hinzu: „crue Metternich et Montalembert, que Ranke et Schelling en raffolent.44

8 Hoetzsch, a. a. O. S. 222: „Ennuyé de cette éternelle imitation de la Belgique, un député de la droite, mon ami Bismarck, lui répondit44 etc.

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W ürdigkeiten oft erw ähnt, verschaffte er Nachrichten über die öster­ reichischen Pläne und Erfolge, um den König einzuschüchtern und die Verfassungspläne von Radowitz, die Union und einen Bundesstaat unter preußischer Hegemonie zu vereiteln1. Dadurch w ar auch ein Gegensatz von Donoso und Radow itz gegeben. Zwar spricht Donoso anfangs (in einem Brief vom 26. A pril 1849) von Radow itz als einem der bedeutendsten M änner seiner Zeit2. Später aber sieht er den T rium ph der Revolution gerade darin, daß auch Radow itz sich zum V ertreter des Konstitutionalismus macht; jetz t nennt er ihn einen oberflächlichen Menschen und glaubt, daß Radow itz wohl selber bem erkt habe, wie wenig der spanische V ertreter sich aus ihm mache3. Donosos v e rtra u te r Freund, der preußische Gesandte in Madrid, G raf Raczynski, h atte Radow itz immer m ißtraut und ihn mit Bunsen, Vincke und G agera zusammen als Liberalen bezeichnet4. Radowitz w ar überzeugter K atholik, aber kein F reund der Jesuiten; er beklagte die W iederherstellung des Jesuitenordens und hielt eine katholische P artei für das Unglück D eutschlands0. Die gemeinsame katholische Überzeugung und der gemeinsame Kam pf gegen Liberalism us und U nitarism us reichten also nicht aus, um eine Gemeinschaft oder gar Freundschaft zu begründen. Bei den orthodoxen P rotestanten Berlins konnte ein spanischer K atholik wie Donoso erst recht keinen A nklang finden. A udi w ar die außenpolitische Bedeutung Spaniens für P reußen nicht groß genug und das politische Ziel, das Donoso am H erzen lag, nämlich der Schutz des Papstes und des Kirchen­ staates, den Preußen viel zu frem d oder gar unsympathisch, als daß man aus politischen G ründen an dem spanischen D iplom aten ein besonderes Interesse hätte nehm en können. So blieb dieser in Berlin einsam und ohne jeden äußeren Erfolg. D er „nebulose R ationalism us“ der Hegelschen Philosophie erfüllte ihn mit Entsetzen; die R eligiosität der from men Protestanten h at er niemals ver­ standen, die Staatsphilosophie von Friedrich Julius Stahl hat anscheinend überhaupt keinen Eindruck auf ihn gemacht, die Gepflogenheiten des preußischen Hofes w aren ihm inkom m ensurabel. E r glaubte in Berlin ersticken zu müssen. D ie preußische P olitik mit ihrem Bestreben, von der Revolution fü r die Hegem onie Preußens zu profitieren und doch die alten __________ / 1 Charakteristisdi ist folgende Übereinstimmung: Leopold v. Gerlach notiert in seinen Denkwürdigkeiten Bd. I S. 333 am 9. Juni 1849: „Statt daß man auf alle Weise Österreich festhält, um die Einheit möglich zu machen, hilft man es nach der elenden hegemonischen Politik aus Deutschland ausstoßen. Was wird also geschehen, wenn diese gelungen ist? Österreich wird genötigt werden, sich eng an Rußland anzuschließen und die süddeutschen Staaten würden, da sie von Preußen keinen hin­ länglichen Schutz erhalten können, sich an Frankreich wenden müssen.44 Ähnlich ein Brief von Donoso ebenfalls vom 9. Juni 1849, Antioche S. 90. 2 Veuillot II. S. 44. 3 Antioche S. 147. 4 eod. S. 101. 6 Meinçdce, Radowitz S. 164, 535; über die Abneigung der Kurie gegen Radowitz S. 538. Zur Politik Meyendorffs S. 395, 428, 437 Anm. 474; Äußerungen Meyendorffs über Radowitz („ein großer Komödiant44) vgl. Hoetzsch a. a. O. Bd. I S. XLIV, II S. 176, 287, 306 usw.

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Begriffe von Monarchie, A utorität und O rthodoxie zu konservieren, er­ schien ihm unmöglich und verhängnisvoll. D ie deutsche E inheit w ar für ihn wesentlich eine Sache der revolutionären D em okratie, w ährend die deutsche Monarchie n ur durch einen föderalistischen Staatenbund erhalten bleiben konnte. W enn die preußische Regierung m it H ilfe der Revolution Deutschland unter Preußens Führung zu einigen suchte, so schien ihm das nicht nur wegen der V erbindung m it der Revolution, sondern am meisten wegen der außenpolitischen W irkung gefährlich. D enn die deutsche Einheit, um die sich damals, seiner M einung nach, die europäische Politik bewegte, konnte vernünftigerw eise w eder von England, noch von Frankreich, noch von R ußland zugelassen werden, von R ußland vor allem deshalb nicht, weil ein starkes demokratisches Deutschland das russische Reich seines europäischen Einflusses berauben und nach Asien zurückw erfen müßte. W enn sich im Zentrum Europas ein mächtiger Staat bildete, so w äre das ein Zeichen für einen europäischen Krieg. D aher ist ihm die Idee der deutschen Einheit eine historisch unmögliche dem okratische Illusion, durch V ernunft und geschichtliche E rfahrung in gleicher W eise verdam m t — „una idea condemnada juntam ente p er la razon y per la histo ria1“. Deutschland kann er sich nu r als eine föderalistische V ereinigung von zwei getrennten Nationen denken, das süddeutsche katholische und das norddeutsche pro­ testantische Deutschland. Von dem Staate aber, bei dem er als diplom atischer V ertreter ak k reditiert w ar, von Preußen, h atte er den G lauben, es sei mit seiner regierenden Fam ilie ein prodigium in der Geschichte der Völker. Sobald er hierauf zu sprechen kommt, hört m an eine seltsam e Mischung von Staunen, Angst, Bew underung und Frem dheit. Preußen ist kein Staat, der sich wie andere mit einer gewissen geschichtlichen Gleichm äßigkeit in den Rhythm us der europäischen Entwicklung einfügte und seinen Weg nahm; es hat aus elender, östlicher B arbarei im Laufe von w enigen Ja h r­ hunderten unerklärlich und unaufhaltsam seinen Aufstieg genommen, und in einer höchst geheimnisvollen W eise m ußte ihm alles zur E xpansion und Größe dienen: V ertragstreue und V ertragsbrüche, Siege wie N iederlagen, großartige Tugenden und niedrige Perfidien, manchmal die G röße seiner Könige und dann w ieder die G röße seines Volkes: w enn das eine fehlte, w ar immer das andere vorhanden, um ihm vorw ärtszuhelfen. A ber das Wesen seiner geschichtlichen Größe bleibt doch der Protestantism us. Mit ihm w ird Preußen wachsen und vergehen. E r ist das G eheim nis von Preußens Leben und w ird das Geheim nis von P reußens Tode sein12. D rei Jahre nach seinem B erliner A ufenthalt macht Donoso seinem F reunde Raczynski das Geständnis: wenn nicht die Rücksicht auf diesen F reund 1 Obras V S. 23; Veuillot II S. 19 (Brief vom 14. März 1849). Sehr merkwürdig und diaraktenstisdi der Zusatz: gerade das Absurde der Idee der deutschen Einheit macht sie iur die Demokratie anziehend, denn die Demokratie liebt das Absurde, bolche Äußerungen müssen mit zahlreichen ähnlichen Äußerungen von Charles Maurras verglidien werden, damit die typisdi romanisch-katholische Haltung gegen­ über der modernen Demokratie erkennbar wird. 2 Brief aus Berlin v. 23. Mai 1849, Veuillot II S. 82.

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wäre, so hätte er den König von Preußen im Parlam ent angegriffen. „Denn ich bin kein F reund w eder von Preußen, noch von seiner Politik, noch von seiner V ergrößerung, nicht einmal von seiner Existenz; ich glaube, daß es von seiner G eburt an dem Dämon geweiht w ar, und bleibe überzeugt, daß es ihm durch ein Geheimnis seiner Geschichte für immer geweiht ist1.4*Diese erstaunliche Ä ußerung w ird dadurch noch auffälliger, daß sie an einen preußischen G esandten gerichtet ist. Trotz dieser Abneigung und trotz aller psychischen Depressionen folgte Donoso den A ktualitäten der Tagespolitik und dem Kampf der politischen Prinzipien auch in Berlin mit großer K larheit. Sein Blick fü r revolutionäre Vorgänge w ar durch die E rfahrungen der zahlreichen spanischen Revo­ lutionen geschärft. Schon im März 1849, kurz nach seiner Ankunft, entw irft er ein sehr frappantes Bild von der dam aligen Lage Preußens und Deutsch­ lands. Er staunt über die lächerliche Unbeholfenheit, mit der eine so gut fundierte R egierung wie die preußische einer so harm losen Sache wie einem deutschen P arlam ent gegenübersteht. Den König Friedrich W ilhelm IV, der sich ähnlich wie Radow itz12 die Revolution aus einer A rt prim itiver Klassentheorie erk lärte, indem er einfach die Städte für revolutionär, das Land aber fü r königstreu hielt, w arnte er in seiner ersten Audienz vor einem blinden V ertrauen auf die monarchische Gesinnung der Land­ bevölkerung; die Regierung müsse sich selbst retten und dürfe nicht auf die B auern w arten 3. D er König selbst erschien ihm als ein trauriges Bei­ spiel romantischer V erw irrung, der sich in einer A rt religiösen W ahns für den A userw ählten Gottes hielt und deshalb keiner Belehrung m ehr zu­ gänglich w ar, der durch widerspruchsvolle Stimmungen und Tendenzen die K raft der gegenrevolutionären P arteien lähm te, die Revolution ver­ abscheute und sich doch verpflichtet fühlte, eine Verfassung zu geben, dann aber w ieder eine V erfasung oktroyierte, die kein Produkt der Furcht, sondern ein w ohlkalkuliertes System w ar, um den Liberalism us mit der Dem okratie zu schlagen und trotzdem , mit Hilfe des M ilitärs und des Belagerungszustandes, ein absolutistisches Königtum zu retten. F ü r den religiösen G lauben des Königs, seinen aufrichtig christlichen Sinn, seinen ehrlichen H aß gegen Revolution und Liberalism us hat der spanische K atho­ lik interessanterw eise kaum ein W ort übrig. Die besonderen Gesichts­ punkte der preußischen Politik interessieren ihn ebensowenig, wie um­ gekehrt die preußische Politik für seine katholischen Ideen irgendwelches Interesse zeigt. D aß die H andlungsw eise des Königs von Preußen vom preußisch-deutschen Standpunkte aus vielleicht einheitlich und konsequent erscheinen könnte, h at er aber bem erkt, und manche Ä ußerungen lassen erkennen, daß er m it bloßen V orw ürfen gegen die persönliche Schwäche 1 Brief aus Paris v. 24. Mai 1852, Antioche S. 306. 2 Gesammelte Schriften IV S. 145. 3 Brief vom 15. März 1849, Antioche S. 71. In einem andern Zusammenhang hat er die auffällige These aufgestellt, daß eine sozialistisdie Revolution um so radikaler sozialistisch werde, je weniger gewerbliche Arbeiter es in dem Lande gebe. (Brief aus Berlin v. 30. Mai 1849, Veuillot II S. 26.)

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des Königs — „das T raurigste in dieser ganzen S ituation“ sagt Donoso — doch nicht alles für e rk lä rt h ielt1. In der politischen Technik der Revolution w ar der Spanier zu erfahren, um nicht gleich zu sehen, daß die oktroyierte Verfassung vom 15. Dezem ber 1848 im entscheidenden Augenblick die Macht bei der königlichen R egierung ließ. E r w eist sofort auf die Aus­ nahmebefugnisse hin und zählt die A rtik el 105, 108, 110 auf, nach welchen mit Hilfe des N otverordnungsrechts, der U nabhängigkeit von der Budget­ bew illigung und vor allem des Belagerungszustandes die königliche Regierung alle wichtigen Entscheidungen in d er H and behielt, und er betont, daß die preußische Verfassung von 1848 das W erk einer tiefen Berechnung ist12. Um so unbegreiflicher ist es dann w ieder fü r seinen klaren politischen Sinn, daß der König eine so törichte romantische Auffassung von der preußischen B ürokratie haben konnte. Ein so w underbares In stru ­ m ent wie die preußische V erw altung g a ra n tie rt nach der M einung von Donoso die bürgerlichen F reiheiten besser als in andern L ändern die zum Schutze dieser F reiheit eigens organisierten Institutionen. Man sollte die preußische V erw altung in R uhe funktionieren lassen, der König dagegen sieht in ihr etwas seinem K önigtum Feindliche^ und bildet sich ein, irgendeine unm ittelbare Beziehung zu seinem Volke zu haben und doch gleichzeitig die alte Monarchie aufrechterhalten zu können3. Die F ra n k fu rte r N ationalversam m lung ist fü r Donoso eine A usgeburt des revolutionären Prinzips. E r weiß, daß sie hervorragende P o litik er und G elehrte zu ihren M itgliedern zählt, aber als politischen F a k to r k ann er sie n u r verachten. E r bem erkt sofort ihren M angel an je d e r E xekutive, ihre in einem großen Redenschwall gestikulierende H ilflosigkeit, aber auch ihren heimlichen Ehrgeiz und das M achtbedürfnis, das sich n u r nicht aktiv zu w erden getraut, obwohl es 1849 schon ungefährlich gew orden w ar. Mit einem Hohn, den auch K arl M arx nicht überboten hat, sagt er von dieser Versammlung, sie sei n u r deshalb noch nicht aufgelöst w orden, weil man nicht wisse, w er für die Auflösung zuständig sei. Ih r Schicksal faß t er in seiner großen rhetorischen A rt m it einem Satze zusam m en: das deutsche Volk habe die N ationalversam m lung erst w ie eine G öttin der F reiheit 1 Durch die Untersuchungen von Lenz, Oncken, Radifahl, Meinecke und Branden­ burg ist die früher übliche und anscheinend audi von Donoso übernommene Be­ urteilung Friedrich Wilhelms IV. erschüttert worden. Danach ist es jedenfalls nicht mehr möglidi, die verschiedenen Handlungen und Entschlüsse des Königs nur aus wechselnden Stimmungen und Unentsdilossenheit zu erklären. Die Literatur zu dieser Frage bei Elisabeth Schmitz, Uber Edwin von Manteuffel als Quelle zur Geschichte Friedrich Wilhelms IV., Hist. Bibliothek Bd. 43, 1921, S. 7 ff. 2 Veuillot, H S. 36. Ranke bemerkt (Briefwedisel mit Bunsen S. 371/2) als wesent­ lich, daß es dem König gelungen ist, das finanzielle Bestehen des preußischen Staates und die Verfügung über das Heer dem preußisdien Königtum zu retten. Edwin V . Manteuffel bestätigt diese Auffassung (Dove, Ausgew. Sdiriften, Leipzig 1898 S. 243/4, und E. Schmitz a. a. O. S. 26/27). Audi Leopold v. Gerladi (I S. 359) spricht davon, nennt aber den Belagerungszustand nidit. Vgl. ferner Meinecke, Weltbürger­ tum und Nationalstaat S 374 ff. In dem Kommentar von G. Ansdiütz, die Verfassungsurkunde für den preußisdien Staat, Berlin 1912 I S. 44 ff. insbesondere S. 53, tritt dieser Gesichtspunkt nicht hervor. 3 Veuillot II S. 33/34.

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bejubelt und angebetet und ein Ja h r später habe dieses selbe Volk die Versammlung verenden lassen wie eine P rostituierte in einer Schenke» como una p ro stitu ta en un caberna1. Das G esam tbild der eigentlichen politischen K räfte faßte Donoso dahin zusammen, daß in P reußen drei Richtungen zu unterscheiden sind: eine intransigente konservative A delspartei, das liberale w ohlsituierte B ürger­ tum, das h ier wie überall ein j u s t e m i l i e u sucht, und endlich die starke demagogische Ström ung, in der das P ro letariat sich mit polnischen und jüdischen A u frü h rern und ehrgeizigen Intellektuellen zusammen­ findet, deren G ehirne durch den H egelianism us — causa principalisim a del giro radical — desorganisiert und verw üstet sind. B em erkensw ert und für die Betrachtungsw eise von Donoso typisch ist sein U rteil über den preußischen K onservativism us. Diese politische Richtung, die ihm wegen ihrer monarchischen und gegenrevolutionären Ü berzeugungen doch am meisten sympathisch sein m ußte, b eu rteilt er sehr kühl. E r sieht sie in einer gefährlichen Lage: als reak tio n äre P artei entfernt sie sich von der liberalen Bourgeoisie, welche dadurch in eine V erbindung m it den Demo­ kraten getrieben w ird; w äre sie w eniger reak tio n är und etw as toleranter, so konnte sie in P reußen eine m ehr oder w eniger dauerhafte, jedenfalls geordnete R egierung begründen, indem sie mit den besitzenden Klassen des B ürgertum s zusam m engeht; w äre sie offen reak tio n är und w eniger abhängig von ihrem unsicher lavierenden König (der im m er als das Unheil des preußischen K onservativism us erscheint), w äre sie freier und aktiver, so könnte sie eine R estauration herbeiführen, die ebenfalls m ehr oder w eniger dauerhaft w äre, aber doch sicher die verrückten Hoffnungen der Revolutio­ näre vernichten müßte. So wie sie ist, bedeutet sie n u r einen V orw and für die Revolution, ohne deren Ausbrüche hemm en zu können12. Dieses U rteil ist sowohl fü r die konstruierende A rt der politischen U rteile Donosos charakteristisch als auch darin, daß es eine viel spätere Situation vorw eg­ nimmt. Es w ar unrichtig fü r das P reußen von 1849, in welchem die Mon­ archie noch sta rk w ar; es w ird richtig für eine Zeit, in welcher die Mon­ archie einen entscheidenden Schlag e rlitten hat. D araus e rk lä rt es sich wohl auch, w arum Donoso in B erlin noch nicht zu der letzten verzw eifelten A ntithese gelangte, die sein Bild in der Geschichte eigentlich bestim m t: die V orstellung von dem unm ittelbar bevorstehenden, k atastro p h alen Endkam pf zwischen Katholizism us und atheistischem Sozialismus. W ohl zeigen sich seit 1848 starke Antithesen, oft als A usdruck des Dezisionism us seiner N atur, oft n u r als Zeichen seines rhetorisch-epigram m atischen Stils, den B arbey d’A urevilly mit sicherem kritischem U rteil als W esenszug bei ihm festgestellt hat. Doch sind die G egensätze noch nicht bei der letzten Eschatologie angelangt; 1 Dieser Satz aus der Rede über die allgemeine Lage Europas vom 30. Januar 1850 (Veuillot II S. 406) hat auf Friedrich Wilhelm IV. Eindruck gemacht. Der König zitiert ihn vor Meyendorff in der Audienz vom 24. März 1850 (Hoetzsch a. a. Ch I I S. 283). 2 Veuillot II S. 11. 6

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nodi häufen sich nicht die Lieblingsw orte: m aravilloso, misterioso, tremendo, radical, soberano, suprem o, terrib ile, profundisim o, absoluto, perentorio, sangre und decisivo. Wohl sagt er in den Briefen, die er aus Berlin an M ontalembert schreibt1, daß die europäische Gesellschafts­ ordnung, endgültig zu Tode getroffen, stirbt, w eil sie nicht katholisch ist und weil der Katholizismus das Leben bedeutet; auch macht er zu dem berühm ten Ausspruch, daß E uropa moskowitisch oder repi^blikanisch w erden müsse, den Zusatz: w enn es nicht katholisch w ird. A ber m an kann nicht sagen, daß seine G edanken gerade in B erlin die äußerste Steigerung erfahren hätten. Es scheint w irklich eine gewisse Erm üdung über ihm zu liegen. D er Schauplatz großer ideeller und sozialer Entscheidungen w ar eben Paris und nicht Berlin. Das preußische Königtum w ar noch stark und hatte seine großartigste M achtentfaltung noch vor sich. D ie M itglieder des königlichen Hauses w aren noch w eit en tfernt von der gespenster­ haften Bedeutungslosigkeit, die sich in F rankreich seit 1848 bei den Mit­ gliedern der früher regierenden Fam ilie offenbart hatte. Es w ar noch nicht die Situation, daß (wie Bismarck es ausdrückt) die „Existenz der Mon­ archie und des V aterlandes auf dem Spiele“ stand, und erst recht fehlte in Berlin ein Ausdruck des atheistischen Sozialismus der Zeit, der dem eigent­ lichen ideellen Gegner Donosos, Proudhon, entsprochen hätte. Mit einem W ort: Berlin w ar im Jahre 1849 w eder politisch noch geistig der Platz, auf dem eine D ik tatu r ihren großen geschichtlichen Sinn hatte. D er Eindruck des Jahres 1848, die eigentliche Panik, w ar bereits überw unden. Die poli­ tischen und moralischen K räfte des Preußentum s w aren so stark, daß ein angsterfülltes, prinzipienhaftes E ntw eder-O der h ier kein V erständnis fand. Wenn Donoso auch jetzt, w ie seit 1848, vom Tod der europäischen Freiheit spricht und von dem Gegensatz der katholischen und der „philo­ sophischen“ Gesellschaftsordnung, so ist das noch die W irkung des Jahres 1848 im allgemeinen, keine spezifische W irkung des B erliner A ufenthaltes und seiner Erfahrungen. Es fehlt solchen D isjunktionen die fast apokalyp­ tische Fruchtbarkeit, die sie zwei Jahre später in P aris erhalten. E rst dort, auf dem klassischen Schauplatz der politischen Ideen Europas, spricht er den extrem sten Satz des 19. Jahrhunderts aus: es kommt der Tag der rad i­ kalen Verneinungen und der souveränen B ehauptungen; llegua el dia de las negaciones radicales o de las afirmaciones soberanas. Als bester Maßstab für die Entwicklung Donosos k ann in diesen Jahren seine Beurteilung Englands dienen. Jedem, der an eine gemeinsame euro­ päische Politik denkt, muß sich das V erhältnis Englands zum K ontinent als das unvermeidlichste und unlöslichste aller Problem e in den W eg stellen. Bei Donoso hat die wechselnde Lage der außenpolitischen V erhältnisse sein U rteil beständig verändert, denn er w ar alles andere als der Don Q uijote eines abstrakten Prinzips. Sein Sinn für die R ealitäten der Außen­ politik ist außerordentlich, seine A npassungsfähigkeit trotz aller rhetorischen Thesen erstaunlich. D er junge Donoso w ar Progressist und hielt 1 Veuillot II S. 123 (Brief vom 21. Juli 1849).

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die englische \ 7erfassung für das Vorbild aller Verfassungen. A ber die Revolution von 1848 belehrte ihn darüber, daß der europäische Kontinent in eine Epoche sozialer Revolutionen ein trat und infolgedessen die englische Politik vor einem neuen Problem stand. E r kannte England als den A nstifter der Revolutionen auf dem K ontinent — l’A ngleterre, cette éternelle instigatrice des révolutions1; aus den E rfahrungen der spanischen Geschichte kennt er auch die vollendete Technik, mit der es Revolutionen zu erregen und zu unterstützen weiß. A ber unter dem Eindruck des Jahres 1848 hofft er, w iederum in einer typischen Vorwegnahme einer viel späteren Situation, daß England sein w ahres Interesse, die Bekäm pfung der europäischen Revolution, und seinen ihm natürlichen konservativen Sinn endlich begreife. Vor der Abreise nach Berlin, in der Rede über die D iktatur am 9. Jan u ar 1849, hält er es noch für möglich, daß England sich im Gegensatz zum revolutionären Frankreich auf seine antirevolutionäre Tradition besinnen und seinen Konservativism us auch auf dem Kontinent betätigen werde. Die prachtvolle, auch von R anke und Schelling bew underte Rede über die allgemeine Lage Europas, die er dann am 30. Jan u ar 1850 nach der Rückkehr von Berlin auf dem Kongreß in M adrid hielt, zeigte eine bedeu­ tende Ä nderung und das eigentliche Ergebnis des B erliner Aufenthalts. Das Ergebnis betrifft allerdings nicht Preußen und Deutschland, sondern Rußland. Jetzt erscheint ein neuer Feind der europäischen Zivilisation: die Möglichkeit einer Verbindung von revolutionärem Sozialismus und rus­ sischer Politik12. Jetzt feiert er England als letzte Hoffnung Europas, als letzten Schutz vor der erdrückenden Macht Rußlands und vor der Revo­ lution, gegen die kein europäisches Volk, auch R ußland nicht, irgend­ welche W iderstandskraft m ehr habe. W ährend er am 3. A pril 1849 aus Berlin geschrieben hatte, daß nu r ein Bündnis mit R ußland Spanien aus den Klauen Englands retten könne, rühm t er jetzt England als die R ettung Europas vor der russischen G efahr. Das Bild, das er in dieser Rede ent­ wirft, ist wohl die auffälligste seiner konstruktiven Vorwegnahm en: E rst w ird die Revolution die bestehenden H eere auflösen; dann beseitigt der Sozialismus alle G efühle der V aterlandsliebe und reduziert alle Gegen­ sätze auf den von Besitzern und Nichtbesitzern; dann, wenn es der sozia­ listischen Revolution gelungen ist, alle nationalen Regungen zu ertöten und wenn u n ter russischer Führung die slawischen V ölker sich vereinigen, wenn es in E uropa n u r noch den Gegensatz von A usbeutern und Aus­ gebeuteten gibt, dann kommt Rußlands große Stunde und mit ihr die große Züchtigung Europas, die vor allem England trifft, den Koloß, der mit einer Hand Europa, m it der anderen Indien hält. Das w ird aber keineswegs das Ende der Züchtigung sein. D enn diese Russen sind nicht ein Volk wie die G erm anen, die in der V ölkerw anderung die europäische Zivilisation erneuerten; R ußland ist in seiner A ristokratie und seiner V erw altung 1 Antioche S. 79. 2 Veuillot I S. 384. 6*

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ebenso k o rru p t wie das übrige E uropa; es w ird nach seinem Siege das G ift des alten Europa in seinen A dern trag en und d a ra n sterben und ver­ wesen. Diese Rede enthalt auch die seltsam e Prophezeiung, daß eine Revo­ lution eher in St. P etersburg als in London ausbrechen w ürde. D ie R ettung Europas vor der revolutionär-kom m unistisch-russischen Überschwemmung könnte nur England sein, aber ein monarchisches und konservatives Eng­ land, d. h. für Donoso ein katholisches E ngland1. Um diese Linie zu Ende zu führen, nicht um ein vollständiges Bild der wechselnden außenpolitischen Anschauungen Donosos zu geben, sei noch erw ähnt, daß er zwei Jah re später, im Jan u ar und F e b ru a r 1852, England w ieder als das Unheil Europas betrachtet und m eint, es gebe fü r F ra n k ­ reich nu r eine Politik, den europäischen K ontinent gegen E ngland zu einigen und diesen ewigen U nruhestifter m itsam t der D em okratie vom K ontinent zu vertreiben2. Das einzige, was im Wechsel der Anschauungen bleibt, ist das Interesse am K irchenstaat und der päpstlichen Souveränität. Im übrigen folgt er der täglich sich ändernden Situation und denkt keines­ wegs daran, sich in einem außenpolitischen System dauern zu fixieren. W eder ist England imm er der Feind, noch ist R ußland als konservative Macht der unbedingte V erbündete. Man h at allerdings oft den Eindruck, als habe Donoso in seinem B edürfnis nach k la re n G ru p pierungen auch hier einen außenpolitischen Gegensatz gesucht, in welchem zwei Mächte, die eine als T räger der überlieferten O rdnung, die andere als revolutionäre V or­ macht, einander gegenüberstehen, w ie das revolutionäre F rankreich 1793 gegen England oder das bolschewistische R ußland seit 1918 gegen England steht. Eine solche G ruppierung tra t aber 1848 nicht ein. Sie dam als schon anzunehmen, entsprach einer im begrifflichen K ern der Sache richtigen V er­ einfachung, aber die geschichtliche Entw icklung brauchte längere Zeit als der konstruierend vorauseilende G eist des spanischen K atholiken. Noch w ar in der politischen W irklichkeit der entscheidende P u n k t nicht erreicht. Alle europäischen Mächte h at Donoso der R eihe nach als mögliche T räg er des gegenrevolutionären Kam pfes in Betracht gezogen und w ieder v er­ worfen: Rußland, England, Ö sterreich und Frankreich. N ur P reußen w ar ihm zu frem d und unbegreiflich, obwohl gerade h ier die stärkste Reserve überlieferter V orstellungen staatlich organisiert w ar und gerade P reußen der Staat sein sollte, gegen den sich ein halbes Ja h rh u n d e rt später die ganze W elt im Namen der D em okratie koalierte. D as h a t Donoso nicht vorausgesehen. Bei Frankreich und der D ik ta tu r Napoleons III. blieb er stehen. Es scheint m ir selbstverständlich, daß auch diese F ix ieru n g keine endgültige w ar und daß er sie aufgeben m ußte, w enn e r die w eitere E nt­ wicklung der napoleonischen P olitik erleb t hätte. Dadurch, daß Donoso fü r N apoleon III. e in tra t und eine seiner wichtig­ sten Bem ühungen auf dessen internationale A nerkennung gerichtet w ar, ergab sich sofort w ieder ein G egensatz zu den konservativen M ächten des 1 Veuillot I S. 400. 2 Veuillot II S. 391 ff., 404 ff.

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Nordens, zu R ußland und Preußen. Aus prinzipiellen G ründen, die als solche nicht w eniger stichhaltig sind wie die des Spaniers, lehnten diese beiden Mächte im ersten Augenblick die A nerkennung des „U surpators“ ab, und einige Zeit später, beim K rim kriege, erk lä rte Friedrich W ilhelm IV.. nie w erde er als A lliierter des Islams das Schwert gegen eine christliche Macht ziehen1. Das w ar doch auch prinzipiell und christlich gedacht und das G egenteil einer revolutionären Politik. Es' zeigte sich eben hier be­ sonders deutlich, welchen Schwierigkeiten eine konservative europäische Politik begegnen mußte. D as K onservative ist seiner N atur nach mit den geschichtlichen D ifferenzierungen verwachsen und in Europa an religiöse und nationale Verschiedenheiten gebunden. Es gibt vorläufig noch keinen europäischen K onservativism us, und 1848 w ar ein solcher Begriff beinahe phantastisch. Alle w ertvollen und spezifisch konservativen Elemente, Reli­ gion, Sprache, T radition, Bildung, hatten sich in Europa in kirchlicher, staatlicher und nationaler Verschiedenheit gestaltet. D er katholische R oya­ lismus romanischer A rt, das dynastische Gefühl evangelischer Preußen, die Verbindung russischer O rthodoxie m it dem Zarismus w aren drei religiös und national verschiedenartige konservative Mächte, welche niemals eine so homogene E inheit bilden konnten wie die internationale Revolution, deren Rationalism us die traditionellen Hem mungen mit mechanischer Ein­ fachheit vernichtete. Einem Manne, dessen Geist m it so erstaunlichen Vor­ wegnahm en der Entwicklung vorauseilte und dessen W esen und C h arak ter doch ganz in der katholischen T radition ruhte, m ußte seit dem Jahre 1848 die gemeinsame G efahr ebenso heftig bew ußt w erden wie die verzw eifelte Unmöglichkeit einer gemeinsam en konservativen A ktion Europas. Es ist das wichtigste Ergebnis seines B erliner A ufenthaltes, daß Donoso hier sein U rteil über R ußland änderte und erkannte (was damals kaum jem and ahnte), daß R ußland keinesw egs das sichere B ollw erk des europäischen Konservativism us w ar. Jetzt gab es fü r ihn nu r noch einen Weg zur Rettung: die D ik tatur. D as w a r ein Begriff, dessen sich der romanische Geist des Spaniers schnell bemächtigen konnte und der seinem Dezisionismus ent­ sprach, dessen eigentliche Energie aber in der Sphäre eines revolutionären Dem okratism us liegt und der in ein System konservativer Ideen und Ge­ fühle n u r als frem des Elem ent von außen eintritt.

io. Demokratie und Finanz (1927) Das G ebiet, auf welchem der folgenreiche Zwiespalt zwischen L ibera­ lismus und D em okratie sich am stärksten offenbart, ist das der Finanz. D ieser Begriff h at schon den literarischen V ater der neueren D em okratie, Rousseau, sehr beunruhigt. Im C ontrat social zeigt sich trotz aller Ver1 Dove a. a. O. S. 262/3.

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herrlidiung der unm ittelbaren D em okratie doch ein deutliches Gefühl für ihre natürlichen Grenzen. Das Volk ist als Souverän auf die Gesetzgebung, und zw ar Gesetzgebung im m ateriellen Sinne, beschränkt, die streng von Regierung und Verwaltung unterschieden w ird und vor allem kein objet individuel kennt (Buch II, Kap. 6). Finanzfragen insbesondere gehören nicht in die Dem okratie. Die Finanz ist etwas der D em okratie Gefährliches: „Ce mot de finance est un mot d’esclave1; il est inconnu dans la Cité.“ Deshalb darf es nach Rousseau in einem demokratischen S ta a t'n u r ein­ fache, nur geradezu frugale V erhältnisse und vor allem keinen Reichtum und keinen Gegensatz von arm und reich geben — ein typisch rousseauistisches Ausweichen in eine idyllische Prim itivität, das aber trotzdem einen politischen Instinkt für die G efahr zeigt, welche der D em okratie vom ökonom ischen und Finanziellen h er droht. Sobald an die Stelle politischer Begriffe wirtschaftliche Kategorien treten und ökonomische Gegensätze in Verbindung mit einem marxistischen Klassenbegriff die demokratische Hom ogenität gefährden, ändern sich näm­ lich auch alle Vorstellungen über die „Finanz“, d. h. das richtige Verhältnis und die V erteilung der Einnahm en und Ausgaben des Staates. Es entspricht der hergebrachten, in ihren historischen W urzeln teils ständischen, teils liberal-bürgerlichen Überzeugung, daß derjenige, der die Abgaben leistet, sie auch bewilligen und ihre Verwendung kontrollieren muß. Aus dieser Überzeugung hat sich das m oderne Budgetrecht entwickelt. Die alte „ V o lk sv ertre tu n g w ar eine V ertretung abgabenleistender oder steuer­ zahlender Volksteile, und was sie an Abgaben bewilligte, w urde von ihren A uftraggebern selbst geleistet. D am it w ar ein fester Zusammenhang von Abgabenleistung und V olksvertretung gegeben, an den man glaubte. D er berühm te liberale Satz „no taxation w ithout representation“ hat nur dann einen Sinn, wenn er auch um gekehrt gilt. In der M assendemokratie m oderner Industriestaaten lassen sich solche einfachen Zusammenhänge und Zurechnungen nicht m ehr aufrechterhalten. Das „Volk“, d. h. die Ab­ gabengesetze beschließende M ehrheit, schreibt auch der überstim mten M inderheit Abgaben und soziale Lasten vor. Das ist jedenfalls etwas wesentlich anderes als der alte Gedanke, daß Abgaben selbstverständlich nur, banal gesprochen, „aus der eigenen Tasche“ bew illigt w erden können12. 1 Buch III Kap. 15. Carl Brinkmann hatte die Freundlichkeit, mich zu meinem früheren Zitat dieses Wortes (Parlamentarismus S. 19) darauf aufmerksam zu machen, daß in diesem Affekt gegen die Finanz audi der Haß gegen die Intendanten des französischen 18. Jahrhunderts zum Ausdruck komme. Das ist wohl richtig; wie meistens bei Rousseau schwingen viele Assoziationen mit. Aber der sachliche Inhalt der Stelle bleibt erkennbar. Die demokratische Freiheit ist nach Rousseau zu Ende, sobald das Geld ersdieint. „Donnez de l'argent, et bientôt vous aurez des fers“; dieser Satz geht dem „mot d'esclave“ unmittelbar voraus. 2 Das gilt nicht nur für die Steuer„bewilligungen“ in kommunalen Vertretungs­ körpern, für welche es in Deutschland (seit der Stabilisierung der deutsdien Wäh­ rung im Zusammenhang mit dem Problem des Finanzausgleichs) allgemein bewußt geworden ist; vgl. Popitz, Artikel Finanzausgleidi, Handwörterbuch der Staats­ wissenschaft, Bd. Ill, S. 1013: „daß das allgemeine Wahlrecht die bewilligenden Volksvertretungen nicht selten so zusammensetzt, daß es nicht gerade diejenigen

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Der heutige Zustand braucht deshalb nicht ungerecht zu sein und w ird vor­ läufig kaum geändert w erden können, weil selbst der G laube an solche ein­ leuchtenden wirtschaftlichen Zurechnungen zerstört ist und der Begriff der „eigenen Tasche“ seine ständische oder individualistische Einfachheit ver­ loren hat. Es ist nötig, sich dieser gew altigen Ä nderung bew ußt zu werden, wenn m an über m oderne D em okratie spricht. D enn auch h ier sind das „Volk“, d. h. die abstimm ende M ehrheit, welche die Steuern und Abgaben „bew illigt“, und das „Volk“, d. h. die Steuer­ zahler, die sie in der ökonomischen W irklichkeit tatsächlich leisten, nicht m ehr eindeutig dieselben Größen. Auch hier offenbart das W ort „Volk“ seine abgründige V ieldeutigkeit. Die Folge ist eine auffällige Unsicherheit gegenüber der Frage, w iew eit Finanzangelegenheiten sich für die Methoden der unm ittelbaren D em okratie eignen. Das zeigte sich auch in den Be­ ratungen des W eim arer Verfassungsausschusses (Prot. S. 312). D er Ab­ geordnete D r. Q uarck z. B. fand es „mißlich“, bei großen Steueraktionen einen Teil herauszureißen und der Volksabstimm ung zu unterstellen; dann fügte er hinzu: „Ich gehe sogar so weit, anzunehm en, daß eine Volks­ abstimm ung in F inanzfragen kaum rätlich ist. A ndererseits müssen w ir beachten, daß das Budgetrecht das vornehm ste Recht der D em okratie ist.“ Dieses charakteristische „A ndererseits“ enthält die ganze V erw irrung von Parlam entarism us und unm ittelbarer D em okratie. Es besteht kein Grund, darüber zu spotten. D enn die Zw iespältigkeit ist nur der Schatten eiuer großen V eränderung, die h in ter den überlieferten Form en und Einrichtun­ gen vor sich geht und alle Staatsw esen der modernen, auf geheim er Einzel­ abstimm ung beruhenden M assendem okratie vor ein völlig neues Problem der „Finanz“ stellt. Rousseaus schicksalvolles Mot d’esclave erscheint jetzt von neuem, und mit einem Lobe k lein er Verhältnisse w ird m an es heute nicht m ehr beschwören.

sind, die in höheren Einkommensteuerstufen stehen und die Zuschläge hart fühlen müssen, die in den Vertretungen von stärkerem Einfluß sind, sondern vielfach die­ jenigen, die weniger bemittelte Volkskreise vertreten“. Popitz sieht darin eine Schwächung des Gedankens der Selbstverwaltung und Selbstverantwortung. Ferner A. Hensel, Gewerbesteuer und Finanzausgleidi (Gutachten in der Veröffentlichung der Spitzenverbände der Wirtschaft, 1926), S. 71:.„Die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten Wahlrechts unter Berücksichtigung der Grundsätze der Verhältnis­ wahl (Art. 17 II RV.) hat zu einer wesentlichen Verschiebung der politischen Kräfte in den Landes- und Gemeindeparlamenten geführt, die bewirkte, daß die Mehrheit der Gemeindevertreter, welche die Neubewilligung von Ausgaben zu beschließen hatte, zwar formell gleichzeitig für die Deckung dieser Ausgaben zu sorgen hatte, m a t e r i e l l a b e r v o n der B e l a s t u n g , die d i e s e D e c k u n g mi t sich b r a c h t e , in i hrer e i g e n e n T a s c h e n i c h t u n m i t t e l b a r b e ­ t r o f f e n w u r d e.“

11. Der Völkerbund und Europa (1928) D as W ort „V ölkerbund" und das W ort „E uropa" bezeichnen beide lebhaft um strittene und in hohem Maße problem atische Vorstellungen. Sowohl das Interesse fü r jed en dieser Begriffe w ie auch ih re W ertschätzung und B eurteilung in der öffentlichen M einung än dern sich oft und lassen k ein k lares Bild erkennen. A ber auch abgesehen von diesen Schw ankungen der öffentlichen Mei­ nung ist je d e r der beiden Begriffe bei n ä h e re r B etrachtung in sich selbst außerordentlich vieldeutig und unsicher. D er G edanke eines V ölkerbundes h at allerdings die S phäre der bloßen Idee verlassen und im G enfer V ölker­ bund eine organisatorische V erw irklichung gefunden. A ber w eder in der O rganisation seiner beiden w ichtigsten Einrichtungen, V ölkerbundsversamm lung und V ölkerbundsrat, noch in der A rt seiner Zuständigkeiten und Befugnisse läßt das G enfer G ebilde eine k la re Stellungnahm e erkennen. Alle wichtigen politischen F ragen sind h ier noch offen, vor allem deshalb, w eil fü r den G enfer V ölkerbund w eder die praktische Möglichkeit noch ü berh au p t die anerk an n te Pflicht besteht, sich m it allen den F rieden der E rde b erührenden A ngelegenheiten zu befassen. E r kann (nach dem W ort­ lau t seiner Satzung) alles und braucht nichts zu tun. So ist der V ölkerbund heute politisch nichts als ein System von K onferenzgelegenheiten, v er­ bunden m it einem internationalen B ureau, dem G en eralsek retariat, und seine H auptleistung besteht darin, eine A tm osphäre intern atio n aler V er­ ständigung und V erhandlungsbereitschaft zu bew irken. Das kan n sehr viel und sehr wenig sein. Jedenfalls ist ein endgültiges, sachliches U rteil h ier noch nicht möglich. Noch viel w eniger bezeichnet das W ort „E uropa" heute bereits eine k lare und erkennbare V orstellung. Es ist schon schwierig, bei den v er­ schiedenen P ro je k te n und Begriffen von E uropa eine überzeugende geo­ graphische A bgrenzung zu erkennen. G ehört E ngland zu E uropa oder bildet es nicht vielm ehr m it seinen Dom inions und Kolonien ein geschlossenes Im perium , dessen V erbindung m it dem europäischen K ontinent unmöglich und schädlich ist? G ehört Spanien dazu, oder ist es nicht enger m it den lateinam erikanischen Staaten als m it D eutschland oder Skandinavien v e r­ bunden? G ehört R ußland dazu, und ist es richtig, zwischen dem H auptland d er slawischen V ölker und den westlichen Slaw en einen Unterschied zu konstruieren? Soll Frankreich m it allen seinen K olonien und seiner ganzen m ilitärischen R üstung eintreten, d. h. die m ilitärische und politische H e rr­ schaft übernehm en? W ird nicht D eutschland durch seine wachsende V er­ schuldung m ehr an die V ereinigten Staaten von A m erika als an irgendeinen

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seiner feindlichen oder m ißtrauischen Nachbarn gewiesen? O der reduziert sich das ganze Problem E uropa schließlich n u r auf eine deutsch-französische Verständigung, vielleicht sogar n u r auf die Bildung eines W irtschafts­ komplexes, der W estdeutschland, Nord- und O stfrankreich, Belgien und Luxem burg um faßt? Alle diese Fragen sind noch offen. Es w ird hier mit einem W ort an sie erinnert, um die V ieldeutigkeit der Vorstellung „Europa“ zu zeigen. So verbinden sich in der hier gestellten Frage zwei problematische Be­ griffe: „V ölkerbund“ und „E uropa“. Das bedeutet nicht etwa, daß der eine unklare Begriff den andern k lä rt und aufhellt, sondern im Gegenteil, daß die U nklarheit noch größer w ird und sich potenziert. Trotzdem müssen beide Begriffe als Möglichkeiten und Problem e ernstgenomm en werden. Denn jed er von ihnen bezeichnet eine Gesamtlage, zu der auch Deutsch­ land gehört, ob es w ill oder nicht. Man kann es als das Kennzeichen der gegenwärtigen geschichtlichen Epoche betrachten, daß alle überlieferten politischen G rößen sich vollständig um gruppieren und eine Neubildung von Staaten und Staatensystem en in ungeheuer erw eiterten Dimensionen eintritt. Das Interesse an den genannten Begriffen e rk lä rt sich eben daraus, daß mit ihnen solche möglichen N eubildungen angedeutet sind. Ein Land wie Deutschland, das im Schnittpunkt aller w iderstrebenden K räfte und Strömungen liegt, ist geographisch, geschichtlich und ideologisch der p rä ­ destinierte Kriegsschauplatz einer solchen Umbildung. Daß es entwaffnet, entm ilitarisiert und bis zu einem gewissen G rade sogar entpolitisiert ist, bedeutet, politisch gesehen, daß diese geographische, geschichtliche und moralische P rädestination garan tiert und gesichert w ird und seiner Be­ völkerung die Möglichkeit genommen w erden soll, sich ihrem Schicksal zu entziehen. W enn aber sowohl V ölkerbund wie E uropa zwei O rientierungspunkte für die großen U m gruppierungen der G egenw art sind, so ist es notwendig, die Frage zu stellen: W ie verhält sich das politische System des V ölker­ bundes zu einem denkbaren Gesam tsystem der europäischen Staaten? G ibt es einen spezifischen Zusamm enhang zwischen dem G enfer V ölkerbund und Europa? Viele begeisterte F reunde des W eltfriedens und der V ölker­ versöhnung scheinen den Zusammenhang für selbstverständlich zu halten. Für sie ist der G enfer V ölkerbund ein M ittel des Friedens; die Einigung Europas w äre ebenfalls ein M ittel des Friedens, und so kann beides, V ölker­ bund und Europa, zu einem einzigen Idealbild verschmelzen. A ber man müßte wenigstens einen Augenblick das System des G enfer V ölkerbundes und das System europäischer Staaten voneinander unterscheiden. D enn es ist an sich unwahrscheinlich, daß zwei große politische Systeme und zwei riesige O rganisationen nebeneinander genau demselben Zwecke dienen sollten. G erade für dieses V erhältnis von Europa und V ölkerbund liegen deshalb auch m erkw ürdig widersprechende Ansichten und Ä ußerungen vor. Freunde der paneuropäischen Bestrebungen hoffen, der G enfer V ölker­ bund bedeute in W ahrheit heute schon eine europäische O rganisation. Sie

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Der Völkerbund und Europa

weisen darauf hin, daß der V ölkerbund sich fast ausschließlich m it euro­ päischen A ngelegenheiten beschäftigt; die nichteuropäischen M itglieder m üßten deshalb bald ih r Interesse an der O rganisation verlieren ; B rasilien ist im H erbst 1926 ausgetreten, als D eutschland in den V ölkerbundsrat aufgenom men w urde; vielleicht folgen andere außereuropäische M itglieder nach, und so w äre das paneuropäische Problem durch einfache Subtraktion gelöst, indem nämlich nach Abzug alle r übrigen S taaten der verbleibende Rest als geeintes E uropa dasteht. A uf der anderen Seite aber bezeichnen eifrige A nhänger des V ölkerbundsgedankens die K rise vom H erbst 1926 gerade als eine „E uropäisieruiigskrise“, w eil die E uropäisierung den V ölkerbund als universales G ebilde gefährde. Ein b e k a n n te r Ju rist und V orkäm pfer der Idee des Völkerbundes, G eorges Scelle, h at diesen Stand­ punkt in einer um fangreichen Schrift, „Une crise de la Société des N ations“, P aris 1927, vertreten. O ffenbar sind die verschiedenen K ontinente am G enfer V ölkerbund ver­ schieden beteiligt. Im ganzen kommen, von Japan abgesehen, hauptsächlich europäische und am erikanische Staaten in B etracht1. D ie m eisten Staaten sind europäisch. Doch sind 18 am erikanische Staaten M itglieder des G enfer Völkerbundes; das sind rund ein D ritte l aller M itglieder. Es fehlen Mexiko und vor allem die führende Macht des am erikanischen K ontinents, die Ver­ einigten Staaten von Am erika. Das Problem des V erhältnisses von V ölkerbund und E uropa ist aber, wie die Dinge heute liegen, zunächst das Problem des V erhältnisses von V ölkerbund und Am erika. Dieses w iederum ist bei der überw ältigenden wirtschaftlichen und politischen Macht der V ereinigten Staaten in erster Linie das Problem des V erhältnisses von V ölkerbund und V ereinigten Staaten. Äußerlich betrachtet scheint hier kein Problem vorzuliegen. Die V ereinigten Staaten haben es abgelehnt, den V ertrag von V ersailles zu unterzeichnen; sie haben den Sonderfrieden mit D eutschland vom 25. August 1 Außer Rußland sind alle europäischen Staaten Mitglieder des Völkerbundes. Asien ist dadurch vertreten, daß die asiatische Großmacht, Japan, einen ständigen Sitz im Völkerbundsrate hat; China ist Mitglied, wenn auch infolge seiner inner­ politischen Verhältnisse tatsädilich ohne wirksame Regierung; Siam ist wie die beiden vorigen Mitglieder Signatarstaat des Versailler Vertrages; ebenso Indien, das als selbständiger Teil des englisdien Imperiums gilt. Persien beansprucht als Mitglied des Völkerbundes den besonderen JCulturkreis des Tslam zu vertreten. Es fehlen außer Rußland die Türkei und Afghanistan. Der Völkerbund hat eine sehr wichtige asiatische Angelegenheit, die Mossulfrage, behandelt. Im übrigen kann man nicht sagen, daß er für die Probleme dieses Kontinentes in Betracht kommt, vor allem scheint niemand daran zu denken, ihn ernsthaft mit den chinesischen Fragen in Berührung zu bringen. Afrika ist durch ein englisches Dominion, die Südafrikanische Union, durch Liberia und den einzigen autodithonen Staat Afrikas, Abessinien, vertreten. Ägypten ist nicht Mitglied. Das übrige afrikanische Gebiet ist teils Pro­ tektorat, teils Mandat oder Kolonie. Tn der Südafrikanischen Union macht sidi übrigens das Bestreben geltend, eine südafrikanische Monroedoktrin zu beanspruchen. Was das für die Stellung im Völkerbund bedeuten könnte, wird sich aus der Bedeu­ tung der gleich zu erörternden amerikanischen Monroedoktrin ergeben. Australien und Neuseeland sind als englische Dominions vertreten; doch ist auch schon eine australische Monroedoktrin aufgestellt worden.

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1921 geschlossen und sind nicht M itglied des G enfer Völkerbundes ge­ worden. Selbst die Bemühungen, sie an dem ständigen Internationalen Gerichtshof im H aag zu beteiligen, blieben erfolglos. Die Vereinigten Staaten sind also anscheinend in einer besonders entschiedenen Weise a b w e s e n d . A ber es w ird sich zeigen, daß hier wie bei anderen euro­ päischen F ragen die V ereinigten Staaten auf eine m ittelbare, aber darum nicht w eniger effektive und intensive W eise doch w ieder a n w e s e n d sind. Diese eigenartige Mischung von offizieller Abw esenheit und effektiver Anwesenheit kennzeichnet das V erhältnis des Völkerbundes und Europas zu den V ereinigten Staaten von Am erika. Dem V ölkerbund gehört eine Reihe von am erikanischen Staaten an, die man aus verschiedenen G ründen und Rücksichten als souveräne Staaten bezeichnet, die aber von den V ereinigten Staaten abhängig sind und deren außenpolitisches H andeln u n ter der „K ontrolle“ der Vereinigten Staaten stellt. L änder wie Kuba, H aiti, San Domingo, Panam a und N ikaragua sind M itglieder des G enfer Völkerbundes und gegebenenfalls auch des V ölker­ b u n d s ra te s . Sie sind aber nicht n u r wirtschaftlich und nicht nur faktisch von den V ereinigten Staaten abhängig, sondern auch durch förmliche, aus­ drückliche V erträge gebunden. V erträge, wie sie die V ereinigten Staaten mit Kuba u n ter dem 22. Mai 1903 oder mit Panam a unter dem 18. November 1903 abgeschlossen haben, sind typisch für die m oderne Form der Be­ herrschung eines Staates. Es sind Interventionsverträge, weil die politische Kontrolle und H errschaft auf dem Recht der Intervention beruht. D er kontrollierende Staat d a rf nach seinem Ermessen zum Schutz der Un­ abhängigkeit oder des Privateigentum s, zur A ufrechterhaltung der O rd ­ nung und Sicherheit oder aus andern G ründen, über deren Vorliegen er selbst entscheidet, in die V erhältnisse des andern Staates eingreif en; sein Eingriffsrecht ist durch Flotten- und Kohlenstationen, militärische Be­ setzung, Landpachtungen oder in anderer Weise gesichert. Die Einzel­ heiten dieser m odernen Herrschafts- und Kontrollm ethoden interessieren hier nicht. Jedenfalls ist ein Staat, der in solcher Weise kontrolliert wird, etwas anderes als ein unabhängiger Staat, der k raft eigener Bestimmung über Begriffe w ie U nabhängigkeit und öffentliche O rdnung entscheidet. Die genannten am erikanischen Staaten gehören nach den vorliegenden völkerrechtlichen V erträgen zum politischen System der Vereinigten Staaten von A m erika. W enn sie trotzdem M itglieder des G enfer V ölker­ bundes sind, so ragt an dieser Stelle neben dem politischen System des eng­ lischen W eltreiches ein zweites politisches System in das G enfer Gebilde hinein, und zw ar in eigenartiger W eise: die kontrollierten Staaten sind in Genf anwesend, der kontrollierende O berstaat ist abwesend. Noch aus einem w eiteren G runde ist der Völkerbund von A m erika her in seiner S tru k tu r bestimm t. In A rt. 21 seiner Satzung hat er sich der M onroe-Doktrin ausdrücklich unterw orfen. Es heißt in diesem A rtikel, daß die M onroe-Lehre m it der Satzung des G enfer V ölkerbundes „nicht

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unvereinbar“ sei. Ob sie das w irklich ist, w äre eine F rage für sich. D er praktische Sinn der E rklärung liegt darin, daß die M onroe-Lehre mit allen ihren w eittragenden Auslegungen der V ölkerbundssatzung vorgeht. D a­ mit hat der Genfer V ölkerbund auf jede ernsthafte Einwirkungsm öglich­ keit gegenüber den am erikanischen Staaten verzichtet. D enn der erste G rundsatz dieser „Lehre“ besagt, daß keinerlei Einmischung eines euro­ päischen (das heißt nach der praktischen Bedeutung außeram erikanischen) Staates oder Systems in A ngelegenheiten des am erikanischen Köntinents stattfinden darf. Die Auslegung dieser vieldeutigen D oktrin und ihre An­ wendung im konkreten Einzelfall ist ganz in der H and der V ereinigten Staaten von Am erika. Soweit es sich um Beziehungen zwischen am eri­ kanischen Staaten oder um Beziehungen eines außeram erikanischen Staates zu amerikanischen Staaten handelt, ist daher eine Zuständigkeit oder Be­ fugnis des G enfer V ölkerbundes ausgeschlossen. Man darf sagen, daß der V ölkerbund auf dieser Seite gelähm t ist und auf diesem Bein hinkt. Trotz­ dem aber sind selbstverständlich die Rechte der am erikanischen M itglied­ staaten innerhalb des G enfer V ölkerbundes die gleichen wie die anderer M itgliedstaaten. Mit andern W orten: D ie Entscheidungen des G enfer Völkerbundes sind durch die Beteiligung der am erikanischen M itglieder beeinflußt, w ährend um gekehrt ein Einfluß des V ölkerbundes auf am eri­ kanische Verhältnisse infolge der M onroe-D oktrin ausgeschlossen ist. Die Vereinigten Staaten sind in Genf nicht anwesend; aber wo die MonroeD oktrin anerkannt ist und andere am erikanische Staaten anw esend sind, können sie tatsächlich auch nicht abw esend sein. Diese Mischung von A bw esenheit und A nw esenheit ist nun alles andere als ein kurioser Zufall. Sie ist nicht etw a durch die persönlichen E igenarten des Präsidenten Wilson oder aus ähnlichen p eripheren G ründen zu er­ klären. Sie liegt in der G esam tstruktur der heutigen europäischen V er­ hältnisse tief begründet und w iederholt sich bei jed e r wichtigen Frage. Es muß jedem aufm erksam en Betrachter auf fallen, wiei die V ereinigten Staaten an der Regelung der deutschen R eparationsfragen entscheidend beteiligt sind und dabei trotzdem form ell die äußerste Zurückhaltung wahren. In der Reparationskom m ission saß kein am erikanisches Mitglied. Die vier M itgliedstaaten sind: Frankreich, England, Italien und Belgien. Das Londoner Protokoll vom 16. August 1924, in welchem die heutige Rege­ lung der Reparationszahlungen auf G rund des sog. D aw esplanes enthalten ist, beruht auf V erträgen zwischen dem Deutschen Reich und der R epa­ rationskommission bzw. den in der Reparationskom m ission vertretenen alliierten Mächten. Dazu kom men w eitere Interessenten, und das Londoner Protokoll ist unterzeichnet von Belgien, G roßbritannien (mit Dominions und Indien), Frankreich, Griechenland, Japan, Italien, Portugal, Rum änien und dem serbo-kroatisch-slowenischen Königreich. In der Einleitungsform el ist aber gesagt, daß die V ereinigten Staaten sich „durch V ertreter mit genau um grenzter Vollmacht“ angeschlossen haben. Ebenso sind die Ver-

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einigten S taaten an dem P ariser V ertrag vom 14. Jan u ar 1925 beteiligt, durch w eldien England, Frankreich, Italien, Japan, Belgien, Brasilien, Griechenland, Polen, Portugal, Rum änien, Tschecho-Slowakei und das serbo­ kroatisch-slowenische Königreich sich über die V erteilung der A nnuitäten einigen. Das E igenartige und A uffällige liegt nun darin, daß in allen ent­ scheidenden, d. h. politischen Augenblicken der D urchführung des Dawesplanes ein „am erikanischer B ürger“ erscheint. Nach § 2 a des A rtikels I der Anlage IV w ird, w enn die R eparationskom m ission über eine F rage des D aw esplanes zu entscheiden hat, ein B ürger der V ereinigten Staaten von Am erika, „a citizen of the U nited States of A m erica“ m it Stimmrecht an den B eratungen teilnehm en; er ist „B ürger der V ereinigten Staaten“, aber nicht deren offizieller V ertreter; er w ird durch einstim migen Beschluß der Reparationskom m ission, gegebenenfalls durch den Präsidenten des Stän­ digen Gerichtshofes im H aag, aber nicht von der am erikanischen Regierung ernannt. Bei d er Feststellung einer V erfehlung gegen die R eparationsver­ pflichtungen, dem eigentlich politischen A kt des Reparationsvollzugs, also bei der Entscheidung über die Voraussetzung der Zulässigkeit von Sank­ tionen, erscheint w iederum ein „B ürger der V ereinigten S taaten“. Die durch die R uhrbesetzung berühm t gew ordene Anlage II >zu Teil VIII des V er­ sailler V ertrages, die das Sanktionsrecht behandelt, ist im Londoner Proto­ koll m odifiziert, aber keinesw egs aufgehoben. Nach § 16 a dieser Anlage II, in der Fassung des A rtikels I der Anlage IV des Londoner Protokolles, ist es Sache der Reparationskom m ission, über jeden A ntrag auf Feststellung einer N ichterfüllung Deutschlands zu befinden; bei A blehnung des A ntrags oder M ehrheitsbeschluß kann jedes M itglied der Reparationskom m ission eine Schiedskommission anrufen; der Vorsitzende der Schiedskommission ist imm er ein am erikanischer B ürger. Auch Streitigkeiten desU bertragungs(Transfer-) Kom itees über die Frage, ob deutscherseits „verabredete finan­ zielle M anöver“ vorliegen, entscheidet ein Schiedsgericht und muß der Vor­ sitzende des Schiedsgerichts ein am erikanischer B ürger sein. Diese eigen­ artige Rolle eines nichtoffiziellen und doch auch w ieder nicht bloß privaten am erikanischen B ürgers ist ein Symptom und ein Symbol. Vom deutschen Standpunkt aus ist zu sagen, daß in der H eranziehung des „am erikanischen B ürgers“ die W ahrscheinlichkeit einer gerechteren Entscheidung liegt, als sie von den europäischen M itgliedern der Reparationskom m ission, d. h. von den europäischen R egierungen, e rw a rte t w ird. Daß die w ichtigsten N achkriegsfragen — R eparation und in teralliierte Schulden — nicht ohne die V ereinigten Staaten von A m erika geregelt w erden können, versteht sich, von selbst. D aß die V ereinigten Staaten auf G rund der M onroe-Lehre jede Einmischung in politische V erhältnisse Europas zu verm eiden suchen, ist bei der prinzipiellen Bedeutung dieser Lehre erklärlich. A ber jen e wirtschaftlichen F ragen haben eine unverm eid­ lich politische Bedeutung, und so w ird eine wirkliche Abw esenheit doch w ieder undurchführbar. D as E rgebnis ist jene Mischung von Abw esenheit

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und A nw esenheit der V ereinigten Staaten, w ie sie das V erhältnis des V ölkerbundes zu A m erika wie Europas zu A m erika kennzeichnet. Es liegt, wie schon erw ähnt, tief in der gegenw ärtigen S tru k tu r E uropas begründet und hat eine sehr k lare geschichtlich-politische Ursache. D enn es w aren die Vereinigten Staaten von A m erika, die den W eltkrieg entschieden haben. Sie haben auf der P ariser Friedenskonferenz m itgew irkt und dam als schon eine Reihe von M ilderungen zugunsten D eutschlands durchgesetzt, also dam als schon zwischen Siegern und Besiegten eine A rt schiedsrichterliche Stellung eingenommen. Bis auf den heutigen Tag besteht diese schieds­ richterliche Stellung der V ereinigten Staaten tatsächlich w eiter. Sie äußert sich in verschiedenartigen, aus m annigfachen G ründen form ell verschleier­ ten M ethoden der Beteiligung und E inw irkung, aus welchen dann jene eigenartige V erbindung von A bw esenheit und A nw esenheit entsteht. Aber die Beteiligung ist darum nicht w eniger effektiv und nicht w eniger inten­ siv. t ü r unsere Frage, fü r das V erhältnis von V ölkerbund und Europa, liegt darin schon eine A ntw ort. Nicht der G enfer V ölkerbund ist der Schieds­ richter der fundam entalen europäischen Fragen, sondern die V ereinigten Staaten, und was der Besiegte des W eltkrieges an G erechtigkeit und Billig­ keit noch zu erw arten hat, das e rw a rte t er nicht vom G enfer Völkerbund, sondern von den Vereinigten Staaten. W enn der V ölkerbund nicht im stande w ar, unparteiische Instanz zu sein und die T eilung E uropas in Sieger und Besiegte zu überw inden, so kom m t er in keinem wesentlichen P u n k te für das G esam tproblem Europas in Betracht. D enn die erste Aufgabe, die erste, unum gänglichste Leistung einer europäischen Staatenvereinigung m üßte d arin bestehen, dieser gefährlichen U nterscheidung ih r politisches Gift zu nehmen. D er G enfer V ölkerbund w ill kein spezifisch europäischer, sondern ein universaler Bund sein. A ber das W ort „universal“ h at einen mehrfachen Sinn. Es w ird meistens als eine bloß räumliche, te rrito ria le U niversalität auf gef aßt in dem Sinne, daß der V ölkerbund alle Staaten der E rde um ­ fassen sollte. Mit einer solchen räum lichen U niversalität w äre selbstver­ ständlich nicht viel erreicht, w enn nicht eine sachliche U niversalität hinzu­ käme. D enn auch eine V erwaltungsgem einschaft, ein W eltpostverein, hat diese räumliche U niversalität ohne entscheidende politische W irkung und Bedeutung. Eine sachliche U niversalität aber besteht nicht n u r darin, daß der V ölkerbund sich mit je d e r den F rieden der E rde berührenden Angelegenheit befassen, also jed e wichtige politische F rage an sich ziehen und zu ihr Stellung nehm en kann. D eshalb k an n er im m er noch das poli­ tische W erkzeug einer G ruppe von Staaten im K am pf gegen andere Staaten, die O rganisation des status quo von Versailles, die L egitim ierung der Beute sein. E rst w enn er sich über den politischen Egoismus einzelner Mächte und G ruppen erhebt, w enn insbesondere die U nterscheidung von Siegern und Besiegten in der Sache — nicht fü r Konferenzhöflichkeiten und Festreden — so w eit beseitigt ist, daß d er Besiegte das G efühl haben kann, gerecht behandelt zu w erden, w ird m an von einer echten U niversali-

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tät sprechen dürfen. F ü r die europäischen Staaten und Angelegenheiten ist diese echte U niversalität so wenig erreicht, daß im Gegenteil die Anwesen­ heit außereuropäischer, insbesondere am erikanischer Staaten im Völker­ bund als ein Elem ent der Gerechtigkeit und Billigkeit gelten kann. Soweit es sich um die Vereinigten Staaten handelt, dient jene Verbindung von Abwesenheit und A nw esenheit dem gleichen Ergebnis einer gewissen N eutralität. D er V ölkerbund ist also kein universaler Bund, w eder im räumlichen noch in irgendeinem sachlichen Sinne. Weil er aber nicht universal ist, braucht er nicht deshalb schon ein europäischer Bund zu sein. D afür ist seine Verbindung mit den F riedensverträgen von Versailles, St. Germain, Trianon unc^N euilly zu eng. Die Besiegten dieser vier Friedensverträge sind zw ar sämtlich europäische, in der Hauptsache sogar mitteleuropäische Staaten. D er Inhalt der F riedensverträge betrifft infolgedessen hauptsäch­ lich E uropa und um faßt keine Regelung des W eltfriedens, d. h. des Friedens der ganzen Erde, keine universale politische O rdnung. D aran verm ag die allen vier F riedensverträgen vorangestellte Völkerbundsatzung nichts zu ändern. Die vier F rieden von 1919/20 sind kein W eltfrieden. Denn auch der Krieg von 1914—18 w ar nicht in der vollen Bedeutung des W ortes ein „W eltkrieg“. E r w ird gewöhnlich so bezeichnet, in einem gewissen Sinne mit Recht, weil nämlich seit dem Eingreifen Am erikas die ganze W elt gegen zwei m itteleuropäische, im wesentlichen kontinentale Staaten Krieg führte und weil das Deutsche Reich mit einer unerw arteten, un­ glaublichen K raft diesen Kam pf gegen die W elt m ehrere Jahre ausgehalten hat. A ber das w ar nicht in dem Sinne ein W eltkrieg, wie es z. B. heute ein Krieg w äre, in welchem auf der einen Seite die angelsächsischen Imperien, auf der andern Rußland, Japan und C hina einander gegenüber­ ständen. Das bedeutet: D er Krieg von 1914 bis 1918 w ar kein W eltkrieg in dem Sinne, wie die napoleonisehen Kriege von 1799 bis 1815 europäische Kriege waren. Die europäische Koalition gegen Napoleon I. um faßte ganz Europa; die beiden P arteien w aren militärisch und wirtschaftlich einander gewachsen; die Kriege erfaßten den ganzen europäischen Kontinent, ihre Beendigung w ar infolgedessen ein e u r o p ä i s c h e r Friede. Auf dem W iener Kongreß w urde eine G esam tregelung der europäischen V erhält­ nisse getroffen, die man als eine systematische O rdnung Europas bezeichnen kann und deren politische G arantie, die heilige Allianz vom 14. Septem ber 1815, ein politisches Bündnis zwischen Rußland, Österreich und Preußen, seit dem B eitritt Frankreichs (1818) in viel höherem Maße den G edanken einer europäischen E inheit verw irklichte als der G enfer V ölkerbund vom Jahre 1919. Das Schicksal der heiligen Allianz, des einzigen europäischen Gesamt­ systems der letzten Jahrhunderte, zeigt besser als jede Konstruktion, welche politischen Schwierigkeiten einer Einigung Europas entgegen­ stehen. D enn kaum tra t damals ein solches europäisches System auf, als auch sofort von der anderen Seite die G egengruppierung auftrat. Die (unter

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D er V ölk erb u nd u nd Europa

Billigung Englands) von den V ereinigten Staaten im Jah re 1823 prokla­ m ierte M onroe-Doktrin richtete sich eben gegen diese heilige A llianz und stellte dem Versuch eines europäischen Bundes den einheitlichen am erika­ nischen Kontinent gegenüber, noch bevor dieser K ontinent vollständig kolonisiert und besiedelt w ar. Eine politische Einigung E uropas w äre w elt­ politisch ein u n erhörter Vorgang. Sie w äre etw as viel Unwahrscheinlicheres als die Einigung Deutschlands im 19. Jah rh u n d ert, von der m an doch sagen muß, daß sie trotz einer generationenlangen V orbereitung, trotz natio­ naler Freiheitskriege und einer nationalen R evolution doch n u r durch die G enialität eines einzigen Mannes und n u r m it H ilfe günstiger außenpoli­ tischer Konstellationen möglich w urde. Jedem Staatsm ann des 19. Ja h r­ hunderts, vor allem aber Bismarck selbst, w ar das Erstaunliche dieses Gelingens bewußt, und keiner hat sich eingebildet, eine d erartige politische Neubildung könnte ohne das Risiko gefährlicher Feindschaften, ohne gefährliche K riege und unabsehbare außenpolitische W irkungen vor sich gehen. D er W eltkrieg von 1914 bis 1918 ist n u r eine von den Folgen der politischen Einigung Deutschlands. Eine politische Einigung Europas aber w äre im Vergleich zu dieser nationalen Einigung Deutschlands ein w ahres W under. W enn dieses Europa nicht bloß eine harm lose D ekoration, sondern eine politische, d. h. von den wechselnden wirtschaftlichen Interessen und K onjunkturen unabhängige, dauernde und aktionsfähige Einheit sein soll, so w äre es nicht weniger als eine neue W eltmacht. Ih re bloße Existenz w ürde neue Freund- und Feindgruppierungen bew irken, und m an m üßte abw arten, ob die bestehenden W eltmächte, insbesondere die angelsäch­ sischen Staatensysteme, ein Interesse daran haben, neben sich ein politisches Gebilde von einiger K raft und Selbständigkeit entstehen zu lassen. Wie dem aber auch sei, der G enfer V ölkerbund w äre auf keinen F all das M ittel einer solchen politischen Einheit. Sein politischer Zweck besteht nach fra n ­ zösischer Auffassung eher darin, den europäischen status quo von 1919 zu stabilisieren und dem Erfolg der A lliierten die W eihe der Legitim ität zu geben. E r g aran tiert jedenfalls den bestehenden S taaten ih re politische U nabhängigkeit und Selbständigkeit. Sollte es w irklich zu ernsthaften Einigungsbestrebungen kommen, so w ürde er also wahrscheinlich fü r diese Einigung ein noch w eit stärkeres H indernis bilden, als es der Deutsche Bund von 1815 für die nationale Einigung Deutschlands gewesen ist. Auch unter diesem Gesichtspunkt einer denkbaren politischen Einigung Europas erscheint der G enfer V ölkerbund nicht in irgendeinem spezifischen Sinne als eine europäische O rganisation. Die Frage nach dem V erhältnis von V ölkerbund und E uropa fü h rt also zu einem negativen Ergebnis. Nach seiner heutigen G estaltung und T ätig­ keit kann man wohl sagen, daß der G enfer V ölkerbund hauptsächlich euro­ päische A ngelegenheiten behandelt, er ist aber w eder der A usdruck einer gesamteuropäischen Selbstbestimm ung noch in einer besonderen W eise der Schiedsrichter der eigentlich entscheidenden europäischen Fragen, näm ­ lich der R eparationen und der in te ralliierte n Schulden, die er w eder regeln

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kann nodi auch n u r regeln will. Stimmungsmäßig und gefühlsmäßig w ird der G edanke eines W eltfriedens m it dem G enfer V ölkerbund in Ver­ bindung gebracht, und abgesehen von den politischen Interessen einzelner Großmächte ist es hauptsächlich diese V erbindung und das große Interesse der zw eiten Internationale, das den V ölkerbund moralisch trägt. Das kann dazu führen, daß der G enfer V ölkerbund vielleicht einm al einen euro­ päischen K rieg verh in d ert — gewiß etw as sehr W ertvolles. A ber dam it sind die ungeheuren europäischen Problem e noch nicht gelöst. Die eigent­ liche B efriedung Europas — von seiner Einigung ganz zu schweigen — w ird infolge d er eigenartigen V erbindung des V ölkerbundes m it den Friedens­ verträgen ebensosehr v erh in d ert w ie gefördert. Die Unterscheidung von Siegern und Besiegten, Bewaffneten und Entwaffneten, von kontrollierten und nichtkontrollierten, o kkupierten und freien, mit „Sanktionen“ be­ drohten und ih re „Sicherheit“ genießenden Staaten, diese fundam en­ talen Ungleichheiten sind durch den G enfer V ölkerbund nicht aufgehoben. D aran h at auch die A ufnahm e Deutschlands in den V ölkerbundsrat nichts geändert. Es ist notw endig, das m it aller K larheit zu sehen, dam it die Begriffe „V ölkerbund“ und „E uropa“ auf hören, suggestive A nknüpfungs­ punkte fü r irgendw elche irrefü h ren d en K onstruktionen zu sein und der w ahre Schiedsrichter E uropas erk en n b ar w ird. Man kann dieses Ergebnis „negativ“ nennen, aber es ist sicher nicht w ertlos. F ü r das Interesse intellek­ tueller Redlichkeit ist jed e zerstörte Illusion ein großer Gewinn.

12. Völkerrechtliche Probleme im Rheingebiet (1928) D ie deutschen G ebiete am R hein sind heute das O b jek t einer völker­ rechtlichen A usnahm ebehandlung, die sowohl in der W eite ihres Inhaltes, wie in dem Maß ih re r D auer, wie endlich auch in der K om pliziertheit und V ieldeutigkeit ih re r Regelung ganz beispiellos ist. Die Geschichte zivili­ sierter V ölker d ü rfte keinen zw eiten auch n u r ähnlichen F all einer derartig vielgestaltigen, über ein national homogenes G ebiet verhängten Reihe von A bnorm itäten kennen. Trotz der vielen E rörterungen über das R heinland­ problem kom m t der eigentliche C h a ra k te r dieses Zustandes nur allmählich zum Bew ußtsein. D enn auf der einen Seite liegt es nahe, die Sonderbehand­ lung der R heinlande in dem großen Meer der Ungerechtigkeiten und H ärten des V ersailler V ertrages auf gehen zu lassen, sich m it einem summa­ rischen G efühl heftiger Em pörung zu begnügen und dann n u r ganz auf­ dringliche Erscheinungen, wie die Besatzungsarm ee, zu sehen; auf der anderen Seite beschränkt sich das Interesse juristischer und adm inistrativer Fachleute gern auf technische Einzelfragen und v e rliert in der Fülle der D etails, die ein solcher Zustand täglich m it sich bringt, leicht den Blick 7

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für das prinzipiell Ungeheuerliche dieser geschichtlichen, politischen und rechtlichen Abnormität. Das bunte, eigentlich phantastische N ebeneinander der heutigen Be­ handlung rheinischen Landes läßt sich durch folgende Stichworte kenn­ zeichnen: Saargebiet, okkupiertes Gebiet, entm ilitarisiertes G ebiet und endlich (nach A rt. 312 VV) i n v e s t ie r te s Gebiet. Jeder einzelne dieser vier Komplexe enthält in sich w iederum so viele F ragen, daß es im Rahm en dieses kurzen V ortrages n u r d arau f ankom m en kann, einigö G rundlinien aufzuw eisen und dadurch jene gefährliche, aber vielleicht typisch-deutsche P o larität zu verm eiden: ein starkes, aber unklares G efühl der E ntrüstung in Verbindung m it einer technisch-fleißigen und sogar pedantischen, irgend­ einen Zustand als nun einm al gegeben hinnehm enden K leinarbeit. Immer ist daher der vierteilige G esam tkom plex im Auge zu behalten, dieses Tier mit vier Köpfen, von denen zwei, nämlich Saarregierungskom m ission und Interalliierte Rheinlandkom m ission, schon seit langem funktionieren, w ährend die beiden anderen noch erst im Wachsen begriffen sind: Ent­ m ilitarisierungskom m ission und Investigationskom m ission. Die vier Kom plexe sind in sich w iederum sehr verschieden, und das politische Schicksal der von ihnen erfaßten L änder kann infolgedessen eben­ falls verschieden sein. W as die beiden ersten, Saargebiet und besetztes Rheinland, angeht, so braucht der In h alt der fü r sie geltenden völkerrecht­ lichen Bestimmungen, wie er sich aus dem V ersailler V ertrag und dem Rheinlandabkom m en ergibt, hier nicht w iederholt und e rö rte rt zu werden. Die Saarregierungskom m ission, d. h. die in ih r vereinigten, von ihren R egierungen instruierten V ertreter frem der Mächte, üben die staatliche H oheit im Saargebiet aus und regieren dort u n ter einer sehr proble­ matischen K ontrolle des V ölkerbundes. H ier ist die deutsche Staatshoheit ganz verdrängt. D ie Rheinlandkom m ission fü h rt in dem noch besetzten Teil der Rheinlande eine N ebenregierung, die in kritischen Zeiten, wie bei der Ruhrbesetzung und in der Separatisten zeit, ebenfalls zu einer völligen V erdrängung deutscher G ebietshoheit führen kann, in ruhigen Zeiten dagegen zurücktritt, ohne jedoch auf ihre w eitgehenden und dehn­ baren Befugnisse grundsätzlich zu verzichten. Beide Kommissionen üben Gesetzgebungs- und Regierungsbefugnisse aus und herrschen infolgedessen im eigentlichen Sinne. Ihre Beschlüsse sind das Ergebnis des Kompromisses der frem den Staaten, welche die Kommission beherrschen, hauptsächlich also Frankreichs und Englands. D ie H errschaft solcher Kommissionen ist die spezifische O rganisationsform , durch welche ein Land und seine Bevölke­ rung zum O b je k t frem der Kompromisse gemacht w ird, ein Zustand, der in seiner ganzen Im m oralität n u r einm al bew ußt zu w erden braucht, um unhaltb ar zu werden. A ber wenigstens nach dem T ext der V erträge ist dieser Zustand nicht dauernd und seine Beendigung vorgesehen. Im Saargebiet soll 1935 eine Volksabstimmung stattfinden und danach „der V ölkerbund“ (V ölkerbunds­ versam m lung oder V ölkerbundsrat? wahrscheinlich der letzte) darüber

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entscheiden, ob das Saargebiet ganz oder teilw eise unter die deutsche Staatshoheit zurückkehrt, zu Frankreich kommt oder der gegenwärtige Zustand dauernd wird. H ierbei sind m ehrere Besonderheiten der vertrag­ lichen Regelung wohl zu beachten, die ein ungerechtfertigter Optimismus oft übersieht: erstens ist die F ortdauer des heutigen Zustandes als eine Möglichkeit vorgesehen; zweitens ist es form ell nicht die Volksabstimmung, sondern der V ölkerbund, der unter Berücksichtigung des W u n s c h e s (voeu) der B evölkerung entscheidet; und drittens ist eine T e i l u n g des Saargebietes möglich, so daß sich hier die Ä hnlichkeit m it der für O ber­ schlesien getroffenen Regelung und die E rinnerung an die Teilung O ber­ schlesiens sofort aufdrängt. D ie K o rrek tu r jenes unmoralischen und uner­ träglichen Zustandes, welche darin liegt, daß die Frem dherrschaft im Saar­ gebiet eben n u r 15 Jah re dauern soll, w irk t also leider nicht so eindeutig und beruhigend, wie es auf den ersten Blick selbstverständlich sein sollte. Was die D auer der R heinlandbesetzung angeht, so ist sie ebenfalls für eine beispiellos lange Zeit (nämlich 15 Jah re für die dritte Zone, also besonders auch für den m ilitärisch und politisch besonders wichtigen P unkt Mainz) vorgesehen, aber im m erhin befristet. Auch hier sind zahlreiche Auslegungsfragen entstanden, welche den deutschen Anspruch auf eine vorzeitige Räum ung, ja, selbst den Anspruch auf Räum ung nach A blauf jener F risten gefährden und enttäuschen. Die Verbindung der Räum ungs­ frage mit der F rage der Sicherheit Frankreichs einerseits und mit der Reparationsfrage andererseits läßt hier so viele M einungsverschiedenheiten und Differenzen entstehen, daß fast jedes W ort der vertraglichen Regelung (Art. 428f VV) problem atisch w ird. H ier zeigt sich dann in k la re r Weise, wie sehr die W orte einer rechtlichen N orm ierung ihren Inhalt ändern, sobald sie in den Kam pf politischer Gegner hineingezogen werden. An Begriffen wie A brüstung, Angriffskrieg, Sicherheit, M inderheit, haben w ir diese E rfahrung handgreiflich machen müssen und gesehen, daß eine rechte liehe N orm ierung als bloße N orm ierung hilflos und unsicher und die Behauptung eines entpolitisierten Völkerrechts ein offenbarer, höchst poli­ tischer Betrug ist. W ährend die beiden ersten Teile des rheinischen Komplexes, Saar­ regierung und R heinlandbesetzung, als wenigstens grundsätzlich vorüber­ gehende Erscheinungen gekennzeichnet sind, sollen die beiden anderen, E ntm ilitarisierung und Investigation, von unbegrenzter Zeitdauer sein. Im Vergleich zu den sichtbaren und fühlbaren Einw irkungen, wie sie die Saarregierung und die R heinlandbesetzung mit sich bringen, besonders im Vergleich zur A nw esenheit einer großen feindlichen Armee, können diese beiden anderen Teile vielleicht unbedeutend und nebensächlich erscheinen. Aber dafür sind sie eben dauernd und auch im übrigen nichts weniger als harmlos. Das Investigationsrecht, durch welches die Entwaffnung Deutsch­ lands k o n trolliert w ird, soll nach Art. 213 VV durch einen M ehrheits­ beschluß des V ölkerbundsrates ausgeübt werden. Es besteht für ganz Deutschland. Seinen eigentlichen Inhalt und seine politische Bedeutung 7*

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dürfte es erst durch die P raxis des V ölkerbundsrates erhalten, so daß sich vorläufig hier noch nicht viel K onkretes aussagen läßt. D er V ölkerbundsrat hatte am 27. Septem ber 1924 ein sogenanntes Investigationsprotokoll geneh­ migt, in welchem für die entm ilitarisierten G ebiete die Einrichtung „stän­ diger Elem ente“ (éléments stables) vorgesehen w ar. D ie deutsche Regierung hat es erreicht, daß diese außerordentlich gefährlichen und unabsehbaren ständigen Elemente zunächst auf gegeben w urden. Ein Beschluß des Völker­ bundrates vom 11. Dezem ber 1926, betreffend das Investigationsrecht, sagt ausdrücklich: „Es besteht Einverständnis darüber, daß die Bestimmungen des Art. 213 des F riedensvertrages mit D eutschland über die Investi­ gationen auf die entm ilitarisierte Rheinlandzone in gleicher W eise wie auf die übrigen Teile Deutschlands anw endbar sind. Diese Bestimmungen sehen für diese Zone ebensowenig w ie fü r andere G ebiete die Einrichtung einer besonderen K ontrolle durch ständige oder dauernde lokale Elemente vor. ln der entm ilitarisierten R heinlandzone können d erartige besondere, nicht im A rtikel 213 vorgesehene Elem ente n u r durch ein Abkommen zwischen den beteiligten R egierungen eingerichtet w erden.“ D as klingt beruhigend, weil damit die ständigen lokalen Elem ente auch für die ent­ m ilitarisierte Zone zurückgewiesen sind, und w ir w ollen hoffen, daß nicht eine schikanöse Silbenstecherei behauptet, dadurch seien n u r die ständigen lokalen, nicht andere ständige Elem ente ausgeschlossen. Zugleich aber kann in diesem Beschluß ein A nerkenntnis gefunden w erden, durch welches der Inhalt der Investigation sich ausdehnt, indem nämlich der Zweck und Maß­ stab für die Untersuchung sich ausdehnen: A r t.213 sieht eine Investi­ gation nu r zur D urchführung der allgem einen Entw affnung vor, w ährend der unter M itw irkung Deutschlands gefaßte Beschluß vom 11. D ezem ber 1926 Investigationen auch zur K ontrolle der D urchführung der speziellen Entm ilitarisierungsbestim m ungen anerkennt. Mit Recht ist auf das Bedenk­ liche dieser Abmachung hingew iesen w orden1. Es ist daher die E ntm ilitarisierung, die hier am m eisten interessiert. Selbst wenn einm al wirklich das Problem der Besetzung und des Saar­ gebiets gelöst sein sollte, wenn die stark e französische A rm ee m it ihrem großen K riegsm aterial aus Mainz abm arschiert ist und das deutsche Gebiet vollständig geräum t hat, w enn auch im Saargebiet w ieder deutsche Be­ hörden tätig sind, so bleibt dieses Problem der E ntm ilitarisierung als das eigentliche Problem der R heinlande und der französisch-deutschen Bezie­ hungen w eiter bestehen. Umfang und Inhalt der E ntm ilitarisierung sind öfters dargestellt w orden und vor allem in dem Buch von K. Linnebach12 m it gutem M aterial ein­ drucksvoll auseinandergesetzt. Es genügt hier, d aran zu erinnern, daß ein geschlossenes deutsches G ebiet von insgesam t über 55 000 qkm, nämlich das ganze deutsche linke R heinufer und ein G ebietsstreifen von 50 km B reite 1 Wolf V . Dewall, „Frankfurter Zeitung“, 23. September 1928, 1. Morgenblatt. 2 Die Entmilitarisierung der Rheinlande und der Vertrag von Locarno, eine völkerreditliclie Untersuchung; Rheinisdie Schicksalsfragen, Sdirift 18/20, Berlin 1927.

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auf der rechten Seite des Rheins von Basel bis zur holländischen Grenze davon erfaßt ist, ein wirtschaftlich hochentwickeltes Gebiet mit großen und wichtigen Städten, wie K arlsruhe, Mannheim, F ran k fu rt, Köln, Düsseldorf und Essen, vielleicht der reichste Teil Deutschlands. Die Entm ilitarisierung besteht nach A rt. 42 , 4 3 VV darin, daß es Deutschland untersagt ist, in diesem Gebiet Befestigungen beizubehalten oder zu errichten, daß w eder ständig noch zeitweilig deutsche T ruppen hier unterhalten oder angesam ­ melt w erden dürfen, daß m ilitärische Übungen jed e r A rt und schließlich alle „m ateriellen“ (im englischen Text: „ständigen“) „V orkehrungen für eine Mobilmachung“ verboten sind. Jede dieser Bestimmungen eröffnet Möglichkeiten ausdehnender Auslegung, die bei einer politischen Zweck­ interpretation unverm eidlich ist. Insbesondere legt ein Begriff wie „Vor­ kehrungen fü r eine Mobilmachung“ grenzenlose Interpretationen nahe, nach welchen schließlich jed er Straßenbau, jed er Bahnhof, jed er T u rn ­ verein, jed er Schutz der B evölkerung durch Gasm asken als V orkehrung für eine Mobilmachung hingestellt w erden kann. Diese Entm ilitarisierung bedeutet nach ihrem Inhalt, nach ihrem territo rialen Umfang, nach ih re r D auer und vor allem auch wegen der Einseitigkeit, mit der sie nu r dem Deutschen Reich auferlegt ist, etwas völlig anderes als die bisherigen, in der Geschichte bekannten, älteren oder neueren F älle von Entm ilitarisie­ rung1. Es handelt sich nicht etw a um eine N eutralisierung des Gebietes, die zur Folge hätte, daß das Gebiet nicht Kriegsschauplatz w erden darf. Im Gegenteil, diese A rt der Regelung hat den Sinn, alle Möglichkeiten der V erteidigung zu beseitigen und dadurch ein prädestiniertes Kriegsgebiet zu schaffen, das in voller W ehrlosigkeit und H ilflosigkeit dem Einmarsch französischer T ruppen und ih re r m ilitärischen A ktionen für alle Zeiten öffen liegt, eine A rt Glacis zwischen Frankreich und Deutschland, aus­ schließlich auf Kosten Deutschlands eingerichtet und dazu bestimmt, 14 Millionen Deutsche zu O pfern etw aiger Kriegsm aßnahm en und einer ungeheuerlichen A rt von Geiseln zu machen. D ieser weitgehende Zustand der E ntm ilitarisierung w ar zunächst n u r dadurch garantiert, daß jed e r Verstoß Deutschlands gegen diese dehnbaren Bestimmungen als „eine Störung des W eltfriedens und eine feindselige Handlung gegen jede Signatarm acht des V ersailler V ertrages gilt“ (Art. 44 VV). D er politische Sinn dieser W orte liegt darin, daß Deutschland wegen irgendeiner Bagatelle als A ngreifer fingiert w erden kann und nun das ganze System der völkerrechtlichen Scheinjurisprudenz, das echte und falsche K riegsverhütungs- und Kriegsächtungsrecht mit voller Wucht zu­ ungunsten Deutschlands funktioniert. D er E ntm ilitarisierte w ird eo ipso als A ngreifer fingiert und Deutschland erscheint gerade wegen seiner W ehrlosigkeit und Entm ilitarisierung automatisch als Störer des W elt­ friedens — eine w underbare Illustration zu der berühm ten Fabel von dem Wolf und dem Lamm oder zu der Geschichte von dem Kaninchen, dessen hilfloses Mümmeln der Wolf, unter dem Beifall seiner Freunde, als freche 1 So mit Recht Linnebach, a. a. O. S. 76.

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H erausforderung und Angriff bezeichnet und ahndet. Durch den V ertrag von Locarno vom 16. O ktober 1925 e rh ä lt nun diese G arantie des A rt. 44 teils eine neue Festigung, teils eine gewisse Einschränkung: eine Festigung, insofern gerade diese Entm ilitarisierungsbestim m ungen von neuem bestä­ tigt und bekräftigt w erden; eine gewisse Einschränkung, w eil einseitiges Vorgehen und Selbsthilfe gegen Deutschland n u r dann zulässig sind, wenn ein flagranter Verstoß gegen die A rt. 42, 43 VV vorliegt, außerdem dieser Verstoß eine nicht provozierte A ngriffshandlung darstellt und wegen der Zusammenziehung von S treitk räften in der entm ilitarisierten Zone eine sofortige A ktion notwendig w ird. U nter dieser dreifachen Voraussetzung sind die Garantiem ächte von Locarno auch verpflichtet, dem verletzten Staate (das ist praktisch Frankreich oder Belgien) gegen Deutschland bei­ zustehen, wobei sie aber über das Vorliegen dieser V oraussetzungen selbst entscheiden. Abgesehen von jenem an drei V oraussetzungen gebundenen F all eines „flagranten Verstoßes“ ist Selbsthilfe verboten und stellt der V ölkerbundsrat fest, ob ein Verstoß oder eine V erletzung der E ntm ilitari­ sierungsbestim mungen vorliegt. D as bedeutet zweifellos gegenüber der bisherigen P raxis Frankreichs einen Fortschritt zugunsten Deutschlands, einen Schutz insbesondere gegen französische Invasionen, wie sie unter verschiedenen juristischen E tiketten, w ie Sanktionen, friedliche Maß­ nahmen, Exekutionen des V ertrages vor sich gegangen w aren (Besetzung F rankfurts im Mai 1920, rheinischer Städte 1921, R uhrgebiet 1923). D er V ölkerbundsrat kann in solchen F ällen richtiger A uffassung nach eine Verletzung nur einstimmig bejahen, wobei die streitenden Teile bei der Abstimmung nicht m itgezählt w erden1. Bei der großen Zahl der M itglieder des V ölkerbundsrates (gegenw ärtig 14) und der V erschiedenartigkeit seiner Zusammensetzung liegt darin eine gewisse Sicherheit gegen ungerechte Behauptungen eines Verstoßes. A ndererseits ist es politisch selbstverständ­ lich, daß Großmächte wie Frankreich oder E ngland ihre P olitik nicht von der Ansicht irgendeines kleinen, zufällig im V ölkerbundsrat vertretenen und ihm nicht gefügigen Staates abhängig machen w erden. D aher läßt sich über die wirkliche Bedeutung dieser Regelung noch nicht viel sagen. D er V ölkerbund (praktisch der V ölkerbundsrat) h at dann außer diesen beson­ deren Befugnissen auf G rund des Locarno-V ertrages auch noch die all­ gemeinen, aus der V ölkerbundssatzung sich ergebenden Befugnisse hin­ sichtlich der K riegsverhütung. II. Auf dieser Rechtsgrundlage spielen sich die V erhandlungen über die R heinlandräum ung ab, die auf der V ölkerbundsversam m lung vom Sep­ tem ber 1928 in Aussicht genommen w urden und fü r welche m an sich vor­ läufig, nach dem sogenannten Schlußprotokoll vom 16. Septem ber 1928, dahin geeinigt hat, daß amtliche V erhandlungen über die vorzeitige R hein­ landräum ung, ferner solche über die endgültige Regelung der R eparations1 K. Strupp, Das Werk von Locarno, Berlin 1926, S. 101.

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frage stattfinden sollen und für das entm ilitarisierte G ebiet eine Feststellungs- und Vergleidhskommission (commission de conciliation et de constatation) eingesetzt w erden soll. Diese letzte Abmachung, die sich auf das entm ilitarisierte G ebiet bezieht, ist fü r unseren Zusamm enhang von besonderem Interesse. Welches Ergebnis die w eiteren V erhandlungen haben w erden, läßt sich natürlich nicht Voraussagen. Bisher h at die deutsche Regierung jede Bindung wenigstens über das Ja h r 1935 hinaus entschieden abgelehnt. G egenüber den zahlreichen V erm utungen und Vorschlägen, die hier auf tauchen, muß aber immer w ieder die grundsätzliche F rage im Auge behalten w erden, ohne deren K lärung eine Einigung u n ter den deutschen Meinungen nicht möglich ist. D enn es gibt Deutsche, die jene geplante Vergleichskommission, sogar w enn sie über das Ja h r 1935 hinaus fungieren soll, für etw as Harmloses und im Vergleich zu einer Besatzungsarm ee sehr Vorteilhaftes halten, und außerdem in ihr eine brauchbare, die Entschei­ dung des V ölkerbundsrates vorbereitende, der V erständigung und dem Frieden dienende Instanz erblicken. Daß selbst sympathische und vertrauenerw eckende Nam en w ie V er­ gleich, Verständigung und Versöhnung und auch ein W ort w ie „con­ ciliation“ wenig über die Sache zum Ausdruck bringen, sollte nach den bisherigen politischen E rfahrungen selbstverständlich sein. Die politische W irklichkeit richtet sich leider wenig nach solchen A ushängeschildern und wir wissen, daß schöne und sogar heilige W orte im politischen Kam pf gebraucht werden, um den G egner durch moralische Suggestionen zu lähmen, wie die persischen Soldaten im K rieg gegen die Ä gypter K atzen unter den Arm nahmen, weil die Ä g ypter es nicht w agten, in der Richtung dieser heiligen T iere zu schießen. Eine Vergleichs- und V erständigungs­ politik kann trotz ihres Namens sehr einseitigen politischen Zwecken dienen. Es frag t sich deshalb, was eine eigens fü r das entm ilitarisierte Gebiet eingesetzte, der Entscheidung des V ölkerbundsrates auf jed en Fall vorgreifende Vergleichskommission in concreto bedeutet. Sie ist auf jeden Fall zunächst eine internationale Instanz, die als solche fü r einen abgegrenz­ ten Teil des Deutschen Reiches zuständig ist. Sie brin g t dadurch in die territoriale Einheit und Geschlossenheit des Deutschen Reiches von außen her eine gefährliche Unterscheidung, indem sie die bisher n u r norm ative Sonderbehandlung dieses Gebietes nun auch instanzenm äßig organisiert. Mit andern W orten: das entm ilitarisierte G ebiet ist bei einer solchen Kommission nicht n u r der im V ersailler V ertrag vorgesehenen Sonder­ r e g e l u n g , sondern auch einer Sonder o r g a n i s a t i ο n unterw orfen. Das ist rechtlich und politisch ein fundam entaler Unterschied und fü h rt weit über den V ersailler V ertrag hinaus. D enn dam it ist erreicht, daß ein bestim m ter Teil des Deutschen Reiches, und zw ar gerade die R hein­ lande, geradezu eine besondere Verfassung erhalten. Wichtige staatliche Funktionen, sowohl der Gesetzgebung als auch der R egierung und Ver­ waltung, unterstehen einer beständigen ausländischen, international­ gemischten K ontrolle und einem beständigen Vetorecht, und zw ar nicht wie

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in den zahlreichen anderen Fällen internationaler K ontrolle (Reichsbahnkommissar, Reichsbankkommissar, T reuhänder usw.) für das Deutsche Reich im ganzen, sondern nur hinsichtlich eines bestim m ten, geographisch abgegrenzten Teiles. Vor allem w ird eine solche E ntm ilitarisierungs­ kommission über Fragen der A ufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und O rdnung im R heinland zu befinden haben, daher auch über die politisch wichtigste Frage, die des A usnahm ezustandes und dam it über die Frage der Souveränität. Vierzehn M illionen Deutsche haben dann nicht m ehr die deutsche Regierung, sondern eine internationale Kommission als höchste A utorität über sich, um über die Lebensfrage der „öffentlichen Sicherheit und O rdnung“ zu entscheiden. D aß die Kommission n u r ausnahm sweise eingreift, macht sie nicht harm loser, sondern bew eist gerade den Zusammen­ hang mit der Frage der Souveränität. Es liegt nun nahe, zu erw idern, daß auch der V ölkerbundsrat, der ja bereits nach dem V ertrag von Locarno über Streitfälle aus der E ntm ilitari­ sierung zu entscheiden hat, eine solche internationale Kommission darstellt. Das ist gewiß richtig. D er \ rölkerbundsrat ist eine D iplom atenkonferenz, deren D elegierte von ihren R egierungen instruiert, u n ter politischen Ge­ sichtspunkten entscheiden und daher ebenfalls zu Kompromissen kommen, deren O bjekt und O pfer naturgem äß vor allem die deutschen Interessen sind, wenn es sich um eine die R heinlande betreffende Entscheidung handelt. Aber diese D iplom atenkonferenz dient doch, infolge der großen Zahl ih rer M itglieder und der Beteiligung n eutraler, namentlich skandi­ navischer und am erikanischer Staaten, nicht in demselben Maße den spe­ ziellen Kom promißinteressen Englands und Frankreichs. Sie ist auch nicht in der gleichen Weise eine speziell für das entm ilitarisierte deutsche Gebiet, das heißt im wesentlichen für die R heinlande bestehende Instanz, sondern h at noch zahlreiche andere Aufgaben. Sie muß ferner, w ie schon erw ähnt, eine Verletzung oder einen Verstoß einstimmig bejahen, was bei ihrer großen Zahl und Zusammensetzung nicht so leicht eintreten w ird wie bei einer speziellen Vergleichskommission. Es ist also keinesw egs gleichgültig, ob eine engere spezielle Entm ilitarisierungskom m ission u n ter irgendeinem Namen und angeblich nur „vorbereitend“ fungiert, oder ob der V ölker­ bundsrat unm ittelbar entscheidet. Eine „bloß vorbereitende“ Tätigkeit, an der zwei Großmächte wie Frankreich und England beteiligt sind, bedeutet für den V ölkerbundsrat in W ahrheit ein sehr maßgebliches „fait accom pli“ oder eine „res ju d icata“. D am it w äre der einzige Fortschritt, den der Ver­ trag von Locarno zugunsten Deutschlands gebracht hat, im Interesse der französisch-englischen Sonderinteressen w ieder beseitigt. D erartige u nter harm losen Namen und justizförm igen Verschleierungen politisch arbeitende Spezialkommissionen enthalten gerade fü r das deutsche Volk mit seiner V ertrauensseligkeit und seinem „rührenden L egalitäts­ bedürfnis“1 und gerade in der heutigen Lage eine besondere G efahr. Sie 1 Ich entnehme diesen Ausdruck dem Buch von R. Smend, Das Reidiskammergendit, 1911, S. 161.

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verdecken eine h arte und grausam e A rt Politik und verschaffen einem ruhe- und gerechtigkeitsbedürftigen Volk für kurze Zeit den Eindruck einer Stabilisierung und Verrechtlichung der zwischenstaatlichen V erhält­ nisse. A ber die Stabilisierung ist gefährlich, wenn nichts anderes stabilisiert w ird als eine in sich unstabile und unklare Situation, aus der immer neue M einungsverschiedenheiten hervorgehen müssen; und die Verrechtlichung ist in W irklichkeit n u r eine Methode justizförm iger Politik, die der Aus­ beutung und U nterdrückung legale Form en leiht. Die „form elle“ Gleichheit Deutschlands m it den Großmächten täuscht dann über die Ungleichheiten in der Sache hinweg, Ungleichheiten, wie sie am erstaunlichsten in der einseitigen E ntm ilitarisierung der Rheinlande zum Ausdruck kommen. Eine Rechtsgleichheit zwischen einem wehrlosen, kontrollierten und trib u t­ pflichtigen D eutschland und einem aufs äußerste bewaffneten, die Kon­ trolle ausübenden und die T ribute einkassierenden G egner ist nichts als die Gleichheit jenes V ertrages zwischen den Störchen und den Fröschen, der beiden Teilen gleiches Recht der Nahrungssuche gew ährleistete und dessen Abschluß von einigen Fröschen als großer Fortschritt gefeiert wurde. I

III.

Es m üßte auffallen, daß überhaupt von völkerrechtlichen Problem en der R heinlande oder im R heinlande gesprochen w erden kann. Denn im allgemeinen ist es doch heute noch so, daß nur Staaten oder staatenähnliche Gebilde als solche eine völkerrechtliche Stellung haben und T räger selb­ ständiger völkerrechtlicher Problem e sind, nicht aber Gebietsteile unabhän­ giger Staaten. Niem and w ird es wagen, von einem völkerrechtlichen P ro­ blem des Elsasses oder Irlands zu sprechen. Selbst das völkerrechtliche Problem Ä gyptens ist von der englischen Regierung mit restlosem Erfolg als solches negiert w orden. Um so bedenklicher, daß eine Redewendung, wie die vom „völkerrechtlichen Problem der R heinlande“ in ih rer poli­ tischen Tragw eite großen Teilen des deutschen Volkes kaum bew ußt wird. Solange die E ntm ilitarisierung der R heinlande nur auf einer Sonder­ norm ierung b e ru h t und ih re D urchführung der L oyalität der deutschen Regierung überlassen w ird, ist dieser Zustand vielleicht noch erträglich. Sobald aber an die Stelle der Sondernorm ierung darüber hinaus noch eine Sonderorganisation tritt und innerhalb des Deutschen Reiches eine te rri­ toriale A bgrenzung entsteht, liegt es allerdings nahe, eine Internationale sierüng der R heinlande zu befürchten, durch welche die Rheinlande aus einer staatsrechtlichen in eine völkerrechtliche Situation kommen. Man muß diese U nterw erfung eines großen deutschen Gebietsteiles unter eine internationale Sonderregelung oder sogar Sonderorganisation im Zusamm enhang der m odernen M ethoden im perialistischer U nterw erfung und A usbeutung frem der Staaten betrachten, um die ganze politische Trag­ weite eines solchen Zustandes richtig zu verstehen. D enn heute w ird nicht m ehr mit den v eralteten M ethoden offener G ebietsannexion gearbeitet, sondern m it „K ontrollen“ und m it einem System von V erträgen, und zwar

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Interventionsverträgen, zu denen der unterw orfene Staat gezwungen wird. Das m oderne System — statt der A nnexion n u r K ontrolle und In te r­ vention — hat neben zahlreichen praktischen V orteilen politischer und wirtschaftlicher A rt auch noch den moralischen Vorteil, daß es sich auf die H eiligkeit der V erträge und den Satz pacta sunt servanda berufen und auf diese Weise den U nterw orfenen moralisch p araly sieren kann. D er in ter­ venierende Staat entscheidet dann über die wesentlichen existenziellen Fragen des „kontrollierten“ Staates, insbesondere über die konkrete Bestimmung dessen, was „öffentliche O rdnung und Sicherheit“ heißt. Das ist die Methode der V ereinigten Staaten von A m erika gegenüber den von ihnen abhängigen lateinam erikanischen Staaten (wie K uba, Panam a, N ika­ ragua usw.); es ist die M ethode Englands gegenüber einem form ell „souveränen“ Ä gypten; es kann, w enn nicht das ganze deutsche Volk sich m it äußerster politischer B ew ußtheit w ehrt, die schließliche Konsequenz der international organisierten E ntm ilitarisierung deutscher G ebiete sein. Einer solchen m odernen, durch m ilitärisch und wirtschaftlich überlegene Großmächte von außen bew irkten A uflösung schwacher Staaten entspricht im Innern solcher Staaten eine T heorie vom P rim at des Völkerrechts, das heißt die theoretische A nerkennung dieser A bhängigkeit und U nterw orfen­ heit. Das kann so w eit gehen, daß m an die Existenz des Staates überhaupt auf die völkerrechtliche A nerkennung gründet und das eigene Land nur noch als Bestandteil einer irgendw ie k o n stru ierten „V ölkerrechtsgem ein­ schaft“ behandelt; daß sogar der natürlichen und selbstverständlichen Treue gegen das eigene Volk die T reue gegen das künstliche A rrangem ent international gemischter Kommissionen und D iplom atenkonferenzen über­ geordnet w ird. F ü r alles das finden sich Beispiele im deutschsprachigen Schrifttum der letzten Jahre. Uber die höchst problem atische theoretische Richtigkeit solcher K onstruktionen und ihren sehr k o n k reten politisch­ praktischen Sinn braucht hier nicht d isk u tiert zu w erden. Es mag sein, daß es Staaten gibt, die nichts sind als ein Kom promiß, und zw ar ein völker­ rechtlicher Kompromiß, das heißt ein Kom prom iß frem der Staaten. Ö ster­ reich zum Beispiel ist in dieser küm m erlichen Lage, und jen e Theorien sind zweifellos der adäquate A usdruck eines derartig en politischen Seins oder vielm ehr — da solche G ebilde kaum etw as sind — eines völkerrecht­ lichen „G ehens“. F ü r das Deutsche Reich aber ist es gerade die F rage, ob und wie lange es noch zu den politisch existierenden Staaten gehört oder ob es zu einem nur völkerrechtlichen und n u r „geltenden“ N orm enkom plex degenerieren soll. Auch hier ist das Problem der entm ilitarisierten R hein­ lande der K ardinalpunkt, um den sich die existenzielle F r a g e . bewegen wird. Im H intergründe aller dieser, sei es rein theoretischen, sei es positivpraktischen völkerrechtlichen F ragen steht also nicht w eniger als die F rage der politischen Existenz des deutschen Volkes. D aß w ir in einer Epoche fundam entaler politischer U m gruppierungen leben, w ird heute wohl im ganzen deutschen Volk em pfunden und gehört zu den G rundstim m ungen

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unserer Zeit. D enn es drängt sich jedem auf, wie sehr die Entwicklung der m odernen Technik manche politischen G ruppierungen und Grenzen der früheren Zeit illusorisch macht und den überlieferten status quo beseitigt, wie sehr „die E rde k lein e r“ w ird und infolgedessen die Staaten und Staatensystem e größer w erden müssen. In diesem gewaltigen Umwand­ lungsprozeß gehen wahrscheinlich viele schwache Staaten unter. Einige Riesenkom plexe w erden übrigbleiben und vielleicht die nach menschlicher Berechnung zu erw artende Zeit eines ungeahnten, auf völlig neuen tech­ nischen M öglichkeiten beruhenden Menschenglücks genießen. Manche kleineren G ebilde w erden sich im Schatten irgendeines wohlwollenden Riesen in Sicherheit bringen. Soviel ich beobachten kann, gibt es Deutsche, die glauben, das letzte sei auch für Deutschland die richtige Methode, um der politischen Entscheidung zu entwischen und sich in ein problemloses, wehrloses, geschichtsloses Glück hineinzulavieren, etw a mit Hilfe der „Poli­ tik des toten K äfers“, dessen Schutz in seiner W ehrlosigkeit liegt. Das w äre allerdings eine bequem e und gem ütvolle Lösung und enthöbe uns scheinbar alles w eiteren polnischen Nachdenkens und jedes Risikos. N ur fürchte ich, daß dieser Weg, so wie die Dinge nun einm al liegen, hoffnungs­ los v e rsp e rrt ist und der sich tot stellende K äfer einfach zertreten wird. Das Deutsche Reich m it seinem verhältnism äßig kleinen in der Mitte Europas liegenden T errito riu m und seinen über 60 Millionen Menschen ist nicht groß genug, um ohne w eiteres eine der überlebenden Weltmächte zu sein, andrerseits aber nicht klein und p eripher genug, um wie ein kleines Volk in dem politischen System eines andern unterzukom m en oder sich einfach aus der W eltgeschichte zu verdrücken. Seine Dimensionen sind zu klein, als daß es durch das bloße stabile Gewicht seiner Masse geschützt w äre, w ie das bei R ußland der F all ist; und sein Gewicht ist doch w ieder zu groß, als daß es in einer schnellen und beweglichen Politik wechselnder Bündnisse einen labilen Bestand w ahren könnte. In dieser Zwischen­ stellung hängt alles am politischen Bewußtsein, an der Selbstbeherrschung und der Entschlossenheit der deutschen Politik und kom mt es darauf an, ob das deutsche Volk seinen W illen zur politischen Existenz bew ahrt oder ob es sich psychisch und moralisch zerm ürben läßt, so daß es damit ein­ verstanden w äre, aus seinem eigenen Fleisch und Blut die frem den L eviathane zu sättigen. Das ist die furchtbare G esam tlage Deutschlands, in deren Zentrum die Frage der E ntm ilitarisierung der R heinlande steht. Ein großes und ent­ schlossenes Volk braucht nicht zu verzw eifeln, und es w äre Feigheit, die Hoffnung aufzugeben. A ber es w äre ein Verbrechen, sich der k laren poli­ tischen B ew ußtheit zu entziehen und vor den schlimmsten Möglichkeiten, auch w enn sie hoffentlich n u r Möglichkeiten bleiben, die Augen zu ver­ schließen. Insbesondere w äre es eine unverantw ortliche Selbsttäuschung, anzunehm en, daß heute die zwischenstaatlichen Beziehungen im wesent­ lichen bereits m oralisiert und verrechtlicht seien, und daß man theoretisch und praktisch behaupten könne, das D enken und Fühlen der Völker sei

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schon entpolitisiert. Trotz aller propagandistischen A usnutzung m oralischer und juristischer Begriffe ist die W elt immer noch in einem hochpolitischen Zustand; sie gruppiert sich immer noch nach F reund und Feind und jene M oralisierung und Juridifizierung, einschließlich der „E ntpolitisierung“, dient ganz konkreten politischen G ruppierungen und Interessen. Die Völker leben leider immer noch „untereinander im N aturzustand“. Das haben die großen N aturrechtslehrer des 17. und 18. Jahrhunderts, und zw ar gerade auch große V ölkerrechtslehrer behauptet, und auf diese Form el möchte ich unter dem Eindruck der letztjährigen E rfahrungen nachdrück­ lich hinweisen. Die Formel vom „N aturzustand“ ist kein absolutes Dogma, wohl aber eine sehr ernst zu nehm ende Umschreibung für bestim m te Seiten und Eigenarten zwischenstaatlicher Beziehungen; sie bew eist m ehr intel­ lektuelle Redlichkeit als die meisten unterschiedslosen R edensarten von der Herrschaft „des“ Rechts; sie läßt das, was es im V ölkerrecht an echtem Recht gibt, in seiner spezifischen O rdnung erkennen und verm eidet dadurch irreführende Ü bertragungen aus wesentlich anderen Rechtsgebieten, ins­ besondere aus dem innerstaatlichen Privatrecht; sie geht von dem P luralis­ mus der konkret existierenden Staaten aus und verm eidet die illusorische Fiktion einer W elteinheit; und endlich gibt sie ein prägnantes, in zahl­ reichen Fällen der W irklichkeit entsprechendes Bild. W ie von selbst hat sich im Lauf der vorliegenden kurzen A usführungen imm er w ieder eine Tierfabel eingestellt, als treffende Illustration der völkerrechtlichen W irk­ lichkeit. W arum drängen sich jedem Deutschen, der über die Behandlung seines Landes in diesen letzten zehn Jahren nachdenkt, jene T ierfabeln auf? W arum könnte man an der H and irgendeines klassischen Fabel­ buches, Aesop oder Lafontaine, eine klare, einleuchtende Theorie der Poli­ tik und des Völkerrechts entwickeln und die bekannten Geschichten — vom Wolf und dem Lamm, dem Storch und den Fröschen, von der Schuld an der Pest, welche Schuld natürlich den Esel trifft — ohne w eiteres auf Deutsch­ land übertragen? H ier zeigt sich der Sinn jen e r lehrreichen und frucht­ baren Formel vom „N aturzustand zwischen den V ölkern“. In ihm geht jedes Volk erbarmungslos zugrunde, das sich seiner konkreten Lage nicht m ehr gewachsen zeigt und sich auch n u r einen Augenblick bereden läßt, sein natürlichstes, selbstverständlichstes und allererstes Recht zu vergessen, nämlich das Recht auf eine freie, unabhängige, einige und ungeteilte Existenz.

13. Wesen und Werden des faschistischen Staates1 (1929) Das Buch gibt in m usterhafter K larheit und Geschlossenheit ein Bild der geschichtlichen Entwicklung, der Soziologie und Ideologie des Faschismus bis zum Jah re 1927. In einem Aufsatz: „Idee und W irklichkeit im Faschis­ mus“ (Schmollers Jahrbuch, Band 52) hat der Verfasser das Thema w eiter­ geführt. Trotz mancher früheren guten und gründlichen deutschen A rbeiten über den f aschismus dürfte erst mit diesem Buch das Niveau wissenschaft­ licher O b jek tiv ität und Deutlichkeit erreicht sein, mit welcher die Gewiß­ heit einer fruchtbaren E rörterung gegeben ist. Das Buch hat außerdem eine Reihe von w eiteren Eigenschaften, die seinen W ert noch erhöhen. Es nimmt ohne parteipolitisch-subalterne Beschränktheit in verständiger Sachlichkeit Stellung und w agt sogar eine Prognose. Dadurch unterscheidet es sich sehr vorteilhaft auf der einen Seite von den Ä ußerungen enthusi­ astischer B ew underer und blindw ütiger Beschimpfer, unter denen leider auch bekannte deutsche G elehrte zu finden sind; andererseits mißbraucht es nicht die Begriffe von O bjek tiv ität und Wissenschaftlichkeit, um in abw artender Ängstlichkeit k laren Erkenntnissen und Form ulierungen auszuweichen. D abei versteht es sich von selbst, daß die Prognosen des Buches nicht etw a von der Art jen e r Prophezeiungen sind, die m an in den Jahren 1923 bis 1925 nicht nur in Zeitungsartikeln lesen konnte und deren schönstes Beispiel ein vorgeblich ganz unpolitischer Satz eines wissen­ schaftlichen V ortrages ist, der im F e b ru ar 1925 verkündete: „Mussolinis Sturz ist n u r m ehr eine F rage der Zeit.“ Angesichts der k laren und geschlossenen D arstellung eines solchen Buches kann es sich für eine kurze Besprechung nicht darum handeln, den sehr kom prim ierten und konzisen Inhalt zu w iederholen, sondern nu r einige G esichtspunkte geltend zu machen, die sich vom Standpunkt und vom Fach des Besprechers aus ergeben. Ich möchte daher zunächst einige staatstheoretische Hinweise Vorbringen. Soweit es sich dabei um Verfas­ sungsfragen handelt, kann ich auf die ausgezeichnete A bhandlung von G erhard L e i b h o l z : „Zu dem Problem des faschistischen Verfassungs­ rechts“ (Berlin 1928) Bezug nehmen. W as die eigentlich staatstheoretische K onstruktion angeht, so tritt m einer Meinung nach bei dem Verfasser nicht deutlich genug das spezifisch staatliche Problem hervor, das sich in die Frage zusammenfassen läßt: Ist es denkbar, daß heute ein Staat gegen­ über den wirtschaftlichen und sozialen Gegensätzen und Interessen die Rolle des h ö h e r e n D ritten spielt (das ist der Anspruch des fasehisti1 E rw in von Beckerath: W esen und W erden des faschistischen Staates. Berlin (Springer) 1927; 155 Seiten.

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schon entpolitisiert. Trotz aller propagandistischen A usnutzung m oralischer und juristischer Begriffe ist die W elt immer noch in einem hochpolitischen Zustand; sie gruppiert sich immer noch nach F reund und Feind und jene M oralisierung und Juridifizierung, einschließlich der „E ntpolitisierung“, dient ganz konkreten politischen G ruppierungen und Interessen. Die Völker leben leider immer noch „untereinander im N aturzustand“. Das haben die großen N aturrechtslehrer des 17. und 18. Jahrhunderts, und zwar gerade auch große V ölkerrechtslehrer behauptet, und auf diese Form el möchte ich unter dem Eindruck der letztjährigen E rfahrungen nachdrück­ lich hinweisen. Die Formel vom „N aturzustand“ ist kein absolutes Dogma, wohl aber eine sehr ernst zu nehm ende Umschreibung fü r bestim m te Seiten und Eigenarten zwischenstaatlicher Beziehungen; sie bew eist m ehr intel­ lektuelle Redlichkeit als die meisten unterschiedslosen R edensarten von der Herrschaft „des“ Rechts; sie läßt das, was es im V ölkerrecht an echtem Recht gibt, in seiner spezifischen O rdnung erkennen und verm eidet dadurch irreführende Übertragungen aus wesentlich anderen Rechtsgebieten, ins­ besondere aus dem innerstaatlichen Privatrecht; sie geht von dem P luralis­ mus der konkret existierenden Staaten aus und verm eidet die illusorische Fiktion einer W elteinheit; und endlich gibt sie ein prägnantes, in zahl­ reichen Fällen der W irklichkeit entsprechendes Bild. W ie von selbst hat sich im Lauf der vorliegenden kurzen A usführungen imm er w ieder eine Tierfabel eingestellt, als treffende Illustration der völkerrechtlichen W irk­ lichkeit. W arum drängen sich jedem Deutschen, der über die Behandlung seines Landes in diesen letzten zehn Jahren nachdenkt, jene Tierfabeln auf? W arum könnte man an der H and irgendeines klassischen F abel­ buches, Aesop oder Lafontaine, eine klare, einleuchtende Theorie der Poli­ tik und des Völkerrechts entwickeln und die bekannten Geschichten — vom Wolf und dem Lamm, dem Storch und den Fröschen, von der Schuld an der Pest, welche Schuld natürlich den Esel trifft — ohne w eiteres auf Deutsch­ land übertragen? H ier zeigt sich der Sinn je n e r lehrreichen und frucht­ baren Form el vom „N aturzustand zwischen den V ölkern“. In ihm geht jedes Volk erbarm ungslos zugrunde, das sich seiner konkreten Lage nicht m ehr gewachsen zeigt und sich auch n u r einen Augenblick bereden läßt, sein natürlichstes, selbstverständlichstes und allererstes Recht zu vergessen, nämlich das Recht auf eine freie, unabhängige, einige und ungeteilte Existenz.

ig. Wesen und Werden des faschistischen Staates1 (1929) Das Buch gibt in m usterhafter K larheit und Geschlossenheit ein Bild der geschichtlichen Entwicklung, der Soziologie und Ideologie des Faschismus bis zum Jah re 1927. In einem Aufsatz: „Idee und W irklichkeit im Faschis­ mus“ (Schmollers Jahrbuch, Band 52) hat der Verfasser das Them a w eiter­ geführt. Trotz mancher früheren guten und gründlichen deutschen A rbeiten über den Faschismus dürfte erst m it diesem Buch das N iveau wissenschaft­ licher O b jek tiv ität und D eutlichkeit erreicht sein, mit welcher die G ew iß­ heit einer fruchtbaren E rörterung gegeben ist. Das Buch hat außerdem eine Reihe von w eiteren Eigenschaften, die seinen W ert noch erhöhen. Es nimmt ohne parteipolitisch-subalterne Beschränktheit in verständiger Sachlichkeit Stellung und w agt sogar eine Prognose. D adurch unterscheidet es sich sehr vorteilhaft auf der einen Seite von den Ä ußerungen enthusi­ astischer B ew underer und blindw ütiger Beschimpfer, u nter denen leider auch bekannte deutsche G elehrte zu finden sind; andererseits m ißbraucht es nicht die Begriffe von O b jek tiv ität und W issenschaftlichkeit, um in abw artender Ängstlichkeit k laren Erkenntnissen und Form ulierungen auszuweichen. D abei versteht es sich von selbst, daß die Prognosen des Buches nicht etw a von der Art jen e r Prophezeiungen sind, die m an in den Jahren 1923 bis 1925 nicht nur in Zeitungsartikeln lesen konnte und deren schönstes Beispiel ein vorgeblich ganz unpolitischer Satz eines wissen­ schaftlichen V ortrages ist, der im F eb ru ar 1925 verkündete: „Mussolinis Sturz ist nu r m ehr eine F rage der Zeit.“ Angesichts der k laren und geschlossenen D arstellung eines solchen Buches kann es sich für eine kurze Besprechung nicht darum handeln, den sehr kom prim ierten und konzisen Inhalt zu w iederholen, sondern nu r einige Gesichtspunkte geltend zu machen, die sich vom Standpunkt und vom Fach des Besprechers aus ergeben. Ich möchte daher zunächst einige staatstheoretische Hinweise Vorbringen. Soweit es sich dabei um Verfas­ sungsfragen handelt, kann ich auf die ausgezeichnete Abhandlung von G erhard L e i b h o l z : „Zu dem Problem des faschistischen Verfassungs­ rechts“ (Berlin 1928) Bezug nehmen. Was die eigentlich staatstheoretische Konstruktion angeht, so tritt m einer Meinung nach bei dem V erfasser nicht deutlich genug das spezifisch staatliche Problem hervor, das sich in die Frage zusammenfassen läßt: Ist es denkbar, daß heute ein Staat gegen­ über den wirtschaftlichen und sozialen Gegensätzen und Interessen die Rolle des h ö h e r e n D ritten spielt (das ist der Anspruch des faschisti1 E rw in von Beckerath: W esen und W erden des faschistischen Staates. Berlin (Springer) 1927; 155 Seiten.

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sehen Staates) ; oder ist er notw endigerw eise n u r der bew affnete D i e n e r einer jen er wirtschaftlichen und sozialen Klassen (die bekannte m arxi­ stische These); oder ist er eine A rt von n e u t r a l e m D ritten, ein pouvoir neutre et interm édiaire (was er bis zu einem gewissen G rade heute fak­ tisch in Deutschland ist, wobei die Reste des alten Beam tenstaates die Rolle eines solchen pouvoir n eutre spielen)? Nicht als ob diese F rage H errn von Beckerath entgangen w äre; gerade die Ü berlegenheit des Faschismus über wirtschaftliche Interessen, sei es der A rbeitgeber, sei es der A rbeit­ nehm er, und der, m an kann sagen, heroische Versuch, die W ürde des Staates und der nationalen E inheit gegenüber dem Pluralism us ökonomi­ scher Interessen zu halten und durchzusetzen, tr itt in Beckeraths D ar­ stellung eindrucksvoll hervor. A ber sein staatstheoretisches Interesse richtet sich doch vor allem auf die Ideologie und auf den Gegensatz von faschistischer Ideologie auf der einen, dem okratischer und p arlam entari­ scher Ideologie auf der anderen Seite. Infolgedessen ist die echte staats­ theoretische Unterscheidung zu sehr m it dem G egensatz bloß ideologischer Stichworte verwechselt. D araus e rk lä rt es sich wohl, daß der Faschismus in einen absoluten Gegensatz zur D em okratie gebracht w ird (wodurch er sich vom Bolschewismus unterscheiden soll; S. 147, 149), daß er als etwas absolut Antidem okratisches auf gefaßt w ird, w ährend er in W ahrheit nur zu der liberalen Auflösung der echten D em okratie in einem d erartig abso­ luten Gegensatz steht. H ier hat der V erfasser m einer Ansicht nach die an sich natürlich längst bekannte Verschiedenheit von D em okratie und L ibera­ lismus nicht nachdrücklich genug im Auge behalten. Diese Verschiedenheit ist fundam ental; sie beruht nämlich auf dem G egensatz des politischen und des wirtschaftlichen D enkens überhaupt. D ie höchst geistvolle und elegante, aber doch schließlich unrichtige Form ulierung, daß der Faschis­ mus, wenigstens in „der ersten Stunde“, eine „A rt l’a rt pour Part auf poli­ tischem G ebiete“ w ar (S. 25), und das irrefü h ren d e P rä d ik a t „romantisch“ (S. 24) erk läre ich m ir aus einer U nklarh eit über das W esen des b ü rg er­ lichen Liberalism us und einer Vermengung, die noch nicht restlos auf die Konfusion des 19. Jahrhunderts verzichtet. D er konsequente Liberalism us h at seine H eim at teils im ökonom ischen, teils im Ethischen und ist im übrigen ein kunstvolles System von M ethoden zur Schwächung des Staates. E r löst vom Ethischen und Ökonomischen h er alles spezifisch Politische und spezifisch Staatliche auf. D em okratie dagegen ist ein Begriff, der ebenso spezifisch in die Sphäre des Politischen gehört. Echter Nationalism us, all­ gemeine W ehrpflicht und D em okratie sind nun einm al „dreieinig, nicht zu trennen“, und der zäsaristisch gesinnte D em okrat ist ein a lte r geschicht­ licher Typus (Sallust!). Die große Steigerung des staatsbürgerlichen und nationalen Selbsthewußtseins bei der Masse der Italiener, insbesondere bei den Bauern, den „Ivolonen“, eine Steigerung, die d er Faschismus jedenfalls erreicht hat und die von einem so guten und v orurteilsfreien Beobachter wie Paul S c h e f f e r als eine H auptleistung des Faschismus bezeichnet w ird, kann man nicht gut in einen Gegensatz zur D em okratie bringen. D aß

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der Faschismus auf W ahlen verzichtet und den ganzen „elezionismo“ haßt und verachtet, ist nicht etw a undemokratisch, sondern antiliberal und ent­ springt der richtigen E rkenntnis, daß die heutigen Methoden geheim er Einzelwahl alles Staatliche und Politische durch eine völlige Privatisierung gefährden, das Volk als E inheit ganz atis der Öffentlichkeit verdrängen (der Souverän verschwindet in der W ahlzelle) und die staatliche W illens­ bildung zu einer Sum mierung geheim er und p riv ater Einzelwillen, das heißt in W ahrheit u n k o n trollierbarer Massenwünsche und -ressentim ents herabw ürdigen. Gegen ihre tatsächlich desintegrierende W irkung kann man sich n u r schützen, w enn m an im Sinne von Rudolf S m e n d s Inte­ grationslehre eine Rechtspflicht des einzelnen Staatsbürgers konstruierte, bei der geheim en Stim mabgabe nicht sein privates Interesse, sondern das Wohl des Ganzen im Auge zu haben — angesichts der W irklichkeit des sozialen und politischen Lebens ein schwacher und sehr problem atischer Schutz. Jene Gleichsetzung von D em okratie und geheim er Einzelw ahl aber ist Liberalism us des 19. Jah rh u n d erts und nicht D em okratie. Auch das neue faschistische Gesetz über die politische R epräsentation vom 17. Mai 1928, das den Stim m berechtigten n u r die Möglichkeit gibt, zu einer von der Regierung vorgelegten K andidatenliste Ja oder Nein zu sagen, ist nu r im Sinne jen e r liberalen P rivatisierung undemokratisch. Es fü h rt in W ahr­ heit zum Plebiszit, wie auch Beckerath (Schmollers Jahrbuch, Band 52, S. 213; ebenso Leibholz, S. 27) richtig erkennt. Ein Plebiszit ist aber nichts Undemokratisches. D arüber kom mt auch die radikalste und unm ittelbarste D em okratie nicht hinweg, daß das Volk n u r akklam ieren oder nu r Ja oder Nein sagen kann; und angesichts der unentrinnbaren A bhängigkeit von F ragestellung und Vorschlagslisten ist es eben politisch und infolge­ dessen auch dem okratisch gedacht, Fragestellung und Vorschlagslisten von der R egierung ausgehen zu lassen und nicht anonym en C liquen und In te r­ essentengruppen anheim zugeben, die sie in tiefstem Geheimnis fabrizieren und aus einem undurchsichtigen und unverantw ortlichen D unkel heraus einer teils parteim äßig organisierten, teils hilflos schwankenden Masse von geheim abstim m enden Einzelnen unterbreiten. Wie die Dinge heute liegen, ist in keinem Land der Kam pf um den Staat und das Politische ein Kampf gegen eine echte D em okratie, aber ebenso notwendig ist er ein Kampf gegen die M ethoden, m it denen das liberale B ürgertum des 19. Ja h r­ hunderts den dam aligen, heute längst erledigten monarchischen Staat geschwächt und gestürzt hat. Es ist sehr auffällig, daß zwei Staaten wie das bolschewistische Rußland und das faschistische Italien die einzigen sind, die den Versuch gemacht haben, mit dem überlieferten Verfassungsklischee des 19. Jahrhunderts zu brechen und die großen V eränderungen in der wirtschaftlichen und sozialen S truktu r des Landes auch in der staatlichen O rganisation und in einer geschriebenen Verfassung zum Ausdruck zu bringen. D ie großen und führenden Industriestaaten (zu denen Italien im m erhin noch nicht gehört) halten m erkw ürdigerw eise trotz aller Ä nderungen ih re r sozialen und

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wirtschaftlichen S tru k tu r an dem ü berlieferten Verfassungsschema von 1789 und 1848 fest. Auch die W eim arer V erfassung von 1919 entspricht im wesentlichen dem alten T ypus und könnte, w ie R athenau richtig gesagt hat, von 1848 sein. Dagegen sind in dieser Hinsicht, das heißt fü r die staats­ organisatorische A nerkennung der neuen w irtschaftlichen und sozialen Problem e, die bolschewistische und die faschistische V erfassung überaus m odern und eigentliche „W irtschafts-V erfassungen“. Ich e rk lä re m ir das vor­ läufig folgenderm aßen: G erade nicht intensiv in d u strialisierte L änder wie R ußland und Italien können sich heute eine „W irtschafts-V erfassung“ geben. In hochentwickelten Industriestaaten dagegen ist die innerpolitische Lage ganz beherrscht von dem Phänom en der „sozialen Gleichgewichts­ stru k tu r“ zwischen K apital und A rbeit, A rbeitgeber und A rbeitnehm er. Dieses Phänom en, wohl von O tto B auer zuerst erk a n n t und benannt, ist dann von O. K irchheim er in einem interessanten A ufsatz in der Zeit­ schrift für P olitik (Bd. 17, 1928, S. 596) staats- und verfassungstheoretisch behandelt worden. W enn es heute zum hochentw ickelten m odernen Indu­ striestaat gehört, daß A rbeitgeber und A rbeitnehm er einander mit ungefähr gleicher sozialer Macht gegenüberstehen und jedenfalls keine dieser G ruppen ohne einen furchtbaren B ürgerkrieg der anderen eine radikale Entscheidung auf drängen kann, so sind auf legalem W ege soziale Entscheidungen und fundam entale V erfassungsänderungen nicht möglich, und alles, was es an Staat und R egierung gibt, ist dann m ehr oder weniger eben n u r der n eutrale (und nicht der höhere, aus eigener K raft und A utorität entscheidende) D ritte. Eine Suprem atie des Staates gegenüber der W irtschaft ist nur m it H ilfe einer geschlossenen, ordensm äßigen O rgani­ sation durchführbar. Sowohl der Faschismus als auch der kommunistische Bolschewismus bedarf zu seiner Ü berlegenheit über die W irtschaft eines solchen „A pparates“. D ie soziologischen B enennungen, die H e rr von Beckerath hier gebraucht (S. 141), sind term inologisch nicht k lar, weil sie P artei, O rden und K aste nicht scharf genug trennen. Doch ist es für eine staatstheoretische B etrachtung wesentlich, auch im sprachlichen Ausdruck zu unterscheiden. W ie soll der Staat der höhere und m ächtigere D ritte sein, w enn er nicht eine starke, festform ierte, in sich geschlossene und daher nicht wie die P artei auf fre ier W erbung beruhende, hierarchische O rgani­ sation zur V erfügung hat? D er ungeheuren neuen A ufgabe ist nur eine solche neue O rganisation gewachsen. Es gehört zum Schicksal Deutschlands, daß es bereits vor hun d ert Jah ren eine großartige philosophische Theorie vom Staat als dem höheren D ritte n p roduziert hat, die von Hegel über Lorenz von Stein zu den großen N ationalökonom en (wie Schmoller und Knapp) geht, die dann einer ziemlich rohen Verflachung anheim fiel und leicht als L ehre vom O brigkeitsstaat verschrien w erden konnte, weil ihr in der soziologischen W irklichkeit keine neue, m it soziologischem Bewußtsein der neuen Situation geschaffene O rganisation entsprach, sondern n u r ein gut diszipliniertes und technisiertes Beam tentum in V erbindung m it einer traclitionalistisch v erh ärteten , national v e rw irren d en P lu ra litä t von

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D ynastien, deren ideelle G rundlage der politisch lähm ende Begriff der Legitim ität w a r1. D er Faschismus dagegen legt aus guten G ründen W ert darauf, revolutionär zu sein. A udi H e rr von Beckerath stellt fest, daß der faschistische stato cor­ porativo, m it seinem Versuch einer Einigung und H arm onisierung von A rbeitgeber- und Arbeitnehm erschaft, bisher nicht gelungen ist. „Die Spannungen lösen sich in einem Sieg der Regierung.“ D er faschistische Staat entscheidet nicht als neutraler, sondern als höherer D ritter. Das ist seine Suprem atie. W oher kom mt diese Energie und diese neue K raft? Aus nationaler Begeisterung, aus der individuellen Energie Mussolinis, aus der K riegsteilnehm erbew egung, vielleicht noch aus w eiteren G ründen — das alles ist in Beckeraths Buch mit vorbildlicher K larheit beschrieben. A ber die allgem eine Prognose, die er daraufhin stellt, scheint m ir in der F rage­ stellung nicht ganz den K ern der Sadie zu treffen. Die Prognose geht dahin, daß die M ajoritätsideologie sich, m it steigender K onzentration der w irt­ schaftlichen und politischen Macht in wenigen Händen, zersetzen und daß der au to ritä re Staat zugleich mit einer Umformung der politischen Ideo­ logie innerhalb der abendländischen Kulturgem einschaft T errain zurück­ gewinnen w erde (S. 154/155). Ich möchte die Frage, auf welche eine Prognose zu antw orten hat, nicht so ideologisch stellen, sondern danach fragen, wem nach menschlicher Berechnung der von Mussolini aufgebaute A pparat, wenn er einm al ohne den jetzigen Motor w eiterlaufen soll, seinem Wesen nach auf die D auer dienen muß, den kapitalistischen Interessen der A rbeit­ geber oder den sozialistischen Interessen der A rbeitnehm er? Ich verm ute, daß er, und zw ar in demselben Maße, in dem er echter Staat ist, auf die D auer den A rbeitnehm ern zugute kommt, und zw ar deshalb, weil diese heute das Volk sind und der Staat nun einmal die politische Einheit des Volkes ist. N ur ein schwacher Staat ist kapitalistischer D iener des P riv at­ eigentums. Jeder starke Staat — w enn er wirklich höherer D ritte r ist und nicht einfach identisch mit den wirtschaftlich Starken — zeigt seine eigent­ liche Stärke nicht gegenüber den Schwachen, sondern gegenüber den sozial und wirtschaftlich Starken. C asars Feinde w aren die O ptim aten, nicht das Volk; der Staat des absoluten F ürsten m ußte sich gegen die Stände durch­ setzen, nicht gegen die B auern usw. D aher können die A rbeitgeber und insbesondere die Industriellen einem faschistischen Staat niemals ganz trauen, und müssen sie verm uten, daß er sich eines Tages im Ergebnis zu einem A rbeiterstaat m it Planw irtschaft entwickeln werde. D ieser Ver­ mutung entsprechen manche A usführungen Beckeraths (zum Beispiel S. 143), sie w erden neuerdings von Paul Scheffer in einem sehr inter­ essanten und bedeutenden Aufsatz offen ausgesprochen (Berliner Tage­ blatt Nr. 613 vom 29. D ezem ber 1928). D ann trä te — ein schönes Beispiel 1 Man kann als Deutscher nur hoffen, daß dem deutschen Volk ein weiteres Schicksal erspart bleibe, das der junge Hegel angedeutet hat: „Es ist ein höheres Gesetz, daß dasjenige Volk, von dem aus der Welt ein neuer universeller Anstoß gegeben wird, selbst am Ende vor allen übrigen zugrunde geht, und sein Grundsatz, aber es selbst nicht, bestehe“ (Schriften zur Politik, Ausgabe Lasson, S. 96). 8

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für die List der weltgeschichtlichen Idee — der F all ein, daß, ähnlich wie Bismarck unter dem W utgeschrei der L iberalen 1863 bis 1870 wesentliche Teile eines echt liberalen Program m s verw irklicht hat, so Mussolini im erbitterten Kampf gegen die offiziellen H üter des Sozialismus eine sozia­ listische A rm atur geschaffen hätte. D am it soll nicht ausgeschlossen sein, daß möglicherweise auch einmal einige liberale Rückschläge eintreten können, vrenn die Führung durch Mussolini aufhört. N ur w ürde ein solcher Rück­ schlag m einer Ansicht nach nichts anderes bedeuten als den Versuch, jener immanenten, zur staatlichen Planw irtschaft führenden Konsequenz und Richtung des heute aufgebauten faschistischen A pparates zu entgehen, und der Versuch w äre nur möglich u nter völliger Z ertrüm m erung des ganzen A pparates und blinder R estauration des alten Liberalism us, eine Restau­ ration, die Beckerath am Schluß seines Aufsatzes in Schmollers Jahrbuch für unmöglich erklärt. Endlich noch ein W ort zur Ergänzung der A usführungen über den stato etieo und die Staatsethik des Faschismus. Man darf die faschistischen Ideen über den Staat nicht, auch nicht im gegensätzlichen V erhältnis, an den Maßstäben und W orten messen, die seit dem 18. Ja h rh u n d ert im europä­ ischen Bürgertum selbstverständlich geworden sind. Alle solchen Worte gehören ja zu der A tm osphäre ideologischen Betruges, die heute von Millionen empfunden und gehaßt w ird. Wie alle starken Bewegungen, sucht auch der Faschismus sich von ideologischer A bstraktheit und Scheinformen zu befreien und zum konkret E xistentiellen zu gelangen. Auch das faschi­ stische Ethos geht von jenem Gefühl des ßetrogenseins aus, das man seit dem 19. j ahrhundert überall feststellen kann, das nicht n u r ein prole­ tarischer Affekt ist und das nach dem W eltkrieg in romanischen Ländern einen stärkeren Ausdruck gefunden hat als in D eutschland1. D er faschi­ stische Staat will mit antiker Ehrlichkeit w ieder Staat sein, m it sichtbaren M achtträgern und R epräsentanten, nicht aber Fassade und Antichambre unsichtbarer und unverantw ortlicher M achthaber und G eldgeber. Das starke Gefühl des Zusammenhangs mit der A ntike ist nicht n u r Dekoration, was H err von Beckerath auch gewiß nicht annim mt. Man kann es aus jener Reaktion gegen abstrakte Entpolitisierungen begreifen, in V erbindung mit dem einfachen geschichtlichen Faktum , daß der große Staat des europä­ ischen Kontinents im eigentlichen Sinn imm er ein klassisches Gebilde w ar und in der T radition klassischen D enkens bleiben muß. Das gilt für die mit der Renaissance und dem Barock entstehenden Staaten und für die großen Zeiten des französischen wie des preußischen Staates; es gilt auch für die letzte große Staatsphilosophie Hegels, deren W urzel tief in die A ntike reichen. W enn der Faschismus sich dem m arxistischen Sozialismus überlegen fühlt, so trifft dieses U berlegenheitsgefühl vor allem den sozia­ listischen Menschheitsbegriff und seinen ideologisch-abstrakt-gespenstischen Monismus, ein echt liberales Erbstück, das der proletarische Sozialismus 1 So in den furchtbaren Worten von G. Bernanos, die F. Lefèvre mitteilt (Docu­ ments bleus, Nr. 33, Paris 1927, S. 163/164).

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nur so lange w eiterschleppen w ird, als er nicht im Besitz der staatlichen Macht ist, und das der Faschismus überw unden zu haben glaubt, weil er den ko nkreten Pluralism us der Völker und Nationen, der vielen verschie­ denen Bourgeoisien und der vielen verschiedenen Proletariate, mit antiker Sim plizität erkennt und weiß, daß das italienische Volk seine konkrete A rt nationalen Seins nur m it einem Aufgebot politischen W illens bew ahren kann.

14. Der unbekannte Donoso Cortes (1929) W enn man versucht, m it wenigen Linien Donoso Cortes in die poli­ tische Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts einzureihen, kann man nur mit einer Bitte um Entschuldigung und vielen V orbehalten beginnen. Denn es handelt sich um einen Mann, von dem außerhalb Spaniens heute kaum noch der Name bekannt ist und dessen Name in Spanien politische Miß­ verständnisse hervorruft, weil er in weitem Maße zum Parteisym bol wurde. Zudem w ar Donoso in gewissem Sinne ein Konvertit, wenigstens insofern er als lib eraler Staatsrechtslehrer begann und als theoretischer Herold einer konservativen D ik tatu r endete, die er mit großer prophetenhafter Geste einem liberalen Jah rh u n d ert verkündete. Alle A ntipathien, die sich mit dem W orte D ik tatu r verbinden und die selbst den objektivsten Be­ trachter einer D ik tatu r in Verdacht bringen, müssen sich daher gegen Donoso C ortes anhäufen, und sowohl ihn selber wie jeden, der ihm gerecht zu w erden sucht, trifft der alte lateinische Satz: Rum or dictatoris injucundus bonis. Ich möchte in voller U nparteilichkeit über diesen m erkw ürdigen Mann sprechen, soweit das im Rahm en einer kurzen E rörterung möglich und einem N ichtspanier erlau b t ist. D abei soll nicht ein R eferat über seine sämtlichen politischen Theorien und Meinungen, sondern nur eine E r­ klärung seines M ißerfolges versucht werden. Es w äre freilich nicht schwer, einfach zu behaupten, daß Donoso kaum eine nennensw erte dauernde W ir­ kung gehabt habe, vielm ehr einem größeren europäischen Publikum heute ganz unbekannt sei und auch nicht verdiene, der Vergessenheit entrissen zu werden. A ber es w äre nicht nur zu bequem und einfach, sondern auch töricht und ungerecht, einen zweifellos bedeutenden D enker in der Ver­ gessenheit zu lassen, in die er geraten ist. Die Vergessenheit Donosos selbst ist in W ahrheit ein seltsames und keineswegs einfaches Phänomen. D er politische und literarische Erfolg w ar zu seinen Lebzeiten, namentlich in der Zeit von 1849 bis 1853, in ganz Europa außerordentlich groß. Manche seiner Reden und seiner Schriften w irkten auf den ganzen europäischen Kontinent geradezu faszinierend. An vielen Zeugnissen läßt sich die große W irkung noch feststellen und belegen, fü r das protestantische Deutschland 8*

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insbesondere durch Ä ußerungen von Schelling, R anke und Friedrich W il­ helm IV. Alle em pfanden diesen Spanier als etw as Ungewöhnliches und Großes. D azu kommen viele, im m er erneute Bem ühungen, seine Schriften zu verbreiten; es sind Ü bersetzungen ins Deutsche, Französische und Ita­ lienische veranstaltet w orden; auch h at m an m ehrm als versucht, Stellen seiner Schriften und Reden in einer A usw ahl zu sammeln. W enn m an ihn trotzdem außerhalb Spaniens in E uropa nicht m ehr als bek an n t voraus­ setzen kann, so enthalten die verschiedenartigen G ründe, welche diesen M ißerfolg und das Ausbleiben einer nachhaltigen W irkung erk lären, ein interessantes Problem fü r sich. Zunächst liegen sie im L iterarischen und Stilistischen. Viele D arlegungen Donosos bleiben im sprachlichen und literarischen Stil frü h e rer, sta rk rhe­ torischer Jahrhunderte und bew egen sich in A ntithesen nach der A rt von Bossuet oder de M aistre, die m an in einem rom antischen Z eitalter nicht m ehr liebte. Das ständige Fortissim o sta rk e r W orte — schrecklich, blutig, furchtbar, entsetzlich, gew altig — nutzt sich ab, es erm üdet und verfehlt sein Ziel. B arbey d’A urevilly h at diese im Rhetorischen liegende Schwäche gleich erkannt und kritisiert; Eugenio d’O rs spricht sehr treffend von dem Barock einer Prozession gew altiger Bilder. D azu kom m t die theologi* sierende A rt seines H auptw erkes, des Essays über K atholizism us, L ibera­ lismus und Sozialismus, der — m an d arf sagen unglücklicherweise — am meisten verbreitet und übersetzt ist. In diesem W erk gehen die großartigen und hinreißenden Stellen u n ter in langw ierigen theologischen D arleg u n g en und Donoso erscheint hier als der T ypus des theologisierenden Laien, was er w eder in seinen Reden und B riefen und noch w eniger in seinem W esen ist. E r stellt ausführliche dogmatische E rörteru n g en an und gerät dadurch in die gefährliche Situation, daß je d e r Berufstheologe ihn überlegen in seine Schranken weisen kann. Das ist dem großen D iplom aten denn auch in schlimmstem Maße w iderfahren. Ein französischer Theologe Gaduel, der ihm in keiner Hinsicht auch n u r en tfernt gleichkommt, h a t ihm eine Menge dogmatischer U ngenauigkeiten und Irrtü m e r nachgewiesen, und der T heoretiker der D ik tatu r und des Dezisionismus, der gegen den letzten und äußersten Feind, den atheistischen Sozialismus, ausgezögen w ar, sah sich plötzlich in einem Dickicht unabsehbarer K ontroversen, die sich in seinem eigenen Lager erhoben und den Boden u ntergruben, auf dem die großartige A podiktizität seiner diktatorischen H altung stand. D ie Theo­ logie, die er als das einzige feste Fundam ent politischer T heorien hin­ stellte, enthielt m ehr Möglichkeiten von D isputationen und D istinktionen, als er zugeben durfte, und die R olle des theologisierenden Laien er­ wies sich als inkom patibel m it der Rolle des T heoretikers der politischen D iktatur. Auch im Inhalt seines G edankenganges liegen hinreichende G ründe für seine U npopularität und seinen M ißerfolg. D ie M enschenverachtung, die ’sich in seinen Schriften äußert, ist zu groß und tief, als daß sie, wie bei manchen Pessim isten des 19. Jahrhunderts, romantisch interessant

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und anziehend w irken könnte. Sie ist ernst und furchtbar und scheint namentlich in den letzten Jahren seines Lebens oft dem W ahnsinn nahe. D er alte G oya hat kaum schlimmere und gräßlichere Szenen gemalt, als sie bei Donoso erscheinen. F ü r ihn ist der Mensch ein widerliches, lächerliches, von der Sünde völlig zerstörtes, dem Irrtu m anheim gefallenes Wesen, das, wenn nicht Gott selbst es erlöst hätte, verächtlicher w äre als das Reptil, das m ein Fuß zertritt. F ü r ihn ist die Weltgeschichte nur das taum elnde D ahintreiben eines Schiffes, mit einer Mannschaft betrunkener Matrosen, die gröhlen und tanzen, bis G ott das Schiff ins Meer stößt, damit w ieder Schweigen herrscht. Das alles ist zu schrecklich, als daß es einen A utor im 19. Ja h rh u n d ert angenehm und populär machen könnte; es w ird außerdem nicht etw a als okkasionelle, romantisch-pessimistische Im pres­ sion vorgetragen, sondern als Dogma und System. Auch die politischen Ansichten, die in den Briefen mit unbefangener Lebendigkeit ausgesprochen werden, erscheinen im Essay in einen systematischen Rahm en gesperrt und lassen ihren U rheber als einen System politiker und einen politischen D oktrin är erscheinen, der an sich schon etwas Unsympathisches hat und nun erst recht, w enn er m it solchem vernichtenden Pessimismus und solcher Menschenverachtung au ftritt. D enn eine D ik tatu r ertragen die Menschen des 19. Jahrhunderts nu r dann, w enn sie im Namen eines hum anitären Optimismus au ftritt, so, wie sie den K rieg nu r als K rieg gegen den Krieg und die Sklaverei n u r im Namen der F reiheit zulassen. Aus dem eigenartigen Eindruck, den eine solche Verbindung von katho­ lischer Theologie und politischem System auf einen Protestanten hervorrufen muß, e rk lä re ich m ir auch Bismarcks starken Affekt gegen Donoso, wie er an einer Stelle der „G edanken und E rinnerungen“ plötzlich hervor­ bricht. Bismarck hielt es für möglich, daß Österreich und Frankreich nach dem K riege von 1870 auf dem gemeinsamen Boden des Katholizismus ein­ ander näherkom m en und auch B ayern in ihre Kom bination hineinziehen w ürden. E r fürchtete ein katholisches System der Außenpolitik. In der Politik der K aiserin Eugenie scheint das wirklich ein starkes Motiv gewesen zu sein und dort zu phantastischen P länen geführt zu haben, die auf eine Vereinigung alle r katholischen Mächte — Frankreich, Österreich, Bayern, die R heinlande, Spanien, sogar L ateinam erika — gerichtet waren. D er bloße G edanke an die Möglichkeit eines gewaltigen katholischen Kom­ plexes von großer außenpolitischer K raft m ußte für Bismarck aufregend und beunruhigend sein. M einer Auffassung nach liegt in solchen Befürch­ tungen eine sehr wichtige, wenn auch noch nicht genügend beachtete W urzel des deutschen K ulturkam pfes, denn Bismarck hat aus den Revolutions­ jah ren von 1848/49 von Donoso gewußt, er kannte als konservativer Preuße den B erliner F reund Donosos, den russischen Gesandten von Meyendorff, er kannte die K aiserin Eugenie und die H intergründe des Planes, Mexiko unter einem habsburgischen Erzherzog zu einem K aisertum zu machen; er w ußte insbesondere, wie tief alle diese P olitiker davon überzeugt w aren, daß das protestantische und das katholische Deutschland zwei verschiedene

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Staaten bilden müßten. H ier konnte Bismarcks Besorgnis einen gef ähr licken außenpolitischen Feind der nationalen Einheit Deutschlands erblicken, wie um gekehrt die Idee der nationalen E inheit Deutschlands in den Augen Donosos und seiner Freunde ein gefährlicher und unnatürlicher, für Deutschland und Europa unerträglicher Irrtu m w ar. Seine theoretischen Ansichten m ußten dem spanischen K atholiken also von vielen Seiten her Abneigung und M ißtrauen einbringen. Es nützte ihm nichts, sondern w ar nu r ein w eiterer G run d seines Mißerfolges, daß er als praktischer Politiker ein ausgezeichneter, k la re r und praktischer Diplomat w ar und keineswegs ein apokalyptischer Schwärmer oder Phan­ tast. Vergleicht man seine politische Theorie mit seiner diplomatischen Praxis, so ergibt sich eine kaum kom patible V erbindung eines eschatologischen Propheten mit einem zielbew ußten D iplom aten von Fach. Eugenio d’O rs hat dafür eine unübertreffliche Form el geprägt: calido retorico, frio politico. Theorie und P raxis m ußten sich in einer solchen Situation gegen­ seitig desavouieren. Die mit ungeheurer Wucht aufgestellten ideologischen Thesen forderten ununterbrochen den Vergleich m it bekannten, leicht zu durchschauenden Tatsachen heraus. Es ist nicht schwer, das heute zu wissen, und allzu wohlfeil, sich daraufhin überlegen zu fühlen. W as seinen Kampf gegen den atheistischen Sozialismus angeht, so w endet sich Donoso aus­ schließlich gegen Proudhon. D ieser anarchistische Sozialist w ar fü r ihn ein Teufel und A bgesandter der Hölle. H eute sehen w ir, daß der Kam pf gegen Proudhon mit falscher Front geführt w urde, und als der eigentliche F ü h rer und H äresiarch des atheistischen Sozialismus erscheint heute K arl Marx. E r ist der eigentliche K leriker des ökonomischen D enkens, w ährend Proudhon eher als ein M oralist erscheint, der ganz in der lateinischen T radition steht und dessen geistige Energie aus einer moralischen Em pörung über die kapitalistische Zerstörung der Fam ilie entspringt. G erade von Proudhon geht die stärkste und intensivste K ritik des P arla­ m entarism us und Liberalism us aus; von ihm fü h rt eine Linie über Georges Sorel zum Faschismus, zum stato corporativo und zum Sow jetsystem , den eigentlichen Gegnern des heutigen Parlam entarism us. A ber in den ersten Jahren nach 1848 stand Proudhon im M ittelpunkt aller theoretischen E r­ örterungen über Sozialismus, und K arl M arx w ar in Frankreich außerhalb der sozialistischen Kreise noch für lange Zeit ganz unbekannt. H eute sehen w ir, was Donoso in seinem theologischen Kam pf gegen Proudhon nicht bem erken konnte, daß er in gewissem Sinne gegen einen V erbündeten und sogar Verwandten polem isierte, der mit ihm die Kom bination von Liberalism us und D em okratie bekäm pfte, und zw ar aus einer moralischen Strenge heraus, die ihm m it Recht den Nam en eines „Römers** ein­ gebracht hat. Aber stärker und auffälliger als diese leicht erklärliche falsche F ro n t ist der innere W iderspruch in der politischen Situation Donosos. Seine große theoretische Bedeutung für die Geschichte der gegenrevolutionären Theorie liegt darin, daß er die legitimistische A rgum entation aufgibt und

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nicht m ehr eine Staatsphilosophie der R estauration, sondern eine Theorie der D ik ta tu r auf stellt. H ier steigert er seine A ntithetik zu einem Bild des letzten Endkam pfes zwischen Atheism us und C hristentum , zwischen dem ungläubigen Sozialismus und den Resten einer christlich-europäischen G e­ sellschaftsordnung. H ier w ird er in seinen Schriften apokalyptisch und eschatologisch. A ber in der k onkreten W irklichkeit betrieb er als „frio politico“ eine Politik, die m an unmöglich u n ter den großartigen A spekten des Jüngsten Gerichtes sehen kann. D enn was er in W irklichkeit tat, w ar nichts anderes als die U nterstützung des Staatsstreiches Napoleons III. Man kann üb er die Innen- und A ußenpolitik dieses Neffen des großen Napoleon und über den Versuch einer zäsaristischen und bonapartistischen R estau­ ration denken, w ie m an w ill; m an k ann den Staatsstreich von 1851 aus m ancherlei G ründen billigen und für etw as sehr G utes halten, aber ihn mit apokalyptischen Ideen ideologisch zu fundieren, ist ganz unmöglich. Das M ißverhältnis von Pathos und R ealität ist hier allzu groß. In W irklich­ keit handelte es sich bei dem Staatsstreich Napoleons III. doch n u r um ein typisches Staatsproblem des europäischen 19. Jahrhunderts, nämlich um das V erhältnis von L egislative und E xekutive, um den Kam pf einer stärken E xekutive gegen ein regierungsunfähiges Parlam ent, das w eder selbst regieren konnte, noch zulassen w ollte, daß ein anderer regierte. N apo­ leon III., Bismarck und M ussolini haben die Frage einer regierungs­ fähigen E xekutive verschieden gelöst, jedenfalls bedurfte es dazu keiner Eschatologie, und es k an n die echte, im m er vorhandene und notwendige Eschatologie n u r gefährden, w enn m an sie m it derartigen politischen An­ gelegenheiten verbinden will. Alle diese verschiedenen G ründe fü r seinen M ißerfolg lassen leicht den Eindruck entstehen, als w äre Donoso selbst w iderlegt und die Vergessen­ heit, in die er geraten ist, gerechtfertigt. Das ist nicht der Fall. Eine falsche Apologie w äre freilich aussichtslos, und es hätte keinen W ert, m it pole­ mischer Überschätzung auf die H erabsetzung und M ißachtung des bedeuten­ den Mannes zu antw orten. Seine literarische A rt ist nun einm al in weitem Maße veraltet, seine M ethode überholt, und seine A rgum ente sind durch die geschichtliche Entw icklung teils relativiert, teils desavouiert. Trotzdem bleibt so viel an genialen A perçus und Intuitionen, daß m an in ihm einen der größten politischen D enker des 19. Jah rh u n d erts erkennen muß. Ein Mann, der im Jah re 1848 vorausgesehen hat, daß die kom mende sozia­ listische R evolution nicht in London, sondern in P etersburg ausbrechen werde, der schon 1848 in der V erbindung von Sozialismus und Slaw entum das eigentlich entscheidende Ereignis der kom m enden G eneration erblickte, ist ein politischer D enker von seltener Fähigkeit, in kom binierender Kon­ struktion die ideellen M otive der Menschen in ih re r letzten politischen Kon­ sequenz zu erkennen, und er verdient auch dann gehört zu w erden, wenn er sich m it einem unm odern gew ordenen Stil ins Theologische verliert. Dazu kommt, daß er in der Geschichte der K ritik des m odernen P arlam entaris­ mus alle entscheidenden G esichtspunkte endgültig form uliert hat. E r hat

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Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen

insbesondere die Problem atik der bürgerlichen Diskussion in ihrem letzten K ern erkannt, indem er die Bourgeoisie als eine „diskutierende Klasse” definiert und dem Versuch, einen Staat auf Diskussion aufzubauen, mit großer K raft den Gedanken der Dezision entgegenstellt. Das bleibt eine große theoretische und politische Leistung. Er hat darüber hinaus noch die einzigartige Bedeutung, daß er in einer Zeit relativierender Auflösung der politischen Begriffe und Gegensätze und in einer A tm osphäre ideologischen Betruges den Zentralbegriff jed er großen Politik erkennt und durch alle trügerischen und betrügerischen Verschleierungen hindurch festhält und hinter den tagespolitischen die große geschichtliche und wesentliche U nter­ scheidung von Freund und Feind zu bestimm en sucht. E r h at das ganz aus seiner Existenz heraus als spanischer K atholik getan, unter dem erschüttern­ den Eindruck des kapitalistisch w erdenden Europa, ohne jede persönliche Herrschsucht und G rausam keit und, im Gegenteil, m it der ganzen un­ b erührten H um anität seines Wesens, die ihn als Menschen so liebenswert macht. D ieser Philosoph einer radikalen D ik tatu r hat von sich selbst gesagt, daß er nicht die H ärte habe, um ein D ik tato r sein zu können — ein Zeugnis nicht gegen, sondern für seine Theorie, denn es beweist, daß seine Ideen von Kampf und Entscheidung aus der Betrachtung der politischen Dinge und der politischen Situation und nicht aus der p rivaten Bosheit eines menschenfeindlichen Gemüts entstanden. In seinem privaten W esen hat Donoso etwas im besten Sinne Liberales, ist er sogar besser und wesenhafter liberal als seine hum anitär m oralisierenden Gegner, und die eigent­ liche Heim at aller liberalen Q u alitäten ist doch die Sphäre des IndividuellPersönlichen, nicht die staatlicher und politischer Ideen. Es w äre wohl an der Zeit, diesen ungewöhnlichen und sympathischen Menschen als be­ deutende F igur der europäischen Geistesgeschichte in ih re r Reinheit und Größe zu erkennen und sich nicht m ehr an die M ängel und Unzulänglich­ keiten seiner D em onstrationen zu halten, sondern an das seltene Phänomen einer in säkularen H orizonten stehenden politischen Intuition.

15. Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen (1929) R e d e g e h a lte n a u f d e r T a g u n g d e s E u ro p ä isc h e n K u ltu rb u n d e s in B a rc e lo n a am 12. O k to b e r 1929 W ir in M itteleuropa leben so u s l'œ il des R u s s e s . Seit einem Ja h r­ hundert h at ihr psychologischer Blick unsere großen W orte und unsere Institutionen durchschaut; ihre V italität ist stark genug, sich unserer E r­ kenntnisse und Technik als Waffen zu bemächtigen; ihr Mut zum Ratio-

D a s Zeitalter der N eu tralisierun gen u nd E ntpolitisierun gen

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nalismus und zum Gegenteil, ihre K raft zur O rthodoxie im G uten und im Bösen sind überw ältigend. Sie haben die Verbindung von Sozialismus und Slawentum realisiert, die Donoso Cortes schon im Jahre 1848 als das entscheidende Ereignis des kommenden Jahrhunderts prophezeit hat. Das ist unsere Lage. Man w ird kein nennensw ertes W ort über K ultur und Geschichte sprechen können, ohne sich der eigenen k u ltu rellen und geschichtlichen Situation bew ußt zu sein. D aß alle geschichtliche E rkenntnis G egenw artserkenntnis ist, daß sie von der G egenw art ihr Licht und ihre Intensität erhält und im tiefsten Sinne n u r der G egenw art dient, weil aller Geist n u r gegenw ärtiger Geist ist, haben uns seit Hegel viele, am besten Benedetto Croce, gesagt. An zahlreichen berühm ten H istorikern der letz­ ten G eneration haben w ir die einfache W ahrheit noch vor Augen, und es gibt heute niem anden m ehr, der sich durch M aterialhaufen darüber täuschen ließe, wie sehr alle geschichtliche D arstellung und K onstruktion von naiven P rojektionen und Identifikationen erfüllt ist. Das erste also w äre Bew ußt­ sein der eigenen gegenw ärtigen Situation. D aran sollte mit jen er Be­ m erkung über die Russen erinnert w erden. Eine bew ußte Vergegen­ w ärtigung ist heute schwierig, aber auch um so notwendiger. Alle Zeichen deuten darauf, daß w ir in E uropa 1929 noch in einer Periode der Erm üdung und der Restaurationsversuche lebten, wie es nach großen K riegen gewöhn­ lich und begreiflich ist. F ast eine ganze G eneration der europäischen Menschheit w ar im 19. Jahrhundert, nach dem zw anzigjährigen Koalitions­ krieg gegen Frankreich, seit 1815 in einer derartigen Geistesverfassung, die sich auf die Form el reduzieren läßt: Legitim ität des status quo. Alle Argum ente einer solchen Zeit enthalten in W irklichkeit w eniger die W iederbelebung vergangener oder vergehender Dinge als ein k ram pf­ haftes, außen- und innenpolitisches: status quo, was sonst? W ährenddessen dient die Ruhe der Restaurationsstim m ung einer rapiden und ungestörten Entwicklung neuer Dinge und neuer Verhältnisse, deren Sinn und Richtung durch die restaurierten Fassaden verdeckt sind. Ist dann der Augenblick gekommen, so verschwindet der legitimistische V ordergrund wie ein leeres Phantom. Die Russen haben das europäische 19. Jah rhundert beim W ort ge­ nommen, in seinem K ern erkannt und aus seinen kulturellen Präm issen die letzten Konsequenzen gezogen. Man lebt immer unter dem Blick des rad i­ kaleren Bruders, der einen zwingt, die praktische Konklusion zu Ende zu führen. Ganz unabhängig von außen- und innenpolitischen Prognosen läßt sich eines bestimm t sagen: daß auf russischem Boden m it der A ntireligion der Technizität E rnst gemacht w urde und daß hier ein Staat entsteht, der mehr und intensiver staatlich ist als jem als ein Staat des absolutesten Fürsten, Philipps II., Ludwigs XIV. oder Friedrichs des Großen. Das alles ist als Situation nu r aus der europäischen Entwicklung der letzten Ja h r­ hunderte zu verstehen; es vollendet und übertrum pft spezifisch europäische Ideen und zeigt in einer enorm en Steigerung den K ern der m odernen Geschichte Europas.

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D as Zeitalter der N eu tra lisieru n g en u nd E n tp o litisieru n g en

Die Stufenfolge der wechselnden Zentralgebiete

Erinnern wir uns der Stufen, in denen sich der europäische Geist der letzten vier Jahrhunderte bewegt hat, und der verschiedenen geistigen Sphären, in denen er das Zentrum seines menschlichen Daseins fand. Es sind vier große, einfache, säkulare Schritte. Sie entsprechen den vier Jahr­ hunderten und gehen vom Theologischen zum Metaphysischen, von dort zum Humanitär-Moralischen und schließlich zum ökonomischen. GrößeDeuter der Menschheitsgeschichte, Yico und Comte, haben diesen ein­ maligen europäischen Vorgang zu einem allgemeinen Gesetz der mensch­ lichen Entwicklung generalisiert, und in tausend Banalisierungen und Vulgarisierungen ist dann das berühmte „Drei-Stadien-Gesetz“ — vom Theologischen zum Metaphysischen, von dort zum „Wissenschaftlichen“ oder „Positivismus“ — propagiert worden. In Wahrheit kann man posi­ tiverweise nicht mehr sagen, als daß die europäische Menschheit seit dem 16 . Jahrhundert mehrere Schritte von einem Zentralgebiet zu einem andern getan hat und daß alles, was den Inhalt unserer Kulturentwicklung aus­ macht, unter der Nachwirkung solcher Schritte steht. In den vergangenen vier Jahrhunderten europäischer Geschichte hatte das geistige Leben vier verschiedene Zentren, und das Denken der aktiven Elite, die den jeweili­ gen Vortrupp bildete, bewegte sich in den verschiedenen Jahrhunderten um verschiedene Mittelpunkte. N ur von diesen stets sich verlagernden Z entren aus sind die Begriffe der verschiedenen G enerationen zu verstehen. D ie V erlagerung — vom Theologischen ins M etaphysische, von dort ins H um anitär-M oralische und schließlich zum ökonom ischen — ist, um es nachdrücklich zu w iederholen, h ier n i c h t als ein geschichtsphilosophisches G e s e t z im Sinne des DreiStadien-Gesetzes oder ähnlicher K onstruktionen gemeint. Ich spreche nicht von der K ultur der Menschheit im ganzen, nicht vom R hythm us der W elt­ geschichte und verm ag w eder von C hinesen noch von Indern oder Ä gyp­ te rn etw as zu sagen. Die Stufenfolge der wechselnden Z entralgebiete ist auch w eder als eine fortlaufende Linie eines Fortschritts nach oben, noch als das G egenteil gedacht, und ob m an h ier einen Stufengang von oben nach unten oder von unten nach oben, einen A ufstieg oder einen V erfall annehm en will, ist eine F rage fü r sich. Endlich w äre es auch ein Miß­ verständnis, die Stufenfolge so auszulegen, als h ä tte es in jedem dieser Jah rh u n d erte nichts anderes gegeben als gerade das Zentralgebiet. Viel­ m ehr besteht imm er ein pluralistisches N ebeneinander verschiedener bereits durchlaufener Stufen; Menschen der gleichen Zeit und des gleichen Landes, ja derselben Fam ilie leben nebeneinander auf verschiedenen Stufen, und das heutige B erlin zum Beispiel liegt in der k u ltu re llen L uft­ linie näher bei N euyork und bei M oskau als bei München oder T rier. Die wechselnden Z entralgebiete betreffen also n u r das k o n k rete Faktum , daß in diesen vier Jah rh u n d erten europäischer Geschichte die führenden E liten wechselten, daß die Evidenz ih re r Ü berzeugungen und A rgum ente sich

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fortw äh rend änderte, ebenso wie der Inhalt ih rer geistigen Interessen, das Prinzip ihres Handelns, das Geheimnis ih re r politischen Erfolge und der B ereitw illigkeit großer Massen, sich von bestim m ten Suggestionen beein­ drucken zu lassen. K lar und besonders deutlich als einm alige geschichtliche W endung ist der Ü bergang von der Theologie des 16. zum Metaphysischen des 17. Jah r­ hunderts, zu je n e r nicht n u r metaphysisch, sondern auch wissenschaftlich größten Zeit Europas, dem eigentlichen H eroenzeitalter des okzidentalen Rationalism us. Diese Epoche systematisch wissenschaftlichen Denkens um­ faßt gleichzeitig Suarez und Bacon, Galilei, K epler, Descartes, Grotius, Hobbes, Spinoza, Pascal, Leibniz und Newton. Alle die erstaunlichen m athe­ matischen, astronomischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse dieser Zeit w aren eingebaut in ein großes metaphysisches oder „natürliches“ System, alle D enker w aren M etaphysiker großen Stils, und selbst der charakteristische A berglaube der Zeit w ar kosmisch-rationalistisch in der Form der Astrologie. Das folgende 18. Jah rh u n d ert schob, mit H ilfe der K onstruktionen einer deistischen Philosophie, die M etaphysik beiseite und w ar eine V ulgarisation großen Stils, A ufklärung, schriftstellerische An­ eignung der großen Ereignisse des 17. Jahrhunderts, Hum anisierung und R ationalisierung. Es läßt sich im einzelnen verfolgen, wie Suarez in zahl­ losen populären Schriften w eiter w irkt; für manche fundam entalen Begriffe der M oral und der Staatstheorie ist Pufendorff nur ein Epigone von Suarez, und schließlich der c o n tr a t social Rousseaus w ieder n u r eine V ulgarisation Pufendorffs. A ber das spezifische Pathos des 18. Jahrhunderts ist das der „Tugend“, und ih r mythisches W ort ist „vertu“. Auch der Romantizismus von Rousseau sprengt noch nicht bew ußt den Rahm en der moralischen Kategorien. Ein kennzeichnender Ausdruck dieses Jahrhunderts ist der Gottesbegriff Kants, in dessen System Gott, wie man es etw as grob gesagt hat, n u r noch als ein „Parasit der E th ik “ erscheint; jedes W ort in der W ort­ verbindung „K ritik der reinen V ernunft“ — K ritik, rein und V ernunft — richtet sich polemisch gegen Dogma, M etaphysik und Ontologismus. D ann folgt m it dem 19. Jah rh u n d ert ein Säkulum scheinbar hybrider und unmöglicher V erbindung von ästhetisch-romantischen und ökonomisch­ technischen Tendenzen. In W irklichkeit bedeutet die Rom antik des 19. Ja h r­ hunderts — w enn w ir das ein wenig dadaistische W ort Rom antik nicht in romantischer W eise zum V ehikel der V erw irrungen machen wollen — nur die Zwischenstufe des Ä sthetischen zwischen dem Moralismus, des 18. und dem Ökonom ism us des 19. Jahrhunderts, n u r einen Übergang, der v er­ m ittels der Ä sthetisierung aller geistigen G ebiete bew irkt w urde, und zwar sehr leicht und erfolgreich. D enn der W eg vom M etaphysischen und Mora­ lischen zum ökonom ischen geht über das Ästhetische, und der Weg über den noch so sublim en ästhetischen Konsum und Genuß ist der sicherste und bequem ste W eg zur allgem einen Ö konom isierung des geistigen Lebens und zu einer G eistesverfassung, die in P roduktion und Konsum die zentralen K ategorien menschlicher Existenz findet. In der geistigen W eiterentw ick-

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lung dient der romantische Ästhetizism us dem ökonom ischen und ist er ein typisches Begleitphänomen. D as Technische aber erscheint im 19. Jahr­ hundert noch in engster V erbindung m it dem ökonom ischen, als „Indu­ strialism us“. H ierfür ist die bekannte Geschichte- und Gesellschafts­ konstruktion des m arxistischen Systems das kennzeichnende Beispiel. Sie h ält das ökonom ische für Basis und Fundam ent, fü r den „U nterbau“ alles Geistigen. Im K ern des ökonom ischen sieht sie freilich schon das Tech­ nische, und die wirtschaftlichen Epochen der Menschheit bestimm t sie nach dem spezifischen technischen Mittel. Trotzdem ist das System als solches ein ökonomisches System, und die technizistischen Elem ente treten erst in späteren Vulgarisierungen hervor. Im ganzen w ill der M arxismus ökono­ misch denken, und damit bleibt er im 19. Jahrhundert, das wesentlich öko­ nomisch ist. A llerdings w ird schon im 19. Jah rh u n d ert der technische Fortschritt so erstaunlich und ändern sich infolgedessen die sozialen und wirtschaft­ lichen Situationen so schnell, daß alle moralischen, politischen, sozialen und ökonomischen Problem e von der R apidität dieser technischen Entwicklung ergriffen werden. U nter der ungeheuren Suggestion imm er neuer, über­ raschender Erfindungen und Leistungen entsteht eine Religion des tech­ nischen Fortschritts, für welche alle anderen Problem e sich eben durch den technischen Fortschritt von selber lösen. D en großen Massen industriali­ sierter Länder w ar dieser G laube evident und selbstverständlich. Sie über­ springen alle Zwischenstufen, die für das D enken der führenden Eliten charakteristisch sind, und bei ihnen w ird aus der Religion des W under­ und Jenseitsglaubens ohne M ittelglied gleich eine Religion der technischen W under, menschlicher Leistungen und N aturbeherrschung. Eine magische Religiosität geht in eine ebenso magische Technizität über. So erscheint das 20. Jah rh u n d ert bei seinem Beginn als das Z eitalter nicht n u r der Technik, sondern auch eines religiösen G laubens an die Technik. Als Zeitalter der Technik ist es oft bezeichnet w orden, aber die G esam tsituation ist damit n u r vorläufig gekennzeichnet, und die F rage nach der Bedeutung der über­ w ältigenden Technizität soll zunächst offen bleiben. D enn in W ahrheit ist der G laube an die Technik n u r das Ergebnis einer bestim m ten Richtung, in welcher sich die V erlagerung der Zentralgebiete bewegt, und als Glaube aus der Folgerichtigkeit der V erlagerungen entstanden. Alle Begriffe der geistigen Sphäre, einschließlich des Begriffes Geist, sind in sich pluralistisch und n u r aus der konkreten politischen Existenz heraus zu verstehen. Wie jede N ation einen eigenen Begriff von Nation h a t und die konstituierenden M erkm ale der N ationalität bei sich selber und nicht bei den andern findet, so hat jede K ultur und jede K ultur­ epoche ihren eigenen Begriff von K ultur. Alle wesentlichen Vorstellungen der geistigen Sphäre des Menschen sind existentiell und nicht normativ. W enn das Zentrum des geistigen Lebens sich in den letzten vier Ja h r­ hunderten fortw ährend verlagert, so ändern sich infolgedessen auch fort­ w ährend alle Begriffe und W orte, und es ist notwendig, sich der Mehr-

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deutigk eit jedes W ortes und Begriffes zu erinnern. Die m eisten und gröbsten M ißverständnisse (von denen allerdings viele B etrüger leben) e rk lä re n sieb aus der falschen Ü bertragung eines auf einem bestimm ten G ebiet — etw a n u r im M etaphysischen oder n u r Moralischen oder n u r im ökonom ischen — beheim ateten Begriffs auf die anderen, übrigen Gebiete des geistigen Lebens. Es ist nicht n u r so, daß die Vorgänge und Ereignisse, welche auf die Menschen innerlich Eindruck machen und zum Gegenstand ihres N achdenkens und ih re r G espräche w erden, sich stets nach dem Z entralgebiet richten — das E rdbeben von Lissabon zum Beispiel konnte im 18 . J a h rh u n d e rt eine ganze F lu t m oralisierender L ite ratu r hervorrufen, w äh re n d heute ein ähnliches Ereignis ohne tiefere intellektuelle Nach­ w irk u n g bleibt, dagegen eine K atastrophe in der ökonomischen Sphäre, ein g ro ß er K urssturz oder Zusammenbruch, nicht n u r das praktische, son­ d ern auch das theoretische Interesse breitester Schichten intensiv beschäf­ tigt. Auch die spezifischen Begriffe der einzelnen Jah rh u n d erte erhalten ih ren charakteristischen Sinn von dem jew eiligen Zentralgebiet des Ja h r­ hunderts. Ich d a rf das an einem Beispiel deutlich machen. D ie Vorstellung eines F o r t s c h r i t t s zum Beispiel, einer Besserung und Vervollkomm­ nung, m odern gesprochen einer R ationalisierung, w urde im 18 . Jah rh u n d ert herrschend, und zw ar in einer Zeit hum anitär-m oralischen Glaubens. F o rt­ schritt b ed eu tete infolgedessen vor allem Fortschritt in der A ufklärung, F ortschritt in B ildung, Selbstbeherrschung und Erziehung, m o r a l i s c h e V ervollkom m nung. In einer Zeit ökonomischen oder technischen Denkens w ird der F ortschritt stillschweigend und selbstverständlich als ökonomi­ scher oder technischer Fortschritt gedacht, und der hum anitär-m oralische F ortschritt erscheint, soweit er überh au p t noch interessiert, als Neben­ p ro d u k t des ökonomischen Fortschritts. Ist ein G ebiet einm al zum Z entral­ gebiet gew orden, so w erden die Problem e der anderen G ebiete von dort aus gelöst und gelten n u r noch als Problem e zw eiten Ranges, deren Lösung sich von selbst ergibt, w enn n u r die Problem e des Zentralgebiets gelöst sind. So ergibt sich fü r ein theologisches Zeitalter alles von selbst, wenn die theologischen F rag en in O rdnung gebracht sind; alles andere w ird den Menschen dann „zugegeben w erd en “. Entsprechend für die anderen Zeit­ alter: fü r eine hum anitär-m oralischje Zeit handelt es sich nur darum , die Menschen m oralisch zu erziehen und zu bilden, alle Problem e w erden zu E rziehungsproblem en; fü r eine ökonomische Zeit braucht man n u r das Problem der G ütererzeugung und G üterverteilu ng richtig zu lösen, und alle m oralischen und sozialen F ragen machen keine Schwierigkeiten m ehr; fü r das bloß technische D enken w ird durch neue technische Erfindungen auch das ökonomische Problem gelöst und treten alle Fragen, einschließlich der ökonomischen, vor dieser Aufgabe des technischen Fortschritts zurück. Ein anderes, soziologisches Beispiel fü r den Pluralism us solcher Begriffe: D ie typische Erscheinung des R epräsentanten der G eistigkeit und der P ublizität, der C lerc, w ird in seiner spezifischen Besonderheit für jedes Ja h rh u n d e rt vom Z entralgebiet aus bestim m t. Dem Theologen und Prädi-

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kanten des 16. Jahrhunderts folgt der gelehrte System atiker des 17. Jahr­ hunderts, der in einer w ahren G elehrtenrepublik lebt und von den Massen w eit entfernt ist; dann folgen die Schriftsteller der A ufklärung des immer noch aristokratischen 18. Jahrhunderts. W as das 19. Jah rh u n d ert angeht, so darf m an sich durch das Interm ezzo der romantischen Genies und die vielen P riester einer P rivatreligion nicht b eirren lassen; der C lerc des 19. Jah rh u n d erts (das größte Beispiel ist K arl Marx) w ird zum ökonomi­ schen Sachverständigen, und die F rage ist nur, wie w eit das ökonomische D enken überhaupt den soziologischen T yp des C lerc noch zuläßt und N ationalökonom en und ökonomisch gebildete Syndici eine geistige F ü h rer­ schicht darstellen können. F ü r das technizistische D enken scheint ein Clerc jedenfalls nicht m ehr möglich zu sein, w orüber unten bei der Behandlung dieses Z eitalters der Technizität noch zu sprechen ist. Die P lu ralität des C le rc -Typus ist aber schon nach diesen kurzen Hinw eisen deutlich genug. W ie gesagt: alle Begriffe und V orstellungen der geistigen Sphäre: Gott, F reiheit, Fortschritt, die anthropologischen V orstellungen von der mensch­ lichen N atur, was Öffentlichkeit ist, rational und R ationalisierung, schließ­ lich sowohl der Begriff der N atur wie der Begriff der K ultur selbst, alles e rh ält seinen konkreten geschichtlichen Inhalt von der Lage des Zentral­ gebietes und ist n u r von dort aus zu begreifen. Vor allem nimmt auch der S t a a t seine W irklichkeit und K raft aus dem jew eiligen Zentralgebiet, w eil die m aßgebenden Streitthem en der F reund-F eind-G ruppierungen sich ebenfalls nach dem m aßgebenden Sach­ gebiet bestimmen. Solange das Religiös-Theologische im Zentrum stand, h atte der Satz cujus regio eju s religio einen politischen Sinn. Als das Religiös-Theologische aufhörte, Z entralgebiet zu sein, verlo r auch dieser Satz sein praktisches Interesse. E r ist inzwischen über das ku ltu relle Sta­ dium der N ation und des N ationalitätenprinzips (cujus regio ejus natio) ins ökonom ische gew andert und besagt dann: In einem und demselben Staat kann es nicht zwei w idersprechende W irtschaftssystem e geben; kapi­ talistische und kommunistische W irtschaftsordnung schließen einander aus. D er Sow jetstaat hat den Satz: cujus regio ejus oeconomia in einem Umfang verw irklicht, der beweist, daß der Zusam m enhang von kom paktem Gebiet und kom pakter geistiger H om ogenität keinesw egs n u r fü r die Religions­ käm pfe des 16. Jahrhunderts und n u r fü r die Masse europäischer Kleinund M ittelstaateu besteht, sondern sich imm er den wechselnden Z entral­ gebieten des geistigen Lebens und den wechselnden Dim ensionen a u ta rk er W eltreiche anpaßt. Das W esentliche dieser Erscheinung liegt darin, daß ein hom ogener W irtschaftsstaat dem ökonomischen D enken entspricht. Ein d e rartig er Staat w ill ein m oderner, um die eigene Zeit- und K ulturlage w i s s e n d e r Staat sein. E r muß den Anspruch erheben, die geschicht­ liche G esam tentw icklung richtig zu erkennen. D arau f b eru h t sein Recht, zu herrschen. Ein Staat, der in einem ökonomischen Z eitalter darauf ver­ zichtet, die ökonomischen V erhältnisse von sich aus richtig zu erkennen und zu leiten, muß sich gegenüber den sozialen F rag en und Entscheidungen

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für n e u tra l e rk lä re n und verzichtet dam it auf seinen Anspruch, zu herrschen. Es ist nun ein m erkw ürdiges Phänom en, daß der europäische liberale Staat des 19. Jah rhunderts sich selbst als stato neutrale e agnostico hin­ stellen und seine Existenzberechtigung gerade in seiner N eutralität erblicken konnte. Das hat verschiedene G ründe und läßt sich nicht mit einem W ort und nicht aus einer einzigen Ursache erklären. H ier in ter­ essiert es als Symptom einer allgem einen kulturellen N eutralität über­ haupt; denn die L ehre vom neutralen Staat des 19. Jahrhunderts steht im R ahm en einer allgem einen Tendenz zu einem geistigen Neutralism us, der für die europäische Gesdiichte der letzten Jahrhunderte charakteristisch ist. H ier liegt, glaube ich, die geschichtliche E rklärung für das, was man als Z eitalter der Technik bezeichnet hat. Das bedarf noch wenigstens einer kurzen D arlegung.

Die Stufen der Neutralisierung und Entpolitisierung D ie oben dargelegte Stufenfolge — vom Theologischen über das Meta­ physische und das Moralische zum ökonom ischen — bedeutet gleichzeitig eine Reihe fortschreitender N eutralisierungen der Gebiete, von welchen das Zentrum w egverlegt w urde. F ü r die stärkste und folgenreichste aller geistigen W endungen der europäischen Geschichte halte ich den Schritt, den das 17. Ja h rh u n d e rt von der überlieferten christlichen Theologie zum System einer „natürlichen“ W issenschaftlichkeit getan hat. Bis auf den heutigen Tag ist dadurch die Richtung bestimm t worden, die alle w eitere Entwicklung nehm en mußte. U nter dem großen Eindruck dieses Vor­ ganges stehen alle die verallgem einernden „Gesetze“ der Menschheits­ geschichte, wie Comtes D rei-Stadien-G esetz, Spencers K onstruktion der Entwicklung vom m ilitärischen zum industriellen Zeitalter und ähnliche geschichtsphilosophische K onstruktionen. Im K ern der erstaunlichen Wen­ dung liegt ein elem entar einfaches, für Jahrhunderte bestimmendes G rund­ motiv, nämlich das Streben nach einer neutralen Sphäre. Nach den aussichtslosen theologischen D isputationen und Streitigkeiten des 16. Ja h r­ hunderts suchte die europäische Menschheit ein neutrales Gebiet, in welchem der S treit aufhörte, und wo man sich verständigen, einigen und gegenseitig überzeugen konnte. Man sah daher von den um strittenen Be­ griffen und A rgum entationen der überlieferten christlichen Theologie ab und ko n stru ierte ein „natürliches“ System der Theologie, der M etaphysik, der M oral und des Rechts. D er geistesgeschichtliche Vorgang ist von D ilthey in einer mit Recht berühm ten D arlegung geschildert worden, in der vor allem die große Bedeutung der stoischen T radition hervorgehoben ist. Aber das W esentliche scheint m ir doch darin zu liegen, daß das bisherige Zentralgebiet, die Theologie, verlassen w ird, weil es Streitgebiet ist, und daß m an ein anderes neutrales Gebiet aufsucht. Das bisherige Zentral­ gebiet w ird dadurch neutralisiert, daß es aufhört, Zentralgebiet zu sein, und auf dem Boden des neuen Zentralgebietes hofft man das Minimum an

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Übereinstim m ung und gemeinsam en Präm issen zu finden, das Sicherheit, Evidenz, V erständigung und F rieden ermöglicht. D am it w ar die Richtung zur N eutralisierung und M inim alisierung eingeschlagen und das Gesetz akzeptiert, nach welchem die europäische Menschheit fü r die folgenden Jah rh u n d e rte „angetreten“ ist. D ie in vielen Jah rh u n d erten theologischen D enkens herausgearbeiteten Begriffe w erden jetz t uninteressant und Privatsache. G ott selbst w ird in der M etaphysik des Deismus im 18. Jah rh u n d e rt aus der W elt heraus­ gesetzt und gegenüber den K äm pfen und G egensätzen des wirklichen Lebens zu einer n eutralen Instanz; er w ird, wie H am ann gegen K ant gesagt hat, ein Begriff und hört auf, ein W esen zu sein. Im 19. Jah rh u n d ert w ird erst der Monarch, dann der S taat zur n eu tralen G röße, und hier vollzieht sich in der liberalen L ehre vom pouvoir neu tre und von dem stato neutrale ein K apitel politischer Theologie, in welchem der Prozeß der N eutralisie­ rung seine klassischen Form eln findet, w eil e r je tz t auch das letzte, die politische Macht, ergriffen hat. A ber es gehört zur D ialek tik einer solchen Entwicklung, daß m an gerade durch die V erlagerung des Zentralgebietes stets ein neues K am pfgebiet schafft. A uf dem neuen, zunächst für neutral gehaltenen Felde entfaltet sich sofort m it neuer Intensität der Gegensatz der Menschen und Interessen, und zw ar um so stärk er, je fester m an das neue Sachgebiet in Besitz nimmt. Im m er w andert die europäische Mensch­ heit aus einem K am pfgebiet in n eutrales G ebiet, im m er w ird das neu gewonnene n eu trale G ebiet sofort w ieder K am pfgebiet und w ird es not­ wendig, neue n eu trale Sphären zu suchen. Auch die Naturw issenschaft] ichk e it konnte den F rieden nicht herbeiführen. Aus den Religionskriegen w urden die halb noch k u ltu re ll, halb bereits ökonomisch determ inierten N ationalkriege des 19. Jah rh u n d erts und schließlich einfach W irtschafts­ kriege. D ie Evidenz des heute v erb reiteten G laubens an die Technik beruht n u r darauf, daß m an glauben konnte, in der Technik den absolut und end­ gültig n eu tralen Boden gefunden zu haben. D enn scheinbar gibt es nichts N eutraleres als die Technik. Sie dient jedem so, w ie der R undfunk für Nachrichten aller A rt und jeden Inhalts zu gebrauchen ist, oder wie die Post ihre Sendungen ohne Rücksicht auf den In h alt b efördert und sich aus d er Technik des Postbetriebes kein K riterium fü r die Bew ertung und B eurteilung der beförderten Sendung ergeben kann. G egenüber theo­ logischen, m etaphysischen, m oralischen und selbst ökonomischen Fragen, üb er die m an ewig streiten kann, haben die rein technischen Problem e etw as erquickend Sachliches; sie kennen einleuchtende Lösungen, und man k an n es verstehen, daß m an sich aus der u n en tw irrb aren P roblem atik aller anderen Sphären in die Technizität zu retten suchte. H ier scheinen alle V ölker und N ationen, alle K lassen und Konfessionen, alle M enschenalter und Geschlechter sich schnell einigen zu können, w eil sich alle mit gleicher Selbstverständlichkeit der V orteile und Bequem lichkeiten des technischen Kom forts bedienen. H ier scheint also der Boden eines allgem einen Aus­ gleichs zu sein, zu dessen P räk o n isato r sich M ax Scheler in einem V ortrag

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des Jahres 1927 gemacht hat. A ller Streit und V erw irrung des konfessio­ nellen, nationalen und sozialen H aders w ird hier auf einem völlig neutralen Gebiet nivelliert. Die Sphäre der Technik schien eine Sphäre des Friedens, der Verständigung und der Versöhnung zu sein. D er sonst unerklärliche Zusammenhang pazifistischen und technizistisehen G laubens e rk lä rt sich aus jen e r Richtung zur N eutralisierung, zu welcher der europäische Geist sich im 17. Jah rhundert entschlossen hat, und die er, wie unter einem Schicksal, bis ins 20. Jahrhundert hinein w eiter verfolgte. A ber die N eutralität der Technik ist etwas anderes als die N eutralität aller bisherigen Gebiete. Die Technik ist immer n u r Instrum ent und Waffe, und eben weil sie jedem dient, ist sie nicht neutral. Aus der Immanenz des Technischen heraus ergibt sich keine einzige menschliche und geistige Ent­ scheidung, am wenigsten die zur N eutralität. Jede A rt von K ultur, jedes Volk und jede Religion, jed er K rieg und jed er Friede kann sich der Technik als Waffe bedienen. Daß die Instrum ente und Waffen immer brauchbarer werden, macht die W ahrscheinlichkeit eines w irklichen G e­ brauchs nur um so größer. Ein technischer Fortschritt braucht w eder m eta­ physisch noch moralisch und nicht einm al ökonomisch ein Fortschritt zu sein. W enn heute noch viele Menschen von der technischen Vervollkomm­ nung auch einen hum anitär-m oralischen Fortschritt erw arten, so v er­ knüpfen sie in einer ganz magischen Weise Technik und Moral und setzen dabei außerdem in etwas naiver Weise immer nur voraus, daß man das großartige Instrum entarium der heutigen Technik n u r in ihrem eigenen Sinne gebrauchen werde, das heißt soziologisch, daß sie selber die H erren dieser furchtbaren Waffen w erden und die ungeheure Macht beanspruchen dürfen, die dam it verbunden ist. A ber die Technik selbst bleibt, wenn ich so sagen darf, ku ltu rell blind. Aus der reinen Nichts-als-Technik läßt sich infolgedessen keine einzige der Folgerungen ziehen, die sonst aus den Zentralgebieten des geistigen Lebens abgeleitet w erden: w eder ein Begriff von kulturellem Fortschritt, noch der Typus eines C lerc oder geistigen Führers, noch eines bestimm ten politischen Systems. Die Hoffnung, daß sich aus dem technischen Erfindertum eine sozial herrschende Schicht entwickeln würde, ist bisher nicht in Erfüllung gegangen. Die K onstruktionen von Saint-Simon und anderen Soziologen, die eine „industrielle“ Gesellschaft erw arteten, sind entw eder nicht rein technizistisch, sondern teils m it humanitär-moralischen, teils mit ökonomischen Elem enten gemischt oder aber einfach phantastisch. Nicht einmal die ökonomische Führung und Direktion der heutigen W irtschaft ist in den H änden der Techniker, und bisher hat noch niem and eine von Technikern geführte Gesellschafts­ ordnung anders konstruieren können als in der Weise, daß er eine fü h re r­ und direktionslose Gesellschaft konstruierte. Auch Georges Sorel ist nicht Ingenieur geblieben, sondern ein Clerc geworden. Aus keiner bedeutenden technischen Erfindung läßt sich berechnen, welches ihre objektiven, poli­ tischen W irkungen sein werden. Die Erfindungen des 15. und 16. Ja h r­ hunderts w irkten freiheitlich, individualistisch und rebellisch; zur Er9 1682

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findung der Buchdruckerkunst gehört die Pressefreiheit. H eute sind die technischen Erfindungen M ittel einer ungeheuren M assenbeherrschung; zum R undfunk gehört das Rundfunkm onopol, zum Film die Filmzensur. D ie Entscheidung über F reiheit und Knechtschaft liegt nicht in der Technik als Technik. Sie kann revolutionär und reaktio när sein, der F reiheit und der U nterdrückung dienen, der Zentralisation und der Dezentralisation. Aus ihren spezifischen Prinzipien und Gesichtspunkten ergibt sich weder eine politische Fragestellung noch eine politische Antw ort. D ie uns vorangehende deutsche G eneration w ar von einer K ultur­ untergangsstim m ung erfaßt, die sich schon vor dem W eltkrieg äußerte und keineswegs auf den Zusammenbruch des Jahres 1918 und Spenglers U nter­ gang des Abendlandes zu w arten brauchte. Bei E rnst Troeltsch, Max Weber, W alter R athenau finden sich zahlreiche Ä ußerungen einer solchen Stim­ mung. Die unw iderstehliche Macht der Technik erschien hier als Herrschaft der Geistlosigkeit über den Geist, oder als vielleicht geistvolle, aber seelen­ lose Mechanik. An ein europäisches Jahrhundert, das über die „maladie du siècle“ klagt und die H errschaft C alibans oder „A fter us the Savage God“ erw artet, schließt sich eine deutsche G eneration, die über ein seelen­ loses Z eitalter der Technik klagt, in welchem die Seele hilflos und ohn­ mächtig ist. Noch in Max Schelers M etaphysik des ohnmächtigen Gottes oder in Leopold Zieglers K onstruktion einer bloß beiläufigen, fluktuieren­ den und schließlich doch ohnmächtigen Elite dokum entiert sich die Hilf­ losigkeit, sei es der Seele oder des Geistes, vor dem Z eitalter der Technik. Die Angst w ar berechtigt, weil sie aus einem dunklen G efühl für die Konsequenz des nun zu Ende getriebenen N eutralisierungsprozesses ent­ sprang. D enn m it der Technik w ar die geistige N eutralität beim geistigen Nichts angelangt. Nachdem man erst von der Religion und der Theologie, dann von der M etaphysik und dem Staat a b strah iert hatte, schien jetzt von allem K ulturellen überhaupt ab strah iert zu w erden und die N eutralität des ku ltu rellen Todes erreicht. W ährend eine vulgäre M assenreligion von der scheinbaren N eu tralität der Technik das menschliche Paradies erw ar­ tete, fühlten jen e großen Soziologen, daß die Tendenz, die alle Stufen­ folgen des m odernen europäischen Geistes beherrscht hat, nunm ehr die K ultu r selbst bedrohte. D azu kam die Angst vor den neuen Klassen und Massen, die auf der durch restlose Technisierung geschaffenen tabula rasa entstanden. Aus dem A bgrund eines ku ltu rellen und sozialen Nichts w ur­ den imm er neue, der überlieferten Bildung und dem überlieferten Ge­ schmack frem de oder sogar feindliche Massen herausgew orfen. Aber die Angst w ar doch schließlich nichts anderes als der Zweifel an der eigenen K raft, das großartige Instrum entarium der neuen Technik in seinen Dienst zu stellen, obwohl es n u r darauf w artet, daß m an sich seiner bedient. Auch ist es nicht zulässig, ein Ergebnis menschlichen V erstandes und menschlicher Disziplin, wie es jed e und insbesondere die m oderne Technik ist, einfach als tot und seelenlos hinzustellen und die Religion der Technizität mit der Technik selbst zu verwechseln. D er Geist der Technizität, der zu dem

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M assenglauben eines antireligiösen Diesseits-Aktivism us geführt hat, ist Geist, vielleicht böser und teuflischer Geist, aber nicht als mechanistisch abzutun und nicht der Technik zuzurechnen. E r ist vielleicht etw as G rauen­ haftes, aber selber nichts Technisches und Maschinelles. E r ist die Ü ber­ zeugung einer aktivistischen M etaphysik, der G laube an eine grenzenlose Macht und H errschaft des Menschen über die N atur, sogar über die mensch­ liche Physis, an das grenzenlose „Zurückweichen der N aturschranke“, an grenzenlose Veränderungs- und Glücksmöglichkeiten des natürlichen dies­ seitigen Daseins der Menschen. Das kann m an phantastisch und satanisch nennen, aber nicht einfach tot, geistlos oder m echanisierte Seelenlosigkeit. Ebenso entsprang die Furcht vor dem k u ltu rellen und sozialen Nichts eher einer panischen Sorge um den bedrohten status quo als einem ruhigen W issen um die Eigenart geistiger Prozesse und ih rer D ynam ik. Alle neuen und großen Anstöße, jede R evolution und jede Reform ation, jede neue E lite kommt aus Askese und freiw illiger oder unfreiw illiger Arm ut, wobei A rm ut vor allem den Verzicht auf die Sekurität des status quo bedeutet. Das Urchristentum und alle starken Reform en innerhalb des C hristentum s, die benediktinische, die cluniazensische und franziskanische Bewegung, das Täufertum und das P uritanertum , aber auch jede echte W iedergeburt mit ih re r Rückkehr zu dem einfachen Prinzip der eigenen Art, jedes echte rito rn ar al principio, jede R ückkehr zur unversehrten, nicht korru p ten N atur erscheint vor dem Kom fort und Behagen des bestehenden status quo als kulturelles oder soziales Nichts. Es wächst schweigend und im D unkel, und in seinen ersten A nfängen w ürde ein H istoriker und Soziologe w ieder­ um nur Nichts erkennen. D er Augenblick glanzvoller R epräsentation ist auch schon der Augenblick, in welchem jen er Zusammenhang m it der geheimen, unscheinbaren K raft gefährdet ist. *

D er Prozeß fortw ährender N eutralisierung der verschiedenen Gebiete des k u lturellen Lebens ist an seinem Ende angelangt, weil er bei der Technik angelangt ist. D ie Technik ist nicht m ehr n eu traler Boden im Sinne jenes N eutralisierungsprozesses, und jede starke P olitik w ird sich ih rer bedienen. Es kann daher n u r ein Provisorium sein, das gegenw ärtige Ja h r­ hundert im k u ltu rellen Sinn als das technische Jahrhundert aufzufassen. Der endgültige Sinn ergibt sich erst, w enn sich zeigt, welche A rt von Politik stark genug ist, sich der neuen Technik zu bemächtigen, und welches die eigentlichen Freund- und Feind-G ruppierungen sind, die auf dem neuen Boden erwachsen. * Große Massen industrialisierter V ölker hängen heute noch einer dumpfen Religion der Technizität an, weil sie, wie alle Massen, die radikale Konsequenz suchen und unbew ußt glauben, daß hier die absolute N eutrali­ tät gefunden ist, die m an seit Jahrhunderten sucht und mit welcher der Krieg auf hört und der universale F riede beginnt. Doch die Technik kann nichts tun, als den Frieden oder den K rieg steigern, sie ist zu beidem in gleicher W eise bereit, und der Name und die Beschwörung des Friedens 9*

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Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen

ändert nichts daran. W ir durchschauen heute den Nebel der Namen und der W orte, mit denen die psycho-technische Maschinerie der Massen­ suggestion arbeitet. W ir kennen sogar das geheime Gesetz dieses Vokabu­ larism us und wissen, daß heute der schrecklichste K rieg n u r im Namen des Friedens, die furchtbarste Sklaverei nur im Nam en der F reiheit und die schrecklichste Unmenschlichkeit n u r im Nam en der Menschheit möglich ist. W ir durchschauen endlich auch die Stimmung jen e r G eneration, die im Zeitalter der Technizität nur den geistigen Tod oder seelenlose Mechanik sah. W ir erkennen den Pluralism us des geistigen Lebens und wissen, daß das Zentralgebiet des geistigen Daseins kein neutrales G ebiet sein kann und daß es falsch ist, ein politisches Problem m it A ntithesen von mechanisch und organisch, Tod und Leben zu lösen. Ein Leben, das gegenüber sich selbst nichts m ehr sieht als den Tod, ist kein Leben m ehr, sondern Ohn­ macht und Hilflosigkeit. W er keinen anderen Feind m ehr h at als den Tod und in seinem Feinde nichts erblickt als leere Mechanik, ist dem Tode näher als dem Leben, und die bequeme A ntithese vom Organischen und Mecha­ nischen ist in sich selbst etw^s Roh-Mechanisches. Eine G ruppierung, die auf der eigenen Seite nur Geist und Leben, auf der anderen nu r Tod und Mechanik sieht, bedeutet nichts als einen Verzicht auf den Kam pf und hat n u r den W ert einer romantischen Klage. D enn das Leben käm pft nicht mit dem Tod und der Geist nicht m it der Geistlosigkeit. Geist käm pft gegen Geist, Leben gegen Leben, und aus der K raft eines integren Wissens ent­ steht die O rdnung der menschlichen Dinge. A b i n t e g r o n a s c i t u r o r d o .

i6. Staatsethik und pluralistischer Staat (1930) I. D ie heute am meisten verbreitete und durchaus herrschende Bew ertung des Staates w ird am besten durch die T itelüberschrift eines vielzitierten am erikanischen Aufsatzes (von E rnest B arker aus dem Jahre 1915) gekenn­ zeichnet: „the discredited state“, der in M ißkredit geratene Staat. A udi in sehr starken Staaten, deren außenpolitische Macht und innenpolitische O rdnung nicht gefährdet ist, in den V ereinigten Staaten von A m erika und in England, werden die überlieferten V orstellungen vom Staat seit dem Kriege lebhaft k ritisiert und ist der alte Anspruch des Staates, die sou­ veräne Einheit und G anzheit zu sein, erschüttert. In Frankreich haben syndikalistische T heoretiker schon im Jahre 1907 den Satz proklam iert: D er Staat ist tot. H ier gibt es seit über zwanzig Jahren eine juristische und soziologische L iteratur, die sowohl dem Staat als auch dem Gesetz jede Überlegenheit bestreitet und beides der Gesellschaft unterordnet. Als bedeutende und interessante Nam en seien hier von m odernen Juristen L é o n D u g u i t und M a x i m e L e r o y genannt. In D eutschland offen­ b a rt sich die Krisis erst m it dem Zusammenbruch des Bismarckschen Reichs, als die für unerschütterlich gehaltenen V orstellungen von Staat und Re­ gierung entfielen; h ier entsteht seit 1919 eine große K risenliteratur, für die es genügt, an den Titel eines Buches von A l f r e d W e b e r zu erinnern: Die Krisis des europäischen Staatsgedankens. D azu kom m t ein umfangreiches staats- und völkerrechtstheoretisches Schrifttum, das den Souveränitätsbegriff und m it diesem Begriff die überlieferte V orstellung vom Staat als einer alle G ruppen überragenden Einheit zu zerstören sucht. D ie E r s c h ü t t e r u n g d e s S t a a t e s i s t i m m e r a u c h e i n e E r s c h ü t t e r u n g d e r S t a a t s e t h i k . D enn alle überlieferten staats­ ethischen V orstellungen teilen das Schicksal des konkreten Staates, den sie stets voraussetzen, und geraten m it ihm in M ißkredit. W enn der „irdische Gott“ von seinem T hrone stürzt und das Reich der objektiven V ernunft und Sittlichkeit zu einem „magnum latrocinium “ w ird, dann schlachten die Parteien den mächtigen L eviathan und schneiden sich aus seinem Leibe jede ih r Stück Fleisch heraus. W as bedeutet dann noch „Staatsethik“ ? D er Stoß trifft nicht etw a n u r die Staatsethik H e g e l s , die aus dem Staat den T räger und Schöpfer einer eigenen E thik macht, nicht n u r die Idee des stato etico im Sinne der faschistischen D oktrin; er trifft auch die Staats­ ethik K a n t s und des liberalen Individualism us. W enn diese auch den Staat nicht als Subjekt und T räg er einer autonom en E thik ansieht, sondern ihre Staatsethik vor allem darin besteht, den Staat an ethische Norm en zu

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binden, so geht sie doch — mit Ausnahm e einiger rad ik aler Anarchisten — bisher imm er davon aus, daß der Staat eine oberste Instanz und der maß­ gebende Richter über das äußere „Mein und D ein“ ist, durch den der bloß norm ative und daher richterlose N aturzustand — ein status justitia (genauer judice) vacuus, in welchem jed e r Richter in eigener Sache ist - überw unden werde. O hne die V orstellung vom Staat als einer ü b e r ­ r a g e n d e n Einheit und Größe sind alle praktischen Ergebnisse Kantischer Staatsethik widerspruchsvoll und hinfällig. Das gilt am deutlichsten fü r die Lehre vom W iderstandsrecht. Trotz aller vernunftrechtlichen Rela­ tivierung des Staates hat K ant ein W iderstandsrecht gegen den Staat gerade aus dem G edanken der E i n h e i t des Staates abgelehnt. II. N euere angelsächsische Theorien vom Staat (hier interessieren am m eisten G. D. H. C o l e und H a r o l d I. L a s k i ) nennen sich selbst „pluralistisch“. Sie wollen dam it nicht n u r den Staat als eine höchst um­ fassende Einheit, sondern vor allem auch seinen ethischen Anspruch negieren, eine andere und höhere A rt sozialer V erbindung zu sein als irgendeine der vielen anderen Assoziationen, in denen Menschen leben. D er Staat w ird zu einer sozialen G ruppe oder Assoziation, die bestenfalls n e b e n , keinesfalls über den andern Assoziationen steht. In seiner ethischen Konsequenz fü h rt das zu dem Ergebnis, daß der einzelne Mensch in einer M ehrheit von ungeordnet nebeneinander geltenden sozialen Ver­ pflichtungen und Loyalitätsbeziehungen lebt: in der religiösen Gemein­ schaft, in wirtschaftlichen V erbänden, wie Gew erkschaften, Konzernen oder anderen O rganisationen, in einer politischen P artei, im Klub, in k u ltu rellen oder geselligen Vereinen, in der Fam ilie und mancherlei anderen sozialen G ruppen. Ü berall ist er zur L oyalität oder Treue ver­ pflichtet; überall ergibt sich eine E thik: Kirchenethik, Standesethik, G ew erk­ schaf tsethik, Fam ilienethik, V ereinsethik, Kontor- und Geschäftsethik usw. F ü r alle diese Pflichtenkomplexe, für die „ P l u r a l i t ä t d e r L o y a l i ­ t ä t e n “, gibt es keine „Hierarchie der Pflichten“, kein unbedingt maß­ gebendes Prinzip der Uber- und U nterordnung. Insbesondere erscheint die ethische Bindung an den Staat, die Pflicht zur T reue und Loyalität, nur als ein F all neben vielen anderen Bindungen, neben der L oyalität gegen die Kirche, die Gewerkschaft oder die Fam ilie; die L oyalität gegen den Staat h at keinerlei Vorrang, und die Staatsethik ist eine Spezialethik neben vielen anderen Spezialethiken. Ob es überhaupt noch eine soziale TotalE thik gibt, w ird w eder bei Cole noch bei Laski k lar; der eine spricht undeutlich von einer anscheinend allesum fassenden „society“, Laski von der „Menschheit“. III. D er große Eindruck, den diese Theorie heute machen muß, erk lä rt sich aus vielen guten Gründen, die auch philosophisch von Interesse sind. Wenn pluralistische Sozialtheoretiker wie Cole und Laski sich vor allem an die

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Em pirie halten, so tu n sie das als Pragm atisten und bleiben dabei in der Konsequenz ih re r pragm atischen Philosophie, auf* welche Laski sich aus­ drücklich b eruft. G erade er ist auch deshalb philosophisch interessant, w eil er, w enigstens der Absicht nach und scheinbar auch im Ergebnis, das p lu ra ­ listische W eltbild der Philosophie von W illiam J a m e s auf den S taat über­ trä g t und aus der Auflösung der monistischen E inheit des U niversum s in ein M ultiversum ein A rgum ent entnim m t, um auch die politische E inheit des S taates pluralistisch aufzulösen. Insofern gehört seine Auffassung des Staates in die geistesgeschichtliche Reihe der Phänom ene, die ich als „politische Theo­ logie“ bezeichnet habe. Die Ü bereinstim m ung des theologischen und m eta­ physischen W eltbildes m it dem Bild vom S taat läßt sich überall in der Geschichte menschlichen D enkens feststellen; ihre einfachsten Beispiele sind die ideellen Zusamm enhänge von Monarchie und Monotheismus, Konstitutionalism us und Deismus. D er Zusam m enhang k an n w eder m ateria­ listisch als bloßer „ideologischer Ü berbau“, Reflex oder „Spiegelung“, noch um gekehrt idealistisch oder spiritualistisch als „m aterieller U nterbau“ e r­ k lä rt werden. Es kom m t als ein w eiteres, geistesgeschichtlich interessantes Moment hinzu, daß die pluralistischen A rgum ente keineswegs absolut neu sind, sondern sich m it alten staatsphilosophischen T heorien verbinden und in­ sofern einer großen T rad itio n angehören. D ie Sozialethik von Cole recht­ fertigt allerdings einen sehr m odernen gewerkschafts- oder einen gilden­ sozialistischen Staat, und die pluralistische Lehre von L aski verbindet sich ebenfalls m it dem politischen Ziel und Ideal der G ew erkschaftsbew egung; auch die französischen K ritik e r der staatlichen Souveränität haben einen syndikalistischen Föderalism us vor Augen. Man h at daher auf den ersten Blick den Eindruck, ganz neuen, höchst m odernen T heorien zu begegnen. Das eigentlich Ü berraschende der theoretischen Situation liegt jedoch — geistesgeschichtlich gesehen — darin, daß A rgum ente und Gesichtspunkte, die sonst den Sozialphilosophen der römisch-katholischen Kirche oder anderer K irchen oder auch religiöser Sekten dazu dienten, den Staat gegen­ über der Kirche zu relativieren, nunm ehr im Interesse eines gew erkschaft­ lichen oder syndikalistischen Sozialismus vorgebracht w erden. Eines der L ieblingsargum ente von Laski ist der H inw eis auf Bismarcks K ulturkam pf, in welchem das dam als so mächtige Deutsche Reich die römische Kirche nicht besiegen konnte. Eines der wichtigsten Bücher, von denen die angelsäch­ sische pluralistische T heorie ausgeht, ist (neben G ierke und M aitland) John Neville Figgis’ „Churches in th e m odern State“ (1913); und Laski beru ft sich sogar auf einen Nam en, der bei uns in D eutschland durch die bekannte Schrift von G örres zu einem Sym bol des Kam pfes der universalen Kirche gegen den S taat gew orden ist, auf den heiligen A thanasius, und beschwört für seinen Sozialism us der zw eiten Internationale den Schatten dieses m ili­ tantesten K irchenvaters. Vor allem ab er entspricht die pluralistische Auffassung dem empirisch w irklichen Zustand, w ie m an ihn heute in den m eisten industriellen Staaten

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beobadhten kann. Insofern ist die pluralistische T heorie sehr modern und aktuell. D er Staat erscheint tatsächlich in w eitem Maße von den ver­ schiedenen sozialen G ruppen abhängig, bald als ein O pfer, bald als E r­ gebnis ih rer Abmachungen, ein Kom prom ißobjekt sozialer und wirtschaft­ licher Machtgruppen, ein Agglom erat heterogener Faktoren, Parteien, Interessenverbände, Konzerne, Gewerkschaften, Kirchen usw., die sich untereinander verständigen. Im Kompromiß der sozialen Mächte ist der Staat geschwächt und relativiert* ja überhaupt problem atisch geworden, weil schwer zu erkennen ist, was ihm noch an selbständiger Bedeutung zukommt. Er scheint, wenn nicht geradezu der D iener oder das Instrum ent einer herrschenden Klasse oder P artei, so doch ein bloßes P rodukt des Ausgleichs m ehrerer käm pfender G ruppen geworden zu sein, bestenfalls ein pouvoir neutre et interm édiaire, ein n eu traler V erm ittler, eine Aus­ gleichsinstanz zwischen den m iteinander käm pfenden G ruppen, eine Art clearing office, ein Schlichter, der sich jed er au to ritären Entscheidung ent­ hält, der völlig darauf verzichtet, die sozialen, wirtschaftlichen, religiösen Gegensätze zu beherrschen, der sie sogar ignoriert und offiziell nicht kennen darf. E r w ird ein „agnostischer“ Staat, der s t a t o a g n o s t i c o , den die faschi­ stische K ritik verhöhnt. G egenüber einem solchen G ebilde muß die ethische F rage der T reue und Loyalität anders beantw ortet w erden als gegenüber einer eindeutigen, überragenden und um fassenden Einheit. Das einzelne Individuum fühlt sich deshalb heute in vielen Staaten tatsächlich in einer P lu ralität ethischer Bindungen und ist durch religiöse Gemeinschaften, wirtschaftliche Verbände, k u ltu relle G ruppen und P arteien gebunden, ohne daß es im Konfliktsfall eine anerkannte Entscheidung über die Reihenfolge der vielen Bindungen gäbe. Einen solchen Zustand der empirischen W irklichkeit des sozialen Lebens darf die philosophische E rörterung nicht unbeachtet lassen. Denn bei einem Gegenstände wie dem Staat ist der Hinweis auf den Zustand empirischer W irklichkeit durchaus ein philosophisches und moralisches Argum ent. Der W ert des Staates liegt für jede staatsphilosophische Betrachtung — gleich­ gültig, ob individualistischer oder kollektivistischer Richtung — doch jeden­ falls in seiner konkreten W irklichkeit, und ein nicht w irklicher Staat kann nicht T räger oder A dressat k o n k reter staatsethischer Ansprüche, Pflichten und G efühle sein. Ethische Beziehungen w ie T reue und Loyalität sind in der W irklichkeit des konkreten Lebens n u r gegenüber konkret existierenden Menschen oder Gebilden möglich, nicht gegenüber K onstruk­ tionen und Fiktionen. D eshalb ist es auch staatsphilosophisch und staats­ ethisch nicht gleichgültig, ob der frühere Anspruch des Staates, allen anderen sozialen G ruppen im Konfliktsfall überlegen zu sein, jetzt entfällt. Auch für eine individualistische Staatstheorie besteht die Leistung des Staates darin, daß er die konkrete Situation bestimmt, in welcher ü b erhaupt erst m ora­ lische und rechtliche Normen gelten können. Jede Norm setzt nämlich eine norm ale Situation voraus. Keine Norm gilt im Leeren, keine in einer (mit Bezug auf die Norm) abnorm en Situation. W enn der Staat die „äußeren

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Bedingungen der Sittlichkeit“ setzt, so bedeutet das: er schafft die norm ale Situation. N ur darum ist er (nach Locke wie nach Kant) der oberste Richter. Bestimmt nicht m ehr der Staat, sondern die eine oder andere soziale G ruppe von sich aus diese konkrete N orm alität der Situation des einzelnen, die konkrete O rdnung, in welcher der einzelne lebt, so entfällt auch der ethische Anspruch des Staates auf Treue und Loyalität.

IV. Trotz seiner Übereinstim mung mit empirischen W ahrnehm ungen und trotz seiner großen philosophischen Bëachtlichkeit kann ein derartiger Pluralism us nicht das letzte W ort des heutigen staatsethischen Problem s sein. Geistesgeschichtlich betrachtet sind jene pluralistischen, gegen den in sich einheitlichen Staat gerichteten Argum ente keineswegs so außer­ ordentlich neu und modern, wie es zuerst den Anschein hat, w enn man, unter dem großen Eindruck der rapiden U m gruppierungen des heutigen sozialen Lebens, summarisch daran erinnert, daß Jahrtausende hindurch alle Staatsphilosophen von Plato bis Hegel die E inheit des Staates als höchsten W ert auffaßten. In W ahrheit gibt es bei allen diesen Philosophen viele Abstufungen, sehr starke K ritik an monistischen Ü berspannungen und sehr viele V orbehalte zugunsten selbständiger sozialer G ruppen der verschiedensten Art. B ekannt sind die Aristotelischen Einwendungen gegen Platos Ü bertreibung des politischen Monismus: D ie π ό λ ις , meint er, muß eine Einheit sein, μ ί α ν ε ίν α ι , wie auch die o fa ia , aber nicht ganz und gar, ά λ λ ' ού π ά ν τ ω ς (Politik I I 2, 19 und an vielen anderen Stellen des zweiten Buches). Thomas von Aquin, dessen Monismus schon wegen seines Mono­ theismus sehr stark h erv o rtritt, der in der Einheit den W ert des Staates erblickt und E inheit m it Frieden gleichsetzt (et ideo id ad quod tendit intentio m ultitudinem gubernantis est unitas sive pax, Summa Theol. Ia. Q. 103 A rt. 3), sagt doch im Anschluß an Aristoteles, daß die aufs äußerste getriebene Einheit den Staat zerstöre (maxima unitas destruit civitatem). A ußerdem steht bei ihm, wie bei allen Philosophen des K atholi­ zismus, die Kirche als selbständige societas perfecta neben dem Staat, der ebenfalls societas perfecta sein soll. Das ist ein Dualism us, der, wie jede Preisgabe der einfachen Einheit, einer E rw eiterung zum Pluralism us viele Argum ente bietet. Aus dieser eigenartigen H altung gegen den Staat e rk lä rt sich jene auf den ersten Blick etw as seltsame geistesgeschichtliche Allianz von römisch-katholischer Kirche und gewerkschaftlichem Föderalism us, die bei Laski zutage tritt. Gleichzeitig aber ist dam it bewiesen, daß Laskis staatstheoretischer Pluralism us einer größeren philosophischen V ertiefung bedarf, wenn er nicht von dem naheliegenden Einw and betroffen w erden soll, daß die von ihm verw erteten A rgum ente der katholischen Staats­ philosophie doch gerade aus einem besonders entschiedenen U niversalis­ mus hervorgehen. Die römisch-katholische Kirche ist kein pluralistisches Gebilde, und in ihrem Kam pf gegen den Staat ist der Pluralism us wenig­ stens seit dem 16. Jah rh u n d ert auf der Seite der nationalen Staaten. Eine

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pluralistische Sozialtheorie w iderspricht sich selbst, w enn sie den Monis­ mus und Universalism us der römisch-katholischen Kirche, zum U niversa­ lismus der zweiten oder d ritten Internationale säkularisiert, gegen den Staat ausspielt und dabei immer noch pluralistisch bleiben will. Schon in der Zw eideutigkeit einer solchen geistesgeschichtlichen Koa­ lition zeigt sich, daß der Pluralism us dieser m odernen Sozialtheorie un­ deutlich und in sich selbst problem atisch ist. E r ist polemisch gegen die bestehende staatliche Einheit gerichtet und sucht sie zu relativieren. Gleich­ zeitig sprechen die pluralistischen T heoretiker an den entscheidenden Punkten ih rer A rgum entation m eistens eine extrem individualistische Sprache. Insbesondere w ird auf die naheliegende und entscheidende Frage, w er den unverm eidlichen Konflikt der vielen verschiedenen Treue- und Loyalitätsbeziehungen entscheidet, die A ntw ort gegeben: das einzelne Individuum entscheidet selbst. Das bedeutet einen zweifachen W iderspruch. Erstens handelt es sich doch um eine s o z i a l e Situation, die das Individuum erfaßt, aber nicht beliebig von ihm geändert w erden kann; es handelt sich um eine Angelegenheit der Sozialethik und nicht der innerlichen Autonomie des einzelnen. Zwar entspricht es einer angelsächsischen Gesinnung, der­ artig individualistisch zu antw orten und die letzte Entscheidung dem einzelnen anheimzugeben, aber eine pluralistische Sozialethik gibt damit gerade das w ieder auf, was an ih r interessant und w ertvoll w ar, nämlich die Berücksichtigung der konkreten empirischen Macht sozialer G ruppen und der empirischen Situation, wie sie durch die Zugehörigkeit des Indi­ viduums zu m ehreren solcher sozialen G ruppen bestim m t wird. Es ist überdies empirisch unrichtig, daß das Individuum und nicht eine soziale G ruppe entscheide. Vielleicht gibt es einige gew andte und bewegliche Individuen, denen das Kunststück gelingt, sich zwischen den vielen mäch­ tigen sozialen G ruppen frei zu halten, wie m an von einer Eisscholle zur andern springt. A ber diese equilibristische A rt von F reih eit w ird man nicht als norm ale ethische Pflicht von der Masse der norm alen Staatsbürger verlangen können. Auch ist sie das G egenteil einer Entscheidung sozialer Konflikte. Wahrscheinlich w erden in der Em pirie, w enn die Einheit des Staates entfällt, die verschiedenen sozialen G ruppen als solche die Ent­ scheidung von sich aus, d. h. von ihren G ruppeninteressen aus, treffen. F ür das empirische Individuum aber gibt es erfahrungsgem äß keinen anderen Spielraum seiner F reiheit als denjenigen, den ein sta rk e r Staat ihm zu g arantieren vermag. Sozialer Pluralism us im Gegensatz zu staatlicher Ein­ heit bedeutet w eiter nichts, als daß der Konflikt der sozialen Pflichten der Entscheidung der einzelnen G ruppe überlassen bleibt. Das bedeutet dann Souveränität der sozialen G ruppen, nicht aber F reih eit und Autono­ mie des einzelnen Individuums. D er zweite W iderspruch liegt darin, daß der ethische Individualism us sein K orrelat im Begriff der Menschheit hat. D er empirische einzelne kann sich nicht selbst genügen und nicht von seiner Einzelheit aus ethische Konflikte des sozialen Lebens entscheiden. F ü r eine Individualethik hat der einzelne seinen W ert n u r als Mensch; der maß-

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gebende Begriff ist demnach der der Menschheit. W irklich erscheint bei Laski die Menschheit als höchste Instanz, und zw ar die Menschheit als Ganzes; und Cole meint, w enn auch unklar, mit dem W ort „society“ wohl etwas Ähnliches wie Menschheit. D as aber ist der denkbar w eiteste und größte U niversalism us und Monismus und alles andere als eine p lu ra ­ listische Theorie. Ebenso undeutlich wie der eigene Pluralism us bleibt der G egner jen er Theorie, nämlich der Staat als die Einheit, die vom Pluralism us erfaßt w erden soll. Schon aus den obigen philosophiegeschichtlichen A ndeutungen läßt sich entnehm en, daß die politische E inheit niem als so absolut monistisch und alle anderen sozialen G ruppen vernichtend aufgefaßt w erden kann und auf gef aßt w orden ist, wie es die „P luralisten“ aus polemischen G ründen manchmal hinstellen und wie es nach den sim plifizierenden Form en von Juristen manchmal anzunehm en ist. W enn Juristen von der „Allmacht“ des Souveräns, des Königs oder des Parlam ents sprechen, so muß m an ihre barock übertreibenden Form eln daraus verstehen, daß es sich im Staat des 16. bis 18. Ja h rh u n d erts darum handelte, das pluralistische Chaos der Kirchen und Stände zu überw inden. Man macht sich die Aufgabe zu leicht, w enn m an sich an solche Redew endungen hält. Auch der absolute Fürst des 17. und 18. Jah rh u n d erts w ar gezwungen, göttliches und n a tü r­ liches Recht, d. h. soziologisch gesprochen, Kirche und Fam ilie zu respek­ tieren und die m annigfachsten Rücksichten auf überlieferte Einrichtungen und w ohlerw orbene Rechte zu nehmen. D ie E inheit des Staates ist stets eine Einheit aus sozialen V ielheiten gewesen. Sie w ar zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Staaten sehr verschieden, imm er aber kom plex und in gewissem Sinn in sich selbst pluralistisch. Mit dem Hinweis auf diese selbstverständliche K om plexität ist vielleicht ein überspannter Monis­ mus w iderlegt, nicht aber das Problem der politischen Einheit gelöst. A ußer­ dem aber gibt es doch, auch abgesehen von jen e r K om plexität, viele versdiiêdenartige G estaltungsm öglichkeiten der politischen Einheit. Es gibt Einheit von oben (durch Befehl und Macht) und E inheit von unten (aus der substantiellen Hom ogenität eines Volkes); Einheit durch fortw ährende V ereinbarungen und Kompromisse sozialer G ruppen oder durch ander­ weitige, irgendw ie b ew irkte A usbalanzierungen dieser G ruppen; eine Ein­ heit von innen her und eine, die n u r auf dem Druck von außen beruht; eine m ehr statische und eine sich beständig funktionell integrierende dyna­ mische Einheit; es gibt endlich Einheit durch Macht und Einheit durch Konsens. D ieser letzte einfache Gegensatz beherrscht die Staatsethik des Pluralism us, deren ethischer Sinn offenbar darin liegt, daß sie nur die Einheit durch Konsens ethisch gelten läßt. Mit Redit. A ber dam it beginnt erst das aktuelle Problem . D enn jeder, auch der „freie“ Konsens, ist irgend­ wie m otiviert und herbeigeführt. Macht b ew irkt Konsens, und zw ar oft einen vernünftigen und ethisch berechtigten Konsens; und um gekehrt: Konsens bew irk t Macht, und zw ar oft eine unvernünftige und — trotz des Konsenses — ethisch verw erfliche Macht. Pragm atisch und empirisch gesehen

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erhebt sich dann die Frage, w er über die M ittel verfügt, den „freien“ Konsens der Massen herbeizuführen, über die wirtschaftlichen, päd­ agogischen, psychotechnischen M ittel der verschiedensten A rt, mit deren H ilfe erfahrungsgem äß ein Konsens herbeigeführt w erden kann. Sind die M ittel in den H änden sozialer G ruppen oder einzelner Menschen und der K ontrolle des Staates entzogen, so ist es allerdings m it dem, was offiziell noch „Staat“ heißt, zu Ende, die politische Macht ist unsichtbar und un­ verantw ortlich geworden, aber das sozial-ethische Problem ist mit dieser Feststellung nicht gelöst. D er letzte und tiefste G rund aller solcher U n klarheiten und sogar W idersprüche liegt darin, daß die V orstellung vom Staat bei den p lura­ listischen S taatstheoretikern u n k lar ist. Meistens denken sie, rein polemisch, an die Reste des alten „absoluten“ Staates des 17. und 18. Jahrhunderts. Staat bedeutet dann R egierungsapparat, Verwaltungsm aschine, kurz Dinge, die selbstverständlich n u r instrum ental gew ertet w erden können, die jeden­ falls kein G egenstand von T reue und L oyalität sind und deren sich die verschiedenen sozialen G ruppen m it Recht bemächtigen, indem sie die Reste u n ter sich teilen. D aneben aber ist der Staat dann doch w ieder auch bei jenen P lurali st en die imm er von neuem, und zw ar gerade auch aus den Kompromissen der verschiedenen sozialen G ruppen sich integrierende politische Einheit, die als solche gewisse ethische Ansprüche machen kann, sei es auch n u r den Anspruch, daß die Abmachungen und Kompromisse gehalten w erden. Das w äre eine, w enn auch sehr problem atische, Ethik des „pacta sunt servanda“. Es ist natürlich möglich, das W ort „Staat“ ge­ schichtlich auf den absoluten Staat des 17. und 18. Jah rh u n d erts zu be­ schränken. D ann ist es leicht, ihn heute ethisch zu bekäm pfen. A ber es kom mt nicht auf das W ort an, das seine Geschichte h at und unm odern w erden kann, sondern auf die Sache, nämlich das Problem der politischen E inheit eines Volkes. H ier nun herrscht, wie fast überall, so auch bei den pluralistischen Sozialtheoretikern, der m eistens in k ritik lo ser Unbew ußt­ heit verbleibende Irrtum , daß das Politische eine eigene Substanz neben anderen Substanzen „sozialer Assoziationen“ bedeute, daß es neben Reli­ gion, W irtschaft, Sprache, K ultur und Recht einen besonderen G ehalt dar­ stelle, und daß infolgedessen die politische G ruppe koordiniert neben die anderen G ruppen gestellt w erden könne, neben Kirche, Konzern, G ew erk­ schaft, Nation, K ultur- oder Rechtsgemeinschaften der verschiedensten Art. D ie politische E inheit w ird dann eine besondere, zu anderen Einheiten hinzutretende, neue substantielle Einheit. Alle E rörterungen und Dis­ kussionen über das W esen des Staates und des Politischen müssen in Ver­ w irrung geraten, solange diese w eitverbreitete V orstellung herrscht, daß es eine inhaltlich eigene politische neben anderen Sphären gäbe. Es ist dann auch leicht, den Staat als politische E inheit ad absurdum zu führen und in G rund und Boden zu w iderlegen. D enn w as bleibt vom Staat als der politischen E inheit übrig, w enn m an alle anderen G ehalte, das Religiöse, W irtschaftliche, K ulturelle usw. abzieht? Ist das Politische nichts als das

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Ergebnis einer solchen Subtraktion, so ist es in der T at gleich Null. A ber darin liegt eben das M ißverständnis. Richtigerweise bezeichnet das Poli­ tische n u r den Intensitätsgrad einer Einheit. Die politische Einheit kann daher verschiedene G ehalte haben und in sich umfassen. Sie bezeichnet aber stets den intensivsten G rad der Einheit, von dem aus infolgedessen auch die intensivste Unterscheidung, die G ruppierung nach F reu n d und Feind, bestim m t w ird. Die politische E inheit ist höchste Einheit, nicht, weil sie allmächtig d ik tiert oder alle anderen E inheiten nivelliert, sondern weil sie entscheidet und innerhalb ih re r selbst alle anderen gegensätzlichen G ruppierungen d aran hindern kann, sich bis zur extrem en Feindschaft (d. h. bis zum B ürgerkrieg) zu dissoziieren. D a wo sie ist, können die sozialen Konflikte der Individuen und sozialen G ruppen entschieden werden, so daß eine O rdnung, d. h. eine norm ale Situation besteht. D ie intensivste E inheit ist entw eder da oder nicht da; sie kan n sich auf lösen, dann entfällt die norm ale O rdnung. A ber unen trin n b ar ist sie immer Ein­ heit, denn es gibt keine P lu ra litä t der norm alen Situatiönen, und un­ vermeidlich geht von ihr, solange sie ü b erhaup t da ist, die Entscheidung aus. Jede soziale G ruppe, gleichgültig, welcher A rt und welchen Sachgehaltes, w ird in dem Maße politisch, in dem sie an der Entscheidung beteiligt ist oder gar die Entscheidung bei sich konzentriert. W eil das Poli­ tische keine eigene Substanz hat, k an n der P u n k t des Politischen von jedem G ebiet aus gewonnen w erden, und jed e soziale G ruppe, Kirche, Gewerkschaft, Konzern, Nation, w ird politisch und dam it staatlich, w enn sie sich in diesem P u n k t der höchsten Intensität nähert. Sie speist m it ihren Sachgehalten und W erten die politische Einheit, die von den verschiedenen Gebieten menschlichen Lebens und D enkens lebt und aus W issenschaft, Kultur, Religion, Recht und Sprache ih re Energien zieht. Alles menschliche Leben, auch das der höchsten geistigen Sphären, hat in seiner geschichtlichen Realisierung w enigstens potentiell einen Staat über sich, der aus solchen Inhalten und Substanzen stark und mächtig w ird, wie der mythische A dler des Zeus, der sich aus den Eingew eiden des Prom etheus nährt.

y. Die U nklarheiten und W idersprüche, die sich in den pluralistischen Sozialtheorien nachweisen lassen, haben ih ren G rund nicht im P lu ralis­ mus, sondern n u r in der unrichtigen A nw endung eines an sich richtigen und in allen Problem en des objektiven Geistes unum gänglichen P lu ralis­ mus. D enn die W elt des objektiven Geistes ist eine pluralistische W elt: Pluralism us der Rassen und V ölker, der Religionen und K ulturen, der Sprachen und der Rechtssysteme. Es kom m t nicht d arau f an, diesen ge­ gebenen P luralism us zu leugnen und m it U niversalism en und Monismen zu vergew altigen, vielm ehr den Pluralism us richtig zu placieren. Auch die politische W elt ist wesentlich pluralistisch. Doch sind T räger dieses P luralism us die politischen E inheiten als solche, d. h. die Staaten. Insbesondere sind die m odernen europäischen Staaten im 16. und 17. Jahr-

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h undert aus der Auflösung eines U niversalism us entstanden, und ihr Souveränitätsbegriff richtet sich polemisch sowohl gegen den universalen Anspruch einer W eltmonarchie des K aisertum s, w ie gegen die ebenfalls universalen politischen Ansprüche des Papsttum s. Es ist ein geistesgeschicht­ liches M ißverständnis erstaunlicher A rt, diese p lu ralen politischen Ein­ heiten unter B erufung auf universale und monistische V orstellungen auflösen zu w ollen und das als Pluralism us hinzustellen, und zw ar sogar noch, wie Laski es tut, unter Berufung auf W illiam James. Im System der „Poli­ tischen Theologie“ entspricht dem Pluralism us des W eltbildes von James das Z eitalter der heutigen dem okratischen N ationalstaaten mit ihrem Pluralism us der auf nationaler G rundlage staatlich gesinnten Völker. D ie Monarchie ist nach ih re r ideellen Tendenz und A rgum entation eher universalistisch, weil sie von G ott sein muß, w enn sie sich nicht demo­ kratisch durch den W illen des Volkes rechtfertigt. D ie D em okratie dagegen fü h rt zur A nerkennung jedes der vielen V ölker als einer poli­ tischen Einheit. Ein Philosoph des Pluralism us sagt daher m it Recht: „Ebenso wie in dem sozialen Leben jetz t und fü r imm er der δ ή μ ο ς in den Vorder­ grund getreten ist, und es darum in der zivilisierten W elt nicht mehr Könige geben kann, die nicht D iener des Volkes sind, so tritt auch auf dem G ebiete der Philosophie das Seiende selbst in seinem G anzen und in aller seiner M annigfaltigkeit, d. h. das β ά χ /ο ς der E rfahrung als gesetz­ gebend hervor, und die Zeit seiner verschiedenen Schem atisierungen und A bplattungen ist unw iderruflich v o rü b er“ (Boris Jakow enko, Vom Wesen des Pluralism us, Bonn 1928). D ie P lu ra litä t der Staaten, d. h. der politischen E inheiten der ver­ schiedenen Völker, ist demnach der echte Ausdruck eines richtig ver­ standenen Pluralism us. Universalm onistische Begriffe wie Gott, W elt und Menschheit sind höchste Begriffe und thronen hoch, sehr hoch über jener P lu ra litä t der konkreten W irklichkeit. Sie b ehalten ih re D ignität als höchste Begriffe nur, solange sie an ih re r höchsten Stelle bleiben. Sie ver­ ändern ih r W esen sofort und verfehlen ihren Sinn und ihre Aufgabe, wenn sie sich ins Handgem enge des politischen Lebens mischen und eine falsche Macht und eine falsche N ähe bekomm en. Ich möchte nicht so w eit gehen, sie in eine P arallele m it Max Schelers Konzeption vom G eist zu stellen und von ihnen zu sagen, daß sie gegenüber dem k o n k reten Leben der V ölker und sozialen G ruppen so ohnmächtig sind, w ie es in Schelers M etaphysik der Geist gegenüber dem Leben und den T rieben ist. Doch sind sie n u r regulative Ideen ohne direk te oder in d irek te Gew alt. D arin liegt ih r W ert und ihre U nentbehrlichkeit. Es gibt gewiß kein menschliches, auch kein politisches Leben ohne die Idee der Menschlichkeit. A ber diese Idee konstituiert nichts, jedenfalls keine unterscheidbare Gemeinschaft. Alle Völker, alle Klassen, alle A ngehörigen aller Religionen, C hristen und Sarazenen, K apitalisten und P ro letarier, G ute und Böse, Gerechte und Ungerechte, D elinquent und Richter sind Menschen, und m it H ilfe eines solchen universalen Begriffs läßt sich jede Unterscheidung negieren und

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jede konkrete Gemeinschaft sprengen. Solche höchsten Ideen können und sollen tem perieren und modifizieren. Sobald aber bestimm te Völker und soziale G ruppen oder auch einzelne Menschen sie benutzen, um sich mit ihnen zu identifizieren, verw andelt sich die regulative Idee in ein furcht­ bares Instrum ent menschlicher Herrschsucht. Schon in dem engen und für die Volksgenossen wenigstens auf längere Zeit übersichtlichen Rahm en eines Staates ist es ein gefährlicher Betrug, wenn einzelne soziale G ruppen ihre Sonderinteressen im Nam en des Ganzen verfolgen und sich un­ berechtigterweise mit dem Staat identifizieren. D ann dient der Name des Staates nur politischer U nterdrückung und Entrechtung. W enn aber erst höchste und universale Begriffe wie Menschheit politisch benutzt werden, üm ein einzelnes Volk oder eine bestim m te soziale O rganisation mit ihnen zu identifizieren, dann entsteht die Möglichkeit furchtbarster Expansion und eines m örderischen Im perialism us. H ierfür läßt sich der Name der Menschheit nicht w eniger m ißbrauchen als der Name Gottes, und es könnte sein, daß sich bei vielen V ölkern und großen Massen ein G efühl verbreitet, dessen authentischer Ausdruck in der A bw andlung eines schlimmen W ortes von Proudhon enthalten ist: „W er Menschheit sagt, w ill betrügen.“ Gegenüber der politischen A bnutzung solcher expansiven Ganzheiten ist es weniger anspruchsvoll, die P lu ra litä t der zu Staaten geeinten Völker hinzunehmen und anzuerkennen. Im Vergleich zu jenen W elt und Mensch­ heit umfassenden U niversalism en ist das bescheiden, aber es rechtfertigt sich durch das im m anente Maß der sozialen Größe. Jede der vielen poli­ tischen Einheiten ist freilich im Ganzen der W elt und der Menschheit nur ein Stück O rdnung, n u r ein Fragm ent. Doch ist es das menschlicher T at und Gemeinschaft zugängliche Stück. Soviel B etrug und Lüge auch im Staat wie in allem Menschlichen noch möglich ist, die phantastischen Dim en­ sionen eines W elt und Menschheit um fassenden U niversalbetrugs sind hier nicht möglich. In einer vom Gesetz des Pluralism us beherrschten geistigen W elt ist ein Stüde k o n k reter O rdnung w ertvoller als die leeren Allgem ein­ heiten einer falschen Totalität. D enn es ist eine w irkliche O rdnung, nicht eine konstruierte und fingierte A bstraktion, eine G esam tsituation des norm alen Lebens, in der konkrete Menschen und soziale G ruppen ihre konkrete Existenz haben können. Es w äre ein falscher Pluralism us, gegen die konkrete W irklichkeit solcher p luralen O rdnungen weltum fassende G anzheiten auszuspielen; es ist vernünftig und sinnvoll, das Nach- und N ebeneinander der V ölker und Staaten gelten zu lassen, das den Inhalt der menschlichen Geschichte darstellt. Staaten und V ölker entstehen und vergehen, und es gibt stark e und schwache V ölker, gesunde und k ran k e, im posante und erbärm liche Staaten. Durch den H inw eis auf das Schwache, K ranke und Elende ist das S tarke und K räftige nicht w iderlegt. H ier gilt der Satz des Aristoteles, den Rousseau seiner A bhandlung über die Ungleichheit u n ter den Menschen als Motto vorausgestellt hat: Non in depravatis sed in his quae bene secundum n aturam se habent considerandum est quid sit naturale. Da-

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durch w ird aber auch klar, in welchem Maße gerade die politische Einheit menschliche Tat und Aufgabe ist, w eil sie die im Rahm en des allgem einen Pluralism us zu bew irkende m aßgebende E inheit ist, das Stüde k o n k reter Ordnung, die normale Situation. H ierfü r b edarf es einer größeren An­ strengung und geistigen Leistung als zu anderen G em einsam keiten und sozialen Einheiten. Insbesondere ist es leichter, eine ökonomische „Asso­ ziation“ zu realisieren als eine politische Einheit, und es ist verständlich, sogar selbstverständlich, daß die Menschen in Zeiten der M üdigkeit und Erschöpfung das Interesse an soldien A nstrengungen verlieren. Je höher und intensiver die Gemeinschaft, um so höher das Bew ußtsein und die Tat, durch welche sie sich verw irklidit. Um so größer auch das Risiko des Mißerfolges. D er gelungene und vollendete Staat ist d ah er ebenso groß­ artig, wie der mißlungene Staat — moralisch und ästhetisch — w iderw ärtig und miserabel. Man kann leicht auf die vielen m ißlungenen Versuche hinweisen und auf die elenden Z errbilder von Staaten, die es heute gibt. Aber das ist offenbar weder theoretisch, noch ethisch, noch auch n u r empirisch ein Argum ent und keine Lösung der gestellten Aufgabe. *

In diesem V ortrag sollte nu r eine kurze Übersicht über eine geistes­ geschichtliche Lage gegeben w erden. Ich w ill mit einer ku rzen thesenhaften Zusammenfassung schließen. Staatsethik gibt es in m ancherlei verschiedenartigem und sogar w ider­ spruchsvollem Sinn. Staatsethik kann U nterw erfung des Staates unter ethische Normen bedeuten und begründet dann vor allem Pflichten des Staates. Das setzt, wie besonders in K ants staatsethischen D arlegungen zu erkennen, einen bestehenden Staat voraus, den „ je tzt bestehenden Gesetz­ geber“, wie K ant sich ausdrückt, dessen Existenz unproblem atisch als selbstverständlich hingenommen w ird. In soziologischer K onkretheit be­ deutet U nterw erfung des Staates un ter ethische N orm en natürlich nichts anderes als Kontrolle und H errschaft derjenigen Menschen und sozialen Gruppen, die in der konkreten W irklichkeit gegenüber dem konkreten Staat im Namen jen er ethischen Norm en auf tre ten und sie zur G eltung bringen. Staatsethik kann ferner eine vom Staat als autonom em ethischen Subjekt gesetzte, von ihm ausgehende E thik bedeuten, durch welche spe­ zifische, über die non-resistance hinausgehende Pflichten gegenüber dem Staat begründet werden. Auch das setzt einen bestehenden Staat voraus. W ird nun der Staat zu einem pluralistischen P arteienstaat, so kann die Einheit des Staates nur so lange bestehen, als die zwei oder m ehreren Parteien sich einigen, indem sie gemeinsame Präm issen anerkennen. Die Einheit beruht dann insbesondere auf der von allen P arteien anerkannten Verfassung, die als gemeinsame G rundlage unbedingt resp ek tiert w erden muß. Staatsethik w ird dann zur Verfassungsethik. Je nach der Substantialität, der Eindeutigkeit und der A utorität der V erfassung kann darin eine sehr wirksam e Einheit liegen. Es kann aber auch sein, daß sich die Verfassung zur bloßen Spielregel und ihre Ethik zur bloßen E thik des fair p lay ver-

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flüchtigt und daß es schließlich, bei pluralistischer Auflösung der Einheit des politischen Ganzen, dahin kommt, daß die E inheit nur noch ein Agglomerat von wechselnden V ereinbarungen heterogener G ruppen ist. Die V erfassungsethik verflüchtigt sich dann noch w eiter, und zw ar in die Ethik des Satzes pacta sunt servanda. In allen genannten Fällen von Staatsethik ist der Staat noch eine Einheit, sei es, wie in den beiden ersten Fällen — U nterw erfung des Staates u nter die E thik oder A ufstellung des Staates als eines übergeordneten ethischen Subjekts — eine als konkret bestehend vorausgesetzte Einheit, sei es eine in der gemeinsamen A n­ erkennung der Verfassungsgrundlage oder der Spielregel enthaltene, aber ebenfalls vorausgesetzte Einheit. N ur auf den Satz pacta sunt servanda läßt sich keine E inheit des Staates gründen, denn die einzelnen sozialen Gruppen als vertragschließende Subjekte sind dann als solche die m aß­ gebenden Größen, die sich des V ertrages bedienen und untereinander nu r noch durch ein vertragliches Band gebunden sind. Sie stehen als selbständige politische G rößen einander gegenüber, und was es an E inheit gibt, ist nu r das Resultat eines (wie alle Bündnisse und Verträge) kündbaren Bünd­ nisses. D er V ertrag h at dann nu r den Sinn eines Friedensschlusses zwischen den paktierenden G ruppen, und ein Friedensschluß hat, ob die P arteien wollen oder nicht, imm er einen Bezug auf die, w enn auch vielleicht ent­ fernte Möglichkeit eines Krieges. Im H intergru nd dieser A rt V ertrags­ ethik steht daher imm er eine E thik des B ürgerkrieges; im V ordergrund steht die offenbare Unzulänglichkeit des Satzes pacta sunt servanda, der, konkret gesprochen, nicht viel m ehr sein k ann als eine Legitim ierung des jeweiligen status quo, ähnlich wie er im P rivatleben eine vortreffliche Ethik von W ucherern abzugeben verm ag. W ird die staatliche E inheit in der W irklichkeit des sozialen Lebens problematisch, so ergibt sich ein für jeden Staatsbürger unerträglicher Zustand, denn dam it entfällt die nor­ male Situation und die Voraussetzung jed e r ethischen und jed er rechtlichen Norm. D ann e rh ält der Begriff der Staatsethik einen neuen Inhalt, und es ergibt sich eine neue Aufgabe, die A rbeit an der bew ußten H erbei­ führung jen er Einheit, die Pflicht, daran m itzuw irken, daß ein Stück kon­ kreter und realer O rdnung sich realisiert und die Situation w ieder norm al wird. Dann tritt neben die Pflicht des Staates, die in seiner U nterw erfung unter ethische N orm en liegt, und neben die Pflichten gegenüber dem Staat eine w eitere ganz anders geartete staatsethische Pflicht, nämlich die Pflicht zum Staat.

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17. Die Wendung zum totalen Staat (1931) Die V erfassungssituation der G egenw art ist zunächst dadurch gekenn­ zeichnet, daß zahlreiche Einrichtungen und N orm ierungen des 19. Ja h r­ hundert unverändert beibehalten sind, die heutige Situation aber sich gegenüber der früheren völlig geändert hat. D ie deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts stehen in einer Epoche, deren G ru n d stru k tu r von der großen deutschen Staatslehre dieser Zeit auf eine k lare und brauchbare G rundform el gebracht w orden ist: die Unterscheidung von Staat und Ge­ sellschaft. Es ist dabei eine zweite, hier nicht interessierende Frage, wie m an den Staat und wie die Gesellschaft bew ertet, ob m an das eine dem andern überordnet oder nicht, ob und wie das eine vom andern ab­ hängig ist usw. Das alles hebt die Unterscheidung nicht auf. F ern er ist zu beachten, daß „Gesellschaft“ wesentlich ein polemischer Begriff w ar und als Gegenvorstellung den konkreten, dam als bestehenden, monarchischen M ilitär- und Beam tenstaat im Auge hatte, dem gegenüber das, was n i c h t zu diesem Staat gehörte, eben Gesellschaft hieß. D er Staat w ar damals unterscheidbar von der Gesellschaft. E r w ar stark genug, um sich den übrigen sozialen K räften selbständig gegenüberzustellen und dadurch die G ruppierung von sich aus zu bestimm en, so daß alle die zahlreichen Ver­ schiedenheiten innerhalb der „staatsfreien“ Gesellschaft — konfessionelle, kulturelle, wirtschaftliche Gegensätze — von ihm aus, und nötigenfalls durch den gemeinsamen Gegensatz gegen ihn, relativ iert w urden und die Zusammenfassung zur „Gesellschaft“ nicht hinderten. A ndrerseits aber hielt er sich in einer w eitgehenden N eu tralität und N ichtintervention gegen­ über Religion und W irtschaft und respektierte in weitem Maße die Auto­ nomie dieser Lebens- und Sachgebiete; er w ar also nicht in dem Sinne absolut und nicht so stark, daß er alles Nichtstaatliche bedeutungslos ge­ macht hätte. Auf diese W eise w ar ein Gleichgewicht und ein Dualism us möglich; insbesondere konnte m an einen religions- und weltanschauungslosen, sogar völlig agnostischen Staat für möglich halten und eine staatsfreie W irtschaft wie einen w irtschaftsfreien Staat konstruieren. D er bestimmende Beziehungspunkt blieb jedoch der Staat, weil dieser in ko n k reter Deutlich­ keit und U nterscheidbarkeit vor Augen stand. Noch heute soll das viel­ deutige W ort „Gesellschaft“, soweit es hier interessiert, vor allem etwas bezeichnen, was n i c h t Staat, gelegentlich außerdem auch, was nicht Kirche ist1. A llen wichtigen Einrichtungen und N orm ierungen des öffentlichen 1 Die einfadiste und klarste Zusammenfassung der oft unfaßbar vieldeutigen Vor­ stellungen von der „Gesellschaft“ findet sich bei Eduard Spranger, Das Wesen der deutschen Universität (Akademisches Deutsdiland III, 1, S. 9): „lm deutsdien sozio­ logischen Sprachgebrauch ist es üblidi, die unendliche Fülle von freien und organi-

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Redits, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in Deutschland entwickelt haben und die einen großen Teil unseres öffentlichen Rechts ausmachen, liegt jene U ntersdieidung als Voraussetzung zugrunde. Daß man allgemein den Staat der deutschen konstitutionellen Monarchie mit seinen Gegen­ überstellungen von F ü rst und Volk, Krone und Kammer, Regierung und V olksvertretung als „dualistisch“ k onstruiert hat, ist n u r ein Ausdruck des allgem eineren, fundam entalen Dualism us von Staat und Gesellschaft. Die V olksvertretung, das Parlam ent, die gesetzgebende Körperschaft, w ar als der Sdiauplatz gedacht, auf dem die Gesellschaft erschien und dem Staat gegenübertrat. H ier sollte sie sich in den Staat (oder der Staat sich in sie) hineinintegrieren1. In allen wichtigen Begriffsbildungen äußert sich die dualistische G rund­ struktur. Die Verfassung gilt als V ertrag zwischen F ürst und Volk. D er wesentliche Inhalt eines staatlichen Gesetzes w ird darin gefunden, daß es „in Freiheit und Eigentum der B ürger eingreift“. Eine Rechtsverordnung wendet sich, zum Unterschiede von einer Verw altungsverordnung, die nur an die Behörden und Beam ten ergeht, an alle Staatsbürger. Das Budgetrecht b eruht auf der Vorstellung, daß zwischen den beiden P artnern regel­ mäßig eine B udgetvereinbarung zustande kommt, und noch in der letzten Auflage des Lehrbuches M eyer-Anschütz (1919, S. 890,897) heißt das Budget­ gesetz „B udgetvereinbarung“. W enn man für einen V erw altungsakt wie die Veranschlagung des Staatshaushalts ein sogenanntes formelles Gesetz verlangt, so zeigt sich in dieser Form alisierung nichts anderes als die Politi­ sierung des Begriffs: die politische Macht des Parlam ents ist groß genug,*S . sierten, gewachsenen und geschaffenen, flüchtigen und dauernden Formen mensch­ lichen Verbundenseins, d ie n i c h t S t a a t u n d n i c h t K i r c h e sind, kurzweg als die „Gesellschaft“ zu bezeichnen. Das Gebilde ist so nebelhaft wie das ,Milieu*.“ Diese Bemerkung Sprangers trifft den negativen Charakter der Vorstellung „Gesell­ schaft“, sie wird aber, wie mir scheint, der weiteren geschichtlichen Tatsache nicht gerecht, daß „Gesellschaft“ in der konkreten Situation des 19. Jahrhunderts nicht nur einen negativen, sondern darüber hinaus audi noch einen spezifisch p o l i t i ­ s c h e n , also p o l e m i s c h e n Sinn hatte, wodurch das Wort auf hört, „nebelhaft“ zu sein und die konkrete Präzision gewinnt, die ein politischer Begriff durdi seinen konkreten Gegenbegriff erhält. Infolgedessen haben auch die mit Hilfe des Wortes societas gebildeten Begriffe dieser Situation, sobald sie zu gesdiichtlidier Bedeutung kommen, meistens einen oppositionellen Sinn, nicht nur „Sozialismus“, sondern audi die „Soziologie“, die, wie Carl Brinkmann sagt, als eine „Oppositionswissenschaft“ entstanden ist (Versuch einer Gesellschaftswissenschaft, München und Leipzig 1919). Herr stud. jur. G. Wiebeck (Berlin) macht mich auf eine Stelle des Buches von L. V. Hasner, Filosofie des Rechts und seiner Geschichte in Grundlinien, Prag 1851, S. 82, aufmerksam, die folgenden, auch für die weiteren Ausführungen des oben­ stehenden Textes, namentlich für die Lage einer in „Selbstorganisation“ befindlichen Gesellschaft interessanten Wortlaut hat: „Die Gesellschaft aber als schwirrende, unorganisierte Masse ist keine ethische, sondern nur eine transitorische, historisdie Gestalt. Organisiert ist sie eine ethische, aber eben der Staat selbst, wenn dieser sonst etwas mehr sein soll, als ein abstractum.“ 1 Zum Beispiel statt Vieler Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, Bd. 2 (Ausgabe von Gottfried Salomon, München 1921, II, S. 41): Die Kammer ist das Organ, „durch welches die Gesellschaft den Staat beherrscht“, oder die inhaltreiche Bemerkung von Rudolf Gneist, Die nationale Rechtsidee von den Ständen, Berlin 1894, S. 269: das allgemeine Verlangen nach geheimer Abstimmung ist „das untrügliche Zeichen der Überflutung des Staates durch die Gesellschaft“. 10*

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um es einerseits durchzusetzen, daß eine N orm ierung n u r dann als Gesetz gilt, wenn das Parlam ent m itgew irkt hat, und gleichzeitig auf der andern Seite einen formellen, d. h. von dem sachlichen In h alt des Vorganges ab ­ sehenden Gesetzesbegriff zu erobern; diese F orm alisierung b rin g t also nur den politischen Erfolg der V olksvertretung gegenüber der Regierung, der Gesellschaft gegenüber dem monarchischen B eam tenstaat, zum A us­ druck. Auch die Selbstverw altung setzt in allen ihren Einrichtungen die U nter Scheidung von Staat und Gesellschaft voraus; Selbstverw altung ist ein Teil der dem Staat und seinem B eam tentum gegenüberstehenden G e­ sellschaft; auf dieser G rundvoraussetzung haben sich ihre Begriffe und Einrichtungen im 19. Jah rh u n d ert entw ickelt und form uliert. Ein solcher „dualistischer“ Staat ist eine B alancierung von zwei v er­ schiedenen Staatsarten: er ist ein R egierungsstaat und ein Gesetzgebungs­ staat zu gleicher Zeit. E r entw ickelt sich um so m ehr zum Gesetzgebungs­ staat, je m ehr das Parlam ent, als die gesetzgebende K örperschaft, der Regierung, d. h. je m ehr die dam alige Gesellschaft dem dam als bestehen­ den Staat sich überlegen zeigt. Man k ann alle S taaten nach dem G ebiet staatlicher T ätigkeit einteilen, auf dem sie das Zentrum ih re r T ätigkeit finden. Danach gibt es Justiz- oder besser: Jurisdiktionsstaaten, daneben Staaten, die wesentlich Regierung und E xekutive sind, und endlich Gesetz­ gebungsstaaten. D er m ittelalterliche Staat, wie auch in w eitem Maße bis in die G egenw art hinein das angelsächsische Staatsdenken, geht davon aus, daß der K ern der Staatsgew alt in der G erichtsbarkeit liegt. Staatsgew alt und Jurisdiktion w erden hier gleichgesetzt, wie das heute noch der A us­ drucksweise des Codex Juris Canonici (z. B. can. 196, 218) entspricht, wobei allerdings zu beachten ist, daß die m aßgebende Um schreibung der A utori­ tät der römisch-katholischen Kirche und ih re r höchsten Ä m ter sich nicht in dem Bild eines Richters, sondern dem eines H irte n üb er seiner H erde äußert. D er seit dem 16. Jah rh u n d ert seine Form gew innende absolute Staat ist gerade aus dem Zusammenbruch und der Auflösung des m ittel­ alterlichen, pluralistischen, feudal-ständischen Rechtsstaats und seiner Jurisdiktion entstanden und stützt sich auf M ilitär und Beam tentum . E r ist daher wesentlich ein Staat der E xekutive und der Regierung. Seine ratio, die ratio status, die oft m ißdeutete Staatsräson, liegt nicht in inhalts­ vollen Normen, sondern in der Effektivität, m it der er eine Situation schafft, in welcher überhaupt erst N orm en gelten können, w eil der S taat der U r­ sache aller Unordnung und B ürgerkriege, dem K am pf um das norm ativ Richtige, ein Ende macht. D ieser S taat „stellt die öffentliche O rdnung und Sicherheit her . E rst als das eingetreten w ar, konnte der Gesetzgebungs­ staat der bürgerlich-rechtsstaatlichen Verfassung in ihn eindringen. Im sog, Ausnahm ezustand tritt dann das jew eilige Z entrum des Staates offen zutage. D er Justizstaat bedient sich h ierfü r des Standrechts (genauer: der Standgerichtsbarkeit), d. h. einer summarischen Justiz; der S taat als Exe­ kutive vor allem des, nötigenfalls m it der Suspension von G rundrechten verbundenen, Übergangs der vollziehenden G ew alt; der Gesetzgebungs-

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Staat der Not- und A usnahm ezustandsverordnungen, d. h. eines summa­ rischen G esetzgebungsverfahrens1. Bei solchen Einteilungen und Typisierungen der Staatsarten ist immer zu beachten, daß es einen reinen Gesetzgebungsstaat ebensowenig geben kann wie einen reinen Jurisdiktionsstaat oder einen Staat, der restlos nichts anderes w äre als R egierung und V erw altung. Insofern ist jed er Staat eine Verbindung und Mischung dieser A rten, ein status m ixtus. A ber m it diesem Vorbehalt läßt sich eine brauchbare C harakterisierung der Staaten nach dem Zentralgebiet der staatlichen T ätigkeit gewinnen. D aher ist es be­ rechtigt und für das Problem des H üters der Verfassung besonders auf­ schlußreich, den bürgerlichen Rechts- und Verfassungsstaat, wie er sich im 19. Jah rhundert entw ickelt hat, als einen Gesetzgebungsstaat zu kenn­ zeichnen. Es gehört, wie Richard Thom a treffend gesagt hat, zu den „ a rt­ bestimmenden Tendenzen des m odernen Staates“, die Dezision, „über deren Vernünftigkeit und G erechtigkeit m an imm er streiten kann, dem Gesetz­ geber zu überlassen, dem Richter zu nehm en12“. Ein Jurisdiktionsstaat ist möglich, solange inhaltlich bestim m te Norm en auch ohne die bew ußte und geschriebene Norm setzung einer organisierten Z entralgew alt voraus­ gesetzt w erden können und unbestritten anerkannt sind. In einem Gesetz­ gebungsstaat dagegen kan n es keine V erfassungsjustiz oder Staatsgerichts­ barkeit als eigentlichen H ü ter der Verfassung geben. Das ist der letzte Grund dafür, daß in einem solchen Staat die Justiz nicht von sich aus um ­ strittene Verfassungs- und G esetzgebungsfragen entscheidet. In diesem Zu­ sammenhang verdient eine Ä ußerung Bluntschlis ausführlich zitiert zu werden, weil sie wegen ih re r sachlichen K larheit und in der W eisheit ihres konkreten W issens als eine klassische Stelle der Staatslehre des 19. Jahrhunderts gelten kann. Bluntschli gibt zu, daß die Verfassung selbst­ verständlich auch fü r die Gesetzgebung gilt und diese keineswegs das Recht hat, zu tun, w as ih r ausdrücklich verboten ist. E r weiß die G ründe und Vorteile der am erikanischen P rax is richterlicher Gesetzesprüfung gut zu würdigen. D ann fäh rt er fort: „W enn m an aber in Erw ägung zieht, daß der Gesetzgeber in der Regel von der V erfassungsm äßigkeit des Gesetzes über­ zeugt ist und dieselbe w ill, und daß dennoch sehr leicht sich verschiedene M einungen d arüber bilden, so daß, w enn sein Ausspruch Gegenstand des Streites w erden kann, das Gericht vielleicht eine andere Ansicht darüber hat als der Gesetzgeber; w enn m an bedenkt, daß in diesem F alle doch die höhere A utorität des Gesetzgebers zw ar nicht im Prinzip, aber im Erfolg 1 Weiteres zum Ausnahmezustand vgl. Der Hüter der Verfassung, S. 115 f. Bei Ludwig Waldecker,Die Grundlagen des militärischen Verordmingsredits in Zivilsachen während des Kriegszustandes, AöR. XXXVI (1917) S. 389 f. ist der Zusammenhang von Justizstaat und Standrecht wohl bemerkt, die Folgerichtigkeit der weiteren Ent­ wicklung aber verkannt. 2 Grundrechte und Polizeigewalt (Festgabe für das Preußische Oberverwaliungsgeridit), Berlin 1925, S. 223; nicht ganz ebenso in der Aussprache auf dem deutschen Staatsrechtslehrerta^ in Wien, 1928, Veröffentlichungen der Vereinigung der deutsdien Staatsrechtslehrer, Heft 5 S. 109; ferner in der Reichsgerichtslestsdirift 1929, S. 200, und Handbuch des Staatsrechts, Bd. II S. 109, 136/37.

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der niedriger gestellten der G erichte weichen und der R epräsentant der gesamten Nation im Konflikte m it einem einzelnen O rgane des Staats­ körpers hinter dasselbe zurückstehen m üßte; w enn m an die Störung und den Zwiespalt, welche auf solche W eise in den einheitlichen G ang des Staatslebens gebracht w erden, überlegt und sich erinnert, daß die Gerichte ih rer jetzigen Beschaffenheit nach vorzugsw eise zur E rkenntnis p riv a t­ rechtlicher Normen und R echtsverhältnisse beru fen und vorzugsweise geneigt sind, auf formell-logische Momente den Nachdruck zu legen, w äh­ rend es sich hier gerade häufig um die wichtigen staatsrechtlichen Interessen und die allgemeine W ohlfahrt handelt, die zu erkennen und zu fördern Aufgabe des Gesetzgebers ist: so w ird m an dennoch dem europäischen System den Vorzug geben, obwohl dasselbe nicht vor allen Ü beln schützt und an der Unvollkom m enheit der menschlichen Zustände auch seinen Anteil hat. Auch gegen ungerechte U rteile der obersten G erichte gibt es in der Regel keine äußeren H ilfsm ittel. D er gesetzgebende K örper aber träg t in seiner Bildung die wichtigsten G arantien, daß er nicht seine Befug­ nisse in verfassungsw idrigem G eiste ausübe1“. — D er letzte Satz ist ent­ scheidend. E r zeigt, daß für die V orstellung des 19. Jah rh u n d erts das P a rla ­ ment seiner N atur und seinem W esen nach in sich selbst die eigentliche G arantie der Verfassung trug. D as gehört zu dem G lauben an das P a rla ­ m ent und ist die Voraussetzung dafür, daß die gesetzgebende K örperschaft der T räger des Staates, und der S taat selbst ein G esetzgebungsstaat ist. A ber diese Stellung der gesetzgebenden K örperschaft w ar n u r in einer bestimmten Situation möglich. Es ist dabei nämlich im m er vorausgesetzt, daß das Parlam ent, die gesetzgebende Versam m lung, als V e rtre te r des Volks oder der Gesellschaft — beides, Volk und Gesellschaft, kann so lange identifiziert werden, als beides noch der R egierung und dem S taat ent­ gegengestellt w ird — einen von ihm unabhängigen, starken monarchischen Beam tenstaat als P a rtn e r des V erfassungspakts vor sich sieht. D as P a rla ­ ment, soweit es V olksvertretung ist, w ird h ier zum w ah ren H ü te r und G aranten der Verfassung, w eil der V ertragsgegner, die Regierung, nu r w iderw illig denV ertrag geschlossen hat. D ie R egierung verdient daher Miß­ trauen; sie macht Ausgaben und verlangt Abgaben; sie w ird als ausgaben­ freudig, die V olksvertretungen als sparsam , ausgabenunw illig gedacht, was im ganzen auch wirklich der F all w a r und sein konnte. D enn die Tendenz des liberalen 19. Jahrhunderts geht dahin, den S taat womöglich auf ein Minimum zu beschränken, ihn vor allem an Interventionen und Eingriffen in die W irtschaft nach Möglichkeit zu hindern, ihn üb erh au p t gegen­ über der Gesellschaft und ihren Interessengegensätzen möglichst zu neutralisieren, dam it Gesellschaft und W irtschaft n ach.ihren im m anenten 1 Allgemeines Staatsrecht, 4. Aufl. 1868, Bd. I S. 561/62. Es ist besonders lehrreich, ^ B l u n t s d i l i s die Argumentation von R. Gneist zu vergleidien: dieser sieht dm Garantie in dem Zusammenwirken bei der Gesetzgebung, an der eine Erb­ monarchie, eine permanente erste und gewählte zweite Kammer beteiligt sind: Gut­ achten a. a. O. S. 23.

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Prinzipien fü r ih r G ebiet die notw endigen Entscheidungen gew innen: im freien Spiel der M einungen auf G rund fre ier W erbung entstehen P a r­ teien, deren D iskussion und M einungskam pf die öffentliche M einung ergibt und dadurch den Inhalt des staatlichen W illens bestim m t; im freien Spiel der sozialen und wirtschaftlichen K räfte herrscht V ertrags- und W irtschaftsfreiheit, wodurch die höchste wirtschaftliche P ro sp erität gesichert scheint, weil der autom atische Mechanismus der freien W irtschaft und des freien M arktes sich nach w irtschaftlichen G esetzen (durch Angebot und Nachfrage, Leistungsaustausch, Preisgestaltung, Einkom m ensbildung in der Volks­ wirtschaft) selbst steuert und reguliert. D ie bürgerlichen G rund- und Freiheitsrechte, insbesondere persönliche F reiheit, F reih eit der M einungs­ äußerung, V ertrags-, W irtschafts- und G ew erbefreiheit, Privateigentum , also die eigentlichen R ichtpunkte je n e r oben behandelten P rax is des Höchsten Gerichtshofs der V ereinigten Staaten, setzen einen solchen grund­ sätzlich nicht intervenierenden, höchstens zum Zweck d er W iederherstel­ lung der gestörten Bedingungen d er freien K onkurrenz eingreifenden, neutralen Staat voraus. D ieser im liberalen, nicht-interventionistischen Sinne gegenüber der Gesellschaft und der W irtschaft grundsätzlich neu trale Staat bleibt auch dann die V oraussetzung der Verfassungen, w enn fü r Sozial- und K u ltu r­ politik A usnahm en zugelassen w erden. E r änd erte sich aber von G rund auf, und zw ar in dem gleichen Maße, als jen e dualistische K onstruktion von Staat* und Gesellschaft, R egierung und Volk, ih re Spannung verlo r und der G esetzgebungsstaat sich vollendete. D enn je tz t w ird der S taat zur „Selbstorganisation d er G esellschaft“. D am it entfällt, w ie erw ähnt, die bis­ her stets vorausgesetzte U nterscheidung von S taat und Gesellschaft, Regie­ rung und Volk, wodurch alle auf dieser V oraussetzung aufgebauten Begriffe und Einrichtungen (Gesetz, Budget, Selbstverw altung) zu neuen Problem en werden. Es tr itt aber gleichzeitig etw as noch W eiteres und T ieferes ein. O rganisiert sich die Gesellschaft selbst zum Staat, sollen S taat und G esell­ schaft grundsätzlich identisch sein, so w erden alle sozialen und w irtschaft­ lichen Problem e unm ittelb ar staatliche Problem e und m an k an n nicht m ehr zwischen staatlich-politischen und gesellschaftlich-unpolitischen Sach­ gebieten unterscheiden. A lle bisher üblichen, u n ter der V oraussetzung des neutralen Staates stehenden G egenüberstellungen, die im Gefolge der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft au ftreten und n u r A nw endungs­ fälle und Um schreibungen dieser U nterscheidung sind, hören auf. A nti­ thetische T rennungen w ie: S taat und W irtschaft, Staat und K ultur, Staat und Bildung, fern er: P o litik und W irtschaft, P olitik und Schule, P olitik und Religion, S taat und Recht, P olitik und Recht, die einen Sinn haben, wenn ihnen gegenständlich getrennte, k o n k rete G rößen oder Sachgebiete entsprechen, v erlieren ih ren Sinn und w erden gegenstandslos. D ie zum Staat gew ordene Gesellschaft w ird ein W irtschaftsstaat, K ulturstaat, F ü r­ sorgestaat, W ohlfahrtsstaat, V ersorgungsstaat; der zur Selbstorganisation der Gesellschaft gew ordene, demnach von ih r in der Sache nicht m ehr zu

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trennende Staat ergreift alles Gesellschaftliche, das heißt alles, was das Zusammenleben der Menschen angeht. In ihm gibt es kein G ebiet m ehr, demgegenüber der Staat unbedingte N e u tralität im Sinne der N ichtinter­ vention beobachten könnte. D ie P arteien, in denen die verschiedenen gesellschaftlichen Interessen und Tendenzen sich organisieren, sind die zum Parteienstaat gewordene Gesellschaft selbst, und w eil es wirtschaftlich, konfessionell, ku ltu rell determ inierte P arteien gibt, ist es auch dem Staate nicht m ehr möglich, gegenüber dem W irtschaftlichen, Konfessionellen, K ul­ turellen neutral zu bleiben. In dem zur Selbstorganisation der Gesellschaft gewordenen Staat gibt es eben nichts, was nicht w enigstens potentiell staat­ lich und politisch wäre. W ie der von französischen Juristen und Soldaten erfundene Begriff der potentiellen Rüstung eines Staates alles erfaßt, nicht nur das Militärische im engern technischen Sinne, sondern auch die industrielle und wirtschaftliche V orbereitung des Krieges, sogar die intellektuelle und moralische A usbildung und V orbereitung der Staats­ bürger, so erfaßt dieser neue Staat alle Gebiete. E rnst Jünger h at für diesen erstaunlichen Vorgang eine sehr prägnante Form el eingeführt: die totale Mobilmachung. O hne Rücksicht auf den Inhalt und die Richtig­ keit, die jenen Form eln von potentieller Rüstung oder to taler Mobil­ machung im einzelnen zukommt, w ird m an die in ihnen enthaltene, sehr bedeutende E rkenntnis beachten und verw erten müssen. D enn sie bringen etwas Umfassendes zum Ausdruck und zeigen eine große und tiefe W and­ lung an: die im Staat sich selbst organisierende Gesellschaft ist auf dem Wege, aus dem neutralen Staat des liberalen 19. Jah rh u n d erts in einen potentiell totalen Staat überzugehen. Die gew altige W endung läßt sich als Teil einer dialektischen Entwicklung konstruieren, die in drei Stadien v er­ läuft: vom absoluten Staat des 17. und 18. Jah rh u n d erts über den neutralen Staat des liberalen 19. Jahrhunderts zum totalen Staat der Identität von Staat und Gesellschaft. Am auffälligsten tritt die W endung auf wirtschaftlichem G ebiete hervor. H ier kann, als von einer anerkannten und unbestrittenen Tatsache, davon ausgegangen werden, daß die öffentliche Finanzw irtschaft sowohl im Ver­ hältnis zu den früheren Vorkriegsdim ensionen als auch im heutigen Ver­ hältnis zur freien und privaten, das heißt nichtöffentlichen W irtschaft einen solchen Umfang angenommen hat, daß nicht bloß eine quantitative Ver­ mehrung, sondern auch eine qualitative V eränderung, ein „S tru k tu r­ w andel“, vorliegt und alle Gebiete des öffentlichen Lebens, nicht etw a nu r die unm ittelbar finanziellen und ökonomischen Angelegenheiten, davon ergriffen werden. Mit welchen Ziffern die V eränderung angegeben w ird, ob zum Beispiel die mehrfach zitierte, für das Jah r 1928 errechnete Angabe, daß 53 V. H. des deutschen Volkseinkommens von der öffentlichen H and kontrolliert w erden1, statistisch richtig ist, braucht hier nicht beantw ortet 1 Diese Ziffer ist in den Vierteljahrsheften für Konjunkturforschung, Bd. 5 (1930) Heft 2 S. 72, berechnet; sie ist verwertet und geltend gemacht z. B. von J. Popitz (vgl. folgende Anmerkung), G. Müller-Oerlinghausen, in seinem Vortrag über die

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zu werden, w eil das Gesam tphänom en unbestreitbar und unbestritten ist. Ein Sachkenner von größter A utorität, Staatssekretär Prof. J. Popitz, geht in einer zusam m enfassenden Rede über den Finanzausgleich1 davon aus, daß in der T at fü r die V erteilung des größeren Teils des deutschen Volks­ einkommens der sich selbst regulierende Mechanismus der freien W irt­ schaft und des freien M arktes ausgeschaltet ist und an seine Stelle „der bestimmende Einfluß eines an sich grundsätzlich außerwirtschaftlichen Willens, nämlich des W illens des Staates“ getreten ist. Ein anderer Sach­ kenner von höchstem Rang, der Reichssparkommissar Staatsm inister Saemisch, sagte, daß es die öffentliche Finanzw irtschaft ist, welche die politische Lage Deutschlands entscheidend beeinflußt*12. Von wirtschaftswissenschaft­ licher Seite ist eine, wie m ir scheint, überaus treffende Form ulierung für den Gegensatz des bisherigen Systems gegenüber dem heutigen aufgestellt worden: v o m A n t e i l s y s t e m (bei welchem dem Staat nur ein Anteil des Volkseinkommens, eine A rt Dividende vom Reingewinn zusteht) z u m K o n t r o l l s y s t e m , bei welchem der Staat, infolge der intensiven Be­ ziehungen von Finanzw irtschaft und Volkswirtschaft, infolge cler starken Vergrößerung sowohl des Staatsbedarfs als auch des staatlichen Einkom­ mens, als T eilhaber und N euverteiler des Volkseinkommens, als Erzeuger, Verbraucher und A rbeitgeber, die Volkswirtschaft m aßgebend mitbestimmt. Diese von F ritz K arl M ann in einer interessanten und bedeutungsvollen Abhandlung „Die Staats Wirtschaft unserer Zeit“ (Jena 1930) auf gestellte Formel soll h ier ebenfalls n u r als Form el verw endet werden, ohne daß es im übrigen auf eine nationalökonomische K ritik ankäme. Entscheidend ist hier für die staats- und verfassungstheoretische Betrachtung, daß das Ver­ hältnis des Staates zur W irtschaft heute der eigentliche Gegenstand der innerpolitischen Problem e ist und die überlieferten Form eln des früheren, auf der T rennung von Staat und Gesellschaft aufgebauten Staates nur geeignet sind, über diesen Sachverhalt hinwegzutäuschen. In jedem m odernen Staat bildet das V erhältnis des Staates zur W irt­ schaft den eigentlichen G egenstand der unm ittelbar aktuellen inner­ politischen Fragen. Sie können nicht m ehr m it dem alten liberalen Prinzip unbedingter Nichteinmischung, absoluter Nichtintervention, beantw ortet werden. Von w enigen A usnahm en abgesehen, w ird das wohl auch all­ gemein anerkannt. Im heutigen Staat, und zw ar um so m ehr, je m ehr er m oderner Industriestaat ist, machen die wirtschaftlichen Fragen den H auptWirtschaftskrise vom 4. November 1930, Mitteilungen des Langnamvereins, Jahrg. 1930, Neue Folge 19. Heft, S. 409; vgl. Otto Pileiderer, Die Staatswirtsdiaft und das Sozialprodukt, Jena 1930 und Manuel Saitzew, Die öffentliche Unternehmung der Gegenwart, Tübingen 1930, S. 6 f. 1 Der Finanzausgleich und seine Bedeutung für die Finanzlage des Reichs, der Länder und Gemeinden; Veröffentlichungen des Reichsverbandes der deutschen In­ dustrie, Berlin 1930, S. 6; ferner: der öffentliche Finanzbedarf und der Reichsspar­ kommissar, Bankarchiv, XXX, Heft 2 (15. Oktober 1930) S. 21. 2 „Deutsche Juristenzeitung“, 1. Januar 1931, Sp. 17; ferner in Der Reichsspar­ kommissar und seine Aufgabe; Finanzrechtliche Zeitfragen Bd. 2, Berlin 1930, S. 12.

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Inhalt der innenpolitischen Schwierigkeiten aus und ist die Innen- und Außenpolitik zum großen Teil W irtschaftspolitik, und zw ar nicht n u r als Zoll- und H andelspolitik oder als Sozialpolitik. W enn ein staatliches Gesetz „gegen den Mißbrauch w irtschaftlicher M achtstellungen“ ergeht (wie die deutsche K artellverordnung vom 2. N ovem ber 1923), so sind eben m it dieser Form ulierung Begriff und D asein einer „w irtschaftlichen Macht von Staats und Gesetzes wegen anerkannt. D er heutige S taat h a t ein aus­ gedehntes Arbeitsrecht, T arifw esen und staatliche Schlichtung von Lohn­ streitigkeiten, durch welche er die Löhne m aßgebend beeinflußt; er gew ährt riesige Subventionen an die verschiedenen W irtschaftszw eige; er ist ein W ohlfahrts- und ein F ürsorgestaat und infolgedessen gleichzeitig in ungeheurem Maße ein Steuer- und A bgabenstaat. In D eutschland kom mt hinzu, daß er auch noch ein R eparationsstaat ist, der M illiardentribute für frem de Staaten aufbringen muß. In einer solchen Lage w ird die F orderung der N ichtintervention zu einer Utopie, ja, zu einem Selbstw iderspruch. Denn N ichtintervention w ürde bedeuten, daß m an in den sozialen und wirtschaftlichen Gegensätzen und Konflikten, die heute keinesw egs m it rein wirtschaftlichen M itteln ausgekäm pft w erden, den verschiedenen Machtgruppen freie Bahn läßt. N ichtintervention ist in einer solchen Lage nichts anderes als Intervention zugunsten des jew eils Ü berlegenen und Rücksichtslosen, und es zeigt sich w ieder einm al die einfache W ah rh eit des scheinbar so paradoxen Satzes, den T alley ran d fü r die A ußenpolitik aus­ gesprochen hat: N ichtintervention ist ein schw ieriger Begriff, er bedeutet ungefähr dasselbe wie Intervention. In der W endung zum W irtschaftsstaat liegt die auffälligste V eränderung gegenüber den Staatsvorstellungen des 19. Jah rh u n d erts. A uf an d ern Ge­ bieten ist die W endung ebenfalls zu beobachten, w enn sie auch infolge des erdrückenden Übergewichts der wirtschaftlichen Schw ierigkeiten und P ro ­ bleme dort heute meistens als w eniger aktuell em pfunden w ird. Es ist nicht verwunderlich, daß die A bw ehr gegen eine solche E xpansion des Staates zunächst als A bw ehr gegen diejenige staatliche B etätigung erscheint, die in einem solchen Augenblick gerade die A rt des Staates bestim m t, demnach als Abw ehr gegen den G esetzesstaat. D eshalb w ird zunächst nach Siche­ rungen gegen den Gesetzgeber gerufen. So sind w ohl auch die ersten unklaren A bhilf ever suche zu erk lären , die sida an die Justiz klam m erten, um ein Gegengewicht gegen den im m er m ächtiger und im m er um fassender w erdenden G esetzgeber zu gewinnen. Sie m ußten in leeren Ä ußerlichkeiten enden, weil sie nicht aus einer ko n k reten E rkenntnis d er verfassungs­ rechtlichen Gesam tsituation, sondern n u r einer reflexartigen R eaktion ent­ standen w aren. Ih r eigentlicher Irrtu m lag darin, daß sie der Macht des modernen Gesetzgebers n u r eine Justiz entgegensetzen konnten, die ent­ w eder durch bestimm te Norm en eben dieses G esetzgebers inhaltlich gebun­ den w ar, oder aber ihm n u r unbestim m te und u m stritten e P rinzipien entgegenhalten konnte, mit deren H ilfe sich keine dem G esetzgeber überlegene A utorität begründen ließ. D ie W endung zum W irtschafts- und W ohlfahrts-

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staat bedeutete zw ar einen kritischen Augenblick für den überlieferten Gesetzgebungsstaat, brauchte und konnte deshalb aber doch noch nicht den Gerichten ohne w eiteres neue K raft und politische Energien zuführen. In einer d erartig veränderten Situation und angesichts einer solchen Aus­ dehnung der staatlichen Aufgaben und Problem e kann vielleicht die Regie­ rung, sicher aber nicht eine Justiz A bhilfe schaffen. H eute dürften wohl in den m eisten Staaten des europäischen Kontinents der Justiz alle inhalt­ lichen Norm en fehlen, auf G rund deren sie die völlig neue Situation von sich aus zu m eistern im stande w äre. Das Parlam ent, die gesetzgebende Körperschaft, der T räger und M ittel­ punkt des Gesetzgebungsstaates, w urde in dem gleichen Augenblick, in dem sein Sieg vollständig zu sein schien, ein in sich selbst widerspruchs­ volles, die eigenen V oraussetzungen und die Voraussetzungen seines Sieges verleugnendes Gebilde. Seine bisherige Stellung und Überlegenheit, sein Expansionsdrang gegenüber der Regierung, sein A uftreten im Namen des Volkes, alles das setzte eine Unterscheidung von Staat und Gesellschaft voraus, die nach dem Sieg des Parlam ents jedenfalls in dieser Form nicht mehr W eiterbestand. Seine Einheit, sogar seine Identität mit sich selbst, war bisher durch den innenpolitischen Gegenspieler, den früheren mon­ archischen M ilitär- und Beam tenstaat bestimmt. Als dieser entfiel, brach das P arlam ent sozusagen in sich auseinander. D er Staat ist jetzt, wie man sagt, Selbstorganisation der Gesellschaft, aber es fragt sich, wie die sich selbst organisierende Gesellschaft zur E i n h e i t gelangt und ob die Einheit w irklich als R esultat der „Selbstorganisation“ eintritt. D er U nterschied zwischen einem parlam entarischen P arteienstaat mit freien, das heißt nicht festorganisierten P arteien und einem pluralistischen P arteienstaat m it festorganisierten G ebilden als den T rägern der staat­ lichen W illensbildung kann größer sein als der von Monarchie und Re­ publik oder irgendeiner andern Staatsform . Die festen sozialen Verbin­ dungen, die heute T räger des pluralistischen Staates sind, machen aus dem Parlam ent, wo ihre Exponenten in G estalt von F raktionen erscheinen, ein bloßes A bbild der pluralistischen A ufteilung des Staates selbst. W oher soll bei dieser Sachlage die E inheit entstehen, in der die harten Partei- und Interessentenbindungen aufgehoben und verschmolzen sind? Eine Diskussion findet nicht m ehr statt; ja, mein bloßer Hinweis auf dieses ideelle Prinzip des Parlam entarism us hat R.T hom a veranlaßt, von einer „gänzlich verschimmel­ ten“ G rundlage zu sprechen. Einige durch die politischen P arteien hindurch­ gehende sogenannte „Q uerverbindungen“ (landwirtschaftliche Interessen, A rbeiterinteressen, Beamte, in einzelnen F ällen auch Frauen) können auf bestim m ten Sachgebieten eine M ehrheit bew irken; da es sich aber bei dem Pluralism us nicht n u r um die parlam entarischen P arteien und Fraktionen handelt, und außerdem derartige Q uerverbindungen selbst Faktoren der pluralistischen G ruppierung sein können, so bedeuten sie zw ar eine Kom­ plizierung, aber keine A ufhebung und Beseitigung, eher sogar eine Be-

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stätigung und V erstärkung dieses Zustandes. D ie berühm te „solidarité parlem entaire“, die über die P arteigrenzen hinw eggehenden, gem ein­ samen egoistischen P rivatinteressen der parlam entarischen A bgeordneten, namentlich der eigentlichen B erufspolitiker, können ein w irksam es Motiv und ein nützlicher E inheitsfaktor sein, reichen aber begreiflicherw eise in einer so schwierigen Lage, wie der des heutigen D eutschland, und bei der starken Verfestigung der O rganisationen nicht m ehr aus. So w ird das Parlam ent aus dem Schauplatz einer einheitsbildenden, freien V erhandlung freier V olksvertreter, aus dem T ransform ator parteiischer Interessen in einen überparteiischen W illen, zu einem Schauplatz pluralistischer Auf­ teilung der organisierten gesellschaftlichen Mächte. D ie Folge ist, daß es entw eder durch seinen im m anenten Pluralism us m ehrheits- und handlungs­ unfähig w ird, oder aber, daß die jew eilige M ehrheit alle legalen Möglich­ keiten als W erkzeuge und Sicherungsm ittel ihres M achtbesitzes gebraucht, die Zeit ih rer staatlichen Macht nach allen Richtungen ausnützt und vor allem dem stärksten und gefährlichsten G egner nach M öglichkeit die Chance zu beschränken sucht, das gleiche zu tun. Es w äre vielleicht naiv, das nur aus der menschlichen Bosheit oder gar aus ein er speziellen, nu r heutzutage möglichen N iedertracht zu erk lären . D ie deutsche Staats- und Verfassungsgeschichte kennt in frü h eren Jah rh u n d e rte n analoge Vorgänge in beunruhigender Zahl und Regelm äßigkeit. W as bei der A uflösung des alten Römischen Reiches Deutscher N ation K aiser und F ü rsten zur Siche­ rung ih rer Hausmacht getan haben, w iederholt sich heute in zahlreichen Parallelen. Auch in dieser Hinsicht ist die V eränderung gegenüber dem 19. Ja h r­ hundert fundam ental. Auch hier w ird sie durch den Schleier u n v erän d ert beibehaltener W orte und Form eln, durch alte D enk- und R edew eisen und durch einen im Dienste dieser R esiduen stehenden Form alism us verhüllt. A ber man darf sich d arüber nicht täuschen, daß die W irkung sowohl auf die Staats- und Verfassungsgesinnung als auch unm ittelb ar auf den Staat und die Verfassung selbst außerordentlich groß ist. Sie besteht h a u p t­ sächlich darin, daß in demselben Maße, in welchem der Staat sich in ein pluralistisches Gebilde verw andelt, an die Stelle der T reue gegen den Staat und seine Verfassung die T reue gegen die soziale O rganisation, gegen das den staatlichen Pluralism us tragende G ebilde tritt, zumal, w ie vorhin erw ähnt, der soziale Kom plex oft die Tendenz hat, total zu w erden, das heißt die von ihm erfaßten S taatsbürger wirtschaftlich w ie w eltanschau­ ungsgemäß ganz an sich zu binden. So entsteht ein Pluralism us schließ­ lich auch moralischer Bindungen und Treueverpflichtungen, eine „ p lu ra lity of loyalties , durch welche die pluralistische A ufteilung im m er stä rk e r stabilisiert und die Bildung einer staatlichen E inheit im m er m ehr gefährdet wird. In seinem folgerichtigen E rgebnis w ird dadurch ein dem Staate verpflichtetes Beam tentum unmöglich, denn auch diese A rt B eam ten­ tum setzt einen von den organisierten Sozialkom plexen unterscheidbaren Staat voraus. Außerdem aber entsteht ein Pluralism us der L egalitäts-

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begriffe, der den R espekt vor der Verfassung zerstört und den Boden der Verfassung in ein unsicheres, von m ehreren Seiten um käm pf tes T errain verw andelt, w ahrend es im Sinne jed e r Verfassung liegt, eine poli­ tische Entscheidung zu treffen, die außer Zweifel stellt, was die gemein­ same, mit der Verfassung gegebene Basis der staatlichen E inheit ist. Die jeweils herrschende G ruppe oder K oalition nennt die A usnützung aller legalen Möglichkeiten und die Sicherung ih re r jew eiligen Machtpositionen, die V erw ertung aller staatlichen und verfassungsm äßigen Befugnisse in Gesetzgebung, V erw altung, Personalpolitik, D isziplinarrecht und Selbst­ verwaltung, m it allerbestem Gewissen Legalität, w oraus sich dann von selbst ergibt, daß jede ernste K ritik oder gar eine G efährdung ih re r Situ­ ation ihr als Illegalität erscheint, als U m sturz und als ein Verstoß gegen den Geist der Verfassung; w ährend jede von solchen Regierungsm ethoden betroffene G egenorganisation sich darauf beruft, daß die V erletzung der verfassungsmäßig gleichen C hance den schlimmsten Verstoß gegen den Geist und die G rundlagen einer dem okratischen Verfassung bedeutet, womit sie den V orw urf der Illegalität und der V erfassungsw idrigkeit eben­ falls mit allerbestem Gewissen zurückgeben kann. Zwischen diesen beiden, in der Situation eines staatlichen Pluralism us fast automatisch funktio­ nierenden, gegenseitigen N egationen w ird die Verfassung selbst zerrieben. Diese Betrachtung der konkreten V erfassungszustände soll eine W irk ­ lichkeit zum Bew ußtsein bringen, deren Anblick sich viele aus verschieden­ artigen Motiven und u n ter m ancherlei V orw änden lieber entziehen, deren deutliche E rkenntnis aber trotzdem fü r eine verfassungsrechtliche U nter­ suchung, die sich m it dem Problem der W ahrung und Sicherung der gelten­ den Reichsverfassung beschäftigt, ganz unumgänglich ist. Es genügt keines­ wegs, allgem ein von einer „K rise“ zu sprechen, oder die vorige Betrach­ tung dam it abzutun, daß m an sie in die „K risen literatu r“ verw eist. W enn der heutige Staat ein G esetzgebungsstaat sein soll, w enn außerdem eine solche Ausdehnung der G ebiete staatlichen Lebens und staatlicher B etäti­ gung ein tritt, daß m an schon von einer W endung zum totalen Staat sprechen kann, w enn dann gleichzeitig aber die gesetzgebende K örperschaft zum Schauplatz und M ittelpunkt der pluralistischen A ufteilung der staatlichen Einheit in eine M ehrheit festorganisierter Sozialkom plexe w ird, so hilft es nicht viel, m it Form eln und Gegenform eln, die für die Situation der konsti­ tutionellen Monarchie des 19. Jah rh u n d erts geprägt sind, von der „Sou­ veränität des P arlam ents“ zu sprechen, um die schwierigste Frage des heutigen Verfassungsrechts zu beantw orten.

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Bedeutung und Funktion der innerpolitisdien Neutralität des Staates

18. Übersicht über die verschiedenen Bedeutungen und Funktionen des Begriffes der innerpolitischen Neutralität des Staates (1931) Angesichts der V ieldeutigkeit des W ortes „N eu tralität“ und der Ver­ w irrung, die einen unentbehrlichen Begriff unbrauchbar oder unanw endbar zu machen droht, ist eine terminologische und sachliche K lärung zweck­ mäßig. H ier soll deshalb eine zusammenfassende A ufstellung versucht werden, in der die verschiedenen Bedeutungen, Funktionen und polemi­ schen Richtungen dieses W ortes m it einiger System atik g ruppiert sind.

I. Negative, das heißt von der politischen Entscheidung wegführende Bedeutungen des Wortes „Neutralität“. 1. N e u t r a l i t ä t i m S i n n e d e r N i c h t i n t e r v e n t i o n , der U ninter­ essiertheit, des laisser passer, der passiven Toleranz usw. In dieser Bedeutung tritt die innerpolitisdie Neutralität des Staates zuerst in das geschichtlidie Bewußtsein, und zwar als N e u t r a l i t ä t d e s S t a a t e s g e g e n ­ ü b e r d e n R e l i g i o n e n u n d K o n f e s s i o n e n . So sagt Friedrich der Große in seinem politischen Testament: je suis neutre entre Rome et Genève — übrigens eine alte Formel des 17. Jahrhunderts, die sich schon auf einem Porträt von Hugo Grotius findet und für den in diesem Jahrhundert einsetzenden Neutrali­ sierungsprozeß von größter Bedeutung ist1. In letzter Konsequenz muß dieses Prinzip zu einer allgemeinen Neutralität gegenüber allen denkbaren Anschauungen und Pro­ blemen und zu einer absoluten Gleidibehandlung führen, wobei z. B. der religiös Denkende nicht mehr geschützt werden darf als der Atheist, der national Empfin­ dende nicht mehr als der Feind und Verächter der Nation. Daraus folgt ferner ab­ solute Freiheit jeder Art Propaganda, der religiösen wie der antireligiösen, der natio­ nalen wie der antinationalen; absolute „Rücksichtnahme“ auf den „Andersdenken­ den“ schlechthin, auch w^enn er Sitte und Moral verhöhnt, die Staatsform untergräbt und im Dienst eines ausländischen Staates agitiert. Diese Art „neutraler Staat“ ist der n i c h t s m e h r u n t e r s c h e i d e n d e , r e l a t i v i s t i s c h e stato neutrale ed agnostico, der inhaltlose oder doch auf ein inhaltliches M i n i m u m beschränkte Staat. Seine Verfassung ist v o r a l l e m a u c h g e g e n ü b e r d e r W i r t s c h a f t n e u t r a l im Sinne der Nichteinmischung (Wirtschafts- und Vertragsfreiheit), mit der »^Fiktion des wirtschaftsfreien Staates und der staatsfreien Wirtschaft“ (F. Lenz). Dieser Staat kann immerhin noch politisch werden, weil er wenigstens denkbarer­ weise noch einen Feind kennt, nämlich denjenigen, der nicht an diese Art geistiger Neutralität glaubt.

2. N e u t r a l i t ä t i m S i n n e i n s t r u m e n t a l e r S t a a t s a u f f a s s u n ­ gen, f ü r w e l c h e d e r S t a a t ein t e c h n i s c h e s M i t t e l ist, das mit s a c h l i c h e r B e r e c h e n b a r k e i t f u n k t i o n i e r e n u n d j e d e m die g l e i c h e B e n u t z u n g s c h a n c e g e b e n sol l . Instrumentale Staatsvorstellungen liegen meistens folgenden Redewendungen zugrunde: der staatliche Justiz- und Verwaltung^ a p p a r a t , die „Regierungsm a s c h i n e“, der Staat als bürokratischer B e t r i e b , die Gesetzgebungsmaschine, die Klinke der Gesetzgebung usw. Die Neutralität des Staates als eines technischen Instrumentes ist denkbar für das Gebiet der Exekutive, und man kann sich vielleicht vorstellen, daß der Justizapparat oder der Verwaltungsapparat in der gleichen Weise funktioniere und mit derselben Sachlichkeit und Technizität jedem Benutzer, 1 Über diesen Neutralisierungsprozeß und seine Stadien: Carl Schmitt, „Euro­ päische Revue“, November 1929. Vgl. oben Nr. 15 S. 120 ff.

Bedeutung und Funktion der innerpolitischen Neutralität des Staates

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der sich seiner normgemäß bedient, zur Verfügung stehe, wie Telephon, Telegraph, Post und ähnliche technische Einrichtungen, die ohne Rücksicht aut den Inhalt der Mitteilung jedem zu Diensten sind, der sich an die Normen ihres Funktionierens hält. Ein soldier Staat wäre restlos entpolitisiert und könnte von sidi aus Freund und Feind nicht mehr unterscheiden.

5. N e u t r a l i t ä t i m S i n n e d e r g l e i c h e n C h a n c e b e i d e r s t a a t ­ lichen W illen sb ildung. Hier bekommt das Wort eine Bedeutung, die gewissen liberalen Deutungen des allgemeinen gleichen Wahl- und Stimmredits sowie der allgemeinen Gleidiheit vor dem Gesetz zugrunde liegt, soweit diese Gleichheit vor dem Gesetz nicht bereits (als Gleichheit vor der Gesetzesanwendung) unter die vorige Ziffer 2 fällt. Jeder hat die Chance, die Mehrheit zu gewinnen; er wird, wenn er zur überstimmten Minder­ heit gehört, daran verwiesen, daß er ja die Chance hatte und noch habe, Mehrheit zu werden. Auch das ist eine liberale Gereditigkeitsvorstellung. Solche Vorstellungen von einer Neutralität der gleichen Chance bei der staatlichen Willensbildung liegen auch, freilich meistens wenig bewußt, der herrschenden Auffassung des Art. 76 RV. zugrunde. Nadx ihr enthält Art. 76 nicht nur eine Bestimmung über Verfassungs­ änderungen (wie man nach dem Wortlaut annehmen sollte), sondern er begründet eine audi schranken- und grenzenlose, absolute Allmadit und eine verfassunggebende Gewalt. So z. B. G. Ansdiütz in seinem Kommentar zu Art. 76 (10. Aufl. S. 349/350); Fr. Giese, Kommentar, 8. Aufl. 1931, S. 190; und Thoma, Handbuch des deutschen Staatsrechts, II S. 154, der sogar so weit geht, C. Bilfingers und meine abweichende Meinung als „wunschreehtlidi“ hinzustellen, ein Beiwort, das eine im allgemeinen nicht üblidie Art von banaler Insinuation zum Ausdruck bringt. Diese herrsdiende Auffassung des Art. 76 nimmt der Weimarer Verfassung ihre politische Substanz und ihren „Boden“ und macht sie zu einem g e g e n ü b e r j e d e m I n h a l t i n d i f ­ f e r e n t e n , n e u t r a l e n A b ä n d e r u n g s v e r f a h r e n , das namentlich a u c h d e r j e w e i l s b e s t e h e n d e n S t a a t s f o r m g e g e n ü b e r n e u t r a l ist. Allen Parteien muß dann gerechterweise die unbedingt gleiche Chance gegeben wer­ den, sich die Mehrheiten zu verschaffen, die notwendig sind, um mit Hilfe des für Verfassungsänderungen geltenden Verfahrens ihr angestrebtes Ziel — SowjetRepublik. nationalsozialistisches Reich, wirtschaftsdemokratischer Gewerkschafts­ staat, berufsständischer Korporationsstaat, Monarchie alten Stils, Aristokratie irgend­ welcher Art — und eine andere Verfassung herbeizuführen. Jede Bevorzugung der bestehenden Staatsform oder gar der jeweiligen Regierungsparteien, sei es durdi Subventionen für Propaganda, Unterscheidungen bei der Benutzung der Rundfunk­ sender, Amtsblätter, Handhabung der Filmzertsur, Beeinträchtigung der partei­ politischen Betätigung oder der Parteizugehörigkeit der Beamten in dem Sinne, daß die jeweilige Regierungspartei den Beamten nur die Zugehörigkeit zur eigenen oder den von ihr parteipolitisch nicht zu weit entfernten Parteien gestattet, Versamm­ lungsverbote gegen extreme Parteien, die Unterscheidung von legalen und revolu­ tionären Parteien nadi ihrem Programm, alles das sind im Sinne der konsequent zu Ende gedachten, herrschenden Auffassung des Art. 76 grobe und aufreizende Ver­ fassungswidrigkeiten. Bei der Erörterung der Frage, ob das Gesetz zum Schutz der Republik vom 25. März 1930 (RGBl. I S. 91) verfassungswidrig ist oder nicht, wird der systematische Zusammenhang dieser Frage mit Art. 76 meistens nicht beachtet.

4. N e u t r a l i t ä t i m S i n n e v o n P a r i t ä t , d a s h e i ß t g l e i c h e Z u l a s s u n g a l l e r in B e t r a c h t k o m m e n d e n G r u p p e n u n d R i c h ­ tu ngen u n t e r gleichen B edingungen und mit gleicher Be­ r ü c k s ic h tig u n g bei der Zuw endung von V orteilen oder sonstigen staatlichen Leistungen. Diese Parität ist von geschiditlicher und praktisdier Bedeutung für Religions­ und Weltanschauungsgesellschaften in einem Staat, der sidi nidit streng von allen religiösen und Weltanschauungsfragen getrennt hat, sondern mit einer Mehrzahl be­ stehender religiöser und ähnlidier Gruppen verbunden bleibt, sei es durch vermögensrechtlicne Verpfliditungen irgendwelcher Art, sei es durch Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Schule, der öffentlichen Wohlfahrt usw. Bei dieser Parität erhebt sich eine Frage, die nach Lage der Sache sehr sdiwierig und bedenklich werden kann,

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Bedeutung und Funktion der innerpolitischen Neutralität des Staates

nämlich w e l c h e Gruppen für die Parität überhaupt in Betracht kommen. So fragt es sich z. B.f wenn man die parteipolitische Neutralität des Rundfunks im Sinne der Parität auffaßt, welche politischen Parteien paritätisch zugelassen werden müssen, weil man nicht automatisch und mechanisch jede sich meldende Partei zulassen kann. Eine ähnliche Frage erhebt sidi dann, wenn man die Freiheit der Wissensdiaft (Art. 142 RV.) als Parität aller wissenschaftlidien Richtungen auffaßt und verlangt, daß alle diese Riditungen in gleicher Weise bei der Besetzung der Lehrstühle geredit und verhältnismäßig berücksichtigt werden sollen. Max Weber forderte, daß, wenn einmal an den Hochsdiulen überhaupt Wertungen zugelassen würden, dann auch a l l e Wertungen zugelassen werden müßten, was theoretisch sowohl mit der Logik des relati vistisch-agnostischen Staates, wie mit der liberalen Forderung der gleidien Chance begründet werden kann, praktisch aber (für Berufungen) im plura­ listischen Parteienstaat zur Parität der den Staat jeweils beherrsdienden Parteien führt. Die Neutralität im Sinne von Parität ist aber nur gegenüber einer relativ ge­ ringen Zahl von berechtigten Gruppen und nur bei einer relativ unbestrittenen Madit- und Einflußverteilung der paritätisch berechtigten Partner praktisch durch­ führbar. Eine zu große Anzahl der Gruppen, die Anspruch auf paritätische Behand­ lung erheben, oder gar eine zu große Unsicherheit in der Bewertung ihrer Macht und Bedeutung, d. h. Unsicherheit in der Berechnung der Quote, auf die sie Anspruch haben, verhindert sowohl die Durchführung des Grundsatzes der Parität wie auch die Evidenz des ihm zugrunde liegenden Prinzips. Das zweite Bedenken gegen eine konsequent durchgeführte Parität liegt darin, daß sie notwendigerweise entweder zu einem entscheidungslosen Gleichgewicht führt (so öfters bei der Parität von Arbeitgebern und Arbeitnehmern), oder aber, bei starken und eindeutig bestimmten Gruppen, zu einer itio in partes, wie der von Katholiken und Protestanten seit dem 16. Jahrhundert im alten Deutschen Reich. Jede Partei bringt dann den Teil der staatlichen Substanz, der sie interessiert, für sich in Sicherheit und ist im Wege des Kompromisses damit einverstanden, daß die andere Partei mit einem andern Teil das gleiche tut. Beide Methoden — arithmetische Gleichheit oder itio in partes — haben nicht den Sinn einer politischen Entscheidung, sondern führen von der Entscheidung weg.I.

II. Positive, das heißt zu einer Entscheidung h inführende Bedeutungen des W ortes „N eu tralität“. 1. N e u t r a l i t ä t i m S i n n e d e r O b j e k t i v i t ä t u n d S a c h l i c h ­ keit auf der G ru n d la g e e in e r a n e r k a n n t e n Norm. Das ist die Neutralität des Richters, solange er auf Grund eines anerkannten, in­ haltlich bestimmbaren Gesetzes entscheidet. Die Bindung an das (inhaltliche Bindun­ gen enthaltende) Gesetz ermöglidit erst die Objektivität und damit diese Art Neu­ tralität, ebenso auch die relative Selbständigkeit des Richters gegenüber dem son­ stigen k* anders als durdi eine gesetzliche Regelung geäußerten) staatlichen Willen; diese Neutralität führt zwar zu einer Entscheidung, aber nicht zur politischen Entscheidung.

2. N e u t r a l i t ä t a u f d e r G r u n d l a g e e i n e r n i c h t e g o i s t i s c h ­ interessierten Sachkunde. Das ist die Neutralität des sachkundigen Gutachters und Beraters, des sachkundmen Beisitzers, soweit er nidit Interessentenvertreter und Exponent des pluralistiscnen oystems ist; auf dieser Neutralität beruht auch die Autorität des Vermittlers und Schlichters, soweit er nicht unter Ziffer 3 gehört.

3. N e u t r a l i t ä t a l s A u s d r u c k e i n e r d i e g e g e n s ä t z l i c h e n G ruppierungen umfassenden, daher alle diese G eg en sätz­ l i c h k e i t e n in sich r e l a t i v i e r e n d e n E i n h e i t u n d G a n z h e i t . Das ist die Neutralität der staatlichen Entscheidung innerstaatlidier Gegensätze, gegenüber der Zersplitterung und Aufteilung des Staates in Parteien und Sonderlnteressen, wenn die Entscheidung das Interesse des staatlichen Ganzen zur Geltung

Bedeutung und Funktion der innerpolitischen Neutralität des Staates

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4 N e u t r a l i t ä t des a u ß e n s t e h e n d e n F r e m d e n , der als Dritter von a u ß e n he r n ö t i g e n f a l l s die E n t s c h e i d u n g und dami t eine E i n h e i t b e w i r k t . Das ist die Objektivität des Schutzherrn gegenüber dem unter Protektorat stehen­ den Staate und dessen innerpolitischen Gegensätzen, des Eroberers gegenüber den verschiedenen Gruppen in einer Kolonie, der Engländer gegenüber Hindus und Mohammedanern in Indien, des Pilatus (quid est veritas?) gegenüber den Religions­ streitigkeiten der Juden.1

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19-Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus

(1932 ) De r Im perialism us der V ereinigten S taaten von A m erika vor allem gilt in der heute üblichen V orstellungss- und Redew eise als d er m odernste Im perialism us, und zw ar deshalb, w eil er vor allem ein ökonomischer Im perialism us ist und sich dadurch von an d eren A rten, insbesondere von jedem m ilitärischen Im perialism us, zu unterscheiden scheint. D as ö k o n o ­ mische steht dabei d e ra rtig im V ordergrund, daß es manchm al sogar benutzt w ird, um das F aktum eines Im perialism us ü b e rh a u p t zu leugnen, indem m an auf G rund einer überlieferten A ntithese des 19. Jah rh u n d erts W irtschaft und P olitik gegenüberstellt und das W irtschaftliche als etw as wesensmäßig Unpolitisches, das Politische als etw as w esentlich n i c h t W irtschaftliches hinstellt. A uf diese W eise konnte noch im Ja h re 1919 ein berühm ter N ationalökonom und Soziologe, Joseph Schum peter, die A n­ sicht vertreten, das, was die Angelsachsen machen, sei im G egensatz zu dem, was die Preußen und andere M ilitaristen machten, „begriffsnotw en­ dig’* niem als Im perialism us, sondern etw as w esentlich anderes, w eil es nämlich n u r ökonomische und deshalb friedliche E xpansion bedeute. Diese hochpolitische A bleugnung des politischen C h a ra k te rs ökonom i­ scher Vorgänge und Begriffe soll h ier auch w e ite r e rö rte rt w erden. Es gehört jedenfalls zur E igenart des am erikanischen Im perialism us, daß er von Anfang, von der ersten Sekunde seines D aseins an, m it der A ntithese „wirtschaftlich gegen politisch“ g earbeitet hat. D ie Form el der berühm ten Abschiedsrede W ashingtons aus dem Ja h re 1796, ist unendlich oft zitiert w orden: möglichst viel H andel, möglichst w enig P olitik. H andel und „W irt­ schaft“ erscheinen auch h ier w ieder als das eo ipso Unpolitische. Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts, also etw a bis zu der Zeit, in der m an anfängt, auch in A m erika von Im perialism us zu sprechen und die ungeheure Macht­ ausdehnung der V ereinigten Staaten als „im perialistisch“ zu bezeichnen, erscheint in den R egierungserklärungen fo rtw äh ren d diese G egenüber­ stellung von H andel und Politik. Es heißt zum Beispiel in den vielen Ä ußerungen zur M onroedoktrin: ein europäischer S taat d a rf in A m erika H andel treiben soviel er w ill, er d a rf n u r nichts Politisches tun. W ann der Augenblick kommt, in dem das H andeltreiben politisch w ird, d a rü b e r ent­ scheiden natürlich die V ereinigten S taaten von A m erika. D er am erikanische Im perialism us ist allerdings ein ökonom ischer Im perialism us, darum aber nicht w eniger intensiv im perialistisch. Es gehört zu den Residuen des 19. Jah rh u n d erts, daß m an die G egen­ überstellung von „wirtschaftlich“ und „politisch“ in dem Sinne auffaßt, als

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seien wirtschaftliche Expansion und Ausbeutung von selber „unpolitisch“ und infolgedessen auch „friedlich“. Es gehört aber ferner zu jeder Macht­ ausdehnung — ob sie sich nun in der Hauptsache wirtschaftlich darstellt oder nicht —, daß sie eine bestimm te R e c h t f e r t i g u n g vorbringt. Sie braucht ein L e g i t i m i t ä t s p r i n z i p , ein ganzes Inventar von recht­ lichen Begriffen und Form eln, von Redensarten, von Schlagworten, das sind nicht n u r „ideologische“ Vortäuschungen und dient nicht nur Propa­ gandazwecken, sondern ist n u r ein Anw endungsfall der einfachen W ahr­ heit, daß alle T ätigkeit des Menschen irgendeinen g e i s t i g e n C harakter trägt und auch die Politik, eine imperialistische so gut wie irgendeine andere geschichtlich bedeutungsvolle Politik, keinesfalls sozusagen ih rer N atur nach etw as Ungeistiges ist. Es hat niemals in der Geschichte der Menschheit an solchen Rechtfertigungen und Legitim itätsprinzipien gefehlt; es hat auch ohne solche Rechtfertigungen niemals ein Völkerrecht gegeben. Die internationalen L egitim itätsprinzipien und rechtlichen Form en des modernen Im perialism us — wenn w ir die moderne Zeit etw a mit dem 16. europäischen Jah rh u n d ert beginnen lassen — sind in ih rer Aufeinanderfolge wenigstens m it einigen Sätzen darzustellen, damit das Charakteristische gerade der am erikanischen Form en deutlicher hervortritt. Das Völkerrecht hieß noch bis in das 19. Jah rh u n d ert hinein in Lehrbüchern und verbreite­ ten D arstellungen des Völkerrechts: das Völkerrecht der christlichen Völker. Es galt als ein wichtiges Novum, als 1856 auf der P ariser Konferenz die Türkei in die „Fam ilie der N ationen“ auf genommen w urde, obwohl sie ein nichtchristlicher Staat w ar. Aus dem Gegensatz christlich-nichtchristlich ergaben sich bestimm te, und zw ar sehr präzise, nicht bloß ideo­ logische Form en des völkerrechtlichen V erkehrs, etw a die Praxis der „K apitulationen“ zwischen christlichen und nichtchristlichen Staaten, Exem ­ tionen von der frem den G erichtsbarkeit; E x territo rialität der E uropäer in „exotischen“ L ändern usw. Im Laufe des 19. Jahrhunderts w ird die Unterscheidung von christlichen und nichtchristlichen V ölkern zu der U nter­ scheidung von zivilisierten, nichtzivilisierten und halbzivilisierten Völkern säkularisiert. D ieser Unterscheidung von zivilisierten, halbzivilisierten und nichtzivilisierten V ölkern entsprechen die völkerrechtlichen Begriffe und Methoden des europäischen Im perialism us des 19. Jahrhunderts, nam ent­ lich die H erausbildung von P rotektoraten und Kolonien: gegenüber halb­ zivilisierten V ölkern bedient man sich zur imperialistischen Herrschaft der Form des Protektorats, w ährend U nzivilisierte als Kolonien behandelt werden. Auf der Unterscheidung von P rotektorat und Kolonien baut sich eine Reihe von w eiteren Form en des völkerrechtlichen V erkehrs auf, die für das 19. Jah rh u n d ert charakteristisch sind. Einen höchst charakteristischen Rest dieser Unterscheidung von zivilisierten, nichtzivilisierten und halb­ zivilisierten V ölkern findet m an noch in der Satzung des G enfer V ölker­ bundes von 1919, A rtikel 22, bei der Regelung der Mandate, d. h. dort, wo die Sieger frü h er türkische Gebiete und die deutschen Kolonien als,B eute an sich nehmen. D ort heißt es in einer auffällig pathetischen A rt und Weise, 11*

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wie sie sonst die Völkerbundsatzung nicht kennt, daß es V ölker gibt, die noch nicht imstande sind — das „noch ist dabei zu beachten , sich „unter den besonders schwierigen Bedingungen der heutigen Zivilisation selbst zu leiten, und daß es eine „heilige A ufgabe der Zivilisation sei, diese Völker so zu erziehen, daß sie sich selbst leiten können. D ieser A rtikel 22 der Völkerbundsatzung ist vielleicht ü b erhaupt das kom prim ierteste Bei­ spiel der Legitim ierungsfunktion der U nterscheidung zivilisierter und nicht­ zivilisierter Völker, auf G rund deren die zivilisierten V ölker sich das Recht zuschreiben, die weniger zivilisierten in der Form von M andaten, P rotekto­ raten und Kolonien zu „erziehen“, d. h. zu beherrschen. D er A rtikel ist der letzte und, wie häufig in der Geschichte, zugleich der klassisch zu­ sammenfassende Ausdruck einer ganzen Epoche. D arau f b eru h te das, was man den Im perialism us der europäischen V ölker im 19. Jah rh u n d ert nennen kann. Die meisten w erden heute das G efühl haben, daß diese A rt von Rechtfertigung einer H errschaft über andere V ölker m indestens sehr problematisch geworden ist. Das, w orauf es hier, angesichts des Im perialism us der V ereinigten Staaten, ankommt, ist, daß diese V ereinigten Staaten über dieses Stadium längst hinaus sind. Sie haben natürlich auch Kolonien w ie die Philippinen und verschmähen es keineswegs, sich des V okabularium s der „Zivilisation“ und seiner Methoden zu bedienen, aber es haben sich daneben und darüber hinaus ganz andere Begriffe und andere M ethoden der völkerrechtlichen Herrschaft herausgebildet. W enn ich diese kurze, m it der Unterscheidung zwischen christlichen und nichtchristlichen beginnende, zu der U nter­ scheidung zivilisierter und nichtzivilisierter V ölker führende Übersicht schnell zu Ende führen darf, so ist zu sagen, daß die neue Unterscheidung, die den amerikanischen Form en zugrunde liegt, auf die Unterscheidung von G läubigern und Schuldnern hinausläuft. O b diese neue E inteilung der Völker und Staaten friedlicher ist als die vergangener Jah rh u n d erte, w äre eine Frage für sich. Jedenfalls geht die Entwicklung der im perialistischen Argum entation dahin, daß nunm ehr G läubigervölker und Schuldnervölker einander gegenüberstehen. F ü r diese Einteilung, die fü r uns Deutsche eine schicksalsvolle A ktualität hat, bildet der Im perialism us der V ereinigten Staaten seit über einem M enschenalter eine ganze W elt von Begriffen, Ein­ richtungen, Form eln und M ethoden heraus, von der w ir in Deutschland vor dem Kriege nicht viel geahnt haben, obwohl sie bereits fertig Vorlagen und die spezifische Redeweise dieses Im perialism us im Munde eines Mannes wie Wilson auch schon vor dem Jah re 1918 häufig ertönt ist. Im K ern aller A rgum entationen, welche die V ereinigten Staaten seit hundert Jahren völkerrechtlich und außenpolitisch zu ih re r Rechtfertigung defensiv und offensiv vorgebracht haben, steht die M onroedoktrin aus dem Jahre 1825. Sie ist oft dargestellt w orden. Ich muß sie h ier erw ähnen, obwohl sie m einer Meinung nach ihre F unktion im wesentlichen bereits erfüllt hat. Sie ist charakteristisch für das erste große Stadium der E nt­ wicklung des amerikanischen Im perialism us. Die M onroedoktrin begleitet

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die A ußenpolitik der V ereinigten Staaten seit 1823, in der Sadie wohl auch schon früher, wenngleich das übliche D atum das der Botschaft des Präsi­ denten Monroe ist. Neben der Entwicklung des amerikanischen Staates selber geht, wie ein Schatten, die immer w eiter getriebene Entw iddung dieser M onroedoktrin einher. Sie beginnt, scheinbar wenigstens, rein defen­ siv. Sie w endet sich im Jahre 1823 gegen das damalige Europa und seinen damaligen „V ölkerbund“, d. h. gegen die Heilige Allianz und deren In ter­ ventionen in Südam erika; außerdem gegen Rußland, das sich an der N ord­ küste von A laska festgesetzt hatte; sie w ar also die Defensive eines noch sehr schwachen K olonialstaates in perip h erer Lage. Die Großmächte des Jahres 1823 haben diese M onroedoktrin nicht sehr wichtig genommen. Die englische R egierung ist an der Proklam ierung beteiligt gewesen, weil Eng­ lands Interesse jenem europäischen K ontinentalbund, der sich „Heilige Allianz“ nannte, entgegengesetzt w ar. Aus diesem defensiven Pronunziamento eines kleinen K olonialstaates im Jahre 1823 ist dann ein völker­ rechtliches Instrum ent der Hegemonie dieses Staates über den großen am eri­ kanischen K ontinent geworden. Inzwischen sind die V ereinigten Staaten aber noch weit m ehr geworden als eine auf den am erikanischen K ontinent beschränkte hegemonische Macht. Zunächst freilich begnügte m an sich mit dem berühm ten Satz: „Amerika den A m erikanern“ und mit der Ablehnung jed er europäischen „Einmischung“. Die M onroedoktrin sagt auf den ersten Blick etwas sehr Bescheidenes: kein europäischer Staat darf sich in amerikanische Ver­ hältnisse einmischen, um gekehrt mischen sich die Vereinigten Staaten nicht in europäische V erhältnisse ein; im Jah re 1823 bestehende europäische Be­ sitzungen w erden anerkannt, dürfen aber nicht erw eitert werden. Diese einfachen Sätze entfalten sich nun zur G rundlage einer großen „D oktrin“, deren Inhalt sich fortw ährend verändert und anpaßt, und deren praktische Bedeutung manchmal sehr groß ist, manchmal w ieder ganz zurücktritt. Es gibt eine große L ite ratu r über die M onroedoktrin; auch die Entwicklung von einem M ittel der Defensive zu einem Instrum ent der Hegemonie über den am erikanischen K ontinent ist oft gezeigt worden. Man ging von der prinzipiellen U nzulässigkeit einer Intervention, von dem feierlich betonten „Grundsatz der N ichtintervention“ aus und endete damit, daß man in eben­ derselben D oktrin die Rechtfertigung für Interventionen der Vereinigten Staaten in die A ngelegenheiten anderer am erikanischer Staaten fand. Eine m erkw ürdige E ntw iddung ins Gegenteil. Diese dialektisdie Entfaltung eines politischen Prinzips geht aber durch die ganze Gesdiichte der Monroe­ doktrin hindurch und liegt nicht nu r in der E ntw iddung von der Defensive zur imperialistischen Expansion, sondern auch vom Prinzip der Nichtinter­ vention zum Instrum ent fortw ährender Interventionspolitik, vom Protest gegen das Prinzip der L egitim ität der Heiligen Allianz zu dem heute gehandhabten G rundsatz, daß die V ereinigten Staaten von A m erika — auch W ilson hat das verkündet — keine amerikanische Regierung, die auf revolutionäre W eise zur Macht gekommen ist, anerkennen und nu r legale

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Regierungen auf dem am erikanischen K ontinent dulden. Ein neues völker­ rechtliches Legitim itätsprinzip entwickelt sich, beginnend m it dem Kampf gegen das frühere Legitim itätsprinzip und m it der politischen Selbstisolie­ rung der Vereinigten Staaten von Am erika, und dam it endend, daß die Vereinigten Staaten einen die ganze Menschheit um fassenden Einfluß auf andere Mächte nehmen. Die einzelnen D aten dieser Entw icklung sollen hier nicht dargestellt werden, es kom m t bei dieser k u rzen Übersicht auf eins an: die M onroedoktrin, die dazu gedient hat, erst den am erikanischen Kontinent den Vereinigten Staaten vor den europäischen Großm ächten zu sichern, dann alle übrigen am erikanischen Staaten der Hegem onie der Vereinigten Staaten zu unterw erfen, dann die Einmischung, die Kontrolle, die internationale Polizei der V ereinigten Staaten auf dem am erikanischen Kontinent zu rechtfertigen, diese M onroedoktrin h at anscheinend heute ihren Dienst getan. Sie hat inzwischen eine R eihe von speziellen D ok­ trinen, z. B. die sog. karibische D oktrin, aus sich herausgesetzt, die nun wieder eine spezielle Aufgabe haben. Es gibt, wie gesagt, abgesehen von zahlreichen Büchern und Abhandlungen, zahlreiche E rk läru n g en der Regierungen der V ereinigten Staaten, die sich auf die M onroedoktrin beziehen. Dabei w ird immer deutlicher, daß diese M onroedoktrin eine sehr allgemeine, sehr weite „D oktrin“ ist, welche die entgegengesetztesten Handlungsweisen rechtfertigen kann. D ie V ereinigten Staaten haben es z. B. unter Berufung auf diese M onroedoktrin abgelehnt, sich in irgend­ eine europäische Angelegenheit einzumischen; sie sind trotzdem 1917 in den Krieg gegen Deutschland eingetreten, haben allerdings zugleich als nur „assoziierte“ (nicht alliierte) Macht durch den vom V ersailler V ertrag getrennten Frieden mit Deutschland doch w ieder ih re B esonderheit gegen­ über ihren europäischen Kampfgenossen zum Ausdruck gebracht. Sie haben noch vor 25 Jahren unter B erufung auf die M onroedoktrin europäischen Staaten, z. B. den europäischen G läubigerstaaten, die gegenüber Venezuela und anderen südamerikanischen Staaten ihr Recht suchten, erlaubt, eine amerikanische Küste zu blockieren; in anderen F ällen w iederum haben sie unter Berufung auf dieselbe M onroedoktrin ein gleiches Vorgehen nicht erlaubt. Sie haben erk lärt, es w iderspreche der M onroedoktrin nicht, daß ein europäischer Staat sein Recht suche, und die M onroedoktrin stehe nicht im Wege, wenn amerikanische Staaten, die ih re Schulden nicht bezahlen, dazu gezwungen werden, andererseits aber nehm en sie den S tandpunkt ein, daß darüber, ob ein am erikanischer Staat Unrecht tu e oder nicht und ob die Rechtsverfolgung durch den in seinem Recht v erletzten nichtam eri­ kanischen Staat völkerrechtlich zulässig sei oder nicht, durch die V ereinig­ ten Staaten von Am erika entschieden w erde. W as also eigentlich der kon­ krete Inhalt dieser immer vieldeutiger w erdenden, höchst w andelbaren M onroedoktrin ist, entscheiden die V ereinigten S taaten von sich aus. N ur sie bestimmen, was die M onroedoktrin im k o n k reten F alle w irklich be­ deutet. Es kommt vor, daß Interventionen abgelehnt und daß sie gerecht­ fertigt werden; es kommt vor, daß die V ereinigten Staaten sich an irgend-

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einem Vorgehen niditam erikanisdier Staaten gegen amerikanische Staaten für desinteressiert erklären. Im m er aber halten sie an einem fest: daß niemand einen Anspruch darauf hat, auf G rund der M onroedoktrin von den V ereinigten Staaten irgendeine Aktion, ein Eingreifen, eine In te r­ vention, eine Hilfe, eine V erm ittlung oder irgend etwas zu verlangen, w ährend um gekehrt die V ereinigten Staaten, w enn sie es in Anwendung der M onroedoktrin fü r richtig halten, jederzeit von sich aus eingreifen, intervenieren, verm itteln, oktroyieren, m it bew affneter H and einschreiten können. ich w ollte m it diesen A usführungen nicht die Entwicklung eines höchst kom plizierten P rinzips m it Beispielen aus dem letzten Jah rhundert geschichtlich schildern, sondern ein bestimm tes Prinzip des Im perialism us auf weisen. W enn w ir die F rage stellen: W as ist eigentlich die Monroe­ doktrin m it ihren vielen U nklarheiten, W idersprüchen, ihren m erk­ würdigen A nsprüchen und Nichtansprüchen der V ereinigten Staaten, so muß man zunächst beachten, daß die M onroedoktrin eine einseitige Re­ gierungserklärung der V ereinigten Staaten ist, eine Botschaft des P räsi­ denten aus dem Jah re 1823. Sie ist kein V ertrag: sie ist nicht mit anderen Staaten vereinbart. Die V ereinigten Staaten haben sie, wie Wilson 1916 betont hat, auf G rund ih re r eigenen A utorität von sich aus verkündet und legem großen W ert darauf, daß sie das getan haben. D enn daraus folgt, daß die Definition und die In terp retatio n der M onroedoktrin ausschließlich Sache der V ereinigten Staaten ist. D ie V ereinigten Staaten schließen aber trotzdem keinen V ertrag und lassen sich auf keine völkerrechtlichen Be­ ziehungen ein, ohne den selbstverständlichen, w enn auch nicht immer aus­ gesprochenen V orbehalt der M onroedoktrin zu machen. W as dann aber die M onroedoktrin in concreto bedeutet, das, wie gesagt, interpretieren, defi­ nieren und bestim m en sie selbst. D ie M onroedoktrin ist eben kein V ertrag, sondern eine einseitige E rk läru n g der V ereinigten Staaten. Sie ist außer­ dem sogar n u r eine R egierungserklärung; es w ird W ert darauf gelegt, daß die gesetzgebenden K örperschaften niem als ausdrücklich die Monroe­ doktrin beschlossen haben. Man könnte sie also nötigenfalls auch jed e r­ zeit desavouieren. Alles kom m t d arauf an, die E lastizität eines solchen Prinzips richtig zu sehen und zu deuten. Es fragt sich w eiter: Ist die M onroedoktrin überhaupt etwas, was mit Völkerrecht zu tu n hat? Sie figuriert in jedem Lehrbuch des Völkerrechts, es gibt über sie zahlreiche völkerrechtliche D issertationen, Abhandlungen, Aufsätze, aber ist sie w irklich V ölkerrecht oder „n u r“ eine politische Maxime? In offiziellen E rk läru n g en der am erikanischen Regierung und der verschiedenen S taatssekretäre findet m an A nhaltspunkte sowohl für das eine als auch fü r das andere. Auch hier sind offene W idersprüche. D er S taatssekretär O lney sagt zum Beispiel 1895: Diese M onroedoktrin ist ein l e i l des am erikanischen public law, sie ist auf allgem einen Rechts­ prinzipien (zum Beispiel der Selbstverteidigung) gut fundiert und durch

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zahllose Präzedenzfälle überreichlich sanktioniert. Danach w äre sie also R edit und nidit nur Politik. U m gekehrt sagt S taatssekretär Knox 1911: Die M onroedoktrin hat überhaupt m it Recht im technischen Sinne nichts zu tun, sie beruht nur auf Politik und Macht. D araus muß vor allem der Schluß gezogen werden, daß niem and gegen die V ereinigten Staaten Rechtsansprüdie aus der M onroedoktrin geltend machen kann. Aber die ganze Fragestellung: Ist die M onroedoktrin etwas Völker­ rechtliches oder etwas Politisches, ein Rechtsprinzip oder nu r ein poli­ tisches A ktionsprinzip der V ereinigten Staaten? leidet an einer A lter­ native von Recht und Politik, die sich im Völkerrecht nicht konsequent durdiführen läßt. Es w äre falsch, zu meinen, daß es einfach ein machiavellistischer Trick der V ereinigten Staaten ist, wenn sie sich an eine so viel­ deutige und „elastische“ Maxime halten. Das Völkerrecht wie auch das Verfassungsrecht ist eben politisches Recht. Man kann nicht sagen: die M onroedoktrin sei „rein politisch“ und gehöre deshalb nicht ins Völker­ recht (so zum Beispiel K. Strupp in seinem „W örterbuch des Völkerrechts“). Die V ölkerrechtslehrer behandeln sie trotzdem , auch wenn sie zu dem Ergebnis kommen, sie sei „nicht Recht, sondern P olitik“. Sie ist eben doch ein wesentlicher Teil des internationalen Rechts, einmal insofern, als sie gewisse allgemeine Prinzipien, zum Beispiel das Recht auf Selbstverteidi­ gung, zur konkreten Anwendung bringen will, dann, weil sie in allen V erträgen der Vereinigten Staaten wenigstens als V orbehalt anerkannt ist. Mit der wachsenden Macht der Vereinigten Staaten haben sich alle Staaten stillschweigend der M onroedoktrin unterw orfen. Ein sehr interessantes Symptom dieser A nerkennung ist A rtikel 21 der G enfer Völkerbund­ satzung. D ort ist ausdrücklich gesagt, daß die M onroedoktrin nicht in W iderspruch m it der V ölkerbundsatzung stehe. U ber diesen A rtikel 21 der V ölkerbundsatzung ist gleich noch w eiteres zu sagen. A ber wenn die Völkerbundsatzung selber die M onroedoktrin als eine „V erabredung“ bezeichnet oder, wie man den A rtikel 21 auch deuten kann, als eine „Entente“, so zeigt sich schon in solchen Ausdrücken, daß man mit der prim i­ tiven A lternative: Nicht Völkerrecht, sondern Politik an ein eigenartiges Phänom en wie die M onroedoktrin nicht heran treten darf. Die Monroe­ doktrin ist natürlich ein politisches Instrum ent. A ber jed er Rechtsbegriff des Völkerrechts ist ebenfalls ein solches politisches Instrum ent. Es ist ein ungeheurer Erfolg der V ereinigten Staaten, daß es ihnen gelungen ist, eine solche „D oktrin“ durchzusetzen und die gesamte übrige W elt, alle anderen Staaten und \ rölker zu zwingen, ein höchst unklares, vieldeutiges, oft widerspruchsvolles, jedenfalls aber n u r von den Vereinigten Staaten zu interpretierendes und authentisch zu deutendes Prinzip anzuerkennen, mit dem Ergebnis, daß man von den V ereinigten Staaten nichts verlangen kann, was der M onroedoktrin nicht entspricht, w ährend die Vereinigten Staaten jederzeit Respekt vor der M onroedoktrin verlangen können, wobei gleichzeitig anerkannt ist, daß n u r die Vereinigten Staaten genau bestim­ men dürfen, was im Zweifelsfalle der Inhalt der M onroedoktrin ist.

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Diese m erkw ürdige E lastizität und D ehnbarkeit, diese Offenhaltung aller Möglichkeiten, diese O ffenhaltung vor allen Dingen auch der A lter­ native Recht oder Politik, ist m einer Meinung nach typisch für jeden echten und großen Im perialism us. Es ist nicht denkbar, daß eine Großmacht und noch weniger, daß eine im perialistische W eltmacht sich juristisch auf einen Codex von festen Norm en und Begriffen festlegt, die ein außenstehender Frem der gegen sie selber handhaben dürfte. Das Wesentliche hat Hughes im Jahre 1925 so zusammengefaßt: Die Definition, Interpretation und An­ wendung der M onroedoktrin ist Sache der Vereinigten Staaten. Jeder, der mit ihnen in völkerrechtliche Beziehungen tritt, muß wissen, daß die Ver­ einigten Staaten daran festhalten; jeder, der mit den Vereinigten Staaten einen V ertrag schließt, weiß, daß der V ertrag unter diesem Vorbehalt steht. Heute allerdings haben es die V ereinigten Staaten eigentlich kaum noch nötig, sich auf die M onroedoktrin zu berufen. Sie sind aus einem Schuldner­ ein G läubigerstaat geworden. Die M onroedoktrin hat ihre Schuldigkeit getan, sie hat den am erikanischen K ontinent der Hegemonie der Vereinig­ ten Staaten unterw orfen. Jetzt ergibt sich nach zwei Richtungen hin eine Aufspaltung: einerseits müssen sich die Vereinigten Staaten in ih rer Hege­ monie innerhalb des am erikanischen Kontinents einrichten, und zwar naturgem äß nach neuen Prinzipien. H ier kommt man mit der alten Monroe­ doktrin nicht m ehr aus, m an braucht intensivere und enger juristische Formen; denn die w eite E lastizität der M onroedoktrin ist nu r so lange gut, als die Entscheidung noch nicht zugunsten der V ereinigten Staaten gefallen ist. Auf der anderen Seite haben die V ereinigten Staaten außerhalb Amerikas m it der gesam ten übrigen W elt Beziehungen, sie sind nahe daran, zum Schiedsrichter der W elt zu werden. Aus beidem — der Kon­ zentrierung innerhalb des am erikanischen Kontinents auf der einen, der W eltexpansion auf der anderen Seite — ergibt sich w ieder eine Reihe von charakteristischen völkerrechtlichen Vorgängen und Neubildungen. Die Konzentration und Befestigung der Hegemonie hat zu charakteristischen neuen M ethoden der H errschaft über die zentralam erikanischen Staaten geführt, zu neuen völkerrechtlichen Form en des Imperialismus. W aren für den Kolonialim perialism us der europäischen V ölker im 19. Jahrhundert Gebilde wie P ro tek to rate und Kolonien charakteristisch, so ist es die eigentliche Leistung der V ereinigten Staaten von Am erika, den In te r­ ventionsvertrag und verw andte Rechtstitel der Intervention erfunden zu haben. D ie Entwicklung ging aus von dem Prinzip der N ichtinter­ vention, von dem als heilig hingestellten Prinzip der Nichtintervention — das w ar die G rundlage der M onroedoktrin von 1823; sie endete bei einer Praxis, welche die Intervention nicht nu r rechtfertigt, sondern sogar eine spezielle und typische A rt von Interventionsverträgen schafft. In W ahrheit gehört zu jedem Im perialism us, weil Im perialism us immer auch Hege­ monie bedeutet, eine Intervention in Angelegenheiten anderer abhängiger Staaten. Die Form en und M ethoden der Intervention sind aber sehr ver­ schieden. Die Intervention F ran k reid is in die Angelegenheiten der Staaten

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der Kleinen Entente bedient sich anderer Form en und M ittel als die In te r­ vention Englands in die A ngelegenheiten Ä gyptens. A ber den eigentlichen Interventionsvertrag, das heißt eine juristisch form ulierte Abmachung, die es dem einen Staat erlaubt, u nter typischen V oraussetzungen m it typischen M itteln in die Angelegenheiten eines anderen Staates einzugreifen, haben erst die Vereinigten Staaten gefunden. Sie haben das System der Interventionsverträge insbesondere auf die Staaten Z entralam erikas ausgedehnt, auf Kuba, Haiti, San Domingo, Panam a, N ikaragua usw. A lle diese Staaten sind mit den Vereinigten Staaten durch eine charakteristische A rt von V er­ trägen verbunden und ihnen unterw orfen, sie bleiben ab er offiziell „sou­ veräne“ Staaten. Von den alten Form en der P ro te k to ra te und K olonien ist nicht viel übriggeblieben. Diese Staaten haben eine eigene R egierung, eigene völkerrechtliche V ertretung, eigene G esandte usw., doch stehen sie unter einer sehr effektiven „K ontrolle“ der V ereinigten Staaten. Ein sehr klares Beispiel eines solchen Interventionsvertrages ist der V ertrag, den Kuba als Entgelt dafür, daß es die U nabhängigkeit von Spanien aus der H and der Vereinigten Staaten entgegennehm en m ußte, einzugehen gezwungen w urde. Die V ereinigten Staaten haben 1898 Spanien den K rieg erklärt, um K uba zu befreien und K uba zu einem souveränen, unabhän­ gigen und freien Staate zu machen. D ie W elt w ar zunächst e rsta u n t über der Großm ut, mit dem ein großes Volk fü r die F reih eit eines anderen Volkes in den Krieg zog und dabei feierlich die souveräne F re ih e it der kub an i­ schen R epublik garantierte. D ie neue kubanische R epublik sah sich aber sofort, und zwar als amerikanische Soldaten auf der Insel w aren, genötigt, einen V ertrag mit den V ereinigten Staaten zu schließen, dessen In h alt sich aus dem sogenannten P latt Am endm ent ergab, wonach K uba der Regie­ rung der Vereinigten Staaten das Recht gab, zu interv en ieren — der Aus­ druck „intervenieren“ w ird dabei gebraucht —, u nd zw ar fü r die E rhaltung der U nabhängigkeit Kubas, fern er zu der Sicherung einer kubanischen Regierung, die imstande ist, Leben, Eigentum und persönliche F re ih e it zu schützen und die öffentliche Sicherheit und O rdnung in K uba aufrechtzu­ erhalten, endlich zur Sicherung gew isser finanzieller F orderungen. Es handelt sich vor allem darum , Leben, Eigentum und F re ih e it zu schützen. Das bedeutet: das in K uba angelegte am erikanische K ap ital steht u n ter dem Schutz der Vereinigten Staaten von A m erika, die V ereinigten Staaten entscheiden von sich aus darüber, ob eine kubanische R egierung im stande ist, ausreichenden Schutz zu gew ähren und öffentliche Sicherheit und O rdnung in K uba aufrechtzuerhalten. K uba gibt d er R egierung der Vereinigten Staaten ausdrücklich das Recht, u n ter diesen V oraussetzungen, über deren E in tritt die V ereinigten S taaten entscheiden, in die in n erstaat­ lichen Verhältnisse Kubas einzugreifen. In dem V ertrag ist vorgesehen, daß bestimmte Flottenstationen, Kohlen- und Ö lstationen auf K uba den Vereinigten Staaten überlassen w erden, dam it d eren In terv en tio n sogleich mit der nötigen m ilitärischen und m aritim en Nachdrücklichkeit erfolgen kann. Die Vereinigten Staaten haben öfters T ru p p en auf K uba gelandet.

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Nicht nu r 1900, 1901 und 1902, auch später sind regelmäßig w ieder am erika­ nische T ruppen auf K uba erschienen; eine Landung am erikanischer M arinesoldaten erzw ang den R ücktritt eines kubanischen Präsidenten und führte die Bildung einer kubanischen R egierung herbei, die bestimm ten amerikanischen Gesellschaften neue Konzessionen zu verleihen bereit w ar, oder um die finanzielle O rdnung w iederherzustellen. Bei der Landung im Jahre 1912 w urde ausdrücklich e rk lärt, es handle sich nicht um eine Intervention, w eil ja der V ertrag den V ereinigten Staaten das Recht zur Intervention gebe. Im Jah re 1919 ergab sich der interessante F all einer Landung zur Sicherung unabhängiger W ahlen. D ieser Interventionsvertrag m it K uba ist — darin liegt das neue, juristisch besonders Interessanteste — in einer doppelten Weise fundiert. Der V ertrag ist nämlich einm al ein völkerrechtlicher V ertrag zwischen der neuen, souveränen R epublik K uba und den V ereinigten Staaten; außer­ dem aber haben die V ereinigten Staaten die kubanische N ationalversam m ­ lung und die Pœgierung 1901 gezwungen, den Inhalt des Interventions­ vertrages in die kubanische Verfassung aufzunehm en, und zwar mit der vollen K raft eines Verfassungsgesetzes, so daß der Inhalt des In te r­ ventionsvertrages sowohl völkerrechtlich als auch innerstaatlich-verfas­ sungsrechtlich als Teil der kubanischen Verfassung gesichert ist. Die ku b a­ nische verfassunggebende Nationalversam m lung, die sich dagegen zu wehren suchte, h at dem Druck am erikanischer Kriegsschiffe und T ruppen nachgeben müssen. Die Vollendung dieses Systems liegt dann in der w eiteren Bestimmung, daß der souveräne Staat K uba sich verpflichtet, keinen V ertrag zu schließen, der seine U nabhängigkeit gefährden könnte, daß die V ereinigten Staaten das Monopol des Schutzes dieser U nabhängig­ keit haben und — ohne verpflichtet zu sein, die völkerrechtliche V ertretung Kubas nach außen zu übernehm en — doch den gesamten außenpolitischen V erkehr und alle völkerrechtlichen V ereinbarungen der K ubaner kon­ trollieren dürfen, w eil sie ja darauf zu achten haben, daß die K ubaner gegenüber einem d ritten Staat, sei er am erikanisch oder nichtamerikanisch, sich nicht in einer W eise binden, in welcher die V ereinigten Staaten eine G efährdung der kubanischen U nabhängigkeit erblicken. W ir erin n ern uns der E rörterungen aus dem Sommer 1931 über den Begriff der „U nabhängigkeit“ anläßlich der Pläne einer Zollunion zwischen Österreich und Deutschland. Dam als erhob sich die Frage, ob durch eine solche Zollunion zwischen Ö sterreich und Deutschland die U nabhängigkeit Österreichs gefährdet w ürde. Im F alle K uba w äre eine analoge Frage nicht einmal ein juristisches Problem , sondern auch juristisch ohne w eiteres im imperialistischen Sinne entschieden. So schnell kann in politischen Bezie­ hungen ein dialektischer Umschlag eintreten, und derjenige, der die F reiheit und U nabhängigkeit eines andren Staates schützt, ist natürlicherund logischerweise selbst derjenige, dessen Schutz die F reiheit und U nabhängigkeit des Beschützten aufhebt. Es w ird aber aus vielen guten Gründen, von denen w ir noch einige kennenlernen w erden, daran fest-

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gehalten, daß die Vereinigten Staaten nicht etw a ein „P ro tek to rat“ über K uba in dem veralteten Sinne des 19. Jah rhunderts haben, das w äre ja eine völkerrechtliche Form, die sich für die Beziehungen zwischen zivilisierten und halbzivilisierten Völkern ergeben hat. Beide Staaten sollen viel­ m ehr hinsichtlich der Zivilisation auf der gleichen Stufe stehen. A ber der eine ist nun einmal leider nicht imm er imstande, die öffentliche Sicherheit und O rdnung bei sich aufrechtzuerhalten und das Privateigentum zu schützen, unparteiische W ahlen durchzuführen, sich den richtigen Präsi­ denten zu w ählen usw., und so k o n tio llie rt und k o rrig ie rt ihn der andere in der besten Absicht, ohne daß das offiziell eine Form der U nterw erfung bedeutet. Auf der Basis form eller völkerrechtlicher Gleichberechtigung entstehen hier m erkw ürdige, für unser kontinentaleuropäisches Denken vielleicht allzu elastische Form en der H errschaft, der K ontrolle, der Inter­ vention, die der politischen W irklichkeit angehören und auch völkerrecht­ lich ihre spezifischen Besonderheiten haben. Es gibt ein ganzes System solcher Interventionsverträge der Ver­ einigten Staaten mit anderen lateinam erikanischen Staaten. Insbesondere ist der militärische Schutz des Panam akanals und dam it die politische H e rr­ schaft über diesen K anal Sache der V ereinigten Staaten. D ie R epublik Panam a, die zu diesem Zwecke eigens gegründet w urde und den typischen Interventionsvertrag abschließen mußte, hat den V ereinigten Staaten das zur m ilitärischen und m aritim en Beherrschung notw endige Land ab­ getreten und ist w eitere V erträge eingegangen, die ebenfalls zu perio­ dischen T ruppenlandungen in Panam a führen, u nter denen aber ein Ver­ trag besonders auffällig ist, weil er im Zusamm enhang m it dem Kelloggp ak t Interesse verdient, nämlich der V ertrag vom 28. Juli 1926. Durch ihn hat Panam a sich verpflichtet, für den Fall, daß die V ereinigten Staaten in einen Krieg eintreten, gleichgültig auf welchem Teil der E rde der Krieg sich abspielt, sich selbst, Panama, auf seiten der V ereinigten Staaten als kriegführende P artei zu betrachten. Also unabhängig davon, ob es zu einem Angriff auf Panam a gekommen ist, unabhängig davon, ob der K anal selber angegriffen w ird, ist die R epublik Panam a verpflichtet, sich als krieg­ führende P artei zu betrachten, sobald die V ereinigten Staaten in irgend­ einem Teil der Erde Krieg führen. Diese Methode der Interventionsverträge fü h rt zu einer im Effekt be­ sonders intensiven Form der U nterw erfung eines anderen Staates, aber die juristische Form ist so „rechtlich“ und auf „K oordination“ beruhend, so un­ auffällig und elastisch, daß die abhängigen Staateçi in dem Spielraum , der ihnen bleibt, überall ihren außenpolitischen V erkehr haben können, außen­ politische Beziehungen unterhalten wie je d e r andere souveräne Staat, und daß sie vor allen Dingen M itglieder des G enfer V ölkerbundes sind, obwohl nach der Völkerbundsatzung nu r freie und sich selbst regierende Staaten M itglieder des Völkerbundes sein dürfen. Alle diese Staaten, die unter Interventionsverträgen stehen und sich im m er w ieder Truppenlandungen gefallen lassen müssen, selbst ein Staat wie Panam a, der jen en V ertrag

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von 1926 m it den V ereinigten Staaten geschlossen hat, gelten als freie, souveräne Staaten, sind vollberechtigte M itglieder des Völkerbundes. Panam a ist gegenw ärtig (F ebruar 1932) sogar M itglied des V ölkerbundrates. D ie am erikanische M ethode der Interventionsverträge ist nun bisher im w esentlichen auf A m erika beschränkt geblieben. D ie Vereinigten Staaten haben kein Interesse daran, vorläufig wenigstens nicht, eine solche P raxis auf an d ere K ontinente auszudehnen. Sie haben außerdem noch ein zweites, sehr w irksam es M ittel, ih re Hegem onie auf dem am erikanischen K ontinent zu r D urchführung zu bringen: ih re P raxis der A nerkennung neuer R egierungen. In den lateinam erikanischen Staaten, in denen es häufig zu Revolutionen, Staatsstreichen und Putschen kommt, hängt für die je ­ weilige R egierung finanziell und politisch alles davon ab, von den Ver­ einigten Staaten a n e rk a n n t zu w erden. H ier haben die V ereinigten Staaten ein sehr einfaches P rinzip: sie erkennen revolutionäre Regierungen nicht an und lassen n u r legale R egierungen gelten. W ir wissen in Deutschland leider aus E rfah ru n g , daß es u n ter U m ständen sehr schwierig ist, Legalität und Illeg alität genau zu unterscheiden, nam entlich w enn es w irklich zum bew affneten B ü rgerkrieg kom m en sollte. Solche F ragen w erden für die am erikanischen Staaten in w eitem Maße durch die Vereinigten Staaten entschieden. D iese sind infolgedessen heute imstande, über das Schicksal der R egierung fast jedes am erikanischen Staates zu befinden. Außerdem haben viele am erikanische S taaten u n ter sich V erträge geschlossen, in denen sie sich verpflichten, keine anderen als „legale“ Regierungen anzuerkennen. Das alles h a t bei den fortw ährenden Revolutionen und Putschen vor allem die praktische Bedeutung, daß die V ereinigten Staaten bestimmen, welche R egierung legal ist oder nicht. D aneben bleiben natürlich auch allgem eine völkerrechtliche Prinzipien, deren sich die V ereinigten S taaten bedienen, von großer Bedeutung. Zwar nicht offiziell von den V ereinigten Staaten, wohl aber von V ölkerrechts­ theo retik ern und -p ra k tik e rn der V ereinigten Staaten ist z. B. der Satz aufgestellt w orden, das P rivateigentum sei auch in dem Sinne „heilig“, daß ein Staat, selbst w enn er eigene Staatsangehörige enteignet, A usländer doch nicht, w enigstens nicht ohne volle Entschädigung, enteignen dürfe. Es ist begreiflich, daß eine solche T heorie in einem Staate, der G läubiger der ganzen W elt ist und dessen K apitalisten Riesensum men in anderen Staaten in vestiert haben, ih re A nw älte findet. Seit etw a zwei Jahren w ird sie allerdings auch in D eutschland von m ehreren A utoren vertreten. Ich halte sie nicht fü r richtig* kan n ab er verstehen, daß man sie vom am eri­ kanischen S tandpunkt aus v e rtritt. Es ist eine typisch amerikanische Theorie, eine Theorie, die zu einem Staat gehört, dessen imperialistische Expansion in d er E xpansion seiner kapitalistischen Anlage- und Aus­ beutungsm öglichkeiten besteht. In der P ra x is der Interventionsverträge und der A nerkennung neuer R egierungen hebt sich schon die B esonderheit erkennbar ab, m it der die V ereinigten Staaten sich als hegemonische Macht auf dem amerikanischen

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K ontinent einriditen. A uf der andern Seite, gegenüber d er außeram eri­ kanischen W elt, ergibt sich eine Reihe von anderen M ethoden zur Sicherung des Einflusses. Denn faktisch sind die V ereinigten S taaten in w eitem Maße der Schiedsrichter der Erde. Sie allein haben dui*ch ih r E ingreifen 1917 den W eltkrieg zuungunsten Deutschlands entschieden; sie haben den bis dahin im wesentlichen europäischen K rieg dadurch ü b e rh a u p t erst zu einem W elt­ krieg gemacht; sie haben sich dann gleich nach dem K rieg auf eine m erk­ w ürdige Weise w ieder zurückgezogen. Man darf das nicht so auffassen, als ob die Vereinigten Staaten sich aus irgendeinem im perialistischen Ü ber­ mut auf die ganze W elt stürzten; es ist vielm ehr interessant, zu sehen, wie oft sie halb gegen ihren W illen gedrängt w erden, sich auch dort zu beteiligen, wo sie sich nicht einmischen möchten. So sind sie in den W elt­ krieg eingetreten; so sind sie es gewesen, die eigentlich die europäischen Mächte, insbesondere Frankreich, gezw ungen haben, den G enfer V ölker­ bund zu gründen; und so sind gerade sie dann w ieder diesem selben V ölker­ bund nicht beigetreten, haben jedoch den von ihnen abhängigen und kontrollierten, an sie gebundenen am erikanischen Staaten, w ie Kuba, Panam a usw., erlaubt, M itglieder des G enfer V ölkerbundes zu w erden. Achtzehn amerikanische Staaten, ein D ritte l der M itglieder des V ölker­ bundes, entscheiden jetz t mit bei allen europäischen und asiatischen An­ gelegenheiten, aber die am erikanische M onroedoktrin, deren V orrang, wie gesagt, in A rtikel 21 der V ölkerbundsatzung ausdrücklich a n e rk a n n t ist, geht der Völkerbundsatzung vor und v e rh in d e rt es, daß der G enfer V ölker­ bund sich in am erikanische A ngelegenheiten einmischt. P anam a und G uate­ m ala sind M itglieder des V ölkerbundes. W enn zwischen Panam a und G uatem ala eine Differenz entstände, so h ätte der G enfer V ölkerbund nicht das Recht, sich einzumischen, obwohl beide S taaten M itglieder des V ölker­ bundes sind. O der w enn am erikanische T ru p p en dort m it großem m ili­ tärischen und m aritim en Aufgebot landen, und w enn sie in N ikaragua, Panam a oder H aiti aktiv tätig w erden, so sind das D inge, die G enf nichts angehen, w ährend um gekehrt diese am erikanischen Staaten, sämtlich voll­ berechtigte M itglieder des V ölkerbundes, an allen Entscheidungen in Genf, die sich auf europäische A ngelegenheiten beziehen, beteiligt sind. Es ist so, daß von den V ereinigten Staaten k o n tro llierte am erikanische Staaten über europäische Angelegenheiten m it entscheiden, ab er um gekehrt jede Einmischung des G enfer V ölkerbundes auf G ru n d der M onroedoktrin fü r unzulässig e rk lä rt w erden kann. D er V ölkerbund ist also, w enn ich so sagen darf, auf dem am eri­ kanischen Bein gelähm t, wohl aber haben die A m erikaner volle M itw irkung bei der Entscheidung in europäischen A ngelegenheiten, etw a in M inder­ heitsfragen, Memelkonflikt, österreichisch-deutsche Zollunion usw. D as ist ein sehr interessantes System. Es liegt in der T at System darin, nicht im machiavellistischen Sinne bew ußte P lanm äßigkeit; sondern das C h a ra k te ­ ristische für diese eigenartige M ethode der am erikanischen P o litik b e ru h t einfach darauf, daß die V ereinigten Staaten, w enn es sich um E uropa

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handelt, offiziell abwesend, effektiv aber anwesend sein können. Sie sind anwesend, denn w eder Kuba noch Panam a können nennensw erte politische Schritte tun ohne die ausdrückliche oder stillschweigende Bewilligung der Vereinigten Staaten; trotzdem sind diese offiziell abwesend. Aber auch über die G enfer Völkerbundsangelegenheiten hinaus funktioniert diese eigenartige und höchst elastische Verbindung von offizieller Abwesenheit und effektiver Anwesenheit. Es genügt, den D aw esplan von 1924 zu nennen: ein A m erikaner, ein „citizen of the U nited States“, macht die Sache, ent­ scheidet im wesentlichen, aber es ist offiziell nicht die Regierung, sondern eben nu r ein citizen of the U nited States, der entscheidet. Wilson hat, wie erw ähnt, die französische R egierung gezwungen, sich an der Gründung des Völkerbundes zu beteiligen; als der Völkerbund gegründet war, haben die Vereinigten Staaten sich zurückgezogen. Wilson hat den Art. 21 der Völkerbundsatzung erzw ungen, gegen den der französische Jurist Larnaude sehr verständige juristische Einwendungen gemacht hat. Als Wilson ver­ langte, daß die A nerkennung der M onroedoktrin in den T ext der Völker­ bundsatzung hineingeschrieben werde, daß die M onroedoktrin einer solchen Völkerbundsatzung vorgehe, stellte L arnaude eine Reihe von Gegenfragen, namentlich über den Inhalt der M onroedoktrin, der ja, wie oben ausgeführt, nicht leicht zu bestimm en ist, sondern alles Wesentliche der Entscheidung und Interpretation der V ereinigten Staaten überläßt. Danach hat Wilson nach einigen allgem einen Redewendungen einfach apodiktisch verlangt, daß die A nerkennung der M onroedoktrin in der Form, wie er es vorschlage, in die V ölkerbundsatzung auf genommen werde, weil sonst die Vereinigten Staaten ihre w eitere M itw irkung verw eigern müßten. So ist die U nter­ werfung denn auf genommen w orden und steht in A rt. 21 der Satzung als deren vollgültiger Bestandteil, aber die Vereinigten Staaten sind dem V ölkerbund nicht beigetreten und nicht Mitglied geworden. D er Genfer Völkerbund hat sich also der M onroedoktrin unterw orfen und sogar im Text seiner Satzung die Ü berlegenheit der anierikanischen Prinzipien und der am erikanischen Politik m anifestiert. D er V olkerbundrat verm eidet jede k lare Stellungnahm e und Interpretation dieses A rtikels 21. Es ist in der Tat im D ezem ber 1928, anläßlich eines Streites zwischen Bolivien und Paraguay, als der V ölkerbundrat versam m elt w ar, vorgekommen, daß der Völkerbundrat drei Telegram m e an die Regierungen dieser Staaten ge­ schickt hat, in denen er die streitenden P arteien erm ahnte, ihre Diffe­ renzen auf friedliche W eise beizulegen. Als eine Woche später der damalige ‘R atsvorsitzende B riand gefragt w urde, wie sich die Angelegenheit w eiterentwickelt habe, stellte sich heraus, daß die beiden amerikanischen V ölker­ bundsm itglieder sich in W ashington geeinigt hatten. W eder von W ashington aus, noch durch die bolivianische Regierung, noch durch die Regierung von Paraguay ist der G enfer V ölkerbundrat über den w eiteren Gang der Dinge inform iert w orden, obwohl das wenigstens aus Höflichkeit hätte geschehen können.

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Auf dem am erikanischen K ontinent ist der G enfer V ölkerbund n u r zu solchen E inw irkungen imstande, welche die V ereinigten S taaten tolerieren. Es kommt sehr häufig zur m ilitärischen Besetzung am erikanischer Staaten durch die T ruppen der V ereinigten Staaten. H eute noch stehen sie in H aiti, 1921 standen sie in Paraguay, 1924 in Panam a, 1926 in N ikaragua zur W iederherstellung der O rdnung usw. Alle diese S taaten sind M itglieder des G enfer Völkerbundes. A ber der G enfer V ölkerbund sieht solche Vor­ gänge nicht und ignoriert sie. Man w ürde es in G enf w ohl als eine T ak t­ losigkeit empfinden, die Rede überh au p t auf diese F rag e zu bringen. Die V ereinigten Staaten sind bisher auch die einzige Macht, die in der Frage der A brüstung einen ratifizierten V ertrag herb eig efü h rt haben. Aus den vielen Abrüstungsvorschlägen, die gemacht w orden sind, ist das W ashingtoner Abkommen von 1921 als der bisher einzige p erfek t ge­ wordene A brüstungsvertrag hervor gegangen. E r ist nicht in Genf, sondern in W ashington zustande gekommen. D er K elloggpakt drückt sozusagen das Siegel auf diese Entwicklung. E r w urde am 27. August 1928 in P aris unterzeichnet und trä g t den Namen des am erikanischen Staatssekretärs Kellogg. Auch die feierliche „Ächtung des K rieges“ ist also von W ashington und nicht von G enf ausgegangen. Dieses wichtige Ereignis bedarf noch einer k urzen E rö rteru n g , denn hier handelt es sich ja um die große F rage: w er stellt den F ried en auf der Erde her? W ir alle wünschen den Frieden, aber die F rag e ist leider die: w er entscheidet darüber, was F ried en ist, w er d arü b er, w as O rdnung und Sicherheit ist, w er darüber, was ein erträglicher und w as ein unerträglicher Zustand? Und diese Entscheidung üb er den F ried en auf E rden hat die R egierung der V ereinigten Staaten der G enfer société des nations durch den K elloggpakt aus der H and genommen. D er K elloggpakt von 1928 ent­ hält, wie bekannt, eine „Ächtung des K rieges“; ihm haben sich fast alle Staaten der E rde angeschlossen, auch S ow jetrußland, die T ü rk e i und andere Staaten, die nicht M itglieder des V ölkerbundes sind. D er K rieg ist, wenig­ stens „form al“, nicht durch den G enfer V ölkerbund, sondern durch den K elloggpakt geächtet. Sehen w ir etw as näher zu, was das bedeutet. Es heißt in dem sehr kurzen Pakt, der K rieg w erde „verdam m t“ (to condemn). A ber er w ird nicht schlechthin „v eru rteilt“ und keinesw egs „abgeschafft“. Im K elloggpakt steht nicht: „nie w ieder K rieg“. Sondern n u r als „Instrum ent der nationalen P olitik w ird der Krieg veru rteilt. N un m üßten w ir natürlich die F rage stellen: w ann sind K riege ein Instrum ent d er nationalen P o litik und was sind die andern Kriege? Es gibt Kriege, die als ein Instrum ent nationaler P olitik „geächtet w erden und nie w ieder Vorkommen dürfen, und es gibt andere Kriege, von denen nichts gesagt ist, die also, juristisch gesprochen, e contrario erlau b t sind. B riand h at in seinem Notenwechsel m it Kellogg folgende klassischen E rläuterungen gegeben: ein K rieg ist dann ein In stru ­ m ent nationaler Politik, wenn er aus W illkür, E igennutz und U ngerechtig­ keit geführt w ird. D abei w ird ausdrücklich betont, daß K riege, die ein

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Instrum ent in tern atio n aler P olitik sind, eo ipso gerecht sind. Sie sehen hier ganz typische Form en verschiedener Im perialism en. D er Im perialism us führt keine nationalen K riege, diese w erden vielm ehr geächtet; er führt höchstens K riege, die einer internationalen Politik dienen; er fü h rt keine ungerechten, n u r gerechte K riege; ja, w ir w erden noch sehen, daß er über­ haupt nicht K rieg fü h rt, selbst w enn er m it bewaffneten Truppenm assen, Tanks und P an zerk reu zern das tut, was bei einem andern selbstverständ­ lich K rieg w äre. Vom S tandpunkt des Deutschen könnte man jetzt die w eitere F rage erheben, welche A rt von K riegen in W irklichkeit die ge­ rechtere ist, die im perialistisch-internationalen oder die nationalen, aber es w äre nach dem k lare n W ortlaut des K elloggpaktes schon ein Irrtum , zu glauben, der K elloggpakt enthalte in seinem W ortlaut, wenigstens pro forma, eine Ächtung a lle r denkbaren Kriege. Nach den E rfahrungen der Nachkriegszeit m üssen w ir vielm ehr eine andere Frage stellen: wenn w irk­ lich der K rieg, sei es auch n u r der als „Instrum ent einer nationalen Politik dienende K rieg“, geächtet und verdam m t w ird, was ist dann überhaupt ein Krieg? Ich brauche nicht an die Vorgänge in C hina zu erinnern, um Ihnen zu zeigen, daß eine solche Frage leider sehr nahe liegt. W ir haben es erlebt, daß Ja h r fü r Ja h r große T ruppenlandungen stattfinden. W ir haben große m ilitärische Zusamm enstöße erlebt, Beschießungen von Küsten, Lan­ dungen italienischer Schiffe in Korfu, Landungen am erikanischer M arine­ truppen in Panam a, N ikaragua usw., Invasion der Franzosen und Belgier in das deutsche R uhrgebiet usw. Das alles galt nicht als Krieg und w ar daher auch nicht „geächtet“. W as also ist eigentlich Krieg? W ir erhalten eine kennzeichnende A ntw ort durch den Aufsatz eines bekannten Pazi­ fisten und Professors in Genf, H ans W ehberg, in der Zeitschrift „Die F rieden sw arte“ (Janu ar 1932). D ort heißt es: „Nach geltendem Recht kann man im F alle des chinesisch-japanischen Konflikts nu r von einer m ili­ tärischen Besetzung, nicht von einem Kriege sprechen. An diesem Ergebnis kann auch die Tatsache nichts ändern, daß die sogenannte ,friedliche Be­ setzung* (occupatio pacifica), mag sie nun als bewaffnete Intervention zum Schutz von Leben und Eigentum japanischer Staatsbürger oder als R epres­ salie gegenüber chinesischen V ölkerrechtsverletzungen begründet werden, von Bom bardem ents, ja sogar von Schlachten größeren oder kleineren Um­ fanges begleitet w a r.“ Es liegt also n u r eine friedliche Besetzung vor, kein Krieg. Wie ist eine Jurisprudenz möglich, die angesichts blutiger Kämpfe, angesichts der Zehntausende von Toten immer noch von „friedlicher Be­ setzung“ zu sprechen w agt und dadurch das W ort und den Begriff des „Friedens“ dem grausam sten H ohn und Spott ausliefert? D er G edanken­ gang ist folgender: entw eder ist etw as K rieg oder ist es Frieden. Was ist Krieg? W as nicht ein friedliches M ittel ist. W as ist ein friedliches Mittel? Was nicht K rieg ist. Ein Zwischending gibt es nicht. Nun ist aber eine fried­ liche Besetzung, w enn sie auch von Schlachten kleineren und größeren Um­ fanges begleitet ist, nicht K rieg, ergo ist sie ein friedliches M ittel, ergo hat die A ngelegenheit auch m it dem K elloggpakt nichts zu tun. D er G enfer 12

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Völkerbund siebt anscheinend seine Leistung darin, die internationalen Beziehungen zu juridifizieren, d. h. diese A rt von B egriffsbildung zu be­ wirken. F ür ihn ist die Sache juristisch in bester O rdnung, und sie w ird es immer bleibçn. Es sind also grausam e R epressalien möglich, menschen­ mörderische Beschießungen, sogar blutige Käm pfe und Schlachten: das alles ist nicht Krieg im juristischen Sinne, und der Friede, auf den die gequälte Menschheit mit Sehnsucht w artete, ist ih r längst beschieden; sie h a t es nur, mangels juristischen Scharfsinns, nicht bem erkt. D ie O b je k te solcher fried­ lichen M aßnahmen mögen sich also m erken: erstens ist der K rieg n u r als Mittel nationaler Politik geächtet, und zweitens stellt sich heraus, daß die verbreitete Vorstellung, daß „Schlachten größeren oder k lein eren Um­ fangs“ etwas mit Krieg zu tu n haben, falsch ist. Es ist außerdem noch ein w eiteres zu beachten: D er K elloggpakt ent­ hält zahlreiche Vorbehalte, die in verschiedenen B egleitnoten von den unterzeichnenden Mächten auf gestellt sind, z. B. den V orbehalt der Selbst­ verteidigung gegen einen Angriff, wobei je d e r Staat selber entscheidet, ob er angegriffen ist; eine Resolution der japanischen V ölkerbundliga vom 16. November 1931 hat z. B., wie H. W ehberg m itteilt, das gegenw ärtige Vorgehen Japans gegen C hina als „M aßnahm e der Selbstverteidigung“ bezeichnet. England hat als einziger Staat interessanterw eise auch den Vor­ behalt der „nationalen E h re“ gemacht. D ie andern haben nicht den Mut gefunden, diesen Vorbehalt offen, zu machen; die m eisten begnügen sich damit, den Fall der Selbstverteidigung oder die V erletzung der bestehen­ den V erträge vorzubehalten und von der Ächtung des K rieges auszu­ nehmen. Was den V orbehalt der M onroedoktrin angeht, so dürfte er über praktisch w irksam e Zweifel erhaben sein. W ie die M onroedoktrin in der H and der V ereinigten S taaten liegt, so können sie auch gegenüber dem K elloggpakt den S tandpunkt einnehm en, der sich für eine W eltmacht von selbst versteht: daß sie selber es sind, die definieren, in terp retieren und anw enden. Sie entscheiden, w ann etw as Krieg ist oder ein friedliches M ittel intern atio n aler P olitik, ein friedliches M ittel zur A ufrechterhaltung der O rdnung und Sicherheit in einem Staat, der selber dazu nicht im stande ist, zum Schutze des Lebens und des P riv a t­ eigentums, überhaupt zur Pazifizierung der Erde. Sollte das w irklich eintreten, so könnte der K elloggpakt fü r die E rde eine ähnliche F unktion haben, wie sie die M onroedoktrin für den am erikanischen K ontinent gehabt hat. Alle Versuche, den K elloggpakt der V ölkerbundsatzung einzu­ verleiben, sind nicht gelungen und können nicht gelingen. In dem Kom­ m entar zur Völkerbundsatzung von Schücking-W ehberg (3. A uflage 1931, S. lbO) ist zu lesen: die E inarbeitung des K elloggpaktes in die V ölkerbund­ satzung ist schwierig, denn der K elloggpakt ken n t „keine Sanktion, keine O rganisation und keine D efinition“. D arum gerade h andelt es sich nämlich, und immer w ieder zeigt sich die große Ü berlegenheit, die erstaunliche poli­ tische Leistung der V ereinigten Staaten darin, daß sie sich allgem einer, offen bleibender Begriffe bedienen. Ich möchte davor w arnen, zu m einen.

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es handele sich hier um eine inferiore A rt von Schlauheit und Machiavellis­ mus. Eine derartige Elastizität, eine derartige Fähigkeit, m it weiten Be­ griffen zu operieren und die V ölker der Erde zu zwingen, sie zu respek­ tieren, ist ein Phänom en von weltgeschichtlicher Bedeutung. Bei jenen entscheidenden politischen Begriffen kom mt es eben darauf an, w er sie interpretiert, definiert und an w endet; w er durch die konkrete Entschei­ dung sagt, was Frieden, was A brüstung, was Intervention, was öffentliche O rdnung und Sicherheit ist. Es ist eine der wichtigsten Erscheinungen im rechtlichen und geistigen Leben der Menschheit überhaupt, daß derjenige, der w ahre Macht hat, auch von sich aus Begriffe und W orte zu bestimmen vermag. C aesar dominus et supra gram m aticam : der K aiser ist H err auch über die G ram m atik. D er Im perialism us schafft sich seine eigenen Begriffe, und ein falscher N orm ativism us und Form alism us fü h rt nur dahin, daß am Ende niem and weiß, was K rieg und was f rieden ist. Nochmals möchte ich vor dem M ißverständnis w arnen, als handele es sich hier um Dinge, die man beliebig machen könne. Es ist ein Ausdruck echter, politischer Macht, wenn ein großes Volk die Redeweise und sogar die Denkw eise anderer Völker, das V okabularium , die Term inologie und die Begriffe von sich aus be­ stimmt. W ir sind als Deutsche freilich in einer traurigen politischen O hn­ macht, nicht n u r in der W elt, auch innerhalb Europas, und als Deutscher kann ich bei diesen A usführungen über den am erikanischen Imperialismus nur das G efühl haben, wie ein B ettler in Lum pen über die Reichtümer und Schätze von Frem den zu sprechen. W ir müssen aber, w enn w ir zum Schluß an unser eigenes, deutsches Schicksal denken dürfen, eine Folgerung aus der W esenserkenntnis im peria­ listischer M ethoden beachten. Bei einem geschichtlich bedeutungsvollen Im perialism us ist nicht n u r die m ilitärische und m aritim e Rüstung wesent­ lich, nicht n u r der ökonomische und finanzielle Reichtum, sondern auch diese Fähigkeit, von sich aus den Inhalt politischer und rechtlicher Begriffe zu bestimmen. Diese Seite des Im perialism us — ich spreche hier nicht speziell vom am erikanischen — ist für ein in der Defensive stehendes Volk wie das deutsche sehr gefährlich, vielleicht noch gefährlicher als m ili­ tärische U nterdrückung und ökonomische Ausbeutung. Ein Volk ist erst dann besiegt, w enn es sich dem frem den V okabularium , der frem den Vor­ stellung von dem, was Recht, insbesondere Völkerrecht ist, unterw irft. Dann kom mt zu der A blieferung der Waffen noch die A blieferung des eigenen Rechts hinzu. In der heutigen Lage Deutschlands hängt alles davon ab, den Schleier der W orte und Begriffe, der Juridifizierungen und Moralisierungen zu durchschauen, nicht in hämischer K ritik, aber auch nicht in dienstfertiger U nterw erfung unter frem de Begriffe und Forderungen „moralischer A brüstung“, die nichts w eiter sind als Instrum ente frem der Macht. Diese A rt von Bewußtsein, dieses G efühl dafür, daß auch Begriffe und D enkw eisen A ngelegenheiten einer politischen Entscheidung sein können, ist notw endig und muß imm er wach bleiben. D enn w ir u n ter­ werfen uns keinem Im perialism us, w eder dem amerikanischen, der uns 12*

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nicht unm ittelbar benachbart und gefährlich ist, noch einem viel gefähr­ licheren und näheren Im perialism us, und w ir w ollen uns w eder rechtlich, noch moralisch und geistig unterw erfen.

2o. Schlußrede vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig (1932) G e h a lte n am 17. O k to b e r 1932 v o r d e m S ta a ts g e ric h ts h o f in L e ip zig a ls V e rtre te r d e r R e ic h sre g ie ru n g in d e m P ro z eß , den d ie am 20. J u li 1932 a m ts e n th o b e n e g e s c h ä fts fü h re n d e p reu ß isch e R e g ie ru n g B ra u n -S e v e rin g - H ir ts ie f e r u n d ih r sich an sch lie­ ß e n d d ie L a n d e s fra k tio n des Z e n tru m s u n d d e r S o z ia ld e m o k ra tie so w ie d ie L ä n d e r B a y e rn u n d B a d e n g e g e n d ie R e ic h sre g ie ru n g g e fü h rt haben. Die „F o r m a 1 i e n “, von denen h ier die Rede ist, sind in einem Pro­ zeß vor dem Staatsgerichtshof keine bloßen Form alitäten, sondern sehr reale politische Dinge. Die Fragen: W er ist das Land Preußen? W er vertritt das Land Preußen? Wo ist heute Preußen? sind reale und hochpolitische Fragen. D ieser Prozeß ist infolgedessen gerade in den Fragen der P artei­ fähigkeit, der Prozeßführungsbefugnis, der A ktivlegitim ation eigentlich an seinem K ernpunkt angekommen. D arum w ar es nicht böser W ille oder etw as Ähnliches, sondern sozusagen die N atur der Sadie, daß sich gerade bei der F rage der sogenannten Form alien plötzlich w ieder eine größere Intensität der Gegensätze herausstellte. Nach Art. 19 der Reichsverfassung gibt es unter den drei dort genannten zulässigen A rten von Staatsgerichtshofprozessen n u r eine, bei der das Reich erscheint; das ist der Prozeß eines Landes m it dem Reich. Ein Land klagt gegen das Reich oder das Reich klagt gegen ein Land — zwei „Staaten“, wie H err Kollege N aw iasky ganz richtig gesagt hat. D araus folgt aber nicht, daß, wie er w eiter gesagt hat, der Staatsgerichtshof ein „internationaler Gerichtshof“ sei. E r sprach sogar vom sogenannten W elt­ gerichtshof, eine etwas übertriebene Bezeichnung für die bekannte In sti­ tution im Haag. D ieser perm anente internationale Gerichtshof legt im m er­ hin besonderes Gewicht auf das, was in seinem S tatut anerkannt und in einer Reihe von Entscheidungen ausgesprochen ist, daß nämlich vor ihm n u r Staaten als solche erscheinen. H ier jedoch erscheinen sogar Landtags­ fraktionen, Arm in Arm mit dem Lande B ayern und dem Lande Baden (von Jan: Schrecklich!) D arin liegt schon eine große V erw irrung und Unstimmigkeit. Die wichtigste Frage des Prozesses betrifft natürlich das Land Preußen. Das Land Preußen ist nicht verschwunden; es besteht noch; es ist da; es hat auch eine Regierung, eine kommissarische, vom Reichspräsidenten auf

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G rund seiner verfassungsm äßigen Befugnis eingesetzte Landesregierung, die die V ertretungsbefugnis für das Land Preußen hat. Ist sie eine ver­ fassungsmäßig eingesetzte Landesregierung, so ist damit die Frage der V e r t r e t u n g s b e f u g n i s für das Land Preußen beantw ortet. Es ist präzis juristisch, k o rre k t und einw andfrei, was H err Kollege Jacobi zum Ausdruck gebracht hat: n u r auf G rund einer aus prozeßtechnischen Gründen denkbaren und zulässigen F i k t i ο n erscheinen hier trotzdem noch die am tsenthobenen M inister, auf G rund einer Fiktion ihrer Ver­ tretungsbefugnis ad hoc und fü r diesen Fall. Wogegen sich Kollege Bilfinger w andte — m einer M einung nach m it Recht, und ich teile auch den Affekt, der ihn dabei tru g — ist, daß in den Schriftsätzen und A usführungen fortw ährend versucht w ird, aus jen e r Fiktion Schlüsse zur Hauptsache zu ziehen und zu sagen: W enn ih r gelten laßt, daß w ir überhaupt hier einen Prozeß führen, dann erkennt ih r an, daß w ir die V ertretungsbefugnis für das Land Preußen haben, daß w ir auch noch dem Reichsrat angehören und überhaupt alle möglichen w eiteren Befugnisse haben. N ur dagegen wandte sich H e rr Kollege Bilfinger. Die F rage ist demgegenüber nur: ist diese kommissarische L andesregierung verfassungsm äßig auf G rund von Art. 48 der Reichsverfassung vom Reichspräsidenten eingesetzt w orden oder nicht? Ist sie es, so ist dam it jede V ertretungsbefugnis, die mit dem früheren Amt der am tsenthobenen M inister verbunden w ar, erledigt. W ir wollen hier nicht in eine E rörteru n g und V ertiefung der Frage eintreten, was nun die frü heren geschäftsführenden M inister, nachdem ihnen ihre Geschäfts­ befugnis genommen ist, dann eigentlich noch sind, oder in die noch schwie­ rigere Frage, w ie m an einen solchen früheren geschäftsführenden Minister, dem man seine G eschäftsführungsbefugnis genommen hat, zu titulieren habe. Das Reich h a t von A nfang an betont, daß es sich hier um eine vor­ übergehende Suspension einer geschäftsführenden Landesregierung han­ delt, wobei im m er zu beachten bleibt: geschäftsführende Regierung höchst eigener Art, denn diese geschäftsführende Preußische Regierung hat ja ihr Dasein ü b erhaupt n u r dem bekannten Kunstgriff der Geschäftsordnungs­ änderung vom 12. A pril zu verdanken. Das erschwert noch die Konstruktion dieses höchst eigenartigen Gebildes, als das die am 20. Juli 1932 vom Reichs­ präsidenten ihres Amtes enthobene preußische Landesregierung sich jetzt darstellt. D ie F rage bleibt aber einfach die: Ist es verfassungsm äßig mög­ lich, einem Land von Reichs wegen eine kommissarische Landesregierung zu geben? H ier sind V orw ürfe gegen die Reichsregierung erhoben w orden und ist von „sich verstecken“, „sich drücken“, „Deckung nehm en“ und ähnlichem die Rede gewesen. Ich w ill das nicht aufnehm en und bleibe bei der Frage: Kann sich eine am tsenthobene L andesregierung von der Eigenart der preußischen geschäftsführenden R egierung gegenüber den verfassungs­ mäßigen Einw irkungsm öglichkeiten des Reichs auf die S e l b s t ä n d i g ­ k e i t des Landes P reußen berufen? Diese sogenannte Landesregierung ist gar nicht m ehr das Land Preußen. Auf G rund der Reichsverfassung

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hat der Reichspräsident gewisse Einw irkungsm öglichkeiten, denen A rt. 17 als selbständige Zuständigkeitsnorm — wie je tz t auch W alter Jellinek ausdrücklich festgestellt hat — nach dem Ü bergang der vollziehenden G ew alt nicht entgegensteht. Zur vollziehenden G ew alt des Landes gehört auch eine O rganisationsgew alt, frü h e r des Königs, je tz t des Staatsm ini­ steriums. W enn nun auf G rund reichsverfassungsm äßiger Einw irkungs­ möglichkeiten vom Reich h er die Einsetzung eines E rsatzorgans, einer kommissarischen, die Geschäfte führenden L andesregierung zulässig ist, so ist dieses, falls im übrigen die verfassungsm äßigen V oraussetzungen gegeben sind, eben die geschäftsführende L andesregierung und niem and anders. Sie ist vertretungsbefugt, und es ist ü b erh au p t k ein A rgum ent, hier die Selbständigkeit des Landes, die ü b erh au p t niem als in F rag e gestellt gewesen ist, geltend zu machen. W enn h ier jem and „Deckung nim m t“, so ist es die frühere geschäftsführende, nun ihres Am tes enthobene Regierung, die sich mit dem Lande P reußen identifiziert — m it welcher inneren Berech­ tigung, brauche ich nicht zu e rö rtern — und die nun fortw äh ren d m it der Selbständigkeit des Landes Preußen, m it unveräußerlichen, unantastbaren Rechten des Landes und dergleichen kommt. Es scheint m ir bei den bundesstaatsrechtlichen E rö rteru n g en folgendes Wichtige übersehen worden zu sein: der R eichspräsident, der auf G rund des Art. 48 verschiedenartige Befugnisse hat, k ann und m uß nötigenfalls diese Befugnisse auch im Interesse der S e l b s t ä n d i g k e i t des Landes ausüben. D er Fall ist durchaus denkbar, daß n u r auf diese W eise die Selb­ ständigkeit des Landes überhaupt gerettet w erden kann. D enn eine der größten und schlimmsten G efahren fü r unser bundesstaatliches System, für den Föderalism us und für die Selbständigkeit der L änder liegt doch gerade darin, daß über die Länder hinw eggehende, straff organisierte und zentrali­ sierte politische P arteien sich des Landes bemächtigen, ih re A genten, ihre Bediensteten in eine Landesregierung hineinsetzen (Professor H eller: Das ist unerhört!) und so die Selbständigkeit des Landes gefährden. Von dieser Seite, von den P arteien her droht sogar eine ganz besondere G efahr fo rt­ w ährender Funktionsstörungen, fo rtw äh ren d er G efährdung der öffent­ lichen Sicherheit und O rdnung und auch N ichterfüllung von Pflichten des Landes gegenüber dem Reich. W enn nun dieser F all e in tritt — ich spreche ganz ab strak t — und der Reichspräsident sich gezw ungen sieht, vorzu­ gehn, so ist das überhaupt kein W iderspruch zur Selbständigkeit des Landes. (Widerspruch.) Ich glaube, H e rr Kollege N aw iasky w ird m ir zugeben, daß es P arteien gibt, die eine G efahr für die Selbständigkeit eines Landes bedeuten. Die Bayerische V olkspartei ist h ier in der ganz singulären Lage, daß sie das Gegenteil einer G efahr fü r die Selbständigkeit B ayerns bedeutet. Es gibt aber auch andere P arteien, (von Jan: A ber w ir w ürden m it den Parteien selbst fertig werden!) D as ist Ih r Vorzug, Ih re Besonder­ heit, und w ir wollen hoffen, daß Sie nicht eines Tages in die Lage kommen, G ott dafür zu danken, daß es Einw irkungsm öglichkeiten des Reichspräsi­ denten nach A rt. 48 gibt.

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Also ist die einzige F rage: K ann vom Reich her in der geschehenen Weise auf ein Land eingew irkt w erden? D er Gegensatz unitarisch und föderalistisch darf überhaupt nicht schlag­ w ortartig m it anderen G egensätzen in Verbindung gebracht werden. E nt­ scheidend scheint m ir zu sein: w enn der Reichspräsident von seiner verfassungsm äßigen Befugnis gegenüber einem Lande Gebrauch gemacht, eine solche kommissarische Landesregierung eingesetzt und die andere Landesregierung suspendiert hat, dann ist die F rage der V ertretungsbefug­ nis erledigt, dann weiß man, w er die geschäftsführende aktive Landesregie­ rung ist. H ier die Selbständigkeit des Landes als solche geltend zu machen, ist eine offenbare V erw irrung. Es sind hier verschiedentlich Bilder, Ver­ gleiche origineller A rt gebraucht w orden. Ich darf m ir vielleicht auch ein­ mal erlauben, anschaulich zu w erden, und ganz allgemein, nicht mit Bezug auf diesen besonderen Fall, folgendes zur K lärung des, wie m ir scheint, einfachen Sachverhalts festzustellen. W enn tatsächlich einm al der Bock zum G ärtner gemacht w orden ist und es sich darum handelt, ihn zu beseitigen, so kann m an alles mögliche geltend machen, aber nu r das eine nicht, die Selbständigkeit und U nabhängigkeit des G artens! Das ist der Fall einer vom Reichspräsidenten suspendierten Landesregierung. Sie kann sich nicht auf die Selbständigkeit des Landes als solchen berufen. Eine vom Reich eingesetzte kommissarische R egierung ist selbstverständlich keine norm ale Regierung, ebensow enig w ie eine Geschäftsregierung oder gar eine G e­ schäftsregierung w ie die ihres Amtes enthobene Preußische Regierung, mit dem O dium des 12. A pril belastet, eine norm ale R egierung ist. Zwei Schlagworte oder Stichworte möchte ich noch ku rz abtun. Es ist einmal das W ort vom „ H ü t e r d e r V e r f a s s u n g “ gefallen, und zw ar ist mit besonderer Betonung und vielleicht auch polemischer W endung vom H errn Kollegen N aw iasky gesagt w orden: der Staatsgerichtshof ist der H ü ter der Verfassung. Niem and bestreitet das; er ist der H üter der Verfassung. A ber er ist und bleibt ein G e r i c h t s h o f und ist auf die vom H errn K ollegen Jacobi sehr eindringlich und, wie m ir scheint, üb er­ zeugend entw ickelten B esonderheiten dieser Justizförm igkeit und Gerichtsförm igkeit angewiesen. D er Staatsgerichtshof h at n u r den gerichtlichen und justizförm igen Schutz der Verfassung. D a eine Verfassung ein p o l i ­ t i s c h e s G ebilde ist, bedarf es außerdem noch wesentlicher politischer Entscheidungen, und in dieser Hinsicht ist, glaube ich, der Reichspräsident der H üter der V erfassung, und gerade seine Befugnisse aus Art. 48 haben sowohl fü r die föderalistischen als auch fü r die anderen B estandteile der Verfassung Λ-or allem den Sinn, einen echten politischen H üter der V er­ fassung zu konstituieren. W enn er in dieser Eigenschaft eine kommis­ sarische L andesregierung einsetzt, so handelt er ebenfalls als H üter der Verfassung auf G rund d er seinem politischen Erm essen anheim gegebenen, im wesentlichen p o l i t i s c h e n Entscheidung innerhalb gewisser Grenzen, die w ir h ier festgestellt haben. A ber es bleibt s e i n e p o l i t i s c h e E n t ­ s c h e i d u n g , um die es sich dabei handelt. D am it ist gleichzeitig auch die

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für Art. 19 der Reichsverfassung wichtige F rage beantw ortet, w er das Land in einem solchen Falle vertritt. Die V ertretung des Landes Preußen, die auf G rund eines solchen Aktes des Reichspräsidenten von der kommis­ sarischen Regierung vorgenommen w ird, hat ihre gute, feste Rechtsgrund­ lage in der Reichsverfassung sowohl, als auch in der von ih r ergänzten Landesverfassung. Das zweite W ort, das öfters hier w iederkehrte, w ar das W ort von der aus der Staatlichkeit folgenden E h r e und D ignität Preußens. Hierzu möchte ich folgendes sagen: H err M inisterialdirektor Brecht h at es für gut gehalten, heute morgen in seiner Schlußzusammenfassung daran zu erinnern, daß der H err Reichspräsident im Jah re 1866 als preußischer Offizier ins Feld gezogen ist. Was w ar 1866 los? Eine Bundesexekution des Deutschen Bundes g e g e n P r e u ß e n . Und der H e rr Reichspräsident stand als preußischer Offizier auf der preußischen Seite und verteidigte Preußen gegen diese Bundesexekution. W enn derselbe Mann, der damals Preußen gegen eine Exekution verteidigt hat, sich jetz t entschließen muß, gegen dasselbe Preußen eine Reichsexekution anzuordnen, so ist das ein bedeutungsvoller, erstaunlicher Vorgang, dessen m an sich doch einen Augenblick bewußt w erden sollte. D enn hier zeigt sich, daß sich etwas geändert hat. Die Exekution hat jetz t nicht den Sinn, das Land zu ver­ nichten und seine Existenz zu zerstören, sondern im G egenteil Preußen vor Gefahren zu schützen, die gerade diesem Staat und diesem Lande drohten. W enn hier so viel von der Staatlichkeit, der D ignität und der Ehre Preußens gesprochen wird, so darf ich doch endlich m ir selber die Frage stellen — ich stelle sie niem and anders, ich stelle sie aber hier in aller Öffentlichkeit m ir selbst: Wo ist denn dieses alles, die D ignität und die Ehre Preußens, besser aufgehoben: bei den am 20. Juli ihres Amtes ent­ hobenen, geschäftsführenden M inistern, die n u r noch dank dem Kunstgriff vom 12. A pril geschäftsführende M inister w aren (Zuruf: Situations Juris­ prudenz!) oder bei dem Reichspräsidenten von H indenburg? Diese Frage ist für mich nicht schwer zu beantw orten. Es ist w ahr, P reußen hat seine Ehre und seine D ignität, aber der T reuhänder und der H ü ter dieser Ehre ist heute das Reich.

21. Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland (Januar 1933) Vor zehn Jah ren versicherten bew ährte A utoren und F ü h re r aller Art, daß m an n u r die Politik und die P olitiker abzuschaffen brauche, um alle schwierigen Problem e gelöst zu haben. Die radikale „Entpolitisierung“ sollte d arin bestehen, daß technische, wirtschaftliche, juristische oder andere Sachverständige nach angeblich rein technischen, rein wirtschaftlichen, rein juristischen, k u rz nach rein „sachlichen“ G esichtspunkten alle bisher poli­ tischen F ragen zu entscheiden hatten. Zahlreiche Aufsätze und Broschüren haben das in den Jah ren 1919 bis 1924 als einzige Bedingung universaler Glückseligkeit verkündet. Inzwischen haben w ir viele Sachverständigenund Technikerkonferenzen kennengelernt. Ganze G ebirge w ertvollsten M aterials und sachkundigster G utachten lagern in Genf, in Berlin, in vielen anderen Städten der Erde, und u n ter ih re r A rt von Sachlichkeit w urde die Entscheidung der F ragen einfach verschüttet. Es hatte sich bald heraus­ gestellt, daß diese „E ntpolitisierung“ ein brauchbares politisches M aterial ist, um unangenehm e Problem e und notwendige Ä nderungen zu vertagen, einen w idersinnigen status quo zu konservieren und jeden entschiedenen Ä nderungsw illen sich leerlaufen zu lassen. Nach solchen E rfahrungen m it der gänzlichen „Nichtpolitik“ m ußte die Erkenntnis durchdringen, daß a l l e Problem e potentiell politische Problem e sind. W ir haben dann in D eutschland praktisch eine Politisierung aller wirtschaftlichen, k u ltu rellen , religiösen und sonstigen Bereiche des mensch­ lichen Daseins erlebt, wie sie dem D enken des 19. Jahrhunderts unbegreif­ lich gewesen w äre. Insbesondere schien, nachdem m an einige Jahre versucht hatte, den Staat zu ökonom isieren, jetz t um gekehrt die W irtschaft gänzlich politisiert zu sein. Jetzt glaubte m an die w irksam e und einleuchtende Form el vom totalen S taat zu begreifen, und heute sind manche sogar schon w ieder darüber hinaus und haben den „totalen S taat“ bereits w iderlegt und geistig überw unden. Sehen w ir uns aber statt der Propaganda und der L iteratu r einmal die w irkliche Lage an.

I. Es gibt einen totalen Staat. Man k ann den „totalen S taat“ mit irgend­ welchen Em pörungs- und Entrüstungsschreien als barbarisch, sklavisch, un­ deutsch oder unchristlich von sich weisen, die Sache selbst ist damit nicht aus der W elt geschafft. Jeder Staat ist bestrebt, sich der Machtmittel zu bemächtigen, die er zu seiner politischen H errschaft braucht. Es ist sogar das sichere Kennzeichen des w irklichen Staates, daß er das tut. Auch stehen w ir alle u n ter dem Eindruck der gew altigen Machtsteigerung, die heute

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jed e r Staat durch die Steigerung der Technik, nam entlich der m ilitärtech­ nischen Machtmittel, erfährt. Selbst einem kleinen Staat und seiner Regie­ rung verleihen die m odernen technischen M ittel eine solche E inw irkungs­ möglichkeit, daß daneben die alten V orstellungen sowohl von staatlicher Macht als auch vom W iderstand gegen sie verblassen. G egen den totalen Staat hilft n u r eine ebenso totale Revolution. Ü berlieferte B ilder von Straßenaufläufen und B arrikaden erscheinen angesichts dieser neuzeit­ lichen Machtmöglichkeiten als ein K inderspiel. Jede politische Macht ist gezwungen, die neuen Waffen in die H and zu nehm en. H at sie dazu nicht die K raft und den Mut, so w ird sich eine andere Macht oder O rganisation finden, und das ist dann eben w ieder die politische Macht, d. h. der Staat. Durch die Steigerung der technischen M ittel ist insbesondere die Mög­ lichkeit, ja N otw endigkeit einer M assenbeeinflussung gegeben, die um ­ fassender sein kann als alles, w as die Presse und andere ü b erlieferte M ittel der M einungsbildung zu bew irken vermochten. H eute herrscht in Deutsch­ land noch eine w eite Preßfreiheit. T rotz aller N otverordnungen ist dieser Spielraum der „freien M einungsäußerung“, in W irklichkeit der P a rte i­ agitation und der propagandistischen M assenbearbeitung, sehr groß und denkt man nicht an Pressezensur. A uf die neuen technischen M ittel, Film und Rundfunk, dagegen m uß jed e r S taat selbst die H and legen. Es gibt keinen noch so liberalen Staat, der über das Film - und Lichtspielw esen und den R undfunk nicht m indestens eine intensive Zensur und K ontrolle fü r sich in Anspruch nimmt. Kein Staat k an n es sich leisten, diese neuen tech­ nischen M ittel der N achrichtenüberm ittlung, M assenbeeinflussung, Massen­ suggestion und Bildung einer „öffentlichen“, genauer: ko llek tiv en M einung einem andern zu überlassen. H in ter der Form el vom to talen S taat steckt also die richtige E rkenntnis, daß der heutige S taat neue M achtm ittel und Möglichkeiten von ungeheurer Intensität hat, deren letzte T ragw eite und Folgew irkung w ir kaum ahnen, w eil unser W ortschatz und unsere P h an ta­ sie noch tief im 19. Jah rh u n d ert stecken. D er totale Staat in diesem Sinne ist gleichzeitig ein besonders sta rk e r Staat. E r ist total im Sinne der Q u alität und der E nergie, so, w ie sich der faschistische Staat einen „stato to ta litario “ nennt, w om it er zunächst sagen will, daß die neuen M achtmittel ausschließlich dem S taat gehören und seiner M achtsteigerung dienen. Ein solcher S taat läßt in seinem In n ern keinerlei staatsfeindliche, staatshem m ende oder staatszerspaltende K räfte aufkommen. E r denkt nicht daran, die neuen M achtm ittel seinen eigenen Feinden und Zerstörern zu ü berliefern und seine Macht u n te r irgend­ welchen Stichworten, Liberalism us, Rechtsstaat oder w ie m an es nennen w ill, u ntergraben zu lassen. Ein solcher S taat k a n n F re u n d und F eind unterscheiden. In diesem Sinne ist, w ie gesagt, je d e r echte S taat ein to taler Staat; er ist es, als eine societas perfecta der diesseitigen W elt, zu allen Zeiten gewesen; seit langem wissen die S taatstheoretiker, daß das Politische das Totale ist, und das Neue sind n u r die neuen technischen M ittel, üb er deren politische W irkungen m an sich k la r sein muß.

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Nun gibt es aber noch eine andere Bedeutung des W ortes vom totalen Staat, und das ist leider diejenige, die für die Zustände des heutigen Deutschland zutrifft. Diese A rt totaler Staat ist ein Staat, der sich u nter­ schiedslos in alle Sachgebiete, in alle Sphären des menschlichen Daseins hineinbegibt, der überhaupt keine staatsfreie Sphäre m ehr kennt, weil er überhaupt nichts m ehr unterscheiden kann. E r ist total in einem rein quantitativen Sinne, im Sinne des bloßen Volumens, nicht der Intensität und der politischen Energie. D er heutige pluralistische Parteienstaat in Deutschland hat diese A rt des totalen Staates entwickelt. Sein Volumen ist ungeheuer ausgedehnt. E r interveniert in alle möglichen Angelegenheiten und auf allen G ebieten des menschlichen Daseins, nicht nu r in die W irt­ schaft, für welche Erw in von Beckerath mit Recht sagt, daß der totale Staat im Sinne einer Vermischung von Staat und W irtschaft „eine m it Händen greifbare R e alität“ sei, sondern auch in ku ltu relle und gesellige Dinge, die man sonst gern fü r „rein p riv a te “ Angelegenheiten ausgibt. W arum soll der Staat nicht wirtschaftliche, ku ltu relle und andere U nternehm ungen subventionieren, da w ir doch alle, auf dem Weg über die Partei, der Staat selber sind, und w arum soll ein G esangverein nicht gute Beziehungen zum Staate, d. h. zu gewissen P arteien und Fonds, un terhalten können? Dieses kostbare W arum nicht? ist die ganze Staatstheorie des pluralistischen Parteienstaates und die geistige G rundlage seiner Totalität. Das ist n a tü r­ lich eine T otalität n u r im Sinne des bloßen Volumens und das Gegenteil von K raft oder Stärke. D er heutige deutsche Staat ist total aus Schwäche und W iderstandslosigkeit, aus der U nfähigkeit heraus, dem A nsturm der Parteien und der organisierten Interessenten standzuhalten. E r muß jedem nachgeben, jeden zufriedenstellen, jeden subventionieren und den w ider­ sprechendsten Interessen gleichzeitig zu G efallen sein. Seine Expansion ist die Folge, wie gesagt, nicht seiner Stärke, sondern seiner Schwäche.I. II. N äher gesehen, .haben w ir heute in Deutschland überhaupt keinen totalen Staat, sondern eine M ehrzahl totaler Parteien, die jede in sich die Totalität zu verw irklichen suchen, in sich ihre M itglieder total erfassen möchte und die Menschen von der W iege bis zur Bahre, vom K leinkinder­ garten über den T urnverein und K egelklub bis zum Begräbnis- und Ver­ brennungsverein begleiten, ihren A nhängern die richtige W eltanschauung, die richtige Staatsform , das richtige W irtschaftssystem, die richtige Gesellig­ keit von P a rte i w egen liefern und dadurch das ganze Leben des Volkes total politisieren und die politische E inheit des deutschen Volkes p a r­ zellieren. P arteien alten liberalen Stils, die als bloße „M einungsparteien“ einer solchen O rganisation und T otalität nicht fähig sind, geraten in Gefahr, zwischen den M ühlsteinen der m odernen, in sich totalen P arteien zerrieben zu werden. D er Zwang zur totalen Politisierung scheint unentrinnbar. Keine Parteiorganisation k ann sich ihm entziehen. Die rücksichtslos totaleü P a r­ teien bestimm en den Typus und treib en die andern viertel-, halb- oder

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dreivierteltotalen Parteien zur Konsequenz des erfolgreichen Typus. Vor jed er Dezision eines konsequenten Nationalism us oder Sozialismus oder Atheismus erscheinen die lavierenden H albheiten als hilflose Kleinigkeiten. Das Nebeneinander m ehrerer soldier to taler Gebilde, die auf dem Wege über das Parlam ent den Staat beherrschen und ihn, solange es pluralistisch zugeht, zum O b jekt ih rer Kompromisse machen, ist die Ursache jen er m erkw ürdigen quantitativen Ausdehnung des Staates. Zwischen den Staat und seine Regierung auf der einen und die Masse der Staatsbürger auf der anderen Seite hat sich heute ein sehr festes durchorganisiertes, aber pluralistisches Nebeneinander m ehrerer to taler P arteien eingeschoben und handhabt das Monopol der Politik, das erstaunlichste alle r Monopole. A ller politischer W ille, alle Umschaltung der Interessen, die es selbstver­ ständlich geben muß, in den Staatsw illen, ist auf den W eg über einen Parteiw illen angewiesen. N ur ist die heutige P a rte i etw as anderes als die alte liberale M einungspartei. Sie ist, w ie O tto K o ellreutter schon seit langem festgestellt hat, eine aktivistische P artei, sie benutzt die der opinion zugedachten liberalen Freiheiten und alle legalen Möglichkeiten, Ein­ richtungen und Befugnisse einer liberalen Verfassung kaltb lü tig als Instru­ ment ih rer Aktion und zwingt auch die bisher liberalen P arteien zu dieser verfassungzerstörenden W andlung. D er Zwang, sich ihrem politischen Monopol zu unterw erfen, unter dem heute jedes Lebensgebiet und jede größere Menschengruppe in Deutschland steht, v erän d ert und verfälscht alle Einrichtungen der W eim arer Verfassung. W ichtiger als jedes w irt­ schaftliche Monopol ist dieses politische Monopol einer R eihe von starken politischen Organisationen, die eine R egierung n u r u n ter der Bedingung tolerieren, daß der Staat ihr A usbeutungsobjekt bleibt. Das eigentliche Instrum ent dieses politischen Monopols — oder, da es sich um einen pluralistischen Staat handelt, dieses „Polypols“ — ist die Aufstellung der Kandidatenliste. Das Ergebnis jed e r W ahl hängt von der K andidatenliste ab. Die Masse der W ähler kann keinen K andidaten von sich aus aufstellen, und der R egierung fehlt das selbstverständlichste und natürlichste Recht einer Regierung, nämlich das ju s agendi cum populo. Dam it ist die große Masse der angeblichen „W ähler“ und der Volkswille selbst restlos durch etw a fünf P arteilisten p arzelliert. D ie W ahl ist ent­ gegen der Verfassung, die eine direkte W ahl verlangt, längst keine direkte W ahl mehr. D er Abgeordnete w ird von der P a rte i ernannt, nicht vom Volk gewählt. Die sogenannte W ahl ist eine durchaus m ittelbare Stellung­ nahme der „W ähler“ zu einer Parteiorganisation. D aß von unm ittelbarer W ahl heute nicht m ehr die Rede sein kann, h at sich als eine unbestreitbare E rkenntnis heute allgemein durchgesetzt. Ich behaupte aber, daß der Vor­ gang, wie er sich heute abspielt, überhaupt keine W ahl m ehr ist. D enn was geht vor sich? Fünf Parteilisten, auf eine höchst geheime, okkulte Weise entstanden, von fünf O rganisationen d iktiert, erscheinen. D ie Massen begeben sich sozusagen in fünf bereitstehende H ürden, und die statistische Aufnahme dieses Vorganges nennt m an „W ahl“. W as ist das in der Sache?

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Man sollte sich diese Frage doch endlich einm al deutlich zum Bewußtsein bringen, ehe Deutschland an derartigen Methoden politischer W illens­ bildung zugrunde gegangen ist. Es ist in der Sache eine geradezu phanta­ stische O ption zwischen fünf untereinander völlig unvereinbaren, völlig entgegengesetzten, in ihrem N ebeneinander sinnlosen, aber jedes in sich geschlossenen und in sich totalen Systemen mit fünf entgegengesetzten W eltanschauungen, Staatsform en und W irtschaftssystemen. Zwischen fünf organisierten Systemen, von denen jedes in sich total ist und jedes, kon­ sequent zu Ende gedacht, das andere auf hebt und vernichtet, also z. B. zwischen Atheism us oder C hristentum , gleichzeitig zwischen Sozialismus oder Kapitalism us, gleichzeitig etw a zwischen Monarchie oder Republik, zwischen Moskau, Rom, W ittenberg, Genf und Braunem Haus und ähn­ lichen inkom patiblen Freund-Feind-A lternativen, hinter denen feste O rganisationen stehen, soll ein Volk m ehrm als im Jahre optieren! W er sich klarm acht, was das bedeutet, w ird nicht m ehr erw arten, daß aus einer solchen Prozedur eine handlungs- und aktionsfähige, auch n u r lose zu­ sammenhaltende, fü r eine politische W illensbildung geeignete M ehrheit hervorgehen könnte. Ein solcher Vorgang bedeutet nur, daß der Volkswille sofort an seiner Q uelle in fünf K anäle und nach fünf verschiedenen Rich­ tungen abgeleitet w ird, so daß er niem als zu einem Strom zusammenfließen kann. Das Ergebnis sind imm er n u r fünf verschiedene Volksteile mit fünf verschiedenen politischen System en und O rganisationen, die sich in ihrem zusammenhanglosen, ja, feindlichen N ebeneinander gegenseitig zu besiegen oder zu betrügen suchen und, zu jed er positiven A rbeit unfähig, sich immer nur im N egativen begegnen und höchstens einm al — wie bei M ißtrauens­ beschlüssen, A ufhebungsverlangen, Am nestieforderungen oder bei dem verfassungsändernden Gesetz über die S tellvertretung des Reichspräsiden­ ten vom 17. D ezem ber 1932 — in einem N ullpunkt treffen. Mit solchen M ethoden politischer W illensbildung sind w ir in den Zu­ stand eines quantitativ totalen Staates hineingeraten, der nichts m ehr un ter­ scheiden kann, w eder W irtschaft und Staat, noch Staat und sonstige Sphären menschlichen und sozialen Daseins. Die W ahl ist keine W ahl m ehr, der Abgeordnete kein A bgeordneter m ehr, wie ihn die Verfassung sich denkt. Er ist nicht der unabhängige, gegenüber P arteiinteressen das Wohl des Ganzen v ertretende freie Mann, sondern ein in Reih und G lied m ar­ schierender F unktionär, der seine Befehle außerhalb des Parlam ents e r­ hält und für den die B eratung in der Vollversamm lung des Parlam ents zur leeren F arce w erden muß. W ie der Abgeordnete kein A bgeordneter, ist das Parlam ent kein P arlam ent m ehr. Auf dem demokratischen System der W eim arer Verfassung lastet ein solches P arlam ent mit seiner gleichzeitig m achtunfähigen und m achtzerstörenden N egativität wie ein körperlich und geistig k ra n k e r Monarch auf den Einrichtungen und dem Bestand einer Monarchie. D er heutige deutsche Reichstag ist kein Reichstag im Sinne der W eim arer Verfassung; der heutige deutsche Reichsrat, in dem sich m ehr geschäftsführende als norm ale L andesregierungen treffen, in dem für das

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Land Preußen, also zwei D rittel des Deutschen Reiches, am tsenthobene M inister einer früher geschäftsführenden R egierung erscheinen, kein Reichs­ rat im Sinne der W eim arer Verfassung. Auch das M ißtrauensvotum ist kein M ißtrauensvotum in Sinne eines parlam entarischen Regierungssystem s, denn ihm entspricht heute w eder die F ähigkeit noch die Bereitschaft, eine handlungsfähige und verantw ortungsbew ußte R egierung zu bilden. Alle diese Verfassungseinrichtungen sind hinfällig gew orden und gänzlich denaturiert, alle legalen Befugnisse, selbst alle Auslegungsmöglichkeiten und Argum ente sind instrum entalisiert und w erden taktische M ittel des Kampfes jed er P artei gegen jede andere und aller P arteien gegen Staat und Regierung. H ätte nicht die eine letzte Säule der W eim arer Ver­ fassungsordnung, der Reichspräsident und seine aus vorpluralistischen Zeiten stammende A utorität, bisher standgehalten, so w äre wahrscheinlich das Chaos auch in aller Sichtbarkeit und in der äußerlichen Erscheinung bereits vorhanden und selbst der Schein der O rdnung verschwunden.

22. Reich — Staat — Bund (1933) A n tritts v o rle s u n g g e h a lte n a n d e r K ö ln e r U n iv e r s itä t am 20. J u n i 1933 Das Lehrfach des öffentlichen Rechts nim m t m it b esonderer U nm ittelbar­ keit am Leben der V ölker und der Staaten teil. Es ist daher seit zwei Ja h r­ zehnten von der gleichen schnellen Entw icklung und Bew egung erfaßt, die unsere ganze W elt ergriffen hat. Dieses Fach steht auch in seiner wissen­ schaftlichen Besonderheit in größter existentieller N ähe zum Schicksal der Völker und Staaten. Gegensätze der L ehrm einungen erscheinen sofort als politische Gegensätze. Es gibt kein wissenschaftliches R esultat der Lehre des öffentlichen Rechts, das nicht sofort von der einen gegen die andre Seite praktisch v erw ertet w erden könnte, und der K am pf der A rgum ente geht unm ittelbar über in den politischen K am pf der V ölker und Parteien. So hat dieses Fach auf eine oft sehr gefährliche, lebensgefährliche Weise A ktualität und Interesse. Jeder G elehrte eines solchen Fachs, der sich je n e r B esonderheit und der darin liegenden wissenschaftlichen V erantw ortung bew ußt ist, kennt auch diese G efahr. Manche haben eine Zeitlang gehofft, die gesicherten Zustände der Vorkriegszeit w ürden bald zurückkehren, und die ungefähr­ liche Ruhe, die damals wenigstens scheinbar herrschte, lasse sich zurück­ gewinnen. feie verwechseln die S ekurität eines ganz bestim m ten politischen Zustandes mit der O b jek tiv ität und Sachlichkeit des D enkens ^ b e r diesen Zusiand. Es ist heute bereits so, daß alle Versuche, in eine problem lose Sicherheit zu entweichen, uns als eine A bdankung, als ein Verzicht auf die

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Wissenschaft des öffentlichen Rechts erscheinen. Die Flucht aus der Proble­ m atik der Zeit in eine unproblem atische V ergangenheit oder in eine beziehungs- und gegenstandslose Reinheit, hat nicht einm al m ehr den Schein der W issenschaftlichkeit für sich. D er Weg, der vom konkret gegenwärtigen Leben w egführt, k ann n u r dorthin führen, wo Tote über Totes reden. W enn ich hier über Reich, Staat und Bund spreche, so gebrauche ich drei Worte, deren jedes in höchstem Maße gleichzeitig geschichtsmächtig und gegenw artserfüllt ist, die ich aber vorsätzlich und ausdrücklich als B e ­ g r i f f e behandle. D araus könnte das M ißverständnis entstehen, als wollte ich in falscher A bstraktion von leeren Form en reden und die traurige Sache betreiben, die m an m it einem Schimpfwort als „B egriffsjurisprudenz“ bezeichnet. Es gibt allerdings viele solche in einem schlechten Sinne abstrakte Begriffe. Es gibt aber auch andere lebensvolle und w esenhafte Begriffe, und es gehört eben zur Aufgabe der Wissenschaft des öffentlichen Rechts, echte Begriffe zu erkennen und auszuprägen. Im politischen Kampf sind Begriffe und begrifflich gew ordene W orte alles andere als leerer Schall. Sie sind Ausdruck scharf und präzis herausgearbeiteter Gegensätze und Freund-Feind-K onstellationen. So verstanden, ist der unserm Bew ußt­ sein zugängliche Inhalt der Weltgeschichte zu allen Zeiten ein Kampf um W orte und Begriffe gewesen. Das sind natürlich keine leeren, sondern energiegeladene W orte und Begriffe und oft seh t scharfe Waffen. Leer und im schlechten Sinne a b stra k t w erden sie erst, wenn die Kam pflage und der Streitgegenstand entfallen und uninteressant geworden sind. Ich erinnere Sie an den Kam pf um die Form el „von Gottes G naden“; oder z. B. an die Überlegungen, die m an im W inter 1870/71 darüber angestellt hat, ob man dem B undespräsidenten des Bismarckschen Reiches den Titel „Kaiser der D eutschen“, „K aiser von D eutschland“ oder „Deutscher K aiser“ geben solle. Ich erinnere fern er an den unverm eidlichen Streit um die sog. Form alien bei allen großen politischen Prozessen, um die Frage, w er vor einem Staatsgerichtshof oder vor einem internationalen Gericht parteifähig ist, w er aktiv legitim iert, interventionsberechtigt usw. Scheinbar kleine Abweichungen in der begrifflichen Fassung können hier von unabsehbarer praktischer T ragw eite w erden. In diesem ganz praktischen Sinne einer konkret verstandenen Begrifflichkeit erscheint die ganze deutsche Leidens­ geschichte des letzten halben Jahrtausends als die Geschichte der drei Begriffe „Reich, Staat, B und“. D er Begriff des S t a a t e s h at das alte Reich zerstört. W enn Pufendorff im 17. Ja h rh u n d e rt das Reich als ein M onstrum bezeichnet, so w ill er damit sagen, daß es kein Staat ist. D er Begriff des Staates und der staat­ lichen Souveränität erscheint ihm juristisch begreiflich und ohne w eiteres plausibel. Reich dagegen ist unbegreiflich und juristisch sinnlos geworden, eben weil der Begriff des Staates gesiegt hat. Auf dem Boden des Deutschen Reiches entwickeln sich Staaten, und die juristisch-dezisionistische Ü ber­ legenheit des Staatsbegriffs gegenüber dem Reichsbegriff erscheint der rechtswissenschaftlichen Begriffsbildung so groß, daß der Staatsbegriff das

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R eidi von innen heraus sprengt. Seit dem 18. Ja h rh u n d e rt gibt es überhaupt kein Reichsrecht m ehr, sondern n u r noch Staatsrecht. Das Reich w ird nur noch als ein aus Staaten zusam m engesetzter S taat oder als ein „System von Staaten“ begriffen. D ie Schrift des jungen H egel aus dem Jah re 1802 über „Die Verfassung des Deutschen Reiches“ beginnt m it dem lapidaren Satz „Deutschland ist kein S taat m ehr.“ D aß es kein S taat m ehr ist, ist der G rund, w arum es „nicht m ehr begriffen w erden k a n n “. D er deutsche S taat hat das alte Deutsche Reich zerstört. D er Staatsbegriff w ar der eigent­ liche Feind des Reichsbegriffs. D as Recht w ird Staatsrecht und staatliches Recht. Sogar die Philosophie w ird Staatsphilosophie, und der größte Philo­ soph, Hegel, flüchtet aus dem unbegreifbar gew ordenen Reich in einen um so einleuchtender gew ordenen Begriff des Staates. Es ist fü r die Geschichte des Reichsgedankens von großer Bedeutung, daß dam als sofort auch zwei neue Reiche entstanden, das französische Gegenreich Napoleons I. und das Ersatzreich der habsburgischen Monarchie; jenes offensiv und expansiv, dieses defensiv und konservativ. Es ist aber ebenso wichtig, daß um dieselbe Zeit nach 1806 die eigentliche Staatlichkeit Preußens sich um so k la re r und intensiver entw ickelt, w ährend das übrige, das sog. d ritte Deutschland, ein B und von Staaten w urde. Vergessen wir nie, daß das ganze sog. föderalistische Staatsrecht des 19. Jahrhunderts m it allen seinen A ntithesen von S taatenbund und Bundesstaat, Völkerrecht und Staatsrecht, V ertrag und Verfassung in der Zeit des R h e i n b u n d e s entstanden ist. Die deutschen Staaten, die als Staaten das Reich gesprengt haben, e rk lä re n bei ihrem A u stritt am 1. A ugust 1806, daß sie einen „den neuen Zuständen angem essenen B und“ gründen, zum Schutz der staatlichen Souveränität und U nabhängigkeit der B undesm itglieder und u n ter dem P ro tek to rat und der G arantie des K aisers der Franzosen. Die staats- und verfassungsrechtliche L ite ra tu r der R heinbundzeit konstruiert sofort ein Reichssystem. Und was fü r ein Reich! Von C arl Salomo Zachariä (Das Staatsrecht der rheinischen B undesstaaten und der Bundesstaaten, H eidelberg 1810, S. 129) w ird folgendes Bild ausgem alt: Sämtliche euro­ päische Staaten zerfallen in zwei Klassen, in solche, die „M itglieder des großen europäischen Staatenvereins sind, an dessen Spitze der K aiser der Franzosen, teils als vertragsm äßiger P ro tek to r des Bundes, teils als H aupt der Kaiserlichen Fam ilie steht, und in Staaten, die diesem europäischen S taatenverein nicht beigetreten sind“. U nter die Staaten der ersten Klasse, also in den großen europäischen „Staatenverein“ des K aisers der Franzosen, gehören Spanien, die italienischen Staaten, H olland, die Schweiz, das Herzog­ tum W arschau und die rheinischen B undesstaaten. D ie anderen europäi­ schen Staaten sind ihm entw eder a lliie rt und befreundet: Preußen, Öster­ reich und D änem ark; oder sie sind Feinde des europäische^ Bundes: Eng­ land und seine Bundesgenossen. D er rheinische Bund erscheint als Teil eines französisch geführten Reichssystems, dem ein Bündnissystem (mit R ußland, Österreich, Preußen) angegliedert ist. D ie Zeit der französischen Hegem onie w ar zu kurz, als daß sich ein durchgebildetes Verfassungsrecht,

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sei es des Reichs, sei es des Bundes, hätte entwickeln können. A ber selbst dieses k u rze Zwischenspiel von sechs Jah ren offenbart das für die deutsche Entwicklung des letzten Jah rh u n d erts kennzeichnende V erhältnis der Begriffe R eich,. Staat und Bund. D er Bund deutscher Staaten ist immer g e g e n das Deutsche Reich gerichtet gewesen. D er Bundesbegriff w ar hier im m er der V erbündete des Staatsbegriffes gegen den Reichsbegriff. D er Sinn des Bundes, nämlich Schutz, G arantie und F ührung der Bundes­ m itglieder w endet sich gegen das Deutsche Reich. D er hegemonische T räger des Bundes steht im R heinbund außerhalb Deutschlands, und der für den ganzen folgenden deutschen Föderalism us typische Dualism us ist hier der Dualism us von F rankreich und Deutschland, die schlimmste und traurigste Form eines D ualism us, w eil er die deutsche Einheit als solche leugnet und aufhebt. D er auf dem W iener K ongreß zustande gekommene Staatenbund „ D e u t s c h e r B u n d “ w a r fü r ein halbes Jah rh u n d ert (1815 bis 1866) die Form der politischen E inheit Deutschlands. Auch bei ihm h atte der Bundes­ gedanke den Sinn einer G aran tie der Staatlichkeit gegen das Reich. Staat und Staatlichkeit sind auch h ier polemische Gegenbegriffe gegen das Reich. Das Reich w ar d a ra n zugrunde gegangen, daß es nicht Staat w ar; der Bund der deutschen Staaten m it seiner G arantie der Staatlichkeit w ill ebenfalls kein Reich sein. E r w ill dem allgem einen Ruf des deutschen Volkes nach einem Reich ein K om prom ißsurrogat liefern, aber in scharfer A lternative von V ölkerrecht und Staatsrecht n u r als völkerrechtlicher Verein. Die Trägerschaft des Bundes v erteilte sich auf ein N ebeneinander dreier Größen: die beiden führenden Großm ächte Österreich und Preußen, deren Gebiet aber zum Teil au ß erh alb des Bundes lag, und das sogenannte d ritte Deutschland, dessen w ichtigster Staat, Bayern, fü r sich in Anspruch nehm en konnte, daß e r ein rein deutscher, innerhalb des Bundesgebietes gelegener Staat w ar, und dessen heute nicht m ehr recht begreiflicher Führungs1anspruch m it dieser Lage zusam m enhing; analog in einiger Hinsicht dem unverhältnism äßigen Übergewicht U ngarns in der habsburgischen Mon­ archie, in der alle übrigen N ationen m it m indestens einem Fuße außerhalb der M onarchie standen. D er typische D ualism us des Deutschen Bundes ist ein D ualism us der Hegem onie, der die beiden Großmächte Österreich und Preußen in einen Konflikt bringt. D er preußische Sieg von 1866 h at diesen D ualism us beseitigt, das öster­ reichische Ersatzreich beiseite gedrängt und den B u n d e s s t a a t „ D e u t s c h e s R e i c h “ herbeigeführt. D ie V erfassung dieses „Zweiten Reiches“ spricht, um den treffenden Ausdruck C arl Bilfingers zu übernehm en, noch „die Sprache des B undes“. Es nennt sich einen „ewigen Bund der Fürsten; es macht einen „B undesrat“ zum H auptorgan, w ährend die demokratische V ertretung des ganzen deutschen Volkes R e i c h s t a g heißt usw. D er kennzeichnende D ualism us ist h ier doppelter A rt: ein D ualism us der V er­ fassungskonstruktion, die zwei gegensätzliche Prinzipien: Monarchie und D em okratie zu verbinden sucht, und ein D ualism us von Preußen und Reich, 13 1682

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hinter dem der Dualism us von E inzelstaat und G esam tstaat, K onservati­ vismus und D em okratie steht, mit einer ganz dualistischen Zuständigkeits­ verteilung (Reichsgesetzgebung und Staatsexekutive) und m it einem Zwischenbegriff wie „Reich sauf sicht“ als dem K orrelat einer solchen Zu­ ständigkeitsverteilung. Die staatsrechtliche W issenschaft bem ühte sich, den Dualism us zu überbrücken. Sie h at aber das eigentliche Unheil, nämlich die Antithese von Staatenbund und B undesstaat, V ölkerrecht und Staats­ recht, V ertrag und \ erfassung, nicht zu überw inden vermocht. Übrigens w ar in den ersten Jahren, nach 1867, die Scheu vor dem Begriff „Reich“ noch sehr verbreitet, weil man sich noch daran erinnerte, daß es zum Wesen des Reichs gehörte, kein Staat zu sein. So sagte Georg M eyer 1868: „Der Ausdruck Reich wird in so vielfachen A nw endungen gebraucht, daß man eigentlich nur sagen kann, er bezeichnet einen großen L änderkom plex mit verschiedenen und bis zu einem gewissen G rade selbständigen Teilen.“ Eine besonders interessante Definition gibt Bluntschli in seiner Staatslogik 1872. Ich möchte sie hier erw ähnen, weil sie Reich nicht einfach mit Bundes­ staat identifiziert und zu Unrecht ganz in V ergessenheit geraten ist. Bluntschli spricht von einem „deutschen Bundes r e i c h “, einem „H aupt­ staat als dem Schöpfer des Bundes, ohne den das Reich nicht bestehen kan n “, und definiert: „Das deutsche Bundesreich ist seinem W esen nach ein Ver­ band der m ittleren und kleineren deutschen Staaten im Anschluß an die H aupt- und Vormacht Preußen, aber erhoben zu einer gem einsam en Ge­ sam tdarstellung des deutschen Volkes.“ Die W e i m a r e r V e r f a s s u n g von 1919 h at die Hegem onie Preußens beseitigt und zugleich das Land P reußen in seinem G esam tum fang bestehen lassen. Sie hat kein neues K onstruktionsprinzip als E rsatz fü r die bisherige hegemonische K onstruktion gefunden und dam it den in den letzten Jahren oft genug erö rterten katastrophalen K onstruktionsfehler gemacht. Sie be­ seitigt die hündische, auch die bundesstaatliche G rundlage; sie spricht auch nicht m ehr „die Sprache des Bundes“, sondern verm eidet das W ort „Bund“ und sagt nicht m ehr „B undesrat“, sondern „Reichsrat“. D ie m erkw ürdige A nregung Friedrich Naum anns im W eim arer Verfassungsausschuß, das Deutsche Reich von jetzt ab „Deutscher B und“ zu nennen, w urde nicht ernst genommen. D aher ging die Staatsrechtslehre der W eim arer Verfas­ sung in den ersten Jahren nach 1919 davon aus, daß nunm ehr die Staatlich­ keit der Länder beseitigt und D eutschland kein B undesstaat m ehr sei. Aber der Konflikt zwischen dem Reich und B ayern vom Jah re 1923 entschied die Frage zugunsten der anderen, von B ayern geführten bundesstaats­ rechtlichen Richtung, und so w urde es herrschende Lehre, daß auch die W eim arer Verfassung eine bundesstaatliche V erfassung ß ei. Durch den Preußenschlag vom 20. Juni 1932 hat das Reich versucht, P reußen zu „ver­ einnahm en und auf diese W eise den D ualism us von P reußen und Reich zu überw inden. Diese Ereignisse sind noch in aller E rinnerung, so daß ich mich darüber nicht zu verbreiten brauche. N ur auf eines möchte ich hinweisen, weil es die praktische Bedeutung .staatsrechtlicher K onstruktionen

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zeigt: der Staatsgeriditshof hat in seinem berühm ten U rteil vom 25.O k­ tober 1952 seine Entscheidung ganz und gar auf die bundesstaatsrechtliche Konstruktion gestützt. E r bestätigt die Begriffe der „eigenständigen Landesregierung“, den Anspruch einer parlam entarischen Landesregierung nach Art. 17 Abs. 2 als ein G rundrecht, das Recht auf eigene Politik; er bestätigt die föderalistische K onstruktion einer unüberbrückbaren Kluft zwischen Landesregierung und Reichsregierung, indem er davon ausgeht, daß niemals von Reichs wegen eine Bundesregierung abgesetzt oder gar eingesetzt w erden könne. Er lut das alles nicht etw a auf G rund des klaren W ortlautes der W eim arer Verfassung, sondern nur unter dem Eindruck einer bestimm ten Verfassungstheorie und bundesstaatsrechtlichen Begriffs­ bildung, die nichts ist als das Endergebnis einer gegen den Reichsbegriff gerichteten Entwicklung des Staatsbegriffes und seines Verbündeten, eines föderalistischen Begriffs von Bund, der, verfassungsrechtlich gesehen, der eigentliche G arant der Staatlichkeit der Länder und der Nichtstaatlichkeit des Reiches gewesen ist. Das ist, in k u rzer Übersicht, die politische Bedeutung der Begriffe Reich, Staat, Bund und der jahrhundertlangen Begriffszerrerei um die Definitionen von Staatenbund und Bundesstaat. F ü r uns ist heute die entscheidende Frage: Wie verhalten sich die drei Begriffe zueinander? Und vor allem: Wie haben w ir uns in der gegenw ärtigen Situation zu ihnen zu verhalten? Jeder der drei Begriffe hat für uns Deutsche seine eigentümliche K raft und W irkung. Unsere Vorstellungen vom R e i c h w urzeln in einer tausend­ jährigen großen deutschen Geschichte, deren mythische K raft w ir alle fühlen. D arüber brauche ich hier nicht w eiter zu sprechen. Es gibt aber bei uns auch einen Staatsm ythus, und das W ort S t a a t hat ebenfalls eine außerordentliche, über eine bloß sachliche Gegenstandsbedeutung weit hinausgehende geschichtliche K raft und Tradition. Denn Preußen, der Typus eines vollendeten Staates, hat gerade auf G rund seiner spezifisch staatlichen Eigenschaften die K raft gehabt, die bundesstaatliche Einigung des Zweiten Reiches herbeizuführen. Das W ort „Staat“ erregt unser deut­ sches Gefühl, seitdem der große preußische König in der äußersten Ver­ zweiflung des Siebenjährigen Krieges, nach der Schlacht bei Kolin, erwog, „daß ein F ürst seinen Staat nicht überleben d arf“, und auf diese Weise in dem G edanken an seinen Staat den seelischen H alt und die R ettung vor dem Selbstmord fand. „Da erwachte meine Anhänglichkeit (attachement) an den Staat“, schreibt er im Septem ber 1757 in einem ergreifenden, für die Geschichte des Staatsbegrififs entscheidend wichtigen Brief an seine Schwester, die M arkgräfin von B ayreuth. Uber das Gefühlsmäßige hinaus haben dann W ort und Begriff des Staates eine Steigerung ins Metaphysische erhalten, besonders seitdem unsere letzte große Philosophie in der Staats­ philosophie Hegels gipfelt. W iederum anders, aber mit nicht geringerer Kraft ist dann schließlich auch das W ort B u n d ein T räger großer E rinne­ rungen und politischer Energien geworden. Von der m ittelalterlichen Ge­ schichte deutscher Städtebünde und R itterbünde und von Bünden aller A rt 13*

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bis zu den A usprägungen des B undesgedankens in den hündischen Bewe­ gungen unserer deutschen Jugend ist es lebendig. Selbst in der m ißbräuch­ lichen V erw ertung der Bezeichnung „V ölkerbund“ h at die offizielle, aber unrichtige deutsche Übersetzung der „Société des N ations“ dem traurigen G enfer G ebild für deutsche O hren doch noch einen idealistischen Klang verleihen können. Aus diesem G runde aber — w eil nämlich je d e r u n serer drei Begriffe für uns m ehr ist als ein abstraktes Gedankenschem a oder eine leere Form el — hat die deutsche Rechtswissenschaft, w enn sie ih re r politischen V erantw ortung und der W irklichkeit unserer gegenw ärtigen Lage bewußt bleiben will, immer darauf zu achten, w ie leicht es ist, den einen Begriff in gefährlicher Weise gegen den anderen auszuspielen. W ie oft hat sich in unserer deutschen Geschichte dieser M ißbrauch bis zur jüngsten Geschichte wiederholt! Sowohl die politisch-praktische W irkung und Tragw eite der Verwendung jedes einzelnen dieser drei Begriffe, w ie auch ih r gegen­ seitiges V erhältnis haben sich oft geändert. U nter dem tiefen Eindruck der E rfahrungen des unheilvollen Prozesses P reußen contra Reich vor dem Leipziger Staatsgerichtshof lag m ir daran, gerade das gefährliche Bündnis, das der Begriff „Staat“ in unserer Rechtsgeschichte m it dem Begriff „Bund“ eingegangen ist, in aller Schärfe herauszustellen. A uf diesem Bündnis von staatlichem und hündischem D enken b e ru h t die große politische G efahr eines Föderalism us, deren viele, die für das Reich und fü r den Bund und gegen den Staat sprechen, sich nicht recht bew ußt zu sein scheinen. Auch der Begriff „B undesstaat“ ist n u r ein heute längst ü b erh o lter Kom promiß­ begriff, der an dieser geschichtlichen H erk u n ft leidet. Ü ber die Verschieden­ heiten von Staatenbund und B undesstaat hinw eg ist es einer bestimm ten A rt föderalistischen Denkens gelungen, zu verhindern, daß das Reich ein w irklicher Staat w urde. Das ist das Entscheidende. Mit der verlockenden Begründung, daß „Reich“ etw as unendlich E rhabeneres und H öheres ist als „Staat“, sollte das Reich w e n i g e r sein und w eniger bleiben als ein Staat. Das ist die politische G efahr, von der ich sprechen w ollte. Diesem föderalistischen D enken ist es gelungen, das große Problem der nationalen Einigung Deutschlands imm er w ieder in die Zw angsjacke der F rage­ stellung: Staatenbund oder Bundesstaat? zu bringen. Diesem selben Föde­ ralism us ist es gelungen, dem Reich seinen in der heutigen Zeit selbst­ verständlichen Anspruch auf Staat und volle Staatlichkeit abzusprechen, obwohl es in der gegebenen geschichtlichen Lage und in der gegebenen politischen W irklichkeit unserer Zeit kein Reich ohne stark en Staat geben kann. Es ist diesem auf das „Reich“ sich berufenden Föderalisnpis gelungen, gleichzeitig dem Reich gegenüber die eigenständige Staatlichkeit der Einzel­ staaten und der L änder als ein W esensm erkm al des Bundesstaates auf Kosten einer sicheren, den Konfliktsfall entscheidenden Reichsgewalt durch­ zusetzen. Das meine ich, w enn ich sage, daß die Begriffe Staat und Bund sich in unserer Geschichte gegen den Begriff des Reiches verbündet haben. A lle die zahlreichen „bundesstaatsrechtlich“ k o n stru ierten Ansprüche,

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A nträge und A rgum entationen der L änder und Landtagsfraktionen im Prozeß vor dem Staatsgeriehtshof w ährend des H erbstes 1932 haben m ir die G efährlichkeit dieses Föderalism us enthüllt. D ie Versuche des bayerischen Föderalism us im letzten W inter gingen in der gleichen Richtung und suchten einen föderalistisch-bündisch verfälschten Begriff des Reichs zu benutzen, um den L ändern auf Kosten der Staatlichkeit des Reichs ihre eigene Staatlichkeit zu erhalten. D erartige Bem ühungen liegen trotz ih re r Verwendung des W ortes „Reich“ praktisch ganz in der Richtung einer Entwicklung, die seit 1923 auch im staatsrechtlichen D enken ausschlaggebend geworden ist. Sie haben in Deutschland zu einem Verfassungssystem geführt, das treffend als „Parteien­ bundesstaat“ gekennzeichnet w erden kann. Das Reich w ar demgegenüber in die D efensive gedrängt. Zur A ufrechterhaltung der notwendigsten poli­ tischen E inheit w ar es auf Ausnahm ebefugnisse, auf die Befugnisse des Reichspräsidenten nach A rt. 48 der W eim arer Verfassung angewiesen. Wie immer in unserer bisherigen Geschichte w ar es auch hier die-Verbindung der Begriffe von Staat und Bund, die dem Deutschen Reiche schädlich wurde, in Staatenbund, wie in Bundesstaat, in einem monarchisch-dynasti­ schen wie in einem parteienpluralistischen System. Zu Beginn unseres Jahres 1933 aber w ar das Ergebnis, daß Deutschland ein Gebilde ohne sichere politische F ührung gew orden w ar und immer noch an dem gefähr­ lichsten und innerlichsten Dualism us, dem von Reich und Preußen, krankte. Der Preußenschlag vom 20. Juli 1932, der die R egierung B raun—Severing beseitigte, h atte zw ar die Reichsregierung und die preußische Regierung in einer H and vereinigt, aber die V erbindung von Reich und Preußen nicht dauernd zu h alten vermocht. Erst der u n ter der politischen F ührung Adolf H itlers entstandene neue Staat der nationalen R evolution h at das jah rh u n d ertealte Problem durch das R eichsstatthaltergesetz vom 7. A pril 1933 gelöst. Die Reichsstatthalter sind U n terfü h rer des politischen F ü h rers Adolf H itler. Sie üben Landes­ gewalt im Nam en des Reiches aus. D er L änderparlam entarism us, die schlimme W urzel des Parteienbundesstaates, ist abgeschafft. Mit einem lapi­ daren Satz ist er ins H erz getroffen: „M ißtrauensbeschlüsse des Landtags gegen Vorsitzenden und M itglieder von Landesregierungen sind unzulässig.“ Auch das scheint uns heute schon überholt. So gründlich hat diese Lösung des großen Problem s den alten Gegensatz von Reich, Staat und Bund beseitigt. Sie ist kein bloßer glücklicher Handstreich, keine bloße Im provisation, sondern eine w ohldurchdachte konstruktive Lösung, die n u r im engsten Zusammenhang m it der G esam tkonstruktion der neuen E inheit steht. Diese ruht auf drei Säulen: dem staatlichen B ehördenapparat, der staatstragen­ den Parteiorganisation und einer ständischen Sozialordnung. Eine k ra ft­ volle politische Führung, die aus der staatstragenden P artei hervorgeht, bringt die m annigfaltigsten Teile und O rganisationen in ihr richtiges V er­ hältnis. D ie anonym e und getarnte A rt der politischen M achtausübung des früheren Parteienbundesstaats ist überw unden. Politische V erantw ortung

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und politische Ehrlichkeit sind jetzt w ieder möglich, nachdem sie im System des liberalen Verfassungsstaates sinnlos und unmöglich geworden waren. Unsere Vorlesung hat den Versuch gemacht, eine jah rhundertalte Problem atik an der Hand von drei Begriffen in einer kurzen Stunde dar­ zulegen. Wenn die gegenseitigen Beziehungen von drei Begriffen erörtert werden, muß notwendigerweise eine oberflächliche und leere Begriffs­ spielerei entstehen, wenn es eben nu r leere und ab strak te Begriffe werden, die in solcher Weise m iteinander verbunden oder einander entgegengesetzt werden. A ber die Begriffe von Reich, Staat und Bund sind auch als Begriffe ein Teil der gewaltigen politischen W irklichkeit, von denen sie sprechen. Sie sind keine nominalistischen Etiketten, keine norm ativistischen F ik­ tionen, keine bloß suggestiven Schlagworte. Sie sind unm ittelbare Träger politischer Energien, und es gehört zu ih re r realen K raft, daß sie einer überzeugenden juristischen Begriffsbildung fähig sind. D aher ist auch der Kampf um sie kein Streit um leere W orte, sondern ein Krieg von ungeheurer W irklichkeit und G egenw art. Es ist Sadie der W issensdiaft, diese W irklichkeit sachlich zu erkennen und m it sicherem Auge zu sehen. E rfüllt sie ihre Pflicht zur wissenschaftlichen W ahrheit, so gilt auch für den wissenschaftlichen Kampf, was H erak lit vom Krieg gesagt hat: daß er der Vater und König von allem ist. D ann gilt aber auch die w eniger häufig zitierte, aber nicht w eniger bedeutungsvolle Fortsetzung jenes viel zitierten Satzes vom K rieg als dem V ater aller Dinge. D ann wird dieser wissenschaftliche Kampf seine innere W ahrheit und Gerechtigkeit in sich haben und etwas bew irken, was auf andre W eise m it menschlichen M itteln nidit zu bew irken ist. D ann nämlich erw eist er, wie H eraklit fort­ fährt: die einen als G ötter, die andern als Menschen, die einen macht er zu Freien, die andern zu Sklaven. Das ist der höchste R uhm auch unsrer Wissenschaft. Sie macht uns frei, w enn w ir den Kam pf bestehen. Diese F reiheit ist keine fiktive F reiheit von Sklaven, die in ihren K etten räso­ nieren, es ist die F reiheit politisch freier M änner und eines freien Volkes. Es gibt keine freie W issensdiaft in einem von Frem den beherrschten Volk und keinen wissenschaftlichen Kam pf ohne diese politische Freiheit. Bleiben w ir uns also auch hier bew ußt, daß w ir in der unm ittelbaren G egenw art des politischen, das heißt des intensiven Lebens stehen! Setzen w ir alles daran, den großen Kam pf auch wissenschaftlich zu bestehen, damit w ir nicht zu Sklaven w erden, sondern zu freien Deutschen.

23- Der Führer schützt das Recht (1934) Z u r R e ic h sta g s re d e A d o lf H itle rs v o m 13. J ul i 1934 I. Auf dem Deutschen Juristentag in Leipzig, am 3. O ktober 1933, hat der F ührer über Staat und Recht gesprochen. E r zeigte den Gegensatz eines substanzhaften, von Sittlichkeit und G erechtigkeit nicht abgetrennten Rechts zu der leeren Gesetzlichkeit einer unw ahren N eutralität und ent­ wickelte die inneren W idersprüche des W eim arer Systems, das sich in dieser neutralen L egalität selbst zerstörte und seinen eigenen Feinden auslieferte. D aran schloß er den Satz: „Das muß uns eine W arnung sein.“ In seiner an das ganze deutsche Volk gerichteten Reichstagsrede vom 13. Juli 1934 h at der F ü h re r an eine andere geschichtliche W arnung e r­ innert. Das starke, von Bismarck gegründete Deutsche Reich ist w ährend des W eltkriegs zusammengebrochen, weil es im entscheidenden Augen­ blick nicht die K raft hatte, „von seinen K riegsartikeln Gebrauch zu machen“. Durch die D enkw eise eines liberalen „R editsstaats“ gelähmt, fand eine politisch instinktlose Z ivilbürokratie nicht den Mut, M euterer und Staatsfeinde nach verdientem Recht zu behandeln. W er heute im Band 310 der Reichstagsdrucksachen den Bericht über die öffentliche Voll­ sitzung vom 9. O ktober 1917 liest, w ird erschüttert sein und die W arnung des F ü h rers verstehen. Die M itteilung der dam aligen Reichsregierung, daß R ädelsführer der m euternden M atrosen mit Reichstagsabgeordneten der U nabhängigen Sozialistischen P artei verhandelt hatten, beantw ortete der Deutsche Reichstag in lau te r E ntrüstung damit, daß man einer P artei ihr verfassungsm äßiges R edit, im H eere Propaganda zu treiben, nicht v er­ kürzen dürfe und daß schlüssige Beweise des H ochverrates fehlten. Nun, diese schlüssigen Beweise haben uns die U nabhängigen Sozialisten ein Jahr später ins Gesicht gespien. In beispielloser T apferkeit und unter furcht­ baren O pfern h at das deutsche Volk vier Jah re lang einer ganzen W elt standgehalten. A ber seine politische F ührung h at im Kampfe gegen die V olksvergiftung und die U ntergrabung des deutschen Rechts und E hr­ gefühls auf eine tra u rig e W eise versagt. Bis zum heutigen Tage büßen w ir die Hem m ungen und Lähm ungen der deutschen R egierungen des W eltkrieges. Alle sittlidie Em pörung über die Schande eines solchen Zusammenbruchs hat sich in Adolf H itler angesam m elt und ist in ihm zur treibenden K raft einer politischen T at geworden. Alle E rfahrungen und W arnungen der Geschichte des deutschen Unglücks sind in ihm lebendig. Die m eisten fürchten sich vor der H ä rte solcher W arnungen und flüchten lieber in eine

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ausweichende und ausgleichende Oberflächlichkeit. D er F ü h re r aber macht Ernst mit den W arnungen der deutschen Geschichte. D as gibt ihm das Recht und die K raft, einen neuen Staat und eine neue O rdnung zu begründen. II. D er F ührer schützt das Recht vor dem schlimmsten Mißbrauch, wenn er im Augenblick der G efahr k ra ft seines F ührertum s als oberster Gerichtsher unm ittelbar Recht schafft. „In dieser Stunde w ar ich verantw ortlich für das Schicksal der deutschen N ation und dam it des deutschen Volkes oberster G erichtsherr.“ D er w ahre F ü h re r ist im m er auch Richter. Aus dem Führertum fließt das Richtertum . W er beides voneinander trennen oder gar entgegensetzen will, m acht den R ichter entw eder zum Gegen­ fü h rer oder zum W erkzeug eines G egenführers und sucht den Staat mit Hilfe der Justiz aus den Angeln zu heben. Das ist eine oft erprobte Methode nicht n u r der Staats-, sondern auch der Rechtszerstörung. F ü r die Rechts­ blindheit des liberalen Gesetzesdenkens w ar es kennzeichnend, daß man aus dem Strafrecht den großen F reibrief, die „M agna C h a rta des Ver­ brechers“ (Fr. von Liszt) zu machen suchte. Das Verfassungsrecht m ußte dann in gleicher Weise zur Magna C h arta der Hoch- und L andesverräter werden. Die Justiz verw andelt sich dadurch in einen Zurechnungsbetrieb, auf dessen von ihm voraussehbares und von ihm berechenbares Funktionieren der Verbrecher ein w ohlerw orbenes subjektives Recht hat. Staat und Volk aber sind in einer angeblich lückenlosen L egalität restlos gefesselt. F ür den äußersten Notfall w erden ihm vielleicht un ter der H and apokryphe Notausgänge zugebilligt, die von einigen liberalen R echtslehrern nach Lage der Sache anerkannt, von anderen im Nam en des Rechtsstaates verneint und als „juristisch nicht vorhanden“ angesehen w erden. Mit dieser A rt von Jurisprudenz ist das W ort des F ührers, daß er als „des Volkes oberster G erichtsherr“ gehandelt habe, allerdings nicht zu begreifen. Sie kann die richterliche Tat des Führers nu r in eine nachträglich zu legalisierende und indem nitätsbedürftige M aßnahme des Belagerungszustandes um deuten. Ein fundam entaler Satz unseres gegenw ärtigen Verfassungsrechts, der G rund­ satz des Vorranges der politischen F ührung, w ird dadurch in eine juristisch belanglose Floskel und der D ank, den der Reichstag im Nam en des deut­ schen Volkes dem F ü h rer ausgésprochen hat, in eine Indem nität oder gar einen Freispruch verdreht. In W ahrheit w ar die Tat des F ü h rers echte G erichtsbarkeit. Sie u n ter­ steht nicht der Justiz, sondern w ar selbst höchste Justiz. Es w ar nicht die Aktion eines republikanischen D iktators, der in einem rechtsleeren Raum, w ährend das Gesetz für einen Augenblick die Augen schließt, vollendete Tatsachen schafft, damit dann, auf dem so geschaffenen Boden der neuen Tatsachen, die Fiktionen der lückenlosen Legalität w ieder P litz greifen können. Das Richtertum des F ü h rers entspringt derselben Rechtsquelle, der alles Recht jedes \ olkes entspringt. In der höchsten Not bew ährt sich das höchste Recht und erscheint der höchste G rad richterlich rächender Verwirklichung dieses Rechts. Alles Recht stam mt aus dem Lebensrecht des Volkes. Jedes staatliche Gesetz, jedes richterliche U rteil enthält nu r

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so viel Recht, als ihm aus dieser Q uelle zufließt. Das übrige ist kein Recht, sondern ein „positives Zwangsnormengeflecht'*, dessen ein geschickter Ver­ brecher spottet. III. In scharfer Entgegensetzung hat der F ü h re r den Unterschied seiner Regierung und seines Staates gegen den Staat und die Regierungen des W eim arer Systems betont: „Ich w ollte nicht das junge Reich dem Schicksal des alten ausliefern.“ „Am 30. Jan u ar 1933 ist nicht zum soundso vielten Male eine neue R egierung gebildet worden, sondern ein neues Regiment hat ein altes und k rankes Zeitalter beseitigt.“ W enn der F ü h rer mit solchen W orten die L iquidierung eines trüben Abschnittes der deutschen Geschichte fordert, so ist das auch für unser Rechtsdenken, für Rechtspraxis und Gesetzesauslegung, von juristischer Tragw eite. W ir haben unsere bis­ herigen M ethoden und G edankengänge, die bisher herrschenden L ehr­ meinungen und die Vorentscheidungen der höchsten Gerichte auf allen Rechtsgebieten neu zu prüfen. W ir dürfen uns nicht blindlings an die ju ri­ stischen Begriffe, A rgum ente und P räjudizien halten, die ein altes und krankes Z eitalter hervorgebracht hat. Mancher Satz in den Entscheidungs­ gründen unserer Gerichte ist freilich aus einem berechtigten W iderstand gegen die K orruptheit des dam aligen Systems zu verstehen; aber auch das würde, gedankenlos w eitergeführt, heute das Gegenteil bedeuten und die Justiz zum Feind des heutigen Staates machen. W enn das Reichsgericht im Juni 1932 (RGSt. 66, S. 386) den Sinn der richterlichen Unabhängigkeit darin sah, „den Staatsbürger in seinen gesetzlich anerkannten Rechten gegen mögliche W illkür einer ihm abgeneigten R egierung zu schützen“, so w ar das aus einer liberal-individualistischen H altung gesprochen. „Das Richtertum w ird hineingedacht in eine Frontstellung nicht nu r gegenüber dem Staatsoberhaupt und der Regierung, sondern auch gegenüber den V er­ w altungsorganen ü b erh au p t1.“ Das ist aus jen er Zeit heraus begreiflich. Heute aber obliegt uns die Pflicht, den neuen Sinngehalt aller öffentlichrechtlichen Einrichtungen, auch der Justiz, m it größter Entschiedenheit durchzusetzen. Am Ende des 18. Jah rh u n d erts hat der alte H äberlin die Frage des Staatsnotrechts m it der F rage der Abgrenzung von Justizsachen und Regierungssachen in V erbindung gebracht und gelehrt, bei G efahr oder großem Schaden für den Staat könne die R egierung jede Justizsache zur Regierungssache erklären. Im 19. Ja h rh u n d ert h at Dufour, einer der V äter des französischen V erwaltungsrechts, den jed e r gerichtlichen Nachprüfung entzogenen R egierungsakt (acte de gouvernem ent) dahin definiert, daß sein Ziel die V erteidigung der Gesellschaft, und zw ar die V erteidigung gegen innere und äußere, offene oder versteckte, gegenw ärtige oder künftige Feinde sei. W as m an auch imm er von solchen Bestimmungen halten mag, sie weisen jedenfalls auf eine juristisch wesentliche Besonderheit der poli­ tischen „R egierungsakte“ hin, die sich sogar in liberalen Rechtsstaaten 1 Vgl. die soeben erschienene neue Schrift von H. Henkel, Die Unabhängigkeit des Richters in ihrem neuen Sinngehalt, Hamburg 1934, S. 10 f.

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rechtliche A nerkennung verschafft hat. In einem F ü h re rstaa t aber, in dem Gesetzgebung, Regierung und Justiz sich nicht, wie in einem liberalen Rechtsstaat, gegenseitig mißtrauisch kontro llieren 1, muß das, was sonst für einen „R egierungsakt“ Rechtens ist, in unvergleichlich höherem Maße für eine T at gelten, durch die der F ü h re r sein höchstes F ü hrertum und Richtertum bew ährt hat. Inhalt und Umfang seines Vorgehens bestim m t d e rF ü h re r selbst. Daß seit Sonntag,dem 1. Juli, nachts, der Zustand „norm aler Justiz“ w iederhergestellt ist, hat die Rede nochmals sichergestellt. Das Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotw ehr vom 3. Juli 1934 (RGBl. I, S. 529) bezeichnet in der Form eines Regierungsgesetzes den zeitlichen und sachlichen Umfang des unm ittelbaren Führerhandelns. A ußerhalb oder innerhalb des zeitlichen Bereiches der drei Tage fallende, mit der F ührerh an d lu n g in keinem Zu­ sammenhang stehende, vom F ü h re r nicht erm ächtigte „Sonderaktionen“ sind um so schlimmeres Unrecht, je höher und reiner das Recht des Führers ist. Nach den E rklärungen des preußischen M inisterpräsidenten Göring vom 12. Juli und des Reichsjustizm inisters G ü rtn er vom 20. Juli 1934123ist eine besonders strenge Strafverfolgung solchen unzulässigen Sondervor­ gehens angeordnet. Daß die A bgrenzung erm ächtigten und nichtermächtig^ ten H andelns im Zweifelsfalle nicht Sadie der Gerichte sein kann, dürfte sich nach den vorigen A ndeutungen über die B esonderheit von Regierungs­ a k t und F ührerhandlung von selbst verstehen. IV. Innerhalb des Gesamtbereiches je n e r drei Tage tre ten diejenigen richterlichen H andlungen des F ü h rers besonders vor, durch die er als F ü h rer der Bewegung den besonderen, gegen ihn als den höchsten poli­ tischen F ü h re r der Bewegung begangenen T reubruch seiner U nterführer gesühnt hat. D er F ü h re r der Bewegung h at als solcher eine richterliche Aufgabe, deren inneres Recht von keinem anderen verw irklicht werden kann. Daß es in unserem Staate n u r einen T räg er des politischen W illens gibt, die Nationalsozialistische P artei, hat der F ü h re r in seiner Reichstags­ rede ausdrücklich hervorgehoben. Zu einem Gem einw esen aber, das in solcher Weise in Staat, Bewegung, Volk gegliedert und geordnet ist, gehört auch das eigene innere Recht derjenigen staatstragenden Lebens- und G em einschaftsordnungen, die in einer besonderen W eise auf die eidlich beschworene T reue zum F ü h rer begründet sind. D aran, daß die Partei ihre Aufgabe erfüllt, hängt heute nicht w eniger als das Schicksal der poli­ tischen Einheit des deutschen Volkes selbst. „Diese gew altige Aufgabe, in der sich auch die ganze G efahr des Politischen anhäuft, kann keine andere Stelle, am wenigsten ein justizförm ig prozedierendes bürgerliches Gericht der P artei oder der SA. abnehmen. H ier steht sie ganz auf sich selbst8.“ 1 Vgl. den Aufsatz von E. R. Huber, Die Einheit der Staatsgewalt, unten S. 950 dieses Heftes. 2 „Völkischer Beobachter“ vom 13. Juli und vom 2 2 .123 . Juli 1934 und „Deutsche Justiz“ S. 925; vgl. auch die Rundschau unten S. 983. 3 Staat, Bewegung, Volk. Hamburg 1933, S. 22.

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Hier ist deshalb der politische F ü h rer infolge der besonderen Qualifikation des Verbrechens noch in einer spezifischen Weise zum höchsten Richter geworden. V. Im m er w ieder erin n ert der F ü h re r an den Zusammenbruch des Jahres 1918. Von dort aus bestimm t sidi unsere heutige Lage. W er die ernsten Vorgänge des 30. Juni richtig beurteilen will, darf die Ereignisse dieses und der beiden folgenden Tage nicht, aus dem Zusammenhang unserer politischen Gesam tlage herausnehm en und nach der A rt bestimm ter strafprozessualer M ethoden so lange isolieren und abkapseln, bis ihnen die politische Substanz ausgetrieben und nur noch eine „rein juristische Tatbestands“- oder „N icht-Tatbestandsm äßigkeit“ übriggeblieben ist. Mit solchen M ethoden kann man keinem hochpolitischen Vorgang gerecht werden. Es gehört aber zur V olksvergiftung der letzten Jahrzehnte und ist ein seit langem geübter Kunstgriff deutschfeindlicher Propaganda, gerade dieses Isolierverfahren als allein „rechtsstaatlich“ hinzustellen. Im Herbst 1917 haben alle in ihrem Rechtsdenken verw irrten deutschen P arla­ m entarier, und zw ar K apitalisten wie Kommunisten, K lerikale wie Athe­ isten, in m erkw ürdiger Einm ütigkeit verlangt, daß man das politische Schicksal Deutschlands solchen prozessualen Fiktionen und V erzerrungen ausliefere, und eine geistig hilflose B ürokratie hat damals den politischen Sinn je n e r „juristischen“ Forderungen nicht einmal gefühlsmäßig emp­ funden. G egenüber der T at Adolf H itlers w erden manche Feinde Deutsch­ lands mit ähnlichen F orderungen kommen. Sie w erden es unerhört finden, daß der heutige deutsche Staat die K raft und den W illen hat, Freund und Feind zu unterscheiden. Sie w erden uns das Lob und den Beifall der ganzen Welt versprechen, w enn w ir w iederum , wie damals im Jahre 1919, nieder­ fallen und unsere politische Existenz den Götzen des Liberalism us opfern. Wer den gew altigen H intergrund unserer politischen Gesamtlage sieht, w ird die M ahnungen und W arnungen des F ührers verstehen und sich zu dem großen geistigen Kam pfe rüsten, in dem w ir unser gutes Recht zu w ahren haben.

24· Über die innere Logik der Allgemeinpakte auf gegenseitigen Beistand (1935) I. Beginnend mit den A rbeiten der im F e b ru ar 1921 eingerichteten Genfer „Commission tem poraire m ixte“, insbesondere seit den P länen und Ent­ w ürfen, die sich m it den Nam en L ord R obert Cecil und O berst Requin verbinden, läßt sich, über das G enfer Protokoll zur friedlichen Beilegung von S taatenstreitigkeiten vom 2. O ktober 1924 bis zu den O stpaktplänen der letzten Zeit, eine fortlaufende Reihe bestim m tgearteter Paktversuche feststellen, die der YB.-Satzung, nam entlich deren Art. 10 und 16, größere E ffektivität geben sollen und deren typisches Kennzeichen eine allgemeine Verpflichtung zu gegenseitigem Beistand (assistance m utuelle) ist. Es handelt sich dabei um eine M ethode der Friedenssicherung, die sich im Gegensatz zu einer m ehr „politischen“ Methode, als besonders „juristisch“ und für eine bestimm te Auffassung von Recht und Gerechtigkeit, infolge­ dessen auch besonders „rechtlich“ und daher friedlich ausnim mt. Deshalb ist es nützlich, sich einm al auf die innere juristische Logik d erartig er Pakte zu besinnen und sie nach ihrem typischen Inhalt zu durchdenken, unabhän­ gig davon, welche aktuelle B edeutung ihnen im Augenblick gerade zukommt. Alle Bündnisse alten Stils, mögen sie aggressiv oder defensiv gewesen sein, w aren natürlich ebenfalls V erträge auf gegenseitigen Beistand. Aber die Allgem ein- oder G eneralpakte auf gegenseitigen B eistand sollen gerade keine Bündnisse sein, weil m an sonst w ieder in die perhorreszierte Methode der P olitik zurückfiele, die 1914 zum W eltkrieg geführt hat. W orin liegt also die Verschiedenheit und auf G rund welcher spezifischen Merkmale darf m an behaupten, daß derartige B eistandspakte w irklich keine Bünd­ nisse sind? Auf G rund des „allgem einen“ C h a ra k te rs solcher Pakte. Bei einem Allgemein- oder G eneralpakt auf gegenseitigen Beistand ver­ sprechen sich viele verschiedenartige, benachbarte und entfernte, starke und schwache Staaten gegenseitig Beistand und Hilfe, ohne daß ein in sich geschlossener Kreis von Staaten gebildet w ird und ohne daß ein be­ stim m ter präsum tiver Feind ins Auge gefaßt oder gar genannt wäre. N ur diese beiden Momente, Offenheit, das heißt eine größere, nicht ge­ schlossene Zahl verschiedenartiger V ertragspartner und das Fehlen eines bestim m ten mutmaßlichen Gegners, gegen den der Beistand geleistet w erden soll, begründen den „allgem einen“ C h a ra k te r dieser Beistands­ verträge. Das verlangt der auf die V erm eidung eines Bündnisses gerichtete Typus solcher Pakte. D araus ergeben sich nun die W idersprüche und

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Antinomien, die den G edanken soldier G eneralbeistandspakte in sidi selbst zerstören. II. W enn der A llgem einpakt w irklich gegenseitig sein soll, muß vor allen Dingen audi der Beistand, den die V ertragspartner sidi versprochen haben, in einem echten und vollen Sinne gegenseitig und reziprok sein. Eine solche A rt éditer G egenseitigkeit und R eziprozität können sich aber n u r solche Staaten gegenseitig versprechen und leisten, deren Gewicht und S tärke nicht allzu verschieden ist. D er Beistand, den eine W eltmacht einem kleinen und schwachen Lande leistet, ist nicht n u r quantitativ, sondern auch qualitativ etw as anderes als die um gekehrte „U nterstützung“, den ein kleiner, vom Sdiauplatz der A ktion entfernter R andstaat einem Im perium leisten kann. D as W ort „Beistand“ oder „U nterstützung“ zu einem All­ gemeinbegriff zu machen, und „Beistand gleich Beistand“ zu setzen, ähnlich wie man w ährend der Inflation „M ark gleich M ark“ erk lärte, ist allerdings typisch fü r einen abstrak ten N orm ativism us und dessen Allgemeinbegriff; es ist aber w eder praktisch noch theoretisch, w eder politisch noch juristisch sinnvoll. D ie G egenseitigkeit hört auf, sowohl w enn der Schwache zugunsten des S tarken belastet w ird, w ie um gekehrt auch dann, w enn der Schwache das Recht bekomm en soll, die stärk ere Macht in den D ienst seiner Politik zu stellen. Eine schwere Belastung des Schwachen k ann vor allem darin liegen, daß der . Starke einseitig von sich aus über die Voraus­ setzungen und den Inhalt der Beistandspflicht entscheidet, weil dann der Starke seinen Schutz oder Beistand oktroyieren und den Schwächeren seinem Schutz und dam it seiner Schutzherrschaft unterw erfen kann. Aus einem K ollektivpakt zu gegenseitigem Beistand w ird bei allzu großer Verschiedenheit des politischen Gewichts der V ertragsstaaten ein P rotek­ toratsvertrag auf Schutz und Gehorsam . D er „allgem eine“, alle verschieden­ artigen V ertrag sp artn er gleichmäßig um fassende P ak t zerfällt dann in zwei Teile: den V ertrag der S tärkeren untereinander, der auf echter Gegen­ seitigkeit beruhen kann, und den V ertrag der S tarken mit den Schwächeren, der kein „G egenseitigkeits“-, sondern ein Schutz- und U nterw erfungs­ vertrag ist. Das ist unverm eidlich und keineswegs imm er ungerecht, aber es hebt den G rundgedanken der G eneralpakte auf gegenseitigen Beistand unweigerlich auf. D eshalb bestätigen*auch alle geschichtlichen E rfahrungen, daß bei größeren G esam taktionen ein lebhafter, schließlich sogar zu neuem Krieg oder G ew alttaten führender Streit darüber entsteht, wie die Leistung der verschiedenen Staaten zu bew erten ist. Man braucht sich nur die Mög­ lichkeit des „Sonderfriedens“ deutlich zu machen, um diese Problem atik zu erkennen. Es kom mt hinzu, daß die E inw irkung einer jeden Beistands­ leistung auf die politische G esam tlage diese fortw ährend verändert. W ürde eine Macht wie Frankreich und England mit voller m ilitärischer Hilfe, zu Lande, zu W asser und in der Luft, einem Staat wie Estland gegen einen wirklichen oder angeblichen Angriff der Sow jetunion beistehen, so w äre

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es kindisch, zu verlangen, daß das angegriffene Estland nun im „juristi­ schen“ Sinne als der „Geschäftsherr“ einer solchen politischen und mili­ tärischen Gesam taktion zu betrachten sei und als soldier bestimmen dürfe, unter welchen Bedingungen er sidi m it dem A ngreifer einigt und die englisdie und französische Armee nach H ause schickt, weil er sich nicht m ehr angegriffen oder bedroht fühlt. Es ist gar nidit möglich, den sdiw adien StaaL einseitig von sich aus über die Voraussetzungen, Inhalt und politisches Gewicht der Beistandsleistung entscheiden zu lassen. Es widerspricht aber ebenso dem Sinn eines „allgem einen“ auf Gleichheit und Gegenseitigkeit beruhenden, von einem Bündnis oder P rotektorat ver­ schiedenen Beistandsvertrages, die Starken allein entscheiden zu lassen. Das ist die erste auffälligste Antinomie, an der der G edanke allgemeiner B eistandsverträge scheitert.

III. Die Frage: W er entscheidet? das ewige und leidige: Q u i s j u d i c a b i t ? bleibt der Prüfstein aller solcher V erträge. Auch vor dieser F rage führt das System der A llgem einpakte zu inneren W idersprüchen, an denen es scheitert, weil es ihm nicht gelingt, gegenüber einem gewöhnlichen Bünd­ nissystem seinen spezifischen Sinn zu bew ahren. Man kann versuchen, die Frage: W er entscheidet? zu um gehen und den Kopf in den Sand eines reinen Norm ativism us zu stecken, indem man eine „automatische“ Bestimmung anstrebt, das heißt eine A rt Selbstanwendung einer vorher getroffenen Norm ierung. Das ist der Sinn aller Bemühungen um eine tatbestandsm äßige Umschreibung und „Definition“ des Angriffs und des Angreifers. Ihre prim itivsten Beispiele lauten etw a: A ngreifer ist, w er den Krieg e rk lärt; A ngreifer ist, w er die G renzen überschreitet usw.; ihren H öhepunkt stellen die bekannten, von Politis form ulierten Defi­ nitionen dar, die von der Sow jetunion 1933 so eifrig aufgegriffen wurden. Eine solche Methode entspricht der Logik eines folgerichtigen, norma­ tiv7]’st ischcn Denkens: nicht konkrete Menschen oder Mächte sollen die ent­ scheidende Frage beantw orten, sondern eine vorher getroffene generelle unpersönliche Norm soll sich selbst anwenden. Im Strafrecht des letzten Jahrhunderts hat eine ähnliche Denkw eise ihre vollkom menste Durch­ bildung erfahren. D aher führt diese Methode dazu, das Völkerrecht, oder wenigstens das „K riegsverhütungsrecht“ in eine A rt Strafrecht zu ver­ wandeln. Und wie für diese A rt Strafrecht der Satz: nullum crimen sine lege logisch zwingend ist, so w ürde für jenes K riegsverhütungsrecht der automatischen Definitionen der Satz: nulla aggressio sine lego ebenso folge­ richtig sein. A ngreifer w äre also nur, w er den T atbestand des Angriffs erfüllt, und A ngreifer w äre nicht, wem es gelingt, die genau umschriebenen Tatbestände des Angriffs zu umgehen. Die „k alte“ Abdrosselung eines sdiw adien Staates durch einen starken w äre kein „Angriff“, w ährend die Zuckungen des getretenen W urm es sehr leicht die A utom atik der Angriffs­ definitionen, eine ganze Beistandslaw ine in Bewegung setzten. Ebenso wie

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jenes norm ati vistische Strafrechtsdenken das Strafgesetzbuch zu einer „Magna C h a rta “ des Verbrechers machen muß, verw andeln solche Angriffs­ definitionen das Völkerrecht in eine Magna C harta der böswilligen und raffinierten Staaten. Diese A rt juristischen Denkens muß im Völkerrecht eben dorthin führen, wohin sie auch im Strafrecht geführt hat, nämlich zu einer A useinanderreißung des konkreten Vorgangs in die getrennten Sub7 sumtionen unter die getrennten Begriffe von Schuld, Rechtswidrigkeit und Tatbestandsm äßigkeit. G erade das ist aber im Völkerrecht nicht möglich. Man kann hier nicht Schuld, Rechtsw idrigkeit und Tatbestandsm äßigkeit als drei selbständige „Elem ente“ unterscheiden. Selbst für einen scheinbar so einfachen T atbestand wie „Überschreitung der G renze“ w ird man stets einen \ 7orbehalt zugunsten einer rechtmäßigen Überschreitung der Grenze machen und drfmit steckt man bereits tief in der allgemeinen Problem atik des Völkerrechts. Versagt also diese autom atische Methode, so bleibt nur übrig, entw eder jeden einzelnen Staat für sich entscheiden zu lassen, oder aber die Entschei­ dung der G esam theit der Verpflichteten in irgendeiner Weise zu über­ tragen. W enn nun jed e r einzelne für sich selbst entscheidet, wann, wie und was er zu leisten hat, so gibt es natürlich n u r ein Recht, aber keine Pflicht zum gegenseitigen Beistand. D ann sucht sich jed e r Staat die Kriege oder Sanktionen aus, die er vornim m t oder an denen er sich beteiligt. Besteht aber eine Pflicht zum Beistand, so muß jed e r von jedem die Erfüllung dieser Pflicht verlangen können und die V erw eigerung der Beistands­ leistung ist dann eine V ertragsverletzung, die einer Sanktion bedarf. Diese Möglichkeit der V erletzung der Sanktionspflicht fü h rt in das unlösbare Problem der „Sanktion der Sanktion“, über das die interessante A bhand­ lung von J. M. Spaight, „Pseudo-Security“ besonders treffende Bem er­ kungen enthält. Soll aber eine K ollektiventscheidung über Voraussetzung und Inhalt der Leistung getroffen w erden, die eine echte Gesamtentscheidung, also nicht nur ein „E invernehm en“ oder eine „K onsultation“ ist, so erhebt sich die Frage, ob ein einstim m iger Beschluß aller V ertragspartner erforderlich ist, oder ob die B eteiligten irgendw ie einem einstim migen Beschluß der Nichtbeteiligten, oder ob sie endlich gar einem M ehrheitsbeschluß der Nicht­ beteiligten unterw orfen w erden sollen. W as das Erfordernis der Zustim­ mung alle r V ertragspartner u n ter Einschluß der beteiligten Staaten, das heißt der A ngreifer und Angegriffenen bedeutet, braucht nicht n äher aus­ geführt zu w erden, das hieße einfach einen neuen V ertrag fü r notwendig erk lären und dam it den bisherigen V ertrag zur bloßen V orbereitung des neuen V ertrages juristisch zu degradieren, w enn nicht zu annullieren. In dem anderen F alle aber, w enn die Beteiligten überstim m t w erden können, entsteht der innere W iderspruch, daß über die Frage, ob jem and angegriffen ist und sein Recht der Selbstverteidigung ausüben darf, ein anderer als der Angegriffene und der Inhaber des Selbstverteidigungs­ rechtes entscheidet; das w äre m it anderen W orten die juristische Beseiti-

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gang des Selbstverteidigungsrechts — eine ganz untragbare, aber in diesem Falle wiederum logisdbt unverm eidliche Konsequenz derartiger all­ gemeiner Beistandspakte. IV. D er tiefste und tödlichste Selbstwiderspruch dieses Paktsystem s enthüllt sich schließlich dann, wenn man die Frage nach dem mutmaßlichen Gegner stellt. Irgendein Gegner ist natürlich immer vorausgesetzt, sonst brauchte man sich keinen gegenseitigen Beistand zu versprechen; der Beistand soll doch nicht gegen N aturgew alten, sondern gegen einen „A ngreifer“ geleistet werden. Steht der A ngreifer außerhalb des gemeinsamen Paktsystem s, so ist dieses von irgendeinem Bündnissystem auf keine W eise zu unter­ scheiden. Rechnet man aber m it der Möglichkeit, daß es auch innerhalb der vertragsschließenden Gemeinschaft zu Angriffen und der zur Abwehr solcher Angriffe notwendigen gegenseitigen Beistandsleistung kommen kann, so bedeutet ein derartiger V ertrag nichts anderes, als daß jeder V ertragsstaat davon ausgehen und dam it rechnen muß, daß jed er andere V ertragsstaat sowohl sein potentieller A ngreifer und Feind als auch sein potentieller Bundesgenosse ist. Und er muß nicht n u r m it dieser all­ gemeinen Möglichkeit rechnen, sondern sich auf diesen Fall, wenn er vertragsm äßig k o rrek t handeln will, auch vorbereiten. H ier w ird die A bsurdität d erartiger A llgem einverträge handgreiflich. Ein sinnvolles Zusammenleben der Völker ist auf einer solchen G rundlage überhaupt nicht denkbar. V. Die Antinomien dieses Paktsystem s sind unbestreitbar, und es handelt sich bei ihnen nicht um abstrakte logische Spielereien, sondern um die konkrete A usw irkung eines in sich widerspruchsvollen V ertragsinhalts. G erade diese Methode der Friedenssicherung, die sich so viel auf ihren juristischen C h arak ter zugute tut, ist nicht im stande die juristischen W ider­ sprüche, zu denen sie führt, aus sich selbst heraus zu überw inden. Die Antinomien könnten nur in einem echten Bunde überbrückt werden, der auf Homogenität, aus dieser H om ogenität ihren Sinn entnehm enden G aran­ tien und einem substanzhaften, nicht n u r legalistisch - formalistischen Rechtsbegriff begründet wäre. Ein Bund ist kein Norm ensystem , sondern eine konkrete Gemeinschaft k o nkreter Staaten. Diesen Problem en des Bundes ist die bisher übliche V ölkerrechtslehre aus dem Wege gegangen. Aber die konkrete Lage Europas zwingt zu einer Besinnung nicht nur auf die Zweckmäßigkeit, sondern auch auf die juristische Richtigkeit der bis­ herigen Denkweise. Schließlich enden alle A llgem einpakte auf gegen­ seitigen Beistand in der Sackgasse eines einfachen Dilem mas: entw eder Bund oder Bündnis. Kein menschlicher Scharfsinn, keine normativistische Verschleierung vermag diesen toten Punkt, den die innere Logik der G eneralpakte fortw ährend herbeiführt, praktisch oder auch n u r theoretisch

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zu überw inden; keine noch so „allgem eine“ Umschreibung kann diesen K ernpunkt um gehen, ohne den V ertrag selbst juristisch inhaltlos zu machen. D er Ausweg liegt nicht in neuen, noch kom plizierteren oder noch allgem eineren N orm ierungen und Begriffen, sondern in der Besinnung auf die kon krete O rdnung und die Gemeinschaft bildenden K räfte der euro­ päischen Völker und Nationen.

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25. Die siebente Wandlung des Genfer Völkerbundes

(1 9 3 6 ) Eine völkerrechtliche Folge der Vernichtung Abessiniens I. Als Preußen im Jahre 1866 auf G rund einer „debellatio" die Staaten H annover, Kurhessen, Nassau und die F reie Stadt F ra n k fu rt annektierte, bestand der Deutsche Bund, dem der A nnektierende wie die Annektierten angehört hatten, nicht mehr. Die Auflösung des Bundes w ar selbstverständ­ liche Voraussetzung dafür, daß eine solche Vernichtung der staatlichen Exi­ stenz völkerrechtlich möglich w ar. In keinem irgendw ie gearteten Bund und in keiner auch nu r bundesähnlichen V erbindung w äre die kriegerische A nnexion eines Bundesmitglieds durch ein anderes denkbar, solange der Bund besteht. In dem Bundesstaat Deutsches Reich, den Bismarck 1867 und 1871 geschaffen hatte, w ar auch der kleinste M itgliedstaat seiner poli­ tischen Existenz sicher; er h ätte nicht gegen seinen W illen vernichtet w erden können, ohne daß der Bund selbst vernichtet w orden wäre. Bis­ m arck ging in dieser G arantie der Existenz so weit, daß er selbst bei den Versuchen einer Vereinigung von Waldeck mit Preußen überaus vorsichtig und zurückhaltend war. In gleicher W eise w äre z. B. die Schweizer Eid­ genossenschaft nicht m ehr identisch m it sich selbst, wenn auch nur die Möglichkeit anerkannt w ürde, daß der kleinste Kanton von einem anderen durch eine debellatio vernichtet und annektiert w erden könnte. Die Exi­ stenzgarantie ist eben ein Lebensgesetz jedes echten Bundes, sei er Bundes­ staat, Staatenbund oder irgendeine bundesähnliche Verbindung. Eine solche G arantie kann aber nicht beliebig gemacht werden, sondern setzt ein M indestmaß von Artgleichheit, von Hom ogenität voraus. O hne das ist sie eine leere Fiktion. Das Schicksal Abessiniens hat diese K ernfrage jedes Bundes — Existenz­ garantie auf der G rundlage einer Hom ogenität — mit aller K larheit ent­ hüllt, nachdem 16 Jahre kram pfhaft festgehaltener Fiktionen den Blick für* das völkerrechtlich W esentliche v e rw irrt hatten. Das Reich des Negus w ur in aller Form Mitglied der G enfer Sozietät und im vollen Besitz aller G arantien der Völkerbundsatzung. W enn nun ein Bundesmitglied durch ein anderes vernichtet und annektiert w erden kann, so ist entw eder der Bund gesprengt oder aber bewiesen, daß er niem als bestanden hat. In W ahrheit hat die Genfer Kom bination den Namen eines Bundes, einer Sozietät oder Liga im Sinne einer politischen Vereinigung nur insofern verdient, als sie den Versuch machte, die W eltkriegskoalition fortzusetzen und darin auch die im W eltkrieg neutralen Staaten einzubeziehen. Im

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übrigen fehlte je d e r konstruktive G edanke, jede Gemeinschaftssubstanz, daher auch jede politische Folgerichtigkeit und jede Identität und Konti­ nuität im rechtlichen Sinne. D er politische Inhalt des G enfer Völkerbundes hat oft gewechselt, und die u n ter B eibehaltung derselben E tikette w eitergeführte Genfer Ver­ anstaltung hat sich in den letzten 16 Jahren mindestens sechsmal in ein poli­ tisches und daher auch völkerrechtliches aliud verw andelt. D enn es versteht sich von selbst, daß ein Bund und jede andere völkerrechtlich-politische Verbindung sich ändert, wenn Großmächte mit maßgebendem Einfluß hin­ zutreten oder skfi entfernen und dadurch die Substanz, der Geist und der Sinn der politischen Gemeinschaft sich wesentlich wandelt. D er erste u r­ sprüngliche V ölkerbund, der den heute noch maßgebenden Form ulierungen der Satzung zugrunde liegt, w ar aus Wilsons Geist geboren; zu ihm hätte wesentlich gehört, daß die V ereinigten Staaten von A m erika eines der führenden M itglieder geworden w ären. Dadurch, daß sie nicht beitraten, entstand 1920 der zweite Völkerbund, der von den vier alliierten H aupt­ mächten, also der Fortsetzung der Entente, als ständigen R atsm itgliedern geführt w urde. Mit dem E in tritt Deutschlands hätte der G enfer Völker­ bund zum drittenm al ein aliud w erden müssen. 1933 traten Japan und kurz nachher das Deutsche Reich aus. D arin lag die vierte und die fünfte Ände­ rung der politischen Substanz. Als dann ein so heterogener riesiger neuer P artner wie die Sow jetunion ein trat und ständiges Ratsmitglied w urde, w ar der sechste G enfer Völkerbund entstanden. N unm ehr ist der V ölker­ bund durch die Vernichtung Abessiniens und durch die H altung Italiens in eine völlig neue Lage gebracht, in der er, solange man überhaupt noch von ihm sprechen kann, als der siebente G enfer V ölkerbund erscheint. Keine wirkliche Gemeinschaft der W elt könnte bei einem solchen Ausund E intreten verschiedenartigster M itglieder bestehen. Dieses Kommen und Gehen erin n ert eher an ein Hotel als an einen Bund oder an irgendeine dauernde politische O rdnung oder Gemeinschaft. Wie soll dieser wechselnde Kompromiß wechselnder Mächte im E rnst den Frieden Europas oder gar der Erde gew ährleisten können? Was kann eine solche bloße Konferenz­ gelegenheit an politischem Inhalt tragen? Wie will sie H üter der Mandate, G arant der D anziger Verfassung oder irgend etwas anderes politisch Beachtliches sein? Eine m erkw ürdige „Gesellschaft“, in der man Mitglied sein und doch einem anderen Mitglied in aller Form die A nerkennung ver­ sagen kann, wie das z. B. Jugoslawien und die Schweiz gegenüber der Sowjetunion tun, die als ständiges Ratsm itglied sogar ein führendes Mit­ glied ist. ln keinem noch so unpolitischen Klub ist etwas D erartiges recht­ lich denkbar. Und jetzt hat ein Völkerbundsm itglied ein anderes vernichtet, und der V ölkerbund soll w eitergehen, als sei er immer noch mit sich identisch! II. Die italienische Regierung hat von Anfang des abessinischen Kon­ fliktes an eine juristisch k lare Position bezogen, indem sie die Frage nach 14*

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der Hom ogenität Abessiniens stellte. Sie h a t dem Reich des Negus die zivili­ satorische Hom ogenität bestritten, sie hat den Negus nicht als ein Staats­ oberhaupt, sondern als einen H äuptling m it einer höchst problematischen Feudalm acht über barbarische Stämme äufgefafit, der ü b erh au p t kein Mit­ glied der allgem einen Völkerrechtsgemeinschaft, viel w eniger Mitglied eines V ölkerbundes sein könnte; seine M itgliedschaft w ar danach ein I rr ­ tum oder ein Betrug. D as Problem der Hom ogenität des Bundes w a r dam it in aller Schärfe gestellt. In der Sitzung des V ölkerbundsrates vom 5. Septem ber 1935 hat Professor Jèze, als V ertreter des Negus, sich erlaubt, die Zivilisation des Negusreiches der eines faschistischen Staates entgegenzustellen und die Staaten m it m ilitärischer Jugenderziehung als unzivilisierte Staaten zu dis­ qualifizieren. Ein tiefer Gegensatz der W eltanschauungen tr a t hier zutage. Die italienische These w ar rad ik al und folgerichtig; sie b e rü h rte die Kern­ frage jedes Völkerbundes, aber A bessinien w ar nun einm al in aller Form M itglied des G enfer V ölkerbundes geworden. Die italienische Regierung selbst hatte im Sommer 1923 gegen clen P rotest Englands m it Frankreich fü r die Zulassung Abessiniens gestimmt. Diese form ale Schwierigkeit er­ möglichte es, solange Abessinien bestand, die F rage als eine „rein ju ri­ stische“ Angelegenheit zu behandeln und die K ernfrage, das Problem der Hom ogenität, zu verm eiden. Nach d er V ernichtung Abessiniens ist das nicht m ehr möglich. Jetzt erhebt sich unverm eidlich w ieder einm al die F rage nach der politischen Substanz des V ölkerbundes und d er Homogeni­ tä t der in ihm vereinigten Völker. III. Es liegt uns fern, uns in eine italienische A ngelegenheit ein­ zumischen, aber es ist sowohl für die völkerrechtliche B eurteilung der neuen Lage, wie auch für die Entwicklung eines europäischen V ölkerrechts von großer T ragw eite, wie die italienische Rechtswissenschaft den italienischen Rechtstitel auf das K aisertum Ä thiopien ko n stru iert. Ein berühm ter Jurist des italienischen öffentlichen Rechts, Santi Romano, d er P räsident des ita­ lienischen Staatsrates, stützt den E rw erb Abessiniens auf eine debellatio, d. h. auf die vollständige und endgültige Vernichtung der gesam ten staat­ lichen Macht und Existenz des Gegners. D ie A nnexion H annovers durch Preußen, die E ingliederung der italienischen S taaten in das Königreich Sardinien, die Eroberung der B urenstaaten durch England im Jah re 1902 sind Beispiele solcher D ebellationen. D ie debellatio ist also an sich ein a n e rk a n n te r R echtstitel des Völker­ rechts. Im M aiheft seiner Zeitschrift „Lo Stato“ ist ab er C arlo Costam agna dieser K onstruktion entgegengetreten. E r nim m t einen ursprünglichen, originären, nicht einen abgeleiteten, derivativen, Rechtstitel Italiens in Anspruch. N un ist eine debellatio natürlich auch ein o rig in ärer Rechtstitel in dem Sinne, daß der Rechtserw erb vom W illen des V orbesitzers abhängig ist. Dagegen ist er abgeleitet, insofern d er neue M achthaber im W ege einer „Staatensukzession“ in die völkerrechtliche Stellung des frü h eren Macht-

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habers eintritt. Costam agna kommt es aber darauf an, daß der italienische Kaiser von Äthiopien etwas anderes ist als ein Nachfolger des „Löwen von Juda“. E r protestiert dagegen, daß das bisherige Abessinien ein gleich­ berechtigtes Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft war, und macht in folge­ richtiger W eiterführung des bisherigen italienischen Standpunktes geltend, daß der Besitz des Negus w eder das ethisch-rechtliche, noch das organisa­ torische Minimum aufwies, ohne das w ir nicht von einem Staat und daher einem tauglichen Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft sprechen können. Man kann verstehen, daß das für einen Faschisten eine entscheidende Frage ist, und man w ird dem m utigen Aufsatz Costamagnas die juristische Logik nicht absprechen. Costamagna sagt, das faschistische Italien gehöre zw ar zum Genfer Völkerbund, aber nu r „m aterialm ente e non spiritualm ente“. Die Frage nach dem „Geist“ des G enfer Völkerbundes ist in der Tat praktisch und politisch von größter Bedeutung. Sie gehört ebenfalls zu der Frage nach der Substanz und der Hom ogenität der Gemeinschaft. W as aber ist heute der Geist des G enfer Bundes? Sind es die Reste Wilsonscher Liberaldem o­ kratie in dem Sinne, wie noch auf der 13. G eneralversam m lung der Schweizerischen Vereinigung für den V ölkerbund (7. Mai 1934) Professor Rappard eine bew ußte V erbindung der V ölkerbundspropaganda mit der Verteidigung liberaldem okratischer Ideen forderte? O der hat die Sow jet­ union dem Bund einen neuen, und zw ar den bolschewistischen Geist der W eltrevolution eingeflößt? Auch hier fehlt der G enfer V eranstaltung jede Identität und K ontinuität. Höchstens könnte man sagen, daß ein bodenloser Relativism us aus der Abwesenheit jedes echten Geistes die Tugend des Universalismus machen möchte. Aber eine von solchem Geist getragene Gesellschaft ist, wie das Schicksal Abessiniens zeigt, schließlich nicht einmal mehr imstande, M itglieder und Nichtmitglieder, viel weniger Freund und Feind von sich aus zu unterscheiden. Ein solcher „Geist“ führt nu r zu poli­ tischen, moralischen und juristischen A bsurditäten. Das bisherige substanzlose System innerer W idersprüche w ar keiner Kontinuität und daher auch keiner juristischen Logik fähig. Ein echter Bund europäischer Völker kann sich nur auf die A nerkennung der völ­ kischen Substanz gründen und von der nationalen und völkischen Ver­ wandtschaft dieser europäischen Völker ausgehen. W enn der F ü h re r und Reichskanzler Adolf H itler noch in seiner großen Reichstagsrede vom 7. März 1936 die europäischen Nationen als eine „Fam ilie“ und Europa als ein „Haus“ bezeichnet hat, so handelt es sich hier nicht um irgerideine der auch früher vorkommmenden Redewendungen von der „fam ille des nations“, sondern um die bew ußte Fundierung einer neuen europäischen Ordnung auf den Geist der Gemeinschaft und Verwandtschaft der euro­ päischen Völker. N ur in einer solchen konkreten O rdnung finden die ein­ zelnen Nationen eine echte G arantie ih re r politischen Existenz.

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26. Vergleichender Überblick über die neueste Entwicklung des Problems der gesetzgeberischen Ermächtigungen ; „Legislative Delegationen“ (1936) Seit dem W eltkriege sehen sich fast alle Staaten gezwungen, politische, wirtschaftliche und finanzielle Anordnungen und M aßnahm en in „verein­ fachten“ Verfähren zu treffen, die eine schnelle Anpassung an die beson­ deren Schwierigkeiten der wechselnden Lage ermöglichen. Die Hoffnung, daß man nach dem Ende des Krieges oder nach dem Abschluß der Demobil­ machung unverändert zu den früheren M ethoden der „norm alen“ Gesetz­ gebung zurückkehren könnte, hat sich nicht e rfü llt1. D as 1934 erschienene Buch von H erbert Tingstén12 verm ittelt ein Bild dieses Zustandes. Nach Be­ endigung des Krieges haben zuerst Inflation und Deflation außerordentliche M ethoden gesetzgeberischer Regelung notwendig gemacht. Außerdem sind viele Staaten, und zwar auch solche, die nicht etw a sozialistisch sein wollen, zu mancherlei A rten einer ökonomischen und finanziellen Planung über­ gegangen, mit Einrichtungen und N orm ierungen zur Steuerung oder Regu­ lierung der W irtschaft und mit Produktions- und M arktordnungen, die ebenfalls neue Methoden der rechtlichen N orm ierung erforderlich machen. Endlich kann auch der Zwang zur E rfüllung völkerrechtlicher Pflichten, zum Beispiel der Sanktionsverpflichtungen für V ölkerbundstaaten3, bei wachsender K ollektivierung des internationalen Lebens zu vereinfachten Form en gesetzlicher Regelung führen. Es genügt diese drei verschiedenen Ursachen anzudeuten, die sämtlich in der gleichen Richtung w irken und zu dem gleichen Ergebnis führen, nämlich zu einer neuen Praxis und zu neuen A uffassungen der Begriffe von Gesetz und Gesetzgebung. H ier ist die P raxis der gesetzgeberischen Ermächti­ gungen (legislativen Delegationen) von besonderer theoretischer und p rak ­ tischer Bedeutung. Denn die M aßnahmen des offenen Ausnahm ezustandes oder solche des offenen Staatsnotrechts trennen ih re r N atu r nach den Norm alzustand von einer abnorm en Lage begrifflich scharf ab; sie können mit einem gewissen Recht als „ D ik ta tu r“ bezeichnet w erden, w ährend es ein oberflächliches und irreführendes Schlagwort ist, alle heutigen Metho1 Auf dem 32. Deutschen Juristeniag 1921 (Verhandlungen S. 3t) zitierte H. Tr i e pe l aus einem Brief, den ihm Karl B i n d i n g kurz vor dem Tode geschrieben hatte, folgenden Satz: „Die nächste große Aufgabe ist die Bekämpfung der Verordnung in ihrer Anmaßung gegen das Gesetz.“ Triepel stellt dabei fest, daß das „Unglück“ mit dem Ermächtigungsgesetz vom 4. August 1914 begonnen habe. In der Tat begann 1914 mit dem Weltkrieg das Ende einer verfassungsgesdiiditlichen Epoche, nämlich der des gewaltenteilenden Konstitutionalismus. 2 Herbert T i n g s t é n , Les Pleins Pouvoirs, l’expansion des pouvoirs gouverne­ mentaux pendant et après la grande guerre; traduit du Suédois par E. Soederlindh, Publications du Fonds Descartes, Librairie Stock, Paris 1934. 3 Die englischen Verordnungen zur innerstaatlichen Durchführung der Sanktionen (z. B. Statutory Bules and Orders 1935, Nr. 1038, 1090, 1121 und 1122, 1248) sind auf Grund der Ermächtigungen der Treaty Peace Act vom 31. Juli 1919 (9 & 10 Geo 5 c. 33) ergangen.

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den einer „vereinfachten“ Gesetzgebung unterschiedslos als „D iktatur“ (im Gegensatz zu D em okratie oder Rechtsstaat, oder andern vieldeutigen Worten) zu disqualifizieren. Die gesetzgeberische Ermächtigung ist, soweit sie verfassungsm äßig ist, imm er eine legale Brücke; aber sie kann sowohl zur früheren verfassungsm äßigen Legalität zurück als auch von ihr hinweg auf einen gänzlich neuen Verfassungsboden führen. D aher ist die P raxis der Ermächtigungsgesetze sowohl ein Prüfstein für die wirkliche Verfas­ sungslage als auch ein wichtiges Symptom für die verfassungsrechtliche Gesamtentwicklung, und es ist wohl verständlich, daß das Problem der Verfassungsmäßigkeit von Ermächtigungsgesetzen in den letzten Jahren ein H auptthem a aller verfassungsrechtlichen Streitfragen geworden ist. Ob „vereinfachte“ M ethoden der gesetzlichen Regelung zulässig sind, ist eine verfassungsrechtliche Frage, die in den verschiedenen Staaten außerordentlich verschieden beantw ortet w erden muß. Selbst innerhalb derjenigen Staaten, die als vorbildlich liberal-dem okratische Verfassungs­ staaten und in diesem Sinne als „Rechtsstaaten“ allgemein anerkannt sind, in England, Frankreich und in den Vereinigten Staaten von Am erika, be­ steht hier keine Übereinstimmung. H ier liegen, trotz der scheinbaren Ver­ wandtschaft des V erfassungstypus, in W ahrheit ganz verschiedene Gesetzesbegriffe zugrunde. Es ist schon aus diesem G runde nicht möglich, im Hinblick auf diese Staaten einen Allgem einbegriff von „Rechtsstaat“ abzuleiten, um daraus die Frage der Verfassungsm äßigkeit von Ermächti­ gungsgesetzen für den rechtswissenschaftlich allein interessanten F all zu beantw orten, daß keine geschriebene Verfassung vorliegt oder die geschrie­ bene Verfassung keine ausdrücklichen Bestimmungen über die Zulässigkeit von Ermächtigungsgesetzen enthält. Auf der anderen Seite läßt sich beim Schweigen der Verfassung die Zulässigkeit oder Nichtzulässigkeit von Ermächtigungsgesetzen rechtswissenschaftlich n u r an der H and grundsätz­ licher Begriffe und V orstellungen beurteilen, deren K ern imm er w ieder der Begriff des Gesetzes ist. D as Problem der gesetzgeberischen Ermächti­ gung ist daher für den Gesetzesbegriff und für den W andel grundlegender Begriffe des bisherigen V erfassungsdenkens von entscheidender Bedeutung, nicht etw a n u r im Sinne eines „form ellen“ Gesetzesbegriffs, sondern für den gesam ten A ufbau der V erfassung und für die Frage des konkreten Verhältnisses von G esetzgebung und Regierung. D enn die Frage der Zu­ lässigkeit oder Nichtzulässigkeit einer Ermächtigung enthält, praktisch gesprochen, vor allem die Frage, ob der die Ermächtigung erteilende Ge­ setzgeber selbst oder eine andere Instanz, insbesondere ein nachprüfendes Gericht, über die Erm ächtigung entscheidet. Das Problem betrifft also nicht so sehr norm ativistische F ragen der Auslegung einzelner Verfassungsregeln als vielm ehr die spezifische G esam tordnung eines Gemeinwesens. D er Gegensatz der englischen, französischen und am erikanischen Verfassungs­ stru k tu r ist hier besonders wichtig1. 1 Die Entwicklung des Ermächtigungsproblems in anderen Staaten, insbesondere in Italien, Belgien, Polen und der tschecho-slowakisdien Republik, bleibt hier beiseite.

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I. 1. Die e n g l i s c h e P raxis geht von der politischen Übereinstim mung zwischen dem Parlam ent und der von der Parlam entsm ehrheit getragenen Regierung aus; sie hat keinen gew altenteilenden Gesetzesbegriff und kennt daher w eder die grundsätzliche Verschiedenheit von Gesetzgebung und Regierung noch grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen „legislative Delegationen“. Mit dem W eltkrieg setzten unübersehbar weite Ermächtigungen ein, zunächst hauptsächlich auf der G rundlage des großen Ermächtigungsgesetzes vom 8. A ugust 1914, der „Defence of the Realm Act 1914“ (4 5 Geo. 5 c. 29). Trotz aller Bedenken und Einw endungen gegen den „Despotismus der M inisterialbürokratie“ ist die verfassungsm äßige G ültigkeit dieser weitgehenden D elegationen nicht ern sth aft in Zweifel gezogen worden. Die grundlegende Entscheidung des House of Lords vom 1. Mai 19171 hat das Recht des Parlam ents, d erartig w eitgehende Ermächti­ gungen zu erteilen, als selbstverständlich un terstellt und n u r die Frage geprüft, ob eine auf G rund dieser Erm ächtigung ergangene Verordnung (regulation) nicht etw a doch über die Absichten und Ziele des ermächtigen­ den Gesetzgebers hinausgehe und aus diesem G rund „ u ltra vires“ sei. Auch der einzige dissentierende Richter dieser Entscheidung, L ord Shaw of Dunferm line, beanstandet nicht etw a die V erfassungsm äßigkeit der E r­ mächtigung, sondern legt n u r die erteilte Erm ächtigung dahin aus, daß die Regierung nur befugt sein solle, „regulations“ im Sinne genereller Rege­ lungen, zum Unterschied von konkreten Einzelm aßnahm en, zu erlassen. Aus der D elegationspraxis der N achkriegszeit sind das G esetz zur Aus­ führung des Friedensvertrages vom 31. Juli 1919*12 und die Em ergency Powers Act vom 29. O ktober 19203 die wichtigsten Beispiele w eiterer E r­ mächtigungen. An diesem Gesetz von 1920 ist von besonderem Interesse, daß das ermächtigende Parlam ent fü r den Um fang der Erm ächtigung nega­ tiv bestimmte V orbehalte gemacht hat, indem es z. B. die E inführung der zwangsweisen M ilitär- oder A rbeitsdienstpflicht oder V erordnungen gegen das Streikrecht ausdrücklich ausnim mt. D ie großen Bedenken, die von der Labour P a rty gegen dieses Gesetz vorgebracht w urden, betrafen nicht die verfassungsmäßige Zulässigkeit einer solchen Erm ächtigung, sondern nur Befürchtungen eines Mißbrauchs durch eine nicht m ehr arbeiterfreund­ liche Regierung4. Die verfassungsrechtliche K onstruktion der englischen Ermächtigungspraxis, daß das Erm ächtigungsgesetz nicht eine neue Gesetz-. Zu der italienischen Entwicklung sei nur bemerkt, daß auch die faschistische Revolu­ tion bisher nidit zu einer Aufhebung der Trennung von Legislative und Exekutive geführt hat und der gewaltenteilende Gesetzesbegriff im faschistischen Verfassungs­ recht beibehalten wurde. 1 Rex V . Halliday, The Law Reports 1917, p. 260—308. 2 9 & 10 Geo. 5 c. 33; vgl. oben Anm. 3. 3 10 & 11 Geo. 5 c. 55. 4 T i n g s t é n , a.a. O. S. 207. Tingstén selbst nennt dieses englische Gesetz von 1920 „un^ écart flagrant de révolution démocratique de la constitution anglaise". Darin zeigt sich, daß er von einem nichtenglischen Verfassungsbegriff ausgeht und einen gewaltenteilenden Gesetzbegriff für allein demokratisch hält — typische Ver­ wechslung von Demokratie und liberalem Konstitutionalismus.

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gebungsbefugnis schaffe, sondern nur einem auf der Prärogative der Krone begründeten Verordnungsrecht freie Bahn gebe und demnach „eigentlich und form al“ n u r deklaratorischen C h arak ter habe1, sei hier wenigstens mit einem W ort erw ähnt, um auf den großen Gegensatz des englischen V er­ fassungsdenkens gegenüber französisch- oder am erikanisch-republi­ kanischen Verfassungs- und Gesetzesbegriffen hinzuweisen. 2. Die Entwicklung der französischen D elegationspraxis ist bei Tingstén (S. 15—57) gut dargestellt. Sie ist hier von besonderem Interesse, weil die überlieferte, m an darf sagen klassische Theorie des französischen Ver­ fassungsrechts in schärfstem Gegensatz gegen die englische P raxis jede „legislative D elegation“ als verfassungsw idrig ansieht. Diese Auffassung hat die Logik einer gew altenteilenden Verfassung, insbesondere der Trennung von Legislative und E xekutive und des daraus entstehenden Gesetzesbegriffs, außerdem die Logik des Satzes „delegata potestas non delegatur“ ganz auf ih re r Seite. Sie steht in einer verfassungsrechtlichen Tradition, deren berühm teste Kronzeugen Locke und Sieyès sind, und deren klarster Ausdruck sich in A rt. 45 der Verfassung des Jahres III (1795) findet12. Esmein, der große W ortführer dieser Theorie, hielt folgerichtig daran fest, daß jede noch so begrenzte Delegation gesetzgeberischer Befugnisse begriff­ lich und juristisch unmöglich, „juridiquem ent impossible“ sei; der Gesetz­ geber soll eben Gesetze und nicht Gesetzgeber machen; seine Aufgabe ist, wie schon Locke bem erkt hat, „to m ake laws and not legislators“. Die Praxis fand Zwischenlösungen; die Theorie (Duguit, Rolland) suchte be­ stimmte begrenzte Delegationen zu rechtfertigen. A ber es zeigte sich, daß die mit dem Postulat inhaltlich festgelegter Begrenzungen arbeitenden Verm ittlungstheorien theoretische und praktische H albheiten sind und nur dazu führen, daß die Gerichte auf G rund ihres Nachprüfungsrechts zu einer übergesetzgeberischen Instanz gemacht w erden m üßten, was bei der heutigen S tru k tu r des französischen Staates unmöglich w äre3. Selbst w äh­ rend des W eltkrieges w ar das französische Parlam ent sehr vorsichtig mit gesetzgeberischen D elegationen; insbesondere w urde der Regierung Briand die im Dezem ber 1916 nachgesuchte allgemeine Ermächtigung verw eigert4. Dagegen erhielt die Regierung Poincaré die außerordentlich w eiten Er1 Vgl. den Aufsatz von S i d n e y W. C l a r k e Esq., The Rule of „Dora“, Journal of the Society of Comparative Legislation, London 1919, S. 36 ff. 2 „En aucun cas, le corps législatif ne peut déléguer à un ou plusieurs de ses membres, ni à qui que soit, aucune des fonctions qui lui sont attribuées par la présente constitution.“ 3 Weil die Befugnis des Delegierten mit der des Delegierenden wesensgleich sein muß, können bei einer gewaltenteilenden Verfassung Akte der Exekutive niemals legislativen Charakter haben, Regierungsverordnungen niemals Gesetze sein. Richard Thoma, Handbuch des deutschen Staatsrechts Bd. TI (1932), S. 227, hat solche Argu­ mentationen der französischen Juristen als „unfruchtbare Begriffsjurisprudenz“ abzutun versucht, aber die Theorie Esmeins ist nicht nur vom Standpunkt einer liberalen, das heißt gewaltenteilenden Verfassung juristisch folgerichtig, sondern hat auch mit gutem politischen Instinkt erkannt, daß es hier um eine Lebensfrage des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates geht. 4 T i n g s t é n , S. 19f.

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mächtigungen der Gesetze vom 22. März 1924 und vom 3. A ugust 1926, trotz aller verfassungsrechtlichen Bedenken gegen solche „exorbitanten“ pleins pouvoirs. Ein Teil der französischen Rechtslehre entspricht dieser Entwick­ lung und sucht die bisherige Auffassung von der juristischen Unmöglichkeit einer legislativen Delegation durch neue K onstruktionen zu überwinden. H ierfür ist C arré de Malberg zu nennen, der den spezifischen Gesetzes­ begriff eines parlam entarischen Gesetzgebungsstaates und den syste­ matischen Zusammenhang des Erm ächtigungsproblems mit dem Gesetzes­ begriff folgerichtig durchdacht h a t1. C arré de M alberg unterscheidet die form ale Verleihung der G esetzeskraft scharf von dem Inhalt der zu treffen­ den Regelung, form alisiert dadurch den Gesetzesbegriff und faßt die durch den Gesetzgeber der Regierung erteilte „Erm ächtigung“ nicht als eine délé­ gation, sondern als eine habilitation auf. Das W ort habilitation entspricht dem deutschen W ort „Ermächtigung“ besser als das auch in Deutschland noch übliche W ort „Delegation“. Ü berhaupt kommt die K onstruktion von C arré de M alberg der vor dem W eltkrieg in der deutschen Staatslehre herrschenden, von Seydel, Laband u. a. vertreten en 12 Ermächtigungslehre nahe, die in ähnlicher Weise den Inhalt der Regelung von der formalen G esetzeskraft trennte und es dem allmächtigen G esetzgeber überließ, durch seine Ermächtigung in unbeschränktem Umfang einem von einer anderen Stelle zu bestimmenden Inhalt die form ale G esetzeskraft zu liefern. Anfang Juni 1935 erhob sich die F rage der legislativen Ermächtigungen und der „pleins pouvoirs“ von neuem. D ie R egierung Flandin legte einen G esetzentw urf vor, der sie ermächtigte, bis zum 31. O ktober 1935 mit G esetzeskraft alle Anordnungen zu treffen, die „geeignet wären, eine Gesundung der öffentlichen Finanzen, eine W iederbelebung der wirtschaft­ lichen A ktivität und eine U nterdrückung von G efährdungen des öffent­ lichen K redits zu bew irken“. Die Regierung Flandin ist über diese, ebenso wie die folgende Regierung Bouisson über eine ähnliche Vorlage gestürzt. Die am 8. Juni 1935 gebildete Regierung Laval erhielt aber eine immerhin noch w eitgehende Ermächtigung3. Bei dieser A useinandersetzung zeigte sich ein Doppeltes: erstens der unüberbrückbare Gegensatz zwischen dem 1 La Loi, expression de la volonté générale, Paris 1931 (von Tingst^n nicht berück­ sichtigt). 2 Erwähnt unten S. 260. 3 Entwurf F l a n d i n : „Le Sénat et la Chambre des députés délèguent au gou­ vernement le pouvoir de^ prendre jusqu’au 31 octobre 1935 toutes dispositions ayant force cte loi propres à réaliser l’assainissement des finances publiques, la reprise de l’activité économique, la défense du crédit public et le maintien de la monnaie. Ces décrets, pris en conseil des ministres, seront soumis à la ratification des chambres avant le 31 Juillet 1936.“ Entwurf B o u i s s o n : „En vue d’éviter la dévaluation de la monnaie, le Sénat et la Chambre des députés autorisent le gouvernement à prendre ar décret, jusqu’au 31 octobre 1935, toutes dispositions ayant force de loi pour attre contre la spéculation et défendre le franc. Ces décrets, etc. . . . “ Entwurf L a v a l (der Gesetz wurde): „En vue d’éviter la dévaluation de la monnaie, le gou­ vernement est autorisé par le Sénat et la Chambre des Députés à prendre, jusqu’au 31 octobre 1935, toutes dispositions ayant force de loi propres à réaliser l’assainisse­ ment des finances publiques, à provoquer la reprise de l’activité économique, à prévenir et à reprimer les atteintes au crédit public. Ces décrets, etc. . . . “

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Gesetzesbegriff eines parlam entarischen Gesetzgebungsstaates und der durch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte notwendig gewordenen und trotz aller konstitutionellen Bedenken sich durchsetzenden Regierungs­ gesetzgebung; zweitens die für die konkrete Verfassungslage entscheidende Tatsache, daß die eigentlichen Bedenken nicht m ehr die verfassungsrechtliche Frage der grundsätzlichen Zulässigkeit von Ermächtigungsgesetzen be­ trafen (darüber w ar man in der Sache längst hinweggegangen), sondern daß es sich n u r um die parteim äßige Zusammensetzung der Regierung handelte, die solche w eitgehenden Ermächtigungen erhalten sollte. 3. D ie berühm te, folgenreiche Entscheidung des höchsten Gerichtshofs der V ereinigten Staaten von Am erika, Sdiechter v. United States, vom 27. Mai 19351 präzisiert in einer für die D enk art des gew altenteilenden Konstitutionalismus klassischen Weise den amerikanischen Standpunkt zu dem Problem der gesetzgeberischen Ermächtigungen. Auf G rund der w eit­ gehenden D elegationen der National Industrial Recovery Act vom 16. Juni 1933 hatte der P räsident der Vereinigten Staaten, unter der M itwirkung von wirtschaftlichen Verbänden, eine N euordnung und Regulierung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens der V ereinigten Staaten begonnen und ein großes wirtschaftliches und soziales Gesetzgebungswerk in H underten von verbindlich e rk lä rte n V ereinbarungen (sog. Codes) geschaffen12. Die Ermächtigungen der National Recovery Act erstrecken sich in der Tat auf das ganze W irtschaftsleben; nähere Richtlinien gibt der Gesetzgeber nicht und hätte er in der gegebenen Sachlage auch nicht geben können, ohne sich selbst in eine Regierung zu verw andeln. Die Recovery Act spricht daher nur ganz allgem ein von der Politik (policy) des Kongresses, für das G e­ meinwohl durch die O rganisation von W irtschaftsgruppen zu sorgen, un­ anständige M ethoden des W ettbew erbs zu verhindern und die Produktions­ kraft der Industrie zu fördern3. D er höchste Gerichtshof, der vorher einige kleinere und engere Ermächtigungen als zulässig hatte durchgehen lassen, erklärte in seiner Entscheidung vom 7. Jan u ar 1935 (Panama Refining Co. v. Ryan, 55 Suprem e C ourt S. 241) zuerst die Sektion 9 (Oilregulations) der National Industrial R ecovery Act für verfassungsw idrig. In seiner E nt­ scheidung von 27. Mai 1935 (Schechter v. U nited States) e rk lärte er dann die gesamten Erm ächtigungen der N ational Recovery Act für verfassungs­ widrig, mit der Begründung, daß der Gesetzgeber seine Gesetzgebungsbefug­ nis nicht W irtschaftsverbänden übertragen und auch dem Präsidenten nur hinsichtlich ihres G egenstandes und ihres Zweckes bestimmte und begrenzte, vom Gesetzgeber selbst bereits norm ierte Befugnisse übertragen dürfe, 1 55 S. Ct. 837; vgl. diese Zeitschrift Bd. V, S. 701 ff. 8 Zusammengestellt in: A Handbook of NRA, herausgegeben von Lewis M a y e r s , mit Ergänzungsbänden, 2. Aufl. 1934. 3 „To provide for the general welfare by promoting the organization of industry for the purpose of cooperative action among trade groups, to induce and maintain united action of labour and management under adequate governmental sanctions and supervision, to eliminate unfair competitive practices, to promote the fullest possible utilization of the present productive capacity of industrie.“

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w ährend es unzulässig sei, unter allgem einer Angabe irgendwelcher Ziele den Präsidenten nach seinem Ermessen, nach seiner „unfettered discretion“, zum Gesetzgeber zu machen. Ausdrücklich w ird in einer ganz allgemeinen, grundsätzlichen Weise betont, daß eine außergewöhnliche Lage keine er­ w eiterten Befugnisse schaffe („extraordinary conditions do not create or enlarge constitutional pow ers“). In der C oncurring O pinion eines besonders berühm ten Mitgliedes des Gerichtshofes, des Mr. Justice Cardozo, in der die Argum ente des Urteils grundsätzlich zugespitzt sind, w ird besonders betont, daß die Ermächtigung des Gesetzes von 1933 nicht tatbestandsmäfiig bestimmte, durch die Bezugnahme auf einen „standard“ zu identifi­ zierende H andlungen betreffe1. Diese Auffassung von den G renzen der Ermächtigungsmöglichkeit kommt den unten behandelten, von T riepel und Poetzsch-Heffter vertretenen deutschen Theorien der Nachkriegszeit nahe, die gleichfalls jede nicht auf ein „bestim m tes“ Sachgebiet beschränkte, nicht im wesentlichen vom Gesetzgeber selbst geregelte Erm ächtigung als ver­ fassungswidrige Einführung eines„vereinfachtenG esetzgebungsverfahrens1* ansahen und dadurch in die Problem atik der „inhaltlichen Bestim m theit“ hineingerieten. Auch zu dem Begriff des „anständigen W ettbew erbs“, der „fair competition“, betont der Gerichtshof, daß dies nicht etw a eine Vor­ stellung sei, die durch den der bisherigen Gesetzgebung und Rechtspraxis geläufigen Begriff des „unlauteren W ettbew erbs“ (der „unfair compe­ tition“) präzisiert werde; es handle sich eben nicht um die Unterdrückung unlauteren W ettbew erbs im Sinne des bisherigen Rechts, d. h. nicht um einen nur negativ und repressiv gedachten Tatbestand, sondern die E r­ mächtigung habe positiv sowohl die Planung von V erbesserungen wie die Unterdrückung von Mißbrauch (the planning of im provem ents as well as the extirpation of abuses) im Auge. In der T at entspricht es der Logik eines auf feste Tatbestände gerichteten positivistischen Rechtsdenkens, daß es nur negativ den unlauteren, nicht aber positiv den lau teren W ettbew erb als „präzisen Rechtsbegriff“ ansehen kann. D arum sagt die Begründung in ihrem folgenden Satz, von ihrem Verfassungs- und Gesetzesbegriff aus mit Recht: durch eine solche Ausdehnung (vom negativ-repressiven zu einem positiven Begriff) w ürde fast der ganze Bereich einer industriellen Regu­ lierung erfaßt: the extension becomes as wide as the field of industrial regulation, womit die verfassungsrechtliche U nzulässigkeit einer solchen D elegation für den gew altenteilenden V erfassungsstaat und seinen Ge­ setzesbegriff erw iesen ist.

II. Die deutsche Entwicklung verdient deshalb besondere Beachtung, weil in ihr alle denkbaren A ntw orten auf unsere F rage gegeben w orden sind, von der grundsätzlichen A blehnung je d e r gesetzgeberischen Delegation und der entgegengesetzten, ebenso grundsätzlichen A nnahm e der Zulässig1 Here in the case before us, is an attempted delegation not confined to any single act nor to any class or group of acts identified or described by reference to a standard.

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keit jeder, auch der unbegrenzten Ermächtigung, über das Zwischenstadium der Zulässigkeit inhaltlich begrenzter Ermächtigungen, bis zu der v er­ fassungsrechtlichen Aufhebung der gew altenteilenden T rennung von Legis­ lative und Exekutive, d. h. bis zur P raxis der eigentlichen Regierungs­ gesetzgebung. 1. Das Verfassungsrecht der konstitutionellen Monarchie des 19. Ja h r­ hunderts ging auch in Deutschland von einem scharfen Gegensatz zwischen Legislative und Exekutive aus. D aher w ar auch hier die Ansicht möglich, daß jede legislative D elegation grundsätzlich verfassungsw idrig sei, eine Theorie, die der Jurist des älteren preußischen Konstitutionalismus, L. V. Rönne, vertreten hat. Die spätere Entwicklung hat sich ohne große Argum entationen darüber hinweggesetzt. Die bis zur W eim arer Verfassung herrschende Lehre des Bismarckschen Verfassungsrechts hielt gesetzgebe­ rische Ermächtigungen für grundsätzlich grenzenlos zulässig, weil es nach ihrer Auffassung inhaltliche Schranken für den Gesetzgeber nicht gab1. Sie trennte die form ale gesetzliche G rundlage, die das Ermächtigungsgesetz liefert, von dem Inhalt der m ateriellrechtlichen Regelung, den die e r­ mächtigte Stelle bestimmt. Diese w ird also infolge der Ermächtigung nicht zum Gesetzgeber, sondern bleibt ein im Bereich der „Exekutive“ tätiges Hilfsorgan des gesetzgeberischen W illens, auch wenn sie einen noch so weiten Spielraum für die Bestimmung des Inhaltes dieses W illens hat. Nach dieser K onstruktion handelt es sich also bei einem Ermächtigungs­ gesetz überhaupt nicht um eine Ü bertragung gesetzgeberischer Befugnisse und daher auch nicht um eine „D elegation“ im eigentlichen Sinne. Diese Auffassung w urde von der w eitaus überw iegenden Zahl der an ­ gesehensten Staatsrechtslehrer — Seydel, Laband, G. Jellinek, MeyerAnschütz — vertreten. Die oben erw ähnte entgegengesetzte Ansicht von Rönne, die aus den ersten Zeiten des monarchischen Konstitutionalism us stammte, konnte von Meyer-Anschütz (Lehrbuch, S. 672, Anm. 7) mit wenigen W orten als „völlig unbegründet“ abgetan werden. D er damals führende Staatsrechtslehrer Laband sagte in seinem „Staatsrecht des D eut­ schen Reiches“ (5. Aufl. Bd. II, 1911, S. 96 u. 107): „D er Gesetzgebung ist keine Schranke auferlegt, daß sie nicht auch Anordnungen über die A ufstellung von Rechtsvorschriften treffen dürfte. Art. 5 („Die Reichsgesetzgebung w ird ausgeübt durch den B undesrat und den Reichstag“) enthält lediglich eine Bestimmung, in welcher Form die Reichsgesetzgebung ausgeübt w ird, aber keine Vorschrift, w orin der Inhalt eines Reichsgesetzes bestehen müsse oder nicht bestehen dürfe. Ein Gesetz k ann demnach, anstatt unm ittelbar Rechtsregeln aufzustellen, A nordnungen d a rü b er enthalten, wie gewisse Rechtsregeln erlassen 1 Für die Beurteilung der konkreten Bedeutung dieser Lehre ist dabei zu beachten, daß die Teilung, die zum konstitutionellen Denken gehört, in den Gesetzgeber selbst verlegt war, indem das Gesetz dieser konstitutionellen Monarchie in der Sache ein Kompromiß zwisdien königlicher Regierung und Parlament als gleidiberedhtigten Partnern war.

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werden sollen. Es liegt hierin keine Verletzung oder A ufhebung, sondern eine besondere Anwendung der im A rt. 5 gegebenen Vorschrift. . . . D er Kreis der durch Verordnungen zu regelnden Rechtsbeziehungen kann ein sehr w eiter sein; ein Gesetz kann möglicherweise w eiter nichts enthalten als die Anordnung, daß eine gewisse M aterie durch V erordnung norm iert w erden soll.“ D er Ausdruck „gewisse M aterie“ bedeutet h ier nicht etw a die Forderung einer „bestimmten M aterie“, im Sinne einer inhaltlichen Begrenzung, sondern besagt nur, daß die Ermächtigung natürlich irgendw ie angeben muß, w orauf sie sich bezieht1. Die F reih eit des Gesetzgebers, Ermächtigun­ gen zu RechtsA erordnungen zu erteilen, u nterlag keiner anderen ver­ fassungsrechtlichen Beschränkung als zwei „V orbehalten“ : erstens dem Vorbehalt eines verfassungsändernden Gesetzes für solche Verordnungen, die ihrem Inhalt nach verfassungsänderndes Recht schaffen sollten; zweitens dem Vorbehalt eines Gesetzes im form ellen Sinne fü r diejenigen Fälle, in welchen ein G esetzesvorbehalt der Verfassung als förmlich und zwingend betrachtet wurde, z. B. nach dam als herrschender Auffassung die in der Form eines Gesetzes erfolgende G enehm igung des jä h r­ lichen Reichshaushaltsplans. Die Praxis stimmte mit dieser Auffassung überein. Bei Ausbruch des Krieges w urden dem Bundesrat ohne A ufzählung bestim m ter Sachgebiete weitgehende Ermächtigungen erteilt. In § 3 des Reichsgesetzes über die Ermächtigung des Bundesrats zu wirtschaftlichen M aßnahm en vom 4. August 1914 (RGBJ. S. 327) heißt es: „D er B undesrat w ird ermächtigt, w ährend der Zeit des Krieges die­ jenigen gesetzlichen M aßnahmen anzuordnen, welche sich zur Abhilfe wirtschaftlicher Schädigungen als notw endig erw eisen. Diese Maßnahmen sind dem Reichstag bei seinem nächsten Zusam m entritt zur Kenntnis zu bringen und auf sein Verlangen aufzuheben.“ Auf G rund dieser Ermächtigungen sind zahllose V erordnungen ergangen. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer solchen Erm ächtigung ist nie­ mals in Zweifel gezogen wrorden. In der amtlichen B egründung zu dem Gesetz heißt es allerdings: „Ä nderungen der sozialpolitischen und A rbeiter­ schutz-Gesetze kommen dabei nicht in Betracht.“ D as w ar aber nur zur Beruhigung der A rbeiterparteien bestim m t und sollte die Versicherung enthalten, daß keine antisozialen A nordnungen beabsichtigt w aren2. Auch abgesehen davon, daß die zu einem verfassungsändernden Gesetz erforder­ liche M ehrheit (Art. 78 der RV. vom 18. Ja n u ar 1871) im B undesrat vor­ handen w ar und außerdem damals die P rax is der „nicht kenntlich ge­ machten V erfassungsänderungen herrschte, h at m an die Zulässigkeit einer Dasselbe gilt für ähnliche Ausdrücke bei anderen Autoren dieser Zeit; die schrankenlose Delegationsbefugnis des schrankenlosen Gesetzgebers stand außer Zweifel; vgl. T r i e p e l , Verhandlungen des 32. deutschen Juristentages S. 19. ^e r ’ Die Diktatur des Bundesrates, Deutsche Juristenzeitung 1915 (Bd. XX), Sp. 1158-1163.

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derartig weitgehenden, inhaltlich so gut wie grenzenlosen Ermächtigung damals in Deutschland überhaupt nicht als ein verfassungsrechtliches P ro­ blem em pfunden und höchstens bei einzelnen V erordnungen in Zweifel gezogen, ob sie wirklich wirtschaftlichen C h arak ter hatten, d. h. unter das Ermächtigungsgesetz fielen1. 2. E n te r der W eim arer Verfassung w urde diese V erordnungspraxis unter dem Druck der politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten (Erfüllung des V ersailler V ertrages, Demobilmachung, Revolution, R epa­ rationen, Inflation und Deflation) w eitergeführt. Die W eim arer N ational­ versammlung. gab der Reichsregierung nicht nur Vollmachten zur Aus­ führung des Friedensvertrages (Gesetz vom 30. Juli 1919, RGBl. S. 1530), sondern hatte auch bereits unter dem 17. A pril 1919 (RGBl. S. 394) ein Gesetz „über die vereinfachte Form der Gesetzgebung für die Zwecke der Übergangswirtschaft“ erlassen, in welchem die Reichsregierung e r­ mächtigt w urde, mit Zustimmung gewisser Ausschüsse „diejenigen gesetz­ lichen M aßnahmen anzuordnen, welche sich zur Regelung des Übergangs von der Kriegsw irtschaft in die Friedensw irtschaft als notwendig und dringend erw eisen“. Es folgten zahlreiche w eitere Ermächtigungsgesetze, von denen allerdings die beiden wichtigsten, nämlich das Reichsgesetz vom 13. O ktober 1923 (RGBl. S. 945) und das vom 8. Dezember 1923 (RGB1.S. 1179), als nicht kenntlich gemachte verfassungsändernde Reichsgesetze ergingen, das erste, weil es die R egierung auch zu verfassungsändernden V erordnun­ gen ermächtigte, das zweite, weil sich inzwischen eine neue, n u r begrenzte Ermächtigungen zulassende Theorie durchgesetzt hatte. Der vom Reichsgesetzgeber gebrauchte Ausdruck „vereinfachte Gesetz­ gebung“ sowie das W ort „gesetzliche“ M aßnahmen legten die Ansicht nahe, daß es sich bei diesen Ermächtigungen um etwas qualitativ anderes als um die bekannten Rechtsverordnungen zur „A usführung“ oder auch zur „Ergänzung“ eins Gesetzes handle. Jene Ausdrücke schienen zu beweisen, daß die erm ächtigte Regierung zum Gesetzgeber gemacht w erde und, ohne verfassungsrechtliche Zuständigkeit, n u r auf G rund eines einfachen E r­ mächtigungsgesetzes, die Rolle des Gesetzgebers übernehm e. Das erschien als ein „Einbruch in die Gesetzgebungszuständigkeit des Reichstags“. Allerdings konnte man schon aus praktischen G ründen die Zulässig­ keit von Ermächtigungen nicht einfach verneinen, und die vereinzelten Versuche, jedes Ermächtigungsgesetz für verfassungsändernd zu erklären, blieben ohne Erfolg. A ndererseits aber hatte man rechtsstaatliche Besorg­ nisse wegen der kaum noch übersehbaren Ausdehnung des V erordnungs­ rechtes und der darin liegenden Macht der M inisterialbürokratie, deren „Bäume in den Himmel zu wachsen“ schienen. Bereits Anfang 1921 w urde der A ntrag gestellt, die Verfassung zu ändern und neben dem gewöhn­ lichen noch ein vereinfachtes G esetzgebungsverfahren ausdrücklich durch die Verfassung für zulässig zu erk lären (Antrag Schiffer Nr. 1381/2 vom 1 S di m i d t , Zur Theorie der Kriegsnotgesetze, Zeitschrift für die gesamte Straf­ rechtswissenschaft, Bd. 37 (1915/16), S. 69.

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27. Jan u ar 1921). x \ u f dem 32. D eutschen Ju risten tag in Bam berg (Sep­ tem ber 1921) bezeichnete der B erichterstatter Prof. H. T riepel die damalige V erordnungspraxis als einen „Unfug ohnegleichen“ ; e r v e rtra t die These: „Das Gesetz k an n Eim ächtigungen n u r im D ienst bestim m ter Zwecke für ein bestim m tes L ebensverhältnis erteilen.“ Die w eitere Folgerung aus dieser Ansicht ist typisch: es w ird strenge H andhabung des richterlichen Nachprüfungsrechts verlangt, d. h. der Staat verw andelt sich in einen der K ontrolle unabhängiger Richter unterliegenden Justizstaat. D er M itbericht­ e rsta tter dieses Juristentages, der bekannte K om m entator der W eim arer Verfassung, F ritz Poetzsch-Heffter1, e rk lä rte jed e „vereinfachte Gesetz­ gebung“ fü r einen verfassungsw idrigen Einbruch in die Gesetzgebungs­ gew alt des Reichstages; er unterschied die im W ege der „vereinfachten Gesetzgebung“ zustande gekomm enen gesetzlichen Bestim m ungen von den Rechtsverordnungen, die er als bloße „A usführungs- oder Ergänzungs­ bestim m ungen zu einem durch Gesetz bereits geregelten Gegenstand*’ von den V erordnungen der „vereinfachten G esetzgebung“ abzugrenzen suchte. Die Unterscheidung zwischen abhängigem und selbständigem Verordnungs­ recht w ar sehr unsicher und u n klar, w urde aber in der R echtslehre vielfach übernom m en12. D agegen hielt der führende K om m entar von Anschütz an der „altrechtlichen“ L ehre von Seydel und L aband fest3. D ie E inw irkung d er einschränkenden T heorie auf die innerpolitische Entwicklung der Jah re 1922—1932 w ar außerordentlich bedeutungsvoll. Die V erordnungspraxis des Reiches w urde von dem W eg parlam entarischer Erm ächtigungen auf den W eg der sog. D ik tatu rg ew alt des Reichspräsi­ denten, d. h. der V erordnungspraxis nach A rt. 48 Abs. 2 gedrängt. Es darf nicht übersehen w erden, daß die neue Lehre, die u n ter dem Eindruck der deutschen Verfassungslage der Zeit von 1919 bis 1924 entstand, ihren Sieg vor allem föderalistischen Interessen verdankte, deren O rgan der Reichsrat w ar, dem eine w irksam e V erordnungspraxis der Reichsregierung uni­ tarisch und zentralistisch erschien. D ie L ehre von T riepel und PoetzschHeffter, die einen großen Erfolg hatte, ist dadurch gekennzeichnet, daß sie vor allem das „rechtsstaatliche“ E rfordernis einer A bgrenzung im Auge hat. Sie lenkte darum die nach Lage der D inge nun einm al unvermeidliche V erordnungspraxis aus der Scylla der Erm ächtigungsgesetze in die Cha­ rybdis der N otverordnungen. D er K am pf gegen die M inisterialbürokratie w ar praktisch nicht zu gewinnen, und die auf gestellten Abgrenzungen führten im Ergebnis n u r dazu, daß fü r jed e w irksam e Erm ächtigung eine verfassungsändernde, d. h. bei der dam aligen parteipolitischen Zersplitte1 Kommentar 3. Aufl. S. 300, ferner Jahrbuch des öffentl. Rechts XIII, 1925, S. 206 und 227 ff. 2 z. B. von Gustav Adolf W a l z , Staatsrecht in der systematischen Darstellung des gesamten deutschen Rechts, 1932, S. 392. * Der Kommentar von G i e s e (8.Aufl., 1931, S. 195) lehnte die Unterscheidung von „vereinfachten Gesetzen44 und „Rechtsverordnungen44 ebenfalls ab und ließ durch ein einfaches Gesetz Ermächtigungen auch zu „weitgehenden“ Verordnungsbefug­ nissen zu, doch müsse der „Umfang der Maßnahmen eindeutig umschrieben“ sein.

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rung des P arlam ents ganz utopische Zw eidrittelm ehrheit verlangt wurde. D er theoretische Vorzug der „alten“ Lehre bestand darin, daß sie formale und m aterielle Gesichtspunkte nicht verwechselte. Auch praktisch-politisch gesehen, ist es vom S tandpunkt einer gew altenteilenden Verfassung aus richtiger, die eigentliche A bgrenzung nicht in inhaltlichen Schranken, son­ dern n u r d arin zu suchen, daß die Rangverschiedenheit zwischen dem erm ächtigenden Gesetzgeber und der erm ächtigten Regierung gew ahrt bleibt, d. h., daß durch eine w irksam e Kontrolle, insbesondere durch das Recht des Parlam ents, A ufhebung der getroffenen V erordnungen zu ver­ langen, die U nterordnung der erm ächtigtenR egierung unter den W illen des erm ächtigenden P arlam ents sichergestellt w ird. Die neue Ermächtigungs­ theorie dagegen litt an dem Mangel, den alle K onstruktionen haben, die auf einer inhaltlichen Abgrenzung, also auf dem E rfordernis eines be­ stimmten Sachgebietes oder Zweckes oder auf der Unterscheidung selb­ ständiger und abhängiger N orm ierungen auf gebaut sind. Sie geriet da­ durch in das Dilem ma, das oben (I, 2) bereits für die verm ittelnden Theorien des französischen Verfassungsrechtes festgestellt und das aus folgenden G ründen unverm eidlich ist.: a) Die T rennung von unselbständigen A usführungs- oder Ergänzungs­ verordnungen, bei denen der Gesetzgeber selbst die gesetzliche Regelung inhaltlich bereits getroffen hat, und selbständigen Verordnungen, bei denen der G esetzgeber selbst die inhaltliche Regelung nicht getroffen hat, sondern einer anderen Stelle überläßt, verw endet imm er den unbestimm ten Zwischenbegriff der „E rgänzungsverordnung“ in einer Weise, die das Un­ klare und U ngenaue dieser A bgrenzung sofort sichtbar w erden läßt. W enn es grundsätzlidi unzulässig sein soll, die inhaltliche gesetzliche Regelung einer anderen Stelle zu überlassen, so muß diese U nzulässigkeit auch dann gelten, w enn der erm ächtigende Gesetzgeber die Überlassung auf ein be­ stimmtes Sachgebiet oder L ebensverhältnis noch so eng beschränkt. Ist aber, wie nach der alten Lehre, die Ü berlassung der inhaltlichen Regelung grundsätzlich zulässig, so k ann es n u r Sache des Gesetzgebers selbst sein, zu bestimmen, w iew eit er den Inhalt der Regelung, für die er die form al­ gesetzliche G rundlage liefert, der erm ächtigten R egierung überlassen will. Jedenfalls ist, soweit der G esetzgeber die inhaltliche Regelung selber bereits getroffen hat, ü b erh au p t kein Raum fü r Erm ächtigungen m ehr; soweit er sie nicht selber getroffen hat, kann ohne Rücksicht auf den Umfang der offen bleibenden inhaltlichen Regelung eine Ermächtigung entw eder nur zulässig oder unzulässig, nicht aber etw a für eine halb oder viertel offen­ bleibende R egelung zulässig und für den Rest unzulässig sein. b) Die A bgrenzung, die durch das E rfordernis eines bestim m ten Sach­ gebietes, L ebensverhältnisses oder Zweckes eintritt, ist n u r scheinbar be­ stimmt, in W irklichkeit überaus unbestim m t und relativ. Begriffe wie „Sachgebiet“, „L ebensverhältnis“, „Zweck“ usw. sind imm er von, der Lage der Sache abhängig; alle Sachgebiete und Lebensverhältnisse durchdringen und bestimm en sich gegenseitig. Soweit der Gesetzgeber nicht selbst durch 15 15

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eine genaue Regelung das Sachgebiet im juristischen Sinne selber genau um grenzt hat, kann man bei einer schwierigen und wechselnden Sachlage theoretisch immer darüber streiten, ob das, was fü r die Regelung offen­ bleibt, wirklich ein „bestimmtes“ Sachgebiet usw. ist oder nicht. Das ge­ samte bürgerliche Recht z. B. ist im V erhältnis zum Staatsrecht, Prozeß­ recht, Verwaltungsrecht usw. ein „bestim m tes“ Sachgebiet; im Verhältnis zum gesamten bürgerlichen Recht w iederum ist etw a n u r das Sachenrecht ein bestimmtes Sachgebiet, in diesem nur das H ypothekenrecht usw. Manches Sachgebiet w ird durch die Angabe eines bestim m ten Zweckes oder durch den Hinweis auf eine Sachlage überhaupt erst geschaffen. „Reform “, „An­ passung“, „Angleichung“, „Beseitigung einer N otlage“ sind je nachdem Sachgebiete, Lebensverhältnisse, Zwecke usw. D aß der ermächtigende Gesetzgeber bei der Erteilung seiner Ermächtigung irgendein derartiges Sachgebiet, einen Zweck oder dgl. angibt, versteht sich von selbst, weil sonst seine Ermächtigung überhaupt unverständlich w äre. Dagegen enthält das Erfordernis eines bestimm ten Sachgebietes, Lebensverhältnisses usw., näher betrachtet, überhaupt keine bestim m te Abgrenzung, sondern ist nur eine leere Umschreibung und W iederholung der Forderung, daß eine be­ stimmte Abgrenzung vorliegen müsse. c) Seinen eigentlichen Sinn hat das E rfordernis eines „bestim m ten Sach­ gebiets“ nur darin, daß es eine m ittlere Meinung darstellt, einen Kompro­ miß zwischen den beiden E xtrem en einer allzu eng erscheinenden grund­ sätzlichen Unzulässigkeit jed er Ermächtigung und einer grenzenlosen, die G efahr der Auflösung der Unterscheidung von Legislative und Exekutive mit sich bringenden grundsätzlichen Zulässigkeit jed e r Ermächtigung. Alle Bestimmungen der Grenzen des zulässigen Umfangs einer gesetzgebe­ rischen Ermächtigung können nur von dem praktischen Zweck eben dieser Ermächtigung her bestimmt w erden. Das Reichsgericht hat, ohne besondere verfassungsgesetzliche Grundlage, n u r aus dem praktischen Zweck eines Ermächtigungsgesetzes heraus, sogar die Zulässigkeit einer Untererm ächti­ gung des zuständigen Ressortm inisters durch die erm ächtigte Reichsregie­ rung abgeleitet. Die Begründung lau te t1: „Die Reichsregierung als Ganzes w ar gar nicht in der Lage, die drin­ gend erforderlichen, um fassenden A nordnungen zur Behebung der auf das äußerste gestiegenen Not des Reiches in allen rechtlichen Einzelheiten selbst zu geben. Sie hätte von dem Ermächtigungsgesetz überhaupt nicht den auch vom Reichstage gewollten Gebrauch machen können, wenn sie nicht wenigstens den Erlaß von A usführungsbestim m ungen den einzelnen M inistern hätte übertragen dürfen.“ Was hier für die Untererm ächtigung geltend gemacht w ird, muß mit noch größerem Recht für die Zulässigkeit der Erm ächtigung selbst gelten: ihre inhaltlichen G renzen dürfen nicht außerhalb der konkreten Notwendig­ keiten gesucht werden, die ein Ermächtigungsgesetz erforderlich machen. 1 Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Bd. 107, S. 318.

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D aher kann, w enn eine gesetzgeberische Erm ächtigung überhaupt zulässig ist, n u r d er die Erm ächtigung erteilende Gesetzgeber, nicht ein außen­ stehender D ritte r, zum Beispiel ein nachprüfendes Gericht, über ihren inhaltlichen Um fang entscheiden. 3. Das V erfassungsrecht des n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n Deutschen Reiches h at die gesam te, aus dem gew altenteilenden Gesetzesbegriff ent­ stehende Problem atik der gesetzgeberischen Erm ächtigungen h in ter sich gelassen. Das Reichsgesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24. März 19331 gibt der Reichsregierung die Befugnis, Gesetze, und zw ar auch Gesetze im form ellen Sinne, zu erlassen. D am it ist der entscheidende Schritt zur A ufhebung der T rennung von Legislative und E xekutive getan. Von den Begriffen des W eim arer Verfassungsrechts aus gesehen, w ar das allerdings noch eine gesetzgeberische „Erm ächtigung“, ein sog. verfassungs­ änderndes, richtiger: verfassungsbeseitigendes Ermächtigungsgesetz. A ber es w ar gleichzeitig der legale Hebel, m it dem das bisherige Verfassungs­ system und vor allem sein gew altenteilender Gesetzesbegriff aus den Angeln gehoben und der Boden eines neuen Gesetzesbegriffs erreicht werden konnte. D as Reichsgesetz über den N euaufbau des Reiches vom 30. Janu ar 1934 (RGBl. I, S. 75) hat diesen Boden befestigt und insbesondere außer Zweifel gestellt (was fü r einen K enner der verfassungsrechtlichen Geeamtentw ick lung niem als zw eifelhaft gewesen w ar), daß auch neue V er­ fassungsgesetze durch einen Beschluß der vom F ührer geleitetenReichsregierung zustande kommen. D am it entfiel eine das gesam te frühere Verfassungs­ system beherrschende sog. form elle Unterscheidung von verfassungs­ ändernden, im Sinne von erschw ert abänderbaren, und einfachen Gesetzen und w ar, m it einem neuen Gesetzesbegriff, auch ein neuer Verfassungs­ begriff gewonnen. III. Kein Staat der E rde k ann sich heute der N otw endigkeit einer „verein­ fachten“ Gesetzgebung entziehen. D ie kurze Übersicht über die Gesam t­ lage dieser Problem atik, die h ier versucht w urde, läßt sich aber, je nach dem grundsätzlichen Standpunkt des Betrachters, sehr verschieden deuten. W er in der D enkw eise eines gew altenteilenden K onstitutionalism us ver­ harrt, w ird geneigt sein, von einer bloßen Akzentverschiebung zu sprechen und bloße „Tendenzen zur S tärkung der E xekutive gegenüber der Legis­ lative“ (renforcém ent oder redressém ent du pouvoir exécutif) festzustellen, mit deren H ilfe sich der Gesetzesbegriff einer gew altenteilenden V er­ fassung außerordentlichen Lagen anpaßt12. Eine kühnere D eutung dagegen sieht die T rennung von Legislative und Exekutive bereits überw unden. Diese D eutung ist übrigens auch im Rahm en eines grundsätzlich liberalen K onstitutionalism us möglich. René C apitant, der es sich zur Aufgabe ge­ macht hat, das parlam entarische System Frankreichs durch vernünftige 1 RGBl. 1933 I, S. 141. 2 Dafür ist der Untertitel des Buches von T i n g s t e n bezeidinend: Texpansion des pouvoirs gouvernementaux pendant et après la grande guerre. 15*

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Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen

Reform en zu retten, e rk lä rt in einer Schrift über die Reform des P arla­ m entarism us1 Montesquieus überlieferte T rennung von Legislative und Regierung m it aller Entschiedenheit fü r geschichtlich überw unden und grundsätzlich falsch („une idée fausse“); er sagt m it Recht, daß die sog. décrets-lois wirkliche Gesetze sind; er sieht gerade in w eiten Ermäch­ tigungsgesetze u die R ettung des Parlam ents und des Parlam entarism us. Gesetzgebung ist fü r ihn heute wesentlich Regierungssache. „G ouverner c’est légiférer/' Diese Formel, die auf S tu art Mill zurückgeht, und die in der Sache der englischen Auffassung entspricht, faßt den grundsätzlichen W andel von der isolierten Legislative des gew altenteilenden Gesetz­ gebungsstaates zur heutigen P raxis der Regierungsgesetze am klarsten zusammen. Ich halte diese Form el in ih re r überzeugenden Einfachheit für ein bedeutendes Symptom, das erkennen läßt, wie sehr die Verfassungs­ begriffe Lockes und M ontesquieus überw unden sind und unser Rechts­ denken w ieder an Begriffe der vorkonstitutionalistischen Ü berlieferung der europäischen Geistesgeschichte anknüpft. D enn ein Gesetzesbegriff, der die Gesetzgebung als Sache der R egierung auffaßt, n äh ert sich dem Gesetzes­ begriff eines A ristoteles und eines Thomas von Aquin. Auch nach diesen großen Philosophen ist das Gesetz wesentlich ein A kt der Regierung; es ist, wie Thomas sagt, „nicht die ratio irgendw elcher Menschen, sondern in spezi­ fischer Weise die praktische V ernunft desjenigen, der die Gemeinschaft 'führt und regiert“, wesentlich „ratio gubernativa“ und ein „dictam en practicae rationis in principe qui gubernat aliquam com m unitatem perfectam “12. Selbstverständlich ergeben sich dam it neue Form en und neue Fragen des gesetzlichen Ermächtigungsrechts. A ber die spezifische Problem atik des gew altenteilenden Verfassungs- und Gesetzesbegriffs ist überw unden. Diese Problem atik beherrscht heute noch die verfassungsrechtliche Lage in den Vereinigten Staaten von A m erika. In F rankreich ist sie, wie mir scheint, in der Sache überholt und durch die anders gerichtete Frage ersetzt, welcher Regierung w eite Erm ächtigungen erteilt w erden können. In Eng­ land hat es sie überhaupt nicht gegeben. Schon diese Verschiedenheit der drei großen demokratischen L änder zeigt, daß der „Rechtsstaat*“ in diesen drei Ländern etwas Grundverschiedenes ist: in E ngland ein common lawGemeinwesen mit souveränem P arlam ent; in den V ereinigten Staaten eine Verfassungsunion mit einem das letzte W ort sprechenden höchsten Gerichts­ hof; in Frankreich ein G esetzesstaat m it einer die volonté générale repräsentierenden V olksvertretung. D eshalb w äre es unrichtig, die Be­ sonderheiten der zugrunde liegenden Verfassungs- und Gesetzesbegriffe über dem Allgemeinbegriff „D em okratie“ zu verkennen, ebenso wie es unwissenschaftlich wäre, die m annigfaltigen Form en und M ethoden einer „vereinfachten“ Gesetzgebung in den verschiedenen Staaten unter einem 1 La Réforme du Parlementarisme, Paris 1934. 2 Summa theologica 1 pars 2 quae. 90, 91 art. I; ebenso S u a r e z , Tractatus de legibus I § 6/8, wo die Gesetzgebung als ein „actus gubernationis“ und ein Ausfluß der „potestas gubernativa“ bezeichnet wird.

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Sammelbegriff von „ D ik ta tu r“ zusam m enzufassen und sie dadurch als vor­ übergehende A bnorm itäten zu disqualifizieren. D er rechtswissenschaft­ lichen Aufgabe, die inneren Entwicklungstendenzen des heutigen V er­ fassungslebens sachlich zu beurteilen, w ird m an mit solchen Schlagworten nicht gerecht.

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(1 9 3 6 ) Durch den rechtswissenschaftlichen Studienplan, den der Reichswissen­ schaftsminister R ust am 10. Jan u ar 1935 in K raft gesetzt hat, und durch die „Richtlinien für das Studium der Rechtswissenschaft“, die am 18. Januar 1935 verkündet w urden, ist die „Verfassungsgeschichte der N euzeit“ zu einem besonderen Lehrfach erhoben w orden. Das neue Fach ist nicht als eine aus Teilstücken, zum Beispiel aus der früheren Rechtsgeschichte, der politischen Geschichte, allgem einen S taatslehre usw. zusammengesetzte, bloße M aterien­ kombination, sondern als eine wissenschaftliche E inheit gedacht. Die Ü ber­ windung der T rennungen und Spezialisierungen, die den rechtswissen­ schaftlichen B etrieb der letzten G eneration kennzeichneten, aber auch die Überwindung der T rennung einer „rein juristischen“ von einer „rein geschichtlichen“ Betrachtungsw eise w ird durch diese neue Vorlesung zu einer wichtigen und schwierigen Aufgabe des deutschen Rechtslehrers. Es soll ja nicht etw a die Zahl der Spezialgebiete und D isziplinen um eine weitere verm ehrt w erden, vielm ehr ein zusammenfassendes Geschichtsbild entstehen, das die R ed itsentwicklung als eine Schöpfung deutschen Lebens in ihrer volklichen E inheit erkennen läßt.

I. Eine wirkliche „Verfassungsgeschichte der N euzeit“ ist daher nicht auf die Geschichte der typischen N orm enkodifikationen beschränkt, die m an im 19. Ja h rh u n d ert als „V erfassungen“ oder „K onstitutionen“ bezeichnete. Das W ort „Verfassung“ w ar seit dem 18. und im ganzen 19. Ja h rh u n d ert zu einer bloßen „Verdeutschung“ von „K onstitution“ geworden; der spezifische Begriff von „K onstitution“ w iederum ist, wie sich aus den A rbeiten von Augustin Cochin1 und Professor B ernard F ay vom Collège de F rance2 ergibt, in den F reim aurerlogen des 18. Jah rh u n d erts geboren. Sie hatten alle eine „K onstitution“ und haben dadurch den Mythos der Menschenrechte, der G ew altenteilung und des ganzen K onstitutionalism us geschaffen. 1 Augustin Codiin, Les sociétés de pensée et la démocratie, Paris 1921.

^2 Bernhard Fay, La Franc-Maçonnerie et la Révolution intellectuelle du XVIII. siècle, Editions de Cluny, Paris 1935. Erst durch dieses Buch fällt auf die bekannte Herkunft der „Erklärungen der Menschenrechte“ aus den Vereinigten Staaten von Amerika das aufhellende Licht wahrer geschiditlidler Erkenntnis.

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D ieser typisch „konstitutionalistische“ V erfassungsbegriff hat die bis­ herige Verfassungsgeschichte des letzten Jah rh u n d erts bestimm t. Es han­ delt sich also heute nicht nu r um „A uflockerungen“ der rein juristischen D arstellung nach der geschichtlichen und der politischen Seite hin, auch nicht um historisch-politische, rechtsphilosophische, soziologische oder son­ stige „A ufw ertungen“ eines bankerotten Gesetzesdenkens. In der neuen Verfassungsgeschichte w ird sich der nationalsozialistische, nicht m ehr liberale, auch nicht m ehr nationalliberale, und nicht m ehr freim aurerisch­ demokratische Verfassungsbegriff rechtswissenschaftlich bew ähren müssen, indem er sich auf die Einheit und G anzheit der Lebensordnung des deut­ schen Volkes richtet. Zur Verfassungsgeschichte gehört daher auch die Entw icklung des Eigen­ tumsbegriffs sowie der wesentlichen Methoden, Einrichtungen und Begriffe des bürgerlichen Rechts. D ie T rennung von öffentlichem und privatem Recht ist ein wichtiger Verfassungsbestandteil, weil sich in dieser Trennung der fundam entale Gegensatz von Staat und bürgerlicher Gesellschaft spiegelt, in mancher Hinsicht auch der von Albrecht W agner geschilderte Kam pf zwischen V erw altung und Justiz1, sowie die Stellung des Richtertum s und der Gerichte. Auch die Entwicklung des Strafrechts ist selbst­ verständlich ein Teil der V erfassungsentwicklung und fü r das 19. Jah r­ hundert nur als ein Anw endungsfall des liberal-au to ritären Kompromisses von Staat und Gesellschaft zu verstehen, der den Verfassungsbegriff der konstitutionellen Monarchie in D eutschland kennzeichnet. Die „Konsti­ tutionen“ des 19. Jahrhunderts w aren, nach dem W ort des Führers, ein „bürgerlich-legitim istischer Kom promiß“. In gleicher W eise wie das sog. m aterielle R edit muß auch das Prozeß- und V erfahrensrecht in die neue Disziplin einbezogen und im Lichte dieses Verfassungsbegriffs dargestellt werden. Es ist noch nicht genügend zum Bew ußtsein gekommen, in welchem Maße das bisherige deutsche Strafprozeßrecht das Beispiel einer Rezeption darstellt, die an T otalität der Rezeption des römischen Rechts nicht nach­ steht. Im Strafverfahren spiegelt sich der bürgerlich - legitimistische und ''daher liberal-autoritäre Kompromiß in dem N ebeneinander von unabhän­ gigem Richter und weisungsgebundenem Staatsanw alt. D er Kampf um den Strafprozeß ist also nicht nur deshalb ein Teil der Verfassungskäm pfe des 19. Jahrhunderts, weil die bekannten F ragen des Geschworenen- und Schöffengerichts und der sog. Prozeßm axim en von Öffentlichkeit, Mündlich­ keit und U nm ittelbarkeit auffällig im V ordergrund des innerpolitischen Kampfes stehen, sonderp vor allem auch deshalb, weil die G estaltung des Strafverfahrens stets ein A bbild oder noch besser: ein A nw endungsfall der Gesam tgestaltung des politischen Gem einwesens ist und h ier der Volks­ genosse als A ngeklagter oder V erletzter, das Volksganze dagegen im Richter, in der Polizei oder im öffentlichen A nkläger unm ittelbar sichtbar wird. Die Figur des heutigen Staatsanw alts insbesondere ist in ihrer 1 Albrecht Wagner, Der Kampf zwischen Verwaltung und Justiz in Preußen, Hamburg 1936.

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geschichtlichen Bedingtheit n u r im Zusammenhang m it der Verfassungs­ stru k tu r richtig zu erkennen, ebenso wie um gekehrt von dieser Figur aus ein aufhellendes Licht auf die G esam tverfassung fällt. D aher ist die Geschichte des Strafprozesses ein besonders wichtiger und unentbehrlicher Prüfstein fü r die Verfassungsgeschichte jedes Entwicklungsabschnittes, insbesondere auch des 19. Jahrhunderts. Man w ürde sich dem Verfassungs­ begriff des K onstitutionalism us ausliefern, w enn m an heute un ter Ver­ fassungsgeschichte n u r noch die Geschichte der vordergründigen S treit­ fragen, zum Beispiel des Kampfes um die M inisterverantw ortlichkeit, um parlam entarische R egierung oder Schwurgerichte verstehen wollte. Zwischen diesem Ziel einer neuen Rechtsdisziplin und seiner V erw irk­ lichung stehen aber die überkom m enen G ew ohnheiten und Überzeugungen, die hart verkrusteten Begriffe eines vergangenen Jah rhunderts einer liberalautoritären W elt. D er rechtswissenschaftlich w eniger geübte und w eniger gebildete „reine“ H istoriker der nahen V ergangenheit ist hier oft der G efahr erlegen, solche überlieferten festen V orstellungen als unbestreitbare W irk­ lichkeiten hinzunehm en und seine O b jek tiv ität darin zu erblicken, daß er sich ih rer ohne gründliche rechtswissenschaftliche K ritik bedient. Diese G efahr ist für den Geschichtsschreiber der w eiter zurückliegenden Zeiten nicht so groß, w eil h ier die Begriffsresiduen nicht m it derselben K raft nachwirken, vielm ehr die andere G efahr einer m usealen N eu tralität nahe­ liegt. So e rk lä rt es sich, daß zum Beispiel die verfassungsgeschichtliche Bedeutung der Unterscheidung von konstitutioneller und parlam en tari­ scher Regierung bisher fast nirgend erk an n t w orden ist; eine Zweck­ antithese, die aus diesen bloßen N uancen des lib eral-autoritären Kom­ promisses einen tiefen weltanschaulichen Unterschied zu machen suchte, wurde unbesehen w eitergeschleppt, w eil sie in Preußen scheinbar Erfolg hatte. In W ahrheit w ar dieser Erfolg eine schwere N iederlage des preußi­ schen Staatsgedankens. D er Sieg des liberalen K onstitutionalism us hatte sich gerade darin gezeigt, daß der preußische Staat, als er 1848 nachgeben mußte* sich, um dem P arlam entarism us zu entgehen, an diesen sekundären Unterschied von konstitutioneller und parlam entarischer R egierung klam ­ m erte und eben dadurch den fü r ihn gefährlichen Boden des K onstitutio­ nalismus b etrat, denn die „konstitutionelle“ Regierung kann immer höchstens ein V orstadium auf dem W ege zur parlam entarischen Regierung sein. Die ganze Macht der konstitutionalistischen Fragestellung und Be­ griffsbildung tritt hier zutage. Ih r w ar der innerpolitische G egner geistig verfallen. Die nationalliberale W eltanschauung — deren zeitlichen Beginn mit der B egründung des N ationalvereins und einer national-liberalen P artei zu datieren m ehr als naiv ist — konnte selbstverständlich am a lle r­ wenigsten aus dem Zirkel ihres konstitutionellen Verfassungsbegriffs h er­ austreten. F ü r die N ationalliberalen m ußte die Unterscheidung von kon­ stitutionell und parlam entarisch daher ebenfalls wesentlich sein; ihre eigene K om prom ißhaftigkeit konnte n u r durch die Ü bertreibung solcher sekundären D istinktionen den Schein tieferer Bedeutung erhalten. Solange

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diese national-liberale W eltanschauung im Verfassungsrecht und in der Verfassungsgeschichtsschreibung vorherrschte, m ußte auch diese U nter­ scheidung als eine „positive“ G rundw ahrheit ersten Ranges erscheinen und die A ufm erksam keit von der allein wesentlichen K ernfrage nach dem poli­ tischen Sinn des Konstitutionalism us selbst ablenken. Jeder Versuch, die innere institutioneile Folgerichtigkeit des konstitutionellen Systems und seine weltanschauliche Tragw eite rechtswissenschaftlich aufzudecken, er­ schien solchen Positivisten als eine unhistorische oder reaktionäre, wissen­ schaftlich unzulässige Begriffsspielerei. D ie Folge w ar, daß, ebensosehr wie die positivistischen Juristen, auch die nationalliberalen H istoriker dem „konstitutionellen“ Verfassungsbegriff verfielen und sich schließlich über­ haupt kaum noch eine andere „m oderne“ Verfassung denken konnten, als die des konstitutionellen 19. Jahrhunderts. D ie A useinanderreißung des „rein Jurististischen“ vom „rein Historischen“ hat h ier schlimmes Unheil angerichtet. Die „unjuristisch“ gewordene Verfassungsgeschichte hat da­ durch nicht weniger an W ert verloren als diese „unpolitisch“ gewordene Wissenschaft des Verfassungsrechts. H eute kann die Spaltung überw unden werden. Mit dem Lehrfach „Verfassungsgeschichte“ beginnt hoffentlich auch ein neuer Abschnitt der Geschichtswissenschaft. D ie schwierige Aufgabe des Umdenkens und Umpflügens der überlieferten Begriffe ru h t dabei vor allem auf unserer neuen rechtswissenschaftlichen A rbeit.

II. Das erste ist die Erkenntnis, daß alle W issenschaft des Verfassungs­ rechts ein lebendiger Teil der V erfassungsw irklichkeit ist, das heißt die E rkenntnis des Zusammenhanges von politischer Entwicklung und ver­ fassungsrechtlicher Begriffsbildung. Ein echter S treit um politische W orte und verfassungsrechtliche Begriffsbestimmungen ist m eistens alles andere als ein leerer W ort- und Begriffsstreit; er kann vielm ehr ein sicheres Zeichen der gesteigerten Intensität geistiger A useinandersetzungen sein. D er letzte Abschnitt der deutschen Verfassungsgeschichte ist im Jahre 1933 zu Ende gegangen. E r hatte im Jah re 1890 begonnen. D as politische Ereignis, das den Anfang des neuen Abschnitts bestimm te, w ar Bismarcks Entlassung. „Jahrzehntelang“, sagt Theodor von der Pfordten in seinem „A ufruf an die Gebildeten deutschen Blutes“, „habt Ih r untätig und gleich­ gültig zugesehen, wie seit Bismarcks Abgang die F lu t undeutscher Bestre­ bungen das Staatsgefüge lockerte und unsere W issenschaft m it ihrem töd­ lichen Gift durchdrang“1. Im Jahre 1890 w ar der Sieg des verfassungs­ rechtlichen Positivismus entschieden, dessen an erk an n ter F ü h re r der jüdische Rechtsgelehrte Laband w ar. D er erste entscheidende Erfolg w ar Labands 1871 erschienene Schrift über das Budgetrecht. Diese Schrift ver­ tritt einen „form ellen“ Gesetzesbegriff, dessen „Form “ bereits ganz „Form ohne Prinzip“, das heißt neutralisierende G rundsatzlosigkeit ist, und dessen Begriffsbildung den Sinn hat, den ungelösten Prinzipienkam pf des 1 Theodor von der Pfordten, An die Deutsche Nation, München 1933.

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preußischen Budgetkonflikts von 1862 bis 1866 auf sich beruhen zu lassen und m it H ilfe angeblich rein juristischer, form eller Vorstellungen zu ent­ politisieren. D as h ä tte eine lehrreiche Veranschaulichung zu dem Satze sein können, daß in der Geschichte „die Problem e nicht gelöst, sondern nur abgelöst“ w erden; es w ar aber nicht nu r eine Ablösung, sondern eine völlige, absichtliche Ignorierung des politischen Problems. Die erste Auflage von Labands Reichsstaatsrecht erschien 1876; mit der zweiten Auflage, 1887, begann der Siegeszug seiner Methode und die H errschaft des „juristischen Positivism us“ im öffentlichen Recht. Was sich dieser juristischen Methode entgegenstellte, blieb ohne jede W irkung, ja fast ohne Eindruck auf die damals heranw achsende G eneration. G ierkes berühm ter Aufsatz in Schmollers Jahrbuch aus dem Jah re 1883 und die W arnungen Lorenz von Steins aus dem Jah re 1885/86 (im V orw ort zur 5. Auflage seines Lehrbuchs der Finanzwissenschaft) konnten den Sieg Labands nicht auf halten. Albert Haenels Deutsches Staatsrecht, dessen erster Band 1892 in Bindings H and­ buch herauskam , ist kein er der bedeutenden Leistung gerecht werdenden juristischen Besprechung m ehr gew ürdigt worden. Ein zw eiter Band ist nicht erschienen. Dieses Buch w ar zw ar durchaus nationalliberal, aber auch darin noch zu sehr politisch substanzhaft für die als juristisch und posi­ tivistisch sich ausgebende Substanzlosigkeit des im Jahre 1890 einsetzen­ den Entwicklungsabschnittes. Die A rbeit der älteren G eneration der wissenschaftlichen V ertreter des dam aligen öffentlichen Rechts behielt ihren Schwerpunkt in den Einzelstaaten: Rudolf von Gneist in Berlin, Max von Seydel in München, R obert von Mohl in Tübingen. D ort starb sie aus. Von Straßburg, der H au ptstadt eines nicht zu den verbündeten Regierungen gehörenden „Reichslandes“, aus beherrschte der Positivismus des Juden Laband das Staatsrecht des zweiten Reiches. In dieser Lage der Verfassungsrechtswissenschaft enthüllt sich, wie in jeder verfassungsrechtswissenschaftlichen Entwicklung, mit untrüglicher E xaktheit der K ern der politischen W irklichkeit. H ier w ird die entschei­ dende G rundlinie des Staatsgefüges zum G reifen sichtbar. Die „Exekutive“, Heer und Finanzen, Polizei und V erw altung, mit einem W ort: die staat­ liche Substanz w a r den E inzelstaaten verblieben. Deshalb m ußte auch das, was sinnvollerw eise „Staatsrecht“ genannt w erden kann, in den Einzel­ staaten verbleiben. A ber es konnte sich wegen der starken Entwicklung zum deutschen N ationalstaat dort nicht halten. Auf der anderen Seite w ar das Reich noch nicht zum sicheren T räger der staatlichen Substanz des ein­ heitlichen deutschen N ationalstaates geworden. Die einzelnen Staaten w aren also nicht m ehr, das Reich w ar noch nicht Staat. Die einer solchen Zwischenlage zugeordnete Staatsrechtswissenschaft konnte nu r solche „form elle“ Begriffe anerkennen, die form ell im Sinn einer „Form ohne Prinzip“ w aren. Die W endung „Form ohne P rin zip “ ist überaus kennzeichnend für diesen Abschnitt der Rechts- und Verfassungsgeschichte. Sie ist in dieser brutalen Offenheit zuerst im Strafprozeßrecht aufgetaucht, als Kennzeichnung der

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A nklage des sog. reform ierten gemeinen Strafprozesses, der eine „Anklage­ form ohne A nklageprinzip“ zu schaffen suchte, sie ist aber w eit über diesen wichtigen Fall hinaus von typischer Bedeutung als treffende Formel für eine bestimmte A rt juristischen Denkens. Ih re H errschaft setzt ein mit dem „form alisierten“ Begriff des Rechtsstaats, den der jüdische Rechtslehrer Stahl-Jolson geprägt und mit durchschlagendem Erfolge in der gesamten Denkw eise der folgenden Zeit zur H errschaft gebracht hat. Ih r Sieg entschied sich nach 1871; der „form elle“ Gesetzesbegriff Labands ist ih r größter Trium ph, der bis zum Siege des Nationalsozialism us anhielt und erst 1933 überw unden w erden konnte. Zu den gegenw ärtigen A ufgaben einer deut­ schen Verfassungsgeschichte gehört daher vor allem die Überwindung dieser Trennung von Form und Prinzip, und zw ar sowohl der „Form ohne P rinzip“ als auch des „Prinzips ohne Form “, also die H erausarbeitung echter, aus den G rundsätzen der nationalsozialistischen W eltanschauung gestalteten Form en der Lebensordnungen des deutschen Volkes.

28. Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat (1937) I. In einem gewissen Sinne hat es zu allen Zeiten totale Kriege gegeben; eine Lehre vom totalen K rieg gibt es aber wohl erst seit Clausewitz, der von einem „ab strak ten “ und „absoluten“ Kriege spricht. U nter dem Ein­ druck der E rfahrungen des letzten großen Krieges hat dann die Form el vom totalen K rieg einen spezifischen Sinn und eine besondere W irkungs­ kraft erhalten. Seit 1920 ist sie zum beherrschenden Schlagwort geworden. Sie w urde zuerst im französischen Schrifttum, in Büchertiteln wie „La guerre to tale“ scharf herausgestellt. D ann fand sie 1926—28 in den V er­ handlungen der Abrüstungsausschüsse in Genf A usprägungen in den Be­ griffen des „potentiel de g u e rre “, des „désarm em ent m oral“ und des „dés­ arm ement to ta l“. D ie faschistische L ehre vom „totalen Staat“ kam ih r von der staatlichen Seite her entgegen; die V erbindung ergab das Begriffspaar: totaler Staat — to taler Krieg. In Deutschland erw eitert die H erausarbeitung des „Begriffs des Politischen“ seit 1927 den Zusammenhang dieser Totali­ täten zu der Reihe: to taler Feind, to taler Krieg, totaler Staat. E rnst Jüngers Schrift „Totale M obilmachung“ (1930) bew irkte den Durchbruch der Form el ins allgem eine Bewußtsein. A ber erst Ludendorffs Broschüre „Der totale Krieg“ (1936) h at ihre K raft ins Unw iderstehliche und ihre V erbreitung ins Unabsehbare gesteigert. Die Form el ist überaus treffend; sie zwingt zum Anblick einer W irk­ lichkeit, von deren Schrecken sich das allgem eine Bewußtsein lieber ab­ wendet. Solche Form eln sind aber auch stets in G efahr, landläufig und weitläufig zu werden und zu summarischen Schablonen, zu bloßen Schall­ platten des publizistischen B etriebes herabzusinken. Es ist daher gut, einige K larstellungen vorzunehm en. a) Ein K rieg k ann total sein im Sinne der äußersten K raftanspannung und des äußersten Einsatzes aller, auch der letzten Reserven. Er kann aber auch im Sinne der W irkung auf den G egner total genannt werden, also im Sinne des rücksichtslosen Einsatzes vernichtender Kriegsm ittel. W enn der bekannte englische A utor J. F. C. F u ller in einer kürzlich erschienenen Schrift „The first of the League W ars, its lessons and omens“ sagt, daß der italienische Feldzug in Abessinien ein m oderner „totaler“ Krieg war, so spricht er n u r von dem Einsatz w irksam er Waffen (Flugzeuge und Gas), w ährend, von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachtet, Abessinien überhaupt keines m odernen totalen Krieges fähig w ar und auf der anderen Seite w eder Italien beim äußersten Einsatz seiner Reserven angelangt w ar, noch der durch die Sanktionen des V ölkerbundes ausgeübte Druck seinen

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höchsten G rad erreicht hatte, da es w eder zu einer ö lsp e rre noch zur Schließung des Suezkanals gekommen ist. b) Ein Krieg kann auf beiden Seiten oder n u r auf einer Seite total sein. E r kann auch durch die geographische Lage, durch die Kriegstechnik, aber auch durch die herrschenden politischen G rundsätze auf beiden Seiten bew ußt beschränkt, rationiert und dosiert w erden. D er typische Kabinetts­ krieg des 18. Jahrhunderts w ar ein bew ußt grundsätzlich p a rtielle r Krieg; er beruhte auf der klaren Trennung des am Kam pf teilnehm enden Soldaten vom unbeteiligten gew erbetreibenden Bürger, des K om battanten vom Nicht­ kom battanten. Auf der Seite Preußens aber w ar der Siebenjährige Krieg Friedrichs des Großen trotzdem im Vergleich zu den K raftanspannungen der anderen Mächte verhältnism äßig total. H ier zeigte sich auch bereits eine fü r Deutschland typische Lage: daß ein deutscher Staat durch die Ungunst der geographischen V erhältnisse und durch frem de K oalitionen gezwungen wird, seine K räfte in höherem Maße anzuspannen als die G roßen unter seinen wohlhabenderen und glücklicheren Nachbarn. c) D er C h arak ter des Krieges kann sich im V erlauf der kriegerischen Auseinandersetzung ändern. D er Kam pfw ille kann erschlaffen; er kann sich aber auch steigern, wie das im W eltkriege 1914—18 geschehen ist, wo die Entwicklung des Krieges auf deutscher Seite bald zum Einsatz aller wirtschaftlichen und industriellen Reserven, auf englischer Seite zur Ein­ führung der allgemeinen W ehrpflicht zwang. d) Endlich entwickeln sich mit der T otalität des K rieges gleichzeitig immer auch besondere Methoden einer nicht totalen A useinandersetzung und Kräftemessung. Denn zunächst sucht jed e r den totalen Krieg, der naturgem äß ein totales Risiko mit sich bringt, zu verm eiden. So haben sich in der Nachkriegszeit die sog. m ilitärischen Repressalien (Korfu-Kon­ flikt 1923, Japan-C hina 1932), ferner die Versuche nichtm ilitärischer W irt­ schaftssanktionen nach Art. 16 der V ölkerbundssatzung (H erbst 1935 gegen Italien), endlich auch gewisse Methoden der K raftprobe auf frem dem Boden (Spanien 1936/37) in einer Weise herausgebildet, die ihre richtige Deutung nur im engsten Zusammenhang m it dem totalen C h a ra k te r des m odernen Krieges finden. Sie sind Übergangs- und Zwischenbildungen zwischen offenem Krieg und wirklichem Frieden; sie erhalten ihren Sinn dadurch, daß der totale Krieg als Möglichkeit im H intergründe steht und eine be­ greifliche Vorsicht die Absteckung gewisser Zwischenräume nahegelegt. N ur unter diesem Gesichtspunkt können sie auch völkerrechtswissenschaftlich verstanden werden. II. Im Kriege steckt der Kern der Dinge. Von der A rt des totalen Krieges her bestimmen sich A rt und G estalt der T otalität des Staates; von der besonderen A rt der entscheidenden Waffen her bestim m t sich die besondere A rt und G estalt der Totalität des Krieges. D er totale K rieg aber erhält seinen Sinn durch den totalen Feind. Die verschiedenen W affengattungen und K riegsarten, Landkrieg, See-

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krieg, L uftkrieg, prägen die T otalität des Krieges in verschiedenartiger Weise aus. Um jede dieser K riegsarten w ölbt sich eine ihr in besonderer Weise zugehörige W elt von Vorstellungen und Begriffen. Die überlieferten Vorstellungen von der „levée en masse“, der „nation arm ée“ und dem „Volk in W affen“ gehören zum Landkrieg. Von diesen Vorstellungen her hat sich die kontinentale T heorie des totalen Krieges, insbesondere durch Clausewitz, wesentlich als eine Lehre vom L andkrieg entwickelt. D er See­ krieg hat nicht n u r seine besonderen strategischen und taktischen Methoden und M aßstäbe; er w ar auch im ganzen bisher imm er in besonderem Maße ein K rieg gegen H andel und W irtschaft des Gegners; daher ein Krieg gegen N ichtkom battanten, ein W irtschaftskrieg, der durch sein Prisen-, Konterbande- und Blockaderecht auch den neutralen Handel in den Krieg einbezog. D er L uftkrieg h at bisher noch nicht in gleicher W eise ein voll­ ständiges und selbständiges System ausgebildet; es gibt noch kein W eltbild des Luftkrieges, das den vom L andkrieg und vom Seekrieg her gewonnenen Vorstellungswelten entspräche. Doch w ird auch heute schon durch den L uft­ krieg die G esam tgestalt eines dreidim ensional totalen Krieges wesentlich beeinflußt. Das O b des totalen K rieges steht heute außer Frage. Das W ie kann sehr verschiedenartig sein. D ie T otalität läßt sich nämlich von ganz ent­ gegengesetzten A usgangspunkten her gewinnen. D aher ist auch der m aß­ gebende Typus, in dessen H änden die F ührung und Leitung des totalen Krieges liegt, notw endig verschieden. Es w äre eine allzu einfache Gleichung anzunehmen, daß in dem selben Maße, in dem der Krieg total w ird, der Soldat als herrschender T ypus in den M ittelpunkt dieser T otalität tritt. Wenn, wie m an gesagt hat, die totale Mobilmachung den Unterschied von Soldat und Zivilist auf hebt, so k ann das ebensogut zur Folge haben, daß der Soldat sich in einen Zivilisten, wie daß der Zivilist sich in einen Sol­ daten oder beide sich in etw as Neues, D rittes verw andeln. In W irklichkeit kommt alles auf den G esam tcharakter des Krieges an. Ein echter Religions­ krieg macht den Soldaten zum W erkzeug des Priesters oder des Predigers. Die A usprägung des totalen Krieges, die von der W irtschaft her gewonnen wird, macht ihn zum W erkzeug wirtschaftlich leitender M achtgruppen. Es gibt andere Form en, durch welche der Soldat selbst die vorbildlich typische Gestalt und der gesteigerte Ausdruck völkischer W esensart w ird. Geo­ graphische Lage, rassische und soziale Besonderheiten aller. A rt bew irken es, daß bei großen V ölkern die eine oder die andere bestim m te K riegsart das Übergewicht hat. Auch heute ist es unwahrscheinlich, daß ein Volk sich in allen drei K riegsarten in gleicher W eise auf den dreidim ensional totalen K rieg einrichten könnte. V ielm ehr w ird der Schw erpunkt der kriegerischen K raftentfaltung imm er in der einen oder der anderen K riegs­ a rt liegen und von d orther das W eltbild des totalen Krieges seine eigen­ tümliche G estalt gewinnen. Bis auf den heutigen Tag ist die Geschichte der europäischen V ölker von dem G egensatz des englischen Seekriegs und des kontinentalen Land-

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kriegs beherrscht. Es handelt sich bei dieser Feststellung nicht etw a um Betrachtungen des Gegensatzes von „H ändler und H elden“ oder dgl., son­ dern um die Erkenntnis, daß jede der verschiedenen K riegsarten in sich total werden kann und aus ihren Eigentüm lichkeiten heraus eine besondere W elt weltanschaulicher, völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Be­ griffe und Ideale entwickelt, die insbesondere für die Bew ertung des Sol­ daten und für seine Stellung im Gesam torganism us des Volkes von ent­ scheidender Bedeutung sind. Es w äre ein Irrtum , den englischen Seekrieg der letzten dreihundert Jahre zum Unterschied von dem totalen Landkrieg der Lehre von Clausew itz als einen wesentlich nichttotalen, bloßen Handels­ und W irtschaftskrieg anzusehen und die ihm eigentümliche, sehr aus­ geprägte A rt von T otalität zu verkennen. Auch der englische Seekrieg ist der Kern eines totalen W eltbildes geworden. D er englische Seekrieg ist nämlich total im Sinne der Fähigkeit zu einer totalen Feindschaft. E r weiß religiöse und weltanschauliche, seelische und moralische K räfte zu m obilisieren, wie n u r irgendeine der großen, weltgeschichtlichen K riegsarten. D er englische Seekrieg gegen Spanien w ar ein W eltkam pf germanischer und romanischer Völker, zwischen Protestan­ tismus und Katholizismus, Kalvinism us und Jesuitism us, und es gibt wenig Beispiele für solche Ausbrüche tiefster und letzter Feindschaft, wie man sie in Crom wells H altung gegenüber den Spaniern findet. D er englische Krieg gegen Napoleon w urde ebenfalls vom Seekrieg h er zum „K reuzzug“. Im Kriege gegen Deutschland 1914—18 h at es die englische W eltpropaganda verstanden, im Namen der Zivilisation und der Menschheit, der Dem okratie und der F reiheit ungeheure geistige und moralische Energien gegen den preußisch-deutschen „M ilitarism us“ einzusetzen. D er englische Geist hat auch die K raft bewiesen, den industriell-technischen Aufschwung des 19. Jahrhunderts im Sinne des englischen W eltbildes zu deuten; H erbert Spencer hat ein überaus w irkungsvolles, in zahllosen Popularisierungen über die ganze W elt verbreitetes Geschichtsbild entw orfen, dessen propa­ gandistische K raft sich im W eltkrieg 1914—18 b ew ährt hat, nämlich die Philosophie vom Fortschritt der Menschheit als einer Entwicklung, die vom Feudalism us weg zu H andel und W irtschaft, vom Politischen zum ö k o ­ nomischen, vom Soldaten zum Industriellen, vom K rieg zum F rieden geht. Dadurch w ird der Soldat im preußisch-deutschen Sinne zu etw as eo ipso „Feudal-R eaktionärem “, zu einer „m ittelalterlichen“ F igur, die dem F o rt­ schritt und dem Frieden im Wege steht. D er englische Seekrieg hat fern er aus seiner Besonderheit heraus ein vollständiges, in sich geschlossenes völkerrechtliches System entwickelt und durchgesetzt, m it eigenen Begriffen, die sich gegenüber den ent­ sprechenden Begriffen des kontinentalen V ölkerrechts das ganze 19. Ja h r­ hundert hindurch behauptet haben; es gibt einen angelsächsischen Feind­ begriff, der eine kontinentale Unterscheidung von K om battanten und Nicht­ kom battanten grundsätzlich ablehnt, einen angelsächsischen Kriegsbegriff, der den sog. W irtschaftskrieg einbezieht, kurz, die fundam entalen Begriffe

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und Normen dieses englischen Völkerrechts sind ebenfalls in sich total und das sichere Kennzeichen eines in sich totalen W eltbildes. Das englische Verfassungsideal endlich hat die U nterordnung des Sol­ daten unter den B ürger zum weltanschaulichen Prinzip erhoben und im Laufe des liberalen 19. Jahrhunderts auf dem europäischen Kontinent durchgesetzt. Zivilisation im Sinne dieses Verfassungsideals ist H errschaft der zivilen, bürgerlichen, wesentlich nichtsoldatischen Ideale; Verfassung im Sinne dieser Vorstellung ist immer n u r ein zivil-bürgerliches System, für welches, nach der bekannten Form ulierung Clemenceaus, der Soldat nur deshalb Daseinsberechtigung hat, weil er die zivile bürgerliche G e­ sellschaft verteidigt und grundsätzlich der Führung von Zivilisten u n ter­ worfen ist. D er preußische Soldatenstaat hat einen hundertjährigen innen­ politischen Kam pf gegen diese bürgerlichen Verfassungsideale geführt. E r ist ihnen im H erbst 1918 unterlegen. Die innenpolitische Geschichte PreußenDeutschlands von 1848 bis 1918 w ar ein fortw ährender Konflikt zwischen Heer und Parlam ent, ein ununterbrochener Kampf, den die Regierung mit dem Parlam ent um die G estaltung des Heeres, insbesondere um den H eeres­ haushalt führen m ußte und in welchem nicht außenpolitische Notwendig­ keiten, sondern innenpolitische Kompromisse die V orbereitung auf den unvermeidlichen Krieg beherrschten. Dem V ersailler D iktat, das alle Einzel­ heiten der O rganisation und A usrüstung des H eeres durch einen außen­ politischen „V ertrag“ festlegte, sind fünfzig Jah re lang periodische innen­ politische V erträge zwischen dem preußisch-deutschen Soldatenstaat und seinen innenpolitischen G egnern vorausgegangen, die alle Einzelheiten der Organisation und A usrüstung des H eeres innenpolitisch bindend bestimm ­ ten. D er Zwiespalt von bürgerlicher Gesellschaft und preußischem Soldaten­ staat führte zu unnatürlichen A btrennungen des Kriegsm inisterium s von der Kommandogewalt und zu vielen anderen A ufsplitterungen, deren letzte W urzel imm er der Gegensatz eines von England d irekt oder über Frankreich und Belgien im portierten, bürgerlichen und eines ursprünglich deutschen, soldatischen Verfassungsideals gewesen ist. Deutschland hat diesen Zwiespalt heute überw unden und entfaltet in geschlossener Einheitlichkeit seine soldatische K raft. N atürlich w ird es nicht an Versuchen fehlen, das nach der A rt frü h erer Propagandam ethoden als M ilitarismus hinzustellen, um Deutschland die Schuld an der Entwicklung zum totalen K rieg zu geben. Auch solche Schuldfragen gehören zur T otalität der weltgeschichtlichen Auseinandersetzungen. Le combat spirituel est aussi brutal que la bataille d’hommes. Bevor die V ölker jedoch w iederum in einen totalen K rieg hineintaum eln, sollte m an die Frage stellen, ob heute wirklich unter den europäischen Nationen eine totaleFeindschaft vorhanden ist. Krieg und Feindschaft gehören zur Geschichte der Völker. Das schlimm­ ste Unheil aber tritt erst ein, wenn, wie im Kriege 1914—18, die Feind­ schaft sich aus dem K riege entwickelt, statt daß, wie es richtig und sinnvoll ist, eine vorher bestehende, unabänderliche, echte und totale Feindschaft zu dem G ottesurteil eines totalen Krieges führt.

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Der Begriff der Piraterie

29. Der Begriff der Piraterie (1937) D ie Konferenz von Nyon, die am 11. Septem ber 1937 zusam m engetreten ist, heißt A ntipiraten- oder Piraterie-K onferenz (conference on piracy) und spricht im amtlichen T ext des am 14. Septem ber Unterzeichneten Beschlusses der neun Teilnehm erm ächte davon, daß bestim m te, gegen die Regeln von Teil IV des Londoner Abkom m ens vom 22. A pril 1930 verstoßende Ver­ senkungen von Handelsschiffen durch U-Boote als „acts of p ira c y “ be­ handelt w erden sollen. Nach der alten, auch anläßlich dieser Konferenz oft w iederholten Form el gilt der P ira t als „Feind des Menschengeschlechts“, hostis generis hum ani. D as w urde frü h e r m it seiner „general hostility“ begründet, weil seine räuberischen Absichten unterschiedslos alle Staaten treffen, w eshalb je d e r Staat ihn unschädlich machen darf. „D er solidarische F eind“, sagt K arl Binding dazu, „muß den solidarischen W iderstand er­ zeugen.“ Nach der bisherigen Auffassung des kontin entalen V ölkerrechts w ar es fü r den Begriff der P ira te rie wesentlich, daß sie sich in einem leeren Raum völliger N ichtstaatlichkeit, abspielte. U nter diesem Gesichtspunkt ist eine ganze Reihe negativer B egriffsm erkm ale scharf und folgerichtig herausgearbeitet worden. Nicht nur, daß der Schauplatz der P iraterie das freie M eer ist als ein kein er staatlichen G ebietshoheit unterw orfener staatsfreier Raum. Als wesentlich galt auch, daß der T äter, sei es als Voraus­ setzung, sei es als Folge seiner Tat, „denationalisiert“, also wenn nicht staatenlos, so doch jedenfalls von keinem Staat gehalten oder gar autori­ siert w ird. F e rn e r durfte die Angriffsrichtung der T at nicht gegen einen bestim m ten Staat gehen, sie m ußte der E v entualität nach alle Staaten treffen, das Motiv w ar priv ate Bereicherung, m an sprach vom „anim us fu ran d i“ usw. Entsprechend der Gleichsetzung von staatlich und politisch galt die P iraterie infolgedessen als eine typisch unpolitische A ktion. D ie bisher beste deutsche monographische Behandlung von P aul Stiel (Der T atbestand der Piraterie, 1904, S. 80) schließt daraus in Ü bereinstim m ung m it H all, Rougier, Bishop: „Ein U nternehm en, das politische Zwecke verfolgt, ist nicht P iraterie.“ D araus w ird sogar gefolgert, daß H andlungen rev olutionärer Parteien, auch w enn sie gegenüber Mächten begangen w erden, von denen noch keine An­ erkennung als kriegführende P a rte i erfolgt ist, nicht als P ira te rie gelten können, „solange n u r der politische Zweck der M aßnahm e in ihnen erkenn­ b ar ist“. Die A ktion gegen den P ira te n ist infolgedessen ebenfalls un­ politisch. Sie ist kein Krieg, sondern entw eder, nach der englischen Auf­ fassung, Straf justiz oder, nach der kontinentalen K onstruktion, eine Maß­ nahm e der internationalen Seepolizei. In dieser ganzen, kontroversenreichen L ehre der P ira te rie mischen sich antike, m ittelalterliche und neuzeitliche Begriffselem ente, und es besteht die G efahr, daß die W irklichkeit der heutigen Sachlage u n ter irrefü h ren ­ den Form eln und Begriffsresiduen verborgen bleibt. W ir sprechen hier

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nicht von P iraten des A ltertum s oder des M ittelalters, sondern von der G egenw art und dem M ittelmeer. Angesichts der wirklichen Organisation der heutigen Staatenw elt w ird jen er wesentlich nichtstaatliche, unpolitische C harak ter der P iraterie sofort problematisch. W er sich insbesondere die staatlich-politische Lage des heutigen M ittelmeers vergegenw ärtigt, steht sofort vor der Frage, wo denn jen er unpolitische Seeräuber den juristischen Leerraum völliger Nichtstaatlichkeit finden soll, in dem er sein G ew erbe betreibt. „R aubstaaten“ und „B arbaresken“ gibt es glücklicherweise nicht mehr; sie sind seit der E roberung Algiers vor über 100 Jahren ver­ schwunden. R evolutionäre P arteien sollen, wie gesagt, wegen ihres poli­ tischen C h arak ters nicht P iraten sein. Die m oderne Technik der m aritim en V erkehrsm ittel und Kriegswaffen hat zw ar neue Möglichkeiten der G ew alt­ anwendung auf hoher See geschaffen, gleichzeitig aber auch an die Stelle schwerbeweglicher, feudalständischer Gebilde die straff zentralisierten Organisationen eines m odernen Staates gesetzt und deren Kontrollmöglichkeiten ungeheuer gesteigert. Man braucht n u r die technischen Machtmittel einer m odernen Polizei m it denen des 18. und selbst noch des 19. Jah r­ hunderts zu vergleichen, um zu verstehen, was hier gemeint ist. Schon durch diese technischen M ittel w ird der m oderne Staat immer geschlossener, in diesem Sinne imm er „to taler“, und w ird der leere Raum der Nichtstaatlich­ keit, der fü r den Begriff der P iraterie verlangt w ird, immer kleiner und bedeutungsloser. D ie K ehrseite dieser T otalität des Staates ist bekanntlich eine entsprechend totale V erantw ortlichkeit für alles, was in seinem perso­ nalen oder territo ria le n Machtbereich vor sich geht. Wie soll sich aber heute ein verw egenes Individuum oder eine R äuberbande unter V er­ meidung je d e r B erührung m it irgendeinem Staat m oderne Kriegsschiffe und B etriebsm ittel beschaffen? W ie soll sie sich auf „unpolitische“ A kte beschränken, w enn nicht eine romantische Räuberbande, sondern ein ernst­ haft interessantes O b je k t der internationalen A ktion von Großmächten in Frage steht? In den Lehrbüchern und systematischen A bhandlungen taucht die F igur des P iraten meistens bei der Frage nach dem S ubjekt des Völkerrechts auf. Hier hat der P ira t noch ein theoretisch ganz interessantes, im übrigen aber bescheidenes Plätzchen. D enn meistens w ird ihm der Rang eines V ölker­ rechtssubjekts abgesprochen. Seine T at ist kein völkerrechtliches D elikt, da nur Staaten als V ölkerrechtssubjekte solche „völkerrechtlichen D elikte“ begehen können, w ährend der P ira t gerade in voller Nichtstaatlichkeit nur in den völkerrechtlich erw eiterten Machtbereich eines Staates hinein­ gerät. Demnach w äre er als solcher überhaupt kein eigentliches in ter­ nationales Problem . Das ist um so m erkw ürdiger, als andererseits gegen ihn als „Feind des Menschengeschlechts“ plötzlich die ganze, sonst so zer­ rüttete Menschheit in einer E inheitsfront erscheint. D a dieser Feind der Menschheit allerdings n u r eine unpolitische Größe ist und man sich in mancher Hinsicht durch das klassifiziert, was m an als Feind anerkennt, so ist eine Menschheit, die k einen anderen Feind m ehr als diesen unpolitischen out16 1682

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law hat, eben selber auch n u r eine unpolitische Größe. Inzwischen aber ist das durch die A ntipiraten-K onferenz bezeichnete Problem der P iraterie gerade ein echtes internationales Problem geworden, von dem niem and behaupten kann, daß es sich in einem Raum e unpolitischer Nichtstaatlichkeit bewege. D er seit dem A uftreten der U-Boot-Waffe schwebende Streit um die völkerrechtlichen Regeln des G ebrauchs dieser W affe h at m it einem be­ deutenden Sieg der englischen A uffassung geendet. A llerdings ist das kriegsrechtliche Abkommen der W ashingtoner K onferenz vom 6. F ebruar 1922 (Strupp, Docum ents Y. 634) nicht ratifiziert. Es geht in A rt. 1 Abs. 2 von dem heute anerkannten G rundsatz aus, daß k riegführende U-Boote den allgem einen Regeln des Seekriegsrechts über die W egnahm e von Handelsschiffen unterliegen, e rk lä rt dann aber in A rt. 3 w eiter, daß jede „im D ienst irgendeiner Macht stehende Person, welche diese R egeln ver­ letzt, „w hether or not such person is under orders of a governm ental superior“, verantw ortlich gemacht w ird „as if for an act of p ira c y “. Art. 4 nimm t dann sogar noch ausdrücklich auf den K rieg von 1914—18 Bezug. D er Teil IV des Londoner Abkom m ens vom 22. A pril 1930 dagegen spricht nicht von P iraterie, sondern stellt in seinem A rt. 22 die Pflicht der U-Boote, sich in ih re r A ktion an die fü r andere Kriegsschiffe geltenden Regeln zu halten, fest, wobei er insbesondere die Pflicht vorh erig er W arnung und der R ettung von Passagieren, Besatzung und Schiffspapieren erw ähnt. Das Deutsche Reich ist dieser R egelung des A rt. 22 am 23. N ovem ber 1936 bei­ getreten und hat sie als von diesem Tage ab verbindlich angenommen. Im T ext der deutschen Note, die den B eitritt e rk lä rt, ist der W ortlaut des A rt. 22 nochmals w iederholt. D ie V ölkerrechtsw idrigkeit eines Verstoßes gegen diese Regelung steht dam it fest. Selbstverständlich bleibt aber die andere Frage, nämlich das Problem der „ P ira te rie “ und die Ü bertragung eines d erartig folgenreichen Begriffes auf solche V ölkerrechtsw idrigkeiten, durchaus offen. Nicht jed e r Verstoß gegen Regeln des Seekriegsrechts ist „ P ira terie “ m it der Folge, daß ein Staat verpflichtet ist, die Staats­ angehörigen oder Staatsorgane, fü r die er verantw ortlich ist, gegenüber anderen Staaten preiszugeben und auszuliefern, indem er sie in den leeren Raum der Nichtstaatlichkeit hineinstößt, der bisher die rechtliche Voraus­ setzung der P ira te rie gewesen ist. Angesichts der oben angedeuteten Entw icklung der m odernen m aritim en Technik entstehen gewiß zahlreiche neue seerechtliche Problem e. Sie dürfen aber w eder auf die Form eln des alten, inzwischen romantisch gewordenen Seeräubertum s gebracht, noch als N eubelebung der bekannten Streitfragen des W eltkrieges 1914—18 benutzt w erden. Sie gehören vielm ehr in das große G ebiet der Versuche einer neuen und echten zwischenstaatlich-europäischen O rdnung. Auf der einen Seite stehen sie in V erbindung m it den Bestrebungen, den K rieg durch kollektives V orgehen verschiedener A rt (internationale Polizei, B estrafung des Rechtsbrechers, Ächtungen und Sanktionen) zu e r­ setzen und eine aktionsfähige G röße zu schaffen, die „im Nam en der Mensch-

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heit“ handelt. A uf der anderen Seite ist h ier die völkerrechtliche Entwick­ lung zu beachten, auf die im Juniheft dieser Zeitschrift (S. 141)1 aufm erksam gemacht w urde, daß nämlich heute, wo das unm ittelbare A ufeinander­ prallen to taler Staaten in einem totalen K riege verm ieden w erden soll, Übergänge und Zwischenbegriffe zwischen offenem K rieg und wirklichem Frieden auftreten, w eil schon die bloße M öglichkeit eines totalen K rieges die Absteckung solcher Zwischenbildungen nahelegt. Sollte sich die eng­ lische Auffassung der U -B oot-Piraterie als ein allgem einer V ölkerrechts­ begriff durchsetzen, so h ätte der Begriff der P ira te rie seinen P latz im System des V ölkerrechts gewechselt. E r w äre aus dem leeren Raum u n ­ politischer Nicht Staatlichkeit in jen en fü r das V ölkerrecht der Nachkriegs­ zeit typischen Raum der Zwischenbegriffe zwischen K rieg und F rieden v e r­ legt worden.

1 Es handelt sich um den Aufsatz „Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat“, abgedruckt in unserer Sammlung Nr. 28, oben S. 235 f. 16*

30. Uber das Verhältnis der Begriffe Krieg undFeind (1938) 1. F e i n d i s t h e u t e d e r p r i m ä r e B e g r i f f . Das gilt aller­ dings nicht fü r T urnier-, K abinetts- und D uellkriege oder ähnliche nur „agonale“ K riegsarten. Agonale Käm pfe rufen m ehr die Vorstellung einer A ktion als eines Zustandes hervor. V erw endet m an nun die alte und anscheinend unverm eidliche Unterscheidung von „Krieg als A ktion“ und „K rieg als Zustand (status)“, so ist beim K rieg als A ktion bereits in Schlachten und m ilitärischen O perationen, also in der A ktion selbst, in den „Feindseligkeiten“, den h o s t i l i t é s , ein Feind als G egner (als Gegenüber) so unm ittelbar gegenw ärtig und sichtbar gegeben, daß er nicht noch voraus­ gesetzt zu w erden braucht. A nders beim K rieg als Zustand (status). H ier ist ein Feind vorhanden, auch w enn die unm ittelbaren und akuten Feindselig­ keiten und K am pfhandlungen aufgehört haben. B e l l u m m a n e t , p u g n a c e s s a t . H ier ist die Feindschaft offenbar V o r a u s s e t z u n g des Kriegs­ zustandes. In der G esam tvorstellung „K rieg“ kann das eine oder das andere, K rieg als A ktion oder K rieg als Zustand, überw iegen. Doch kann kein Krieg restlos in der bloßen unm ittelbaren A ktion aufgehen, ebenso­ wenig wie er dauerd nur „Zustand“ ohne A ktionen sein kann. D er sogenannte totale K rieg muß sowohl als A ktion wie auch als Zustand total sein, w enn er w irklich total sein soll. E r h at daher seinen Sinn in einer vorausgesetzten, begrifflich vorangehenden Feindschaft. Deshalb kann e r auch n u r von der Feindschaft h er verstanden und definiert werden. K rieg in diesem totalen Sinne ist alles, was (an H andlungen und Zuständen) aus der Feindschaft entspringt. Nicht w äre es sinnvoll, daß die Feindschaft erst aus dem K riege oder erst aus der T otalität des Krieges entsteht oder gar zu einer bloßen Begleiterscheinung der T otalität des Krieges herab­ sinkt. Man sagt m it einer oft w iederholten Redewendung, daß die euro­ päischen V ölker im Sommer 1914 „in den K rieg hineingetaum elt“ sind. In W irklichkeit sind sie allm ählich in die T otalität des Krieges hinein­ geglitten, und zw ar in der Weise, daß der kontinentale, m ilitärische Kom­ b attan ten k rieg und der englische, außerm ilitärische See-, Blockade- und W irtschaftskrieg sich (auf dem W ege über Repressalien) gegenseitig w eitertrieben und in die T otalität steigerten. H ier entstand also die Totali­ tä t des Krieges nicht aus einer vorangehenden, totalen Feindschaft, viel­ m ehr wuchs die T otalität der Feindschaft aus einem allmählich total w er­ denden Krieg. D ie Beendigung eines solchen Krieges w ar notw endiger­ weise kein „V ertrag“ und kein „F rieden“ und erst recht kein „Friedens­ v e rtrag “ im völkerrechtlichen Sinne, sondern ein V erdam m ungsurteil der

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Sieger über den Besiegten. D ieser w ird um so m ehr nachträglich zum Feind gestempelt, je m ehr er der Besiegte ist. 2. Im Paktsystem der G enfer Nachkriegspolitik w ird der A n g r e i f e r als F e i n d bestimmt. A ngreifer und Angriff w erden tatbestandsm äßig umschrieben: w er den K rieg erk lärt, w er eine Grenze überschreitet, w er ein bestimm tes V erfahren und bestim m te Fristen nicht einhält usw., ist Angreifer und Friedensbrecher. Die völkerrechtliche Begriffsbildung w ird hier zusehends krim inalistisch - strafgesetzlich. D er A ngreifer w ird im Völkerrecht das, was im heutigen Strafrecht der D elinquent, der „T äter“ ist, der ja auch eigentlich nicht ein „T äter“, sondern ein „U ntäter“ heißen müßte, weil seine angebliche T at in W ahrheit eine U ntat ist1. Diese K rim i­ nalisierung und V ertatbestandlichung von Angriff und A ngreifer hielten die Juristen der G enfer N achkriegspolitik für einen juristischen Fortschritt des Völkerrechts. D er tiefere Sinn aller solcher Bem ühungen um die Defi­ nition des „A ngreifers“ und die Präzisierung des Tatbestandes des „An­ griffs“ liegt aber darin, einen F e i n d zu konstruieren und dadurch einem sonst sinnlosen K rieg einen Sinn zu geben. Je autom atischer und mecha­ nischer der K rieg w ird, um so autom atischer und mechanischer w erden solche Definitionen. Im Z eitalter des echten K om battantenkrieges brauchte es keine Schande und keine politische Dum m heit, sondern konnte es E hren­ sache sein, den Krieg zu erklären, w enn man sich mit G rund bedroht oder beleidigt fühlte (Beispiel: die K riegserklärung K aiser Franz Josefs an Frankreich und Italien 1859). Jetzt, im G enfer N adikriegs-V ölkerrecht, soll es ein krim ineller T atbestand w erden, weil der Feind zum Verbrecher gemacht w erden soll. 5. F r e u n d und F e i n d haben in den verschiedenen Sprachen und Sprachgruppen eine sprachlich und logisch verschiedene S truktur. Nach deutschem Sprach sinn (wie in vielen anderen Sprachen) ist „F reund“ ursprünglich n u r der Sippengenosse. F reund ist also ursprünglich nur der Blutsfreund, der B lutsverw andte, oder der durch H eirat, Schwurbrüderschaft, Annahm e an Kindes Statt oder durch entsprechende Einrichtungen „verw andt Gemachte“. Vermutlich ist erst durch den Pietismus und ähn­ liche Bewegungen, die auf dem Weg zum „G ottesfreund“ den „Seelen­ freund“ fanden, die für das 19. Jah rh u n d ert typische, aber auch heute noch verbreitete P rivatisierung und Psychologisierung des Freundbegriffes ein­ getreten. Freundschaft w urde dadurch eine Angelegenheit p riv ater Sym pathiegefühle, schließlich gar m it erotischer Färbung in einer Maupassant-A tm osphäre. Das deutsche W ort „Feind“ ist etymologisch w eniger k la r zu bestimmen. Seine eigentliche W urzel liegt, wie es in Grimms W örterbuch heißt, „noch unaufgehellt“. Nach den W örterbüchern von Paul, H eyne und W eigand soll es (im Zusamm enhang m it f i j a n -hassen) den „Hassenden“ bedeuten. Ich will mich nicht in einen Streit m it Sprachforschern einlassen, sondern möchte 1 Der Versuch, kriminelle „Tätertypen“ zu finden, würde zu der Paradoxie von „Untäter-Typen“ führen.

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einfach dabei bleiben, daß Feind in seinem ursprünglichen Sprachsinn den­ jenigen bezeichnet, gegen den eine F e h d e geführt w ird. Fehde und Feind­ schaft gehören von Anfang an zusammen. Fehde bezeichnet, wie K arl von A m ira (G rundriß des Germanischen Rechts, 3. Auflage, 1913, S. 238) sagt, „zunächst nu r den Zustand eines der Todfeindschaft A usgesetzten“. Mit der Entwicklung der verschiedenen A rten und Form en der Fehde w andelt sich auch der Feind, das heißt der Fehdegegner. D ie m ittelalterliche U nter­ scheidung der nichtritterlichen von der ritterlichen Fehde (vgl. Claudius F rh r. von Schwerin, Grundzüge der Deutschen Rechtsgeschichte, 1934, S. 195) zeigt das am deutlichsten. Die ritterliche Fehde fü h rt zu festen Form en und dam it auch zur agonalen Auffassung des Fehdegegners. In anderen Sprachen ist der F e i n d sprachlich n u r negativ bestimm t als der N i c h t - F r e u n d . So in den romanischen Sprachen, seitdem im universalen F rieden der P ax Rom ana innerhalb des Im perium Rom anum der h o s t i s Begriff verblaßt oder zu einer innerpolitischen A ngelegenheit geworden w ar: a m i c u s - i n i m i c u s ; a m i - e n n e m i ; a m i c o - n e m i c o usw. In slavischen Sprachen ist der Feind ebenfalls der N icht-Freund: p r i j a t e l j - n e p r i j a t e l j u s w .1. Im Englischen hat das W ort e n e m y das germ anische W ort f o e (das ursprünglich nu r den Gegner im tödlichen Kampf, dann jeden Feind be­ deutete) ganz verdrängt. 4. Wo Krieg und Feindschaft sicher bestim m bare und einfach feststell­ b are Vorgänge oder Erscheinungen sind, k ann alles, was nicht K rieg ist, eo ipso: Friede, was nicht Feind ist: eo ipso: F reu n d heißen. Um gekehrt: wo Friede und Freundschaft selbstverständlich und norm al das Gegebene sind, k ann alles, was nicht Friede ist: Krieg, und was nicht Freundschaft ist: Feindschaft werden. Im ersten F all ist der Friede, im zw eiten Fall der K rieg von dem bestimm t Gegebenen h er negativ bestimm t. Im ersten Fall ist aus demselben G runde F reu n d der Nicht-Feind, im zw eiten Falle Feind der Nicht-Freund. Vom F reund als bloßem Nicht-Feind ging zum Beispiel die strafrechtliche Auffassung der „Feindlichen H andlungen gegen befreun­ dete Staaten“ (vgl. V ierter Abschnitt des Zweiten Teiles des Deutschen Reichsstrafgesetzbuches, §§ 102—104) aus: befreundet ist danach jeder Staat, m it dem der eigene Staat sich nicht im K riege befindet. D er tschecho­ slowakische Staat u nter dem Staatspräsidenten Benesch w äre danach im Mai ,und Septem ber 1938 ein m it dem Deutschen Reich befreundeter Staat gewesen! Diese Fragestellung (welcher Begriff ist so bestim m t gegeben, daß dadurch der andere Begriff negativ bestim m t w erden kann?) ist schon aus dem G runde notwendig, weil wohl alle bisherigen völkerrechtlichen E r­ örterungen darüber, ob eine A ktion K rieg ist oder nicht, davon ausgehen, daß die D isjunktion von K rieg und F rieden restlos und ausschließlich ist, das heißt, daß von selbst und ohne d ritte M öglichkeit das eine von beiden *) *) Nachträglich (Juli 1939) hat mir mein indologischer Kollege von der Berliner Universität, Prof. Breioer, Beispiele aus dem Indischen, insbesondere den charakterischen Ausdruck „a — m i t h r & (Nicht-Freund für Feind) mitgeteilt.

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(entweder K rieg oder Frieden) anzunehm en ist, w enn das andere nidit vor­ liegt. I n te r p a c e m e t b e llu m n ih il e s t m e d iu m \ Anläßlich des Vorgehens Japans gegen C hina 1931/32 zum Beispiel ist zur Abgrenzung der (noch keinen K rieg darstellenden) m ilitärischen R epressalien vom Krieg stets mit dieser Begriffsmechanik gearbeitet w orden. Dieses n ih il m e d iu m ist aber gerade die Situationsfrage. Richtigerw eise muß die völkerrechtliche Frage so gestellt w erden: Sind m ilitärische G ew altm aßnahm en, insbeson­ dere m ilitärische R epressalien, m it dem F rieden v ereinbar oder nicht, und wenn sie es nicht sind, sind sie dann aus diesem G runde Krieg? D as w äre eine Fragestellung, die vom F rieden als k o n k reter O rdnung ausgeht. Den besten Ansatz zu ih r finde ich bei A rrigo C a v a g l i e r i i n einem Aufsatz aus dem Jahre 191512. D ort sagt e r in der Sache: m ilitärische G ew altm aßnahm en sind mit dem Friedenszustand unvereinbar, also sind sie Krieg. Das In te r­ essante an seiner G edankenführung ist die Auffassung des Friedens als konkreter und geschlossener O rdnung und als des stärkeren, daher m aß­ gebenden Begriffes. D ie m eisten sonstigen E rörterungen sind w eniger k la r in der Fragestellung und bew egen sich in dem leeren K lipp-K lapp einer scheinpositivistischen B egriffsalternative. Ob m an nun K rieg annim m t, weil kein F rieden ist, oder Frieden, w eil kein K rieg ist, in beiden F ällen m üßte vorher gefragt w erden, ob es denn wirklich kein drittes, keine Zwischenmöglichkeit, kein n ih il m e d iu m gibt. Das w äre natürlich eine A bnorm ität, aber es gibt eben auch abnorm e Situationen. Tatsächlich besteht heute eine solche abnorm e Zwischenlage zwischen K rieg und F rieden, in der beides gemischt ist. Sie h a t drei Ursachen: erstens die P ariser F riedensdiktate; zweitens das K riegs­ verhütungssystem der N achkriegszeit m it K elloggpakt und V ölkerbund3; und drittens die A usdehnung der V orstellung vom K riege auch auf nichtmili­ tärische (wirtschaftliche, propagandistische usw.) B etätigungen der F eind­ schaft. Jene F riedensdikate w ollten ja aus dem F rieden eine „Fortsetzung des Krieges m it anderen M itteln“ machen. Sie haben den Feindbegriff so weit getrieben, daß dadurch nicht n u r die Unterscheidung von K om battan­ ten und N icht-K om battanten, sondern sogar die U nterscheidung von K rieg und F rieden aufgehoben w urde. Gleichzeitig aber suchten sie diesen un­ bestim m ten und absichtlich offengehaltenen Zwischenzustand zwischen 1 Cicero in der 8. Philippika: zitiert bei Hugo Grotius, de jure belli ac pacis, Buch III, Cap. 21 § 1. 2 Note critidie su la teoria dei mezzi coercitivi al difuori della guerra, Rivista di diritto internazionale, Bd. IX (1915) S. 23 ff., 305 ff. Später hat Cavaglieri seine Meinung unter dem Eindruck der Praxis geändert: Corso di diritto internazionale, 3. Auil. 1934 S. 555; Recueil des Cours de l’Académie Internationale de Droit Inter­ national (1929 I) S. 576 ff. Das für unsern Zusammenhang allein Entscheidende ist seine von einem starken Begriff des Friedens ausgehende Fragestellung. 3 „Die Wirkung vom Völkerbundpakt und Kelloggpakt scheint die werden zu wollen, daß in Zukunft zwar keine Kriege mehr geführt werden, aber militärische Aktionen größten Stils sich als ,bloße Feindseligkeiten* ausgeben, was kein Fort­ schritt, sondern ein Rückschritt ist“, Josef L. Kunz, Kriegsrecht und Neutralitätsrecht, 1935, S. 8, Aum. 37. Vorzüglich: Frhr. von Freytagh-Loringhoven, Zeitschr. d. Akad. f. Deutsches Recht, 1. März 1938, S. 146.

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Krieg und Frieden durch P akte zu legalisieren und juristisch als den norm alen und endgültigen Status quo des F riedens zu fingieren. Die typische Rechtslogik des Friedens, typische Rechtsverm utungen, von denen der Jurist bei einer echt befriedeten Lage ausgehen kann und muß, w urden dieser abnorm en Zwischenlage aufgepfropft. Zunächst schien das für die Siegermächte vorteilhaft zu sein, w eil sie eine Zeitlang à d e u x mains spielen konnten und, je nachdem sie K rieg oder F rieden annahm en, auf jeden Fall die G enfer Legalität auf ih re r Seite hatten, w ährend sie deren Begriffe, wie Paktbruch, Angriff, Sanktionen usw. ihrem G egner in den Rücken stießen. In einem solchen Zwischenzustand zwischen K rieg und Frieden entfällt der vernünftige Sinn, den die Bestim mung des einen Begriffes durch den andern, des Krieges durch den F rieden oder des F rie­ dens durch den Krieg, sonst haben könnte. Nicht n u r die K riegserklärung w ird gefährlich, weil sie den K riegerklärenden von selbst ins Unrecht setzt, sondern jede abgrenzende Kennzeichnung m ilitärischer sowohl als auch nichtmilitärischer Aktionen als „friedlich“ oder „kriegerisch“ w ird sinnlos, weil nichtmilitärische Aktionen in w irksam ster, u nm ittelbarster und inten­ sivster Weise feindliche A ktionen sein können, w ährend um gekehrt mili­ tärische A ktionen unter feierlicher und energischer Inanspruchnahm e freundschaftlicher Gesinnung vor sich gehen können. Praktisch w ird die A lternative von K rieg und F rieden in einer solchen Zwischenlage noch wichtiger, denn je tz t w ird alles Rechtsverm utung und Fiktion, ob man nun annimmt, daß alles, was nicht F riede K rieg ist, oder ob, um gekehrt, alles was nicht K rieg deshalb von selbst F riede ist. Das ist der bekannte „Stock m it zwei E nden“. Jeder kann nach beiden Seiten argum entieren und den Stock bald an dem einen oder dem andern Ende anfassen. Alle Versuche, eine Definition des Krieges zu geben, müssen hier bestenfalls in einem ganz subjektivistischen und voluntaristischen Dezisio­ nismus enden: Krieg liegt dann vor, w enn eine ak tiv w erdende P artei K rieg w i 11. „Als einzig zuverlässiges U nterscheidungsm erkm al (heißt es in einer neulich erschienenen, anerkennensw ert tüchtigen Monographie zum völkerrechtlichen Kriegsbegriff) bleibt somit n u r der W ille der strei­ tenden Parteien. Ist er darauf gerichtet, die G ew altm aßnahm en als kriegerische abzuwickeln, so herrscht K rieg, andernfalls F ried en “1. D i e s e s „ a n d e r n f a l l s F r i e d e n “ i s t l e i d e r n i e ht w a h r . D abei soll der W ille eines einzigen Staates zur Erfüllung des Kriegsbegriffs genügen, gleichgültig, auf welcher Seite er vorliegt12. Ein solcher Dezisionismus ent­ spricht zw ar der Lage. E r äußert sich zum Beispiel in entsprechender Weise darin, daß der politische C h a ra k te r einer völkerrechtlichen Streitig­ keit nur noch rein dezisionistisch durch den W illen jedes Streitenden bestimmt wird, auch hier also der W ille das „unm ittelbare K riterium des 1 Georg K a p p u s , Der völkerrechtliche Kriegsbegriff in seiner Abgrenzung gegenüber militärischen Repressalien, Breslau 1936, S. 57. 2 G. K a p p u s , a. a. O. S. 65.

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Politischen“ w ird1. Was bedeutet das aber für unsere F rage nach dem Verhältnis von Krieg und Frieden? Es zeigt, daß die Feindschaft, der a n i m u s h o s t i l i s , der prim äre Begriff geworden ist. Das hat in dem gegen­ w ärtigen Zwischenzustand zwischen Krieg und F rieden eine ganz andere Tragweite als frühere „subjektive“ oder „W illenstheorien“ des K riegs­ begriffes. Zu allen Zeiten h at es „halbe“, „partielle“ und „unvollkom m ene“, „beschränkte“ und „getarnte“ Kriege gegeben, und der vom Lytton-Bericht für das Vorgehen der Japaner gebrauchte Ausdruck „w ar disguised“ w äre insofern an sich nichts Neues. Das Neue ist der juristisch ausgebaute, durch Kelloggpakt und V ölkerbund institutionalisierte Zwischenzustand zwischen Krieg und Frieden, der alle jene negativen Feststellungen — mögen sie vom Nichtfrieden auf den Krieg oder vom Nichtkrieg auf den Frieden schließen — heute unrichtig macht. D er Pazifist H ans W ehberg sagte im Januar 1932 zum M andschurei­ konflikt: Was nicht Krieg ist, ist im völkerrechtlich juristischen Sinne Friede. Das bedeutete damals praktisch: Das Vorgehen der Jap an er in China w ar nicht Krieg, sie w aren also nicht „zum K riege geschritten“ im Sinne des G enfer V ölkerbundspaktes und die Voraussetzung für V ölker­ bundssanktionen (vrie sie im H erbst 1935 gegen Italien unternom m en w u r­ den) w ar nicht gegeben. W ehberg hat seine Meinung und seine Form u­ lierung später geändert2, aber die eigentliche Logik des begrifflichen Ver­ hältnisses solcher negativen Bestimmungen h at er bis heute nicht erkannt. Es handelt sich w eder um „subjektive“, noch uni „objektive“ Theorien des Kriegsbegriffes im allgemeinen, sondern um das Problem der besonderen Zwischenlage zwischen K rieg und Frieden. F ü r die G enfer A rt von Pazifis­ mus ist es typisch, daß sie aus dem F rieden eine juristische Fiktion macht: Friede ist alles, was nicht Krieg ist, K rieg aber soll dabei nur der m ili­ tärische Krieg alten Stiles m it a n i m u s b e l l i g e r a n d i sein. Ein arm seliger Friede! F ü r diejenigen, die mit außerm ilitärischen, zum Beispiel w irtschaft­ lichen Zwangs- und Einwirkungsm öglichkeiten ihren W illen durchsetzen und den W illen ihres G egners brechen können, ist es ein K inderspiel, den m ilitari sehen K rieg alten Stils zu verm eiden, und diejenigen, die mit m ili­ tärischer A ktion Vorgehen, brauchen n u r energisch genug zu behaupten, daß ihnen jed er Kriegsw ille, jed er anim us belligerandi fehlt. 5. D er sogenannte t o t a l e K r i e g hebt den Unterschied von Kom­ battanten und N ichtkom battanten auf und kennt neben dem m ilitärischen auch einen nichtmilitärischen K rieg (W irtschaftskrieg, P ropagandakrieg usw.) als Ausfluß der Feindschaft. Die A ufhebung der Unterscheidung von K om battanten und N ichtkom battanten ist hier aber eine (im Hegelschen Sinne) d i a l e k t i s c h e Aufhebung. Sie bedeutet infolgedessen nicht etwa, daß diejenigen, die frü h er N ichtkom battanten w aren, sich nunm ehr einfach * 1 Onno Ο n c k e n , Die politischen Streitigkeiten im Völkerrecht; ein Beitrag zu den Grenzen der Staatengerichtsbarkeit, Berlin 1936. * Vgl. Die Friedenswarte, Januarheft 1932, S. 1—13, mit Heft 3/4 von 1938, S. 140: ferner Nr. 19 unserer Sammlung oben S. 162.

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in K om battanten alten Stils verw andeln. Vielm ehr verändern sich b e i d e Seiten, und der Krieg w ird auf einer ganz neuen, gesteigerten Ebene als eine nicht m ehr rein m ilitärische B etätigung der Feindschaft w eitergeführt. Die Totalisierung besteht hier darin, daß auch außerm ilitärische Sach­ gebiete (Wirtschaft, Propaganda, psychische und moralische Energien der Nichtkom battanten) in die feindliche A useinandersetzung einbezogen w er­ den. D er Schritt über das rein M ilitärische hinaus brin g t nicht nu r eine quantitative Ausweitung, sondern auch eine qualitative Steigerung. D aher bedeutet er keine M ilderung, sondern eine Intensifizierung der Feindschaft. Mit der bloßen Möglichkeit einer solchen Steigerung der Intensität w erden dann auch die Begriffe F reund und Feind von selbst w ieder politisch und befreien sich auch dort, wo ihr politischer C h a ra k te r völlig verblaßt war, aus der Sphäre priv ater und psychologischer R edensarten1. 6. D er Begriff der N e u t r a l i t ä t im völkerrechtlichen Sinne ist eine Funktion des Kriegsbegriffes. D ie N eu tralität w andelt sich daher mit dem Krieg. Sie kann, praktisch gesehen, heute in vier verschiedenen Bedeutungen unterschieden werden, denen vier verschiedene Situationen zugrunde liegen: a) Gleichgewicht der Macht von N eutralen und K riegführenden: hier ist die „klassische“ in „U nparteilichkeit“ und paritätischem V erhalten be­ stehende N eutralität sinnvoll, möglich und sogar wahrscheinlich; der Neu­ tra le bleibt F reund — amicus — jedes der K riegführenden: a m itié im­ partiale; b) eindeutige M achtüberlegenheit der K riegführenden über die Neu­ tralen: hier w ird die N eu tralität ein stillschweigender Kom promiß zwischen den K riegführenden, eine A rt N iem andsland oder stillschweigend verein­ b a rte r Ausklam m erung aus dem Kriegsbereich nach M aßgabe des Macht­ gleichgewichts der K riegführenden (W eltkrieg 1917/18); c) eindeutige M achtüberlegenheit der N eutralen über die K riegführen­ den: hier können die starken N eutralen den schwachen K riegführenden einen Spielraum für die K riegführung anweisen. Im reinsten Falle w äre das der von Sir John Fisher W illiam s in die V ölkerrechtslehre eingeführte Begriff des „dog-fight“12; d) volle Beziehungslosigkeit (bei großer E ntfernung oder genügend au tark er, isolierbarer Macht): hier zeigt sich, daß N e u tra litä t nicht Iso­ lation, und daß Isolation (das heißt völlige A bsonderung und Beziehungs­ losigkeit) etwas anderes als N eu tralität ist; der sich Isolierende w ill w eder Feind noch F reund eines der K riegführenden sein. In dem (oben u nter 4.) behandelten Zwischenzustand zwischen K rieg und Frieden hängt die sachliche Entscheidung darüber, ob der F a l l der N eu tralität mit allen N eutralitätsrechten und Pflichten gegeben ist, davon ab, ob K rieg das ist, was nicht F ried en ist oder um gekehrt. W enn diese Entscheidung rein dezisionistisch von jedem fü r sich getroffen w ird, ist 1 Als ihm der behandelnde Zahnarzt sagte: „Sie sind kein Held“, erwiderte W. Gueydan de Roussel: „Sie sind ja auch nicht mein Feind“. 2 Vgl. in dieser Sammlung Nr. 31 „Das neue Vae Neutris!“, unten S. 251.

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nicht einzusehen, w arum n u r der K riegführende und nicht auch der N eu­ trale rein dezisionistisch entscheiden soll. D er I n h a l t der N eu tralitäts­ pflichten erw eitert sich m it der E rw eiterung des K riegsinhaltes. Wo m an aber nicht m ehr unterscheiden kann, was K rieg und was F rieden ist, da wird es noch schwerer zu sagen, was N eu tralität ist.

31. Das neue Vae Neutris! (1938) Ein englischer A utor von hohem Rang und repräsentativer Bedeutung, Sir John Fisher W illiams, h at am Schluß eines Aufsatzes in dem von ihm mit herausgegebenen B ritish Yearbook of International Law (Bd. XYII 1936 148/9) eine Prognose gestellt, die die größte Beachtung verdient. D er berühm te englische V ölkerbunds ju ris t gibt hier einen Ausblick in die Zukunft, der den E rnst der Lage erkennen läßt und den K ernpunkt der gegenwärtigen Entwicklung des V ölkerrechts k la re r und schärfer zum Bewußtsein b rin g t als jede w eitere R ede oder A rgum entation. Sir John Fisher, W illiam s sagt, die kommende G eneration w erde wahrscheinlich eher die Pflichten als die Rechte der N eutralen in den V ordergrund stellen. A ußerdem aber könnten K riege kommen, in denen — w enn nicht durch eine Aktion, so doch in G edanken — n i d i t Stellung zu nehmen, für jeden sittlich denkenden Menschen unmöglich w ürde. In einem solchen W eltkriege, der kein bloßer „dog-fight“ w äre und m it allen m oralischen Energien geführt w ürde, könnte die N eutralität, mag sie auch respektabel sein, doch nicht sehr w eitgehend resp ek tiert w erden. D ante, so schließt der englische Rechtsgelehrte, h at diejenigen Engel, die in dem großen Kam pf zwischen G ott und dem Teufel n eu tral blieben, besonderer Verachtung und Strafe überliefert, nicht n u r w eil sie ein Verbrechen begingen, indem sie ihre Pflicht, für das Recht zu käm pfen, verletzt, sondern auch deshalb, w eil sie ihr eigenstes, w ahrstes Interesse v erkannt haben; die N eutralen eines solchen Kampfes träfe also ein Schicksal, dem nicht n u r D ante, sondern auch Machiavelli zustimm en w ürde. Dam it ist vor das Vae Victis! noch ein w arnendes Vae N eutris! gestellt. Es bezieht sich natürlich nicht auf to lerierte K leinkriege oder Konflikte von perip h erer Bedeutung — „dog-fights“ nim m t der E ngländer ausdrück­ lich aus — wohl aber auf die eigentliche, große A useinandersetzung. D aß der Aufsatz die inzwischen längst gescheiterten Sanktionsversuche des Genfer V ölkerbundes gegen Italien behandelt, macht diesen Teil seiner Ausführungen nicht etw a zu einer überholten Angelegenheit. D ie tiefer liegende F rage ist noch ungelöst, und jede neue K risis verschärft sie nur. Es handelt sich nämlich um das Problem des gerechten K rieges im Sinne der Beseitigung des bisherigen, nichtdiskrim inierenden völkerrechtlichen Kriegsbegriffes. Das N eutralitätsrecht ist von jedem W andel des Kriegs-

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begriffes abhängig und der sicherste P rüfstein fü r eine grundsätzliche Änderung. Bisher w ar die E igenart und die juristische S tru k tu r der völkerrechtlichen N eutralität durch die Pflicht zu strengster Unparteilich­ keit, d. h. insbesondere zu einer N ichtparteinahm e zugunsten des Rechts oder Unrechts eines der K riegführenden gekennzeichnet. Die kritischen Ereignisse der letzten Jahre haben das Problem bereits zu der Frage zu­ gespitzt, wiew eit es überhaupt noch eine völkerrechtliche N eu tralität geben kann, so daß sich hier, entsprediend dem begrifflichen Dilemma: Krieg oder Nichtkrieg? die andere dam it zusam m enhängende, ebenso strikte A lternative: N eutralität oder N ichtneutralität? erhebt und ih r gegenüber alle Versuche einer verm ittelnden oder differenzierenden Abstufung und Anpassung als bloß tolerierte Zwischenbildungen erscheinen. Die Lage der einzelnen Staaten ist hier begreiflicherw eise sehr verschieden. Insofern gibt es viele „Differenzierungen“. D aß aber im ganzen eine echte A lter­ native mit Zw angscharakter vorliegt, läßt sich an der H altung der Ver­ einigten Staaten von A m erika erkennen, in der seit dem Beginn des W elt­ krieges zwei extrem e gegensätzliche Auffassungen zutage treten: auf der einen Seite eine überaus streng, geradezu rigoros aufgefaßte N eutralität im Sinne des überlieferten, nichtdiskrim inierenden Kriegsbegriffs, mit einer Unparteilichkeit, die jede Stellungnahm e zugunsten oder ungunsten des Rechts einer kriegführenden P artei als eine Pflichtverletzung, ja geradezu als eine völkerrechtliche Sünde ansieht, also eine, wenn ich so sagen darf, fast den Atem anhaltende Passivität gegenüber jedem Konflikt d ritte r Staaten; und auf der anderen Seite der extrem entgegengesetzte Anspruch, im Namen der Menschheit, der D em okratie und des Völker­ rechts als Schiedsrichter über Recht und Unrecht des Krieges aufzutreten und die Entscheidung an sich zu reißen. Jeder, der sich der H altung des Präsidenten Wilson in der Zeit von 1914 bis 1919 erin n ert und insbesondere seine E rklärungen vom 19. A ugust 1914 m it der vom 2. A pril 1917 ver­ gleicht, w ird die symptomatische Bedeutung dieses Übergangs von dem einen zum andern Extrem ohne w eiteres verstehen. Ich sehe in dem Zw angscharakter eines solchen Dilem mas ein sicheres Anzeichen dafür, daß der Begriff der N eutralität zusammen mit dem Begriff des Krieges in ein völlig neues Entwicklungsstadium eingetreten ist, mit der Folge, daß er sich nicht teilen oder aufspalten läßt, obwohl die Völker­ bundssatzung, insbesondere mit ih re r Regelung des A rt. 16, gerade durch solche H albierungen der harten Entscheidung zu entgehen sucht. Aber das W esen der N eutralität ist U nparteilichkeit. Diese kann nuanciert und in mancher Hinsicht vielleicht auch differenziert, sie kann aber nicht in eine militärische, eine wirtschaftlich-finanzielle und eine juristische und moralische Seite halbiert, gedrittelt oder geviertelt werden. D er Satz Hamm arskjölds: „on est neutre, ou on ne Test pas“ bleibt im wesentlichen immer richtig. Ein d ritte r Staat, der einer kriegführenden P artei mit dem Anspruch einer völkerrechtlich beachtlichen Stellungnahm e im eigentlichen Sinne des W ortes „Recht“ gibt, ist nicht m ehr neutral, gleichgültig, welche

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praktischen Folgerungen er aus jen e r Stellungnahm e zieht. Folgert er unter Berufung auf A rt. 16 oder m it irgendeiner anderen Begründung daraus ein Recht, sich an juristischen und moralisch-propagandistischen D iskrim inierungen oder wirtschaftlichen und finanziellen Zwangsmaß­ nahmen zu beteiligen, so kann er nicht daran festhalten, daß er „im übrigen“ neutral sei. Das ist die wichtige und folgenreiche E rkenntnis, deren E rnst in den oben zitierten Sätzen von Sir John Fisher W illiams mit w arnender Eindringlichkeit zutage tritt. Diese U nteilbarkeit des N eutralitätsbegriffs scheint m ir auch durch den in der Zeitschrift „V ölkerbund und Völkerrecht“ (11524) veröffentlichten Auf­ satz von Prof. Dr. Dietrich Schindler „Die schweizerische N eu tralität und die Sanktionen“ bestätigt zu werden, obwohl seine Bew eisgründe gerade auf die V ereinbarkeit von N eu tralität und Sanktionsverpflichtungen gerichtet sind. Es kommt hier nicht darauf an, den außerordentlich interessanten Aufsatz des ausgezeichneten Schweizer V ölkerrechtslehrers zu w iderlegen; seine Argum entation soll hier nu r dazu dienen, die grundsätzliche Frage, wie sie sich in der heutigen Gesam tentw icklung präzisiert, deutlich herauszustellen. Der Aufsatz unterscheidet zwischen m ilitärischer N eu tralität und w irtschaft­ licher U nparteilichkeit. Die letzte soll nicht zur völkerrechtlichen N eutralität gehören. H ierfü r w ird geltend gemacht, daß das V. H aager Abkommen vom 18. O ktober 1907 die N eutralität als ein wesentlich m ilitärisches V erhältnis behandelt, w ährend die wirtschaftlichen N eutralitätsbestim m ungen von der Betätigung p riv a ter Personen sprechen. Das trifft zu. N ur h at sich das Verhältnis von Staat und W irtschaft seit 1907 aber außerordentlich ver­ ändert und dazu geführt, daß diejenigen Staaten, deren Verfassung H andel und Industrie grundsätzlich der priv aten F reiheitssphäre zuweist, durch landesgesetzliche N eutralitäts- oder Nichteinmischungsgesetze die A uf­ spaltung ih re r wirtschaftlichen U nparteilichkeit in eine staatliche und eine private Sphäre w ieder schließen müssen, w enn sie w irklich als Staaten, d. h. als politische E inheiten neu tral bleiben und sich nicht einmischen wollen. Die „differentielle“ N eutralität, für die sich Schindler einsetzt, soll eben doch eine Parteinahm e im Sinne der rechtlichen D iskrim inierung e r­ möglichen. Sie ist daher nicht m ehr N eutralität. D abei sei ausdrücklich anerkannt, daß die N eu tralität der Schweiz als ein Sonderproblem respek­ tiert w erden muß. A bgelehnt w ird hier nu r der verallgem einernde Ge­ dankengang, der das Sonderproblem der schweizerischen N eutralität im V ölkerbund in das W eltproblem der N eutralität aufzulösen versucht. O hne daß hier ein U rteil über schweizerische A ngelegenheiten gefällt w erden soll, die n u r ein Schweizer aus seiner existentiellen V erbundenheit heraus beurteilen kann, darf für die E rörterung der allgemeinen, neuen N eutrali­ tät doch vielleicht gesagt w erden, daß die „situation unique“ der Schweiz nicht in das allgem eine W eltproblem hineingezogen w erden kann und daß der „V orbehalt der N e u tra litä t“, u n ter dem die Schweiz in den G enfer V ölkerbund eingetreten ist, ein existentieller V orbehalt und nicht etw a eine Bindung an den Inhalt des N eutralitätsbegriffs des 19. Jahrhunderts ist.

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D er Aufsatz von Sir John Fisher W illiams dagegen sieht die F rage in der umfassenden Perspektive eines W eltreiches. E r hat, über periphere Sonderfälle und ephem ere Zwischenbestimmungen hinweg, den großen Ernstfall im Auge, der die Frage einer neuen W eltordnung zur Entscheidung stellt. E r spricht nicht vom totalen Kriege, obwohl er in der Sache deutlich genug ist. Das an Umfang w adisende Schrifttum über den totalen Krieg behandelt und betont zum großen Teil Erfahrungstatsachen, deren zwangs­ läufige W irklichkeit heute niem and m ehr verkennt und mit denen alle wirklichen Großmächte längst rechnen, w enn sie auch gleichzeitig neue Zwischenbestimmungen zur Verm eidung des totalen E rnstfalles oder neue Methoden der Verschleierung in ihre Berechnung einbeziehen und es im übrigen für richtiger halten, von der T otalität nicht zuviel Lärmens zu machen und die moralischen R eserven nicht vor dem w irklichen Ernstfall zu mobilisieren. Infolgedessen w ird bei der E rörterung dieses großen neuen Problem s vielfach übersehen, daß die G erechtigkeit das erste und wichtigste E rfordernis der T otalität jed e r A useinandersetzung ist. O hne Gerechtig­ keit ist jed e r Totalitätsanspruch hohl, ebenso wie um gekehrt ohne den Mut und die K raft zur T otalität der gerechte K rieg n u r eine leere Phrase ist. D aher ist auch die V orbereitung des gerechten Krieges ein wesentlicher B estandteil der gewaltigen, alle G ebiete des menschlichen Lebens erfassen­ den Arbeit, die für die weltpolitische G egenw artslage kennzeichnend ist. Es handelt sich also um den gerechten Krieg. Von der Möglichkeit eines heiligen Krieges wollen w ir hier absehen, weil die europäischen Nationen der heutigen agnozistisch-positivistischen Geistesverfassung einen heiligen Krieg wohl m ehr als eine m ittelalterliche A ngelegenheit empfinden, wenn sie auch — wie die Erfahrungen des W eltkrieges gegen Deutschland lehren — auf die propagandistische M obilisierung der moralischen Reserven, die n u r durch einen „Kreuzzug“ erfaßt w erden, wahrscheinlich nicht verzichten mögen. Die Gerechtigkeit des Krieges aber w ird durch bestim m te völker­ rechtliche Verfahrensw eisen organisiert und „positiviert*“, die zw ar von allgem einer A nerkennung noch w eit entfernt sind, ihre politische Bedeutung aber doch unter diesem Gesichtspunkt erhalten. A lle Bem ühungen der Nachkriegszeit um eine einleuchtende Definition des Angreifers, um die Institutionalisierung des G enfer V ölkerbundes, um die sichere Bestimmung des Friedensbrechers, haben ihren politischen Sinn darin, brauchbare K ri­ terien des gerechten Krieges zu finden. G egenüber dem völkerrechtlich gerechten Kriege gibt es dann keine N eutralität m ehr. D er Aufsatz von Sir John F isher W illiams hat diesen K ernpunkt richtig erkannt. Es kommt ihm dabei nicht auf juristische Begriffe und Präzisierungen an; ob der Genfer V ölkerbund ein Staatenbund oder ein Bundesstaat, eine Gemeinschaft oder eine Gesellschaft ist, ob man die Satzung als V ertrag oder als Verfassung ansehen soll, ist ihm uninteressant. Es kom mt ihm auch nicht darauf an, daß sich jed er M itgliedstaat aktiv an den Sanktionsm aßnahm en beteiligt; ausschlaggebend ist nur, daß das R e c h t derjenigen Staaten, die im Rahmen der K ollektivaktion aktiv werden, auch von den nichtaktiven Staaten an-

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erkannt w ird. N ennt m an dann die dieses System anerkennenden, aber nicht oder nicht ganz aktiven Staaten „n eu tral“, so ist das offensichtlich ein anderer Begriff von N eu tralität als derjenige, zu dessen W esen es gehört, sich der völkerrechtlichen Stellungnahm e über Recht und Unrecht einer kriegführenden P a rte i zu enthalten. Das ist das um wälzende, das A ntlitz des Völkerrechts verändernde Ergebnis, zu dem sich der englische Jurist in den oben zitierten eindrucksvollen Schlußsätzen seines Aufsatzes feier­ lich bekennt.

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In seiner G enueser Rede vom 14. Mai 1938 h at der Duce die west­ lichen D em okratien vor einer „guerra di do ttrin a“ gew arnt. Die große K am pfparole eines solchen Krieges der Ideologien lautet bekanntlich: „Krieg der D em okratien gegen die to talitären Staaten.“ Es ist nicht der Zweck der folgenden A usführungen, das viel m ißbrauchte Schlagwort von der „T otalität“ noch einm al zu behandeln und die oft undurchdringliche V erw irrung zu klären, die einen großen Teil der A useinandersetzung be­ herrscht. N u r um den G rad dieser V erw irrung anzudeuten, sei mit einem W ort d aran erinnert, daß einer der interessantesten Publizisten der poli­ tischen Theorien, H einz O. Ziegler, im Jahre 1932 eine auch heute noch lesenswerte Schrift „A uto ritärer oder totaler Staat?“ veröffentlicht hat, die damals gerade bei L iberaldem okraten großen A nklang fand und den Nachweis führte, daß die D em okratie notwendig zum totalen Staate gehört und nur ein a u to ritä re r Staat im stande ist, der unaufhaltsam en dem okra­ tischen Tendenz zu dieser T otalität entgegenzutreten. So schwierig aber eine V erständigung in diesem Fragenbereich auch sein mag, ein P u n k t bedarf jedenfalls rascher K lärung, dam it ein besonders unheilvolles M ißverständnis ferngehalten w ird. Das ist die D eutung, die den verschiedenen, in allen L ändern festzustellenden T otalitätsbestrebun­ gen der G egenw art m it Bezug auf die F rage der völkerrechtlichen N eu trali­ tät gegeben w ird. Ein Schweizer Völkerrechts ju rist von hohem Rang und großem Ansehen, Professor D r. D ietrich Schindler in Zürich, hat sich zu dieser F rage in m ehreren Aufsätzen, zuletzt in der Zeitschrift „Völkerbund und V ölkerrecht“ (IV. Jahrgang 1938, S. 689 „Die W iederherstellung der umfassenden N eu tralität der Schweiz“) geäußert. Seine Auffassung steht zu m einen Ansichten in offenem Gegensatz. A ber seine H altung und A rgu­ m entation ist so sehr von wissenschaftlicher Sachlichkeit bestimmt, daß an diesem P u n k t eine K larstellung grundsätzlicher A rt nicht aussichtslos e r­ scheint und der Versuch gemacht w erden muß, durch die Beseitigung eines besonders typischen und besonders schädlichen M ißverständnisses der Sache

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des europäischen Friedens zu dienen, soweit das in dem bescheidenen Rahm en einer völkerrechtswissenschaftlichen E rörteru n g möglich ist. Professor Schindler geht offenbar davon aus, daß die T otalität eines staatlich organisierten Volkes die völkerrechtliche N e u tralität überhaupt gefährdet oder sogar unmöglich macht. Die G efahr, die der völkerrecht­ lichen N eutralität überhaupt heute droht, scheint er in den Totalitäts­ vorstellungen zu erblicken. Das ist eine w eitverbreitete Auffassung. Ihre große V erbreitung b eruht wohl auf der etw as summ arischen Vorstellung, daß die T otalität des einen Volkes sozusagen alle anderen V ölker und Staaten verschlinge, indem sie die anderen zu einer unbedingten und totalen A nerkennung der eigenen Ansprüche zwinge. D adurch entstände aller­ dings beim Konflikt eines totalen Staates mit einem anderen Staat für un­ beteiligte dritte Staaten eine A lternative, die für diese S taaten die völker­ rechtliche N eu tralität ebenso ausschließt, wie sie bei dem in Konflikt stehen­ den totalen Staat den Respekt vor der N e u tralität D ritte r unmöglich macht. A ber diese D eutung und A uffassung des T otalitätsanspruchs verkennt gerade das W esen der völkischen T otalität, das in der Besinnung eines Volkes auf sich selbst und auf das Ganze seiner eigenen politischen Exi­ stenz besteht. U nter dem Schlagwort von der T o talität des Staates oder eines Volkes k ann mancherlei verstanden w erden: verschiedene A rten einer Ein­ schränkung oder W andlung der aus dem 19. Ja h rh u n d e rt überkom m enen individualistischen G ew ohnheiten und Freiheitsrechte; manche im G runde n u r relativen Ä nderungen des Spielraum s, den fre ier H andel, freie W irt­ schaft, freie K onkurrenz der M einungen und der Presse in der V orkriegs­ zeit eingenommen haben; Z entralisierungen aller A rt; A usdehnung und Steigerung der Macht der Exekutive gegenüber der Legislative; Beseitigung frü h e rer T rennungen und Teilungen von E xekutive und Legislative usw. Im V erhältnis zum M anchester-Liberalism us ist der New D eal des Präsi­ denten Roosevelt bereits finsterer „T otalitarianism us“. Im ganzen w ird m an sagen, daß es ebenso viele A rten der T o talität gibt wie V ölker in verschiedenen Situationen und daß jed e staatliche O rganisation im Notfall ihre eigene A rt von T otalität schafft und ihre R eserven m obilisiert. Ein ausgezeichneter Aufsatz eines jungen griechischen Rechtsgelehrten, Dr. Georg D askalakis (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1938, S. 194), h at treffend d arauf hingewiesen, daß der totale Staat keine eigene Staats­ form, sondern n u r ein Moment im Staatsleben ist, d. h. „ein durch eine in einer bestim m ten Richtung erfolgende A nspannung gekennzeichneter Augenblick in jedem S taatstyp“. Potentiell ist also jedes Staatsw esen total und geht in bestim m ten gefährlichen Situationen durch die T otalität hin­ durch. So verschieden aber auch die un ter dem Schlag w ort der „T otalität“ zusam m engefaßten Entwicklungserscheinungen sein mögen, eines w ird bei etw as gründlicher Betrachtung doch schnell erkennbar, daß nämlich die T otalität eines Volkes oder eines völkischen Staates vor allem eine auf ihn selbst bezogene Angelegenheit ist. Je m ehr sich ein Volk ganz auf sich

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selbst besinnt, erk en n t es m it seiner E igenart auch seine Grenzen, erwacht sein R espekt vor der E igenart und den G renzen anderer V ölker und ent­ steht erst die sichere G rundlage für das Verständnis der völkerrechtlichen N eutralität eines Volkes in den Konflikten d ritte r Völker. Eine Bedrohung oder G efahr fü r die völkerrechtliche N eu tralität entsteht nicht aus der in sich geschlossenen G anzheit eines einzelnen Staates, sondern im Gegen­ teil aus einem überstaatlichen und übervölkischen Anspruch, der im Namen einer universalen oder sonstwie übervölkischen K ollektivität das Recht oder Unrecht eines Volkes m it rechtlicher A utorität von sich aus be­ stimmen will. Die E rfahrungen der Schweiz im G enfer V ölkerbund haben diese A rt von G efährdung der völkerrechtlichen N eutralität in aller Schärfe heraus­ gestellt und fü r alle Staaten, denen die völkerrechtliche N eu tralität lebens­ wichtig ist, zum Bew ußtsein gebracht. Vor allem hat die Stellungnahm e der Schweiz bewiesen, daß es nicht möglich ist, von dem rechtlichen W esens­ kern der völkerrechtlichen N eu tralität abzugehen, und daß unbedingte U n­ parteilichkeit, d.h. N ichtparteinahm e im Sinne der rechtlichen Nichtdiskrim i­ nierung, der entscheidende P u n k t ist. Das haben alle bedeutenden Völkerrechtsjuristen selbstverständlich imm er gew ußt und auch oft genug aus­ gesprochen. A ber zahlreiche, ebenso scharfsinnige wie kom plizierte Kom­ promißform eln der G enfer V ölkerbunds jurisprudenz konnten diese einfache W ahrheit eine Zeitlang verdunkeln. H eute ist wohl kein Zweifel m ehr daran möglich, daß die strenge N ichtdiskrim inierung die G rundlage ist, m it der alle w eiteren Rechte und Pflichten der N eutralen und das ganze Rechts­ institut der völkerrechtlichen N eu tralität stehen und fallen. Die Pflicht des N eutralen, sich m ilitärischer Einmischungen zu enthalten, erh ält ihren Sinn und In halt n u r aus je n e r Pflicht zur N ichtdiskrim inierung. Ebenso um ­ gekehrt: w enn ein Staat sich einem V erfahren anschließt, dessen Sinn und Inhalt darin besteht, w ährend eines kriegerischen Konfliktes die eine P artei zugunsten der anderen rechtlich und moralisch zu disqualifizieren, so hat er damit bereits seine Pflicht zur N eu tralität verletzt, gleichgültig, welche w eiteren Folgerungen er aus seiner Beteiligung an jenem V erfahren zieht, ob er bei der rechtlichen oder moralischen Disqualifizierung stehen bleibt, oder ob er sich zu w eiteren praktischen Schlußfolgerungen aus dieser D is­ qualifizierung, zu wirtschaftlichen und finanziellen Zwangsmaßnahmen und schließlich zu m ilitärischen A ktionen entschließt oder nicht. Die Pflicht zur N ichtparteinahm e k ann rechtlich nichts anderes bedeuten als die Pflicht, von allen d erartigen M ethoden einer rechtlichen und moralischen D is­ krim inierung fernzubleiben. Auf dieser praktischen und konkreten Erkenntnis, nicht auf theo­ retischen B egriffsüberspitzungen oder abstrakten Prinzipien, b eru h t die Richtigkeit des Satzes, daß m an n u r n eu tral oder nicht neu tral sein kann, und daß es keine halbierte oder p arzellierte N eutralität gibt. Selbstver­ ständlich kann die Verschiedenheit der politischen Lage den neutralen Staat zu vielen D ifferenzierungen und N uancierungen zwingen und besteht 17

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ein gewisser Spielraum seines praktisch-politischen Ermessens. D ie E r­ fahrungen des W eltkrieges 1914—18 haben gezeigt, in welche schwierige und gefährliche Lage die kleineren neutralen Staaten hineingeraten können, wenn sie wirklich neutral bleiben wollen. Zum Glück gab es dam als noch keinen Genfer Völkerbund, der sie auf dem Wege über Sanktionen in den Konflikt hineingezogen hätte. D er völkerrechtliche K ernpunkt bleibt trotz allen Spielraum s und trotz aller Anpassungen an eine schwierige Lage stets die einfache A lternative von N e u tra litä t oder N ichtneutralität. Das w ird gelten, solange es überhaupt eine Völkerrecht liehe N eu tralität gibt. Alle T rübungen und Verschleierungen dieser einfachen, rechtlichen W ahr­ heit enthalten die eigentliche G efahr sowohl fü r das R echtsinstitut der N eutralität wie für die politische Existenz des zur N eu tralität ent­ schlossenen Staates. Bei den auf Art. 16 der G enfer V ölkerbundssatzung sich stützenden ge­ meinsamen Aktionen w ird der „Satzungsbrecher“ ausdrücklich im völker­ rechtlichen Sinne ins Unrecht gesetzt. Das ist das Prim äre. Dem gegenüber ist es eine völkerrechtliche F rage von abgeleiteter Bedeutung, ob sich der in soldier Weise diskrim inierende M itgliedsstaat zu m ilitärischen Aktionen gegen den Satzungsbrecher entschließt, oder n u r zu wirtschaftlichen und finanziellen Maßnahmen, oder ob er sich m it der red it]ichen Disqualifi­ zierung und D iskrim inierung begnügt. D arin zeigt sich, daß es die universalistisdien A nsprüdie und die kollektiven M ethoden des G enfer V ölker­ bundes sind, die die völkerrechtliche N eu tralität zerstören. Es ist bekannt, daß die U nvereinbarkeit von G enfer V ölkerbundsatzung und N eutralität gerade von pazifistischer und völkerbundfreundlicher Seite öfters aus­ gesprochen w orden ist, wenn sie dann auch in der politisch-praktischen W irklichkeit mit manchen Kompromissen v erhüllt w urde. Um so wichtiger ist deshalb die im letzten halben Ja h r eingetretene Entwicklung der Schweizer N eutralität geworden. Es liegt in der N atu r einer Rechtseinrich­ tung wie der N eutralität, daß ih r K ern, nämlich das einfache Dilemma: N eutralität oder N ichtneutralität? in demselben Maße stä rk e r und ein­ deutiger hervortritt, wie der E rnst der Lage sich steigert. Ebenso zeigt sich um gekehrt, daß Genfer V ölkerbund und N eu tralität um so w eniger verein­ b ar sind, je m ehr dieser Bund sich ak tiv iert und seinen A rtikel 16 zu „effektivieren“ sucht. D ieser Logik und Folgerichtigkeit w ird man auf die D auer nicht ausweichen können, weil sie im W esen der völkerrechtlichen Institution liegt. Kein europäischer Staat, dessen Lebensinteresse in der Möglichkeit, neutral zu bleiben, besteht, hat ein Interesse daran, vor diesem Dilemma zu tergiv.ersieren. Das Problem der T otalität hat sich in irgendeiner Form heute für jeden Staat erhoben. Die neuen großen Planungen, Staatsverteidigungsgesetze, Grenzsicherungsgesetze usw. sprechen in dieser Hinsicht deutlicher als propagandistische Schlagworte. Daß ein ernsthafter Krieg zwischen m odernen Großmächten zur totalen Mobilmachung zwingt, w ird wohl nie­ mand m ehr leugnen. Man sollte daher lieber, statt den G espensterkam pf

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der Schlagworte und der Ideologien zu führen, die Tatsachen im Auge behalten, die den Form eln vom totalen Staat ihre Ü berzeugungskraft ver­ schafft haben. N ur um diese Tatsachen handelt es sich. N ur sie können in einem wirklichen, unm ittelbaren Gespräch zwischen europäischen Völkern sachlich erö rtert werden, w ährend der ideologisch-propagandistische Kampf, die guerra di dottrina, sofort in die Frage hineingleitet, wen die Schuld an dieser Entwicklung zur Totalität trifft oder w er mit ih r angefangen hat. Aber eine sachlich offene und direkte M ethode der E rörterung w ider­ spricht den M ethoden und V erfahrensw eisen, die zum W esen des G enfer Völkerbundes gehören. Die G enfer Einrichtung kann man sogar als ein geradezu typisches Beispiel dessen bezeichnen, was mit einem viel um ­ käm pften Begriff eine „potestas indirecta“, eine indirekte G ew alt ge­ nannt wird. Es ist bekannt, daß der Anspruch und die Lehre der „potestas indirecta“ in dieser Form ulierung von der römisch-katholischen Kirche seit der Gegen­ reform ation juristisch und politisch entwickelt worden ist. D ieser eigen­ artige Begriff, durch Bellarm in theologisch und juristisch herausgearbeitet, diente dem universalistischen H errschaftsanspruch der römischen Kirche gegenüber den dam als entstehenden souveränen Staaten. E r beginnt seine W irkung in der zw eiten H älfte des 16. Jahrhunderts und gehört nicht nu r zeitlich, sondern auch situationsm äßig in die Epoche der beginnenden Konfessions-, Parteien- und B ürgerkriege, die erst 1648 endete. Das Jahr 1550 wird von manchen französischen Publizisten in dieser Hinsicht m it unserer heutigen G egenw art in eine P arallele gesetzt. D er Jah rh u n d erte alte Streit um die „indirekte G ew alt“ hat natürlich die gegenüberstehenden geistigen und politischen F ronten nicht etw a gegenseitig überzeugt, aber doch wohl eines sichtbar gemacht: daß die Ansprüche und M ethoden dieser A rt In­ direktheit die K riege nicht etw a verhindern, sondern nu r verschärfen, weil sie eine echte N eu tralität unmöglich machen und die Kriege geschlossener Staaten und staatlich organisierter Völker in internationale Konfessions-, Parteien- und B ürgerkriege verw andeln. Es w äre gut, auch völkerrecht­ lich auf die E igenart und die W irkungsw eise der indirekten M ethoden zu achten. U nter den vielen geschichtlichen Parallelen, die heute, wie in jedem Zeitalter tiefgreifender V eränderungen, von allen Seiten auftauchen, scheint mir diese, richtig angew andt, besonders aufschlußreich zu sein und echte Erkenntnisse der heutigen W irklichkeit zu verm itteln. D er indirekten G ew alt ist es wesentlich, daß sie, ohne selbst K rieg zu führen, auf G rund einer übervölkischen, moralischen oder rechtlichen A utorität die Entscheidung über die rechtliche und moralische Zulässigkeit oder U nzulässigkeit staatlicher und völkischer A useinandersetzungen an sich zieht und dadurch den C h a ra k te r zwischenstaatlicher und zwischen­ völkischer A useinandersetzungen verändert. Moralische und rechtliche D is­ krim inierungen und D isqualifizierungen, Ächtungen und Exkom m uni­ kationen oder, m oderner gesprochen, m oralischer, sozialer und w irtschaft­ licher B oykott sind typische M ethoden der „indirekten“ Gew alt. D er nicht17*

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diskrim inierende Staatenkrieg verw andelt sich dadurch in einen inter­ nationalen B ürgerkrieg und erreicht dam it eine A rt T otalität, die furcht­ b arer und vernichtender ist als alles, was eine oberflächliche Propaganda der völkischen Totalität vorzuw erfen hat. Vor dreihundert Jahren ist ein großer englischer Philosoph, ein Vor­ käm pfer und L ehrer des Kampfes gegen die „potestas indirecta“, Thomas Hobbes, den juristischen K onstruktionen dieser Lehre und ihren M ethoden der Ächtung und moralischen D isqualifizierung eutgegengetreten. E r hat dam it eine H auptquelle der steigenden E rb itteru n g und Internationali­ sierung des innen- und außenpolitischen Kampfes richtig erkannt. Mit Bezug auf die rechtliche und moralische D isqualifizierung ganzer Völker stellt er die Frage: „Welche W irkung kann die D isqualifizierung undÄchtung eines ganzen Volkes haben?“ Und er antw ortet: „W hen a Pope excommuni­ cates a whole Nation, m ethinks he ra th e r excom m unicates himself, than them .“ W enn das für den Papst und die römische Kirche gilt, dann w ird es wohl auch fü r den G enfer V ölkerbund zutreffen und über dessen Methoden, eine zwischenstaatliche A useinandersetzung im W ege des Art. 16 durch D iskrim inierung eines beteiligten Staates auf n eu trale d ritte Staaten auszudehnen, das richtige U rteil sprechen.

33· Über die zwei großen „Dualismen“ des heutigen Rechtssystems (1939) Wie verhält sich die Unterscheidung von Völkerrecht und staatlichem Recht zu der innerstaatlichen Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht? B e i t r a g z u r F e s t s c h r i f t f ü r G e o r g i o s S t r e i t (Athen) D er M eister, zu dessen Festschrift dieser kleine B eitrag bestim m t ist, hat in einem A ufsatz der Festgabe zum 60. G eburtstag von F ritz F leiner (1927, S. 318—351) die F rage nach der rechtlichen N a tu r des sog. in te r­ nationalen Privatrechts behandelt. E r kom m t dabei zu dem Ergebnis, daß das ganze G ebiet der sogenannten Kollisions- oder A bgrenzungsnorm en zum öffentlichen Recht gehört. D abei h at er die Frage, ob diese Kollisions­ normen des internationalen P rivatrechts öffentlich- oder privatrechtlicher N atur sind, von der anderen Frage, ob sie zum Völkerrecht oder zum in n er­ staatlichen Recht gehören, scharf getrennt und m it großer K larheit die A lternative auf gestellt: E ntw eder gilt die U nterscheidung von öffentlichem und privatem Recht fü r das ganze Rechtssystem, dann k ann das V ölker­ recht jedenfalls nicht P rivatrecht sein, und die Norm en des internationalen Privatrechts sind, w ofern m an sie m it Zitelm ann dem V ölkerrecht zurechnet, jedenfalls nicht P rivatrecht; oder aber die Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht gilt n u r fü r das interne staatliche Recht, dann entfällt für die Zitelmannsche A uffassung überh au p t jede Frage. O b das in te r­ nationale Privatrecht zum öffentlichen oder zum priv aten Recht gehört, ist also n u r so lange eine sinnvolle Frage, als die Kollisionsnorm en zum internen staatlichen Recht gehören. Die Frage: Ist das Internationale P rivatrecht Völkerrecht oder internes Recht? und die andere Frage: Ist es öffentliches oder privates Recht? haben in der T at einen völlig verschiedenen Sinn. Vom heutigen Stand der Rechts­ lehre und der Rechtspraxis gesehen, ist die Fragestellung in jedem der beiden F älle logisch ganz verschieden. D ie Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht kann, w enn sie gilt, n u r für das innerstaatliche Recht gelten. G ierkes bekannte Lehre, daß das gesamte Völkerrecht als ein typisches „Koordinationsrecht4“ den C h a ra k te r von Privatrecht habe, ist zunächst n u r ein Anw endungsfall seiner V orstellung vom Staat. Seinem Denken m üßte das V ölkerrecht folgerichtig sogar als das eigentliche und w ahre „Privatrecht“ erscheinen, weil es das eigentliche und w ahre Ko­ ordinationsrecht ist. D enn im V ölkerrecht stehen sich die Staaten als freie und ungebundene Individualitäten gegenüber, w ährend sich die freien Individuen innerhalb des innerstaatlichen Privatrechts n u r in einer durch »

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die staatliche Gesetzgebung geregelten, w enn ich so sagen darf, in einer gesetzlich „geschienten“ Freiheit bewegen. O der, um es in der anschaulichen Sprache des Thomas Hobbes, des w ahren system atischen B egründers dieser Vorstellungswelt, aiiszudrücken: Im V ölkerrecht stehen sich „große“ Men­ schen, „magni homines“ oder μά κροι άν& ρω ποι in voller Souveränität gleich­ berechtigt gegenüber; im innerstaatlichen öffentlichen Recht steht ein magnus homo als persona potentior vielen kleinen Menschen gegenüber; im innerstaatlichen Privatrecht stehen, im Schatten, sub tutela, des großen Menschen, kleine Menschen kleinen Menschen gleichberechtigt gegenüber. Vernachlässigt man den Unterschied von groß und klein, und setzt man in ab strak ter Weise Mensch gleich Mensch und Rechtsperson gleich Rechts­ person, so w ird es allerdings möglich, V ölkerrecht und P rivatrecht als gleichen C harakters aufzufassen1. Die heute herrschenden dualistischen A uffassungen beruhen aber gerade darauf, daß die qualitative Verschiedenheit von Staat und Individuum, vom großen und kleinen Menschen folgerichtig durchgeführt wird. Je schärfer sich die Vorstellungen des Staates als einer räum lich und personal in sich geschlossenen Größe ausbilden, um so entschiedener bleibt nur der Staat als mögliches S ubjekt des zwischenstaatlichen Rechts übrig, um so selbstverständlicher scheidet das p rivate Individuum aus dem Bereich des Völkerrechts aus, und um so größer w ird gleichzeitig die K luft, die Völker­ recht und Landesrecht, genauer: zwischenstaatliches und innerstaatliches Recht voneinander trennt. Die R echtsqualität und S tru k tu r des auf Ge­ w ohnheit oder V ertrag beruhenden zwischenstaatlichen Rechts w ird dann von der R echtsqualität und S tru k tu r des auf einem staatlichen Gesetzes­ befehl beruhenden innerstaatlichen Rechts so fundam ental verschieden, daß man hier in der T at die dualistische oder, mit G. A. W alz, die pluralistische Fragestellung einnehm en und nach der Möglichkeit einer „Überbrückung“ fragen muß. Das Problem der Transform ation, Inkorporation, auctoritatis interpositio, erhebt sich in aller Schärfe. Es hat seine w eltberühm te, klas­ sische A usprägung und D arlegung durch zwei deutsche Rechtsgelehrte, Heinrich T riepel und G. A. W alz, gefunden. D abei scheint m ir schon die N uancierung der T itel ih rer beiden W erke — T riepel 1899: Völkerrecht und Landesrecht; W alz 1933: V ölkerrecht und staatliches Recht — die Ent­ wicklung zur immer strafferen Staatlichkeit anzudeuten. Je m ehr das inner­ staatliche R edit zum Gesetz, und zw ar zum staatlidien Gesetz w ird, und je m ehr die juristische Bildung und D enkw eise sich am staatlichen Gesetz und an staatlichen Gesetzeskodifikationen ausrichtet, um so problem atischer und „unvollkom m ener“ w ird alles zw ischenstaatlidie Recht, um so schärfer auch das Problem der „T ransform ation“ des Inhaltes einer zwischenstaat1 Gierke, Deutsches Genossensdiaftsrecht, 1868, I S. 843; zu der Lehre von Thomas Hobbes vgl. Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Hamburg, 1938, S. 72 ff. R. Höhn, Otto von Gierkes Staatslehre und unsere Zeit, Ham­ burg 1936, erwähnt unser Problem nidit; doch wäre es aufschlußreich, audi dieses Problem einmal im Lichte der Thesen Hohns zu erörtern.

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liehen Verpflichtung in die innerstaatliche Gesetzgebung. Ziteim anns Form u­ lierung der F rag e ist h ier sehr anschaulich und typisch: E r fragt: w ie kann etwas als Norm gelten, w enn es nicht einem bestim m ten einzelnen Staat, und zw ar seiner G esetzgebung angehört? Das scheint ihm so einleuchtend und zwingend, daß er darau fh in das internationale P rivatrecht dem fü r alle S taaten geltenden V ölkerrecht zuw eist; freilich einem Völkerrecht, dessen „U nvollkom m enheit“ er selbst in seiner berühm ten Bonner R ekto­ ratsrede von 1919 geschildert hat, und zw ar auf G rund von A rgum enten, die sofort erkennen lassen, daß für ihn eigentlich doch n u r das in n erstaat­ liche G esetzesrecht »vollkommenes“ Recht ist. Dem heutigen gesetzesstaatlichen D enken ist es selbstverständlich, daß alles i n n e r s t a a t l i c h e R edit auch s t a a t l i c h e s , d. h. vom Staat gesetztes oder doch erm ächtigtes Recht ist. Ist dem so, dann hat die innerstaatliche Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht m it der U n ter­ scheidung von V ölkerrecht und L andesredit nichts zu tun. F ü r eine von der heutigen Lage ausgehende statisdie Betrachtung — und eine solche Be­ trachtungsw eise ist nicht n u r berechtigt, sondern muß auch den Ausgangs­ punkt der E rö rteru n g bilden — ist das in der T at unbestreitbar. Doch glaube ich nicht, daß dam it schon alle reditsw issensdiaftliehen Seiten dieses wichtigen Problem s ersdiöpft sind. D enn der A spekt än dert sich sofort, wenn w ir von der statischen B etrachtung des heutigen status zu einer dynamischen Betrachtung der Rechtsentwicklung übergehen. D ann zeigt sich, daß der in der Trennung von V ölker red it und Landesrecht, zwisdienstaatlidiem und internationalem Recht liegende D ualism us m it dem in der T rennung von öffentlichem und privatem Recht liegenden D ualism us doch in einem hödist interessanten gesdiiditlichen Zusamm enhang steht, der theoretisch w ie praktisch von B edeutung w erden kann. D ie beiden U n ter­ scheidungen, deren V erhältnis hier interessiert, bew egen sich nämlich offensichtlich um den gleichen begrifflichen A ngelpunkt und um eine ge­ meinsame Begriffsadise, nämlich den Begriff des Staates; sie haben außer­ dem einen gem einsam en Gegenbegriff, und zw ar den des Common Law oder Gem einrechts, im Sinne eines nicht spezifisch staatlichen und nicht nach öffentlich und P riv a t aufgeteilten, einheitlichen Rechts1. Rechtsgeschichtlich w ird m an dah er fragen müssen, w iew eit — infolge dieses gemeinsamen, beide D ualism en tragenden Staatsbegriffes — der D ualism us von zwischen­ staatlichem und innerstaatlichem Recht dem innerstaatlichen D ualism us von öffentlichem und privatem Recht p a ra lle l verläuft, und ob gieser dop1 Die Bedeutung des Wortes „Common Law“ ist großen Verschiedenheiten und Veränderungen unterworfen. Für den rechtswissensdiaftlichen Zweck der folgenden Darlegung genügt die Herausstellung der beiden für unseren Zusammenhang wesent­ lichen Merkmale: Nicht-Staatlidikeit und Nicht-Aufgespaltenheit. Im übrigen ver­ weise ich auf meinen Aufsatz zum Deutschen Juristentag 1936 „Aufgabe und Not­ wendigkeit des deutsdien Rechtsstandes“ (Deutsdies Recht, Jahrgang 6, Mai 1936, S. 181 ff.), sowie aus dem umfangreidien angelsädisisdien Schrifttum, auf die inter­ essanten und, wie mir scheint, richtigen Klarstellungen von W. P. M. Kennedy in Some Aspects of the Theories and Workings of Constitutional Law, New York 1932, S. 34 ff.

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pelte Dualism us nicht durch gegenw ärtige Tendenzen der Rechtsentwicklung in Frage gestellt wird. Edwin D, Dickinson hat in einem außerordentlich interessanten Aufsatz „Changing Concepts and the D octrine of Incorporation“ (American Jour­ nal of International Law 1932, S. 239—260) — ein Aufsatz, der in der um­ fangreichen L iteratu r über das Problem „Völkerrecht und Landesrecht“ doch wohl nicht genügend beachtet ist — an der H and anschaulicher Präze­ denzfälle aus der englischen P raxis gezeigt, daß das V erhältnis von Völker­ recht und Landesrecht nu r aus den fundam entalen Rechtsvorstellungen der Zeit begriffen w erden kann. Im 18. Jah rh u n d ert w urde das Völkerrecht, auf G rund naturrechtlicher Vorstellungen des Common Law, ohne weiteres als ein T e i l des Landesrechts angesehen, es w ar „a p a rt of the Law of the Land“. Die Staatlichkeit des Rechts ist hier infolge der herrschenden gemeinrechtlichen Vorstellungen noch nicht entscheidendes Begriffsmerk­ mal. Common Law und N aturrecht können ineinander übergehen. Hier gibt es daher auch kein Transform ations- oder Einverleibungsproblem ; auch das „Q uellen“problem ist ein wesentlich anderes, w eil kein staatliches Rechtssetzungsmonopol besteht. Je straffer die staatliche Zentralisation und die staatliche Gesetzgebungsmacht sich vollenden, um so nachdrücklicher erhebt sich für die staatliche Justiz und V erw altung und für das darauf sich aufbauende positivistische Rechtsdenken das Problem der „Q uelle“ im Sinne des f o r m a l e n G e l t u n g s g r u n d e s . Jetzt w ird die „Umschal­ tung“ aus dem einen Rechtskreis in den anderen die K ernfrage. W orte und Begriffe, wie Umschaltung, Transform ation, Inkorporation, Einverleibung, auctoritatis interpositio und am prägnantesten die von G. A. Walz geprägte Form ulierung „G eltungserstreckung“ zeigen, wie sehr hier alles ganz auf die form ale Frage der „G eltung“ abgestellt ist. In der praktischen W irk­ lichkeit kann die auctoritatis interpositio des staatlichen Gesetzgebers eine sehr verschieden große Bedeutung haben und oft nicht m ehr als einen bloß konstruierten, ja fingierten Vorgang darstellen. Theoretisch und form al aber ist sie immer „konstitutiv“. D ie dualistische Begriffsbildung ist ganz staatlich-dezisionistisch. Sie b eruht nämlich erstens auf der Vorstellung, daß alles Recht staatlicher W ille ist, und hat zweitens nu r den Konflikts- und Kollisionsfall, d. h. den Fall eines W iderspruchs zwischen völkerrechtlicher und landesrechtlicher Norm im Auge. Ih re Fragestellung ist daher, im Gegensatz zu allem echten Common-Law-Denken, nicht inhaltlich und nicht darauf gerichtet, ob das Völkerrecht ein Teil des Landesrechts ist, sondern geht nu r auf den for­ m alen „G eltungsgrund“, ungenau auf die „Q uelle“. Es ist keine Frage, daß dieses staatlich-dezisionistische D enken über das gemeinrechtliche CommonLaw -D enken gesiegt hat. Auch die angelsächsischen Gerichte haben sich dem angepaßt und wenden völkerrechtliche Normen auf G rund einer m ehr oder w eniger deutlichen landesrechtlichen „G eltungserstreckung“ an. Aber der Sieg dieses spezifisch staatlich-dezisionistischen D enkens ist m ehr der Sieg einer Fragestellung als der Sieg einer inhaltlichen A ntwort. Das liegt

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in der Logik des Dezisionismus selbst begründet1. Die A ntw ort ergibt sich hier eigentlich automatisch aus der dualistischen Fragestellung von selbst, weil diese eben ganz auf den staatlichen W illen und auf den Kollisionsfall bezogen ist. D aß ein nationaler staatlicher Richter im Kollisionsfall das nationale staatliche Recht anzuwenden hat, ist ganz selbstverständlich und liegt in der staatlichen Stellung und der staatlichen G ebundenheit des Richters als eines vom Staat beauftragten staatlichen A m tsträgers be­ gründet. Ein kirchlicher Richter w ürde im analogen F all nichtkirchliches Recht ebenfalls auf G rund einer Geltungserstreckung des kirchlichen Rechts anwenden. Ebenso selbstverständlich w ürde, wenn es wirklich einen Über­ oder zwischenstaatlichen internationalen Richter gäbe, für diesen im Kolli­ sionsfalle das internationale Recht Vorgehen. N ur ist das Übergewicht und die Selbstverständlichkeit staatlichen Rechtsdenkens so groß, daß es einen solchen nichtstaatlichen, übernationalen Richter heute nirgendwo gibt. Die Richter der C our Perm anente de Justice Internationale im Haag sind heute noch Staatsangehörige ihres H eim atstaates und diesem zur Treue und zum Gehorsam verpflichtet. Soweit ihr internationales Amt ihnen in dieser H in­ sicht eine größere F reiheit gibt, b eruht das nu r auf einer Zumessung durch ihren nationalen H eim atstaat. Solange sie englische, amerikanische, fra n ­ zösische, italienische Staatsangehörige bleiben, müssen sie sich in einem ernsthaften Konflikt oder Kollisionsfall zwischen nationalem und internatio­ nalem Recht fü r das nationale staatliche Recht entscheiden. Sonst geraten sie in einen Raum der Internationalität und Zwischenstaatlichkeit, dessen Luft für ein isoliertes Individuum heute doch wohl noch zu k a lt und zu dünn ist. Eine dezisionistisch auf das H andeln eines staatlich erm ächtigten und staatlich gebundenen Richters im Kollisionsfall gerichtete Fragestellung kann n u r nach dem form alen G eltungsgrund fragen und muß von selbst bei der form alen Staatlichkeit und bei der alleinigen M aßgeblichkeit des staatlichen Gesetzesbefehls landen. Das staatlich-dezisionistische D enken hat im 19. Jahrhundert über das Common-Law-Denken gesiegt. D er Sieg des sog. „Positivismus“ ist nur der Sieg dieser D enkw eise12. Das Völkerrecht w ird dadurch staatlicher Wille, der sich in typischer W eise durch einen als V ertrag oder G ew ohnheit entscheidenden Konsens äußert. Das innerstaatliche Recht w ird ebenfalls staatlicher W ille, der sich hier in typischer Weise durch ein staatliches Gesetz äußert. M erkw ürdig ist dabei, daß es in beiden Hinsichten zu einem Dualism us kommen konnte. Man sollte meinen, die unwiderstehliche Macht des staatlichen W illens m üßte nach außen wie nach innen, völkerrechtlich wie innerstaatlich, zu einer unbedingten Einheitlichkeit führen. Es hat auch nicht an Versuchen gefehlt, nach beiden Seiten hin diesen Monismus zu 1 Weiteres bei Carl Schmitt, Über die drei Arten des reditswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934 (Darlegung der Verschiedenheit von normativistischem, dezisionistischem und konkretem Ordnungsdenken); dazu jetzt G.A.Walz, Artgleich­ heit gegen Gleichartigkeit, die beiden Grundprobleme des Rechts. Hamburg 1938 (Schriften der Akademie für Deutsches Recht), S. 19. 2 Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, a. a. O. S. 29 ff.

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konstruieren. H ierzu sei als neueres Beispiel für den ersten D ualism us das Buch von Ludwig S c h e c h e r , Deutsches A ußenstaatsrecht, B erlin 1931, für den zweiten Dualism us K e l s e n s bekannte norm ativistische Theorie von der juristischen Gleichheit des öffentlichen und p riv a ten Rechts erw ähnt. Das G eltungsdenken ist eben im m er form al und fü h rt infolge­ dessen logisch imm er zu form alen, die B esonderheiten der konkreten O rdnungen mißachtenden Identitäten. D ie P rax is aber h a t u n b e irrt an beiden Dualism en festgehalten. G erade in einem Land, das den Staats­ gedanken zuerst in aller Schärfe entw ickelt hat, in F rankreich, w urde auch die innerstaatliche Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht am schärfsten und folgerichtigsten herausgebildet, m it einer dualistischen Auf­ spaltung der innerstaatlichen G erichtsbarkeit in Zivilgerichte und V erw al­ tungsgerichte. Nicht in allen Staaten des 19. Ja h rh u n d e rts ist diese saubere A ufteilung so folgerichtig zu Ende gebildet w orden, aber sie ist doch meistens ebenfalls vorhanden. Ebenso m erkw ürdig ist es, daß bei dieser A usbildung des innerstaat­ lichen Dualism us die Frage nach der R angordnung von öffentlichem und privatem Recht in der Sache sonderbar zw iespältig b eantw ortet w ird. F o r­ mal ist auch hier die Entscheidung sehr einfach : G eltungsgrund und „Q uelle“ allen Privatrechts liegen im staatlichen V erfassungsrecht, also im öffent­ lichen Recht. Jus privatum sub tu te la ju ris publici. A ber fü r einen folge­ richtigen K onstitutionalism us steht doch gerade das V erfassungsrecht in der Sache w iederum im Dienst von „F reiheit und E igentum “, und zw ar von F reiheit und Eigentum des einzelnen Privaten. D er form ale G eltungsgrund hat hier, ebensowenig wie im V ölkerrecht, die inhaltliche F rage nicht ent­ scheiden können. Was die form- und begriffsbildende K raft angeht, hinsicht­ lich der juristischen A usbildung und hinsichtlich der wissenschaftlichen W ertschätzung, w ird dem P rivatrecht und seiner W issenschaft in W irklichkeit meistens der höhere Rang zugeschrieben. Es bestim m t die S tru k tu r des rechtswissenschaftlichen Denkens. G. A. W alz h at recht, w enn er sagt: „Vor dem Forum des Privatrechts m ußte sich der Publizist juristisch legiti­ m ieren1.“ Den m eisten Fachjuristen erscheint das öffentliche Recht als eine wechselnde, schnell veränderliche A ngelegenheit, w äh ren d sie das Privatrecht in seinen G rundzügen und G rundbegriffen fü r „ew ig“ halten. Dieses handgreifliche M ißverhältnis von form aler G eltungsüberlegen­ heit des öffentlichen und fachlicher Ü berlegenheit des p riv aten Rechts bedarf einer E rklärung. D er H au p tgrund scheint m ir d arin zu liegen, daß das Privatrecht, hinter der Fassade der form alstaatlichen G eltungskonstruk­ tionen und unter dem Dualism us von öffentlich und P rivat, in W irklichkeit eben doch als ein gemeines Recht, als latentes Common Law im Sinne der alten Nichtstaatlichkeit und Einheitlichkeit w eiterlebt. D as mag sich in den verschiedenen Ländern, die den D ualism us von öffentlichem und privatem Recht kennen, außerordentlich verschieden äußern, ist aber in irgendeiner 1 Artgleichheit gegen Gleichartigkeit, a. a. O S. 21.

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Weise doch erk en n b ar vorhanden. In Deutschland z. B. w ar die A ufteilung in öffentliches und privates Recht stets m it der Vorstellung verbunden, daß das p riv ate R edit und die private G erichtsbarkeit etw as vom gemeinen Recht und von der gemeinrechtlichen G erichtsbarkeit behalten hat und der Dualism us von Öffentlich und P riv at nicht bis in die letzten W urzeln des Rechts hineinging. Die Gerichte der privatrechtlichen zivilen G erichtsbar­ keit sind imm er in einem besonderen Sinne als „ordentliche“ Gerichte em p­ funden worden; diese Gerichte haben auch, trotz des § 13 des deutschen Gerichtsverfassungsgesetzes, der ihre Zuständigkeit auf privatrechtliche Streitigkeiten besdiränkt, imm er in weitem Maße auch über öffentlichreditliche A nsprüdie und S treitigkeiten entschieden und trotz der T rennung von öffentlichem und privatem Recht den G edanken einer zugrunde liegen­ den, latent gemeinrechtlichen Rechtseinheit niem als völlig preisgegeben. Die rechtsgeschichtliche und positiv-rechtliche A usführung dieser wichtigen Be­ hauptung muß idi m ir hier versagen. Ich erw ähne n u r ein anschauliches Beispiel: wenn das Deutsche Reichsgericht bis auf den heutigen Tag an seiner Zuständigkeit fü r die zweifellos öffentlich-rechtlichen sog. A ufopferungs­ ansprüche aus §§ 74, 75 der Einleitung zum Allgem einen Landrecht fest­ hält1, so tu t es dam it im G runde nichts anderes, als daß es die auf CommonLaw-Vorstellungen vom Eigentum beruhende P raxis des preußischen O b er­ tribunals w eiterführt. Es geht m it „historischen“ oder m it Rechtsschutz­ argum entationen über die Unterscheidung von öffentlichem und privatem Redit hinweg. A ber auch in anderen Ländern, in denen diese Unterschei­ dung logisdi folgerichtig gehandhabt w ird, gilt das Privatrecht wenigstens als die eigentliche H eim at der Rechtswissenschaft und des Rechtsdenkens. Der sogenannte „Allgem eine T eil“ der Rechtslehre w ird wesentlich vom Privatrecht her bestimm t. Die Rechtswissenschaft ist, schon infolge ih rer in der N atur der wissenschaftlichen T ätigkeit liegenden F reih eit und Un­ abhängigkeit, am besten im stande, den gemeinrechtlichen G edanken wach­ zuhalten, daß das Recht nicht n u r staatlicher Befehl, sondern auch „ratio" und logos ist. D ie „principaux systèmes juridiques du m onde“, von denen Art. 9 des S tatut de la C our Perm anente de Justice Internationale vom 16. Dezem ber 1920 spricht, und die dort neben den „grandes formes de la civilisation“ genannt w erden, dürften ebenfalls in der Hauptsache von privatrechtlichen Begriffen und deren W issenschaft her bestim m t sein. D er Bericht des Com ité consultatif, der die Fassung dieses A rt. 9 form uliert hat, sagt ausdrücklidi, daß m it diesen „hauptsächlichen juristischen Sy­ stemen der W elt“ nicht etw a die versdiiedenen Systeme des Völkerrechts gemeint sind, sondern die Verschiedenheit der nationalen, innerstaatlichen Ausbildung und Prägung, die „éducations juridiques distinctes“, die V er­ schiedenheit der Denkw eise, die in der M aßgeblichkeit von Präzedenzfällen, wie in angelsächsischen L ändern, gegenüber den dem französischen Rechts1 Vgl den Beschluß des Großen Zivilsenats für Zivilsachen vom 16. November 1937 und dazu die Glosse von Werner W e b e r in der Zeitschrift der Akademie für Deutsdies Recht 1938, S. 133 ff.

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denken charakteristischen „déducations logiques“ bestehen1. Schließlich sind auch um gekehrt die „allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts“ zu einem großen Teil das, was m an in unserem Sinne Gem einrecht nennen kann. Wenn man daraufhin system atisierende Zusam m enstellungen dieser allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts betrachtet12, w ird man zu­ mindest drei Viertel ihrer Begriffe, Sätze und Norm en als Teile einer all­ gemeinen Rechtslehre im Sinne eines von europäischen Juristen getragenen Gemeinrechts ansehen können. Diese „allgemein anerkannten Regeln des V ölkerrechts“ gelten inner­ staatlich und zwischenstaatlich in der Sache als Common Law unter dem Vorbehalt, daß sie nicht durch eine positive Bestim mung des innerstaat­ lichen Rechts abgelehnt werden. D ie Betonung der auctoritatis interpositio bedeutet hier nur die H erausarheitung eines fü r den Konfliktsfall gel­ tenden Vorbehalts. Im sogenannten Internationalen P rivatrecht finden w ir entsprechende Vorbehalte und K onstruktionen. Ich meine dabei nicht so sehr den inhaltlich bestimm ten V orbehalt des „O rdre P ublic“, sondern den auch hier herrschenden Dualism us von Inh alt oder G egenstand auf der einen, G eltungsgrund und Q uelle auf der anderen Seite. F r a g i s t a s hat das am klarsten so form uliert: D as IPR. ist seinem G egenstand nach internationales Recht, der Q uelle nach aber grundsätzlich staatliches Recht. Uber diesen Satz ist auch das erschienene, sehr tüchtige Buch von Fritz R e u 3 nicht hinausgekommen. Es w eiß aus seinem staatlichen Positivismus heraus mit in der Sache gemeinrechtlichen Begriffen w ie „juge n atu rel“ nichts anzufangen und drängt Vorstellungen w ie die einer „K ulturgem ein­ schaft“ oder „Rechtsgemeinschaft“ ins U njuristische und bloß Gedankliche ab. In dieser Weise spricht es vom „G edanken einer zwischenstaatlichen Rechts- und Kulturgem einschaft“ (S. 20) oder davon, daß „sich in allen K ulturstaaten ein im großen und ganzen ähnliches und gleichwertiges Ver­ fahren zur Lösung von P rivatrechtsstreitigkeiten herausgebildet“ hat (S.30); von einer „im großen und ganzen in Friedenszeiten herausgebildeten gemeinschaftlichen Zuständigkeitsordnung“ (S. 81); von den „annähernd gleichgestalteten, den gleichen Rechtsschutz gew ährleistenden Einrich­ tungen in allen K ulturstaaten“ (S. 86); in § 606 der deutschen ZPO. (Zu­ ständigkeit der deutschen Gerichte für die Scheidung von Ausländerehen) w ird ein „Bekenntnis zur zwischenvölkischen Rechtspflegegemeinschaft“ gefunden (S. 141) usw. A ber über allen diesen G em einsam keiten schwebt das dezisionistische E ntw eder-O der von Staatlichkeit oder Nichtstaatlichkeit und damit der Dualism us von G egenstand und G eltungsgrund, der den Dualism us von Zwischenstaatlich und Innerstaatlich w iderspiegelt. Bei 1 Vgl. den Kommentar von Graf B. S c h e n k v o n S t a u f f e n b e r g , Statut et Règlement de la Cour Permanente de Justice Internationale (Institut für Aus­ ländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Berlin 1934, S. 41). o ,.2 ®· ^as von .V. B r u n s herausgegebene „Handbuch der Entsdieidungen des Ständigen Internationalen Gerichtshofs“, Berlin 1931, oder die „Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs von Karl S ch m i d , Berlin 1932. 3 Die staatliche Zuständigkeit im internationalen Privatrecht (Marburg 1938).

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der E igenart gerade des internationalen P riv a tredits w irk t dieser D ualis­ mus hier besonders äußerlich, weil hier die Substanz eines europäischen Gemeinrechts w eit m ehr als im Völkerrecht ohne w eiteres sichtbar ist. Auch da, wo bestehende Institutionen dieses Gem einrechts einen neuen Inhalt bekommen, wie Ehe und Fam ilie durch die Rassengesetzgebung, w ird diese europäische Gemeinschaft keineswegs verneint. Ich habe in einem \ ortrag über „Die nationalsozialistische Gesetzgebung und der Vorbehalt des ordre public im Internationalen Privatrecht1“ gezeigt, in welchem Maße die deutsche Gesetzgebung hier durchaus „defensiven“ C h a ra k te r hat, und w enn F ritz R e u in seinem Buche (S. 81) bem erkt, es gebe angriffs­ lustige und, wie er sagt, „bescheidene“ internationale P riv a tr echte, so hätte er in jenem V ortrag einiges zu diesem Them a finden können. Sobald mit der Vorstellung einer „Fam ilie der europäischen N ation“ als einer kon­ kreten O rdnung E rnst gemacht w erde, muß auch die lebendige Substanz gemeinsamer, nicht ausschließlich staatlich gesetzter Rechtsbegriffe und Insti­ tutionen, m it anderen W orten ein Gem einrecht an erk an n t w erden. D ann zeigt sich, daß der D ualism us von staatlich und nichtstaatlich auf den bloßen Kon­ fliktsfall beschränkt, also ein spezifisch dezisionistisch-form aler G edanke ist. Diese W irklichkeit eines substanzhaft noch vorhandenen Gem einrechts w ird allerdings im Internationalen P rivatrecht meistens als unpolitisch empfunden, so daß bei einem inhaltlichen Gegensatz der in Betracht kom ­ menden N orm en im allgem einen der V orbehalt des „O rdre public“ als Sicherheitsventil genügt. A nders liegt das Problem im V ölkerrecht, nam ent­ lich auf dem eigentlich politischen Gebiet, im Kriegs- und N eutralitätsrecht. Vielleicht können h ier einige A ndeutungen, die nur als A nregungen ge­ meint sind, zum Bew ußtsein bringen, w ie sehr die V orstellung einer durch­ gängigen Sphäre des Privatrechts völkerrechtlich von Bedeutung ist. Die sogenannte kontinentale A uffassung des Krieges, die grundsätzlich zwischen K om battanten und Nicht-K om battanten unterscheidet, setzt diese innerstaatliche Unterscheidung einer öffentlichen von einer p rivaten Rechtssphäre voraus. Auch hier m üßte die dualistische K onstruktion die Rechtslage dahin auffassen, daß sie den G egenstand je n e r Unterscheidung als internationales, den G eltungsgrund aber als innerstaatliches Recht behandelt, was offenbar den K ern der Sache nicht trifft. Entsprechendes gilt im N eutralitätsrecht. D ie Regelung des 5. H aager Abkommens vom 18. O ktober 1907 (insbesondere A rt. 16—18) unterscheidet bekanntlich aus­ drücklich zwischen der N e u tra litä t des Staates als solchen und den H and­ lungen n e u tra le r Personen, d. h. der Staatsangehörigen n eu traler Staaten und erblickt im p riv a t rechtlichen H andeln dieser Staatsangehörigen zum Beispiel in der Ü bernahm e von K riegslieferungen oder der G ew ährung von D arlehen an eine kriegführende Macht keine V erletzung der völkerrecht­ lichen N eutralitätspflicht des n eu tralen Staates. Ob sich das angesichts der 1 Gehalten am 28. November 1935 in Berlin in der Sitzung der International Law Assoçiation, veröffentlicht in der Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht, 1936. S .204 f .

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totalstaatlichen Gesamtentwicklung oder angesichts der Entwicklung zur landesgesetzlichen Regelung der N eutralität, zum Beispiel durch das Neu­ tralitätsgesetz der Vereiiiigten Staaten von A m erika von 1937 halten läßt1, ist eine w eitere Frage. Jedenfalls ist in jen e r Regelung des H aager Neu­ tralitätsabkom m ens vom 18. O ktober 1907 der innerstaatliche Dualism us von öffentlichem und privatem Recht als ein Teil der Völkerrechtsordnung vorausgesetzt. Im Seekriegsrecht, namentlich für Blockade- und Prisenrecht, ist die gleiche Voraussetzung in noch w eit höherem Maße fundam ental. Das bisherige Seekriegsrecht beruht in dieser Hinsicht auf dem Gedanken, daß der Staat seinen Staatsangehörigen für Handel und Schiffahrt eine P rivat­ sphäre beläßt und daher für H andlungen seiner Staatsangehörigen, die zu diesem privaten Handel gehören, nicht verantw ortlich ist. D er einem neutralen Staat angehörende private U nternehm er handelt, w enn er eine Blockade bricht oder Konterbande führt, ganz auf eigene G efahr; er han­ delt aber weder strafbar, noch völkerrechtsw idrig; er ist auch kein Pirat. Die innerstaatliche Unterscheidung von Staatlich und P riv at erstreckt sich hier, über den Kopf des staatlichen Rechts hinweg, in den völkerrechtlichen Raum hinein und führt zu einem unm ittelbaren K ontakt der beiden Sphären, nämlich der des blockierenden oder kriegführenden Staates mit der des privaten Schiffseigners n eu traler Staatsangehörigkeit. So kommt es, daß gerade im Prisenrecht die V orstellung eines nicht spezifisch staatlichen Rechts unausrottbar ist und die staatlich dualistische L ehre hier auf ganz besondere Hemmungen und Schwierigkeiten stößt. G. A. W a 1 z h at aller­ dings in seinem „Völkerrecht und staatliches Recht“ den Nachweis geführt, daß auch die englischen Prisengcrichtshöfe das völkerrechtliche Prisenrecht als nationales englisches Recht (in der Ausdrucksweise von W a l z : als „englisches Völkerrecht im form ellen Sinne“) anw enden, daß also auch hier das internationale Prisenrecht vom nationalen Prisengerichtshof nur auf G rund einer nationalen „generellen E rstreckungsklausel“ angew andt wird. Das ist aber nu r ein Anwendungsfall des mit der dualistischen oder, nach W a l z , pluralistischen Fragestellung von selbst gegebenen Ergebnisses. H inter allen solchen form alen G eltungserstreckungen bleibt doch dèr G edanke lebendig, daß gerade hier, im Prisenrecht, der nationale Gerichts­ hof unm ittelbar Völkerrecht und nicht innerstaatliches Recht anw endet. W a l z nennt die gerade hier herrschenden V orstellungen „reichlich ver­ w orren“ (S. 285). Das sind sie gewiß. Ich e rk lä re das daraus, daß die form ale staatlidi-dezisionistische Fragestellung das W esen der Sache nicht erschöpft. Die Begründung, die das englische Prisengericht seiner Entscheidung des Zamora-l· alles (1916) gegeben hat, ist hierfür besonders lehrreich. Zwar w ird der Gedanke, daß der Richter das internationale R edit auf G rund einer nationalen Geltungserstredcung anw endet, k la r ausgesprochen. D arin 1 F r i e d e , Das amerikanische Neutralitätsgesetz von 1937 in B r u n s ’, Zeitsdirift für ausländisdies öffentlidies Recht und Völkerrecht, VII (1937), S. 760 (betont, daß ein innerstaatliches Gesetz das zwischenstaatliche Neutralitätsrecht nidit ändere) und E c k h a r d t , Das Neutralitätsgesetz der Vereinigten Staaten von 1937, a. a. Ο. VIII (1938), S. 231 f.

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liegt die A nerkennung der dualistischen (bzw. pluralistischen) Auffassung, wie das von W a l z (a. a. O., S. 285) unwiderleglich dargetan w orden ist. Dennoch bleibt ein stark er Rest einer ganz anders gearteten, gemeinrecht­ lichen V orstellung w irksam und lebendig. Das englische Prisengericht sagt in dieser seiner Begründung nämlich, daß ein Prisengerichtshof als ein „municipal co u rt“ das internationale Recht, das er anw endet, n u r „ in o n e s e n s e “ als „a branch of m unicipal Law “ anw ende und fäh rt dann un­ m ittelbar nachher fort: „but a court which adm inisters international law must ascertain and give effect to a law which is not laid down by any p articular state, b ut originates in the practice and usage long observed by civilized nations in th eir relations tow ards each other or in express international agreem ent“. D er dualistische Gegensatz vom Gegenstand und G eltungsgrund, Inhalt und Form , zeigt sich hier in seiner ganzen ungelösten und unbefriedigenden Problem atik. D er D ualism us von V ölkerrecht und Landesrecht ist gewiß nicht der­ selbe wie der von öffentlichem und privatem Recht. Trotzdem hängen beide in der rechtsgeschichtlichen Entwicklung durch die Vorstellung einer spezi­ fischen Staatlichkeit des Rechts und durch den gemeinsamen Gegensatz gegen den G edanken eines Gemeinrechts zusammen. Überall, wo eine starke Bewegung gegen die Gleichsetzung des Rechts mit dem staatlichen Gesetz auftritt, w erden daher b e i d e D ualism en gleichzeitig problematisch. Alle Bemühungen, sei es das Gem einrecht eines einzelnen Volkes, sei es ein inhaltlich substantielles Gem einrecht europäischer Völker, zu entwickeln, müssen dam it beginnen, daß die solchen D ualism en zugrunde liegenden Voraussetzungen und Fragestellungen kritisch geprüft w erden. Das ist ein erster Schritt zu einem wirklichen, die dezisionistische A lternative von Staatlichkeit und Nichtstaatlichkeit überw indenden Gemeinrecht. D arin liegt auch der Sinn m einer A usführungen. Ich w ürde es für einen wichtigen Erfolg halten, w enn es gelänge, die A ufm erksam keit m einer Fachgenossen auf den rechtsgeschichtlichen Zusammenhang der beiden Dualism en und auf ihren gemeinsamen Gegensatz, den G edanken eines Common Law, hin­ zulenken. D am it wiire das sachlich - wissenschaftliche Ziel dieses meines Aufsatzes erreicht, dessen persönliches Motiv darin besteht, an der E hrung eines führenden M eisters unserer W issenschaft des internationalen Rechts mit diesen durch ihn angeregten juristischen D arlegungen teilzunehm en.

34. Neutralität und Neutralisierungen (1939) Zu Christoph Steding „Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur“ Die K rankheit der europäischen K ultur, von der C hristoph Steding in seinem Buche1 spricht, ist der reichsfeindliche Geist der N eutralisierung und Entpolitisierung. D er G eist der N eutralität bedient sich der Begriffe 1 Hamburg 1939, Hanseatische Verlagsanstalt.

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K ultur, Fortschritt, Bildung, unpolitische W issenschaft und anderer, ähn­ licher Vorstellungen als w irksam er M ittel im Kam pf gegen ein starkes Reich in der Mitte Europas. E r macht aus der Politik eine A ntithese gegen alles Geistige und K ulturelle und aus einer schwachen, zum Kriegsschau­ platz vorausbestim mten Mitte Europas ein ethisches und ästhetisches Ideal. In der Schweiz, den N iederlanden und Skandinavien, aber auch innerhalb Deutschlands hat er zahllose Vorkäm pfer und V erbündete gefunden. Städte wie Basel und Am sterdam sind seine Residenz. Nam en wie B urckhardt, Nietzsche, Langbehn, Stefan George, Thomas Mann, Siegmund Freud, Huizinga und K arl B arth erscheinen in dieser k u ltu re llen F ront, deren letzter Sinn Entpolitisierung, N eutralisierung, Entscheidungslosigkeit, N ihi­ lismus und letztlich Bolschewismus ist. Ein starkes D eutschland in der Mitte Europas, wie das nationalsozialistische D ritte Reich, ist in den Augen dieser K ulturkäm pfer der eigentliche Feind. Gegen ihn richtet sich ein mit einem großen Aufgebot von angeblich unpolitischen, rein geistigen Waffen geführter säkularer Kampf, h in ter dessen angeblicher G eistig­ keit aber das ganz konkrete politische Interesse der westlichen Demo­ k ratien steht. W alter F ran k hat dieses Buch m it einer W ürdigung des im Jah re 1938 im A lter von 35 Jah ren verstorbenen V erfassers eröffnet und ihm darin ein D enkm al gesetzt, dessen großer W irkung sich w ohl niem and entziehen kann. Steding w ar bisher n u r durch seine 1932 (bei K orn in B reslau) e r­ schienene Abhandlung „Politik und W issenschaft bei M ax W eber“ bekannt geworden. E r hatte dam it große A ufm erksam keit h ervorgerufen und eine ungewöhnliche F ähigkeit bewiesen, den politischen K ern wissenschaftlicher und ab strak ter Thesen und H altungen sichtbar zu machen. M an braucht seine hervorragende, packende, im m er k o n k rete und doch im m er durch­ dringend wissenschaftliche A nalyse M ax W ebers n u r einm al m it der vor kurzem in P aris erschienenen A bhandlung über den gleichen G elehrten von M. W einreich zu vergleichen, um die Ü berlegenheit Stedings sofort zu sehen. Nach m eh rjäh rig er einsam er A rbeit liegt je tz t dieses nach­ gelassene W erk vor, dessen H orizont und D im ensionen, dessen Entscheidungskraft und G edankenfülle Staunen erregen muß, dem ab er ebenso sichtlich die strenge, tektonische D urcharbeitung fehlt. Infolgedessen ist vieles fragm entarisch, unsystem atisch und subjektivistisch, sogar im pressio­ nistisch; Abschweifungen und W iederholungen, bloße E infälle u n d A usfälle, Wichtiges und w eniger Wichtiges stehen nebeneinander, und das G anze w irk t m ehr w ie der erste W urf zu einem zyklopischen B au als w ie eine gut durchkonstruierte A rchitektur. D a Steding selbst m it großer Strenge seinen neutralistischen G egnern M angel an K o n struktivität, an System und an A rchitektur zum V orw urf macht, w ird es diesen sehr leicht w erden, das ganze W erk ihres Feindes als eine höchstens psychologisch interessante Skizze, im übrigen aber als eine maß- und uferlose B egriffszerdehnung h in ­ zustellen. Und da in dem Buch zahlreiche Em pfindlichkeiten a lle r A rt v e r­ letzt w erden und nicht n u r Thom as M ann und K arl B arth, sondern z. B.

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auch K ierkegaard, Bachofen, Nietzsche und Stefan George in der k u ltu ­ rellen Gegen-Reichsfront erscheinen, überdies nicht n u r Schweizer, H ol­ länder und Skandinavier, sondern auch Schwaben (z. B. S. 238), Schleswiger (S. 111, 242), B alten (242), H am burger (268) und F ra n k fu rte r (245) sich g ek ränkt fühlen können, so ist das Buch geeignet, eine m erkw ürdig zusammengesetzte G egenfront gegen sich auf den Plau zu rufen, die sich an die offensichtlichen Schwächen und Blößen h ält und versuchen w ird, den tapfern Steding m it einem em pörten „Richtet nicht, dam it ih r nicht gerichtet w erd et“ zu erledigen. Lassen w ir uns dadurch nicht beirren und suchen w ir vielm ehr den Reichtum seines nachgelassenen W erkes fü r uns fruchtbar zu machen. Es sind bekanntlich nicht die Schlechtesten, gegen die sich die heterogensten Koalitionen zusammenfinden. Das Buch ist keine juristische A rbeit und will, trotz mancher rechts­ wissen schaf tlichen Hinweise, keine fachlich juristischen D arlegungen geben. Es stellt aber einen unm ittelbar und sogar spezifisch verfassungs- und völkerrechtlichen Begriff, nämlich den der N eutralität und der N eutrali­ sierung, in einer alle G ebiete um fassenden, echt politischen und daher totalen Betrachtungsw eise in den M ittelpunkt und macht ihn durch viele Beziehungsreiche D arlegungen und Beispiele überaus anschaulich. D adurch ist es auch fü r den rechtswissenschaftlichen Forscher nicht n u r anregend, sondern auch schöpferisch. U nseren frü h eren rechtswissenschaftlichen Untersuchungen h atte sich die grundlegende Bedeutung und die Stufen­ folge der N eutralisierungen und E ntpolitisierungen bereits vor Jahren auf­ gedrängt1, und w er den deutschen Kam pf gegen den Geist des G enfer V ölker­ bundes und seine Jurisprudenz und das Problem der „Verschweizerung“ aus den Jah ren der H ochkonjunktur dieser Tendenzen und aus der geistigen Situation des Jahres 1925, von der Steding ausgeht, auf G rund eigener E rfahrung k e n n t123,w ird wohl auch von seinem Fache aus das Recht haben, sich der großen B estätigungen und Steigerungen zu erfreuen, die dieser geniale Torso enthält, ebenso wie er, auf der anderen Seite, aus der besonderen Lage und V erantw ortung des Rechtsgelehrten, ergänzende H in­ weise und P räzisierungen anbringen darf. Beides dient ja n u r dem un­ aufhaltsam w eitergehenden Kampf, in dem das Buch Stedings eine große Waffenschmiede ist. Niem and darf sich darü b er täuschen, in welchem Maße dieser Kam pf einer angeblich unpolitischen W issenschaft sich heute täglich steigert. Im allergrößten, totalsten Stil verm ehren die westlichen Demo1 Siehe meine Rede über „Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisie­ rungen“ vom Oktober 1929, veröffentlicht in der Europäischen Revue, Dezember 1929, sowie als Anhang zur zweiten Ausgabe meines Begriffs des Politischen (München 1931) in unserer Sammlung oben Nr. 15, S. 120 f.; feiner die Ausführungen in Kap. 4 meines Buches „Der Leviathan“ (Hamburg 1938) S. 61 ff., 64. Uber die innerstaat­ liche Lehre von der neutralen Gewalt: Der Hüter der Verfassung (Tübingen 1931) S. 78 ff. (Die innenpolitische Wendung vom neutralen zum totalen Staat) und S. 132 ff. (Die verfassungsrechtliche Lehre von der neutralen Gewalt, dem sog. p o u v o i r n e u tr e ) in unserer Sammlung oben Nr. 17, S. 146. 3 Die Kernfrage des Völkerbundes, Berlin 1926, S. 64, dazu die Besprechung von G. V. B e l o w , Schmollers Jahrbuch, Bd. 50 S. 866, 18

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kratien die geistige Rüstung für ihren „gerechten K rieg“. H ier scheinen sie noch zu glauben, in der Offensive zu sein. Auch das wissenschaftliche Ansehen und die respectability berühm ter Juristen w eiden hier als Kampf­ m ittel eingesetzt. D iejenigen deutschen Rechtswahrer, denen der Sinn eines solchen Kampfes noch verschlossen sein sollte, verw eise ich auf den Aufsatz von J. W. G arner im Januar-H eft 1939 des „Am erican Journal of Inter­ national Law “ : „T heNazi proscription of germ an professors of international law “, mit seineu Beschimpfungen Deutschlands und seinem unzweideutigen Schluß. Vielleicht genügt das, um jedem von uns den Intensitätsgrad der gegenw ärtigen weltpolitischen Auseinandersetzung zu dokum entieren und ihm die eigene Situation zum Bew ußtsein zu bringen. I. Die innerstaatlich-verfassungsrechtliche Neutralisierung von Staat und Regierung Die Geschichte der europäischen Staatsw erdung ist eine Geschichte der N eutralisierung konfessioneller, sozialer und anderer Gegensätze inner­ halb des Staates. D er Staat selbst, als eine machina machinarum, w ar seinem Wesen nach neutral und konnte auf die D auer nichts anderes sein. D er liberale Konstitutionalism us des 19. Jahrhunderts führte diesen Neu­ tralisierungsprozeß w eiter, indem er auch die staatliche Regierung erfaßte und den absoluten Fürsten in ein neutrales, von der aktiven Regierung abgetrenntes Staatsoberhaupt verw andelte. Es ist bezeichnend, daß die Theorie und die Form el vom König als „neutraler G ew alt“, vom pouvoir neutre, durch den aus Lausanne stam menden Rom antiker Benjam in Con­ s ta n t nach der N iederlage Napoleons I. im Jahre 1814 aufgestellt w urde1. Die Spitze der Staatsgew alt w ird dadurch von der Regierung abgetrennt. Aus dem mit dem Staate sich identifizierenden absoluten Monarchen w ird eine innenpolitisch indifferente Größe, die nicht einm al in dem Gegensatz von Regierungs- und O ppositionspartei Stellung nehmen darf. D er in der Teilung steckende K ern einer W ahrheit, nämlich die Unterscheidung von auctoritas und potestas, kommt nur gelegentlich zur A usw irkung. Die verfassungsgeschichtliche Bedeutung dieser Lehre und die Praxis des neutralen Staatsoberhaupts sind bisher noch nicht, wie sie es ver­ dienten, in einer erschöpfenden G esam tdarstellung in den großen Zu­ samm enhang der innerpolitischen Geschichte des 19. Jahrhunderts ein­ gefügt worden. Im Zwielicht ih rer innenpolitischen N eutralität haben die verschiedenen konstitutionellen Könige und Staatspräsidenten im 19. und 20. Jah rhundert oft sehr verschiedene Rollen, gute und böse, gespielt, und manche Methoden „indirekter G ew alt“ ausgebildet, die nach Lage der innenpolitischen Verhältnisse nützlich und vorteilhaft sein konnten. Institutionell aber tritt in diesem System dev neutralen G ew alt immer ein n eu tralisierter „Staatschef“ einem politischen „Regierungschef“ gegenüber 1 Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 132/33.

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und darf dieser „Staatschef“, solange es konstitutionell k o rre k t zugehen soll, nicht offen und direkt aktiv werden. E r darf, bei dieser Teilung der Funktionen, nicht regieren, sondern nu r ausgleichend und verm ittelnd über den Gegensätzen schweben. Il règne et ne gouverne pas. Alle europäischen Verfassungen haben diese Teilung der Regierung auf einen passiven Staatschef und einen aktiven Regierungschef in irgendeiner Form angenom­ men: England, Frankreich, Belgien, Italien, die deutschen konstitutionellen Monarchien und die Monarchien des Balkans. Dieses dualistische Regie­ rungsschema steht, wenn auch nur als äußerlicher Rahm en und Fassade, heute noch überall dort in Geltung, wo man nicht, wie im Deutschen Reich, aus dem Führergedanken alle Folgerungen gezogen hat. Auch das V er­ fassungsrecht des heutigen faschistischen Italien behält die Teilung bei. Sie ist ein Kernstück des K onstitutionalism us und entspricht seiner innersten Folgerichtigkeit. In Deutschland w ar die politische Theorie des 19. Jahrhunderts und die mit ihr zusammengehende nationalliberale Geschichtsschreibung und Verfassungsgeschichte bem üht, gerade an diesem Punkt der inneren Folge­ richtigkeit des Konstitutionalism us zu entgehen, indem sie die konstitutio­ nelle von einer parlam entarischen Monarchie scharf zu trennen suchte. Seit dem Siege des K onstitutionalism us in Preußen, seit 1848, w urde immer wieder betont, daß der König von Preußen, im Gegensatz zum englischen oder belgischen König, trotz der konstitutionellen Verfassung und gerade als konstitutioneller Monarch selber regiere und daß die deutsche konsti­ tutionelle Monarchie als Verfassungstypus sich von den parlam entarischen Monarchien des liberalen W estens eben dadurch unterscheide, daß der deutsche konstitutionelle Monarch selber aktiv die Politik bestimme. Diese Antithese von konstitutionell - monarchischer und parlam entarisch -m on­ archischer R egierung w urde durch Stahl Jolson — dessen Erfolg hier nicht anders und nicht geringer ist als auf anderen G ebieten zum Beispiel der von Heinrich H eine oder von K arl M arx auch dem König selbst und den preußischen K onservativen suggeriert, die darin den rettenden Damm gegen die Überflutung durch den westlichen K onstitutionalism us gefunden zu haben glaubten. Die A ntithese w ar, logisch betrachtet, Unsinn, weil auch, und zw ar in höherem G rade, die parlam entarische Monarchie eine konsti­ tutionelle ist; in ih re r institutionellen D urchführung ist sie n u r ein Schritt­ macher auf dem Wege zur völligen Parlam entarisierung geworden; in ih re r psychologischen und propagandistischen W irkung aber hatte sie die Bedeu­ tung einer beruhigenden Kom promißformel, h in ter der sich der m it dem Konstitutionalism us notw endig verbundene Prozeß der N eutralisierung des Monarchen ungehindert w eiter entw ickeln konnte, bis sein Ergebnis im H erbst 1918 offen zutage tra t, um dann in der W eim arer Verfassung eine etw as posthum e, dafür aber w irklich restlose Erfüllung zu finden. D er innenpolitischen D enkw eise und der V orstellungsw elt des deutschen 19. Jah rhunderts allerdings leuchtete die Antithese ohne w eiteres ein. W er außer dem König soll denn regieren, w enn nicht das P arlam ent, das heißt lb*

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der P arteiführer der Parlam entsm ehrheit regiert? Die politischen Tagesmeinungen aller bürgerlichen Parteien, auch der konservativen und der freikonservativen, konnten sich im G runde nichts anderes denken. Manche Äußerungen Bismarcks bestätigten diese Auffassung, und der allerhöchste Erlaß vom 4. Januar 1882 gab ihr eine A rt Sanktion1. D ie staatsrechtliche Wissenschaft und die allgemeine Staatslehre bew egten sich in denselben Begriffsgeleisen und standen, wie Rudolf Smend richtig bem erkt*2, den eigentlichen a rca n a im p e r ii der überaus kom plizierten Verfassung des Zweiten Reiches viel zu fern, als daß sie gegenüber einem offiziell gewor­ denen Begriffsschema etwas anderes hätten denken können. B efreien w ir uns also einen Augenblick von der Suggestion dieser A ntithese und achten w ir lieber auf das wirkliche V erhalten und die w irklichen V orstellungen der regierenden Kaiser des Zweiten Reiches und einiger an d erer Persön­ lichkeiten, von denen man annehm en kann, daß sie die A rk an a des Reiches und die innersten Bereiche seiner V erfassungsw irklichkeit aus näh erer W ahrnehmung kannten als die P arlam en tarier und Professoren dieser Epoche. Dann zeigt sich bald, daß jene L ehre vom nicht-neutralen, konsti­ tutionellen deutschen Monarchen vielleicht fü r den preußischen Staat einen gewissen taktischen Sinn haben konnte, daß sie aber gegenüber der Reichsregierung des Zweiten Reiches in jed e r Hinsicht versagt hat und höchstens geeignet ist, die Tatsache zu verschleiern, daß durch die bundes­ staatliche Verteilung der Regierung auf Reich und P reußen und die un­ widerstehlich fortschreitende N eutralisierung der R eichsregierung auch der Staat Preußen in diesen N eutralisierungsprozeß hineingezogen w urde.

1. Das deutsche Kaiserreich der Verfassung Bismarcks hatte nicht nur kein „verantwortliches“ Staatsoberhaupt, sondern auch keinen wirklich regierenden Kaiser. Wilhelm I. wollte schon für Preußen ein „konstitutionell korrekter“ Monarch sein. Aber seine königliche Macht in Preußen war stark, die Armee gehorchte nur ihm, und das Beamtentum war ihm treu. Als König von Preußen hatte er nicht etwa einen wirklichen Regierungs­ chef, auch keinen Premierminister zur Seite, sondern ein Kollegium von Ministern, unter denen jedenfalls der Kriegsminister und der Finanz­ minister ihren eigenen Standpunkt durchsetzen konnten und, was das in einem solchen Verfassungsaufbau wichtigste Recht ist, den Zugang zum König hatten. Der Ministerpräsident war bekanntlich nur Vorsitzender des Ministerrates, nur primus inter pares. Die großen Monarchen haben zu allen Zeiten gewußt, was das Premierministersystem für ihre königliche Macht3 bedeutet. Trotz dieser starken Stellung des Königs mußte es in Ablehnung der Trennung von régner und gouverner hat sich Bismarck an?; n Januar 1882, bei der Erörterung des Erlasses vom 4. Januar 1882, ausführlich geäußert. 2 Der Einfluß der deutschen Staats- und Verwaltungsrechtslehre des 19. JahrBd I Vr (lW9) ga| ^ e^en *n Verfassung und Verwaltung, Deutsche Rechtswissenschaft,

3 Die Mahnung Ludwigs XIV. an seinen Sohn und seine Nachfolger lautet: «Quant aux personnes qui dévoient seconder mon travail, je résolus, sur toutes choses, de ne prendre point de premier ministre; et, si vous m’en croyez, mon fils, et tous vos

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Preußen zu einem Verfassungskonflikt kommen, der im Jahre 1866, dank glücklicher Ereignisse, siegreicher K riege und außenpolitischer Erfolge, überbrückt und verdeckt w erden konnte1. Alles verfassungsrechtliche und innenpolitische D enken der Jahrgänge und G enerationen, die diesen preußischen Konflikt erlebt haben, hat von ihm seine Prägung erhalten. Keiner, am wenigsten Bismarck, hat das G efühl dafür verloren, daß der Konflikt in der Tiefe w eiterging. Die Reichsverfassung Bismarcks brachte viele, nicht leicht zu durchschauende V erlagerungen und Balancierungen der Macht und der Zuständigkeiten zwischen Preußen und dem Reich. Das allgemeine W ahlrecht w urde, wie andere liberale Forderungen, im Reich, aber nicht in Preußen W irklichkeit; der Liberalism us w urde sozusagen auf das Reich abgeladen, w ährend Preußen seinen Staat, sein H eer und seine V erwaltung vor dem Liberalism us in Sicherheit gebracht zu haben glaubte*12. Der Zwiespalt von Liberalism us und Konservativism us w urde dadurch in gefährlichster W eise zu einer innenpolitischen Verschiedenheit von Reich und Preußen. D ie ungelöste F rage des preußischen Verfassungskonflikts: W er entscheidet über die H eeresstärke und den Umfang der Rüstung? also die Frage nach dem V erhältnis von W ehr wesen (nicht „W ehrordnung“ wie E. R. H uber sagt) und parlam entarischem Budgetrecht, w urde auch jetz t nicht beantw ortet, aber doch von Preußen weg verlagert, so daß sich der Konflikt jedenfalls in Preußen nicht w iederholen konnte. Das H eer blieb preußisch, aber das H eeresbudget w ar Sache des Reichstags; zugleich v er­ blieben die wichtigsten Einnahm equellen, die direkten Steuern, insbeson­ dere die Einkom m ensteuer, den Einzelstaaten, also auch Preußen. N ur wenn dieses V erteilungssystem immer vor Augen steht, ist die Verfassungs­ geschichte des Zweiten Reiches verständlich und läßt es sich begreifen, daß zum Beispiel Fragen wie die des Tabakm onopols eine so ungeheure innen­ pol itische Bedeutung erhalten konnten. A ber trotz dieser V erlagerungen blieb jene ungelöste Konfliktsfrage nach der Entscheidung über die An­ passung der H eeresstärke an die wechselnden politischen V erhältnisse successeurs après vous, le nom en sera pour jamais aboli en France, rien n'étant plus indigne que de voir de Tun côté toute la fonction, et de l’autre le seul titre de roi.» 1 Die Auffassung, daß der preußisdie Verfassungskonflikt von 1862—1866 keine Entscheidung gebracht hat, habe ich^ in meiner Abhandlung „Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches“, Hamburg 1934, vertreten. Die inzwischen erschienenen Behandlungen dieser wichtigen Frage durch K. K a m i n s k i , Ver­ fassung und Verfassungskonflikt in Preußen 1862—1866, Kieler Dissertation 1938, und Ernst Rudolf H u b e r , Heer und Staat, Hamburg 1938, S. 208 f., scheinen mir eher eine Bestätigung zu enthalten. Gegenüber den Einwendungen E. R. Hubers verweise ich vorläufig auf die im Text folgenden Ausführungen, indem ich mir eine ausführliche Darlegung meines Standpunktes Vorbehalte. Vgl. auch J. H e e k e l in seinem soeben erschienenen systematischen Werk „Wehrverfassung und Wehrrecht des Großdeutschen Reiches“ Bd. I Hamburg 1939 S. 40 Anm. 16, S. 52. 2 Die Einrichtung eines Gerichtshofes für Kompetenzkonflikte bestand daher nicht im Reich, sondern nur in den Ländern, vgl. dazu Deutsche Juristen-Zeitung 1934 S. 777 und Werner W e b e r in der Zeitschrift der Akademie für Deutsches Redit 1937 S. 363 ff. Zum Problem der Erhebung des Konflikts im Zweiten Reich: Albrecht W a g n e r , Der Kampf der Justiz gegen die Verwaltung in Preußen, Hamburg 1936 S. 174 f.

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offen; sie blieb im H intergrund immer das alles beherrschende Problem , das sich bei jeder H eeresvorlage drohend fühlbar machte. „Es entsteht jedesm al“, sagte Bismarck am 11. Januar 18S7 im Reichstag, „aus der Dis­ kussion dieser F rage“ (nämlich der Friedenspräsenzstärke des Heeres) „eine gewisse Krise, ich will nicht sagen ein Konflikt, aber die Besorgnis vor einem Konflikt. Es entsteht jedesm al die F rage: W as ist denn rechtens, wenn eine V ereinbarung nicht zustande kom m t?“ Bismarck ist es unter großen M ühen gelungen, m it wechselnden P a r­ teien eine das Budget bew illigende Reichstagsm ehrheit zustande zu bringen. Was bedeutet diese m it Recht gerühm te Leistung fü r die verfas­ sungsgeschichtliche Lage und die K onstruktion des Zweiten Reiches? Sie beweist, daß im Reich w eder das konstitutionelle Staatsoberhaupt, der Kaiser, noch ein parlam entarischer P a rte ifü h rer der V olksvertretung regierte, sondern ein D ritter, der allein verantw ortliche Reichskanzler und Regierungschef Bismarck. Leider m ußte er die G rundlagen seiner Regie­ rungsmöglichkeit immer von neuem zusammensuchen: beim K aiser, beim Bundesrat, in Preußen, bei den Landesfürsten, bei den verschiedenartigsten Reichstagsparteien. W eil Bismarcks persönliche A utorität und diplom a­ tische G ew andtheit dieser eigentümlichen Zwischenlösung einer konsti­ tutionellen Regierung gewachsen w ar, kam die Tatsache nicht zum Bewußt­ sein, daß diese Zwischenlösung in W irklichkeit bereits eine besonders kom plizierte, aber auch besonders w eit getriebene Form der innen­ politischen N eutralisierung bedeutete. Die bew underungsw ürdige Lei­ stung, mit fortw ährend wechselnder innenpolitischer G rundlage zu regie­ ren, ist Bismarck gelungen. E r konnte sich w eder auf eine feste und zuverlässige von ihm geführte P artei, noch, auf einen Stand oder eine Klasse, noch auf eine sonstige O rganisation stützen, auch nicht auf die Größe, die später in typischer Weise die G rundlage und der T räger einer neutralen Gew alt werden sollte, nämlich auf H eer und Beam tentum . An das preußische H eer kam er, als eine zivile Größe, überh au p t nicht heran; ein Reichsbeamtentum gab es kaum , ganz abgesehen davon, daß Bismarck die B ürokratie verachtete; H eer und Beam tentum w aren staatlichpreußisch, und eben dadurch der Reichsregierung als solcher entzogen. Schließlich aber m ußte selbst ein genialer Staatsm ann wie Bismarck an solchen Regierungsmöglichkeiten verzw eifeln. Das beweisen sowohl die sogenannten Staatsstreichpläne von 1890 als auch seine parlam entsfreund­ lichen Äußerungen nach seiner Entlassung. Die Rolle eines ohne eigene Macht ausgestatteten, zwischen einem unverantw ortlichen M onarchen und einer heterogenen Parlam entsm ehrheit „verantw ortlich“ regierenden, selb­ ständigen D ritten w ar auf die D auer nicht zu halten. D er K aiser W ilhelm I. hat Bismarck regieren lassen und keinen Versuch gemacht, im Reich aktiv zu w erden und ein persönliches R egim ent durch­ zusetzen. W ilhelms II. Versuche aber, das unsichtbare G efängnis eines neutralen Reichsoberhauptes zu sprengen und ein der offiziellen deutschen Theorie entsprechender, wirklich selbst regierender, ak tiv er Monarch zu

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sein, sind so tra u rig und in einer so peinlichen W eise m ißlungen, daß sich an diesem Mißerfolge die W irklichkeit der Verfassungslage in einer geradezu erschütternden Weise enthüllt. Im W iderstand gegen solche w irk ­ lichen oder verm eintlichen Versuche eines persönlichen Regiments und in dem Bestreben, den K aiser über seine konstitutionellen G renzen zu be­ lehren und ihn zu einer neutralen Größe zu erziehen, w aren sich in k riti­ schen Augenblicken alle P arteien von rechts bis links, K onservative und Liberale, Föderalisten und U nitarier, plötzlich einig. W ährend der soge­ nannten N ovem berkrisis 1908, die aus A nlaß der Veröffentlichungen im „D aily T elegraph“ vom 28. O ktober 1908 entstand, haben nicht etw a n u r der B undesrat und die P arteien des Reichstags, einschließlich der Kon­ servativen Partei, gegen dieses A ktivw erden des Monarchen Stellung genommen, sogar das Preußische Staatsm inisterium faßte am 10. November 1908 einstimmig einen Beschluß, in dem es den H e rrn Reichskanzler und M inisterpräsidenten bat, „Seiner M ajestät auch namens des Staatsm iniste­ riums über den Ernst der Lage und die Notw endigkeit V ortrag zu halten, daß Seine M ajestät alles verm eiden wollen, was eine ähnliche K ritik herausfordern w ürde“1. D er K aiser persönlich wollte auch in W ahrheit durchaus konstitutionell k o rre k t sein. „Habe ich jem als einen einzigen Schritt getan, der als Eingriff in unsere Staatsverfassung aufgefaßt w erden konnte?“ fragte er einmal den Fürsten Eulenburg12. Seine eigene Auffassung von der verfassungsm äßigen Stellung eines deutschen K aisers hat er in seinen „Ereignissen und G estalten aus den Jahren 1878 bis 1918“3 auf das klarste form uliert. „G estützt darauf, daß der K anzler nach der Verfassung allein die V erantw ortung für die ausw ärtige Politik zu tragen hat, schaltete und w altete er (der Reichskanzler) frei nach Belieben. Das A usw ärtige Amt durfte m ir n u r m itteilen, was dem K anzler paßte, so daß ich oft über wich­ tige A ngelegenheiten nicht inform iert w orden bin. D aß das überhaupt möglich w ar, liegt an der Reichsverfassung.“ Im Anschluß an diese v er­ fassungsgeschichtliche Feststellung fügt der K aiser eine verfassungsrecht­ liche D arlegung über das V erhältnis von K aiser und K anzler nach der Reichsverfassung von 1871 im allgem einen an, wobei er betont, daß er h ier nicht über sein V erhältnis zu H errn von Bethm ann persönlich, „sondern ganz unpersönlich über die Schwierigkeiten in dem V erhältnis des deut­ schen Kaisers zu den Reichskanzlern“ spreche, „die ihren G rund in der Reichsverfassung h atten “. U nter den sechs Punkten, die er zu diesem Thema aufstellt, kom men hier besonders vier in Betracht, die wörtlich zitiert seien: 2. Der Kaiser hat auf die auswärtige Politik nur insoweit Einfluß, als der Kanzler ihm einräumt. 3. Der Kaiser kann seinen Einfluß geltend machen im Wege der Diskussion, Information, Anregung, durch Vorschläge und die Berichterstattung über seine auf

1 Vgl. die anschauliche und lehrreiche Darstellung dieser Krise bei H. E. F e i n e , Das Werden des deutschen Staates, Stuttgart 1936, S. 370 ff. 2 Johannes v. H a l l e r , Aus dem Leben des Fürsten Philipp zu EulenburgHertenfeld, 1924, S. 255/56. 3 Leipzig und Berlin 1922, S. 116—118.

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Reisen empfangenen Eindrücke, die dann als Ergänzung zu den politischen Berichten der Botschafter oder Gesandten der Länder, die er persönlich besuchte, gilt. 5. Verfassungsmäßig hat der Kaiser kein Mittel, den Kanzler und das Auswärtige Amt zur Annahme seiner Ansichten zu zwingen; er kann den Kanzler nidit zu einer Politik veranlassen, die dieser nicht verantworten zu können glaubt; besteht der Kaiser auf seiner Auffassung, so kann der Kanzler seinen Abschied anbieten oder fordern. 6. Auf der anderen Seite besitzt der Kaiser kein verfassungsmäßiges Mittel, den Kanzler und das Auswärtige Amt an einer Politik zu hindern, die er für bedenklich oder falsch hält; es bleibt ihm, wenn der Kanzler auf seiner Auffassung besteht, nur übrig, zum Kanzlerwedisel zu sdireiten; jeder Kanzlerwechsel ist aber eine schwierige, in das Leben der Nation tief eingreifende Prozedur und deshalb in Zeiten politischer Verwicklung und Hochspannung äußerst bedenklidi, eine ultima ratio, die um so gewagter ist, als die Zahl der für diesen anormal ausgewachsenen Posten geeigneten Männer sehr gering ist.

Soweit der K aiser selbst. D ieser verfassungsrechtlichen K larstellung eines Staatsoberhauptes, das 30 Jahre regiert hat, w ird man einen gewissen authentischen C h arak ter nicht absprechen können. D er K aiser versichert, „es sein ein Beweis völliger U nkenntnis der früheren deutschen Reichs­ verfassung“, den Kaiser für alles allein verantw ortlich zu machen, wie das „seitens kritischer Besserwisser und nörgelnder U m stürzler“ geschehen sei. Ich glaube nicht, daß diese verfassungsrechtliche Auffassung des Kaisers eine bloß nachträgliche K onstruktion ist, die n u r dazu dienen soll, die Ver­ antw ortlichkeit für das Unglück des W eltkrieges von ihm abzuwälzen. Sie ist keine bloße Ausrede. Vielm ehr haben, wie eben erw ähnt, viele b ittere persönliche E rfahrungen der V orkriegszeit den deutschen Kaiser des Zweiten Reiches zu dieser, der konstitutionalistischen Folgerichtigkeit entsprechenden N eutralität allmählich erzogen und über die w ahre Bedeu­ tung der Form el von den persönlich regierenden deutschen Monarchen gründlich belehrt. D araus e rk lä rt sich auch die n eutrale H altung, die er w ährend des W eltkrieges, insbesondere in den kritischen Jahren 1916 bis 1918, im wachsenden Maße angenommen hat, bis er schließlich, wie v. Moser in seiner anschaulichen Schilderung sagt, zum bloßen „Allerhöchsten Zu­ hörer und Zuschauer der W eltbegebenheiten“ geworden w ar. Besser als mit diesen W orten läßt sich das Ideal eines monarchischen pouvoir neutre nicht umschreiben. D er deutsche K aiser des W eltkrieges übte nicht einmal die Rolle eines höchsten, die M einungsverschiedenheiten und Gegensätze der politischen und der m ilitärischen Führung entscheidenden Schiedsrichters aus, so daß bereits damals, 1917/18, auf m ilitärischem G ebiet der G eneral­ feldm arschall v. H indenburg, der ,Chef des G eneralstabes, unter dem O bersten K riegsherrn in eine A rt von konstitutioneller Position hinein­ wuchs, w ährend Erich Ludendorff, u n ter dem Nam en eines G eneral­ quartierm eisters, der aktive Befehlshaber Avar. Trotz der Stellung als O berster K riegsherr, trotz des angeblichen Unterschiedes eines aktiven, deutsch-konstitutionellen Monarchen von einem passiven, englisch- oder bel­ gisch-parlam entarischen Monarchen, hat der deutsche K aiser des Zweiten Reiches nidit regiert, und zwar, wie er selbst sagt, deshalb nicht, weil ihm die Reichsverfassung das nicht erlaubte.E s ist eine F rage für sich,ob es politisch vernünftig w ar, so konstitutionell zu bleiben. A ber m an darf die damalige

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Macht konstitutionalistischer Rechtsüberzeugung auch nicht unterschätzen, und diejenigen, die sie haben bilden helfen, sind die letzten, die hier Anklagen erheben dürfen. Man w ird auch das Risiko einer V erletzung soldier Rechtsüberzeugungen nicht verkennen, an dem schließlich doch alle, innenpolitisch vielleicht richtigen und sogar notwendigen sogenannten „Staatsstreichpläne“ seit 1890 gescheitert sind. U nbestreitbar ist aber, daß sich in allen entscheidenden Augenblicken des Zweiten Reiches die Form eln und R edensarten von dem aktiv regierenden, konstitutionellen deutschen Monarchen als unw ahr erw iesen haben. Und was w ar der G edanke, der in der Seele des K aisers auftauchte, als im Novem ber 1918 das Reich zusammenbrach, dessen T hron er seit 30 Jahren innehatte? Diese auf die Schrecksekunde gerichtete F ragestellung scheint m ir verfassungsgeschichtlich richtiger und zu echteren E rk en n t­ nissen zu führen, als alles, was konservative oder liberale T heoretiker des deutschen Staatsrechts uns vom deutschen Monarchen erzählen. „Den B ürgerkrieg“, sagt der K aiser in seiner Schilderung des Novem ber 1918 in den „Ereignissen und G estalten“ (S. 243), „wollte ich meinem Volk“ e r­ sparen. Falls meine A bdankung tatsächlich das einzige M ittel w ar, um Blutvergießen zu verhindern, so w o l l t e i c h d e r K a i s e r w ü r d e en tsagen, nicht aber als König von P re u ß e n a b d a n k e n , sondern als soldier bei m einen T ruppen bleiben.“ Auch w enn diese im Text der „Ereignisse und G estalten“ gesperrte Stelle nicht bedeuten soll, daß der K aiser es fü r möglich hielt, das R eidi im N otfall zu abandonnieren und sich auf den Staat Preußen zurückzuziehen, ist eine solche im A ugen­ blick der höchsten G efahr auftauchende T rennung von deutschem K aiser­ tum und preußischem König- und H eerführertum doch erstaunlich und ein wichtiges Symptom für den inneren Zw iespalt der V erfassungskonstruktion des Zweiten Reiches. 2. Zu denjenigen, die die V erfassungs-A rcana des Zweiten Reiches kannten, w ird m an Friedrich v. H olstein und den F ürsten Philipp zu Eulenburg rechnen dürfen. Ich greife beide heraus, nicht w eil sie etw a besonders sympathisch sind, sondern erstens weil sie zur Zeit ihres größten Einflusses einen P unkt besetzt hielten, der ihnen vorzügliche Beobachtun­ gen aus nächster Nähe ermöglichte; zweitens weil man sie als gute Beob­ achter einschätzen darf, ohne Rücksicht darauf, ob sie im übrigen bedeu­ tende Politiker w aren oder nicht; und drittens, weil sie ihre Ä ußerungen, auch w enn diese taktisch bestim m t w aren, untereinander im Schutze der V ertraulichkeit und nicht in einer von Schlagworten und R edensarten beherrschten Öffentlichkeit getan haben. Von H olstein möchte ich hier n u r seine Ä ußerungen aus dem Jah re 1896 erw ähnen, in denen er von den „Reichsstreichplänen“ spricht1. Diese Form ulierung ist vorzüglich; sie ist treffender und, wenn ich so sagen darf, eingew eihter als die im allgem einen übliche, auch in dem T itel des Buches von Egmont Zechlin übernom m ene 1 Johannes von H a 11 e r , a. a. O. S. 191, 193, 196.

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Ausdrucksweise „Staatsstreichpläne“1. D enn es handelte sich in der T at um die Verfassung des Reiches in ihrem G egensatz zu d er des Staates Preußen und um das Problem einer neu tralen oder nicht n eu tralen Reichs­ regierung. Die im H intergrund imm er gleiche Konfliktsmöglichkeit hat H olstein ebenso bem erkt wie die innerlich schwankende H altung des Kaisers, der durch h a rte B elehrungen zum K onstitutionalism us erzogen w urde. „Schien der Reichstag nicht einig, so drohte m an m it dem Reichs­ streich, deuteten die F ürsten an, daß sie fü r einen solchen nicht zu haben seiu w ürden, so sprach die Umgebung, inklusive K oller, von einer starken R egierung, die lediglich durch eigene K raft auch ohne Reichstag w ürde bestehen können.“ H olstein hat bekanntlich 1895/96 gegen die persönliche und direkte Politik des Kaisers gearbeitet. E r sah dam als schon, 20 Jahre vor ih re r Verwirklichung, keine andere Möglichkeit m ehr als die P a rla ­ m entarisierung der Reichsregierung. E r hielt es auch fü r sicher, daß der K aiser gegenüber dem Reichstag keinerlei U nterstützung bei den übrigen F ürsten finden w erde, daß aber, w enn er versuchen w ollte, gegen diese mit G ew alt vorzugehen, „einfach R ußland und F rankreich sich einmischen w ürden “12. F ürst Philipp zu E ulenburg h at in einem bei H aller (S. 382) abgedruckten Brief vom 28. Septem ber 1919 auseinandergesetzt, w arum er sich den Plänen Holsteins, die persönliche Regierungsw eise des Kaisers unmöglich zu machen, entgegenstellte, nämlich deshalb, w eil der K aiser wahrscheinlich nach k u rze r Zeit gegenüber dem P arlam ent die Rolle des Volksbeglückers hätte übernehm en wollen, und zw ar diesesmal m it seinen Kollegen, das heißt den anderen L andesherren, und w eil das dann ein „Ende m it Schrecken“ geworden w äre. D er F ü rst E ulenburg hat bereits im Jah re 1894? D arlegungen über die innenpolitischen V erhältnisse des dam aligen Deutschen Reiches gemacht, die als eine m eisterhafte Diagnose der w ahren V erfassungslage anzu­ sehen sind und die für unseren Zusamm enhang, die Entw icklung zu einer neutralen Reichsregierung, besondere Bedeutung haben. Einm al w eil sie, wie m ir scheint mit Recht, nachdrücklich hervorheben, daß das Geheim nis von Bismarcks Regierungsm öglichkeiten n u r darin lag, daß es n i c h t d e r K ö n i g w ar, der regierte, und dann, w eil in aller Schärfe gesehen ist, daß „der König von Preußen nicht preußisch-reaktionärer K aiser“ sein kann. „Ich glaube“, sagt der F ü rst E ulenburg in einem B rief an H olstein vom 2. Dezem ber 1894? (Haller, S. 170 ff.), „daß sich die schwere Mißstim­ mung herangebildet hat, weil die lange R egierung eines Mannes, der n i c h t d e r K ö n i g w ar, viel zu intensiv den liberalen, das heißt den 1 Egmont Z e c h l i n , Staatsstreichpläne Bismarcks und Wilhelm II. 1890, 1894, Stuttgart und Berlin 1929. Unter dem Stichwort „Staatsstreich“ sind im BismarckLexikon von Albrecht G r a f z u S t o l b e r g - W e r n i g e r o d e , Berlin 1936, zahl­ reiche verstreute einschlägige Stellen des Bismarck-Schrifttums genannt. Eine wesent­ lich andersgeartete, aber originelle dritte Art von „Streichen* hat übrigens Hans V. B ü l o w entdeckt, indem er eine von seinem Freunde Franz v. Liszt komponierte (Graner) iMesse als einen „Kirdienstreich“ (coup d eglise) bezeidmete. 2 Friedrich v. Η ο 1 s t e i n , Lebensbekenntnis, herausgegeben von Helmuth Rogge, Berlin 1932, S. 157 (Brief vom 5. August 1891).

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parlam entarischen G edanken — oder nennen w ir ihn auch nu r den konsti­ tutionellen — in Preußen gefördert hat, als daß die gebildeten Stände es noch ohne innere A uflehnung ertragen könnten, wenn ein König selbst regieren w ill . . . Im Reich begreift m an überhaupt nichts anderes m ehr als den Parlam entarism us. Die Macht des Adels, der Stände ist dort (näm­ lich im Reich, das heißt außerhalb Preußens) bereits 300 Jahre eher gebrochen als in Preußen. D er Liberalism us, ja der Dem okratism us steckt dem gesamten Reich in den Knochen, und ein deutscher Kaiser, der selbst regiert, ist dem Reich noch viel unverständlicher, als ein selbstregierender König es in Preußen heutzutage ist. Im Reich ist daher der R egierer, der k e i n K a i s e r w ar, w ährend nahezu 20 Jahren den Deutschen wirklich das geworden, was ein dem okratischer H istoriograph in späteren Zeiten einmal nennen w ird ,der vom Schicksal bestim m te F ü h re r der Deutschen auf der Bahn des politischen Fortschritts*“. D er F ürst E ulenburg klagt darüber, daß „die Kom bination des regierenden Staatsm annes und des schlafenden H eldenkaisers“, die in der Aufrichtung des Bismarckschen Reiches lag, das alte preußische Königtum ru in iert habe, und daß ein Kaiser, der als Selbstregierer auf trete, die P artie nur gewinnen könne, wenn ihm ein „glücklicher Krieg das nötige Prestige“ verleihe. In einem Brief an Bülow vom 16. Jan u ar 1897 (Haller, S. 212) sieht er als Ausweg „ein stark einheitliches M inisterium hervorragender Fachleute“. Deutlicher konnte die neutrale G ew alt als einzige noch bleibende Regierungsmöglich­ keit nicht zum Ausdruck gebracht werden. D er Sinn unserer Zitierungen Holsteins und Eulenburgs ist nicht etw a der, zwei höchst problem atische G rößen des W ilhelminischen Zeitalters zum Range verfassungsgeschichtlicher Kronzeugen zu erheben, sondern — gegen­ über den Kompromiß- und Trostform eln des deutschen Konstitutionalismus — durch kennzeichnende Ä ußerungen w irklicher Eingew eihter die Verfassungslage des Zweiten Reiches zum Bewußtsein zu bringen. In jed er ernsten Lage stellt m an fest, daß die R egierungskonstruktion dieses Reiches in W irklichkeit nu r noch die A lternative einer neutralen G ew alt oder einer parlam entarischen Regierungsgew alt, nicht aber die W ahlm öglichkeit zwischen einem aktiv regierenden Monarchen und einer parlam entarischen R egierung in sich enthielt. Im übrigen ist jene Ä ußerung Eulenburgs über das Fachm inisterium als Ausweg vereinzelt. Auch er hielt im E rnstfall bereits 1894 den Parlam entarism us für die einzig noch denkbare Regie­ rungsform, wie das im H erbst 1918 die ausnahm slos herrschende Ansicht geworden w ar. D ie W eim arer Verfassung von 1919 brachte dann den konstitutionell vorschriftsmäßig neutralisierten Staatspräsidenten, der aber doch, als es schließlich n u r noch „tolerierte“ parlam entarische Regie­ rungen gab, nach der Selbsterledigung des parlam entarischen R egierungs­ systems, gerade in seiner auf H eer und Beam tentum gestützten N eu tralität die Möglichkeit fand, zu einer legalen Überleitung auf einen völlig neuen Verfassungsboden, den des nationalsozialistischen Reiches, die H and zu geben. Diese Entwicklung ist noch zu sehr in E rinnerung und auch verI

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f assun gsgeschichtlich so bekannt, daß ich hier n u r daran zu erinnern brauche1. C hristoph Steding spricht nicht von dieser verfassungsrechtlichen Lehre und Praxis der neutralen Gew alt. Das ist zu bedauern. K einer h ätte wie er die großen gesamteuropäischen Zusam m enhänge der Entw icklung des „pouvoir neu tre“ im 19. Jah rh u n d ert in ih re r geistes- und kulturgeschicht­ lichen Sym ptom atik und ihren w eitverzw eigten Einflüssen ans Tageslicht der Wissenschaft fördern können. A ber fü r den verfassungsgeschichtlich erfahrenen Leser ist sein W erk auch so, w ie es vorliegt, in dieser Hinsicht bedeutungsvoll. Es faßt die geistigen und k u ltu re llen N eutralisierungen nur als Ausw irkungen einer im K ern politischen Entscheidung und Stellung­ nahm e auf. Dadurch w ird erkennbar, wie tief der N eutralisierungsprozeß seit dem 19. Jah rh u n d ert bis in das Innerste D eutschlands vorgedrungen ist. D er Dualism us und Zwiespalt der \ 7erfassung des Zw eiten Reiches, die „D ialektik“ des Kompromisses, auf dem die preußische und die Reichs­ verfassung beruhten, sind Steding bew ußt und von ihm, bei alle r Bew unde­ rung für Bismarck und sein W erk und ohne jem als in eine Reichsfeind­ schaft zu verfallen, in aller Bestim m theit offen ausgesprochen (S. 131). Das „Zwischenreich“ datiert er infolgedessen von 1890 bis 1918 (S. 64, 89, 112, 131, 449 u.a.).D adurch nimmt er eine verfassungsgeschichtlich notw endigePeriodisierung vor, die geeignet ist, viele konstitutionalistisch-konservative und nationalliberale Irrtü m er und Illusionen über die w ah re Verfassungs­ lage des Zweiten Reiches zu beseitigen. Das K apitel „Die N eutralisierung des Reiches von W ilhelm II. zu G ustav Stresem ann (1890 bis 1925)“ ist leider nu r sehr kurz (S. 85 bis 94) und im Vergleich zu anderen D arlegungen geistes- und kulturphilosophischer A rt ganz aphoristisch. Doch ist auch hier die Gesamtschau treffend und zum Beispiel das Bündnis der n eu tralisieren ­ den mit den föderalistischen Tendenzen richtig gesehen. Vielleicht können unsere obigen A usführungen über den verfassungsgeschichtlichen N eu trali­ sierungsprozeß im Kaiserreich zu der E rkenntnis beitragen, daß auch in den skizzenhaften und n u r andeutenden Teilen des Stedingschen W erkes ein bedeutender und fruchtbarer G rundgedanke enthalten ist, der dem Sachkundigen einer rechtswissenschaftlichen D isziplin die Beschäftigung mit diesem W erk in reichem Maße lohnt.

II. Zwisdienstaatlich-völkerreditlidlie Neutralität und Neutralisierung Daß ein zur Völkerrechtsgemeinschaft gehörender S taat in einem Kriege zwischen anderen Staaten neu tral bleiben kann, gehört zu seiner völkerrechtlichen Existenz. Die N eu tralität ist ein G rundbegriff der heu­ tigen Völkerrechtsordnung. Nicht nu r deshalb, weil, praktisch gesehen, wirkliche und starke N eutrale die besten G aranten und H ü ter des V ölkerTT 1 Xdverfassungsgeschichtlidie Darstellung bei E. R. H u b e r , Verfassung, Hamburg 1937, S. 15 ff.

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rechts sind1 und, wie der W eltkrieg in den Jah ren 1917/18 gezeigt hat, ein V ölkerrecht des K rieges ohne stark e N eutrale w ertlos ist. Eine auf unabhängige S taaten gegründete Völkerrechtsgem einschaft h a t vielm ehr den K ern ih re r kon k reten O rdnung darin, daß es selbständige Staaten sind, die diese Gem einschaft bilden, nicht andere G ebilde, seien es Kirchen, Klassen, O rden, P arteien oder irgendwelche sonstigen, der S taatsqualität entbehrenden O rganisationen. Das V ölkerrecht setzt bei jedem Staat ein M indestmaß in n erer staatlicher O rganisation und äu ß erer W iderstands­ k raft voraus. Staatliche Selbständigkeit und U nabhängigkeit bew ähren sich darin, daß der Staat aus eigener Entscheidung und auf eigene G efahr K rieg fü h rt oder nicht führt, d. h. im K riege D ritte r n e u tra l bleibt. D er K rieg aber h at seine völkerrechtliche O rdnung und G erechtigkeit darin, daß es auf beiden Seiten Staaten sind, die ihn gegeneinander führen. D er Staatenlcrieg ist demnach ein von einer O rdnung gegen eine andere O rdnung ge­ fü h rter Krieg, nicht ein K rieg einer O rdnung gegen U nordnung. D ie K riege sind daher auf beiden Seiten in gleichem Maße völkerrechtlich gerecht, aber nur w eil und solange auf jed e r Seite ein S taat vorhanden ist. D er K rieg ist in einem solchen völkerrechtlichen System nichts Außerrechtliches, sondern eine echte R echtsinstitution. “In the eye of international law all w ars are ju st” sagt, in Ü bereinstim m ung m it seiner ganzen Zeit, der gute alte F re e ­ man Snow in seinem Lehrbuch des Seekrieges (W ashington 1898). D ie völkerrechtliche B eurteilung des S taatenkrieges ist h ier analog der eines rechtlich an erk an n ten D uells, das als Institution seine innere O rdnung und G erechtigkeit in erste r Linie darin findet, daß es auf beiden Seiten satis­ faktionsfähige Personen sind, die den Zw eikam pf u n ter sich ausmachen. D aß dieser nichtdiskrim inierende Kriegsbegriff dem L andkrieg zugeordnet ist und durch die englische, vom See- und H andelskrieg ausgehende V or­ stellung zerstört w ird, habe ich an an d erer Stelle gezeigt12. Die grundlegende E rkenntnis der Bedeutung eines nichtdiskrim inieren­ den K riegsbegriffs und der n u r daraus abzuleitenden M öglichkeit einer völkerrechtlichen N e u tra litä t h at sich in den letzten Jah ren von neuem durchgesetzt, nachdem die Thesen des am erikanischen P räsidenten W ilson und die K onstruktionen der G enfer V ölkerbundsjurisprudenz zwei J a h r­ zehnte hindurch eine große V erw irrung angerichtet h a tte n 3. Ich k ann mich 1 Peter Albert M a r t i n i , Reformvorschläge zum Seekriegsrecht, Berlin 1934 (Völkerrechtsfragen, Heft 39), hat das einfach und anschaulich ausgesprochen. Zu demselben Ergebnis kommt W. P. J. A. v a n R o y e n , Analyse de revolution de la neutralité au cours de l’évolution du droit des gens, Den Haag 1938. 2 Carl S c h m i t t , Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat, Völkerbund und Völkerrecht, Bd. IV, 1937, S. 139 f o b e n Nr. 28, S. 235. a Carl S c h m i t t , Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, Schriften der Akademie für Deutsches Recht, herausgegeben von Reichsminister Dr. Hans Frank, Gruppe Völkerrecht Nr. 5, München 1938; Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Hamburg 1938, S. 72 ff. Gustav Adolf W a l z , Die Inflation des Völkerrechts, Beilage zur Zeitschrift für Völkerrecht, 1939. Ulrich Sch e u n e r . Die Neutralität im heutigen Völkerrecht, Festschrift anläßlich des 25jährigen Bestehens der deutschen Landesgruppe der International Law Association, 1938. Weiteres um­ fangreiches Schrifttum ergibt sich aus diesen Abhandlungen.

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hier mit dieser kurzen Feststellung begnügen. Inter arm a silent leges, sed non silet jus, nec silet fas. Dieses jus und dieses fas sind allerdings etwas anderes als die in Versailles und Genf versuchten juristischen Legali­ sierungen und Legitim ierungen eines in sich ungerechten status quo. D er im Staat seine O rdnung findende Kriegsbegriff ist heute durch universalistische, auf indirekte G ew alten sich stützende K onstruktionen bedroht, die den zwischenstaatlichen Krieg in einen internationalen Bürger­ krieg verw andeln. Sobald der Staat zum W erkzeug in d irek ter oder gar geheimer Mächte w ird, ist diese Folgerung unvermeidlich. Ebenso hört das Völkerrecht auf und beginnt der internationale W eltbürgerkrieg, so­ bald statt des Staates eine internationale Klasse zur tragenden politischen O rganisation gemacht wird. Das hat E rnst Bockhoff in vielen Veröffent­ lichungen auf das nachdrücklichste gezeigt1. Dagegen heben der Prim at des Volkes gegenüber dem Staat und die Auffassung des norm alen Staates als einer Organisationsform eines Volkes die Möglichkeit einer Völkerrechts­ ordnung und einer echten N eutralität nicht nu r nicht auf, sondern geben ihm überhaupt erst die Substanz, die seinen grundlegenden O rdnungs­ charakter auf die D auer zu erhalten und vor dem Mißbrauch indirekter G ew alten zu w ahren vermag, dem die neutral-instrum entalen Elemente des Staates immer ausgesetzt sind. Erst dadurch ist der Staatenkrieg vor einer universalistischen V erwandlung in einen B ürgerkrieg w irksam ge­ schützt. D er Totalitätsanspruch vernichtet das Völkerrecht nu r dann, wenn er universalistischen C h arak ter hat und sich mit den typisch indirekten G ew alten verbindet, w ährend der G edanke der völkischen T otalität im Gegenteil den pluralistischen C h arak ter der W elt des Politischen wie auch der W elt des objektiven Geistes überhaupt zur Voraussetzung h a t12. Vor­ läufig allerdings w ird besonders in den angelsächsischen Ländern eine summarische und geradezu panische Vorstellung von der T otalität propa­ gandistisch benutzt, um den sog. totalitären Staat als einen menschenfeind­ lichen und menschenverschlingenden L eviathan hinzustellen. A ber trotz der ungeheuerlichen Suggestionen, die von solchen Vorstellungen ausgehen und in allen Ländern der westlichen D em okratie die geistige A tm osphäre ver­ nebeln, ist die grundlegende Verschiedenheit leicht zu erkennen. Völkische T otalität und völkerrechtliche N eutralität heben sich nicht auf. Sie bedingen und stützen sich gegenseitig3. Daß N eutralität und Zugehörigkeit zum G enfer Völkerbund unverein­ bar sind, ist durch die gründliche E rörterung des Problem s der Schweizer 1 Vor allem: Völkerrecht gegen Bolschewismus, Berlin-Leipzig 1937. * Norbert G ü r k e , Volk und Völkerrecht, Tübingen 1935. S. 63 ff.; dazu Carl S ch m i 1 1 , Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff, S. 43. 3 Vgl. den Aufsatz: Völkerreditliche Neutralität und völkische Totalität, Monats­ hefte für auswärtige Politik, Jahrgang V, Juli 1938, S. 613 ff.; derselbe Aufsatz ist in italienisdier Sprache in der von Carlo Costamagna herausgegebenen Zeitschrift Lo Stato, November 1938, S. 605 ff., französisch in der Revue de droit international, herausgegeben von A. de Gouffre de La Pradelle, Bd. 22, Juli-August 1938, S. 316 ff., erschienen.

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N eutralität1 im Laufe des letzten Jahres w eithin überall dort zum Bew ußt­ sein gekommen, wo man den totalen W eltkrieg zu verm eiden sucht. Einige M ißverständnisse, die hier noch obwalten und die namentlich, in der Dis­ kussion zwischen dem Züricher Völkerrechtslehrer Professor Dietrich Schindler und Ernst Bockhoff zutage tra te n 12, bedürfen allerdings noch der wissenschaftlichen K lärung. Ich denke dabei nicht so sehr an die von Dietrich Schindler in den V ordergrund gestellte Frage, ob und w ieweit es völkerrechtliche Neutralitätspflichten im Frieden überhaupt geben kann; diese Frage liegt für die Schweiz angesichts ih rer völkerrechtlichen situation unique durchaus eigenartig, weil die Schweiz sich in einem Kriege der anderen Staaten nicht nach freier Entscheidung von Fall zu Fall zur N eutralität entschließen kann, sondern ein dauernd neutralisiertes Land ist, dessen völkerrechtlicher G esam tstatus in Krieg und Frieden durch die Pflicht zur N eutralität dauernd bestimm t w ird 3. Auch einen zweiten P unkt möchte ich hier nicht behandeln, obgleich er schon deshalb nicht un­ erw ähnt bleiben kann, weil er bei Schindler zu Unrecht ganz unbeachtet bleibt: daß nämlich die eigentliche G efahr für jede, nicht nu r die schweize­ rische völkerrechtliche N eutralität vom G enfer V ölkerbund ausging. Ich darf H errn Professor Schindler daran erinnern, daß das eigentliche und gefährlichste Vae Neutris! von englischer Seite zum Ausdruck gebracht worden ist, und zw ar in dem Aufsatz, den Sir John Fischer W illiams zu der völkerrechtlichen Frage der Sanktionen gegen Italien vom H erbst 1935 veröffentlicht h a t4. Im Rahm en unserer gegenw ärtigen Bem erkungen zu dem allgem einen Problem der N eu tralität liegt m ir aber vor allem daran, auf den praktisch und theoretisch überaus wichtigen grundsätzlichen Zu­ sammenhang von zwischenstaatlicher un