Ausnahmezustand. Carl Schmitts Lehre von der kommissarischen Diktatur [2. ed.] 9783848757053, 9783845298702

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Ausnahmezustand. Carl Schmitts Lehre von der kommissarischen Diktatur [2. ed.]
 9783848757053, 9783845298702

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Wissenschaftlicher Beirat: Klaus von Beyme, Heidelberg Horst Bredekamp, Berlin Norbert Campagna, Luxemburg Wolfgang Kersting, Kiel Herfried Münkler, Berlin Henning Ottmann, München Walter Pauly, Jena Volker Reinhardt, Fribourg Tine Stein, Göttingen Kazuhiro Takii, Kyoto Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco, Rio de Janeiro Loïc Wacquant, Berkeley Barbara Zehnpfennig, Passau

Staatsverständnisse herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 57

Rüdiger Voigt [Hrsg.]

Ausnahmezustand Carl Schmitts Lehre von der kommissarischen Diktatur

2., aktualisierte Auflage

© Titelbild: Bild Nr, RTR 3D1ZZ, in Lizenz der Bildagentur Thomson Reuters. Die Bildunterschrift lautet: „Ein Demonstrant hat sich in Kairo Gewehrhülsen auf die Finger gesteckt. Er sagt, sie seien von der Polizei“.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-5705-3 (Print) ISBN 978-3-8452-9870-2 (ePDF)

2. Auflage 2019 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Editorial

Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Verände‐ rungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die »Entgrenzung der Staatenwelt« jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien der Staatsdenker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben, einen Wandel, der nicht mit der Glo‐ balisierung begonnen hat und nicht mit ihr enden wird. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema »Wiederaneignung der Klassiker« im‐ mer wieder zurück zu kommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsver‐ ständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den Wei‐ marer Staatstheoretikern Carl Schmitt, Hans Kelsen und Hermann Heller und weiter zu den zeitgenössischen Theoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideolo‐ gie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer von einander zu trennen sind. Auch die Verstrickungen Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusam‐ menhang nicht verzichtet werden.

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Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen, sondern vor allem auch an Stu‐ dierende der Geistes- und Sozialwissenschaften. In den Beiträgen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräftiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. So wird auch der / die Studierende unmit‐ telbar in die Problematik des Staatsdenkens eingeführt. Prof. Dr. Rüdiger Voigt

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Inhaltsverzeichnis

Rüdiger Voigt Ausnahmezustand

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Wird die Statue der Freiheit nur kurzzeitig verhüllt, oder wird sie auf Dauer zerstört?

Teil 1: Ideengeschichtliche Verortung Stefano Saracino Machiavellis dittatori und Carl Schmitts Diktatur

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Norbert Campagna Der absolute Staat und die Ausnahme bei Jean Bodin

47

Oliver Hidalgo Der Leviathan zwischen „demokratischer“ Zähmung und „totaler“ Entgrenzung.

61

Schmitt, Hobbes und der Ausnahmezustand als staatstheoretische Herausforderung

Teil 2: Carl Schmitts „Ausnahmezustand“ Rüdiger Voigt Ausnahmezustand

89

Carl Schmitts Lehre von der kommissarischen Diktatur

Dirk Blasius Preußische Bindungen

123

Carl Schmitts „Ausnahmezustand“ in verfassungsgeschichtlicher Perspektive

Andreas Anter/Verena Frick Der verdrängte Carl Schmitt

137

Ernst-Wolfgang Böckenfördes Diagnostik des Ausnahmezustandes

7

Reinhard Mehring Das Leben als Ausnahmezustand

155

Carl Schmitts Repräsentation

Teil 3: Globale und regionale Ausnahmezustände Christian Kreuder-Sonnen Die Entgrenzung des Ausnahmezustands

175

Globale Krisen, internationale Organisationen und dauerhafte Ermächtigung

Matthias Lemke Am Rande der Republik – Revisited

205

Ausnahmezustände und die Behauptung existenzieller Äußerlichkeit in der V. Französischen Republik

Jochen Kleinschmidt Ausnahmezustand, organisierte Kriminalität und sozialer Wandel

245

Beobachtungen zum Drogenkrieg in Mexiko

Pedro Villas Bôas Castelo Branco Die Humanisierung des internationalen Rechts aus der Perspektive des Ausnahmezustands

273

Theorie des Ausnahmezustands versus Grundlagen der Humanisierung des internationalen Rechts

Autoren/Autorinnen

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Rüdiger Voigt Ausnahmezustand Wird die Statue der Freiheit nur kurzzeitig verhüllt, oder wird sie auf Dauer zerstört?

„Es gibt für diesen Zustand ein anschauliches antikes Symbol, auf das auch Montesquieu hingewiesen hat: die Statue der Freiheit oder die der Gerechtigkeit wird für eine be‐ stimmte Zeit verhüllt“.1

Der Ausnahmezustand ist das letzte Mittel eines Staates, um seine Rechtsordnung, seine Sicherheit und letztlich seinen Bestand gegen massive Angriffe zu verteidi‐ gen.2 Er ist nahe verwandt mit dem Belagerungszustand und dem Kriegszustand (im Grundgesetz: Verteidigungsfall). Allerdings handelt es sich als ultima ratio um eine Maßnahme auf Zeit, um in einem Staatsnotstand die Aufrechterhaltung der staatli‐ chen Ordnung zu gewährleisten. Es liegt auf der Hand, dass die jahrzehntelange Gel‐ tung des Ausnahmezustands, wie dies in manchen Ländern bis in die jüngste Zeit der Fall war, keinesfalls gerechtfertigt ist. Vielmehr ist die Verhängung des Ausnah‐ mezustands nur als vorübergehende Maßnahme zur Bewältigung einer extremen, zeitlich begrenzten Gefahrenlage akzeptabel. Ägypten ist zu den Zeiten von Präsi‐ dent Hosni Mubarak nur ein Beispiel unter Vielen, es ist aber typisch für den Einsatz dieser schärfsten Waffe der Regierung gegen Unruhen, Aufstände und Bürgerkrieg. Der „permanente Ausnahmezustand“ wird hier – wie auch in anderen Staaten – als „normale“ Technik des Regierens verwendet.3 In Ägypten war nach der Ermordung des damaligen Präsidenten Anwar al-Sadat im Jahre 1981 der Ausnahmezustand verhängt, im Februar 2011 nach dem Sturz Mubaraks noch einmal ausgeweitet und am 31. Mai 2012, nach mehr als drei Jahrzehnten, endlich aufgehoben worden. Nach der Absetzung des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi hat das Militär im Sommer 2013 die Macht an einen Übergangspräsidenten übertragen. Bei der Präsi‐ dentschaftswahl 2014 wurde der ehemalige Armeechef Abdel Fatah El-Sisi zum

1 Schmitt Nomos, S. 67. 2 Wie aktuell das Thema ist, zeigt der Film „Ausnahmezustand“ (engl. Original: The Siege [Bela‐ gerung]) aus dem Jahre 1998, in dem eine Serie von Terroranschlägen zu einer teilweise Beset‐ zung New Yorks durch die US-Armee führt; dabei kommt es zu systematischer Folterung durch staatliche Stellen. 3 Agamben 2004, S. 9. Auch in Algerien war der Ausnahmezustand 19 Jahre lang (1992-2011) in Kraft.

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Präsidenten gewählt. Sein erklärtes Ziel, das er mit allen Mitteln verfolgte, war die endgültige Entmachtung der Muslimbruderschaft. Ein noch krasseres Beispiel für den „permanenten Ausnahmezustand“ bietet das Syrien Bashar al-Assads, in dem seit März 2011 ein blutiger Bürgerkrieg herrscht. Zunächst ging es lediglich um Massenproteste, in deren Verlauf Assad – nach 48 Jahren – den von seinem Vater Hafiz al-Assad übernommenen Ausnahmezustand für Syrien aufhob. Die folgenden Proteste wurden jedoch von den „Sicherheitskräften“ unter Einsatz scharfer Munition und Foltermethoden bekämpft. Oppositionelle ver‐ schiedener Gruppierungen stehen seither als bewaffnete Freischärler in einem bluti‐ gen Bürgerkrieg im Kampf gegen Regierungstruppen, die Panzer, schwere Artillerie und Bombenflugzeuge gegen das syrische Volk einsetzen. Zudem sind die USA, der Irak sowie Russland involviert. Die Türkei, die über die stärkste Armee in der Regi‐ on verfügt und das Erstarken der Kurden jenseits ihrer Grenzen fürchtet, greift im‐ mer wieder in den Konflikt ein.

1. Staatsnotstand und Ausnahmezustand „Eine Art Apokalyptik, verbunden mit Warnungen vor neuen Imperialismen und neuen Faschismen, beherrscht die zeitgenössischen Vorstellungen von Macht. Der Verweis auf die unumschränkte Macht des Souveräns und den Ausnahmezustand, das heißt auf die allgemeine Suspendierung des Rechts und das Hervortreten einer Gewalt, die über dem Gesetz steht, dient als Erklärung für alles und jedes“.4

Für Carl Schmitt ist der Ausnahmezustand ein Thema, das ihn seit 1915 Zeit seines Lebens nicht mehr losgelassen hat. Im Ersten Weltkrieg arbeitet er nach seinem As‐ sessorexamen als Kriegsfreiwilliger in der Abteilung P 6 im Generalkommando in München unter dem späteren bayerischen Justizminister Hauptmann Dr. Christian Roth. Schmitt wird die Aufgabe übertragen, einen Bericht über das Belagerungszu‐ stands-Gesetz anzufertigen und dabei zu begründen, dass der Belagerungszustand auch in die Nachkriegszeit hinein verlängert werden müsse. Der Beauftragte kom‐ mentiert das selbstironisch mit den Worten: „Ausgerechnet ich! Wofür mich die Vor‐ sehung noch bestimmt hat“.5 Schmitt wünscht zwar eine Ausweitung der Diktatur‐ gewalt nicht, vor dem Militarismus gebe es aber keine Rettung und keine Hilfe. In seiner Probevorlesung an der Universität Straßburg Die Einwirkungen des Kriegszu‐ standes auf das ordentliche strafprozessuale Verfahren aus dem Jahre 19166 konsta‐

4 Hardt/Negri 2010, S. 19. 5 Zitiert nach Mehring 2009, S. 88. 6 Abgedruckt in: Hüsmert/Giesler (Hrsg.) 2005, S. 418-428.

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tiert er folgerichtig, dass Deutschland während des Weltkrieges kein liberaler Verfas‐ sungsstaat, sondern ein „exekutiver Verwaltungsstaat“ gewesen sei.7 Auf dem Höhepunkt der Krise erscheint die Verhängung des Ausnahmezustands – zeitlich streng limitiert – zwar zur Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der Ordnung als gerechtfertigt. Dieser Zustand wird jedoch oft genug auch dann noch weiter aufrechterhalten, wenn sich die Lage wieder beruhigt hat. Dabei sollte man Giorgio Agambens Erkenntnis berücksichtigen „Was der Schrein der Macht in sei‐ nem Zentrum enthält, ist der Ausnahmezustand – aber dieser ist wesentlich ein lee‐ rer Raum, in dem sich menschliches Handeln ohne Bezug zum Recht mit einer Norm ohne Bezug zum Leben konfrontiert sieht“.8 Die herrschenden Eliten haben in diesem Fall die (verlockende) Möglichkeit, ihre Position auf Dauer zu stellen und ihre Abwahl zu verhindern. Konsequenterweise bezeichnet daher Agamben den Ausnahmezustand auch in der Politik selbst demokratischer Regierungen „als das herrschende Paradigma des Regierens“.9 Diese These ist sicher überpointiert und keinesfalls überall und zu jeder Zeit angebracht. Es gibt aber – auch in Demokratien nach westlichem Muster – besorgniserregende Entwicklungen, die durchaus in die von Agamben bezeichnete Richtung deuten. „Wie weit darf eine demokratisch ge‐ wählte, an das Recht gebundene Regierung gehen, um das Herrschaftsmodell zu ver‐ teidigen, das gleichzeitig ihren Wesenskern ausmacht?“10 Daraus ergeben sich zu‐ nächst drei Fragen, die mit dem Thema „Ausnahmezustand“ in besonderer Weise verbunden sind: 1. Wie kann man sicherstellen, dass nach dem Ende der Notsituation die NotstandsDiktatur beendet und die verfassungsgemäße Ordnung wiederhergestellt wird? 2. Ist die Verfassung nach Ende des Ausnahmezustandes noch dieselbe (alte) Ver‐ fassung wie vorher, oder hat sie sich – weniger im Wortlaut als in ihrer Bedeu‐ tung – signifikant verändert? 3. Bedarf es überhaupt des offiziellen Ausrufens des Ausnahmezustandes, oder gibt es auch so etwas wie einen „verdeckten Ausnahmezustand“, der sich gewisser‐ maßen still und heimlich einschleicht, so dass die verfassungsgemäße Ordnung nur noch eine „leere Hülle“ ist?

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Mehring 2009, S. 92; Schmitt behandelt darin vor allem das preußische Gesetz über den Bela‐ gerungszustand, das im gesamten Reichsgebiet mit Ausnahme Bayerns galt 8 Agamben 2004, S. 102. 9 Agamben 2004, S. 9. 10 Siehe den Beitrag von Matthias Lemke in diesem Band.

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2. Alternativlose Politik und permanenter Ausnahmezustand Damit ist die grundsätzliche Frage verbunden, ob der Ausnahmezustand in der Ver‐ fassung geregelt werden soll oder nicht. Einerseits ist die zugrunde liegende extreme Notsituation kaum abschließend für alle möglichen Fälle juristisch zu erfassen. An‐ dererseits muss Alles vermieden werden, was dazu führt, dass in einer solchen Situa‐ tion unter der Fahne des „übergesetzlichen Notstandes“ weitreichende Einschrän‐ kungen der bürgerlichen Freiheit vorgenommen und womöglich auf Dauer gestellt werden. Eine „Verdrängung“ (Böckenförde) des Ausnahmezustands kann also, so bequem sie auch auf den ersten Blick erscheint, böse Folgen haben. Dagegen wiegen die Bedenken derjenigen weniger schwer, die – meist unter Hinweis auf Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung – davor warnen, dass bereits die Normierung des Aus‐ nahmezustands die Gefahr seiner missbräuchlichen Verwendung heraufbeschwöre. Das erklärt vielleicht, warum das Grundgesetz so einen „weiten Bogen“ um den Ausnahmezustand macht.

2.1 Reaktionen auf globale Krisen Neben dem in die Vergangenheit gerichteten Blick bilden vor allem zwei Phänome‐ ne den Hintergrund der heutigen Überlegungen zum Ausnahmezustand. Es ist dies zum einen die Krise des globalen Finanzsystems, mit der die Europäische (Wäh‐ rungs-) Union, ihre Mitgliedstaaten, aber auch andere Staaten seit einigen Jahren konfrontiert sind. Diese Krise hat – auch ohne offiziell erklärten Ausnahmezustand – in wenigen Jahren das politische System westlicher Demokratien grundlegend ver‐ ändert. Der Einfluss der Parlamente ist besonders in den Staaten der Eurozone signi‐ fikant geschrumpft. Ständig werden die Parlamentarier zu Eilentscheidungen zur „Rettung des Euro“ genötigt, deren Umfang und Folgen sie nicht übersehen können. Wichtige Informationen werden den Abgeordneten vorenthalten. Stattdessen werden sie mit üppigen Diäten und endlosen Debatten um weniger wichtige Probleme „bei Laune“ gehalten. Hier zeigen sich deutliche Tendenzen einer exekutivischen Politik, bei der die wichtigsten Entscheidungen auf einer „höheren“ politischen Ebene (z.B. im Europäischen Rat oder in bilateralen Gesprächen) getroffen und dann als „alter‐ nativlos“ durch die Parlamente „gepeitscht“ werden.11 Das zweite Phänomen ist der globale Terrorismus, der die Freiheit in den westli‐ chen Demokratien auf zweifache Weise bedroht. Zum einen richten terroristische Anschläge – wie der auf das World Trade Center – z.T. großen materiellen Schaden an, überdies bedrohen, verletzen und töten sie meist unbeteiligte Menschen. Zum an‐

11 Voigt 2013; Voigt 2017.

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deren ist damit auch ein emotionaler Schaden verbunden, der sich besonders in der Terrorangst der Menschen niederschlägt und gravierende Folgen hat. Niemand kann sich noch auf der Straße, auf dem Marktplatz oder auf dem Bahnhof so ungezwun‐ gen bewegen, wie vor den Anschlägen des 11. Septembers 2001. Vielerlei staatliche Schutzmaßnahmen, wie etwa die Videoüberwachung öffentlicher Plätze, scheinen unumgänglich zu sein. Gleichzeitig nutzen bestimmte Kräfte in den in- und auslän‐ dischen Regierungen aber auch die „Gunst der Stunde“, um freiheitsbeschränkende Maßnahmen, wie z.B. mit gigantischen Datenverarbeitungssystemen Handy-Gesprä‐ che, sowie mit sog. Trojanern Emails sowie alle Daten auf privaten, geschäftlichen und staatlichen PCs abzugreifen, zu rechtfertigen. Diese Maßnahmen werden – unter Vorspiegelung falscher Tatsachen – mit der Terrorismusabwehr begründet, dienen tatsächlich jedoch hauptsächlich der anlasslosen Ausspähung von Gesellschaft, Poli‐ tik und Wirtschaft. Die Reaktion der Bundesregierung auf das Bekanntwerden der Spionagetätigkeit der USA lässt kaum einen anderen Schluss zu als den der Kompli‐ zenschaft mit US-Geheimdiensten. In der Konsequenz verschieben diese Machen‐ schaften – von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen – nachhaltig das Gleichgewicht zwischen bürgerlichen Freiheiten und staatlicher (All-) Macht zu Gunsten der Letzteren.12

2.2 Permanenter Ausnahmezustand? Befinden wir uns damit bereits in einem „permanenten Ausnahmezustand“,13 der zwar nicht offiziell ausgerufen, aber längst in Kraft gesetzt worden ist, wie Agam‐ ben meint?14 Denn Eines scheint festzustehen: die endlose Krise lässt sich von den Herrschenden durchaus zur Erhaltung ihrer Macht instrumentalisieren: „Heute ist die Krise zum Herrschaftsinstrument geworden. Sie dient dazu, politische und ökonomische Entscheidungen zu legitimieren, die faktisch die Bürger enteignen und ih‐ nen jede Entscheidungsmöglichkeit nehmen“.15

Tatsächlich ist nicht nur die repräsentative Demokratie in Gefahr, sondern angesichts immer neuer Maßnahmen zur „Aufrechterhaltung der Sicherheit“ sind auch die Bür‐ gerrechte, das Fundament westlicher Demokratievorstellungen, grundsätzlich von einer schleichenden Aushöhlung bedroht. Hier liegt ein Schwerpunkt des vorliegen‐ den Bandes. Darüber hinaus spielen die folgenden sieben Fragenkomplexe eine zen‐ trale Rolle:

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Voigt (Hrsg.) 2012. Siehe den Beitrag von Pedro V. B. Castelo Branco in diesem Band. Agamben 2004, S. 13 f. Agamben 2013, S. 44.

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1. Zeitpunkt: Wann ist ein solcher Ausnahmezustand erreicht, und wann wird aus der (potenziellen) Gefährdung eine akute Gefahr? 2. Machtfrage: Welche Institution stellt verbindlich fest, ob ein solcher Gefahrenzu‐ stand eingetreten ist bzw. (später wieder) überwunden ist? 3. Instrumente: Welche Mittel zur Abwehr bzw. Bekämpfung der Gefahr sollen und dürfen – für welchen Zeitraum und von wem – eingesetzt werden? 4. Vorsorge: Sind in der Verfassung Vorkehrungen getroffen worden, und reichen diese zur Gefahrenabwehr aus? 5. Maßstab: Ist es grundsätzlich zulässig, die verfassungsmäßige Ordnung oder Tei‐ le davon (etwa bestimmte Grundrechte, wie z.B. Meinungs-, Presse-, Versamm‐ lungsfreiheit oder das Parteienrecht) zeitweise außer Kraft zu setzen, um die Ordnung als Ganze zu retten? 6. Permanenz: Gibt es einen „permanenten Ausnahmezustand“ (Agamben), in dem in der Verfassung gewährleistete (Grund-) Rechte wegen einer latenten Gefah‐ rensituation womöglich – heimlich aber dauerhaft – außer Kraft gesetzt sind? 7. Missbrauch: Sind angesichts des weltweiten Kampfes gegen den Terrorismus Anzeichen dafür zu erkennen, dass Regierungen demokratischer Staaten Antiter‐ rormaßnahmen (auch) zur „Stabilisierung“ ihrer Herrschaft nutzen?

3. Die Beiträge im Einzelnen Aus staatsrechtlicher, politikwissenschaftlicher und historischer Perspektive, aber auch aus Sicht der praktischen Politik ist die Ausnahme ein überaus interessantes Forschungsobjekt. Das schlägt sich natürlich auch in den Beiträgen dieses Sammel‐ bandes nieder. In ihnen wird ein breites Spektrum von Zugängen und Ergebnissen aufgezeigt. Der Band ist in fünf Teile gegliedert, in denen das Generalthema „Aus‐ nahmezustand“ aus verschiedenen Blickwinkeln von Rechts- und Politikwissen‐ schaftlerInnen sowie von Historikern beleuchtet wird. Nach einer Einleitung (Rüdiger Voigt), in der das Thema „Ausnahmezustand“ in historischer wie in gegenwartsbezogener Perspektive umrissen wird, geht es im Ers‐ ten Teil um die ideengeschichtliche Verortung. In drei Beiträgen wird diese Positi‐ onsbestimmung anhand der Theorien von Niccolò Machiavelli über Jean Bodin bis zu Thomas Hobbes vorgenommen und mit Carl Schmitts Konzept des Ausnahmezu‐ stands konfrontiert. Stefano Saracino vergleicht in seinem Beitrag Machiavellis „dit‐ tatori“ und Carl Schmitts Diktatur mit einander. Der absolute Staat und die Ausnah‐ me bei Jean Bodin sind Gegenstand des Beitrags von Norbert Campagna. Und Oli‐ ver Hidalgo untersucht den Ausnahmezustand als staatstheoretische Herausforde‐

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rung am Beispiel von Hobbes‘ „Leviathan“, den Carl Schmitt auf eine ganz eigene Weise interpretiert hat.16 Der zweite Teil ist in vier Beiträgen dem Schmittschen Denken über Diktatur und Ausnahmezustand gewidmet. Rüdiger Voigt ordnet den Ausnahmezustand in Schmitts Lehre von der kommissarischen Diktatur ein. Dirk Blasius geht Carl Schmitts „Ausnahmezustand“ in verfassungsgeschichtlicher Perspektive (mit dem Schwerpunkt Preußen) nach. Andreas Anter und Verona Frick münzen Ernst-Wolf‐ gang Böckenfördes Wort vom verdrängten Ausnahmezustand in das von dem „ver‐ drängten Carl Schmitt“ um, indem sie Böckenfördes eigene Diagnostik des Ausnah‐ mezustands unter die Lupe nehmen. Reinhard Mehring schließlich sieht Carl Schmitts bewegtes Leben in vier politischen Systemen (Kaisereich, Weimar, 3. Reich, Bonn) selbst als Ausnahmezustand. Im dritten Teil werden in vier Beiträgen globale und regionale Ausnahmezustände analysiert. Christian Kreuder-Sonnen geht besonders auf die Gefahr einer Entgren‐ zung des Ausnahmezustands ein, die sowohl global als auch regional partiell bereits vollzogen ist. Matthias Lemke behandelt den spannenden Umbruch Frankreichs, der über den Algerienkrieg und die damit verbundenen Ausnahmezustände von der Vierten zur Fünften Republik Charles de Gaulles führte. Am Beispiel des Drogen‐ kriegs in Mexiko deckt Jochen Kleinschmidt den Zusammenhang zwischen Ausnah‐ mezustand, organisierter Kriminalität und sozialem Wandel auf. Den Abschluss des Bandes bildet der Beitrag von Pedro Villas Bôas Castelo Branco, in dem sich dieser intensiv und kritisch mit Carl Schmitts Konzept der „kommissarischen Diktatur“ auseinandersetzt und dabei den Vorgang der „Humanisierung“ des internationalen Rechts aus der Perspektive des Ausnahmezustands beleuchtet. Da das Thema „Ausnahmezustand“ nach wie vor aktuell ist, haben sich Verlag und Herausgeber zu einer zweiten Auflage des Bandes entschlossen. Die Autoren und Autorinnen haben dankenswerter Weise die Mühe einer Überarbeitung auf sich genommen, um den Band auf den neuesten Stand zu bringen. Es wäre gut, wenn wir damit zur Versachlichung der Diskussion über ein schwieriges Thema, das den inne‐ ren Kern des Verhältnisses von Staat und Demokratie betrifft, beigetragen haben.

Literatur Agamben, Giorgio, 2004: Ausnahmezustand: Homo sacer II.1. Frankfurt a.M. Agamben, Giorgio, 2013: Die endlose Krise ist ein Machtinstrument. Ein Gespräch mit Gior‐ gio Agamben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 119 vom 25.5.2013, S. 44. Hermanns, Stefan, 2018: Carl Schmitts Rolle bei der Machtkonsolidierung der Nationalsozia‐ listen. Ein Engagement auf Zeit, Wiesbaden. 16 Voigt (Hrsg.) 2009.

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Hüsmert, Ernst/Giesler, Gert (Hrsg.), 2005: Carl Schmitt. Die Militärzeit 1915 bis 1919. Ta‐ gebuch Februar bis Dezember 1915. Aufsätze und Materialien, Berlin. Schmitt, Carl, 1922: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (9. Aufl. 2009), Berlin (zit.: PTh). Schmitt, Carl, 1916: Diktatur und Belagerungszustand, in: Zeitschrift für die gesamte Straf‐ rechtswissenschaft, 38, S. 138-162, zugleich in: Hüsmert/Giesler (Hrsg.) 2005, S. 418-428. Schmitt, Carl, 1997: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, 4. Aufl. Berlin. Voigt, Rüdiger (Hrsg.), 2009: Der Hobbes-Kristall. Carl Schmitts Hobbes-Interpretation in der Diskussion, Stuttgart. Voigt, Rüdiger (Hrsg.), 2012: Sicherheit versus Freiheit. Steht die Macht über dem Recht, Wiesbaden. Voigt, Rüdiger, 2013: Alternativlose Politik? Zukunft des Staates – Zukunft der Demokratie, Stuttgart. Voigt, Rüdiger, 2017: Arroganz der Macht. Hochmut kommt vor dem Fall, Baden-Baden.

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Teil 1: Ideengeschichtliche Verortung

Stefano Saracino* Machiavellis dittatori und Carl Schmitts Diktatur

Die Krise der Parteiendemokratie, die Europa derzeit durchläuft, und das Szenario einer postelektoralen Demokratie, in der plebiszitäre und direktdemokratische Parti‐ zipationsformen ebenso wie der Protest auf der Straße und dessen Kanalisierung durch moderne Volkstribunen an Bedeutung gewinnen, schlägt sich mittlerweile auch auf die Interpretation politiktheoretischer Klassiker nieder. So interpretiert John P. McCormick in seinem Buch Machiavellian Democracy (2011) Niccolò Machia‐ velli als Befürworter eines radikal demokratischen, ja eines plebiszitär-volkstribuni‐ zischen Republikanismus, weshalb der Florentiner angesichts der besagten Entwick‐ lung der gegenwärtigen Demokratie ein brandaktueller Autor sei.1 Mit dem Szenario einer postelektoralen Demokratie scheint aber auch das Gespenst der Diktatur zu‐ rückzukehren und damit die Auseinandersetzung mit Carl Schmitt – der von Rudolf Augstein als „Machiavelli im Sauerland“ bezeichnet wurde2 – an Dringlichkeit zu gewinnen. Die Berührungen mit Machiavelli sind nicht von so grundlegender Bedeutung für Schmitts politisches Denken, wie die Berührungen mit Bodin und Hobbes.3 Aller‐ dings wird der Florentiner gerade in der ideen- und begriffsgeschichtlichen Ausein‐ andersetzung Schmitts mit der Diktatur ausführlich behandelt und zitiert. Grund da‐ für ist Machiavellis eigene eingehende Beschäftigung mit dem altrömischen Not‐ standsorgan der Diktatur in den Discorsi. Der vorliegende Beitrag verfolgt zwei Er‐ kenntnisinteressen: Einerseits soll einleitend Schmitts Analyse von Machiavellis Be‐ griff der Diktatur in Schmitts Die Diktatur (1921) rekonstruiert und in den größeren Kontext seiner Machiavellirezeption sowie seines diskursgeschichtlichen Umfeldes der Weimarer Zeit gestellt werden. Dies soll andererseits aber nur der Ausgangs‐ punkt sein, um darüber hinaus die Frage zu behandeln, inwieweit sich Machiavelli aufgrund seiner Konzeption des Ausnahmezustandes und der Gründung politischer Ordnung – neben Bodin und Hobbes – als Referenzpunkt für das Schmittsche Den‐ * Die Forschungen für diesen Aufsatz erfolgten im Rahmen des Internationalen Graduiertenkollegs „Politische Kommunikation von der Antike bis in das 20. Jahrhundert“ der Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt am Main. 1 McCormick 2011. McCormick hat sich auch mit Carl Schmitt auseinandergesetzt, s. McCormick 1997. Zu Schmitts Interpretation von Machiavelli McCormick 1997, S. 129-133. 2 Der Spiegel, Nr. 45, 1993, S. 75. 3 Galli 2013. Vgl. nun Mühlhans 2018, S. 228-234. Zu Bodin bei Schmitt vgl. den Beitrag von Norbert Campagna in diesem Band; zu Hobbes bei Schmitt vgl. den Beitrag von Oliver Hidalgo in diesem Band.

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ken anbietet, auch unbeachtet von konkret fassbaren Einflüssen. So soll auf die Kon‐ zeption republikanischer Ordnungsgründer (ordinatori, fondatori, datori di leggi) eingegangen werden, die Machiavelli in den Discorsi und im Principe u.a. anhand der „historischen“ Gründer Lykurg, Romulus, Kyros und Moses entwirft. Dies bildet ein Theoriesegment im Werk Machiavellis, das für das Nachdenken über die souve‐ räne Diktatur Relevanz besitzt, dessen Relevanz allerdings von Schmitt nicht er‐ kannt wurde.4 Es ergibt sich deshalb auch die Frage, wieso Schmitt Machiavelli nicht als einen bedeutenden Referenzpunkt vom Range Bodins oder Hobbes ansieht: Neben dem Einfluss Machiavellis auf Schmitt ist deshalb nach der intentionalen Verwendung Machiavellis durch Schmitt zu fragen.

1. Machiavelli als Referenzdenker Carl Schmitts in Die Diktatur (1921) Im Gegensatz zum heute gängigen Sprachgebrauch sieht Schmitt die Diktatur nicht als Antipode der Demokratie, sondern als mit ihr vereinbar an. Vielmehr sieht er De‐ mokratie und Liberalismus als Antithesen an. Diktaturen kämen auch in der Staats‐ form der Demokratie vor, als uneingeschränkte Form des Regierens, die sich zwar über die konstitutionellen und deliberativen Entscheidungsverfahren demokratischer Systeme hinwegsetze, nichts desto trotz aber auf die Zustimmung des Volkes ange‐ wiesen sei und in dessen Auftrag einen Not- oder Missstand (etwa die Erneuerung der Verfassung oder die Wiederherstellung staatlicher Ordnung) zu bewältigen habe; sie beruhe häufig auf „einer, gleichgültig wie, herbeigeführten oder unterstellten Zu‐ stimmung des Volkes, also auf demokratischer Grundlage“.5 Begriffs- und realge‐ schichtlich betrachtet, ist für Schmitt die moderne („souveräne“) Diktatur ein Kind des Revolutionszeitalters und mit dem Aufkommen des Prinzips der Volkssouveräni‐ tät eng verknüpft. Die souveräne Diktatur unterscheidet sich wesentlich vom alten Rechtsinstitut der kommissarischen Diktatur, das laut Schmitt in der europäischen Vormoderne vor allem den Fürstenstaat, aber auch das republikanische Denken präg‐ te.6 Die postulierte Vereinbarkeit der Diktatur mit der Demokratie ist mit Schmitts an‐ tiliberaler Ablehnung des Parlamentarismus und mit seiner Sympathie für eine ple‐ biszitäre Demokratie zu verbinden, in der sich ein möglichst homogenes Volkskol‐

4 „Und wo Schmitt diese Seite wesentlicher Illegitimität moderner Politik im Begriff der »Tat‐ kraft« oder der verfassungsgebenden Gewalt erfasst, da leitet er seine begrifflichen Koordinaten von Sieyès und Rousseau her und nicht von Machiavelli“ (Galli 2013, S. 140). 5 Schmitt 2006, S. xiii, vgl. zum Verhältnis von Demokratie und Diktatur Schmitt 2006, S. xvi. 6 Schmitt akzentuiert die Bedeutung des Beispiels des französischen Nationalkonvents für die Entstehung der souveränen Diktatur, s. Schmitt 2006, S. 144 f., 197. Aus Schmitts Abhandlung zur Diktatur geht hervor, dass die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts als Sattelzeit des Begriffs der souveränen Diktatur angesehen wird, s. v.a. Kap. III-V.

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lektiv und autoritäre Regierungsinstitutionen und -personen gegenüberstehen. Schmitt kann mit historisch triftigen Gründen darauf verweisen, dass der Schutz des Individuums und individueller Freiheitsrechte in der vormodernen Demokratie keine hervorragende Rolle spielte, vielmehr ein Anliegen darstellt, das erst durch den Li‐ beralismus v.a. im 19. Jahrhundert mit der Demokratie verbunden wurde.7 In rousse‐ austischem Sinne ist laut Schmitt zur Ermittlung des (qualitativ nicht quantitativ ver‐ standenen) Volkswillens das Wahlergebnis nicht das beste Mittel. Vielmehr kann der Volkswille unterstellt werden.8 Dieses Demokratieverständnis lässt sich nicht nur mit Max Webers „plebiszitärer Führerdemokratie“ (die freilich auch starke Unter‐ schiede zu Schmitts aufweist), sondern – wie gezeigt werden soll – auch mit Ma‐ chiavellis Konzeption einer republica bene ordinata in Verbindung bringen. Die Or‐ ganisation politischer Herrschaft mit dem Ziel einer möglichst großen Handlungsfä‐ higkeit der Republik und die Rolle entscheidungsfähiger und handlungsmächtiger politischer Führungspersonen hierbei, die im politischen Denken Machiavellis ton‐ angebend sind, lassen sich zudem nicht bloß mit Webers „Verantwortungsethik“, sondern auch mit Carl Schmitts dezisionistischem Konstrukt der Diktatur verbin‐ den.9 Schmitts Beschäftigung mit der Diktatur lässt sich mit einem systematischen Ge‐ sichtspunkt und auch aus dem politischen und geistigen Klima der frühen Weimarer Zeit erschließen. Der systematische Anknüpfungspunkt liegt in Schmitts Unterschei‐ dung zwischen der Substanz staatlicher Souveränität (etwa ausformuliert in einem Katalog von Hoheitsrechten) und andererseits der Fähigkeit der souveränen Gewalt, diese tatsächlich auszuüben. Diese Einsicht, bei der Sieyès Unterscheidung zwi‐ schen dem pouvoir constitué und dem pouvoir constituant Pate gestanden hat, macht den Kern von Schmitts Realismus aus; ein Realismus, der sich speist aus der histori‐ schen Diagnose eines Niedergangs des Staates und einer Evasion des Politischen in 7 Schmitt 2002, S. 24 f. und 68 f. 8 „Die einstimmige Meinung von 100 Millionen Privatleuten ist weder Wille des Volkes, noch öf‐ fentliche Meinung. Der Wille des Volkes kann durch Zuruf, durch acclamatio, durch selbstver‐ ständliches, unwidersprochenes Dasein ebensogut und noch besser demokratisch geäußert wer‐ den als durch den statistischen Apparat, den man seit einem halben Jahrhundert mit einer so mi‐ nutiösen Sorgfalt ausgebildet hat“ (Schmitt 1969, S. 22). Schmitt räumt in seiner Verfassungsleh‐ re allerdings ein, dass diese Unterstellung auch auf Fehldeutungen und auf bewusster Manipula‐ tion gründen kann: „Die Schwäche liegt darin, daß das Volk über die Grundfragen seiner politi‐ schen Form und seiner Organisation entscheiden soll, ohne selbst formiert oder organisiert zu sein. Deshalb sind seine Willensäußerungen leicht zu verkennen, zu mißachten oder zu fäl‐ schen“ (Schmitt 1993, S. 83). 9 Eine auf Max Weber gründende Deutung Machiavellis als „konservativem Verantwortungsethi‐ ker“ bei Knoll 2003. Zur Rezeption Machiavellis bei Weber und zu den Spuren, die der politi‐ sche Realismus des Florentiners in Webers Verantwortungsethik hinterlassen hat, Knoll 2015. Zur Präsenz einer republikanischen Notstandstheorie in den Discorsi, die von der Forschung vernachlässigt wird, die an Machiavelli einseitig den Staatsräsontheoretiker und Wegbereiter des frühneuzeitlichen, der Monarchie nahestehenden Staatsräsondiskurses erkennt, Saracino 2012 a und McCormick 1993.

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der Moderne, die dem staatlichen Anspruch auf dessen Monopolisierung zuwider‐ laufe. Testfall für die Fähigkeit der souveränen Gewalt, ihre substantiellen Kompe‐ tenzen auszuüben, und zugleich Definitionsmoment der Souveränität ist für Schmitt bekanntlich die Handhabung des Ausnahmezustandes.10 Andererseits lassen sich die Schriften Carl Schmitts aus den Weimarer Jahren der inflationären Entwicklung de‐ zisionistischen Staatsdenkens im Diskurs der Zeit zuordnen, die mit Namen wie Hermann Heller, Friedrich Meinecke und Ernst Jünger verbunden ist und in der sich sowohl die Handlungsschwächen als auch die Anerkennungsschwierigkeiten des Weimarer Systems niederschlagen.11 Schmitts Untersuchung zur Diktatur aus dem Jahre 1921, der in der 2. Auflage von 1928 eine Erörterung des Artikels 48 der Wei‐ marer Verfassung zu den Ausnahmebefugnissen des Reichspräsidenten angehängt wurde, steht im Zusammenhang mit den Erfahrungen aus seiner Münchner Zeit und den Wirren der Münchner Räterepublik. Das Erkenntnisinteresse des vorliegenden Beitrages liegt jedoch nicht in der Her‐ ausstellung des Zusammenhangs zum politischen und intellektuellen Klima, aus dem Schmitts Lehre von der Diktatur hervorgeht.12 Vielmehr liegt das Augenmerk auf der Bedeutung frühneuzeitlicher Klassiker für die Genese von Schmitts theoreti‐ schen Positionen zur Diktatur. Dass Machiavelli bei Schmitt nicht an die Bedeutung von Bodin und Hobbes heranragt, ist bekannt. Hobbes ist zentraler Referenzdenker von Schmitt, wobei er den englischen Philosophen, vor allem in den Weimarer Jah‐ ren, auf seinen Dezisionismus reduziert; auf den Autor der rechtstheoretischen Posi‐ tion, die Hobbes in polemischer Auseinandersetzung mit dem Politikverständnis des Langen Parlaments und des nach der Abschaffung der Monarchie 1649 in England an Konturen gewinnenden Republikanismus entwickelt und die sich im Ausspruch kondensieren lässt: „auctoritas, non veritas facit legem“ (Leviathan, 26).13 Die Hin‐ gabe zu Hobbes reicht so weit, dass sich Schmitt in seinem Hobbes-Buch von 1938, 10 Schmitts Überlegungen zur Diktatur liegt die Unterscheidung zwischen der „Rechtsnorm“ und der „Rechtsverwirklichungsnorm“ zugrunde, aus deren problematischem Verhältnis sich auch das Problem der Souveränität ergibt. „Nur eine Literatur, die jeden Sinn für das juristische Grundproblem der Staatslehre, den Gegensatz von Recht und Rechtsverwirklichung, verloren hat, kann hier in der Unterscheidung von Substanz und Ausübung der Souveränität eine unbe‐ achtliche scholastische Spitzfindigkeit entdecken. Ist Souveränität wirklich staatliche Allge‐ walt, und das ist sie für jede, eine Teilung, d. h. Abgrenzung der Gewalten nicht restlos durch‐ führende Verfassung, so ergreift die rechtliche Regelung immer nur den berechenbaren Inhalt der Ausübung, niemals die substantielle Fülle der Gewalt selbst. Die Frage, wer über sie, d. h. den rechtlich nicht geregelten Fall entscheidet, wird die Frage nach der Souveränität“ (Schmitt 2006, S. 191). Zu Sieyès Schmitt 2006, S. 139 und Pasquino 1988. Die Formel, dass souverän sei, wer über den Ausnahmezustand entscheide, findet sich in Schmitts Politischer Theologie, s. Schmitt 1991 (1922), S. 13. Zu Schmitts Souveränitätsbegriff Quaritsch 1996. 11 Krockow 1995. 12 Siehe hierzu Mehring 2009; Mühlhans 2018. 13 So in der Politischen Theologie, s. Schmitt 1991, S. 56 und auch in Die Diktatur, s. Schmitt 2006, S. 22. Ein umfassenderer Blick auf die politische Philosophie von Hobbes in Schmitts metaphorologisch-mythologischer Studie von 1938 zum Sinnbild des Leviathans, die nicht mit antisemitischen Spitzen spart (s. Schmitt 1995 a). In einer Spätschrift deutet Schmitt Hobbes,

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nachdem er bei den Nationalsozialisten in Ungnade gefallen war, und erneut nach dem Krieg mit dem englischen Philosophen, der an seinem Lebensabend heftig an‐ gefeindet wurde, identifiziert und eine Parallele zwischen seiner und Hobbes’ Bio‐ graphie erstellt.14 Eine solche Verbundenheit auf persönlich-biographischer Ebene bestand allerdings auch zu Machiavelli, wenn man bedenkt, dass Schmitt sein Haus und Rückzugsort in Plettenberg auch als San Casciano bezeichnete, also dem Namen des Landsitzes, auf dem Machiavelli ab 1513 und als Folge der Rückkehr der Medici nach Florenz sein Exil antreten musste.15 Auch für die theoretische und begriffsge‐ schichtliche Analyse der Diktatur ist Hobbes fester Bezugspunkt, da er den Daseins‐ zweck des Staates als permanente Kriegs- und Rebellionsverhinderungsinstanz er‐ fasst habe.16 Schmitts systematische Unterscheidung zwischen der kommissarischen und der souveränen Diktatur fußt wiederum unmittelbar auf Bodins Interpretation der altrö‐ mischen Verfassungsinstitution der Diktatur, die zur Bewältigung innen- oder außen‐ politischer Krisen und zur Wiederherstellung einer gestörten Ordnung mit Ausnah‐ mebefugnissen bevollmächtigt wurde. Bleibt Bodins Verständnis der Diktatur auch auf ihre alte (kommissarische) Ausbildung beschränkt, so setzt mit seinem Werk die Kontroverse darüber ein, ob die Diktatur souverän sei, und es werde hierdurch der Pfad zur souveränen Diktatur eingeschlagen.17 In seiner Politischen Theologie

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aufgrund seiner für den Staat verhängnisvollen Unterscheidung von privater Überzeugung und öffentlichem Bekenntnis, als „Vollender der Reformation“ (s. Schmitt 1965). Zu Schmitts Hobbes-Interpretation siehe die Beiträge in Voigt 2009 und Oliver Hidalgo in diesem Band. Schmitt bezeichnet Hobbes als „Lehrer einer großen politischen Erfahrung; einsam, wie jeder Wegbereiter; verkannt, wie jeder, dessen politischer Gedanke sich nicht im eigenen Volk ver‐ wirklicht; ungelohnt, wie der, der ein Tor öffnet, durch das andere weitermarschieren; und doch in der unsterblichen Gemeinschaft der großen Wissenden der Zeiten, ›a sole retriever of an ancient prudence‹. Über die Jahrhunderte hinweg rufen wir ihm zu: Non jam frustra doces, Thomas Hobbes!“ (Schmitt 1995 a, S. 132). Schmitt gibt nach 1945 in seinen Korrespondenzen „Plettenberg-San Casciano“ gelegentlich als Absender an. „Darum ist der Staat bei Hobbes seiner Konstitution nach in dem Sinne eine Diktatur, als er, aus dem bellum omnium contra omnes entstehend, den Zweck hat, diesen Krieg, der sofort wieder ausbrechen würde, wenn der Druck des Staates von den Menschen genommen wird, be‐ ständig zu verhindern“ (Schmitt 2006, S. 22). Bodins Urteil zur Frage, ob die römischen Diktatoren souverän gewesen seien, lautet wie folgt: „Hieraus folgt, daß der Diktator entgegen der Meinung vieler Autoren weder Fürst noch souve‐ räner Magistrat gewesen ist und in Wirklichkeit lediglich den Auftrag hatte, etwa einen Krieg zu führen, einen Aufstand niederzuschlagen oder eine Staatsreform durchzuführen oder neue Beamten zu bestellen. Der Souveränität hingegen ist jede Begrenzung hinsichtlich der Macht‐ befugnis, der Aufgabenstellung oder ihrer Dauer fremd“ (Bodin 1981, S. 206 = Six livres de la république I/8). Auch das Dezemvirat ist für Bodin keine „souveräne Diktatur“ (ebd.). Wo Bo‐ din die Wesensähnlichkeit zwischen Diktatur und Dezemvirat hervorhebt, liegt für Machiavel‐ li, wie noch eigens gezeigt wird, ein wesentlicher Unterschied zwischen den dictatores und dem Notstandsregiment der decemviri. Schmitt stellt ebenfalls Bodins Leistung heraus, den au‐ ßerordentlichen Charakter des Diktators (der auf der Basis der Ordonanz seines souveränen Dienstherren, aber nicht auf der Basis des Gesetzes handelt) und jedes weiteren außerordentli‐

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(1922) bescheinigt Schmitt Bodin, einen entscheidenden Beitrag zur Souveränitäts‐ lehre geleistet zu haben.18 Blickt man nun auf die Aussagen, die Schmitt in Die Diktatur (1921) zu Machia‐ velli fällt, so scheint sich ein ambivalentes Urteil zu ergeben. Beim ersten Hinsehen scheint die Einordnung Machiavellis in die Masse der traditionellen (republikani‐ schen) Auseinandersetzungen mit dem alten Rechtsinstitut der Diktatur festzustehen, deren staatstheoretische Relevanz für Schmitt gering ist: „Die Diktatur erschien Machiavelli und der folgenden Zeit zu sehr als ein der freien rö‐ mischen Republik wesentliches Institut, als daß sie die beiden verschiedenen Arten der Diktatur, die kommissarische und die souveräne, unterschieden hätten. Daher ist auch der absolute Fürst für sie niemals Diktator. Der Principe, dessen Bild Machiavelli entworfen hat, ist von späteren Schriftstellern gelegentlich ein Diktator genannt worden. Das wider‐ spricht jedoch der Auffassung Machiavellis. Der Diktator ist immer ein zwar außeror‐ dentliches, aber doch verfassungsmäßiges republikanisches Staatsorgan.“19

Dass Machiavelli dem traditionellen Denken über die Diktatur zugehörig sei und seine Reflexionen zur Diktatur zudem nicht sonderlich originell seien, betont Schmitt mehrmals. So sage man mit Recht von Machiavelli, „daß er niemals eine Staatstheorie aufgestellt habe“ (S. 5). Hiermit konform geht Schmitts Kritik an Meinecke, der Machiavelli als Begründer der Staatsräson gedeutet habe.20 Machia‐ vellis Bild der altrömischen Diktatur sei zudem von Livius und damit von den „alten Diktatoren“ (nicht von der „revolutionären Diktatur“ Sullas oder Cäsars) geprägt.21 Machiavellis Interesse gelte der Diktatur als Substitut, das die strukturellen Vorteile der monarchischen Regierungsform auch in der Republik gewährleiste (etwa die Schnelligkeit, Geheimhaltung und Einmütigkeit politischen Handelns) (S. 6). Darin dass die Magistrate und Verfassungsorgane der Republik auch unter der außeror‐ dentlichen Regierung eines Diktators bestehen blieben, habe Machiavelli eine Ga‐ rantie gegen Missbrauch erkannt; gewissermaßen als Reflex der typischen Abnei‐ gung des altrepublikanischen Denkens gegenüber einer monokratischen Verengung von Herrschaft. Machiavelli denke daher in Kategorien der „kommissarischen Re‐ formationsdiktatur“, nicht der „souveränen Revolutionsdiktatur“ (S. 114). Dieser eindeutige Befund hindert Schmitt jedoch nicht daran, Machiavelli auch durchaus eine prometheische Rolle für das Staatsdenken der Neuzeit allgemein und

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chen kommissarischen Staatsamtes herausgestellt und dessen Gegensatz zum ordentlichen Ma‐ gistraten/Beamten entdeckt zu haben, der sich auf dem Boden des Rechts bewege, s. Schmitt 2006, S. 33-39. Schmitt 1991, S. 15; zu Schmitts Bodin-Interpretation Campagna 2004, S. 69 f. und Norbert Campagna in diesem Band. Schmitt 1991, S. 7. Diese Kritik findet sich in Schmitts Rezension von Meineckes Die Idee der Staatsräson (Schmitt 1940). Hiergegen ist einzuwenden, dass Machiavelli explizit den Begriff der Diktatur im Kontext der Selbstbevollmächtigungen Sullas und Cäsars behandelt, s. unten.

für das Denken über die Diktatur im Besonderen zuzuschreiben. So bemerkt Schmitt in seiner sorgfältigen Rekonstruktion von Machiavellis politisch-theoretischer Se‐ mantik und Terminologie in der auf Livius gegründeten Auseinandersetzung mit der Diktatur eine dezisionistische Pointe. So habe die Ermächtigung eines Diktators die Aufhebung des gewaltenteilenden und aufgabenverteilenden Prinzips der Mischver‐ fassung zur Folge gehabt: Denn die Diktatoren vermochten völlig alleine zu ent‐ scheiden („deliberare per se stesso“) (S. 6).22 Zudem stellt Schmitt die rezeptionsge‐ schichtliche Bedeutung des Principe – und Schmitts Lektüre von Machiavellis Werk ist allgemein eher Principe-lastig – für die neuzeitliche Staatstheorie heraus (S. 7, 12 f.).23 Seinen wichtigsten Beitrag zur Genese der modernen Sichtweise auf die Diktatur habe Machiavelli allerdings mit seinem technischen Politikverständnis, mit der Beschreibung einer Technik der Machterhaltung geleistet. Hierin kündige sich die technisch-sachliche Aufgabe des Diktators als (Rechts-)Verwirklicher an, für den der Erfolg und die Effizienz des Handelns bestimmend seien (S. 8-11).24 Die Verbin‐ dung Machiavellis zum Rationalismus der Renaissancehumanisten scheint von Schmitt als bedeutende Prämisse seiner Technik der Macht und seines technizisti‐ schen Denkens angesehen zu werden: „Diese technische Auffassung [Machiavellis, S.S.] ist für die Entstehung des modernen Staates wie für das Problem der Diktatur von unmittelbarer Bedeutung. Aus dem Ratio‐ nalismus dieser Technizität ergibt sich zunächst, daß der konstruierende Staatskünstler [sic] die staatlich zu organisierende Menschenmenge als ein zu gestaltendes Objekt, als Material ansieht. Es entspricht den humanistischen Anschauungen, im Volk, der ungebil‐ deten Masse […] etwas Irrationales zu sehen, das durch die ratio beherrscht und geführt werden muß. Ist das Volk aber das Irrationale, so kann man nicht mit ihm verhandeln und Verträge schließen, sondern muß es durch List oder Gewalt meistern. Der Verstand kann sich hier nicht verständigen, er räsoniert nicht, sondern diktiert.“25 22 Machiavelli betont, dass die Diktatoren, im Gegensatz zu anderen Regierungsträgern, sich mit niemandem beraten mussten (consultare) und nicht von anderen Entscheidungsträgern (deli‐ berare) abhängig waren, vielmehr ohne jedes Hindernis ihre Entscheidungen ausführen konn‐ ten (esequire) (Machiavelli 1996, S. 132). 23 In seiner kurzen Schrift zu Machiavelli anlässlich seines 400. Todestages schreibt Schmitt: „Je‐ desmal, wenn eine neue politische Idee dem staatlichen Leben neue Kräfte gab und die unzer‐ störbare Kraft des Politischen sich von neuem zeigte, erschien auch das Bild dieses Florenti‐ ners“ (Schmitt 1995 b, S. 102). 24 Zu Schmitts Beurteilung von Machiavellis Reflexion der Technizität der Macht McCormick 1997, S. 129ff. McCormick stellt ebenfalls Schmitts negative Perzeption von Technik und Technizität als gegenüber dem Politischen neutralisierende Kräfte heraus. Das technizistische Verständnis des Staates gilt Schmitt als Kennzeichen der Staatslehre der Renaissance: „Die Staatslehre der Renaissance übertrug die antiken Begriffe in ein neuzeitlich-technizistisches Verständnis der Staatsorganisation. «Rationalismus, Technizität und Exekutive» kennzeichne‐ ten ihre «Richtung zur Diktatur»“ (Mehring 2009, S. 120 f.). 25 Schmitt 2006, S. 10. In Schmitts Rede vom „konstruierenden Staatskünstler“ scheint der Ein‐ fluss Jacob Burckhardts (1818-1897) greifbar zu sein. Laut Burckhardt komme in der Renais‐ sance erstmals „der moderne europäische Staatsgeist“ auf; mit ihm trete „ein neues Lebendiges in die Geschichte: der Staat als berechnete, bewusste Schöpfung, als Kunstwerk“ (Burckhardt

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Schmitts Akzentuierung der rationalen, kühl abwägenden Technik der Macht als be‐ deutsame Facette von Machiavellis politischem Denken steht im Kontrast zur „dä‐ monologischen“ Deutung Machiavellis in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die „dämonologische“ Interpretation Machiavellis wird, von Weber ausgehend26, über Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter27 zu einem dominierenden Deutungsmuster der Machiavellirezeption. Dieses Muster wandelt sich in der Kriegs- und Nachkriegszeit (bei Gerhard Ritter und Dolf Sternberger) zur Chiffre für die Kritik am Nationalsozialismus.28 Die Stellungnahmen zu Machiavelli in Der Be‐ griff des Politischen und in seiner kurzen Schrift zu Machiavelli von 1927, die er an‐ lässlich des 400. Todestages des Florentiners verfasst, lassen vermuten, dass Schmitt mittlerweile von der Reduktion Machiavellis auf den Techniker der Macht abgerückt ist, vielmehr mit Verweis auf dessen negative Anthropologie seinen Beitrag zur Er‐ gründung des Politischen unterstreicht.29 Schmitt kontrastiert in Die Diktatur Machiavellis technische Handlungslehre für den principe nuovo (der den souveränen Diktator ankündige, aber eben noch nicht so bezeichne) mit dem antiquarischen Begriff der Diktatur aus Machiavellis Discor‐ si. Was Schmitt allerdings verkennt, ist die Existenz eines dritten – für seine Lehre von der Diktatur überaus relevanten – Theoriesegments, neben dem dittatore und dem principe nuovo. So soll im Folgenden argumentiert werden, dass die (republika‐ nische) Figur des Ordnungsgründers bei Machiavelli, der als Schöpfer der Verfas‐ sung vor und über ihr steht, der dezisionistischen Souveränitätslehre Schmitts eben‐ so wie dem aus seinem Souveränitätsbegriff entspringenden Begriff der Diktatur zu‐ pass kommt.

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1988, S. 4). Zum Einfluss Burckhardts und der durch ihn begründeten „Renaissance-Kli‐ schees“ auf das Bild von der Renaissance in den ihm nachfolgenden Gelehrtengenerationen Reinhardt 2004; 2012, S. 21 f. „Er [der Politiker, S.S.] lässt sich, ich wiederhole es, mit den diabolischen Mächten ein, die in jeder Gewaltsamkeit lauern. […] Wer das Heil seiner Seele und die Rettung anderer Seelen sucht, der sucht das nicht auf dem Wege der Politik, die ganz andere Aufgaben hat: solche, die nur mit Gewalt zu lösen sind. Der Genius oder Dämon der Politik lebt mit dem Gott der Liebe, auch mit dem Christengott in seiner kirchlichen Ausprägung, in einer inneren Spannung, die jederzeit in unaustragbarem Konflikt ausbrechen kann. […] Und mit Bezug auf solche Situa‐ tionen läßt Macchiavelli [sic.] an einer schönen Stelle, irre ich nicht: der Florentiner Geschich‐ ten, einen seiner Helden jene Bürger preisen, denen die Größe der Vaterstadt höher stand als das Heil ihrer Seele“ (Weber 2006, S. 608). Ein Verweis auf Webers Machiavelli-Deutung fin‐ det sich bei Schmitt in der kurzen Schrift zu Machiavelli anlässlich seines 400. Todestages, s. Schmitt 1995 b, S. 104. Ritter (1947, S. 43, 224) kritisiert die technizistische Deutung Machiavellis in Schmitts Die Diktatur explizit. In diesem Rezeptionsstrang gilt Machiavelli als Entdecker des „dämonischen“ Wesens der Macht, ihrer Abgründigkeit und ihres mit der (christlichen) Religion und Moral inkompatiblen Wesens. Zur dämonologischen Leseweise Machiavellis bei Meinecke, Ritter und Sternberger und der Verarbeitung des Zeitgeschehens sowie der Reflexion des ambivalenten Wesens der Moderne in diesem Rezeptionsmuster Ottmann 2006, S. 53 und Lüddecke 2010. Webers Bei‐ trag zu diesem Rezeptionsmuster wird bei Ottmann und Lüddecke nicht thematisiert. Schmitt 2002, S. 31, Anm. 7. Vgl. Schmitt 1995 b, S. 104 f.

Schmitts Unterscheidung zwischen kommissarischer und souveräner Diktatur fußt auf dem Verhältnis der Diktatur zur bestehenden Ordnung. Die kommissarische Diktatur wird so konzipiert, dass sie außerhalb der Verfassung steht und die Verfas‐ sung außer Kraft zu setzen vermag, aber dennoch durch ihren Zweck fest an sie ge‐ bunden bleibt: „Die Diktatur ist wie die Notwehrhandlung immer nicht nur Aktion, sondern auch Ge‐ genaktion. Sie setzt demnach voraus, daß der Gegner sich nicht an die Rechtsnormen hält, die der Diktator als Rechtsgrund für maßgebend anerkennt. Als Rechtsgrund, aber natürlich nicht als sachtechnisches Mittel seiner Aktion. Der Gegensatz von Rechtsnorm und Rechtsverwirklichungsnorm, der das ganze Recht durchzieht, wird hier zu einem Ge‐ gensatz von Rechtsnorm und sachtechnischer Aktionsregel. Die kommissarische Diktatur hebt die Verfassung in concreto auf, um dieselbe Verfassung in ihrem konkreten Bestand zu schützen.“30

Die souveräne Diktatur stehe hingegen der bestehenden Verfassungsordnung grund‐ sätzlich feindlich gegenüber, sie ist mit ihr inkommensurabel. Ihr Zweck ist die Überwindung der alten und die Stiftung einer neuen Ordnung. Beurteilungsmaßstab für die souveräne Diktatur ist (im Gegensatz zur kommissarischen) nicht das über‐ kommene verfassungsrechtliche Normensystem, sondern vielmehr die sie kenn‐ zeichnende Situation, dass erst eine Ordnung geschaffen werden muss, die die Be‐ hauptung eines neuen rechtlichen Normensystems ermöglicht: „Die souveräne Diktatur sieht nun in der gesamten bestehenden Ordnung den Zustand, den sie durch ihre Aktion beseitigen will. Sie suspendiert nicht eine bestehende Verfas‐ sung kraft eines in dieser begründeten, also verfassungsmäßigen Rechts, sondern sucht einen Zustand zu schaffen, um eine Verfassung zu ermöglichen, die sie als wahre Verfas‐ sung ansieht. Sie beruft sich also nicht auf eine bestehende, sondern auf eine herbeizu‐ führende Verfassung.“31

Auch der souveränen Diktatur liegt eine „Kommission“ zugrunde, wobei der Auf‐ traggeber das Volk ist (hierin liegt auch die Antwort auf die Frage nach der Unter‐ scheidbarkeit von souveräner Diktatur und Souveränität). Ihr Zweck wird meist durch eine geschichtsteleologsiche Perspektive bestimmt (etwa dem Fortschritts‐ glauben, der seit der Aufklärung als säkularisierte Form apokalyptischer Heils- und Geschichtsauffassung in Erscheinung tritt).32

30 Schmitt 2006, S. 133. 31 Schmitt 2006, S. 134. 32 „Zu jeder Diktatur gehört eine Kommission, und es fragt sich, ob es eine mit der Souveränität vereinbare Kommission gibt und wieweit es dem Begriff der Souveränität widerspricht, daß sie von einem Auftrag abhängig ist. Die Eigenart des pouvoir constituant ermöglicht eine solche Abhängigkeit, weil sie es wegen des Charakters dieses pouvoir als eines nichtkonstituierten und niemals konstituierbaren denkbar ist, daß der Inhaber der staatlichen Gewalt sich selbst ab‐ hängig macht, ohne daß die Gewalt, von der er sich abhängig macht, konstituierter Souverän wird“ (Schmitt 2006, S. 134 f.). Zur Verbindung der Auffassung der souveränen Diktatur als

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Folgt man dieser grundsätzlich unterschiedlichen Beziehung zur gegebenen poli‐ tischen Ordnung – einer ordnungswahrenden im Falle der kommissarischen, einer ordnungsverändernden und neu ordnenden, aber niemals konstituierten im Falle der souveränen Diktatur –, so lässt sich Machiavellis ordinatore, also die im Kontext seines republikanischen Denkens entwickelte Figur des Gründers, der souveränen Diktatur zuordnen. Um diese These zu erhärten, erscheint es erforderlich, zunächst auf Machiavellis Begriff der Diktatur einzugehen.

2. Machiavellis „dittatore“ und die Reflexionen zum republikanischen Notstandsinstitut in den Discorsi Machiavellis Republikanismus ist gekennzeichnet durch die Fokussierung auf den casus necessitatis und auf die Frage nach dessen Bewältigung und Überwindung. In Machiavellis Lebzeiten fallen nicht weniger als drei – gescheiterte – Verschwörun‐ gen (1478, 1513, 1522), die gegen die Herrscherfamilie der Medici gerichtet waren, sowie zwei erfolgreiche Verfassungsumstürze (1494, 1527), die zur (vorübergehen‐ den) Restitution der republikanischen Ordnung geführt hatten, auf die allerdings im Jahre 1512 und endgültig 1530 die Restauration der Mediciherrschaft folgte. Der seit 1494 nach dem Einmarsch Karls VIII. von Frankreich über Jahrzehnte bestehende Kriegszustand in Italien machte die dortigen staatlichen Gebilde zu Spielbällen in der Auseinandersetzung europäischer Großmächte (Frankreich, Spanien, Altes Reich) und verursachte zahlreiche Regierungs- und Verfassungswechsel (etwa in Genua, Mailand und Florenz). Machiavellis Fokus auf den Not- und Ausnahmezu‐ stand ist aus historischer Sicht naheliegend.33 Im Unterschied zu Schmitt ist die Bindung von Machiavellis politischem Denken an den Ausnahmezustand frei von jedem apokalyptisch-heilsgeschichtlichem Pathos. Aus dem Horizont der antiken zyklischen Geschichtsauffassung formuliert, fällt Ma‐ chiavellis Gegenwartsdiagnose im Vergleich zu den antiken und auch zu den ihm zeitgenössischen zyklischen Geschichtstheorien deutlich reformoptimistischer aus. Dies ist eine logische Konsequenz seiner Einschätzung, sein eigenes Zeitalter sei ein absoluter Tiefpunkt.34 Im Unterschied zum Staatsräsondiskurs, der ab dem späten Kommission zu geschichtsphilosophischen Elementen aufklärerischen Denkens Schmitt 2006, S. 143. 33 Höchli erkennt in den Überlegungen Machiavellis zum Notstandsinstitut etwas wesentlich Neues im Vergleich zum republikanischen Verfassungsdenken seiner Zeit, s. Höchli 2005, S. 547. Machiavellis Vorstellungen zur Verfassungsordnung erachtet er ansonsten als nicht be‐ sonders originell. Zur Rezeption römischer Quellen in Machiavellis Verfassungsdenken allge‐ mein und zum Stellenwert des Studiums der konstitutionellen und außerkonstitutionellen Mit‐ tel im Besonderen, die in der altrömischen Republik zur Bewältigung von Notständen und Kri‐ sen in Anwendung kamen, s. Straumann 2016, S. 153 f.; 268ff. 34 Dazu Pocock 1975, S. 31ff. und Münkler 2004, S. 357-368.

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16. Jahrhundert und damit fast ein halbes Jahrhundert nach Machiavellis Tod von Italien und von Giovanni Boteros Schrift Della Ragion di Stato (1589) ausgehend ganz Europa erfasste,35 aber auch im Unterschied zu Schmitt gilt Machiavellis Inter‐ esse in der Auseinandersetzung mit dem Not- und Ausnahmezustand in den Discorsi nicht primär der Erhaltung des Staates (mantenere lo stato), sondern der Erhaltung der Freiheit (mantenere la libertà).36 Machiavelli benennt für die Republik die Notwendigkeit, ein mit umfassenden exekutiven Befugnissen betrautes Notstandsinstitut einzurichten. Sie ergibt sich aus seinem Verständnis der Mischverfassung und ihrer gewaltenteilenden Eigenschaft, die aus Sicht der Freiheit begrüßenswert sei, allerdings eine institutionelle Trägheit und Schwerfälligkeit (Machiavelli spricht von einem „tardo modo“) erzeuge, die im Not- und Ausnahmezustand der Republik zum Verhängnis werden könne.37 Dies zu kompensieren war Zweck der altrömischen Diktatur. Diese Grunderkenntnis geht aus einer Kapitelsequenz der Discorsi (I/34-38, 40) hervor, die sich gegen den Vor‐ wurf richtet, die Institution der Diktatur habe in Rom das Aufkommen der Tyrannis begünstigt.38 Um diesen Vorwurf zu widerlegen, vergleicht Machiavelli in der be‐ sagten Textsequenz die Diktatur mit dem Dezemvirat, und aus der eigenen Gegen‐ wart mit dem Notstandsorgan der Republik Venedig, dem Rat der Zehn. Ein republikanisches Notstandsorgan ist aus Sicht Machiavellis (der in diesem, wie in anderen Punkten Rousseaus Beschäftigung mit der Diktatur vorwegnimmt) auch notwendig aufgrund der Kontingenz und Unberechenbarkeit, die der Politik ei‐ gen sind. Es soll für die Republik Lösungen zur Verfügung stellen, wenn schlicht unvorhersehbare Eventualitäten und Ereignisse (accidenti) eintreffen.39 Die Diktatur gilt der Konfrontation des Unvorhersehbaren. Das Notstandsorgan muss mit gesetz‐ 35 Schmitt nimmt die umfangreiche italienische Staatsräsonliteratur zur Kenntnis, s. Schmitt 2006, S. 13. 36 Für das Ziel der Sicherung des Staates und der Sicherung von Herrschaft stehen die Schlag‐ wörter des „mantenere lo stato“ (diese Wendung begegnet im Principe häufig) oder des „ragio‐ nare dello stato“ (diese Wendung findet sich in einem Brief an Francesco Vettori vom 9. April 1513, in: Machiavelli 1961, S. 239 f.). Machiavelli spricht von „mantenere la libertà“ in den Istorie Fiorentine, s. Machiavelli 1986, S. 399. 37 „Ohne eine ähnliche Einrichtung übersteht ein Staatswesen [città] nur schwer außergewöhnli‐ che Ereignisse [accidenti istraordinari]. Der gewöhnliche Gang der Geschäfte ist in den Frei‐ staaten [republiche] langsam [modo tardo]; denn kein Rat, keine Behörde kann allein alles er‐ ledigen, in vielen Dingen brauchen sie sich gegenseitig. Durch den notwendigen Ausgleich der verschiedenen Willensrichtungen vergeht die Zeit, und so entsteht die größte Gefahr [pericolo‐ sissimi], wenn man einer Sache abhelfen soll, die keinen Zeitverlust erlaubt. Die Freistaaten müssen daher in ihren Verfassungen eine der Diktatur ähnliche Einrichtung haben“ (Machia‐ velli 1977, S. 96 = Discorsi I/34, vgl. ebd., S. 105 = I/38). 38 Zur Verwendung des Begriffs der Tyrannis in dieser Kapitelsequenz Saracino 2012, S. 245-252. 39 Dass die Diktatur der Konfrontation des Unvorhersehbaren gilt, belegt Machiavellis Verwen‐ dung des Begriffs accidenti im Kapitel, das die Diktatur behandelt, s. Machiavelli 1996, S. 135 f. (= Discorsi I/34); vgl. Rousseau 1977, S. 135 (= Contrat Social IV/6); McCormick 1993, S. 896-898.

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licher Legitimation auch ungesetzliche Mittel anwenden, zur Sicherung von leggi und libertà für die Republik eben diese Normen vorübergehend suspendieren kön‐ nen, zur Vermeidung einer fremden oder hausgemachten tyrannischen Monokratie, das Amt des Diktators mit nahezu monarchischer Gewalt ausfüllen.40 An der funda‐ mentalen Aufgabe der Kontingenzbewältigung arbeiten in der Republik aber nicht bloß die Diktatoren, sondern auch andere, durch ihre Handlungsmächtigkeit und Fä‐ higkeiten hervorragenden Einzelfiguren und Führungsgestalten, die schwerpunktmä‐ ßig im III. Buch der Discorsi abgehandelt werden, wie Heeresführer, Volkstribunen, Verschwörer und Ordnungsstifter, auf deren Intervention die Republik nicht verzich‐ ten kann. Das Interesse Machiavellis an der Rolle solcher Einzelfiguren für den Er‐ halt der Republik, man könnte sie auch als „funktionale Monarchen“ bezeichnen, und ihres spannungsvollen Verhältnisses zum Bürgerkollektiv (das sich in Ableh‐ nung oder in Zustimmung äußert) wird bereits in der Textarchitektur der Discorsi widergespiegelt.41 Machiavelli möchte in den Discorsi die Verfassungsinstitution der Diktatur vor der verbreiteten Meinung in Schutz nehmen, sie sei Ursache der Tyrannis und Brandbeschleuniger im Krisenfeuer der späten römischen Republik gewesen. Der Missbrauch dieser Institution durch Sulla und Cäsar scheint der Annahme, gegen die sich Machiavelli wenden möchte, vordergründig recht zu geben: „Von irgendeinem Schriftsteller werden diejenigen Römer verdammt, die in Rom die Einführung der Diktatur erfunden haben, weil diese mit der Zeit die Ursache der Tyrannis [cagione…della tirannide] in Rom geworden wäre. Er führt an, daß der erste Tyrann [ti‐ ranno], den Rom gehabt hat, unter dem Titel eines Diktators geherrscht hat, und behaup‐

40 Vgl. hierzu Schmitt: „Daß jede Diktatur die Ausnahme von einer Norm enthält, besagt nicht zufällige Negation einer beliebigen Norm. Die innere Dialektik des Begriffes liegt darin, daß gerade die Norm negiert wird, deren Herrschaft durch die Diktatur in der geschichtlich-politi‐ schen Wirklichkeit gesichert werden soll. […] Rechtsphilosophisch liegt hier das Wesen der Diktatur, nämlich in der allgemeinen Möglichkeit einer Trennung von Normen des Rechts und Normen der Rechtsverwirklichung. Eine Diktatur, die sich nicht abhängig macht von dem einer normativen Vorstellung entsprechenden, aber konkret herbeizuführenden Erfolg, die demnach nicht den Zweck hat, sich selbst überflüssig zu machen, ist ein beliebiger Despotismus“ (Schmitt 2006, S. xvii). 41 Mit dem Gegensatz von publico consiglio und privato consiglio bzw. zwischen den Taten des popolo Romano und von uomini particulari einerseits sowie mit der Unterscheidung von In‐ nen- und Außenbereich (dentro, fuori) andererseits bildet Machiavelli zwei analytische Ach‐ sen, die die Komposition des Werkes und die thematischen Schwerpunkte der einzelnen Bü‐ cher bestimmen. Buch I untersucht nach diesem Schema die republikanische Ordnung Roms aus der Innenperspektive und der Sicht des Bürgerkollektivs; Buch II hingegen das Handeln des republikanischen Kollektivs nach außen; Buch III thematisiert die Bedeutung von Einzelfi‐ guren im Innen- wie im Außenbereich des Staates, s. die zu den drei Büchern der Discorsi einleitenden, über die Gliederung des Textes Auskunft gebenden Passagen in Machiavelli 1977, S. 11, 163, 279.

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tet, daß Cäsar, hätte dieser Titel nicht bestanden, nicht in der Lage gewesen wäre, seine Tyrannis [tirannide] mit einem rechtmäßigen Titel aufzuwerten.“42

Machiavelli beobachtet an der römischen Geschichte die hartnäckige und irrationale Präjudizierung von bestimmten Institutionen und Amtstiteln, falls diese einmal durch bestimmte historische Ereignisse in Verruf gekommenen waren. Der von Ma‐ chiavelli an anderer Stelle wahrgenommene, typisch römische Hass allein schon ge‐ gen das Wort rex ist Beispiel hierfür. Machiavelli demonstriert diese Eigenschaft auch anhand der Abneigung der Plebs gegen Titel und Amt der Konsuln als Folge der Ständekämpfe. Die Abneigung gegen dieses – aus Sicht der Plebs – patrizische Amt und die Unfähigkeit, den Titel von der tatsächlichen verfassungsrechtlichen Ei‐ genschaft und Machtstellung des Amtes zu abstrahieren, sei maßgeblich schuld ge‐ wesen an der unheilvollen Abschaffung des Konsulats und der Bildung des Dezem‐ virats im Jahre 451 v. Chr.43 Machiavelli überträgt diese Feststellung auch auf die landläufige Meinung, die Diktatur sei Ursache der Tyrannis in Rom gewesen. Vor diesem Hintergrund ist die geradezu nominalistische Sichtweise Machiavellis auf den dittatore zu verstehen: „Denn weder der Name [nome] noch das Amt [grado] des Diktators brachte Rom in Knechtschaft [serva], sondern die Macht [autorità], welche sich Bürger infolge der lan‐ gen Dauer des Heeresbefehls [lunghezza dello imperio] anmaßten. Hätte in Rom der Titel eines Diktators gefehlt, so hätte man eben einen anderen genommen; denn die Macht [forze] schafft sich leicht den entsprechenden Namen [nomi], doch nicht der Name die Macht. Man sieht ja auch, daß der Diktator dem Staat immer Nutzen brachte, solange er verfassungsgemäß eingesetzt worden war und sich nicht aus eigener Machtvollkommen‐ heit aufgeworfen hatte. Nur Ämter, die auf ungesetzlichem Wege [per vie istraordinarie] erworben werden, und Machtbefugnisse, die man sich unrechtmäßig anmaßt, bringen einem Freistaat Schaden, und nicht solche, die man auf gesetzlichem Weg [per vie ordi‐ narie] erhält.“44

Diese Aussage verdeutlicht Machiavellis Haltung zur Macht von Titeln und Wör‐ tern. Sie werden von ihm in den dahinterstehenden politischen Machtverhältnissen aufgelöst. Nicht der angemaßte Titel des dictator perpetuus verlieh Cäsar die Macht, die republikanische Ordnung aufzulösen, sondern seine militärische Befehlsgewalt (imperium). Sullas oder Cäsars faktischer und außerkonstitutioneller Machtstellung wurde durch den Titel des Diktators lediglich ein Schleier der Legitimation verlie‐ hen. Diese nominalistische Haltung steht im Kontrast zur legitimationsstiftenden Be‐ deutung von Titeln, von rechtmäßig erhaltenen Privilegien und Regalien, die in der Vormoderne kennzeichnend ist, und, soweit man sie allgemein auf den Begriff der 42 Machiavelli 1977, S. 94 (= Discorsi I/34). Die kritische Ausgabe der Discorsi von Giorgio Ing‐ lese vermutet Dionysios von Halikarnassos hinter dem im Zitat erwähnten unbekannten Autor, s. Machiavelli 1996, S. 247. 43 Machiavelli 1977, S. 109 (= Discorsi I/39). 44 Machiavelli 1977, S. 94 f. (Discorsi I/34).

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Tyrannis übertragen möchte, auch in starkem Gegensatz zu Bartolus’ Konzeption des tyrannus ex defectu tituli. Andererseits weist Machiavelli hier gewisse Ähnlich‐ keiten zu Hobbes und dessen nominalistischem Sprachpositivismus auf, der die Sprache und die Wörter als Zeichen und Instrumente im Dienst der subjektiven Werturteile und Machtbegierden des Sprechenden versteht. Der Gedankengang in Discorsi I/34 bestätigt allerdings ebenfalls die Fähigkeit Machiavellis, zwischen dem Herrschaftsträger und der öffentlichen Gewalt, zwischen seiner Herrschaftsbe‐ fugnis und seinem verfassungsrechtlichen Auftrag zu unterscheiden.45 Die Diktatur stellt für den casus necessitatis eine eigene Verfassungsinstitution bereit. Ohne sie würde im Notfall in der Republik dem außerkonstitutionellen Machtaufstieg der Weg gebahnt (modi istraordinari) und damit die politische Ordnung – über kurz oder lang – zur Disposition gestellt werden.46 Machiavellis Ausführungen versuchen nachzuweisen, dass die erhebliche Machtfülle des Amtes des Diktators aus Sicht der Freiheit solange nicht prekär ist, solange drei Prämissen gewährleistet sind: Dass das Amt zeitlich beschränkt ist, dass dem Diktator die Verfassungsorgane und Gewalten (Volkskommitien, Senat und Konsuln) durch ihre bloße Existenz (nicht durch ihre verfassungsgemäße Gewalt, die im casus necessitatis suspendiert wird), als kontrol‐ lierende Gegengewichte gegenüberstehen, schließlich dass Bürgertugend vorhanden ist.47 Unmittelbar im Anschluss an die Behandlung der Diktatur befasst sich Machia‐ velli mit den Ereignissen um die Einrichtung des Dezemvirats in Rom (451 v. Chr.) und der drohenden Entartung dieser Institution zur Tyrannis unter der Anführer‐ 45 Zur Distinktion von öffentlicher Gewalt und Herrschaftsträger in Machiavellis Analyse der Diktatur Maissen 2010, S. 62 f. 46 „Fehlt einem Freistaat eine solche Einrichtung, so ist es unausbleiblich, daß er entweder bei Aufrechterhaltung der Verfassung [ordini] zugrunde geht oder, um nicht zugrunde zu gehen, die Verfassung brechen muß. In einem Freistaat sollte nie etwas vorkommen, das die Anwen‐ dung ungesetzlicher Mittel [modi straordinari] nötig macht; denn wenn auch das ungesetzliche Mittel für den Augenblick vorteilhaft ist, so schadet doch das Beispiel. Die Gewohnheit aber, die Verfassung zu guten Zwecken zu brechen, bewirkt, daß man sie unter diesem Deckmantel dann auch zu schlechten bricht. Ein Freistaat wird daher niemals vollkommen sein, wenn er nicht in seinen Gesetzen alles vorgesehen, für jedes Ereignis nicht die entsprechende Abhilfe festgelegt und die Art und Weise bestimmt hat, sie anzuwenden“ (Machiavelli 1977, S. 96 = Discorsi I/34). 47 „Erstens muß ein Bürger, damit er dem Staat Schaden zufügen und sich eine ungesetzliche Ge‐ walt [autorità istraordinaria] anmaßen kann, im Besitz vieler Vorzüge sein, die er in einem ge‐ sunden Staatswesen [republica non corrotta] nie haben kann: er muß sehr reich sein [ricchissi‐ mo], muß sehr viele Anhänger und Parteigänger [aderenti e partigiani] haben, die er unmöglich haben kann, wenn die Gesetze beachtet werden. […] Zudem wurde der Diktator nur für eine bestimmte Zeit und nicht für dauernd [a tempo e non perpetuo] gewählt, und nur zu dem Zweck, um die Ursache, derentwegen er gewählt worden war, zu beseitigen. […] Doch er konnte nichts tun, was dem Staat hätte schaden können [che fosse di diminuzione dello stato]; er konnte zum Beispiel nicht dem Senat oder dem Volk seine Machtbefugnisse nehmen, er konnte die alten Einrichtungen des Staats [gli ordini vecchi della città] nicht abschaffen und neue einführen“ (ebd., S. 95, Hervh. S.S.). Genau dies, die Abschaffung der alten Ordnung und die Schaffung einer neuen, ist Aufgabe von Schmitts souveränem Diktator.

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schaft des Appius Claudius (Discorsi I/38, I/40; vgl. Livius III/33-54). Mit dem Bei‐ spiel des Dezemvirats sollen die negativen Folgen veranschaulicht werden, die sich ergeben, falls die mit weitreichenden Befugnissen betraute (Notstands-)Institution nicht zeitlich und konstitutionell eingehegt wird, falls ihr keine anderen politischen Gremien und Verfassungsorgane überwachend zur Seite gestellt werden.48 In Vor‐ wegnahme von Montesquieu formuliert Machiavelli die Maxime, dass die unbe‐ schränkte, unkontrollierte Gewalt einer politischen Institution die Sitten der Bürger, v. a. der Amtsträger korrumpiert.49 Der Begriff der Tyrannis fällt im Kapitel (Discorsi I/40), das sich mit dem De‐ zemvirat auseinandersetzt, was die Häufigkeit von Okkurrenzen in Bezug auf die Textlänge anbelangt, so häufig wie nirgends im gesamten Oeuvre des Florentiners: sage und schreibe fünfzehn Mal.50 Die aus den Rudern geratene Auseinandersetzung zwischen Plebs und Adel und der fehlende Wille zur gesetzlichen Beilegung politi‐ scher Konflikte tritt als Hintergrund der Geschehnisse deutlich zutage. Die Notwen‐ digkeit des Ausgleichs zwischen dem Volk (popolo) und der Herrschaftselite (gran‐ di) ist wohlgemerkt ein zentraler ordnungsphilosophischer Gedanke im Werk Ma‐ chiavellis.51 Der Erfolg des Claudius Appius, der sich als Anwalt der Plebs an die Spitze des Gemeinwesens und des Dezemvirats stellt, wird mit der gefährlichen Nei‐ 48 War die Diktatur durch konstitutionelle Mechanismen eingehegt, trat das mit einer Rechtsre‐ form beauftragte Dezemvirat an die Stelle der Verfassungsorgane. Konsulat und Volkstribunat wurden abgeschafft, der Senat in seiner Arbeit gehemmt. Ferner überschritt die Einsetzung des Dezemvirats zu einem zweiten Amtsjahr die von Machiavelli geforderte Annuität für außeror‐ dentliche, mit umfassenden Vollmachten ausgestattete Verfassungsämter (Machiavelli 1977, S. 97-99 = Discorsi I/35 und ebd., S. 110 = I/40). 49 „Dies lässt sich leicht beweisen, wenn man bedenkt, aus welchen Ursachen die Diktatoren pflichtgetreu blieben und aus welchen die Dezemvirn pflichtvergessen wurden, und wenn man beachtet, wie es gut organisierte Freistaaten [republiche … bene ordinate] hinsichtlich der Übertragung der Macht auf lange Zeit gehalten haben, wie die Spartaner hinsichtlich der Über‐ tragung auf ihre Könige und die Venezianer auf ihre Dogen. Man wird dann sehen, daß für bei‐ de Ämter Wächter [guardie] bestellt waren, die dafür sorgten, daß diese ihre Macht nicht miss‐ brauchen konnten. Ohne diese Vorschrift hilft es auch nichts, wenn der Volkskörper noch nicht verdorben ist; denn eine unumschränkte Gewalt verdirbt die guten Sitten eines Volkes in kür‐ zester Zeit und schafft sich Freunde und Anhänger [amici e partigiani]“ (ebd., S. 98 f. = I/35; vgl. ebd., S. 116 f. = I/42). 50 Vgl. Saracino 2012, S. 251 f. 51 Die Errichtung des Dezemvirats folgte auf „molte disputazioni e contenzioni seguite intra il Popolo e la Nobilità […]“ (Machiavelli 1996, S. 147 = Discorsi I/40, 4). Für Machiavelli ste‐ hen sich in allen politischen Gemeinwesen, in Republik und Fürstentum gleichermaßen, die naturbedingten Grundneigungen und Anliegen des Volkes und der Herrschaftselite spannungs‐ voll gegenüber. Nicht in der Aufhebung dieser Spannung, die für die Erhaltung der Freiheit notwendig sei, sondern im Ausgleich zwischen popolo und grandi formuliert Machiavelli ein zentrales Desiderat der politischen Ordnung: „Untersucht man das Streben des Adels und des Volks, so zeigt sich ohne Zweifel beim Adel ein starkes Verlangen zu herrschen [desiderio grande di dominare], beim Volk aber nur das Verlangen, nicht beherrscht zu werden [desiderio di non essere dominati], und folglich ein stärkerer Wille, in Freiheit zu leben, da es weniger hoffen kann, die Freiheit zu mißbrauchen, als der Adel“ (Machiavelli 1977, S. 21 = Discorsi I/5); „Denn in jeder Stadt [città] finden sich diese zwei unterschiedlichen Gesinnungen [dua umori diversi], was daher rührt, daß sich das Volk von den Großen weder beherrschen noch

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gung des popolo verbunden, zur Zügelung der grandi sich in die Arme eines tiranno zu flüchten.52 Im vorliegenden Kapitel bringt Machiavelli das Beziehungsgefüge zwischen dem Freiheitsbegriff, der Tyrannis und seiner Theorie des Ausgleichs zwi‐ schen den Ständegruppen von popolo und grandi auf den Punkt; der Abschnitt be‐ sitzt Definitionscharakter: „Zu diesem Vorfall ist zu bemerken, daß in Rom das Übel der Tyrannenherrschaft [tiran‐ nide] auf denselben Ursachen beruht, auf welchen die meisten Gewaltherrschaften in Freistaaten [la maggior parte delle tirannidi nelle città] zurückzuführen sind; sie liegen in dem übermäßigen Verlangen [desiderio] des Volks nach Freiheit [libertà] und in dem übermäßigen Verlangen des Adels nach Herrschaft [comandare]. Wenn man sich nun über ein Gesetz zu Gunsten der Freiheit nicht einigen kann, aber eine der beiden Parteien darauf verfällt, eine Persönlichkeit herauszustellen, dann ist sofort die Gewaltherrschaft [tirannide] da.“53

Machiavellis Untersuchung der Diktatur und des Dezemvirats möchte (mithilfe ei‐ nes regen Gebrauchs des Tyrannisbegriffs) klarstellen, dass ein Verfassungsorgan, vor allem falls es mit besonderen Vollmachten versehen ist, konstitutionell einzuhe‐ gen ist. Die Bürgertugend der Amtsträger ist ebenso unverzichtbares Desiderat. Der Gedankengang verweist über die Frage des Notstandes und seiner Bewältigung durch ein Notstandsinstitut hinaus auf Machiavellis rudimentäre Lehre von der Ge‐ waltenteilung.

3. Machiavellis Gründer (ordinatore, fondatore) als souveräner Diktator? Im Folgenden soll es darum gehen, an der Figur des republikanischen Gründers und Ordnungsstifters aus Machiavellis Discorsi einige Aspekte zu beleuchten, die auf die souveräne Diktatur verweisen. Leo Strauss hat darauf hingewiesen, dass in die‐ sem Werk die „perspective of founders“ einen wichtigen Platz einnimmt.54 Im Be‐ sonderen sollen folgende Aspekte dargelegt werden: 1. Die Feindseligkeit des ordi‐ natore gegenüber der alten, überkommenen Ordnung; 2. dessen konstruktiver Auf‐ trag, eine neue Ordnung zu stiften, der auf der Voraussetzung beruht, dass die politi‐ sche Macht und Entscheidungskompetenz in seiner Person gebündelt wird; 3. das nahezu dialektische Verhältnis zwischen dem Ordnungsstifter und dem Volk (popo‐

unterdrücken lassen will, die Großen aber das Volk beherrschen und unterdrücken wollen; aus diesen beiden verschiedenen Bedürfnissen [appetiti] entstehen in den Städten jeweils eine von drei möglichen Wirkungen: entweder die Fürstenherrschaft, oder die Freiheit oder die Anarchie [licenzia]“ (Machiavelli 1999, S. 75 = Principe IX). Die Anlehnung an das Mischverfassungs‐ theorem in Machiavelli 1977, S. 15 = Discorsi I/2. 52 Machiavelli 1996, S. 150 f. = I/40, 31 ff. 53 Machiavelli 1977, S. 113 = Discorsi I/40. 54 Strauss 1958, S. 288. Vgl. Benner 2009, S. 405-437.

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lo), das sowohl beauftragende Instanz ist als auch das zu formende Objekt der Ord‐ nungsstiftung darstellt. Es erscheint unumgänglich, dass im Laufe der Darstellung dieser drei Gesichtspunkte Machiavellis Begriff der Ordnung kurz erläutert werden muss. 1. Im Werk des Florentiners finden sich unterschiedliche Bezeichnungen für den Gründer politischer Ordnung, wobei sein Sprachgebrauch und der jeweilige themati‐ sche Kontext bereits auf die republikanische Konnotation dieser Figur, auf das Vor‐ bild antiker Verfassungsgeber und Städtegründer hinweist. Am charakteristischsten erscheint die Bezeichnung „ordinatore“.55 Dass der Auftrag des ordinatore darin be‐ steht, die alte Ordnung abzuschaffen und zu zerstören, wird im Übergang zwischen Discorsi I/25 und I/26 überdeutlich ausgesprochen. Machiavelli unterscheidet hier zwischen einem Modus der Erneuerung, der sich an der alten Ordnung orientiert und – zumindest dem Schein nach – das Alte im Verlauf des Erneuerungsprozesses be‐ wahrt,56 von einer wirklichen Erneuerung, die alles Bestehende von Grund auf än‐ dert und neuordnet (rinnovare ogni cosa). Machiavelli räumt ein, dass letzterer Mo‐ dus tyrannischen Wesens sei, erachtet eine solche Vorgehensweise jedoch für unver‐ zichtbar, falls es sich um eine fundamentale Erneuerung der politischen Ordnung handeln soll; und eine solche ist für den Florentiner in Zeiten höchster corruzione im Staat unumgänglich. Diese Unumgänglichkeit wird untermauert durch die Berufung auf das Beispiel des biblischen Königs David sowie durch ein Zitat aus dem Luka‐ sevangelium: „Wer aber ein Regiment der Willkür ausüben will, das die Schriftsteller Tyrannis [tiranni‐ de] nennen, muß alles Bestehende von Grund auf umstürzen [rinnovare ogni cosa], wie im nächsten Kapitel gezeigt werden soll. […] Für jeden, der die Macht in einer Stadt oder in einem Staat erobert hat [diventa principe, o d’una città o d’uno stato], ist – besonders wenn sein Regiment noch auf schwachen Füßen steht und er sich noch nicht für die bür‐ gerliche Ordnung in der Form einer Alleinherrschaft oder eines Freistaats entschieden hat [e non si volga o per via di regno o di republica a una vita civile] – das beste Mittel, sich an der Macht zu halten, wenn er gleich von Anfang an alles im Staat von Grund auf neu 55 Siehe folgende Begriffsokkurrenzen von „latore/datore di leggi“, „ordinatore“, „fondatore“ in den Hauptwerken Machiavellis: „savio datore di legge“ (Machiavelli 1986, S. 413 = Istorie Fiorentine III/1); Romulus als „datore delle leggi“ (Machiavelli 1996, S. 293 = Discorsi II/1); Lykurg als „ordinatore prudente“ (ebd., S. 64 = I/2); „ordinatori di republica“ (ebd., S. 85 = I/9); „ordinatore d’un vivere civile“ (ebd., S. 112 = I/19); „fondatore d’un vivere civile“ (ebd., S. 85 = I/9); „fondatore di una republica“ (Machiavelli 1986, S. 641 = Istorie Fiorentine VII/1); Lykurg als „fondatore della republica Spartana“ (Machiavelli 1996, S. 302 = Discorsi II/3); Romulus als „re di Roma e fondatore“ (Machiavelli 1999, S. 42 = Principe VI). 56 „Wer einem Staat eine neue Verfassung geben will [riformare uno stato d’una città] und dabei möchte, daß sie gut aufgenommen und zur Zufriedenheit eines jeden erhalten wird, muß we‐ nigstens den Schein der alten Formen [l’ombra de’ modi antichi] beibehalten, damit das Volk glaubt, es hätte sich nichts geändert, auch wenn die neuen Einrichtungen [ordini nuovi] mit den früheren nicht das geringste gemein haben. Denn die Masse der Menschen läßt sich mit dem Schein ebenso abspeisen wie mit der Wirklichkeit, ja häufig wird sie durch den Schein mehr bewegt als durch die Wirklichkeit“ (Machiavelli 1977, S. 77 = Discorsi I/25).

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gestaltet. Er muß eine neue Regierung mit neuen Titeln, mit neuen Machtbefugnissen und neuen Personen bilden, er muß die Armen reich machen, wie es David getan hat, als er König wurde; ‚qui esurientes implevit bonis et divites dimisit inanes’ [Lukas 1, 53]. Er muß neue Städte bauen, die alten zerstören, die Einwohner von einem Ort an den anderen versetzen, kurz, er darf nichts im Lande unangetastet lassen, damit es keinen Rang, kein Amt, keinen Stand und keinen Reichtum gibt, den der Besitzer nicht ihm zu verdanken hat.“57

Das Unterfangen einer grundlegenden Ordnungserneuerung besitzt aufgrund des Argwohns der Menschen gegenüber allem Neuen eine besondere Schwierigkeit und verlangt dem Ordnungsstifter nahezu übermenschliche Fähigkeiten ab.58 Aus Sicht von Machiavellis geschichtstheoretischer Annahme einer naturnotwendigen Degene‐ ration jedweder politischen Ordnung kann selbst der Umsturz einer Republik ge‐ rechtfertigt sein, wobei er betont, dass ein solcher Umsturz nur in einer von Korrup‐ tion bestimmten Republik Aussicht auf Erfolg habe.59 2. Die auf die Destruktion des Alten folgende Konstruktion des Neuen wird am deutlichsten fassbar, wenn Machiavelli von der – eminent schwierigen – Aufgabe spricht, nuovi modi e ordini in einem Gemeinwesen einzuführen. Der programmati‐ sche Anfangssatz des ersten Buches der Discorsi benennt sogleich das Problem der Ordnungsstiftung: „Neue Einrichtungen zu treffen oder neue Staatsordnungen zu schaffen [trovare modi e ordini nuovi], ist bei der neidischen Natur der Menschen immer ebenso gefährlich gewe‐ sen wie die Entdeckung unbekannter Meere und Länder; denn die Menschen neigen mehr dazu, die Handlungen anderer zu tadeln, als zu loben.“60

Um die Reichweite der hier thematisierten Problematik zu erfassen, die der Grün‐ dung einer politischen Ordnung inhärent ist, ist Machiavellis Verständnis von Ord‐ nung in seiner ganzen Komplexität im Blick zu halten. Den Begriff „ordine“ (Ma‐ chiavelli spricht meist im Plural von ordini) beim Florentiner auf den sicherheitspo‐ litischen Aspekt des Law and Order zu reduzieren, ist hierfür alles andere als hilf‐ reich. Die Komplexität des Ordnungsdenkens Machiavellis zeigt sich bereits an den 57 Machiavelli 1977, S. 78 f. = Discorsi I/25-26. 58 Machiavelli 1999, S. 45 = Principe VI; ders. 1977, S. 4 = Discorsi I/Einleitung. 59 So finden sich in den Discorsi Exkurse, die sich damit befassen, was ein „tiranno“ zu beachten hat, falls er die Republik zu stürzen beabsichtigt, s. Machiavelli 1977, S. 59 und S. 310ff. 60 Machiavelli 1977, S. 5. Vgl. hierzu eine kongeniale Stelle aus dem Principe: „Diejenige, wel‐ che […] durch ihre Tüchtigkeit [virtù] zu Fürsten werden, erwerben zwar die Fürstenherrschaft unter Schwierigkeiten, behaupten sie aber mit Leichtigkeit. Die Schwierigkeiten, die sie bei der Erwerbung der Fürstenherrschaft haben, entstehen zum Teil durch die neue Ordnung und die neuen Bräuche [nuovi ordini e modi], die sie gezwungen sind einzuführen, um darauf ihren Staat und ihre persönliche Sicherheit zu gründen. Auch muß man bedenken, dass kein Vorha‐ ben schwieriger in der Ausführung, unsicherer hinsichtlich seines Erfolges und gefährlicher bei seiner Verwirklichung ist, als eine neue Ordnung einzuführen; denn wer Neuerungen einführen will, hat alle zu Feinden, die aus der alten Ordnung Nutzen ziehen, und hat nur lasche Verteidi‐ ger an all denen, die von der neuen Ordnung Vorteile hätten“ (Machiavelli 1999, S. 45).

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metaphysischen oder besser kosmologischen Prämissen der Erschaffung und Erhal‐ tung von Ordnung, die in seinem Denken präsent sind, jedoch in der Sekundärlitera‐ tur oft vernachlässigt werden. So ist politische Ordnung zwar die Frucht menschli‐ cher Tüchtigkeit und Handlungsmacht (beides wird im Begriff virtù impliziert), wird allerdings im Widerstreit zu kosmologischen Daseinsmächten erzeugt. Als solche Mächte behandelt Machiavelli Fortuna, dann die von Machiavelli astrologisch kon‐ notierten Einflüsse des Himmels („cieli“), schließlich die gleichermaßen von den cieli und von der natura determinierten menschlichen Charaktereigenschaften, Grundneigungen und Leidenschaften („umori“) der Menschen.61 Auch wäre es ver‐ fehlt, den Begriff „ordine“ auf seine institutionelle und rechtliche Seite zu verkür‐ zen. Das Gesetz, das Machiavelli vor allem als strafandrohende und hiermit mensch‐ liches Verhalten disziplinierende Instanz reflektiert, gewissermaßen als Äquivalent zur Furcht (timore) vor dem Fürsten im monokratischen Regierungssystem, spielt natürlich eine für die Erhaltung der ordini essentielle, jedoch eher unterstützende Rolle. Auch darf die Bedeutung einer Verfassungsinstitution wie der Mischverfas‐ sung und ihrer Eigenschaft, die ordnungszersetzenden Gegensätze zwischen popolo und grandi auszugleichen, nicht darüber hinwegtäuschen, dass Machiavelli die ordi‐ ni in erster Linie personalistisch versteht; eher im Sinne einer gelungenen politi‐ schen Lebensform der Einzelpersonen, als sittliche Konstitution des Bürgers, mit Rousseau gesprochen als Normen, die ihren Sitz im Herzen und in der Brust des Bürgers besitzen.62 Beispielsweise die Bereitschaft des Bürgers, in der Miliz für das Gemeinwesen Dienst zu leisten, ist ein ordine, der die personalistische Note des Be‐ griffs verdeutlicht.63 Gleichermaßen zeigt sich dies in dem für Machiavellis Ordnungsdenken charak‐ teristischen Begriffspaar von „materia“ und „forma“, das in seinen Schriften häufig anzutreffen ist und der aristotelisch-scholastischen Philosophie entstammt. Die gute Form des Gemeinwesens und der bürgerlichen Sitten wird durch die ordini gestiftet und der „materia“ eingeprägt sowie angesichts ihrer naturnotwendigen Korruptions‐ anfälligkeit stabil erhalten. Dieses Begriffspaar ist insgesamt typisch für die Dialek‐ 61 Auf diese metaphysisch-kosmologische Konnotation von Machiavellis Ordnungsbegriff braucht hier nicht im Einzelnen eingegangen werden, s. ausführlich Saracino 2012, S. 279-308. Zum astrologischen Verständnis der „cieli“ und den Verbindungen von Machiavel‐ lis Ordnungsdenken zur vormodernen medizinischen Humorallehre Parel 1992. 62 So spricht Rousseau von einer Art Gesetz, „die wichtigste von allen, die weder auf Marmor noch auf Erz, sondern in die Herzen der Bürger geschrieben wird; in ihr liegt die eigentliche Verfaßtheit des Staates; sie kommt täglich zu neuer Kraft; sie belebt oder ersetzt die anderen Gesetze, wenn sie altern oder verblassen, erhält ein Volk im Geist seiner Errichtung und setzt unmerklich die Macht der Gewohnheit an die Stelle der Staatsgewalt. Ich rede von den Sitten und Gebräuchen und vor allem von der Meinung“ (Rousseau 1977, S. 60 = Contrat Social II/ 12). Zu Machiavellis Verständnis der ordini siehe Whitfield 1997. 63 Zum Bedingungsverhältnis zwischen der „buona milizia“ und dem „buono ordine“ des Ge‐ meinwesens Machiavelli 1977, S. 18 f. = Discorsi I/4; vgl. Machiavelli 1999, S. 93 f. = Princi‐ pe XII.

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tik von Ordnung/Blüte und Unordnung/Verfall im Gemeinwesen, von anerzogener Tugend und natürlicher Korruption, die das Denken des Florentiners prägen.64 Ma‐ chiavelli folgt somit dem typisch republikanischen Paradoxon, dass zur Schaffung guter Gesetze gute Sitten, zur Erhaltung guter Sitten gute Gesetze erforderlich sind. Dass die ordini mit den leggi und costituzioni nicht deckungsgleich sind, lässt sich in den Discorsi gut fassen.65 Diese Unterscheidung zwischen ordini und leggi ist Schmitts Unterscheidung zwischen der Substanz der Verfassung (die auf den politi‐ schen Grundentscheidungen eines Volkes fußt) und der sich aus ihr ableitenden Ver‐ fassung als System kodifizierter Rechtsnormen ähnlich.66 Man beachte jedoch, dass Machiavelli bei der Entwicklung von Schmitts Verfassungsverständnis keine Rolle spielt. Bestenfalls rückt er aufgrund des von ihm formulierten Primats der Ordnung in den Blick. Kehren wir zurück zur Figur des ordinatore: Machiavelli begreift den Akt der Gründung von buoni ordini im Gemeinwesen als Leistung einer einzigen, in ihren Fähigkeiten überragenden Einzelfigur, in deren Händen für die Dauer des Grün‐ dungsaktes sämtliche politische Macht und Entscheidungsbefugnis gebündelt wird. Machiavelli grenzt sich insofern scharf von jenen, für die Tradition politischen Den‐ kens typischen Vorstellungen vom Gründungsmoment im Gemeinwesen ab, die ei‐ 64 Bezogen auf den sittlichen Zustand des Gemeinwesens macht Machiavelli vom Begriffspaar „materia/forma“ bzw. vom Gedanken der Formgebung („imprimere la forma“) häufig Ge‐ brauch: „Prüft man weiter ihre [des Moses, Cyrus, Romulus, Theseus, S.S.] Taten und ihr Le‐ ben, so sieht man, daß sie vom Glück [fortuna] nichts anderes erhalten hatten als die Gelegen‐ heit [occasione]; diese bot ihnen den Stoff [materia], in den sie die Form [introdurvi…forma] prägen konnten, die ihnen vorschwebte“ (Machiavelli 1999, S. 43 = Principe VI); „Wenn sich also Rom in seiner Sittenverderbnis [corruzione] hätte frei erhalten wollen, so hätte es in glei‐ cher Weise, wie es sich im Laufe seiner Geschichte neue Gesetze [nuove leggi] gegeben hat, auch neue Staatseinrichtungen [nuovi ordini] schaffen sollen; denn einem kranken Körper [suggetto cattivo] muß man andere Verhaltungsmaßregeln und eine andere Lebensweise [altri ordini e modi di vivere] vorschreiben als einem gesunden, und nicht jede Form [forma] taugt für jeden gleichwie gearteten Stoff [materia]“ (Machiavelli 1977, S. 66 = Discorsi I/18); vgl. ebd., S. 313 = III/8. 65 „Wie nämlich zur Erhaltung guter Sitten [costumi] Gesetze [leggi] nötig sind, so sind auch zur Beachtung der Gesetze gute Sitten erforderlich. Zudem sind Einrichtungen [ordini] und Geset‐ ze [leggi], die bei der Gründung eines Staatswesens, als die Menschen noch gut waren, ge‐ schaffen wurden, später, wenn die Menschen schlecht geworden sind, nicht mehr passend. Und wenn sich auch die Gesetze [leggi] je nach den Ereignissen in einem Staat ändern, so wandeln sich doch seine Einrichtungen [ordini] nie oder nur selten. Deshalb genügen neue Gesetze [leg‐ gi] nicht, weil sie durch die Staatseinrichtungen [ordini], die sich nicht ändern, ihre Wirkung verlieren“ (ebd., S. 64 = I/18); vgl. oben das Zitat aus den Discorsi in Anm. 64. 66 Norbert Campagna definiert Schmitts Verfassungsverständnis folgendermaßen: „Die Verfas‐ sung ist hier kein System von rechtlichen Normen, mittels derer man eine schon existierende Macht beschränken will. Sie ist vielmehr als das zu verstehen, was ein kollektives Subjekt als solches konstituiert. Sie ist also Form- und nicht Beschränkungsprinzip. Sie existiert im Modus des konkreten Seins und nicht in demjenigen des abstrakten Sollens“ (Campagna 2004, S. 291). Ordnung als existentielle Grundlage der Verfassung(sordnung) werde verstanden als „Homogenität, als Übereinstimmung aller bezüglich der fundamentalen Entscheidung hinsicht‐ lich des politischen Seins der Gemeinschaft“ (ebd.).

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nerseits die religiös-göttliche Inspiration und Legitimation der Ordnung akzentuie‐ ren oder aber die Gründung als Werk eines Bürgerkollektivs oder gar als Leistung mehrerer Generationen und Menschengeschlechter ansehen (etwa in Cicero, De re‐ publica, Buch II): „Man muß es wohl als eine allgemeine Regel [regola generale] annehmen, daß niemals oder nur selten ein Freistaat [republica] oder ein Königreich [regno] von Anfang an eine gute Verfassung [ordinato bene] oder eine ganz neue [al tutto nuova], von den bestehen‐ den Einrichtungen abweichende Form [fuora degli ordini vecchi] erhält, außer es ge‐ schieht durch einen einzelnen Mann [ordinato da uno]. Dieser muß allein die Macht aus‐ üben, und sein Geist muß alle Einrichtungen des Staates bestimmen. Deshalb muß ein weiser Gesetzgeber [prudente ordinatore], der die Absicht [animo] hat, nicht sich, son‐ dern dem Allgemeinwohl [bene comune], nicht seiner Nachkommenschaft, sondern dem gemeinsamen Vaterland [patria] zu dienen, danach streben, die uneingeschränkte Macht [avere l’autorità, solo] zu bekommen. Nie wird ein kluger Kopf einen Mann wegen einer außergewöhnlichen Handlung [azione straordinaria] tadeln, die er begangen hat um ein Reich zu gründen oder einen Freistaat zu konstituieren. Spricht auch die Tat [fatto] gegen ihn, so entschuldigt ihn doch der Erfolg [effetto]. Und wenn dieser gut ist wie bei Romu‐ lus, so wird er ihn immer entschuldigen. Denn nur wer Gewalt braucht um zu zerstören und nicht, wer sie braucht um aufzubauen, verdient Tadel.“67

Zur Bewerkstelligung dieses Erfordernisses (der Machtbündelung in der Person des Gründers), aber auch zur Überwindung der oben angeschnittenen Neuerungsaversi‐ on, die im Menschen laut Machiavelli tief verankert ist, ist der ordinatore berechtigt, moralisch schändliche und unrechtliche Herrschaftsmittel wie Grausamkeit, Gewalt, Betrug und Gesetzesbruch anzuwenden, was einen Brückenschlag zur Handlungs‐ lehre des Principe ermöglicht (zur Forderung, dass ein neu zur Macht gelangter Fürst die Eigenschaften des Fürsten und des Löwen nachahmen müsse).68 Da der Zweck des ordinatore darin besteht, in einer Situation des Ordnungsverfalls und der sittlichen Degeneration die Grundvoraussetzungen für die Geltung von rechtlichen und moralischen Normen erst zu schaffen, besitzt er eigentlich ein vormoralisches und vorrechtliches Wesen. Er ähnelt hierin Schmitts Diktator, dessen Aufgabe es ist, einen Zustand der Ordnungssicherung im Staat herbeizuführen, auf dessen Grundla‐ ge der rechtlichen Norm ohne Gefahr zur Geltung verholfen werden kann, sich „Normalität“ einstellen kann.69 Im Unterschied zu Schmitt bemerkt Machiavelli je‐ doch durchaus den Widerspruch zwischen dem Erfordernis uneingeschränkter Macht 67 Machiavelli 1977, S. 36 f. = Discorsi I/9. 68 Zur „tyrannischen“ Qualität des Handelns eines Gründers s. das Zitat aus Discorsi I/25 oben. In starkem Widerspruch zur traditionellen Wahrnehmung des Tyrannen als allerschlechtesten Menschen spricht Machiavelli an anderer Stelle vom „tiranno virtuoso“ (s. Machiavelli 1977, S. 169 = Discorsi II/2). 69 „Sowohl bei der souveränen wie bei der kommissarischen Diktatur gehört die Vorstellung ei‐ nes durch die Tätigkeit des Diktators herbeizuführenden Zustandes zum Begriff. Ihre rechtli‐ che Natur liegt darin, daß wegen eines zu erreichenden Zweckes rechtliche Schranken und Hemmungen, die nach der Sachlage ein sachwidriges Hindernis für die Erreichung des Zwe‐

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des Ordnungsstifters und seiner negativen Anthropologie. Dass eine Herrschaftsper‐ son moralisch und rechtlich verwerfliche Mittel für uneigennützige und gemein‐ wohlförderliche Zwecke wie die Schaffung von buoni ordini einsetzt, erscheint Ma‐ chiavelli unwahrscheinlich.70 3. Der ordinatore wird an der Qualität seines Werkes gemessen, daran, ob sich die von ihm geschaffene Ordnung im Fluss der Zeit und angesichts der Korruptionsan‐ fälligkeit des Gemeinwesens und seiner Bürger widerständig zeigen wird. Für die Legitimität des ordinatore ebenfalls essentiell ist, dass er nach Vollendung seines Werks und spätestens mit seinem Ableben seine Herrschaftsposition aufgibt und auf eine dynastische Nachfolge verzichtet.71 Machiavelli mag hier von Plutarchs Biogra‐ phie des Lykurg beeinflusst sein, der berichtet, dass der spartanische Verfassungsge‐ ber nach Vollendung seines Werkes zu sterben beschloss und bis zu seinem Tod jeg‐ liche Nahrung verweigerte. In dieser Forderung, die von Machiavellis Zeitgenossen und Discorsi-Kommentator Francesco Guicciardini als restlos utopisch gebrand‐ markt wurde, mag man bereits die Unterscheidung von pouvoir constitué und pou‐ voir constitutive angelegt sehen, die auch für Schmitts Begriff der Diktatur eine zen‐ trale Bedeutung besitzt. Die Angewiesenheit des ordinatore auf die Zustimmung des Volkes, die an die (implizite) demokratische Zustimmungsbedürftigkeit des souverä‐ nen Diktators bei Schmitt erinnert, tritt am deutlichsten in Discorsi I/10 hervor: Ma‐ chiavelli stellt den Herrscher in diesem Kapitel vor die Wahl. Erweist er sich als Gründer und förderlicher Gestalter des Staates, egal ob es sich um eine republica oder einen regno handelt, warten Akzeptanz und Stabilität in der Gegenwart sowie ewiger posthumer Ruhm auf ihn. Tritt er hingegen als bloßer Gewaltherrscher und

ckes bedeuten, in concreto entfallen“ (Schmitt 2006, S. 132); „Richtet sich die Rechtsnorm an alle Rechtsgenossen, so richtet sich die Rechtsverwirklichungsnorm in erster Linie an die Inha‐ ber der politischen Macht. Wer über die politische Macht verfügt, muß die Bedingungen schaf‐ fen, unter denen die Rechtsgenossen sich an die Rechtsnorm halten können. Sie müssen, an‐ ders ausgedrückt, die Normalität (wieder)herstellen, als jene Situation, in welcher die Norm – die Rechtsnorm – ohne Gefahr beachtet werden kann“ (Campagna 2004, S. 21). 70 „Da nun einerseits die Reorganisation der Verfassung [riordinare una città al vivere politico] einen ausgezeichneten Mann [uomo buono] voraussetzt und andererseits die gewaltsame Er‐ oberung [per violenza] der Macht in einem Gemeinwesen einen schlechten Charakter [uomo cattivo] erfordert, so wird äußerst selten der Fall eintreten, daß ein rechtschaffener Mann mit schlechten Mitteln [uno buono per vie cattive] die Macht erobert, um einen guten Zweck damit zu verfolgen, oder daß ein schlechter Mensch [uno reo], wenn er zur unumschränkten Macht im Staat gekommen ist, zum allgemeinen Besten handelt und die Absicht hat, die Macht gut anzuwenden, die er mit verwerflichen Mitteln erobert hat“ (Machiavelli 1977, S. 67 = Discorsi I/18). 71 Machiavelli 1977, S. 36 = Discorsi I/9. Ist die Stiftung von Ordnung die Sache einer Einzelfi‐ gur, so betrachtet Machiavelli andererseits die Erhaltung der neugegründeten Ordnung als Auf‐ gabe eines Bürgerkollektivs, s. ebd., S. 152 = Discorsi I/58. Auch Rousseaus législateur – in den Ausführungen Rousseaus zum législateur ist die Lektüre Machiavellis beim Genfer Philo‐ sophen besonders deutlich fassbar – findet keinen Eingang in die von ihm gestiftete Verfas‐ sungsordnung, s. Rousseau 1977, S. 44, Contrat Social II/7 und Kersting 2004.

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Verschlechterer der politischen Ordnung in Erscheinung, winken Unsicherheit und Lebensgefahr im Hier und Jetzt sowie ewige Schande.72 Mit seinem Verständnis von Ordnung und ihrer Begründung durch die virtù, aber auch durch die politische Macht eines Ordnungsstifters, dessen Werk sich am popolo orientiert und der Beurteilung des popolo unterliegt, scheint Machiavelli für die Ent‐ stehung der souveränen Diktatur eine ähnliche Bedeutung zu besitzen wie Rousseau, die Schmitt Machiavelli jedoch nicht zugesteht. Wie Schmitt bemerkt, ist Rousseaus Beitrag nicht so sehr in seinem Kapitel zur Diktatur aus dem Contrat Social (IV/6) zu suchen, dort finde man vor allem traditionalistische republikanische Rekapitula‐ tionen zur alten Diktatur, sondern in einigen systematischen Innovationen seiner Staatstheorie: Etwa in der Auffassung, dass die Souveränität des Staates ihren Sitz in der volonté générale habe oder etwa mit der Annahme einer diktatorischen Gewalt, die die tugendhaften/aufgeklärten Volkssubjekte über die unaufgeklärten Elemente im Volk ausüben („Zwang zur Freiheit“).73 Auch Schmitts Ausführungen zum légis‐ lateur sind überaus aufschlussreich. Der ohne jegliche Macht und Entscheidungsbe‐ fugnis und allein mit den Mitteln der religiösen Persuasion agierende Gesetzgeber Rousseaus bilde zwar in einer Hinsicht die Antithese zum Diktator – wir haben ge‐ sehen, dass sich dies bei Machiavellis Ordnungsstiftern anders verhält, die in ihren Händen sämtliche Macht- und Entscheidungsbefugnisse bündeln. Obwohl Rousse‐ aus machtloser Gesetzgeber sich antithetisch zur Diktatur verhalte, verweise er aber dennoch auf die souveräne Diktatur als „pouvoir constituant“ und besitze eine wich‐ tige Rolle für die Entwicklung des Begriffs der Diktatur.74 Den in diesem Zusam‐ menhang erhellenden Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Machiavellis ordinatore und Rousseaus législateur ist Schmitt nicht nachgegangen.

72 Machiavelli 1977, S. 39-43. 73 Schmitt 2006, S. 114-123. „Stellt sich heraus, daß die Mehrheit der Korruption verfallen ist, so kann die tugendhafte Minorität alle Gewaltmittel anwenden, um der vertu zum Siege zu ver‐ helfen“ (ebd., S. 121). 74 „Der Legislator ist für Rousseau kein Kommissar. Nach dem Inhalt seiner Aufgabe ist er das‐ selbe wie der für das 18. Jahrhundert typische Gesetzgeber, ein weiser und erhabener Mensch, dessen „génie“ die Maschine des Staates montiert und in Gang bringt […] Der Inhalt der Tätig‐ keit des Legislators ist Recht, aber ohne rechtliche Macht, machtloses Recht; die Diktatur ist Allmacht ohne Gesetz, rechtlose Macht. Daß Rousseau sich dieser Antithese nicht bewußt war, macht sie nicht weniger bedeutungsvoll. […] Der Legislator ist nichts als noch nicht konstitu‐ iertes Recht, der Diktator nichts als konstituierte Macht. Sobald sich eine Verbindung einstellt, die es ermöglicht, dem Legislator die Macht des Diktators zu geben, einen diktatorischen Le‐ gislator und einen verfassunggebenden Diktator zu konstruieren, ist aus der kommissarischen die souveräne Diktatur geworden“ (ebd., S. 126 f.).

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Schlussbetrachtung Es wäre verfehlt, Machiavellis Einfluss auf die Schmittsche Lehre von der Diktatur ebenso wie Schmitts Verwendung Machiavellis bei der Entwicklung seiner souverä‐ nitäts- und staatstheoretischen Positionen eine allzu große Bedeutung beizumessen. Schmitts Begegnungen mit Machiavelli sind flüchtig.75 Die Machiavelli-Lektüre Schmitts ist zudem Principe-lastig, auch wenn er die Discorsi relativ gut kannte, wie bereits seine Rekonstruktion von Machiavellis Verwendung des Begriffs „Diktatur“ beweist. Eher als um eine systematische Auseinandersetzung, handelt es sich bei den ausführlicheren Äußerungen Schmitts zu Machiavelli um eine Spiegelung Schmitts in Machiavelli, die einer selbstrechtfertigenden Absicht dient. Die Beschäftigung mit dem Florentiner in Die Diktatur ist allerdings hiervon auszunehmen. Schmitt möchte sich als der missverstandene Machiavelli der Gegenwart verstanden wissen. Auch dort, wo Schmitt insistiert, dass Machiavelli kein Machiavellist war, sondern ein Realist, der – wie Schmitt selbst – auf der Grundlage einer negativen Einschät‐ zung der menschlichen Natur das Wesen des Politischen erkannte, so möchte er da‐ mit auch den Vorwurf des „Machiavellismus“ abwehren, der im Ersten Weltkrieg seitens der westlichen Alliierten Deutschland gemacht wurde.76 Diese propagandisti‐ sche Semantik aus dem Krieg hallt allerdings auf ähnliche Weise auch in Gerhard Ritters Kontrastierung von Morus und Machiavelli, von insularem (englischem) Wohlfahrtsstaat und kontinentalem/machiavellistischen (deutschem) Machtstaat nach. Im Vergleich dazu spielen viele Äußerungen Schmitts zu Hobbes zwar auch eine ähnliche selbstapologetische Rolle, allerdings ist der englische Philosoph da‐ rüber hinaus der wichtigste systematische Referenzdenker der Frühen Neuzeit für Schmitt. Es können drei Dimensionen der Machiavelli-Deutung Schmitts unterschie‐ den werden: 1. Die Deutung Machiavellis als Techniker der Macht (v.a. in Die Dik‐ tatur von 1921), 2. die Deutung Machiavellis als Denker des Politischen, dem vor allem in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht – nicht so sehr durch sein Werk – Be‐ deutung zukomme, 3. das Bild vom menschlichen-missverstandenen Machiavel‐ li=Schmitt (v.a. in Schmitts kurzer Schrift zu Machiavelli von 1927 und in späteren Stellungnahmen zum Florentiner).77

75 So betont auch Campagna, dass sich Schmitt nie wirklich systematisch mit Machiavelli befasst habe, Campagna 2004, S. 12, vgl. Galli 2013 und Mühlhans 2018, S. 228-234. 76 „Wir erinnern uns der Weltpropaganda gegen den Macchiavellismus der Deutschen. Wer nach solchen Erfahrungen heute den Principe liest, hat den Eindruck, einen ruhigen und verständi‐ gen Menschen zu hören, und fühlt, daß sich das Politische, das nun einmal ein unausrottbarer Teil der menschlichen Natur ist, bei Macchiavelli von selbst versteht und noch nicht zum Die‐ ner anonymer und unsichtbarer Mächte geworden ist“ (Schmitt 1995 b, S. 104 f.). Schmitt sieht sich selbst als Verteidiger des Politischen gegenüber den entpolitisierenden Kräften der Moder‐ ne (den im vorliegenden Zitat angesprochenen „anonymen und unsichtbaren Mächten“). 77 Diese Trias beruht auf Galli 2013, S. 134.

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Es lässt sich fragen, welcher Nutzen aus der Erkenntnis einer verpassten Chance für eine Begegnung Schmitts mit Machiavellis Verständnis von Ordnung und des Anfangsmoments staatlicher Ordnungsbegründung zu ziehen ist. Schmitt erkennt zu Recht, dass Machiavelli nie Verfassungstheoretiker und vielleicht nicht einmal Staatsdenker im engeren Sinne war.78 Machiavellis Bedeutung für das moderne Ver‐ fassungsdenken auf unangemessene und anachronistische Weise zu übertreiben, ist zwar nicht zweckdienlich. Aus den vorangegangenen Überlegungen ergibt sich aber dennoch der Befund, dass Schmitts Machiavellirezeption in dieser Hinsicht selektiv und reduktionistisch ist. Schmitt hätte angesichts seiner Fragestellungen aus seinem Material, aus den Werken Machiavellis, mehr machen können. Freilich ist Selektion und Reduktion in Rezeptionsvorgängen stets im Spiel. Schmitt betont bei Machia‐ velli den Techniker der Macht, den Realisten und die tragische biographische und rezeptionsgeschichtliche Gestalt. Seinen Republikanismus nimmt er – wenn auch am Rande – zur Kenntnis. Dies ist insofern von Belang, als die Schmitt-Forschung neu‐ erdings über die Möglichkeiten nachdenkt, Schmitt (und vor allem einen Text wie Der Begriff des Politischen) dem Republikanismus zuzuordnen.79 Um nur zwei Bei‐ spiele zu nennen: Die Bestimmung des Politischen über die Polarität von Freund und Feind und als „äußersten Intensitätsgrad“ eines Gegensatzes zwischen politischen Einheiten lässt sich mit dem neorepublikanischen Pathos der politischen Identität des Bürgers verbinden. Die Identifikation des Bürgers mit dem Gemeinwesen und seine Aufopferungsbereitschaft werden der atomisierenden Auswirkung der indivi‐ dualistischen Perspektive liberalen Denkens entgegengesetzt.80 Auch Schmitts Kri‐ tik an der liberalen Neutralisierung des Politischen in der Polarität von Ethik und Ökonomie (den „zwei heterogenen Sphären, […] von Ethik und Wirtschaft, Geist und Geschäft, Bildung und Besitz“81) und seine Prognosen hinsichtlich einer Verein‐ nahmung des Politischen durch wirtschaftliche Interessen klingen aus der heutigen Perspektive auf die Politik überaus aktuell und reizvoll. Man sollte allerdings nicht übersehen, dass Schmitt diese Missstände aus der Perspektive seines autoritären, an‐ tiliberalen und existenzialistischen Staats- und Ordnungsdenkens anprangert, wohin‐ gegen Machiavellis Ordnungsdenken unter den Primat der republikanischen Freiheit gestellt wird. Machiavelli und nicht Schmitt kommt deshalb als Referenzpunkt neo‐ republikanischen Denkens in Betracht, das dem liberalen, individualistischen Frei‐ heitsverständnis korrektiv zur Seite gestellt werden kann und nicht dessen Stelle ein‐ nehmen oder gar den Primat der Freiheit für die Politik in Frage stellen will.

78 79 80 81

Vgl. die Beiträge in Knoll/Saracino 2010. Dazu Mehring 2011, S. 146ff. Dazu Viroli 1995 und Portinaro 2011. Schmitt 2002, S. 69.

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Norbert Campagna Der absolute Staat und die Ausnahme bei Jean Bodin

Einleitung Mit seinem zuerst 1576 erschienenen Werk Les six livres de la république hat Jean Bodin einen grundlegenden Beitrag zur Herausbildung des modernen Souveränitäts‐ begriffs geliefert.1 Auch wenn Bodin noch nicht den Rahmen eines die göttlichen und natürlichen Gesetze als verbindliche Grenze der politischen Macht anerkennen‐ den Staates verlässt,2 so entbindet er doch größtenteils den Staat vom Respekt der allein durch menschliches Recht begründeten Freiheiten, Privilegien oder Rechte, gleichgültig ob es sich dabei um positive Gesetze oder um Gewohnheitsrecht han‐ delt. Wie Carl Schmitt es, Bodin kommentierend, in seiner Verfassungslehre formu‐ liert: „Der Souverän kann, wenn Zeit, Ort und individuelle Besonderheiten es erfordern, Ge‐ setze ändern und durchbrechen. Darin äußert sich eben seine Souveränität. Immer sind es Vorstellungen wie: Annullierung, Kassierung, Durchbrechung, Dispense und Aufhebung bestehender Gesetze und Rechte, von denen Bodinus in dem Kapitel über die Souveräni‐ tät (Kap. 8, Buch I) spricht“.3

Wir finden hier den Gedanken eines primär für das Allgemeinwohl zuständigen Staates, der jede bestehende menschliche Norm – auch die von ihm selbst gesetzte – und jedes bestehende Privileg vor dem Hintergrund dieser Zuständigkeit beurteilen muss. Dieser Staat muss nicht unbedingt leugnen, dass bestimmte Städte oder Stän‐ de Privilegien haben, aber die bloße Existenz dieser Privilegien oder ihr Alter rei‐ chen noch nicht aus, um ihnen Legitimität und damit auch Unantastbarkeit zu verlei‐ hen. Sobald die Ausübung eines Vorrechts dem Allgemeinwohl im Wege steht, darf diese Ausübung eingeschränkt werden, und wenn es erforderlich ist, darf auch das Vorrecht als solches abgeschafft werden, wie altehrwürdig auch seine Abstammung sein mag und wie sehr seine unmittelbaren Nutznießer an ihm hängen. Hier gilt das aus dem Römischen Recht stammende Gesetz: Salus populi suprema lex esto. Alle bestehenden menschlichen Institutionen – und hierzu zählen auch positive Gesetze – sollten prinzipiell einzig und allein einem Zweck dienen, nämlich der Förderung des Allgemeinwohls, wobei dieser Dienst direkter oder indirekter Natur sein kann. Eine 1 Erinnert sei an die Religionskriege die den historischen Kontext des Werkes bilden. 2 Zu diesen vormodernen Elementen im Denken Bodins, siehe Goyard-Fabre 1997, S. 97ff. 3 Schmitt 1993, S. 49.

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indirekte Förderung liegt etwa dann vor, wenn eine bestehende Institution als Hin‐ dernis für die Ausübung einer potentiell gemeinwohlschädlichen Macht angesehen werden kann. Indem die Institution die Macht bremst, trägt sie indirekt zum Schutz des Allgemeinwohls bei. Im 18. Jahrhundert wird Montesquieu behaupten, dass die politische Freiheit nur dann auf Dauer gewährleistet werden kann, wenn die Macht die Macht hindert oder bremst.4 Eine freie Verfassung wird dementsprechend das institutionelle Gefüge des Staates so gestalten, dass es keiner Instanz innerhalb dieses Gefüges möglich ist zu handeln, ohne die Zustimmung einer anderen Instanz erhalten zu haben. Wie Mon‐ tesquieu es selbst erwähnt, könnte man geneigt sein zu glauben, dass in einem sol‐ chen System alles stillsteht, da die unterschiedlichen Instanzen sich gegenseitig läh‐ men. Der Autor meint dann allerdings weiter: „Aber weil sie, wegen des notwendi‐ gen Laufs der Dinge, dazu gezwungen sind sich zu bewegen, werden sie gezwungen sein, zusammen in dieselbe Richtung zu gehen“.5 Wir können uns hier nicht mit der Frage befassen, was die Natur dieses Zwanges ist. Auf jeden Fall kann er nicht im Sinne eines naturgesetzlichen Zwanges verstan‐ den werden, da Montesquieu selbst zugibt, dass die Menschen einen freien Willen haben und dass sie somit nicht immer den Gesetzen folgen, die ihrer Natur entspre‐ chen.6 Und ein bloßer Blick auf die politische Geschichte vieler Staaten lehrt uns, dass überall dort, wo eine Zusammenarbeit verschiedener Stände oder ihre Zustim‐ mung verlangt war, es mehr als einmal zu einer unüberwindlichen Konfrontation kam. In vielen Fällen handelte es sich um finanzielle Fragen: Die Stände oder Städte waren nicht bereit, dem König jene Summen zu gewähren, die er verlangte, und von denen er behauptete – zu Recht oder Unrecht, sei einmal dahin gestellt –, sie seien notwendig für die Förderung des Allgemeinwohls. In einer solchen Situation gab es für den König zwei Möglichkeiten. Entweder er gab nach, oder er setzte sich über die anderen Instanzen hinweg. Wo er letztere Entscheidung traf, entbrach neben dem oft militärischen auch ein rhetorischer Konflikt: Dem König wurde vorgeworfen, das Allgemeinwohl mit Füßen zu treten und sich in einen Tyrannen zu verwandeln, und der König warf seinerseits seinen Gegnern vor, das Allgemeinwohl auf dem Altar ihrer Privilegien, also ihres Partikularwohls, zu opfern. Im 16. Jahrhundert bildet sich der Gedanke eines sozusagen nationalen Gemein‐ wohls heraus, das über dem Partikularwohl der Stände und Städte steht und in des‐ sen Namen Letztere gegebenenfalls missachtet werden können.7 Mit dieser Heraus‐ 4 5 6 7

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Montesquieu 1979, S. 293. Montesquieu 1979, S. 302. Montesquieu 1979, S. 124. Darin unterscheidet er sich wesentlich vom mittelalterlichen Staat, von dem es in der zuerst 1911 erschienenen klassischen Studie von Fritz Kern heißt: „Der mittelalterliche Staat ist als bloße Rechtsbewahranstalt nicht befugt, in die Privatrechte zum Nutzen der Allgemeinheit ein‐ zugreifen“ (Kern 1992, S. 73).

bildung findet auch eine Entwicklung auf dem Gebiet der Ausnahme statt. Ein den Gedanken des Allgemeinwohls behauptender Staat kann keine ungerechten Ausnah‐ men zulassen, da diese dem Allgemeinwohl widersprechen oder es sogar gefährden können. Wie lassen sich etwa Steuerprivilegien der Adligen rechtfertigen, wenn die anderen Stände unter einer hohen Steuerlast leiden? Das Zeitalter, in dem sich die mächtigen Stände oder Städte Vorrechte und damit Ausnahmen erkämpfen konnten, ist vorbei, und es beginnt ein Zeitalter, in dem sich der sich als Vertreter eines die Partikularinteressen transzendierenden Allgemeininteresses bezeichnende König das Recht nimmt, sich von den die Ausnahmen begründenden Gesetze und Gewohnhei‐ ten auszunehmen. Der absolute Staat wäre somit ein die Ausnahmen mit Hilfe der Ausnahme bekämpfender Staat. Oder anders formuliert: Der absolute Staat ist nicht an die Ausnahmeregelungen gebunden und kann sich somit von diesen Regelungen ausnehmen. Der absolute König musste sich von den Gesetzen ausnehmen, weil die‐ se Gesetze selbst Ausnahmegesetze waren und er die Gesamtheit repräsentierte. Fortan werden die Gesetze des Königs keine privilegia mehr sein, sondern omnile‐ gia.8 Man könnte auch sagen, dass fortan das Recht den Vorrang vor den Rechten haben sollte.9 In diesem Beitrag werden zunächst zwei Extrempositionen vorgestellt, von denen Bodin sich explizit abgrenzt, und zwar einerseits die Position derjenigen, die den Fürsten von jeglichem Gesetz ausnehmen wollen, und andererseits die Position der‐ jenigen, die für eine absolute Freiheit des Volkes plädieren. Im zweiten Teil werden wir ganz kurz den Kern der Bodinschen Souveränitätslehre vorstellen, wobei auch die normativen Grenzen der absoluten Souveränität aufgezeigt werden. Im dritten Teil kommt die Frage der Privilegien zur Diskussion, bevor dann im vierten und ab‐ schließenden Teil, auch wieder ganz kurz, die wichtigsten Rechtfertigungen für Aus‐ nahmeregelungen, erwähnt werden.

1. Tyrannis und Anarchie: Zwei zu bekämpfende Formen der Ausnahme Im Vorwort seines Hauptwerkes weist Bodin auf den pädagogischen Zweck des Bu‐ ches hin, was u.a. auch erklärt, wieso das Buch auf Französisch verfasst wurde. Die im Staate entstehende Unordnung ist laut Bodin nicht so sehr auf die Bosheit als auf

8 Wo bisher galt, dass das vom König erlassene und – zumindest theoretisch – auf das Allgemein‐ wohl zielende Gesetz kein Privileg außer Kraft setzen durfte, wird fortan gelten, dass die Privi‐ legien vor den auf das Allgemeinwohl zielenden Gesetzen weichen müssen. Wo der König drin‐ gend Geld braucht, soll etwa das Steuerprivileg einer Ortschaft oder eines Standes keinen Be‐ stand mehr haben. 9 Wobei allerdings auch gesagt werden muss, dass es im 16. Jahrhundert noch nicht um Individu‐ alrechte geht, sondern um Kollektivrechte, also von Rechten, die einer bestimmten sozialen Gruppe – einem Stand oder einer Staat – zukommen.

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die Unwissenheit der Menschen zurückzuführen. Dementsprechend gilt es, diese un‐ wissenden Menschen aufzuklären,10 wobei zwischen zwei Kategorien von Unwis‐ senden zu unterscheiden ist. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die glauben, dem Fürsten sei schlichtweg alles erlaubt. Für sie besteht die Staatskunst oder -wissenschaft darin, dem Fürsten die Schlauheit des Fuchses beizubringen. Bodin erwähnt in diesem Zusammenhang Machiavelli, dem er allerdings nicht bloß Unwissenheit, sondern Unglauben und Ungerechtigkeit vorwirft. Es scheint so zu sein, als ob Bodin zwar bereit ist, Ma‐ chiavelli als einen bösen Menschen zu betrachten, nicht aber diejenigen, die sich von Machiavellis Lehre – oder was man dafür hielt – überzeugen lassen. Wenn man die‐ sen Menschen zeigt, dass Machiavelli Unrecht hat, dann werden sie sich von seinen Lehren entfernen und die Prinzipien der wahren Staatswissenschaft, jener Fürstin al‐ ler Wissenschaften, akzeptieren. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die glauben, dem Volk sei schlichtweg alles erlaubt. Für sie besitzt das Volk eine absolute Freiheit in dem Sinne, dass es keiner ihm übergeordneten politischen Macht unterworfen ist. Wo es einen König hat, der es regiert, darf dieser keine Entscheidungen ohne die Zustimmung des Vol‐ kes oder seiner Vertreter treffen. In den Augen Bodins sind die Verteidiger dieser zweiten Position noch gefährlicher als die der ersten, denn sie sind bereit, das Ge‐ meinwesen in das Chaos zu stürzen. Bei diesen beiden entgegengesetzten Positionen geht es jedesmal um eine Aus‐ nahme bzw. um ein Ausnehmen. Für die Verteidiger der ersten Position soll der Fürst insofern eine Ausnahme unter den Menschen bilden, als er im Gegensatz zu allen anderen Menschen vom Einhalten der natürlichen und göttlichen Gesetze aus‐ genommen ist. Gerade darin sehen sie das Kennzeichen der eigentlichen Politik. So hat etwa Machiavelli in den Discorsi behauptet, dass die für die Freiheit des Ge‐ meinwesens kämpfenden Menschen keine Rücksicht auf irgendwelche normativen Vorgaben nehmen sollten, mögen diese ihren Ursprung in der Religion, in der Moral oder in einer bestimmten Auffassung des anständigen Lebens haben.11 Der für politi‐ sche Zwecke kämpfende Mensch darf sich aller zum Erfolg führenden Mittel bedie‐ nen, mag er auch dabei sein ewiges Seelenheil, seine moralische Integrität oder sei‐ nen guten Ruf opfern. Und im Weltbild Machiavellis finden wir keine notwendige Übereinstimmung zwischen den moralisch-religiös zulässigen und den wirksamen

10 Sehr häufig wird gesagt, dass der absolute Staat der Frühen Neuzeit nur die Angst der Unterta‐ nen vor ihm als Gehorsamsmotiv kennt. Dabei wird übersehen, dass Bodin, wie später auch Hobbes, großen Wert auf die Erziehung der Menschen legt. 11 „Wo man über das Heil der Heimat berät, darf Platz sein weder für das Gerechte noch das Un‐ gerechte, noch für Mitleid, noch für das Grausame, noch für das Lobenswerte, noch für das Schändliche; sondern, nachdem man alle anderen Gesichtspunkte hintangestellt hat, sollte man jenen Weg gehen, der ihr das Leben rettet und sie in Freiheit bewahrt“ (Machiavelli 1992, S. 249).

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Mitteln, denn bei Machiavelli wird das Weltgeschehen nicht durch einen wohlwol‐ lenden und gerechten Gott gelenkt, sondern durch die launische Göttin Fortuna. Bodin zu Folge sind die Theoretiker der absolut ungebundenen Macht noch ge‐ fährlicher als der absolute Fürst selbst, denn „sie zeigen dem Löwen seine Krallen und bewaffnen die Fürsten mit dem Schleier der Gerechtigkeit“.12 Sie geben, so könnte man sagen, dem Fürsten ein gutes Gewissen, indem sie seine gegen das gött‐ liche und natürliche Recht verstoßenden Handlungen als Pflichten des Souveräns ge‐ genüber dem Vaterland darstellen. Auch die Verteidiger der zweiten Position können als Menschen betrachtet wer‐ den, die sich als Ausnahmen betrachten.13 In seiner Diskussion eines Volksstaates, d.h. eines Staates, in dem das Volk die Souveränität besitzt, schreibt Bodin: „[D]ie eigentliche Natur des Volkes besteht darin, volle Freiheit zu besitzen, ohne Brem‐ se und ohne Halt: und dass alle gleich seien, sowohl was die Güter, die Ehren, die Stra‐ fen, die Belohnungen […]“.14

Wenn man, wie Bodin und die meisten Denker seiner Zeit, von einer hierarchisch organisierten Weltordnung ausgeht, die als normativ bindend für die Menschen an‐ gesehen wird, dann kann die von den Anhängern der radikalen Demokratie verlangte Freiheit und Gleichheit nur als Ausnahme –, als ein sich Ausnehmen – von dieser Weltordnung betrachtet werden.15

2. Das Wesen und die Grenzen der Souveränität bei Bodin Die Souveränitätslehre ist sicherlich das Kernstück von Bodins Six livres de la répu‐ blique. Unter diesem Begriff der Republik versteht der Autor einen, um das franzö‐ sische Original zu zitieren, „droit gouvernement de plusieurs mesnages, et de ce qui leur est commun, avec puissance souveraine“.16 Eine Republik, also ein politisches Gemeinwesen, kann es zunächst einmal nur dort geben, wo sich mehrere Haushalte zu einer größeren Einheit zusammengeschlossen haben. Bodin zu Folge müssen sich zumindest drei Haushalte zusammenschließen, damit man überhaupt von einem po‐

12 Bodin 1986, I, S. 222. 13 Man könnte in diesem Kontext auch die Anabaptisten, wie etwa Hans Denck, erwähnen, die sich nur durch das göttliche Gesetz der Liebe, nicht aber durch das staatliche Gesetz gebunden betrachteten. Siehe hierzu Baylor 1998. 14 Bodin 1986, II, S. 123. 15 Im sechsten Buch vergleicht Bodin die Vor- und Nachteile eines Volksstaates. Was die Gleich‐ heit der Menschen betrifft, fällt auf, dass sie auf beiden Seiten auftaucht. Die Befürworter der Demokratie behaupten, die Natur habe die Menschen gleich geschaffen, während ihre Gegner behaupten, eine solche Gleichheit bestehe nicht von Natur aus (Bodin 1986, VI, S. 146 f.). 16 Bodin 1986, I, S. 27.

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litischen Gemeinwesen sprechen kann.17 Bei jedem dieser Haushalte lassen sich ei‐ nerseits Interessen identifizieren, die er mit den anderen Haushalten teilt, und ande‐ rerseits Interessen, die ihm eigen sind. Diese Gemeinsamkeit der Interessen muss eine materielle Basis haben, wie etwa ein gemeinsames Territorium, eine gemeinsa‐ me Geldreserve usw. Damit dieser Zusammenschluss Dauer hat, und damit die ge‐ meinsamen Interessen im Sinne aller befriedigt werden können, bedarf es einer Len‐ kung, und diese Lenkung muss zwei Bedingungen erfüllen, nämlich die Bedingung der Gerechtigkeit und die Bedingung der Souveränität. Die Souveränität definiert Bodin als „absolute und ewige Macht einer Republik“, und behauptet, dass vor ihm noch niemand eine Definition der Souveränität gegeben hat.18 Bodins Definition behält zwei Charakteristiken als wesentlich zurück, wovon die erste das Ausmaß der Macht, und die zweite ihre Dauer betrifft. Was diese letzte betrifft, so stellt Bodin klar, dass von eigentlicher Souveränität nur dort gesprochen werden kann, wo jemand die Macht für einen unbegrenzten Zeitraum besitzt, wo ihm also niemand diesen Besitz streitig machen kann bzw. wo er nicht dazu ver‐ pflichtet ist, die Macht zu einem vorher bestimmten Zeitpunkt wieder abzugeben. Insofern kann Bodin behaupten, dass die Diktatoren in Rom nicht im wahrsten Sinne des Wortes souverän waren, da sie ihre Macht nach einer bestimmten Zeit wieder abtreten mussten. Der Diktator war eigentlich nur ein im Auftrag des souveränen Volks handelnder Kommissar, und die Tatsache, dass er auch nach der Ausübung seines Amtes nicht für Handlungen oder Entscheidungen seiner Amtszeit zur Verant‐ wortung gezogen werden konnte, genügt nicht, um in ihm eine wirklich souveräne Instanz zu sehen.19 Die rechtliche Immunität für Amtshandlungen ist zwar eine not‐ wendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für den souveränen Charakter der Macht. Neben diesem zeitlichen Aspekt erwähnt Bodin noch den absoluten Charakter der souveränen Macht. Im Gegensatz zu anderen Autoren befasst Bodin sich nicht im Detail mit der Frage, welche menschliche Instanz als ursprünglicher Träger der Sou‐ veränität zu betrachten ist, und er lässt auch die Frage beiseite, wie dieser ursprüng‐ liche Träger der souveränen Macht überhaupt in den Besitz dieser Macht gekommen ist. Den Idealfall sollte man sich allerdings so vorstellen, dass die Familienväter, die an der Spitze der Haushalte stehen, zusammenkommen und darüber beraten, wer die 17 Bodin 1986, I, S. 40. In einem vollkommenen Haushalt findet man fünf Kategorien von Perso‐ nen: Den Familienvater, die Kinder, die Sklaven oder Befreiten, die freiwilligen Diener oder Untergebenen und die Ehefrau. Hieraus schließt Bodin, dass man zur Bildung eines politischen Gemeinwesens mindestens 15 Personen braucht (3 Haushalte x 5 Mitglieder). Dabei ist aller‐ dings nicht die Zahl an sich wichtig, denn, so Bodin, ein Familienvater mit 300 Frauen und 600 Kindern ist noch lange nicht Souverän eines politischen Gemeinwesens, sondern ist und bleibt der Souverän eines bloßen Haushalts. Seine Macht ist noch eine politische. 18 Im französischen Original heißt es: „la puissance absoluë et perpetuelle d’une Republique“ (Bodin 1986, I, S. 179). 19 Bodin 1986, I, S. 183. Zur Diktaturfrage, siehe auch Schmitt 1994.

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die Haushalte lenkende Macht innehaben und wie diese Macht funktionieren sollte. Hier sind zwei Fälle möglich. Im ersten Fall verzichten die Familienväter ganz und definitiv auf jede Machtausübung und übertragen die Macht auf eine bestimmte Per‐ son. Diese Person ist in den Augen Bodins ein wirklicher souveräner Fürst, und er muss vom bloßen Stellvertreter20 unterschieden werden, der die souveräne Macht nur ausübt, ohne sie wirklich zu besitzen.21 Entscheidet ein solcher Stellvertreter ul‐ tra vires, dann haben seine Entscheidungen keine bindende Kraft, solange sie nicht durch die Familienväter22 ratifiziert wurden. Verdeutlichen wir diesen Unterschied an einem ganz konkreten Fall, der zugleich auch das Problem der Ausnahme be‐ rührt. Prinzipiell, so Bodin, sollte der Fürst das Privateigentum seiner Untertanen re‐ spektieren, da dieses Privateigentum in die Privatsphäre fällt und die Regierungs‐ macht sich laut Definition bloß über das erstreckt, was den Haushalten gemeinsam ist. Nun kann aber der Fall eintreten, dass das Gemeinwesen nur dadurch bewahrt werden kann, dass der Fürst in das Privateigentum seiner Untertanen eingreift, in‐ dem er etwa ein Gesetz erlässt, dass sie alle ihre metallenen Gegenstände abgeben müssen, damit Kanonen geschmiedet werden können, ohne die der Feind das Ge‐ meinwesen erobern wird.23 In einem solchen Fall müsste ein bloß stellvertretender Fürst zunächst die Erlaubnis der delegierenden Instanz bekommen. Im Gegensatz dazu kann ein absoluter Fürst ohne eine solche Erlaubnis handeln. Dies sollte er al‐ lerdings nur dann tun, wenn eine absolute Notwendigkeit besteht. Für Bodin ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass der absolute Fürst, wie er ihn konzipiert, zwar keines anderen Menschen Untertan ist, dass er aber trotz seiner Machtfülle immer noch ein Untertan Gottes bleibt. Die menschliche Souveränität ist somit in eine sie radikal transzendierende Ordnung eingebettet, und auch wenn der Souverän sich nicht vor seinen Untertanen zu verantworten hat, muss er sein Han‐ deln vor Gott rechtfertigen können. Wie Bodin ausdrücklich betont, erstreckt sich die Souveränität des Monarchen nicht auf die göttlichen und natürlichen Gesetze. Wie jeder andere Mensch auch, ist der Monarch den göttlichen und natürlichen Ge‐ setzen unterworfen. Und nicht nur diesen Gesetzen, wie Bodin es an einer Stelle kurz andeutet: „[W]enn wir behaupten, dass derjenige die souveräne Macht besitzt, der gar keinem Ge‐ setz unterworfen ist, dann wird man niemanden auf Erden finden, der souverän ist: inso‐ fern alle Fürsten der Erde den göttlichen und natürlichen Gesetzen unterworfen sind, und mehreren menschlichen Gesetzen, die allen Völkern gemeinsam sind“24.

20 Bodin spricht von einem „lieutenant“, also wortwörtlich: jemand der den Ort besetzt, und zwar an Stelle desjenigen, der ihn eigentlich besitzt. 21 Bodin 1986, I, S. 185-186. 22 Natürlich nur für den Fall, in dem die Familienväter die delegierende Macht sind. 23 Das Beispiel stammt von mir. 24 Bodin 1986, I, S. 190. An einer anderen Stelle heißt es, es gäbe wenige Fürsten, die in einem absoluten Sinn souverän sind“ (Bodin 1986, I, S. 254). Die meisten Fürsten sind auf die Zu‐

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Als Jurist wird Bodin beim Erwähnen dieser menschlichen Gesetze wahrscheinlich an das klassische ius gentium gedacht haben.25 Dieses ius gentium, wie wir es etwa bei den großen römischen Juristen finden,26 ist nicht im Sinne eines Rechts zu ver‐ stehen, das zwischen den verschiedenen Völkern gilt,27 sondern als ein Recht, das man bei allen – zumindest bei allen zivilisierten – Völkern wiederfindet, und dessen Geltung nicht auf ein menschliches fiat zurückzuführen ist, sondern das sich sozusa‐ gen von selbst überall etabliert hat. Als ein Beispiel für eine Institution des ius genti‐ um kann hier die Sklaverei genannt werden. An und für sich scheint sie dem natürli‐ chen Recht zu widersprechen, da laut dem Neuen Testament alle Menschen von Na‐ tur aus gleich sind. Aber, so die Argumentation, durch den Sündenfall hat sich etwas geändert, und die menschliche Bosheit hat bestimmte Institutionen gerechtfertigt, die unter der Voraussetzung der menschlichen Güte illegitim gewesen wären. Neben den göttlichen und natürlichen Gesetzen und den Normen eines alle Völ‐ ker umfassenden ius gentium, gibt es noch eine vierte Kategorie von Gesetzen, de‐ nen der Souverän unterworfen ist, und zwar den sogenannten Fundamentalgesetzen. Diese Fundamentalgesetze sind von Land zu Land verschieden und bilden sozusa‐ gen das Fundament der jeweiligen souveränen Macht. Ein solches Gesetz ist etwa in der Monarchie das Thronfolgegesetz. Bei diesen Fundamentalgesetzen kann es keine legitime Annullierung, Kassierung, Durchbrechung, keine legitimen Dispense und auch keine legitime Aufhebung geben, um die fünf Akte wieder aufzugreifen, die Carl Schmitt an der eingangs dieses Beitrags zitierten Passage erwähnt. Handelt ein Souverän trotzdem gegen die Fundamentalgesetze, dann enden die rechtlichen Wir‐ kungen seiner Handlung sofort mit seinem Tod.28 An diese vier Arten von Gesetzen ist der Bodinsche Souverän bedingungs- und ausnahmslos gebunden. Was speziell die göttlichen und natürlichen Gesetze betrifft, macht Bodin darauf aufmerksam, dass es erstens niemals einen guten Grund geben kann, sich von ihnen auszunehmen, und dass es zweitens keine menschliche Instanz gibt – und zwar nicht einmal den Papst –, die dazu ermächtigt wäre, den Fürsten vom Respekt dieser Gesetze auszunehmen29.

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stimmung der Stände angewiesen, wie etwa der Kaiser, den Bodin im Kontext der eben er‐ wähnten Stelle anführt. Hierzu auch Schmitt in einem kurzen Text aus dem Jahr 1926: „Die absolute Monarchie war in Wirklichkeit niemals, wenn man so sagen darf, ein absoluter Abso‐ lutismus gewesen“ (Schmitt 1995, S. 98). Zum ius gentium, siehe Bodin 1985, S. 21. Allerdings sind sich nicht alle Juristen einig. Während nämlich Tryphonius, Florentinus und Ulpian einen Unterschied zwischen dem ius gentium und dem ius naturale machen, identifi‐ ziert Gaius sie. Dazu Carlyle und Carlyle 1950, S. 37ff. Zum Völkerrecht im modernen Sinn des Wortes wird das ius gentium erst im 17. Jahrhundert, auch wenn man schon bei Vitoria erste Elemente einer solchen Auffassung finden kann. Zu Vi‐ toria, siehe etwa Campagna 2010. Dazu etwa Spitz 1998, S. 80. Bodin 1986, I, S. 215.

Bodin behauptet dann allerdings auch, dass der Fürst durch die Verträge gebun‐ den ist, die er mit seinen Untertanen schließt, und dass er sich selbst nicht durch sei‐ ne absolute Macht von ihnen ausnehmen darf. Und um diesen Gedanken zu bekräfti‐ gen, hebt Bodin hervor, dass für die Theologen selbst Gott durch seine Versprechen gebunden ist. Den eigentlichen Kern der Bodinschen Souveränitätslehre fasst folgende Behaup‐ tung zusammen: „[D]er wichtigste Aspekt der souveränen Majestät und der absolu‐ ten Macht liegt hauptsächlich darin, den Untertanen im allgemeinen Gesetze zu ge‐ ben, ohne ihre Zustimmung“30. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass der Fürst die Stände anhört,31 sondern nur, dass er auf ihre Zustimmung angewiesen ist, um bin‐ dende Gesetze zu erlassen. Der absolute Fürst kann gültiges Recht auch ohne die Zustimmung der Stände schaffen, und er kann sogar gültiges Recht schaffen, das ge‐ gen die Privilegien der Stände oder sonstiger Körperschaften verstößt.

3. Das Problem der Privilegien Welche Unterscheidungen den modernen Nationalstaat auch sonst noch von seinen Vorgängern unterscheiden mögen, so besteht doch ein wichtiges Unterscheidungs‐ merkmal darin, dass es im modernen Nationalstaat keine unabänderlichen Privilegi‐ en gibt. Man spricht in ihm zwar noch manchmal von erworbenen Rechten, aber prinzipiell stehen auch diese Rechte dem Gesetzgeber zur Disposition, wie alt und ehrwürdig sie auch immer sein mögen.32 Zur Zeit Bodins war der Monarch mit zahlreichen Privilegien konfrontiert, die seinem eigenmächtigen Handeln mehr oder weniger enge Grenzen setzten. Der Ur‐ sprung vieler dieser Privilegien waren meist Entscheidungen seiner Vorgänger. Die Nutznießer der Privilegien waren Provinzen, Städte, Stände oder gegebenenfalls so‐ gar Familien, die es irgendwann in der Vergangenheit geschafft hatten, einem Fürs‐ ten diese Privilegien abzuringen. Ein Beispiel wäre hier die Magna Charta, durch die dem englischen Adel bestimmte Garantien gewährt wurden, etwa in Sachen Be‐ steuerung. In vielen Fällen wurden diese Privilegien durch einen Erlass zugestanden, der sich selbst als „edict perpetuel et irrevocable“, also als ewig und unwiderruflich, be‐ zeichnete, womit ganz klar zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass es keiner Macht auf Erden gegeben war, den betreffenden Erlass und die in ihm enthaltenen

30 Bodin 1986, I, S. 204. 31 Bodin 1986, I, S. 198. 32 Ich sehe hier natürlich von den Menschenrechten ab, zumal diese nicht als erworbene, sondern als natürliche Rechte betrachtet werden.

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Garantien abzuschaffen.33 Auch wenn Bodin sich nicht prinzipiell gegen die Präsenz der eben angeführten Formel in den Erlassen ausspricht, so spricht er ihr doch nur eine eher symbolische Funktion zu. Durch diese Formel wird dem Erlass eine größe‐ re Autorität verliehen, aber von einer wirklichen Unwiderruflichkeit kann keine Re‐ de sein. Es kann in einem wohlgeordneten Staat keine menschlich zugestandenen Rechte geben, die im gesamten Rechtskorpus insofern eine Ausnahme bilden, als kein Fürst sie mehr in Frage stellen darf. Bodin zu Folge sind alle Erlasse prinzipiell widerruflich, und er sieht in dieser Widerruflichkeit sogar eine Staatsregel.34 In sei‐ nen Augen besteht eine große Gefahr darin, den Fürsten durch ein Versprechen an die Einhaltung der Erlasse seiner Vorgänger zu binden. Diejenigen, die ein solches Versprechen von ihm verlangen, „zerstören die souveräne Majestät, die doch heilig sein soll, und setzen sie herab, sie ver‐ wandeln sie in eine Aristokratie oder in eine Demokratie: so kommt es denn auch vor, dass der souveräne Monarch, wenn er sieht, dass man ihm das abnimmt, was ihm zu‐ kommt, und dass man ihn den Gesetzen unterwerfen will, sich selbst am Ende nicht nur von den bürgerlichen Gesetzen dispensiert, sondern auch von den göttlichen und natürli‐ chen Gesetzen, da er alle auf dieselbe Ebene stellt“.35

Prinzipiell gilt, dass der Fürst nicht durch die Erlasse seiner Vorgänger gebunden ist und dass ihm auch kein Versprechen abverlangt werden kann, sich an diese Erlasse zu halten. Ein solches Versprechen, wenn die Stände es dem Fürsten trotzdem abrin‐ gen würden, besäße keine bindende Kraft, denn seine Einhaltung könnte den Fürsten daran hindern, eine Handlung auszuführen, die für die Bewahrung des Gemeinwohls wichtig ist. Und die Bewahrung des Gemeinwohls ist die höchste Pflicht des Fürs‐ ten. Und wenn er sich auch der Bewahrung oder Förderung des Partikularwohls an‐ nimmt, dann tut er dies nur insofern, als das Partikularwohl zum Allgemeinwohl bei‐ trägt. Wie Bodin bemerkt, „die souveränen Fürsten im eigentlichen Sinne des Wortes versprechen nie, die Gesetze ihrer Vorgänger einzuhalten, oder sie sind nicht souve‐ rän“36. Um dem sich in diesem Kontext stellenden Problem zu entgehen, weist Bodin da‐ rauf hin, dass ein Fürst eigentlich keine ewigen und unwiderruflichen Privilegien

33 Bodin 1986, I, S. 212. Ein Beispiel wäre hier die Ley perpetua von Ávila, die zwar nicht in Kraft trat, da Karl V. die Revolte der comunidades niederschlug, deren Zweck es aber war, dem Königshaus bestimmte Garantien abzuringen, die ohne Zustimmung der Cortes nicht widerru‐ fen werden konnten. Dazu Peralta 2010. 34 Bodin 1986, I, S. 211. 35 Bodin 1986, I, S. 209. Bodin bemerkt auch, dass ein Versprechen, die Gesetze einzuhalten, nie von oben nach unten, sondern immer nur von unten nach oben gegeben werden kann (Bodin 1986, I, S. 206). Anders gesagt: In einer absoluten Monarchie kann das Volk dem Fürsten ver‐ sprechen, die Gesetze einzuhalten, nicht aber der Fürst dem Volk. Der Fürst kann nur Gott ein solches Versprechen abgeben. 36 Bodin 1986, I, S. 195.

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vergeben sollte.37 Durch das Zugestehen unwiderruflicher Privilegien grenzt der Fürst nämlich die Macht seiner Nachfolger ein, wozu er aber kein Recht hat. Inso‐ fern darf der Nachfolger den Erlass widerrufen. Allerdings muss man hier zwischen zwei Ebenen unterscheiden, und zwar einerseits der Ebene dessen, was dem Fürsten erlaubt ist, und andererseits der Ebene dessen, was ratsam ist. Im Prinzip sollte der Fürst den status quo bewahren, es sei denn, er hätte einen vernünftigen Grund, eine Ausnahme zu machen bzw. die bestehende Situation abzuschaffen und durch eine neue zu ersetzen. Bodin plädiert keineswegs für eine Politik der tabula rasa, sondern behauptet nur, dass auch erworbene Rechte nicht von einer möglichen Widerrufung ausgenommen sind.

4. Gerechtigkeit und Notwendigkeit Wir hatten im zweiten Teil dieses Beitrags darauf hingewiesen, dass für Bodin meh‐ rere Normen des ius gentium dem Souverän nicht zur Disposition stehen. Um diesen Begriff des ius gentium zu veranschaulichen und ihn vom Begriff des ius naturale abzugrenzen, hatten wir die Institution der Sklaverei als Beispiel genommen. Bodin selbst behandelt diese Institution im ersten Buch der Six livres, wobei er sie verurteilt.38 Er verwirft alle Argumente, die gewöhnlich ins Feld geführt werden, um sie zu legitimieren. In einem späteren Kapitel des ersten Buches kommt er noch ein‐ mal auf sie zurück und schreibt dort: „[W] enn das Recht der Völker unbillig ist, kann der Fürst in seinem eigenen Königreich und durch seine Erlasse von ihm abweichen und seinen Untertanen verbieten, davon Ge‐ brauch zu machen: so wie man es in diesem Königreich bezüglich des Sklavenrechts ge‐ macht hat, und dies obwohl es allen Völkern gemein war, und er darf es auch in ähnli‐ chen Sachen tun, vorausgesetzt, er handelt dem göttlichen Recht nicht zuwider“.39

Die Tatsache, dass ein Gesetz mehreren, ja sogar allen Völkern gemeinsam ist, schließt somit noch nicht das Recht des Fürsten aus, dieses Gesetz außer Kraft zu setzen, zumindest was sein eigenes Königreich betrifft. Der französische König darf somit einen Erlass verfassen, in dem er seinen Untertanen verbietet, Sklaven zu be‐ sitzen, und dies obwohl, so wollen wir einmal voraussetzen, die Untertanen aller an‐ deren Staaten das Recht haben, Sklaven zu besitzen. Er darf sie also von einem Recht ausnehmen, das alle anderen Menschen besitzen und das auch ein anerkannter Teil des ius gentium ist. Was allen anderen Völkern erlaubt ist, muss deshalb nicht auch dem französischen Volk erlaubt sein, denn über dem ius gentium steht das gött‐ 37 Bodin 1986, I, S. 192. In einer Aristokratie oder in einer Monarchie dürfen solche unwiderruf‐ lichen Privilegien vergeben werden. 38 Bodin 1986, I, S. 107. 39 Bodin 1986, I, S. 228.

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liche und das natürliche Recht, und im Lichte dieser beiden Rechte ist die Sklaverei ungerecht. Hier wird man vielleicht darauf hinweisen, dass Bodin kurz zuvor behauptet hat‐ te, dass trotz der absoluten Macht des Fürsten, „jedem der Besitz und das Eigentum seiner Güter zukommt“,40 so dass also das Privateigentum dem Fürsten nicht zur Verfügung steht.41 Indem er die Sklaverei verbietet, enteignet der Fürst aber seine Untertanen, zumindest diejenigen unter ihnen, die Sklaven hatten. Hierzu wäre zu‐ nächst zu sagen, dass nur ein rechtmäßiger Besitz schützenswert ist, so dass der Fürst kein Unrecht begeht, wenn er die Sklaverei abschafft. Aufgrund seiner plenitu‐ do potestatis darf der Fürst die Sklaven befreien. Will er allerdings diese absolute Macht nicht benutzen, hat er die Möglichkeit, die Sklavenbesitzer zu entschädigen. Durch das Versprechen einer Entschädigung werden die Sklavenbesitzer vielleicht darin einwilligen, dass man ihnen das Halten von Sklaven verbietet. Allerdings wird der Fürst diesen Weg nur dann gehen können, wenn die Entschädigung kein zu gro‐ ßes Loch in die Staatsfinanzen gräbt. Wichtiger als die Frage der Sklaven ist die Frage der Steuern, da sie eine sehr viel größere Anzahl von Menschen betrifft. Hierzu heißt es bei Bodin, es liege „in der Macht keines Fürsten auf Erden, dem Volk Steuern aufzuerlegen, rein weil es ihm gefällt, wie ebenfalls nicht, sich das Gut eines anderen anzueignen“42. Insofern der Bodinsche Fürst an die göttlichen und natürlichen Gesetze gebunden ist, unterliegt er auch der Pflicht, nichts Unvernünftiges zu tun. Das Recht des Souveräns erstreckt sich auf alle Handlungen, die vernünftig sind. So behauptet Bodin etwa, dass der Fürst die Meinung der Stände missachten darf, wenn er die natürliche Vernunft und die Gerechtigkeit auf seiner Seite hat.43 Hieraus wird man ableiten können, dass der Fürst durchaus das Recht hat, Steuern ohne die Einwilligung seiner Untertanen zu erheben, allerdings nur dann, wenn es einen vernünftigen Grund für die Steuererhe‐ bung gibt. Und ein solcher vernünftiger Grund liegt nur dann vor, wenn eine absolu‐ te Dringlichkeit vorliegt.44

40 Bodin 1986, I, S. 223-224. 41 Erinnern wir hier daran, dass Bodin in seiner Definition der Republik an der Unterscheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen festhält. 42 Bodin 1986, I, S. 201. Bodin sagt: „à son plaisir“. Von dieser Formel bzw. von der Variante „car tel est notre bon plaisir“ hatte Bodin zuvor schon gesagt, dass der Fürst durch sie zu ver‐ stehen gibt, dass die Gesetze ihre bindende Kraft für das Volk nicht schon dadurch erhalten, dass man gute Gerechtigkeitsgründe für sie anführen kann, sondern erst dadurch, dass der Fürst ihnen durch seinen Willen eine bindende Kraft verleiht (Bodin 1986, I, S. 192). 43 Bodin 1986, I, S. 198. 44 Bodin 1986, I, S. 201.

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Schluss Das politische Denken des Mittelalters kann, zumindest idealtypisch, als ein Denken des status quo bezeichnet werden, und der Fürst wird dabei als Bewahrer dieses sta‐ tus quo gesehen. Auf keinen Fall darf er eigenmächtig in die gegebene Rechtsord‐ nung eingreifen, auch nicht in Ausnahmefällen. Der absolute Staat, wie er sich im 16. Jahrhundert herausbildet, behauptet für sich das Recht, Ausnahmen zu machen und den gegebenen status quo auch ohne die Zu‐ stimmung der Stände oder Städte zu durchbrechen. Er versteht sich als eine Instanz, die das Wohl der Allgemeinheit vertritt, und dieses Wohl steht über dem Partikular‐ wohl der Stände oder Städte. In diesem Beitrag habe ich versucht zu zeigen, wie Bo‐ din versucht, dem neuen absoluten Staat ein theoretisches Gerüst zu liefern. Dieses Gerüst muss zwei Aufgaben gleichzeitig erfüllen, und zwar muss es einerseits die Ausnahmen von den menschlichen Gesetzen rechtfertigen, und andererseits muss es zeigen, dass die göttlichen und natürlichen Gesetze ausnahmslos gelten. Wer Bodins Schriften sorgsam liest, wird feststellen, dass das von ihm entwickelte theoretische Gerüst nicht frei von Widersprüchen oder Inkohärenzen ist.45 Aber diesbezüglich ist er keine Ausnahme unter den großen politischen Denkern, die vor der Aufgabe stan‐ den, einen epochalen Wechsel theoretisch zu erfassen.46 Für diese Denker müssen die Notwendigkeiten der Gegenwart mit den Garantien der Vergangenheit in Ein‐ klang gebracht werden. Und je drängender die Notwendigkeiten sind, umso bereiter ist man, weitreichendere Ausnahmen bei der Missachtung der Garantien der Vergan‐ genheit zuzulassen.

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45 Viele Kommentatoren haben darauf hingewiesen, wie etwa Franklin 1973, Mansfield 1993, Chevallier 1993 oder noch Mayer-Tasch 2000. 46 Zu dieser Position Bodins zwischen zwei Epochen, siehe Goyard-Fabre 1999, S. 24 f.

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Goyard-Fabre, Simone, 1997: Les principes philosophiques du droit politique moderne, Paris. Goyard-Fabre, Simone, 1999: L’Etat figure moderne de la politique, Paris. Kern, Friedrich, 1992: Recht und Verfassung im Mittelalter, Darmstadt. Machiavelli, Niccolò, 1992: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, in: ders., Tutte le ope‐ re, Firenze. Mansfield Jr., Harvey C., 1993: Taming the prince. The ambivalence of modern executive power, Baltimore/London. Mayer-Tasch, Peter-Cornelius, 2000: Jean Bodin. Eine Einführung, Berlin. Montesquieu, Charles de, 1979: De l’esprit des lois I, Paris. Peralta, Ramón, 2010: La ley perpetua de la Junta de Ávila. Fundamentos de la democracia castellana, Madrid. Schmitt, Carl, 1993: Verfassungslehre, 8. Auflage Berlin. Schmitt, Carl, 1994: Die Diktatur, 6. Auflage Berlin. Schmitt, Carl, 1995; „Absolutismus“, in: ders., Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, Berlin. Spitz, Jean.-Fabien, 1998: Bodin et la souveraineté, Paris.

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Oliver Hidalgo Der Leviathan zwischen „demokratischer“ Zähmung und „totaler“ Entgrenzung. Schmitt, Hobbes und der Ausnahmezustand als staatstheoretische Herausforderung

1. Das Ende des Staates und der weltpolitische Bürgerkrieg Noch vor wenigen Jahren zählte es zu den Moden der wissenschaftlichen Publizis‐ tik, die Idee des souveränen Staates als Auslaufmodell abzustempeln. Angesichts der „postnationalen Konstellation“ (Habermas) des Politischen nach dem Zusammen‐ bruch des Warschauer Paktes sowie der augenscheinlichen Unmöglichkeit, mit den herkömmlichen staatlichen Institutionen angemessen auf die ökonomischen, ökolo‐ gischen und politischen Herausforderungen der Gegenwart zu reagieren, schien der „Abschied vom Nationalstaat“1 nur mehr eine Frage der Zeit zu sein. Das „Regieren jenseits des Nationalstaates“ wurde dabei nicht nur als (ambivalent bleibende) Not‐ wendigkeit,2 sondern mindestens ebenso als „Chance“3 begriffen, nicht zuletzt im Hinblick auf die sich entwickelnden Formen von Global Governance oder gar einer Cosmopolitan Democracy.4 Als einer der Ersten, der die „Epoche der Staatlichkeit“ an ihrem „Ende“ wähnte (BP: 10),5 kann zweifelsohne Carl Schmitt gelten.6 Im Vorwort der Neuausgabe von Der Begriff des Politischen aus dem Jahr 1963 hatte Schmitt wie gewohnt pointiert formuliert:

1 2 3 4

Siehe Albrow 1998. In diesem Sinne etwa Beck/Grande 2004. Zürn 1998. Für diese optimistischen Entwürfe siehe etwa Held 1995 und 2006, Hewson/Sinclair 1999, Dry‐ zek 2006 und Archibugi 2008. Skeptischere Positionen, insbesondere was die Demokratisierbar‐ keit weltpolitischer Institutionen angeht, finden sich z. B. bei Dahl 1999, Lederer/Muller 2005, Dingwerth 2007 und Grugel/Piper 2007. 5 Zu präzisieren wäre hier freilich, dass die oben genannten Ansätze fast durchweg von einer Komplementarität zwischen nationalstaatlichen und transnationalen Strukturen ausgehen. Wei‐ terhin besteht eine Tendenz, das „Ende des Staates“ mit dem „Ende der Souveränität“ gleichzu‐ setzen (vgl. Camilleri/Falk 1994). Für eine poststaatliche Souveränitätsvorstellung demgegen‐ über Hardt/Negri 2002. 6 Zu Schmitts Auffassung der Epochengebundenheit des Staates siehe auch VRA, S. 375-385.

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„Der Staat als Modell der politischen Einheit, der Staat als der Träger des erstaunlichsten aller Monopole, nämlich des Monopols der politischen Entscheidung, dieses Glanzstück europäischer Form und occidentalen Rationalismus, wird entthront.“ (BP, S. 10)

Mit anderen Worten, das internationale System, in dem „nach innen geschlossen be‐ friedete“ politische Einheiten „nach außen geschlossen als Souverän gegenüber Sou‐ veränen“ agierten und in dem „Staat und Souveränität“ die „Grundlage der bisher er‐ reichten völkerrechtlichen Begrenzungen von Krieg und Feindschaft“ bildeten (BP, S. 11 f.), sah schon damals einer ungewissen Zukunft entgegen. Schmitt hatte freilich alles Andere als eine globale Demokratie im Sinn, in deren Gefolge sich innenpolitische und außenpolitische Dimension vermengen,7 sowie nicht-staatliche Akteure, NGOs und dergleichen das einstige Entscheidungsmonopol der Staaten zugunsten einer friedlichen Weltordnung aufbrechen. Dass von der staat‐ lichen Souveränität nur mehr die Fassade der Begrifflichkeit überleben werde (BP, S. 10), laufe keineswegs auf eine Beendigung von Freund-Feind-Gegensätzen hi‐ naus. Das neue Vorwort zum Begriff des Politischen von 1963 weist vielmehr auf die sich herauskristallisierende Dominanz einer alternativen Feindschaftsform – den Partisanenkrieg – hin. Dieser vollziehe sich sowohl als Vorgang des defensiven Wi‐ derstands gegen fremde, imperialistische Invasoren als auch als offensive Weltrevo‐ lution (BP, S. 18). Die Theorie des Partisanen aus dem gleichen Jahr präzisiert die damit einhergehende Bedrohungsperzeption. Danach werde die (von souveränen Staaten zu leistende und infolge des Verzichts auf eine „Diskriminierung und Diffa‐ mierung“ des Feindes mögliche) Hegung des Krieges durch den irregulären Partisa‐ nenkampf und die darin verkörperte „äußerte Intensität des politischen Engagements […] wieder in Frage gestellt“ (TP, S. 92). Zu befürchten sei nicht weniger als eine Logik der politischen Auseinandersetzung, in der „immer neue, immer tiefere Dis‐ kriminierungen, Kriminalisierungen und Abwertungen bis zur Vernichtung allen le‐ bensunwerten Lebens“ führen und die Feindschaft so „furchtbar“ wird, dass sie in ein regelrechtes „Vernichtungswerk“ sowie der Vorstellung einer „absoluten Feind‐ schaft“ mündet (TP, S. 95 f.).8 Damit paraphrasiert Schmitt freilich nur ein Szenario, 7 In dieser Hinsicht bereits der Band von Czempiel 1969, in dem aus eben jenem veränderten Ver‐ hältnis von Innen- und Außenpolitik der „Anachronismus“ des Souveränitätsgedankens abgelei‐ tet wird. 8 Die Eskalationslogik des Partisanenkampfes entfaltet Schmitt zuvor am Anfang seiner Schrift. Danach befinde sich der moderne Partisan grundsätzlich außerhalb der „Hegung“ des Krieges, insofern er als irregulärer Akteur „vom Feind weder Recht noch Gnade“ erwarte. „Er hat sich von der konventionellen Feindschaft des gezähmten und gehegten Krieges abgewandt und in den Bereich einer anderen, der wirklichen Feindschaft begeben, die sich durch Terror und Ge‐ gen-Terror bis zur Vernichtung steigert.“ (TP, S. 17) Jener „Teufelskreis von Terror und Gegen‐ terror“ resultiere aus dem Umstand, dass der Partisanenkampf schließlich auch die attackierten, staatlich-regulären Truppen infiltriere, insofern man „mit Partisanen […] als Partisan kämpfen“ müsse (TP, S. 20). Am Ende der Gewaltspirale stehe der Wandel „vom wirklichen zum absolu‐ ten Feind“ (TP, S. 91ff.). Zur Unterscheidung zwischen konventionellem, wirklichem und abso‐ lutem Feind siehe auch BP, S. 17-19.

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das er bereits im Begriff des Politischen in der Fassung von 1932 als Konsequenz einer weltpolitischen Situation beschrieben hatte, die den Feind nicht mehr in den traditionell staatlichen, territorial abgegrenzten Kategorien verortet und relativiert, sondern in der es letztlich um die Zukunft der gesamten Menschheit geht. Diese Stelle wird in der Theorie des Partisanen als Fußnote nahezu wörtlich zitiert: „Solche Kriege (die sich als jeweils endgültig letzte Kriege der Menschheit ausgeben) sind notwendigerweise besonders intensive und unmenschliche Kriege, weil sie, über das Politische hinausgehend, den Feind gleichzeitig in moralischen und anderen Kategorien herabsetzen und zum unmenschlichen Scheusal machen müssen, das nicht nur abge‐ wehrt, sondern definitiv vernichtet werden muss, also nicht mehr nur ein in seine Gren‐ zen zurückzuweisender Feind ist. An der Möglichkeit solcher Kriege zeigt sich aber be‐ sonders deutlich, dass der Krieg als reale Möglichkeit heute noch vorhanden ist, worauf es für die Unterscheidung von Freund und Feind und für die Erkenntnis des Politischen allein ankommt.“ (TP, S. 94, Anm. 52)9

Die Entgrenzung des Rechts und des Staates, welche die Intensität des Politischen in eine neue Dimension hinein steigert, evoziert demnach nach Schmitt gerade keine friedliche Weltordnung, sondern vielmehr eine Art weltweiten Bürgerkrieg (TP, S. 17).10 Im Gegenzug gerät auch wieder eine Kategorie ins Blickfeld, über deren „Entscheidung“ der souveräne Staat sich ursprünglich definierte: der Ausnahmezu‐ stand.11 Hatte Schmitt schon während der Weimarer Republik die „Tendenzen der modernen rechtsstaatlichen Entwicklung“, sprich: des Liberalismus à la Kelsen oder Krabbe moniert, „den Souverän in diesem Sinne zu beseitigen“ (PT, S. 14), scheint es jetzt nur umso folgerichtiger zu sein, wenn – nach der endgültigen Verabschie‐ dung des Ius Publicum Europaeum (NE, S. Kap. IV) – auch die einstmalige „Über‐ windung des Bürgerkrieges durch den Krieg in staatlicher Form“ (NE, S. 112-115) obsolet geworden ist. Nachdem der Staat – übrigens ganz im Sinne der aktuellen Theorie des Liberalismus in den IB12 – von den pluralistischen Gesellschaftsstruktu‐ ren vollständig durchdrungen ist und somit sein politisches Entscheidungs- und Ge‐ 9

Im Original BP, S. 37. Siehe dort auch den „Hinweis“, dass dezidiert zwischen dem Feindbe‐ griff, der auf „Vernichtung“ und demjenigen, der auf „Abwehr“, Kräftemessen und „Gewin‐ nung einer gemeinsamen Grenze“ aus ist, differenziert werden muss (BP, S. 119). Thematisch verbunden ist damit ebenso die Studie über die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff (1938), die Suche nach einem neuen Nomos der Erde (1950) sowie die drei Corollarien, die der Neuausgabe von Der Begriff des Politischen 1963 hinzugefügt wurden (BP, S. 97-115). 10 Der Partisan erweist sich hier sowohl als alternativer Protagonist wie als Antipode zu den uni‐ versalistischen Bestrebungen, die Schmitt bereits in der Zeit der Weimarer Republik mit dem völkerrechtlich abgestützten „Imperialismus“ der USA assoziierte (vgl. PB, S. 162-180) – je nachdem, ob der Partisan als (offensiver) Akteur der (antiamerikanischen) Weltrevolution oder aber als (defensiver) Widerstandskämpfer gegenüber der Interventionspolitik der USA bzw. der Vereinten Nationen auftritt. 11 Hierzu selbstverständlich das berüchtigte Zitat aus der Politischen Theologie von 1922: „Sou‐ verän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ (PT, S. 13) 12 Siehe Moravcsik 1997. Zur Einordnung Schmitts in das Theorienspektrum der IB siehe Engho‐ fer/Hidalgo 2019.

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waltmonopol eingebüßt hat, ist die (festgestellte) Entfesselung des Ausnahmezustan‐ des in anderem Gewand nur eine allzu logische Konsequenz des Schmittschen Den‐ kens. Zu erinnern ist hier daran, dass Schmitt das Phänomen des totalen Krieges im Äußeren mit dem Bürgerkrieg im Inneren historisch aufs Engste verwoben ansah (NE, S. 113).13 Nun, am Ende der staatlichen Epoche, das vom Sieg des Liberalis‐ mus/des liberalen Völkerrechts flankiert wird, ist nach Schmitt (wie schon im Be‐ griff des Politischen angemerkt) keineswegs die Überwindung von Krieg und politi‐ schen Gegensätzen erreicht. Daran ändert es auch nichts, wenn das liberale Vokabu‐ lar der „Exekutionen, Sanktionen, Strafexpeditionen, Pazifizierungen“, der „interna‐ tionale[n] Polizei“ und „Maßnahmen zur Sicherung des Friedens“ sowie der Verpö‐ nung von Krieg und Gewalt eben dies glaubend machen will (BP, S. 77).14 Stattdes‐ sen sei ein Rückfall in die Logik des „Kreuzzuges“ zu verzeichnen, um auf Wider‐ stände gegen die „mit Hilfe ökonomischer Überlegenheit errungene [imperiale] poli‐ tische Position“ zu reagieren (BP, S. 77). Es kann an dieser Stelle nicht unterbleiben, den skizzierten Diagnosen Schmitts15 ein gehöriges Maß an Hellsichtigkeit zu attestieren. Seitdem die Rede von den Fai‐ ling oder Failed States angesichts der gescheiterten Staatenbildungsprozesse in der postkolonialistischen Ära in aller Munde ist und die „fragile Staatlichkeit“ abseits eines funktionierenden Gewaltmonopols offensichtlich das Gedeihen des transnatio‐ nal operierenden Terrorismus begünstigt,16 scheint Schmitts Auffassung des globa‐ len Staatenzerfalls die politische Realität zu Beginn des 21. Jahrhunderts keinesfalls schlechter wiederzugeben als die hoffnungsfrohe Erwartung der Global Democracy. Wenn man so will, hat Schmitts Perspektive nicht nur die These von den „neuen“, asymmetrischen Kriegen im Zeitalter der Globalisierung17 (die den Kriegen der Prä‐ moderne auf vielfältige Weise ähneln18) antizipiert, sondern auch die sich moralisch und rechtlich entgrenzenden Reaktionen der „liberalen“ Staaten im Spiegel seines Politikbegriffs erschreckend präzise vorhergesagt. Begriffe wie der „Kreuzzug“ der Bush-Administration gegen den transnationalen Terrorismus sowie die Herabsetzung des Feindes im Lager von Guantánamo bzw. im Gefängnis von Abu Ghraib sind durchaus dazu angetan, Schmitts Thesen zu unterfüttern.19 Das Gleiche gilt für die Kosmopolitismuskritik von Chantal Mouffe. Und selbst Jürgen Habermas, dessen Weiterführung der Gedanken Kants zu einem liberalen und interventionistischen 13 Gemeint sind in erster Linie die Religionskriege der prä-westfälischen Ära. 14 1932 ging Schmitt allerdings noch davon aus, dass das „Schicksal“ der Politik unausweichlich bleibt, das heißt die oberflächlich bleibenden Entpolitisierungen durch die „liberale Ideologie“ den Staat als solches nicht „ausrotten“ werden (BP, S. 76 f.). 15 Im Jahr 1963 handelte sich im Zweifelsfall natürlich noch eher um eine Prognose (vgl. Llan‐ que/Münkler 2003, S. 19). 16 Vgl. Schneckener 2004. 17 Siehe v. a. Kaldor 2000 und Münkler 2002. 18 Dazu Beyrau/Hochgeschwender/Langewiesche 2007, insb. S. 14 f. 19 Siehe dafür z. B. Norris 2005, Scheuerman 2006 und Hidalgo 2008.

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Völkerrecht sich im Grunde rigoros vom Begriff des Politischen abgrenzen will,20 räumt in seinen Argumentationsschritten21 explizit einen „wahren Kern“ von Schmitts Einsichten ein. Implizit gibt er damit zu, dass Schmitts Gegenposition zur globalen Demokratie für deren Befürworter heute die eigentliche intellektuelle He‐ rausforderung darstellt.22 Die Relevanz, die Schmitts Positionen im Hinblick auf die Internationalen Bezie‐ hungen bzw. die globale Ordnung in den letzten Jahrzehnten erwachsen ist,23 führt – wie oben angedeutet – vice versa dazu, dass auch die innenpolitischen Implikationen seiner Schriften heute unvoreingenommener zu diskutieren sind, als dies in der Ära nach 1945 der Fall war. Als Autor, der auf die Verwobenheit der inneren und äußeren Dimension von Schmitts Politikbegriff konsequent rekurriert, ist vor allem Giorgio Agamben zu nennen. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass Agamben seine These vom Aus‐ nahmezustand, der sich „immer mehr als das herrschende Paradigma des Regierens“ erweise und sich „in dieser Hinsicht als eine Schwelle der Unbestimmtheit zwischen Demokratie und Absolutismus“ präsentiert, direkt von Schmitts konstatiertem „welt‐ weiten Bürgerkrieg“ ableitet.24 Es wird also unterstellt, dass die außenpolitischen Herausforderungen der Gegenwart ebenso die innenpolitischen Koordinaten massiv 20 Vgl. Habermas 1999 a, S. 226ff. 21 Als da wären erstens der empirisch zu fundierende Zweifel an den Verdiensten des Jus Publi‐ cum Europaeum für die Begrenzung des Krieges und die daraus resultierende Verteidigung des moralischen Universalismus sowie zweitens die (versuchte) Entlarvung des „Irrtums“, dass ge‐ gen die zuzugebende „unheilvolle Wirkung“ einer „unvermittelte[n] Moralisierung von Recht und Politik“ nur die Säuberung der internationalen „Politik vom Recht“ und des „Recht[s] von der Moral“ etwas ausrichten könne (Habermas 1999 a, S. 227, 231, 233). 22 Habermas 1999 a, S. 233, 211, 220 f. Dieser Gedanke ließe sich zur These erweitern, dass der Theorienstreit in den IB in Zukunft zunehmend vom Gegensatz zwischen dem weltpolitischen Optimismus Kants und dem Pessimismus bzw. politischen Existentialismus Schmitts geprägt sein wird. Dazu bereits Hidalgo 2012, S. 180, Anm. 33. Angesichts des realistischen Szenarios bevorstehender Klimakriege (Welzer 2008) könnte das Ergebnis dieses Antagonismus dabei eher konträr zu den Reputationen Kants und Schmitts verlaufen. Wichtig wäre zudem die Ein‐ sicht, dass die aktuellen Instrumentalisierungen Kants in Richtung eines liberalen Interventio‐ nismus (vgl. Téson 1992, Orend 2001) unfreiwillig eher der Schmittschen Logik Folge leisten, als Kants Gedankengebäude authentisch wiederzugeben. Habermas selbst hypostasiert es rich‐ tigerweise als das eigentliche Merkmal des Ewigen Friedens, sich Schmitts „Pointe des Welt‐ bürgerrechts“ gerade zu verweigern, nämlich dass letzteres „über die Köpfe der kollektiven Völkerrechtssubjekte hinweg auf die Stellung der individuellen Rechtssubjekte durchgreift“ (Habermas 1999 a, S. 210). Über Kant hinaus besteht Habermas deshalb auf einer aktiven Poli‐ tik des Menschenrechtsschutzes bis hin zu humanitären Interventionen, wobei er die von Schmitt amalgamierten Begriffe „Bestialität“ und „Humanität“ auseinanderdividieren will (siehe Habermas 1999 a, S. 220 sowie BP, S. 55). Dazu auch Habermas 1999 b. Inwieweit Ha‐ bermas in seiner Einlassung auf die Schmittsche Terminologie damit allerdings wirklich den Kontrapunkt setzt, den er bezweckt, bleibt fraglich. Völlig unstrittig scheint hingegen, dass Schmitts Vorwurf, auch Kant habe sich bereits eines Konzepts des liberalen Interventionismus bedient (NE, S. 140ff.), ins Leere geht. Zur Identifikation Kants als unmissverständlichen Geg‐ ner des bellum iustum siehe Hidalgo 2012, S. 170-182. 23 Für einen Überblick siehe Odysseos/Petito 2007. 24 Agamben 2004, S. 9.

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prägen oder verändern. Die gleiche Perspektive – die außenpolitischen Determinan‐ ten provozieren radikale innenpolitische Konsequenzen – zeichnet bereits den Be‐ griff des Politischen aus. Hier ist es das „Pluriversum“ der Staatenwelt bzw. der poli‐ tischen Einheiten (BP, S. 54-58), das von der Staats- bzw. Politikgewalt „Fähigkeit“ und „Willen“ verlangt, „Freund und Feind zu unterscheiden und nötigenfalls Krieg zu führen“ (BP, S. 38). Zugleich erfordert es, den „inneren Feind“ zu bestimmen, weil die politische Kraft von Volksgruppen (die bis hin zu Klassenkämpfen reicht) die kriegsfähige und -gewillte politische Einheit zu zerstören vermag (BP, S. 46, 38). Eine politische Einheit, die „souverän“ über den „maßgebenden Fall, auch wenn es der Ausnahmefall ist“, entscheidet (BP, S. 39), existiert wiederum lediglich aufgrund der Voraussetzung, dass es „die reale Möglichkeit des Feindes und damit eine andere koexistierende, politische Einheit gibt“ (BP, S. 54). Ohne die Bedrohung durch den Feind – so könnte man sagen – haben Gruppen gar nicht die Kraft, sich zu Staaten oder politischen Einheiten zusammenzuschließen. Aus dem gleichen Grund ist ein „Volk“, das „nicht mehr die Kraft oder den Willen hat, sich in der Sphäre des Politi‐ schen zu halten“, das heißt seine Feinde zu definieren und sich ihrer zu erwehren, auch nicht imstande, das Politische zu eliminieren, sondern als politische Entität selbst dem Untergang geweiht (BP, S. 54). Jene folgenschwere Interdependenz zwischen Innen und Außen erklärt überdies, weshalb Schmitt so rigoros gegen die pluralistische Staatslehre des Liberalismus und deren Aufweichung des Souveränitätsbegriffs polemisiert (BP, S. 40-45). Weil es der Pluralismus zwischen den (äußeren) Feinden ist, der die politische[n] Einheit[en] erst schafft, kann ein Pluralismus innerhalb der politischen Einheit für ihn nur deren Zerstörung nach sich ziehen. Das Aufhören der „einen“ politischen „Gemeinschaft“, die Intensität von „politischen“ Gegensätzen im Inneren raubt der politischen Ein‐ heit das Vermögen, in der außenpolitischen Arena zu bestehen, das heißt für andere politische Entitäten noch „Feind“ zu sein (BP, S. 45). Hier liegt auch der tiefere Grund dafür verborgen, weshalb sich die politische Einheit über die souveräne Ent‐ scheidung des Ausnahmezustandes konstituiert (PT, S. 13). In ihrem Inneren muss „vollständige Befriedung“ (BP, S. 46) und Monopolisierung der politischen Gewalt herrschen, da allein diese beiden Merkmale den Willen und die Fähigkeit zur Defini‐ tion der äußeren Feinde implizieren. In die Radikalität von Schmitts Politik- und Staatsbegriff, der den Rechtsstaat und die Geltung von Rechtsnormen von der vorherigen Dezision des Ausnahmezustan‐ des abhängig macht (BP, S. 46), ist die kompromisslose Ablehnung der liberalen Rechtstheorie25 also bereits eingelassen. Seine Haltung folgt unmissverständlich aus der Überzeugung, dass die Idee des liberalen Pluralismus für gar nichts anderes steht als die Unterhöhlung der Existenz von politischen „Einheiten“. Des Weiteren mo‐

25 Hierzu allgemein Dyzenhaus 1998.

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niert Schmitt auf der internationalen Ebene die Tendenz, dass die liberalen Auflö‐ sungserscheinungen des Staates die Chance auf eine Hegung oder Verrechtlichung der unvermeidlichen Möglichkeit des Krieges verspielen und zunehmend für eine Ir‐ regularität politischer Auseinandersetzungen sorgen. In diesem Zusammenhang ist es müßig, über das ,wahre‘ Motiv von Schmitts Po‐ sitionierung zu spekulieren. Spiegeln die Bedenken gegen die destruktiven Kräfte des Liberalismus eine „echte“ Sorge wider oder doch nur eine kaum verhohlene „bellizistische Lebensphilosophie“?26 Entspringt das Eintreten für den autoritären Staat in erster Linie einem anthropologischen Pessimismus (BP, S. 59ff.) oder der Kritik an der moralischen Krise der bürgerlichen Gesellschaft, die sich dem Egois‐ mus des Individuums verschreibt?27 Ist der Unwille des Liberalismus, die Welt in Freunde und Feinde einzuteilen, am Ende nur das Resultat seiner Unfähigkeit, höhe‐ re Werte als das ökonomische Interesse anzuerkennen? Mit Sicherheit lässt sich nur sagen, dass Schmitt zeit seines Lebens allergisch auf die Bemühungen der liberalen Theorie reagierte, den souveränen Staat zu „zähmen“ und ihn anstatt auf ein homogenes auf ein pluralistisches Fundament zu stellen. Und unabhängig davon, dass er in seiner Weimarer Zeit eher die (negativen) innenpoliti‐ schen Konsequenzen des Liberalismus im Visier hatte und sich während des Dritten Reiches sowie in der Nachkriegszeit verstärkt auf die außenpolitischen Implikatio‐ nen verlegte – der Gegner blieb stets der gleiche. Zum Verständnis von Schmitts politischem Denken sowie zur Einordnung seiner aktuellen Konjunktur ist es deshalb notwendig, noch einmal dezidiert nachzuzeich‐ nen, in welcher Weise er sein Werk als Antwort auf die liberale Herausforderung konzipierte und an welchen Sollbruchstellen er die prekären Einfallstore für den Li‐ beralismus vermutete. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich ermessen, inwieweit Schmitts Ausführungen zum inneren und äußeren „Bürgerkrieg“ (als der unweiger‐ lich evozierten politischen Folgewirkung des Liberalismus) auf eine Problematik hindeuten, die die Politische Theorie bis heute zu beschäftigen hat. Als Anknüp‐ fungspunkt für dieses Unterfangen bietet sich der Hobbessche Leviathan an, da – wie zu zeigen ist – Schmitt von diesem Datum aus exakt die beiden alternativen Möglichkeiten taxierte, die (aus seiner Sicht) entweder zum liberalen Desaster oder aber zu seinen eigenen Staats- und Politikvorstellungen führen. Die damit verbunde‐ ne These lautet, dass Schmitt mit der von ihm forcierten „Radikalisierung“ des Le‐ 26 So Habermas 1999 a, S. 231. 27 In Römischer Katholizismus und politische Form verrät Schmitt eine solche moralische Grund‐ lage seines Politikverständnisses: „Zum Politischen gehört die Idee, weil es keine Politik gibt ohne Autorität und keine Autorität ohne ein Ethos der Überzeugung“ (RK, S. 28). Dazu pas‐ send interpretiert Leo Strauss die (aus seiner Sicht unvollständige) Liberalismuskritik im Be‐ griff des Politischen dahingehend, dass Schmitt das Politische vor allem deswegen bejahe „weil er in seiner Bedrohtheit den Ernst des menschlichen Lebens bedroht sieht. Die Bejahung des Politischen ist zuletzt nichts anderes als die Bejahung des Moralischen“ (Strauss 1988, S. 119).

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viathan, die er gegen dessen liberale Fortschreibungsoption ins Feld führt, tatsäch‐ lich auf eine Schlüsselfrage des demokratischen Rechtsstaates aufmerksam gemacht hat, von der aus sich eine Taxonomie seiner Chancen und Risiken ergibt. Wie so oft bei den Klassikern der Ideengeschichte ist dabei zu trennen zwischen dem Problem‐ bewusstsein, das einen Autor auszeichnet, und den Lösungsvorschlägen, die er selbst in diesem Kontext unternimmt. Demzufolge ist in den Folgeabschnitten zu de‐ monstrieren, dass mit Schmitt (und Hobbes) ein vertiefendes Verständnis davon möglich wird, in welcher Weise der demokratische Rechtsstaat einst aus dem Levia‐ than hervorging, warum er sich im Ausnahmefall die Hobbessche Souveränitätsfülle vorbehält (Kapitel 2) und wie dieses (theoretisch notwendig unterbestimmte) Modell von Schmitts antiliberalem Gegenbild des „totalen“ Staates herausgefordert wird (Kapitel 3). Hieraus sind zuletzt einige wichtige Schlussfolgerungen für die staats‐ theoretische Bedeutung des Ausnahmezustandes zu ziehen (Kapitel 4).

2. Die demokratische Zähmung des Leviathan Die materiale Grundlage der Hobbesschen Staatstheorie ist ein Tauschgeschäft, das der Autor des Leviathan den rationalen Vertragspartnern vorschlägt: Um sicher und behaglich leben zu können, sollen alle Individuen die allumfassende, bedrohliche Freiheit – ihr ius in omnium – im anarchischen Naturzustand aufgeben (Lev. XIII, S. 95-97, XIV, S. 99) und gegen die vom Staat gewährten Residuen der Freiheit ein‐ wechseln (Lev. XIII, S. 96, XVII, S. 131). Obwohl Hobbes damit den autonomen Bereich der Individuen drastisch beschränken will, bilden die natürliche Freiheit und das Recht des Einzelnen nicht weniger als den Ausgangspunkt seiner staatsphiloso‐ phischen Deduktionen. Im Staatszustand bleibt das Individuum dann zumindest frei in allen Belangen, die der Souverän nicht zu regeln beansprucht, und kann sich dort ungehindert entfalten (Lev. XXI, S. 165). Die berühmte Formel, die Hobbes zur Il‐ lustration für diesen Sachverhalt findet, lautet, dass die Freiheit des Bürgers im Staat im „Schweigen der Gesetze“ liegt (Lev. XXI, S. 170). Selbst dieser begrenzte, vom Staat sanktionierte Freiraum steht allerdings unter dem permanenten Vorbehalt des Souveräns, insofern dessen Autorität nicht nur die – im Sinne Isaiah Berlins – negative Freiheit der Untertanen definiert, sondern letztere auch jederzeit zugunsten des primordialen Staatszwecks – der Bewahrung von Si‐ cherheit und Frieden – beschneiden oder aufheben kann. Der dahinterstehenden Pa‐ radoxie Rechnung tragend, könnte man demnach sagen, dass Hobbes den Bürgern ein Leben in Ruhe und Sicherheit nur für den Fall in Aussicht stellt, dass deren neu gewonnene, reale Freiheit im Staat ihrerseits stets unsicher, das heißt der Willkür des Souveräns ausgesetzt ist. Zu diesem Zugeständnis drängt der Leviathan die ihn autorisierenden Vertragspartner, weil nach Hobbes das Recht und die Freiheit des

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Einzelnen der Sicherheit und Stabilität des politischen Körpers stets untergeordnet sein müssen, damit der Staat durch nichts und niemanden daran gehindert wird, die notwendigen Maßnahmen und Vorkehrungen zum Schutz aller Untertanen zu ergrei‐ fen. Auffällig ist, dass das von Hobbes forcierte Tauschgeschäft zwischen Freiheit und Sicherheit sowie der Konflikt zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft in den Grundzügen zentrale Wesensmerkmale des sich später etablierenden demokrati‐ schen Rechtsstaates aufweisen. Dass eine ungeregelte Freiheit des Einzelnen nicht im Interesse der Allgemeinheit liegt und die das Kollektiv repräsentierende Gewalt (welche bei Hobbes identisch mit dem Souverän ist) deswegen das Ausmaß der bür‐ gerlichen Freiheit bestimmt, die mit der Sicherheit und Stabilität des Gemeinwesens kompatibel ist, zählt zu den Chiffren, mit denen der Leviathan das heutige Staatsver‐ ständnis antizipiert hat. Wie Hobbes es beschreibt, ist das Gesetz dabei als „künstli‐ che Kette“ (Lev. XXI, S. 164) aufzufassen, die die Handlungen der Individuen lenkt und ihren Freiraum beschneidet sowie zugleich den freien Willen des Kollektivs re‐ präsentiert. Das positive Gesetz fungiert dadurch ebenso als Voraussetzung einer Freiheit, die die Freiheiten aller Bürger aufeinander abstimmt. Grenzen im Vergleich zum demokratischen Rechtsstaat besitzt der Leviathan hin‐ gegen darin, dass Hobbes (für den die Idee der repräsentativen Demokratie noch nicht vorstellbar war, vgl. Lev. XIX, S. 145, 150-152) das Gesetz als Ausdruck der Autorität des Souveräns verortete und letztere gerade von jeglicher Beteiligungsoder Kontrollmöglichkeit durch das Volk abschneiden wollte. Das „Volk“ erscheint bei Hobbes nicht einmal als handlungsfähige Entität. Stattdessen kann sich eine Menge von Individuen nur unter der Bedingung zu einem politischen Körper zusam‐ menschließen, wenn sie „von einem Menschen oder einer Person vertreten wird“ (Lev. XVI, S. 125), weshalb die ursprüngliche Zustimmung zum Staats- und Herr‐ schaftsvertrag, sprich: die Herstellung der politischen „Einheit“ mit dem Verzicht auf Selbstregierung und die Autorisierung aller (künftigen) Handlungen des Souve‐ räns zusammenfällt (Lev. XVII, S. 134).28 Dass unter diesen Vorzeichen das kollek‐ tive Interesse an der Sicherheit das individuelle Recht auf Freiheit absorbiert, kann kaum noch überraschen. Hobbes’ kontraktualistisches Argument, das er im Kapitel XVIII des Leviathan entfaltet, läuft zentral darauf hinaus, dass die Menge der Individuen ihren Vertreter, den Souverän, freiwillig mit allumfassender Verfügungsgewalt ausstattet. Entspre‐ chend existiert bei Hobbes das Volk gar nicht als eine Rechtsperson, die bei Verfeh‐ lungen der Staatsgewalt die Herrschaft in andere Hände legen könnte. Und indem 28 Dass die Souveränität beim Volk selbst liegen könnte, ist bei Hobbes zwar eine theoretische Option (Lev. XIX, S. 146), wird danach jedoch aus politisch-praktischen Erwägungen im Hin‐ blick auf die mangelnde „Eignung“ der Volksgewalt zur Erreichung von Frieden und Sicher‐ heit verworfen (Lev. XIX, S. 146-154).

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die Vertragspartner de facto alle Handlungen des Souveräns als eigene anerkennen müssen, kennt Hobbes’ Konstruktion nicht einmal ein Unrecht des souveränen Staa‐ tes gegen die Untertanen und ihre Freiheit (Lev. XVIII, S. 139). Der Zähmungsver‐ such, den John Locke ein paar Jahrzehnte später gegenüber dem Leviathan unter‐ nimmt, ist daher primär darauf ausgerichtet, die von Hobbes forcierte unumschränk‐ te Autorisierung des Leviathan in ein Vertrauensverhältnis (trust) zwischen dem Volk und seiner Regierung umzuwandeln. Dazu wird nicht nur die Gewährleistung von Leben, Freiheit und Eigentum als oberster Staatszweck festgelegt, um im An‐ schluss einen kontinuierlichen Maßstab für das Regierungshandeln zu besitzen und den individuellen Verzicht auf Freiheit dauerhaft zu legitimieren (ST §§ 87,123-131), sondern ebenso die Aufteilung und gegenseitige Kontrolle von Le‐ gislative und Exekutive vorangetrieben (ST §§, S. 143-148).29 Insbesondere aber un‐ terscheidet Locke zwischen der Auflösung der Regierung (durch einschlägige Ver‐ fehlungen bzw. den allgemeinen Vertrauensmissbrauch durch Exekutive und Legis‐ lative oder auch durch einen äußeren Umsturz, ST §§ 212-219, 221) und der Auflö‐ sung der politischen Gesellschaft (ST § 211). Was Hobbes kongruent hält, treibt Locke auseinander, um das Volk qua Widerstandsrecht als juridische Letztinstanz der politischen Ausgestaltung des Gemeinwesens zu installieren (ST § 220, 222-243). Schon zuvor ist der demokratische Gehalt seiner Modifikation des Levia‐ than erkennbar, nämlich dann, wenn er das Mehrheitsprinzip zur Lenkung des ge‐ gründeten politischen Körpers fordert (ST §§ 95-99). Nicht zufällig ist dies auch die einzige Stelle, an der Locke sich explizit auf den Hobbesschen Leviathan bezieht (ST § 98, S. 261). Dies macht zugleich evident, dass Hobbes (trotz der ausführlichen Ablehnung des Staatsabsolutismus Robert Filmers im First Treatise) die eigentliche theoretische Herausforderung der Schrift bezeichnet. Bemerkenswerterweise folgt Locke seinem Vorgänger bis dahin, dass die Entstehung der „politischen Gesell‐ schaft“ als Form eines „behaglichen, sicheren und friedlichen Miteinanderlebens“ von der Schaffung eines „einzigen“ und „mächtigen“ „politischen Körpers“ abhängt, welcher „das Recht hat, zu handeln“ und alle Bürger „mitzuverpflichten“ (ST § 95, S. 260, § 98, S. 261). Im Gegensatz zu Hobbes’ Plädoyer für die Willenseinheit (Quis iudicabit?) in der Monarchie (Lev. XIX) beharrt Locke jedoch darauf, dass Macht und Durchsetzungsstärke dieses „Leviathan“ gerade dem geschuldet sind, dass das Mehrheitsprinzip im unvermeidlichen Aufeinanderprallen von „unter‐ schiedlichen Meinungen und […] gegensätzlichen Interessen“ eine Methode der Be‐ schlussfassung vorgibt, die die virulenten Kräfte in die politische Gesellschaft inte‐ griert, anstatt den Willen des (repräsentierenden) Souveräns fälschlich mit der Zu‐ 29 Von Locke und der konstitutionellen Monarchie in England lässt sich sodann die ideenge‐ schichtliche Weiterentwicklung zu Montesquieus Teilung der legislativen, exekutiven und judi‐ kativen Gewalt (EL XI, S. 6) sowie zum Ideal der checks and balances bei den Federalists verfolgen (FP XLVII, S. 292-294, LI, S. 314).

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stimmung aller gleichzusetzen (ST § 98, S. 261). Wovor Hobbes Angst hatte, dass die Debatten in politischen Versammlungen nur Streit und Bürgerkrieg provozieren, avanciert bei Locke also zum eigentlichen Geheimnis politischer Stabilität. Mit jener demokratischen Zähmung des Leviathan verbunden war entsprechend die Verlängerung der bereits vom Hobbesschen Staat sanktionierten Privatfreiheit in Richtung politischer Partizipationsrechte. Im Gefolge von Locke und seinen libera‐ len Epigonen etablierte sich somit ein Denken, das die mittelbare Beteiligung der Bürger an der Staatsgewalt als beste Garantie dafür interpretierte, dass die erlasse‐ nen Gesetze ihren Freiheitsraum nur in einer für sie ,vertretbaren‘ Weise beschnei‐ den. Andererseits sollte man nicht übersehen, wie intakt sich das ursprüngliche Hob‐ bessche Tauschgeschäft zwischen Sicherheit und Freiheit selbst nach der liberalen Entschärfung durch Locke (sowie später durch Montesquieu, die Federalists oder auch Kant) präsentiert: Volkssouveränität und politische Mitsprache, Gewaltentei‐ lung und Abberufbarkeit der Regierung richten sich grundsätzlich auch im demokra‐ tischen Rechtsstaat nicht dagegen, dass Autonomie und Selbstbestimmung des Ein‐ zelnen dort eine Grenze erfahren, sobald das kollektive Sicherheitsbedürfnis berührt ist. Dabei ist es wichtig, zu betonen, dass Hobbes seine politische Argumentation für die Autokratie (und gegen eine souveräne demokratische Versammlung bzw. eine Mischform der Regierung) allein deswegen unternahm, weil ihm eine alternative Herstellung von Frieden und Sicherheit undenkbar erschien (Lev. XVIII, S. 140, XIX, S. 146). Vor dem Hintergrund der (heute kaum noch zu bestreitenden) Tatsa‐ che, dass der demokratische Rechtsstaat das Sicherheitsbedürfnis seiner Bürger im Normalfall jedoch sehr wohl zu stillen vermag, wäre deswegen danach zu fragen, woran Hobbes’ Theorie selbst unter den gegenwärtigen Bedingungen apodiktisch festhalten müsste. Die Antwort darauf ist zwar bis zu einem gewissen Grad spekula‐ tiv, drängt sich aber andererseits regelrecht auf: Was der Leviathan zuvorderst be‐ zweckte, war, dem Staat unter allen Umständen den Vorbehalt einzuräumen, wirk‐ lich alles unternehmen zu können, was er als notwendig für die Erhaltung des inne‐ ren Friedens und der Sicherheit nach außen definiert. Den Bürgern umgekehrt das unter dieser Prämisse größtmögliche Maß an Freiheit zu gestatten, müsste Hobbes’ Zielvorstellung also nicht unbedingt widersprechen. Daran ändert es auch nichts, wenn sich historisch im demokratischen Rechtsstaat ein weit größerer privater und politischer Autonomiebereich entfalten konnte, als er Hobbes seinerzeit vorschweb‐ te.30 Im Ergebnis lässt sich daraus folgern, dass sich aktuell nur der Geltungsbereich des Leviathan verschoben hat. Damit der Staat der ihm im Hobbesschen Sinne über‐ tragenen (und von Locke und seinen liberalen Nachfolgern bestätigten) Aufgabe, für

30 Siehe dazu vor allem das Kapitel XXI des Leviathan „Von der Freiheit der Untertanen“.

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ein „behagliches, sicheres und friedliches Miteinander“ zu sorgen (ST § 95, S. 260), trotz eines gewachsenen Freiheitsraumes der Bürger unverändert nachkommen kann, wird ihm in der europäischen Verfassungstradition entweder explizit oder implizit das Recht zugestanden, im Notfall bzw. im ,Ausnahmezustand‘ alle erforderlichen Maßnahmen dazu ergreifen zu können.31 Davon betroffen sind u. a. massive Ein‐ schränkungen von bürgerlichen Grundrechten bis hin zur wenigstens temporären Aussetzung demokratischer Entscheidungsprozeduren, um den jeweiligen Exekuti‐ ven qua kurzfristiger Machterweiterung die nötigen Handlungsspielräume zu ver‐ schaffen. Mithilfe eines Widerstandsrechts, wie es etwa Art. 20 Abs. 4 des Grundge‐ setzes vorsieht, soll im Gegenzug verhindert werden, dass der Notstand am Ende der Abschaffung der Verfassung Vorschub leistet. Mit Hilfe der Rechts- und Denkfigur des Ausnahmezustandes bleibt eine Rück‐ kehr zur Logik des Leviathan folgerichtig stets im Bereich des Möglichen und si‐ chert den im Normalfall gewährten Freiheitsraum eigentlich erst ab. Nur weil der Staat im Notfall seinen (Hobbesschen) Vorbehalt über das Ausmaß bzw. die Begren‐ zung der Freiheit zurückerhält, wirkt der Zähmungsvorgang der souveränen Staats‐ gewalt, den Locke und die Liberalen angestrengt haben, ebenso wünschenswert wie unbedenklich. Nur weil der demokratische Rechtsstaat im Ausnahmezustand an die verfassungsrechtlich verbrieften Freiheitsrechte nicht sklavisch gebunden ist, kann er diese Rechte überhaupt gewähren. Jene Konstruktion kann sich deswegen gewiss sein, von der (mehrheitlichen) Zustimmung der Bürger bzw. des Volkes legitimiert zu werden. In dem Moment, in dem das Überleben des Staates in Frage steht und etwa ein Bürgerkrieg zu verhindern ist, gewinnt das Argument von Hobbes gegen‐ über seiner regulären Entschärfung durch den Liberalismus seine Überzeugungskraft zurück. Der Verfasser des Leviathan wäre mit einer derartigen Fortschreibung seines Staatsentwurfs – im Normalfall gezähmt, im Ernstfall restauriert – wahrscheinlich nicht einmal unzufrieden gewesen, hätte er die historische Konsolidierung des de‐ mokratischen Rechtsstaates erlebt. Wer sich hingegen aufs Äußerste unversöhnlich gegenüber der liberalen Fassung des Leviathan zeigte (weil er dahinter den schlei‐ chenden Verlust der Kraft und des Willens vermutete, den Ausnahmefall wirklich noch zu entscheiden), war ein anderer: Carl Schmitt.

31 In dieser Hinsicht wären konkrete Notstandsverordnungen und -gesetze, wie sie vor allem in Frankreich und Deutschland existieren, von Ländern wie Italien, der Schweiz, England oder auch den USA zu unterscheiden, die den Umfang der im „Ausnahmezustand“ als legitim gel‐ tenden (Gegen-) Maßnahmen „legal“ unterbestimmt lassen. Dazu Agamben 2004, S. 17.

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3. Schmitt und die (anti-)liberalen Lehren des Leviathan Schmitts Analyse der Hobbesschen Denk- und Begründungsmuster, die er in Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes anstrengt, fällt dafür, dass es offen‐ sichtlich große Parallelen in ihren Souveränitätslehren gibt,32 erstaunlich ambivalent aus. Am klarsten kommt dieser Zwiespalt am Ende der Schrift zum Tragen, wo es heißt: „Die von Hobbes geschaffenen geistigen Waffen haben seiner Sache nicht gedient. Die Waffen aber sind, wie Hegel richtig sagt, das Wesen der Kämpfer selbst. Doch bleibt Hobbes auch in seinen Fehlschlägen ein unvergleichlicher politischer Lehrer. Es gibt kei‐ nen zweiten Philosophen, dessen Begriffe soviel Wirkung, wenn auch zugleich soviel auf seinen eigenen Gedanken zurückschlagende Fehlwirkung gehabt haben. Darin vollendet sich seine für uns heute erkennbare und fortwährend fruchtbare Leistung, nämlich die des großen Lehrers im Kampf gegen alle Arten der indirekten Gewalt.“ (LSTH, S. 131)

Was Schmitt Hobbes als „Fehlschlag“ vorhält, erschließt sich zunächst anhand des Symbols des Leviathan selbst: Weil die Assoziation des Staates mit dem Seeunge‐ heuer aus dem Buch Hiob „in England seit 1660 dem monarchischen Absolutismus und damit den Stuarts zugeordnet war“ (LSTH, S. 119 f.), hing dem Entwurf alsbald der Verdacht an, einen rückwärtsgewandten Staatsgedanken, ja geradezu das Gegen‐ teil der sich entwickelnden britischen See- und Handelsmacht zu verkörpern.33 Da‐ rüber hinaus musste nach Schmitt das Beschwören eines Symbols der Abschre‐ ckung, wie es Hobbes tat, um „die Einheit des politischen Gemeinwesens“ als Verei‐ nigung von „Gott, Mensch, Tier und Maschine“ darzustellen, fast zwangsläufig in‐ tellektuellen Widerstand gegen die als solche empfundene „naturwidrige Abnormi‐ tät“ und „Ungeheuerlichkeit“ provozieren (LSTH, S. 122 f.). Das mythische Bild des Leviathan „überschattete“ entsprechend die „klare Gedankenführung“ der Hobbes‐ 32 Siehe dazu vor allem eine Stelle in der Politischen Theologie, bei der Hobbes’ Autoritas non veritas facit legem (Lev. XXVI) als beispielhaft für den von Schmitt verfochtenen Dezisionis‐ mus dargestellt wird (PT, S. 39) – im Übrigen im strikten Gegensatz zu Lockes The Law gives Authority (PT, S. 38). Siehe auch den Hinweis zum Hobbes-Kristall (BP, S 122), bei dem Schmitt dem Hobbesschen Credo der Gesetz schaffenden Autorität sowie der daraus deduzier‐ ten Notwendigkeit einer (die Befehlsausführung garantierenden) potestas directa zugleich die „Offenheit“ für die transzendente Wahrheit des Christentums zubilligt. Die nötige Interpretati‐ on der Wahrheit (Quis interpretabitur?) fungiert hier als eine Art Scharnier zwischen den Prin‐ zipien der Veritas im religiösen und der Autoritas im politischen Bereich. Zur Identifikation des Quis iudicabit? bzw. des Quis interpretabitur? als Zentrum der politischen Lehre von Hobbes siehe auch den Rezensionsaufsatz Die vollendete Reformation. Zu neuen Leviathan-In‐ terpretationen (LSTH, S. 137-178). 33 Gepasst habe das Bild des „Leviathan“ allenfalls kurzfristig auf die Diktatur Cromwells und die von diesem forcierte Verbindung zwischen zentralisiertem Staat und Seemacht (LSTH, S. 119). Auf dem europäischen Kontinent konnte sich der Hobbessche Staatsgedanke hingegen zwar vor allem „im französischen und preußischen Staat“ ausprägen, doch auch hier war das Bild des Seeungeheures auf Dauer nicht geeignet, die dort „typisch territorialen Machtgestal‐ tungen“ zu erfassen (LSTH, S. 119, 122).

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schen Staatskonstruktion und ermutigte dessen Gegner bis zu dem Punkt, an dem das Seeungetüm schließlich „erlegt und ausgeweidet“ wurde (LSTH, S. 123 f.). Jener ideengeschichtliche Vorgang des gefangenen, an Land gezogenen und getö‐ teten Wals, der nicht zuletzt das Titelbild von Schmitts Schrift ziert, lässt sich un‐ schwer als das interpretieren, was wir oben als „Zähmung“ des Leviathan zum libe‐ ralen und demokratischen Rechtsstaat beschrieben hatten. Für Schmitt bedeutete die‐ se Art der Zähmung eine unverhältnismäßige Beraubung der Kräfte und damit letzt‐ lich den „Tod“ der Staatsmaschinerie. Dies erhellt nunmehr auch das eingangs die‐ ses Abschnitts zitierte Gesamturteil, das Schmitt seinem englischen Vorgänger wi‐ derfahren lässt: Der Leviathan bedeutete sozusagen die eigentliche historische Chan‐ ce des modernen Staates. Durch seine Souveränität war nicht nur die Verhinderung des Bürgerkrieges nach innen, sondern zugleich die Hegung des zwischenstaatlichen Krieges nach außen möglich geworden, eben weil die „Einheit von Gott, Mensch, Tier und Maschine, die der Leviathan des Hobbes darstellt“, die „totalste aller menschlich fassbaren Totalitäten“ bezeichnete (LSTH, S. 124). Als der Leviathan je‐ doch daran scheiterte, sich als Staatsgedanke in der Geschichte zu behaupten, konnte am Ende nur die Auflösung der staatlichen Strukturen im Ganzen erfolgen. Schmitts Analyse des Untergangs des Hobbesschen Staates steht ergo in enger Verbindung mit dem Untergang das Ius Publicum Europaeum sowie dem zu Beginn illustrierten weltpolitischen Bürgerkrieg. Anspielungen auf die „angelsächsische Weltpropaganda“ sowie den vom früheren amerikanischen Präsidenten Wilson in‐ szenierten „Kreuzzug der Demokratie“ (LSTH, S. 129) weisen hierauf explizit hin. Auch werkgeschichtlich zeigt sich jene Verwobenheit von Innen- und Außenpolitik, indem das Hobbesbuch von 1938 eingerahmt wird von der Schrift Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte (1937) sowie von einem Aufsatz über den Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941).34 Für Schmitt hatte Hobbes seinen liberalen Häschern und (angeblichen) Missdeu‐ tern freilich selbst die Einfallstore angeboten, die schließlich zur Zerstörung seines Staatsentwurfs sowie zur Zerstörung des Staates insgesamt führten. Als prekär soll besonders der „Angelpunkt der Staatskonstruktion des Hobbes“, nämlich die „Rela‐ tion von Schutz und Gehorsam“ entlarvt werden (LSTH, S. 113). Denn wo die Ge‐ horsamspflicht gegenüber dem Staat allgemein an das rationale Interesse der Bürger gebunden ist, dort droht der „einheitliche Wille“ und der „einheitliche Geist“ (LSTH, S. 118) der staatlichen Organisation sukzessive unterhöhlt zu werden und schleicht sich das ein, was Hobbes im Grunde eliminieren wollte: Heterogenität, Parteien, Pluralismus bis hin zu „unliberalen Mächten“ (LSTH, S. 118), die den „konstitutionellen Rechts- und Verfassungsstaat“ (LSTH, S. 104), den Hobbes be‐

34 Siehe Anm. 6.

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gründete und den seine liberalen Interpreten zum „positivistischen Gesetzesstaat“ (LSTH, S. 118) weiterführten, für eigene Zwecke instrumentalisieren.35 Schmitts Lesart, die an die These von Leo Strauss erinnert, Hobbes sei der eigent‐ liche „Begründer“ des Liberalismus gewesen,36 bewertet die individuelle Rationali‐ tät der Vertragspartner sowie die natürliche Freiheit des Einzelnen, auf denen der Leviathan aufbaut, offensichtlich als dessen autoimmune Charakteristik. Hobbes’ „Unterscheidung von Staat und individueller Freiheit“ (LSTH, S. 118) habe nicht nur einen gefährlichen „Dualismus von Staat und staatsfreier Gesellschaft“ sowie einen „sozialen Pluralismus“ (LSTH, S. 117) hervorgebracht, sondern ermutigte an‐ dere Staatesdenker erst dazu, den Freiraum von Individuum und Gesellschaft ständig zu vergrößern sowie dem Staat seinen Macht- und Autoritätsumfang zu rauben. Erschwerend kam für Schmitt hinzu, dass der Leviathan, der bekanntlich aus der Erfahrung der konfessionellen Bürgerkriege in England heraus konzipiert wurde, de‐ zidiert von der individuellen Gewissensfreiheit ausgeht und deswegen seinen Fokus auf die äußere Konformität der Bürger mit den Entscheidungen des Souveräns redu‐ ziert. Eine innere Distanz zum Staat wirkte dadurch grundsätzlich akzeptabel (Lev. XXXVII, S. 340) und konnte schließlich in eine generelle Überlegenheit des Priva‐ ten gegenüber dem Politischen münden (LSTH, S. 84-97). Dies antizipierte nach Schmitt nicht nur die besagte Zähmung des souveränen Staates,37 sondern ebenso die Degeneration des technisch-neutralen Befehlsmechanismus38 sowie den destruk‐ tiven Pluralismus der „indirekten Gewalten“ (LSTH, S. 99-118). Anders ausgedrückt, die Ausschlachtung der liberalen Grundmomente des Levia‐ than besiegelte seinen Ruin. Als Totengräber aber hat Schmitt weit weniger Locke oder Montesquieu im Visier, als vielmehr den „liberalen Juden“ Spinoza,39 der die „große Einbruchstelle des modernen Liberalismus“ bzw. den „Todeskeim“ im Hob‐ besschen Werk „sofort“ „erkannt“ habe (LSTH, S. 86). Mit Spinozas TheologischPolitischem Traktat sei daraufhin der ursprünglich „hintergründige Vorbehalt“ der individuellen Gedanken- und Gewissensfreiheit bei Hobbes in den „formgebenden Grundsatz“ des Staates verkehrt worden. Im Ergebnis sieht Schmitt die „Notwendig‐ keiten des öffentlichen Friedens sowie das Recht der souveränen Staatsgewalt“ ih‐ 35 Hier spielt Schmitt im Zweifelsfall auf den Untergang der Weimarer Republik an. 36 Vgl. Strauss 1965, S. 182. 37 „Die Unterscheidungen von privat und öffentlich, Glaube und Bekenntnis, fides und confessio […] sind damit [von Hobbes, AdV] in einer Weise eingeführt, dass sich daraus im Laufe des folgenden Jahrhunderts bis zum liberalen Rechts- und Verfassungsstaat alles weitere folgerich‐ tig ergeben hat.“ (LSTH, S. 85) 38 Siehe dazu LSTH, Kap. 6. 39 Tatsächlich verdeutlichen die Spinoza-Biographie von Nadler 1999 oder Jonathan Israels um‐ fassende Studie zur radikalen Aufklärung (Israel 2001), dass Spinoza eine lange unterschätzte Schlüsselfigur für das neuzeitliche politische Denken in Europa gewesen ist. Insbesondere bei Locke ist davon auszugehen, dass die in seinem holländischen Exil zu Beginn der 1680er Jahre entstandenen Two Treatises of Government die Auseinandersetzung mit den Werken Spinozas widerspiegeln.

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rerseits zu „bloßen Vorbehalten“ verkommen (LSTH, S. 88).40 Neben Spinoza hätten später auch Moses Mendelssohn (LSTH, S. 92ff.) und Julius Stahl (LSTH, S. 106-110) jene individualistische „jüdische Deutung“ des Leviathan (LSTH, S. 124) vorangetrieben.41 Mit Spinozas Ausgehen von der individuellen Freiheit vollzog sich freilich auch eine Denkbewegung, die Hobbes in seiner Furcht vor Chaos und Anarchie abwürgte (wiewohl er sie als theoretische Option generierte) und die Schmitt nicht ausrei‐ chend würdigt. Gemeint ist die Einsicht, dass eine (moderne) „demokratischen Re‐ gierung“ durchaus die Eigenschaft besitzen kann, „Widersinnigkeiten“ und Gewalt‐ eskalationen zu vermeiden, die „gesunde Vernunft“ herrschen zu lassen und schließ‐ lich die natürliche Freiheit in geringst möglicher Weise einschränken zu müssen, eben weil das Individuum sein natürliches Recht dort auf die „gesamte Gesellschaft“ überträgt, an der es partizipiert und von der es deshalb fortan „zu Rate gezogen wird“ (Trac. theol.-pol. XVI, S. 238-240). Demgegenüber hat Schmitt offensichtlich nur die tendenzielle Schwäche der (liberalen) Demokratie im Auge, sich ihrer Fein‐ de angemessen zu erwehren. Seine eigenen Schlussfolgerungen angesichts der Er‐ fahrungen von Weimar zielten deswegen auf eine alternative, schwerlich als demo‐ kratisch zu bezeichnende Staatskonzeption ab: den „totalen“ Staat. Jene Alternative skizziert er u. a. in einem Aufsatz von 1937, der den vielsagen‐ den Titel Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat (PB, S. 235-240) trägt und die Totalität des Staates als angemessene Reaktion auf die (welt-)politischen Herausfor‐ derungen der Gegenwart beschreibt. Im Hobbesbuch ein Jahr darauf kommt Schmitt gleichwohl nur mehr am Rande auf das Konzept des „totalen Staates“ zu sprechen. Dabei wendet er sich explizit gegen die Deutung des Leviathan als „polemisches Schreckbild eines ‚totalitärenʻ Staates oder des Totalismus“ sowie die Verkennung seiner „rechtsstaatlichen Elemente“, die etwa Ferdinand Tönnies eindeutig nachge‐ wiesen habe. Liberale wie Locke oder auch der französische Katholik Joseph Viala‐ toux hätten den Hobbesschen Staat fälschlich zum „grauenhaften Moloch oder Go‐ lem aufgedröhnt“ und dabei dessen „individualistischen Charakter“ schlichtweg ignoriert (LSTH, S. 111-113).42 Im Rahmen der Auseinandersetzung mit Vialatoux’ La Cité de Hobbes: théorie de l’état totalitaire (1935) attestiert Schmitt dem Levia‐ 40 Hier sei nochmals an die Interpretation in Abschnitt 2 erinnert, wo der bloße „Vorbehalt“ der Souveränitätsfülle des Leviathan als weitgehend kompatibel mit der Hobbesschen Argumenta‐ tionslogik dargestellt wurde. 41 Die offenbar antisemitische Einstellung, die in dieser Perspektive Schmitts transparent wird, erhärtet der Brief vom 18.7.1938 an Siegfried Leffler, in dem das Hobbesbuch als Beitrag zum „Kampf gegen die jüdische Verfälschung des Christentums“ bezeichnet wird (zit. nach Meh‐ ring 2009, S. 385). In politisch-theologischer Übersetzung tut sich zugleich eine Dichotomie auf, die den Dezisionismus christlicher Denker wie Hobbes oder Donoso Cortés rigoros vom „jüdischen“ Liberalismus und Atheismus à la Spinoza und Kelsen abstrahiert (Mehring 2009, S. 386). 42 Lobend wird demgegenüber René Capitants Replik auf Vialatoux erwähnt, die allerdings eben‐ falls eine Assoziation zwischen dem „monströsen Fabelwesen“ des Leviathan und der Inan‐

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than jedoch immerhin, dass ihm die „summarische Vieldeutigkeit“ des Begriffs „to‐ tal“ zugutekäme. Mit diesem sei nicht nur die „weitgehende Vernichtung der indivi‐ duellen Freiheit“ auszudrücken (die auf Hobbes eben nicht zuträfe), sondern „auch manche, im Grunde nur relativ[e] Änderungen der überkommenen Abgrenzungen des Spielraumes bürgerlicher Freiheit, Zentralisierungen, Wandlungen des überlie‐ ferten Begriffes der ,Gewaltenteilungʻ, Aufhebungen früherer Trennungen und Un‐ terscheidungen, Totalität als Ziel und Totalität als Mittel usw.“ (LSTH, S. 112, Anm.). Diese evidente Relativierung des Wortes „total“ mag hier umso mehr als „Kehre mit Hobbes“43 gesehen werden, als Schmitt sich in der gleichen Anmerkung auf den Aufsatz seines Habilitanden Georg Daskalakis Der totale Staat als Moment des Staates44 bezieht, welcher das Momentum der Totalität auf eine „Durchgangs‐ stufe zu einer neuen Ordnung“ beschränkt. Der „totale Staat“ erscheint dadurch als ein „Synonym“ für den „Ausnahmezustand“,45 den es erst zu entscheiden gilt, für den Bürgerkrieg in innen- und zunehmend auch außenpolitischer Hinsicht, dem ein Ende zu bereiten ist, bevor sich auf seinen Trümmern der eigentliche Staat erheben kann. Schmitts hauptsächliches Manko läge nach dieser Lesart bloß darin, die „Mög‐ lichkeiten“ unterschätzt zu haben, den Begriff des „totalen Staates“ „ideologisch aufzufüllen“.46 Hinzu kommt, dass Schmitts Begriff des totalen Staates – entgegen des spontanen Eindrucks, den dieses Vokabular in der Retrospektive vermittelt – sei‐ ner Reputation im Dritten Reich gewiss nicht dienlich war. Wie Günter Maschke in seinem Nachwort zum Hobbesbuch überzeugend belegt, waren die Assoziationen des „totalen Staates“ mit einem allumfassenden „Machtapparat“, der Degradierung des Volkes „zum Objekt der Herrschaft“, der Parteienfeindlichkeit sowie mit den Relikten des Rechtsstaates im Gegenteil eher ungeeignet, mit der völkisch-rassisti‐ schen Bewegung des Nationalsozialismus zu korrespondieren.47 Die Polemiken, die Alfred Rosenberg 1934 im Völkischen Beobachter und Roland Freisler im gleichen Jahr in der Deutschen Justiz gegen Schmitts Konzept lancierten, werden vor diesem Hintergrund verständlich. Und doch fällt es einigermaßen schwer, Schmitt als einen Etatisten einzustufen, dem in erster Linie an einer Begrenzung des Politischen gelegen war und der auf sei‐ ne Weise „dem diktatorischen Souverän die Vernunft des Rechtsstaates unterjubeln“ oder „den Golem dadurch zähmen“ wollte, dass er ihm die Zauberformel unter die

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spruchnahme von Hobbes als „mystischen Totalisten“ herstellt (LSTH, S. 112 f., Anm.). Eine weitere totalitäre Deutung des Leviathan aus dem christlichen Bereich – Dietrich Brauns Der sterbliche Gott oder Leviathan gegen Behemoth (1963) – wird von Schmitt später im Rezensi‐ onsaufsatz Die vollendete Reformation (siehe Anm. 32) kritisiert. Zu dieser Debatte Mehring 2009, S. 380ff. Siehe Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Bd. 31 (1938). Maschke 2003, S. 235. Maschke 2003. Maschke 2003, S. 238 f.

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Zunge schob, die seinen Bann brechen konnte.“48 Dass sich Schmitts zeitweiliges Arrangement mit dem Nationalsozialismus nicht einfach folgerichtig aus seinen Po‐ sitionen und Begriffen aus der Weimarer Zeit ergab und er staatstheoretisch auch viel eher als Befürworter der (klassischen) Diktatur denn als totalitärer Denker zu verstehen ist, ändert nichts daran, dass seine eigenwillige Perspektive der Begren‐ zung diejenige der Entgrenzung des Politischen gleichermaßen impliziert. Dies zeigt sich zunächst daran, dass Schmitt das Politische über die Grenzen des modernen Macht- und Rechtsstaates hinaus verortet, und zwar historisch (antike Po‐ lis, altes Reich, siehe SGN, S. 133ff.) ebenso wie systematisch („Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus“, BP, S. 20). Zwar erkennt Schmitt im Begriff des Politischen von 1932 im Staat noch immer die maßgebliche Instituti‐ on, die über Feindschaft und Krieg entscheidet. Doch sind seine Diagnosen – wie in Abschnitt 1 erörtert – schon damals von der zunehmenden innen- und außenpoliti‐ schen Gefährdung des staatlichen Politikmonopols geprägt. Die Ausführungen zum „totalen Staat“ des 20. Jahrhunderts (BP, S. 24-26) sind deswegen nur vordergründig als ein diktatorisches Konzept zur „Rettung“ Weimars in einer Situation des Ausnah‐ mezustandes zu veranschlagen.49 Die Perspektive führt vielmehr deutlich über die li‐ berale Republik in Weimar hinaus und strebt nach einer politischen Einheit, die den Spieß umdreht und die Gesellschaft vollkommen durchdringt. Wirklich ersichtlich wird diese Stoßrichtung anhand von Schmitts Unterschei‐ dung zwischen einer quantitativen und einer qualitativen Variante des totalen Staa‐ tes. Dabei geht er davon aus, dass ein „demokratisch organisiertes Gemeinwesen“ unweigerlich zur gegenseitigen Durchdringung von Staat und Gesellschaft führt, so dass die – vom Liberalismus „neutral“ bzw. „unpolitisch“ gehaltenen Gebiete der „Religion, Kultur, Bildung, Wirtschaft“ keinen Gegensatz zum Politischen mehr bil‐ den können – insofern „alles wenigstens der Möglichkeit nach politisch“ wird und der Staat kein „spezifisches Unterscheidungsmerkmal“ des Politischen mehr bereit‐ zustellen vermag (BP, S. 24). Historisch erklärt sich daraus eine Dialektik, die „vom absoluten Staat des 17. und 18. Jahrhunderts über den neutralen Staat des liberalen 19. Jahrhunderts zum totalen Staat der Identität von Staat und Gesellschaft“ führte (PB, S. 152).50 Von diesem Zeitpunkt an, der mit der Situation in der Weimarer Republik iden‐ tisch ist, blieben für Schmitt nur zwei Alternativen: Entweder der totale Staat „im 48 Siehe Schelsky 1979, S. 150 und Sombart 1978, S. 999 (beide zitiert nach Maschke 2003, S. 242). 49 Vgl. Maschke 2003, S. 241. 50 In diesem Zusammenhang wäre zu ergänzen, dass Schmitt zwar den Prozess der Demokratisie‐ rung – ähnlich wie Tocqueville – als unumkehrbar einstufte (vgl. Campagna/Hidalgo 2007), nicht aber die liberale Ausprägung der Demokratie. Zu Schmitts Kritik an der Verbindung von (politischer) Demokratie und (ökonomischem) Liberalismus als dem eigentlichen Grundfehler der Weimarer Verfassung siehe die Schrift über Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923) sowie die Verfassungslehre (1928).

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Sinne der Qualität und der Energie“ reißt (wieder) alle verfügbaren Machtmittel an sich, um „staatsfeindliche, staatshemmende oder staatszerspaltende Kräfte“ zu be‐ kämpfen; oder aber der totale Staat „in einem rein quantitativen Sinne, im Sinne des bloßen Volumens“ lässt es (weiterhin) zu, dass die Parteien und organisierten Interes‐ sen ihn instrumentalisieren und insbesondere im außenpolitischen Machtkampf schwächen (VRA, S. 359-362). Diese Position beschränkt sich jedoch keineswegs auf ein Präsidialsystem, das mit Hilfe einer neuerlichen Differenzierung von staatli‐ chem und gesellschaftlichem Bereich die Autorität des Staates restauriert.51 Eine Rückkehr zur Trennung der staatlichen von der gesellschaftlichen Sphäre scheint für Schmitt vielmehr ausgeschlossen (SGN, S. 77). Er drängt insofern vorwärts und identifiziert den qualitativ totalen Staat mit dem faschistischen „stato totalitario“ (VRA, S. 361),52 was im Übrigen auch seinem Begriff des Politischen entgegen kommt. Da jeder Konflikt potentiell den Intensitätsgrad des Politischen erreichen und es überall zum Ernstfall des (Bürger-)Krieges kommen kann, muss sich für Schmitt die Substanz der politischen Einheit unter den Voraussetzungen der demo‐ kratischen Ära endgültig jenseits des liberalen Dogmas eines autonomen Bereichs der Gesellschaft bzw. des Individuums manifestieren. Nicht nur die Gewissensfreiheit oder die Option der „schweigenden Gesetze“ bei Hobbes sind insofern gegen die Idee des „totalen Staates“ gerichtet; der Leviathan erweist sich für Schmitt angesichts der Zustände in der Weimarer Republik schon al‐ lein deshalb als zu „liberal“, weil auch er die Bedürfnisse des Einzelmenschen ins Zentrum der Betrachtung rückt und damit die politische Gemeinschaft nicht als einen das Individuum transzendierenden Wert auffasst, der die Verfügung über das physische Leben der Bürger legitimiert.53 Allen Parallelen zwischen Schmitts und Hobbes’ Souveränitätslehre zum Trotz,54 ist insofern zu konstatieren, dass Schmitts Dezisionismus, der die – „normativ betrachtet, aus einem Nichts geborene“ (PT, S. 42) – Verbindlichkeit politischer Entscheidungen aus keiner höheren Norm herlei‐ tet als der Autorität des Souveräns (PT, S. 54), an einer entscheidenden Stelle radikal 51 Vgl. Mehring 2006, S. 53. Schmitt selbst will dies mit einer 1957 hinzugefügten Anmerkung nahelegen, indem er das historische Phänomen des „Totalitarismus“ als Konsequenz der quan‐ titativen Totalität sowie der Partei als Träger und Subjekt des Totalitären deutet (VRA, S. 366, Ziff. 3), was den „totalen Staat“ umso stärker als Alternative zum Dritten Reich suggeriert. 52 Auch die Warnung vor einer legalen Abschaffung der Weimarer Republik in Legalität und Le‐ gitimität (1932) ist daher kaum mit einem Plädoyer pro Weimar zu verwechseln, sondern steht für die souveräne Dezision als solche. Entsprechend konnte Schmitt die Verteidigung der Sou‐ veränität des Reichspräsidenten aus Der Hüter der Verfassung (1931) später relativ problemlos durch die Souveränität des Führers der NSDAP ersetzen (Der Führer schützt das Recht, PB, S. 199-203). 53 Schon Schmitts Frühschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen von 1917 formuliert eine radikale Absage an den intrinsischen Wert des Individuums. Nicht der Staat ha‐ be dem Einzelnen zu dienen, sondern umgekehrt. Im Begriff des Politischen polemisiert Schmitt dann gegen den liberalen Individualismus als „Negation des Politischen“ (BP, S. 69), die andererseits freilich selbst einen verkappten, hochpolitischen Vorgang darstellt. 54 Siehe Anm. 32.

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mit dem Hobbesschen Vorbild bricht. Gemeint ist der naturrechtliche Vorbehalt, der die Gehorsamspflicht des Individuums im Leviathan von vornherein auf die Gegen‐ leistung beschränkt, dass der Staat die Selbsterhaltung seiner Untertanen sichert.55 Demgegenüber verkehrt Schmitt Hobbes’ Argument in paradoxer Weise und leitet aus der innerstaatlichen Pazifizierungsleistung des Staates geradewegs das Recht ab, „Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft“ von seinen Bürgern zu verlangen (BP, S. 46). Die von Schmitt deklarierte „Totalität“ des Politischen verweigert also etwas, das der Hobbessche Leviathan zwar nicht institutionell, wohl aber der Sachlogik nach gewährt: die Begrenztheit der Ansprüche der politischen Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen.56 Weil bei Schmitt dem Gebiet des Politischen per definitionem kei‐ ne Grenzen gesetzt sind, konnte er sich innenpolitisch in die Idee des „totalen“ Staa‐ tes und außenpolitisch in den imperialistischen „Großraum“57 versteigen, die dem Hobbesschen Staatsverständnis jeweils fundamental widersprechen.58 Demzufolge scheint es höchst fraglich, Schmitts Eintreten für den qualitativ totalen Staat als „Re‐ inkarnation“ des Hobbesschen Staates aufzufassen.59 Nicht nur, dass sich aus seinen Texten keine Anhaltspunkte für eine solche Rückwärtsgewandtheit ergeben, hatte – wie gesehen – der Todeskeim ja im Leviathan selbst gesteckt. Was daher weitaus besser das Schmittsche Projekt des „totalen“ Staates am Ende der Weimarer Repu‐ blik und zu Beginn des Dritten Reiches beschreibt, ist, aus dem (aus seiner Sicht) verhängnisvollen Sieg des Liberalismus im 19. und 20. Jahrhundert die richtige Leh‐ re zu ziehen und den individualistischen Grundzug, den Hobbes einst initiierte, zu eliminieren. Diese Art der Radikalisierung des Leviathan zum totalen Staat bildet m. E. auch noch die grundlegende Perspektive des Hobbesbuches von 1938, das die Kritik an den liberalen Einfallstoren der Hobbesschen Staatslehre eher präzisiert als abschwächt. In der weiter oben diskutierten Fußnote (LSTH, S. 112, Anm.), die den Begriff des totalen Staates modifiziert und relativiert hatte, könnten indes wirklich gewisse 55 Auf die bekannten Schwierigkeiten von Hobbes, den Einzelnen auf Basis seiner Prämissen zum Einsatz seines Lebens für den Staat zu verpflichten (vgl. Lev. XXI, S. 168 f.), braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. 56 Zum Unterschied zwischen der Totalität des Politischen bei Schmitt und einem staatsbezoge‐ nem Politikverständnis, wie es sich bei Max Weber, aber eben auch schon bei Hobbes findet, siehe Mehring 1990. 57 Dazu die bereits erwähnte Schrift Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfreie Mächte (1937), bei der wenigstens die Option, sie als Postulat für eine Nichtin‐ tervention der Alliierten gegenüber der Expansionspolitik des Dritten Reiches zu verstehen, schwerlich zu bestreiten ist. 58 Insofern sollte man sich davor hüten, Schmitts „vernünftigen Begriff von Souveränität und Einheit“ (BP, S. 43) als Reminiszenz an Hobbes zu verstehen. Inwieweit es eher die Hegelsche Aufhebung der Dialektik zwischen Individuum und Gesellschaft ist, die Schmitts damaligem Konzept des „totalen Staates“ nahekommt, kann hier nicht erörtert werden. 59 So allerdings Maschke 2003, S. 231, der damit überdies den (angeblichen) „Rettungsversuch“ für Weimar auf den Begriff bringen will (Maschke 2003, S. 241).

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Anzeichen für ein Umdenken Schmitts nach 1936 verborgen sein. Die bisherige Ar‐ gumentationslinie legt dazu allerdings nahe, dass es ihm nun umso weniger um eine Rückkehr des Leviathan ging, als vielmehr um eine Art Befreiung von dem vorgege‐ benen Begriffsschema. Auch der „totale“ Staat, der aus den Fehlern und Defiziten des Leviathan mindestens ebenso viel hätte lernen sollen wie aus seinen Vorzügen, war ja in der Zwischenzeit gescheitert60 und mit ihm überhaupt das letzte Aufbäu‐ men des Staates, wie er Schmitt vorschwebte. Dass letzterer im Anschluss daran das historische Epochenende der Staatlichkeit proklamierte, wird dadurch nur plausibler. Offenbar war es Zeit für neue Sichtweisen, und diese reichten allem Anschein nach viel weiter über das Dritte Reich hinaus, als es die Rezipienten seinerzeit wahrnah‐ men.

4. Conclusio: Der Leviathan und der Ausnahmefall Schmitts Adaption des Leviathan im Kontext der Weimarer Republik und ihres un‐ rühmlichen Endes ist heute gegen den Strich zu lesen. Dass die liberale Weiterent‐ wicklung des Hobbesschen Staates zum demokratischen Rechtsstaat in dessen eige‐ ner Logik begründet liegt, ist – wie die Geschichte nach dem II. Weltkrieg bestätigt hat – weit weniger angetan, das Ende des Staates ausrufen zu müssen, als es Schmitt damals glaubte. Und dass sich der Staat zur Sicherung seines eigenen Überlebens sowie nicht zuletzt zur Garantie der bürgerlichen Freiheiten zumindest im Ausnah‐ mefall eine Souveränitätsfülle bewahren muss, die mit dem Leviathan zu verglei‐ chen ist, dies ist auch aufgrund der bitteren Erfahrung von Weimar in die Idee der wehrhaften Demokratie eingeflossen, für die sich Schmitt so weit ich sehe niemals wirklich erwärmen konnte. Mit seiner Interpretation liefert Schmitt daher eher eine Folie, wohin sich der de‐ mokratisch gezähmte Leviathan entwickeln, entgrenzen und radikalisieren könnte – nämlich zum totalen Staat –, wenn trotz des unbestrittenen Bedarfs an souveränen Letztinstanzen nicht gleichzeitig akzeptiert wird, dass damit die inhärente „Schwä‐ che“ der Demokratie, gegen ihre Feinde nicht ebenso kompromisslos vorgehen zu können wie Nicht-Demokratien, keineswegs geheilt ist.61 Was Schmitt attackierte, worin er sogar den Tod des Leviathan erkannte, nämlich dass die Souveränität des Staates nur mehr den Vorbehalt darüber umfassen soll, im Notfall alle Maßnahmen ergreifen zu dürfen, die zur Sicherung seiner Existenz bzw. zum Schutz der Bürger erforderlich sind, hält in Wirklichkeit die Demokratie am Leben. Demgegenüber 60 Nach Hasso Hofmann fasste es Schmitt so auf, dass ihm und seinem Konzept des „totalen Staates“ im Dritten Reich die gleiche Verteufelung widerfuhr wie Hobbes zuvor im Verlauf der Politischen Ideengeschichte (vgl. Hofmann 1964, S. 209). 61 Zu diesem Grundproblem in der Zwischenzeit auch Lemke 2017.

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führt Schmitts Neigung, den gesamten Rechtsstaat von der Ausnahme des existenti‐ ellen Notstands her denken, zu einer folgenschweren Radikalisierung bis hin zur Verfälschung des Hobbesschen Arguments und seiner individualistischen Prämissen. Dass die „Regel“ angeblich „nur von der Ausnahme“ leben soll (PT, S. 21), ist des Guten zuviel. Auf der anderen Seite ist Schmitt unbedingt Recht zu geben, dass die Figur des Ausnahmezustandes letztlich jenseits des Rechtsstaates und der rechtsstaatlichen Normen zu verorten und vor allem durch Notstandsverordnungen nur unzulänglich zu erfassen ist (PT, S. 13 f.). Unter der Bedingung eines tatsächlich existentiellen po‐ litischen Ausnahmezustandes ist im Zweifelsfall erst nach der unmittelbaren Gefah‐ renabwendung die Rechtmäßigkeit ergriffener Schutzmaßnahmen (die sich nicht ein‐ fach aus Gesetzestexten ablesen lassen) zu überprüfen.62 Das Überleben des Recht‐ staates bildet eine (wenn auch nicht die einzige) Grundlage für die Anwendung von Rechtsnormen, weshalb die temporäre Suspendierung des Rechts – ganz im Sinne Schmitts – im Extremfall das Recht faktisch zu schützen vermag. Juristische oder ethische Bedenken gegenüber der souveränen Dezision können daher im Ausnahme‐ zustand nicht automatisch greifen. Zur (demokratischen) Zähmung des Leviathan gehört es indes hinzu, was sowohl Hobbes wie auch Schmitt ihm ersparen wollten: den Souverän, der durch den Aus‐ nahmezustand als Grundlage allen positiven Rechts denkbar wird, an seine eigenen Entscheidungen zu binden, das heißt im Kontext des obigen Beispiels: die Rechtmä‐ ßigkeit souveräner Ad-hoc-Entscheidungen im Ausnahmefall zumindest ex post zu überprüfen.63 Erst dadurch wird möglich, was manche Verteidiger Schmitts ihm oh‐ nedies zubilligen wollen: dass die Entscheidungs- und Verfügungsgewalt des Staates grundsätzlich zu begrenzen ist, obwohl er sich im Ausnahmezustand rechtsstaatli‐ cher Bindungen entledigen kann.64 62 Hiervon betroffen wären insbesondere Aktionen, die zum Tod von Menschen führen, die als eigentlich Unbeteiligte von den Abwehrmaßnahmen des Staates tangiert werden. Als Beispiel wäre etwa die in Deutschland kontrovers diskutierte Frage zu nennen, ob bei Terrorismusge‐ fahr die Streitkräfte gesetzlich zum Abschuss entführter Passagierflugzeuge ermächtigt werden können. Das Bundesverfassungsgericht (1 BvR 357/05) erkannte in dem entsprechenden Ge‐ setzesvorhaben der Bundesregierung eine Kollision mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG und erteilte damit der rechtsstaatlichen Verankerung eines solchen Ausnahmefalles eine klare Absage. Wie jedoch im Fall eines tat‐ sächlichen Flugzeugabschusses, der als ultima ratio etwa gegen eine terroristische Attacke auf ein Atomkraftwerk o. ä. unternommen wird, die „Schuld“ und „Verantwortung“ der politischen Entscheidungsträger bzw. der ausführenden Piloten rechtsstaatlich zu bewerten wären, steht auf einem anderen Blatt. 63 Für Schmitts Politische Theologie wäre ein solcher Zusammenhang geradezu widersinnig, ver‐ gleicht er doch den Ausnahmezustand mit dem „Wunder“ in der Religion, das heißt mit der Gewissheit, dass der Souverän wie Gott seine eigenen (Natur-)Gesetze stets überschreiten kann (PT, S. 43). 64 Man könnte auch sagen: Der Souverän steht – anders als Schmitt dies in der Politische Theolo‐ gie darstellt – weder prinzipiell „außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung“, noch „ge‐ hört er zu ihr“, weil er „zuständig für die Entscheidung“ ist, „ob die Verfassung in toto suspen‐

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In der gegenwärtigen (weltpolitischen) Situation, welche vermuten lässt, dass ein möglicher Ausnahmezustand in demokratischen Rechtsstaaten weniger durch innere Revolutionen oder Bürgerkriege als durch terroristische Attentate hervorgerufen wird, besitzt Schmitts Position gleichwohl eine besondere Relevanz. Implizit lehnt sie ab, selbst das noch zum Recht zu deklarieren, was die Grenzen des Rechtsstaates längst überschreitet.65 Auch wenn es Schmitt nicht gerade darum ging, vor den Ge‐ fahren einer Constitutional Dictatorship66 zu warnen, die die Grenzen des demokra‐ tischen Rechtstaates ständig neu austestet und dadurch schließlich auszuhöhlen droht,67 vertiefen seine Analysen doch das Bewusstsein darüber, dass es politische Fälle gibt, die nicht zu normieren sind, sondern der souveränen Entscheidung vorbe‐ halten bleiben müssen. Jenes Gespür für Ausnahme und Norm wird umso dringli‐ cher, je mehr sich die Staaten räumlich entgrenzen und dadurch die sicherheitspoliti‐ sche Logik des Leviathan endgültig unterwandern.68

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diert werden kann“ (PT, S 14). Vielmehr scheint zuzutreffen, was Schmitt in seiner Schrift über die Diktatur als ihre „kommissarische“ (im Gegensatz zur „souveränen“) Ausprägung bezeich‐ net: Dass die Norm „suspendiert werden [kann], ohne aufzuhören, zu gelten“ (D, S. 137). Dass der Souverän die Norm „im Ausnahmefall“ angeblich „vernichtet“ (PT, S. 19), ist demgegen‐ über neuerlich ein typisches Moment der gefährlichen Entgrenzung des Rechtsstaates, die Schmitt wie kaum ein anderer personifiziert. Als Beispiel sei erneut das Lager in Guantánamo Bay genannt, das den ethisch höchst prekären Status der Gefangenen mithilfe der Rechtskonstruktion des unlawful enemy combattant zu le‐ galisieren beanspruchte (vgl. Hidalgo 2008). Zu diesem Begriff Rossiter 2002. Hier wäre nochmals an die beiden gegensätzlichen Rechtstraditionen des Ausnahmezustandes zu erinnern, die Giorgio Agamben unterschied (siehe Anm. 31). Zum Problem des Hobbesschen Leviathan, mit seinen Prämissen die besondere Herausforde‐ rung und Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates durch den zunehmend transnational agierenden Terrorismus zu erfassen, siehe bereits Hidalgo 2009.

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Teil 2: Carl Schmitts „Ausnahmezustand“

Rüdiger Voigt Ausnahmezustand Carl Schmitts Lehre von der kommissarischen Diktatur

„Der Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie“.1

Jeder Staat kann in eine Notlage (Staatsnotstand) geraten, in der er – durch Verhän‐ gung des Ausnahmezustands – das Recht für eine gewisse Zeit suspendieren muss, um mit aller Macht gegen eine existentielle Bedrohung oder gar seine eigene Ver‐ nichtung anzugehen. Carl Schmitt hat diesen Zustand der Suspendierung des Rechts auf Zeit in Anlehnung an Cicero als „kommissarische Diktatur“ bezeichnet. Eine solche Lage tritt dann ein, wenn die von der Verfassung vorgegebene Ordnung in Gefahr ist, zerstört oder zumindest grundlegend beeinträchtigt zu werden. Diese Ge‐ fahr kann sowohl von innen als auch von außen kommen.2 Wohlgemerkt handelt es sich hier nicht um eine bloße Krise, also um eine zugespitzte Situation, die als Höheund Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung empfunden wird. Eine solche Kri‐ se kann meist mit einigem guten Willen im Rahmen des Rechts überwunden wer‐ den.3 Vielmehr geht es um einen gezielten, oft auch gewaltsamen Angriff auf die Verfassungsordnung, mit dem diese beseitigt werden soll. Es wird also nicht nur der Herrschaftsanspruch der Regierung, sondern darüber hinaus auch die Existenz des politischen Systems selbst in Frage gestellt.4 Für das Auftreten einer solchen überaus brisanten Situation ist im 20. Jahrhundert die schwierige – innen- wie außenpolitisch gefährliche – Phase zwischen den Welt‐ kriegen in Europa ein Beispiel. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde in Deutschland die durch die Niederlage bewirkte politische Umbruchsituation durch die wirtschaft‐ liche Krise, durch extrem hohe Reparationsforderungen und durch erzwungene Ge‐ bietsabtretungen erheblich verschärft und entlud sich schließlich in gewaltsamen Auseinandersetzungen, die bis an den Rand eines Bürgerkriegs führten. Während in anderen europäischen Ländern wie Frankreich der Bürgerkrieg vermieden werden

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Schmitt 1922, S. 43. Folz 1962, S. 30. Vgl. Voigt 2011. Hans-Ernst Folz unterscheidet – unter Bezugnahme auf Johannes Heckel – von dem allgemei‐ nen Staatsnotstand den „Verfassungsnotstand“, bei dem lediglich ein Verfassungsorgan (z.B. das Staatsoberhaupt) ausgefallen ist, Folz 1962, S. 73.

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konnte, brach er in Spanien offen aus.5 Im 21. Jahrhundert ist nach dem Zusammen‐ bruch des Sowjetsystems nunmehr weltweit eine permanente Krisensituation einge‐ treten, die ihre vorläufigen Kulminationspunkte zum einen in dem weltweit agieren‐ den Terrorismus, zum anderen in der globalen Finanzkrise und drittens in dem „Kampf der Titanen“ USA und China um die globale Vorherrschaft erreicht hat. Im Folgenden wird die Thematik des Ausnahmezustands,6 den man auch als „Niemandsland zwischen Öffentlichem Recht und politischer Faktizität, zwischen Rechtsordnung und Leben“ bezeichnen könnte,7 in sechs Abschnitten behandelt. Auf der Grundlage der von Carl Schmitt getroffenen Unterscheidung in kommissari‐ sche und souveräne Diktatur wird im ersten Abschnitt die Dialektik der Diktatur (1.) behandelt. Als Beispiel für die kommissarische Diktatur dient der Staatsstreich des Jahres 1958 in Frankreich mit der sich daran anschließenden V. Republik, deren Gründer und erster Präsident Charles de Gaulle war. Der Begriff des Ausnahmezu‐ stands (2.) ist nur scheinbar leicht zu definieren.8 Wie so oft liegt der Teufel im De‐ tail: Da gerade die Nachkriegsdeutschen besonders empfindlich auf diesen Terminus reagierten, der im Zentrum der Souveränitätslehre Carl Schmitts steht („Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“), versuchte man, den Begriff in der Hoffnung zu vermeiden, dass es schon nicht zum Äußersten kommen werde. Die un‐ terschiedlichen Regelungen im Grundgesetz waren daher – auch nach Übernahme der Verantwortung von den Alliierten im Jahre 1968 – eher missverständlich und keinesfalls umfassend. Der Angriff von Terroristen auf das World-Trade-Center in New York am 11. September 20019 zwang die damalige Bundesregierung allerdings zu einer ganzen Reihe von Maßnahmen, von denen hier lediglich das Luftsicher‐ heitsgesetz genannt werden soll. Dieses Gesetz sollte die Voraussetzungen für den Abschuss ziviler Flugzeuge durch die deutschen Streitkräfte im Katastrophenfall re‐ geln, wurde jedoch vom Bundesverfassungsgericht verworfen, weil letztlich in der Güterabwägung der Achtung vor dem Leben des Einzelnen ein höherer Stellenwert zugebilligt wurde als dem Notwehrrecht des Staates. In einem weiteren Abschnitt geht es um den Zusammenhang von Staatskrise, Ausnahmezustand und Bürgerkrieg (3.). Am Beispiel der Staatskrise der Weimarer Republik Anfang der 1930er Jahre, die zu einer zumindest partiellen Unregierbarkeit führte, werden die Voraussetzungen und Möglichkeiten einer „kommissarischen Diktatur“ erörtert. Im Vordergrund des 4. Abschnitts stehen die Finanzkrise und die 5 Spanischer Bürgerkrieg von Juli 1936 bis April 1939, an dem ein deutscher Luftwaffen-Verband („Legion Condor“) teilnahm. Der siegreiche General Franco etablierte eine langlebige Diktatur (1939-1976/77) in Spanien. 6 Vgl. Lemke (Hrsg.) 2017. 7 Agamben 2004, S. 8. 8 Vgl. Lemke (Hrsg.) 2017. 9 George W. Bush verhängte daraufhin den Ausnahmezustand und suspendierte damit – vorgeb‐ lich zur Terrorismusbekämpfung – fundamentale Normen der demokratischen Ordnung, vgl. Förster 2017, S. 303-319.

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Notkabinette einerseits sowie die Politik der europäischen „Rettungsschirme“ ande‐ rerseits. Dabei wird eine Parallele zwischen den Präsidialkabinetten von Brüning, Papen und Schleicher in der Endphase der Weimarer Republik und der Eurokrise ge‐ zogen, die zu den – freilich kurzlebigen – „Notkabinetten“ Monti (Italien) und Papa‐ demos (Griechenland) geführt hat, die jedoch beide gerade keine diktatorischen Vollmachten hatten und die eigentlichen Probleme ihrer Länder nicht lösen konnten. Ein älteres – im Übrigen gut dokumentiertes – Beispiel ist der (mögliche) Staatsnot‐ stand in der Weimarer Republik (5.). Hier waren die Notstandsplanungen um die Jahreswende 1932/33 bereits weit gediehen, um Hitlers Ernennung zum Reichskanz‐ ler zu verhindern. Wäre damit die Machtübernahme der Nationalsozialisten durch einen Verfassungsbruch auf Dauer zu verhindern gewesen? Reichspräsident Paul von Hindenburg verweigerte schließlich die Auflösung des Reichstags und die ver‐ fassungswidrige Vertagung seiner Wiedereinberufung auf unbestimmte Zeit. Statt‐ dessen beauftragte er Adolf Hitler, den Führer der NSDAP,10 mit anderen rechten Parteien zusammen eine neue Reichsregierung zu bilden und ernannte ihn schließ‐ lich zum Reichskanzler. Damit verband er die Hoffnung, eine parteiübergreifende Lösung11 für die nationale Einigung Deutschlands geschaffen zu haben.12 In teilwei‐ ser Anlehnung an Carl Schmitt hat Giorgio Agamben von einem „permanenten Aus‐ nahmezustand“ (6.) gesprochen, in dem wir uns seiner Ansicht nach bereits seit ge‐ raumer Zeit befinden. Dabei münzt er den Begriff der „wehrhaften Demokratie“, mit dem in Deutschland der Kampf gegen die Feinde der Demokratie begründet wird, in den einer „geschützten Demokratie“ um, der er die Qualität einer Demokratie rund‐ heraus abspricht. Insofern geht er wiederum mit Carl Schmitt konform, der in die‐ sem Fall von Superlegalität spricht.13 Dieser Fragestellung ist im Schlusskapitel vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Entwicklung in Deutschland nachzugehen.

1. Dialektik der Diktatur Bei dem Begriff „Diktatur“ denkt der neutrale Beobachter im Allgemeinen an ein monokratisches und weitgehend monolithisches Staatsgebilde, in dem ein Herrscher (Caudillo), eine Gruppe (Junta, Clique) oder eine Partei (Staatspartei) die absolute Macht innehat. Beispiele für ein solches Herrschaftsmodell finden sich auch in der Geschichte des modernen Staates in großer Zahl. Diese spezielle Bedeutung von Diktatur, die im Altertum mit dem Begriff „Tyrannis“ erfasst wurde, ist aber nicht 10 Nationalsozialistische deutsche Arbeiter-Partei. 11 Hindenburg war allerdings keineswegs neutral, so hatte er 1930 bei der Bildung der Regierung Brüning (Brüning I) die Bedingung gestellt, ohne die damals stärkste Partei, die SPD, zu regie‐ ren. 12 Pyta 2009, S. 791ff. 13 Schmitt 2005, S. 919-936; Voigt 2015, S. 121ff.

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die einzig denkbare. Eine andere Denktradition geht auf Cicero zurück, der die Dik‐ tatur – ganz im Sinne der römischen Republik – als zeitweilige Machtübertragung zum Zwecke der Staatsrettung verstand. Hierauf bezieht sich Carl Schmitt bei seiner Denkfigur der „kommissarischen Diktatur“. In seinen Schriften Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klas‐ senkampf14 und Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität15 geht es Carl Schmitt stets auch um den Ausnahmezustand, den er bereits im Jahre 1916 aus gegebenem Anlass behandelt hat.16 Für Schmitt liegt die „innere Dialek‐ tik“ der Diktatur gerade in der „allgemeinen Möglichkeit einer Trennung von Nor‐ men des Rechts und Normen der Rechtsverwirklichung“.17 Schmitt zufolge ist die Anwendung der Norm keinesfalls in der Norm enthalten, denn andernfalls wäre das Prozessrecht nicht erforderlich. Diese allgemeine Erkenntnis Schmitts ist in der Rechtssoziologie heute nicht mehr wegzudenken. Worin liegt also das Besondere? „Das spezifische Verdienst der Schmittschen Theorie liegt genau darin, dass sie eine solche Verbindung zwischen Ausnahmezustand und Rechtsordnung möglich macht“.18

1.1 Kommissarische und souveräne Diktatur Bei seinen Arbeiten zur Diktatur hat sich Carl Schmitt nicht zuletzt auf die reaktio‐ nären Ideologien des 19. Jahrhunderts, vor allem auf Juan Donoso Cortés, bezogen. Dabei unterscheidet Schmitt zwischen der „kommissarischen“ und der „souveränen“ Diktatur. Die kommissarische Diktatur hat die Funktion, einen Zustand zu schaffen, in dem das Recht verwirklicht werden kann. Der kommissarische Diktator setzt die Verfassung zeitweise außer Kraft, um ihren Bestand zu schützen. Der Ausnahmezu‐ stand gehört in diese erstere Kategorie. Seine Ausrufung soll gerade verhindern, dass eine so chaotische Situation entsteht, dass das politische System als Ganzes scheitert und – nach einer Revolution oder einem Staatsstreich – ein neues System etabliert und ggf. eine neue Verfassung verabschiedet werden muss. Da es keine Norm gibt, die „auf das Chaos anwendbar wäre“,19 muss erst die Ordnung (wieder-) hergestellt werden, damit die Rechtsordnung in Geltung gesetzt werden kann. In der „souveränen Diktatur“ wird hingegen nicht die alte Verfassung wiederhergestellt,

14 Schmitt 1921. 15 Schmitt 1922. 16 Muth 1971, S. 75-147 [76 f.]; seit dem 31. Juli 1914 herrschte in Deutschland der Kriegszu‐ stand; seit Februar 1915 diente Schmitt als Kriegsfreiwilliger bei einem Ersatzbataillon in München, vgl. Noack 1996. S. 37; Mehring 2009, S. 78; Mehring in diesem Band. 17 Schmitt 1921, S, XVII. 18 Agamben 2004, S. 43. 19 Schmitt 1922, S. 19.

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sondern – z.B. nach einer Revolution, einem Bürgerkrieg oder einem verlorenen Krieg – eine neue Ordnung und damit ein anderes politisches System geschaffen. Die alte Ordnung geht damit unter. Unter der Prämisse der Volkssouveränität ist es die verfassungsgebende Gewalt des Volkes (pouvoir constituant), das sich z.B. mit Hilfe einer direkt gewählten Nationalversammlung eine neue Verfassung gibt.20 Richard Faber hat die Nützlichkeit der Unterscheidung zwischen „souveräner“ und „kommissarischer“ Diktatur an einem Vergleich zwischen Hitler und Mussolini demonstriert: „Nur letzteren konnte ein König – gestützt auf seine, die auf ihn verei‐ digte Armee – entlassen bzw. gefangen setzen und so eine ‚bloß‘ kommissarische Diktatur beenden. Hitler war souveräner, wenn nicht ‚total(itär)er‘ Diktator – cäsa‐ ristischer Provenienz“.21 Die oft chaotischen, in jedem Fall aber schwierigen Über‐ gänge von einer Verfassung zur nächsten lassen sich am französischen Beispiel illus‐ trieren. Das liegt umso näher, als die Ursprünge des Ausnahmezustands (in Gestalt des Belagerungszustands) auf den Erlass der Konstituierenden Versammlung vom 8. Juli 1791 in Frankreich zurückgehen.22 Im Zuge der Französischen Revolution wurde – nach dem Scheitern der konstitutionellen Monarchie – im Jahr 1792 die Erste Republik etabliert. Diese endete faktisch mit dem Staatsstreich Napoleons 1799 und einer neuen Verfassung, formell jedoch erst 1804 mit der Errichtung des Ersten Kaiserreichs. Der Zweiten Republik war nur eine kurze Lebensdauer (1848-1852) beschieden, sie endete wiederum mit dem Übergang zum Kaiserreich. Nach dem verlorenen Krieg gegen Deutschland wurde Kaiser Napoleon III. jedoch gestürzt und 1870 die Dritte Republik ausgerufen,23 die mit dem Waffenstillstand von 1940 im Krieg gegen Deutschland und der Gründung des État Français – be‐ kannter unter der Bezeichnung Vichy-Regime – unter Marschall Philippe Pétain, dem „Helden von Verdun“, endete.24 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1946 die Vierte Republik durch eine neue Verfassung gegründet, der allerdings nur eine schmale Mehrheit (53,5% der abgegebenen Stimmen) der Franzosen zugestimmt hatte.

20 So z.B. die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919, die von der gewählten Natio‐ nalversammlung ausgearbeitet wurde. 21 Faber 1999, S, 70-90 [76]. 22 Vgl. Agamben 2004, S. 11. 23 Das geschah zunächst als „temporäre Republik“, weil man sich über die Zukunft Frankreichs noch nicht einig war. 24 Frankreich hatte am 22.6.1940 die Niederlage gegen das Deutsche Reich anerkannt, und am 10.7.1940 verabschiedete die Nationalversammlung mit 596 zu 80 Stimmen ein Ermächti‐ gungsgesetz zur Änderung der Verfassung.

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1.2 De Gaulle als kommissarischer Diktator Diese Vierte Republik war durch den Mangel an stabilen Regierungsmehrheiten ge‐ kennzeichnet. Die Regierungen wechselten so häufig, dass man ironisch von „Dreh‐ tür-Regierungen“ sprach. In der Krisensituation des Jahres 1958 gelang es – nicht zuletzt wegen des Algerienkrieges (1954-1962) – einen Monat lang gar nicht, eine Regierung zu bilden.25 Der Druck des Militärs (Militärputsch in Algier am 13. Mai 1958, angedrohter Sturm des Militärs auf Paris26) setzte dieser instabilen politischen Lage ein Ende und zwang Staatspräsident René Coty, Charles de Gaulle durch die Nationalversammlung als Ministerpräsidenten einsetzen und ihm für sechs Monate diktatorische Sondervollmachten zur Niederschlagung des Militärputsches in Algier erteilen zu lassen. In den Augen der Aufständischen und auch vieler anderer Franzo‐ sen konnte nur noch ein Mann die Nation retten: Charles de Gaulle, der „Retter des Vaterlandes“. De Gaulle setzte in einem Referendum eine neue Verfassung durch und wurde der erste Präsident der Fünften Republik. General de Gaulle ist damit der Prototyp des „kommissarischen Diktators“,27 der seine Vollmachten nutzt, um eine neue Ordnung zu schaffen. Anne Sophie Günzel geht mit ihrer überaus positiven Einschätzung de Gaulles al‐ lerdings fehl: „De Gaulle hatte den Entschluss gefasst, kein Diktator zu werden, ob‐ wohl er […] die Möglichkeiten hatte, eine Diktatur zu errichten. […] De Gaulle wollte weder einen Staatsstreich begehen, um die Macht an sich zu reißen, noch eine Politik des Militarismus einführen. Er wollte auf demokratischem und legalem Weg an die Macht kommen und die demokratischen Prinzipien und Institutionen nicht aufgeben“.28 Tatsächlich hatten den „Staatsstreich“ Andere – nämlich hohe Militärs – für ihn begangen, die seines Wohlwollens sicher sein konnten.29 Dabei verfolgte de Gaulle eine überaus riskante „Schaukelpolitik“. Insgeheim unterstützte er die put‐ schenden Generale, um so die Politiker unter Druck zu setzen. Öffentlich sicherte er den Politikern hingegen zu, die Militärs an die Kandare zu nehmen, wenn sie ihm die geforderten Sondervollmachten zugestehen würden. Über das Schicksal Algeri‐ ens, das für die Einen zum französischen Mutterland gehörte (Algérie française), für die Anderen aber ein selbständiger Staat werden sollte, hüllte er sich zunächst in Schweigen.30

25 26 27 28 29 30

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Siehe hierzu den Beitrag von Matthias Lemke in diesem Band. Opération Résurection. Aron 1959, S. 16 f. Günzel 2007, S. 63. De Gaulle zeichnete die Putschisten später sogar aus. 1962 entließ de Gaulle Algerien schließlich in die Unabhängigkeit und konzentrierte sich ganz auf Europa als „französisches Projekt“.

1.3 Interkonstitutionelles Notstandsrecht Die Französischen Republik (V. Republik) bietet ein interessantes Beispiel für Nor‐ men und ihre praktische Anwendung von Notstandsmaßnahmen.31 Praktische Bei‐ spiele für die Ausgestaltung des interkonstitutionellen Notstandsrechts sind Art. 16 und Art. 36 der Verfassung vom 4. Oktober 1958. Art. 36 handelt vom Belagerungs‐ zustand und definiert das Verfahren zu seiner Verlängerung. Die Detailregelungen hierzu finden sich im Verteidigungsgesetz.32 Art. 16 der Verfassung gibt klare An‐ weisungen für den Fall, dass höchste Gefahr für den Staat besteht. Wann dieser Fall eintritt, bleibt jedoch äußerst vage, so dass den Handelnden ein relativ großer Inter‐ pretationsspielraum bleibt: „Wenn die Institutionen der Republik, die Unabhängigkeit der Nation, die Integrität ihres Staatsgebietes oder die Erfüllung ihrer internationalen Verpflichtungen schwer und un‐ mittelbar bedroht sind und wenn gleichzeitig die ordnungsgemäße Ausübung der verfas‐ sungsmäßigen öffentlichen Gewalten unterbrochen ist, ergreift der Präsident der Repu‐ blik nach offizieller Beratung mit dem Premierminister, den Präsidenten der Kammern sowie dem Verfassungsrat die unter diesen Umständen erforderlichen Maßnahmen. Er gibt sie der Nation durch eine Erklärung bekannt. Diese Maßnahmen müssen von dem Willen getragen sein, den verfassungsmäßigen öf‐ fentlichen Gewalten innerhalb kürzester Frist die Mittel zu sichern, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen“.

Als Sicherungsmaßnahme legt die Verfassung fest, dass während dieser Zeit die Na‐ tionalversammlung nicht aufgelöst werden darf. Durch Verfassungsgesetz vom 23. Juli 2008 wurde allerdings ein Zusatz eingefügt, der dem Verfassungsrat – auf Ersuchen des Präsidenten der Nationalversammlung, des Präsidenten des Senats, von sechzig Abgeordneten oder sechzig Senatoren – das Recht gibt, nach einer Frist von dreißig Tagen (und ggf. nach sechzig Tagen noch einmal und dann jederzeit) zu prüfen, ob die Bedingungen für die außerordentlichen Vollmachten weiterhin erfüllt sind. In einem Gesetz vom 3. April 1955 wurde der Notstand (état dʼurgence) als Instrument zur ausschließlichen Anwendung in Algerien geschaffen. Es war ur‐ sprünglich auf die Dauer von sechs Monaten begrenzt, wurde aber schließlich zu einem dauerhaften Instrumentarium, das auch auf andere Fälle außerhalb Algeriens angewandt wurde.33 Die Anschläge des Jahres 2015 führten zu einer weiteren Ver‐ schärfung durch zwei Gesetze,34 mit denen neue Einschränkungen der Freiheits‐ rechte verbunden sind. Der Gedanke an Agambens Figur des „permanenten Ausnah‐ mezustands“ liegt nahe.

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Schottdorf 2017, S. 27-40, insbesondere S. 35ff. Mbongo 2017, S. 129-166. Mbongo 2017, S. 130 f., siehe auch die Tabellen auf S. 131 und 152/153. Gesetz vom 20.11.2015 und – noch weitergehend – Gesetz vom 21.07.2016.

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2. Der Begriff des Ausnahmezustands Mit der Verwendung des Begriffs „Ausnahmezustand“ sollte man freilich vorsichtig und verantwortungsvoll umgehen. „Denn nicht jede außergewöhnliche Befugnis, nicht jede polizeiliche Notstandsmaßnahme oder Notverordnung ist bereits ein Aus‐ nahmezustand.35 Dazu gehört vielmehr eine prinzipiell unbegrenzte Befugnis, das heißt die Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung. Niccoló Machiavelli, der Altmeister politischer Ausnahmesituationen, hat das bereits in seiner Theorie zum Ausdruck gebracht. Er geht nicht von einer „gegebenen Ordnung aus, die es zu bewahren und zu verteidigen gilt, sondern macht das Ordnungsdefizit, die Krise, den politischen Notstand zum systematischen Ort seiner Überlegungen“.36 Der Staat als Inhaber des Gewaltmonopols zeigt hier sein wahres Gesicht, indem er von seinem „Selbsterhaltungsrecht“ Gebrauch macht.37 Man könnte auch von einer „Rückver‐ wandlung des Rechtsstaates in einen Leviathan“ sprechen.38 Eine auf heutige Ver‐ hältnisse bezogene Definition des Ausnahmezustands liefert Matthias Lemke: Der Ausnahmezustand ist „ein in der Verfassung verankertes Instrument staatlicher Kri‐ senintervention, das bei Vorliegen der entsprechenden Bedingungen die Kompeten‐ zen innerhalb des Institutionengefüges der Verfassung zugunsten der Regierung ver‐ schiebt“.39 Ist dieser Zustand eingetreten, „so ist klar, daß der Staat bestehen bleibt, während das Recht zurücktritt“.40 Es geht um den Ernstfall des Politischen, der jederzeit ein‐ treten kann. Es handelt sich also um eine außerordentliche Krisensituation, in der „so schwere Gefahren für den Bestand eines Staates, seine Sicherheit und (Rechts-) Ordnung“ wirken, „daß deren Bewältigung mit den im Normalfall zu Gebote stehen‐ den Mitteln nicht mehr möglich ist“.41 Bestimmten Staatsorganen – meist der Exe‐ kutive – werden dann i.d.R. außerordentliche Vollmachten zu einem festgelegten Zweck übertragen.42 Verwandte Begriffe sind Notstand (Staats- bzw. Verfassungs‐ notstand), Notstandsrecht bzw. Notstandsdiktatur, Belagerungszustand und Kriegs‐ recht.43 Im Belagerungszustand z.B. gehen die Befugnisse der Zivilbehörden übli‐

35 US-Präsident Donald Trump hat am 16.02.2019 den nationalen Notstand verhängt, um an das Geld für den Bau einer Mauer an der Grenze zu Mexiko zu gelangen. Bei einem solchen „Not‐ stand“ handelt es sich aber nicht um die Verhängung des Ausnahmezustands, die Grundrechte bleiben in Kraft. 36 Münkler 1987, S. 189. 37 Schmitt 1922, S. 18 f. 38 Mirbeth 2017, S. 57-70 [63]. 39 Lemke 2017, S. 4. 40 Schmitt 1922, S. 18. 41 Klein 1992, S. 387.414 [388]; der Autor bezeichnet diese Definition selbst als weithin akzep‐ tiert. 42 Vgl. Schubert/Klein 2011. 43 Vgl. Schmitt Nomos, S. 67; Foltz 1962, S. 36ff.

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cherweise auf militärische Stellen über.44 Ziel und Zweck der damit begründeten au‐ ßerordentlichen Vollmachten ist es, ganz allgemein Gefahren abzuwenden bzw. ab‐ zuwehren, die bereits eingetreten sind oder einzutreten drohen, sowie im Besonderen der Existenzgefährdung des Staates – in Frankreich der Republik, in Deutschland der freiheitlichen demokratischen Grundordnung – wirksam entgegen zu treten. Tat‐ sächlich hat „erst das politische Denken der Neuzeit den Notstand, den politischen Ausnahmefall, zum Angelpunkt politischer Theoriebildung gemacht“.45 Seine wich‐ tigsten legitimatorischen Begründungen verdankt der neuzeitliche Staat nicht der Regel, sondern der Ausnahme.46 Aus der staatsrechtlichen wie aus der politikwissenschaftlichen Perspektive ist die Ausnahme daher ein überaus interessantes Forschungsobjekt. Ob sie allerdings die von Carl Schmitt postulierte Bedeutung hat, also wichtiger als der Normalfall ist, er‐ scheint zumindest als fraglich: „Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme. In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik“.47

Soweit es sich tatsächlich um den Schutz der verfassungsgemäßen staatlichen Ord‐ nung handelt, sind Maßnahmen im Rahmen des Ausnahmezustandes durchaus zu rechtfertigen, sofern sie dem Gebot der Verhältnismäßigkeit genügen und zeitlich befristet sind. Geht es hingegen um den bloßen – womöglich dauerhaften – Machter‐ halt einer herrschenden Politikerkaste, ist die Verhängung des Ausnahmezustands niemals legitim.48 Ob sie legal, also nach den geltenden Gesetzen zustande gekom‐ men ist, wäre freilich eine andere Frage, wenn man bedenkt, dass die Herrschenden in aller Regel auch über die nötigen Mehrheiten verfügen, Gesetze zu ihrem Vorteil zu verabschieden. Das verstärkt die auch im Normalzustand bereits vorhandene „Prämie auf den legalen Machtbesitz“.49 Sie entsteht – Schmitt zufolge – erstens aus der konkreten Auslegung und Handhabung von unbestimmten Rechtsbegriffen (z.B. öffentliche Sicherheit und Ordnung), zweitens hat der Inhaber der Staatsmacht die „Vermutung der Legalität“ auf seiner Seite. Drittens sind seine Anordnungen auch bei zweifelhafter Legalität unmittelbar vollziehbar.50

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In der Bundesrepublik Deutschland trifft das hingegen nicht zu. Münkler 1987, S. 187. Münkler 1987, S. 51. Schmitt 1922, S. 21. Das zeigt nicht zuletzt das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG, das bei der Verabschie‐ dung der Notstandsverfassung als „demokratisches Gegengewicht“ eingeführt wurde. Es fragt sich allerdings, ob dieses Widerstandsrecht im Falle eines Staatsnotstandes tatsächlich prakti‐ sche Bedeutung erlangen würde. 49 Schmitt 1998, S. 36. 50 Schmitt 1998, S. 33.

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2.1 Intra- oder extrakonstitutionelle Regelung Verfassungspolitisch bildet bei allen Überlegungen zum Ausnahmezustand eine Pro‐ blematik den Hintergrund, die kaum zu lösen ist, wie Giorgio Agamben deutlich ge‐ macht hat: „Wenn das Eigentümliche des Ausnahmezustands die (totale oder partiel‐ le) Suspendierung der Rechtsordnung ist, wie kann dann eine solche Suspendierung noch in der Rechtsordnung enthalten sein?“51 Es liegt auf der Hand, dass jeder, der bei Beratung und Verabschiedung der Verfassung beteiligt ist, nur ungern daran denkt, dass eben diese Verfassung einmal in ernste Gefahr geraten könnte. Dies ist vielmehr in aller Regel die große Stunde der Euphorie und damit die Zeit der Opti‐ misten. Die Mahnung der Vorsichtigen, man müsse Vorkehrungen für den „Ernst‐ fall“ treffen, sind hingegen äußerst unpopulär. Staats- und Verfassungsrechtler sind freilich Juristen, deren (oft undankbare) Aufgabe es seit jeher ist, stets den Fall des Scheiterns eines Vertrages im Blick zu behalten und für diesen Fall Vorsorge zu tref‐ fen. Das gilt nicht nur für Ehe- oder Kaufverträge, sondern auch für Staatsverträge und für Verfassungen.52 Jede Verfassung spiegelt zum Zeitpunkt ihrer Verkündung sowohl die bestehende als auch die für die Zukunft erwünschte politische Ordnung wider. Ihr liegt zumeist ein an Werten orientiertes Modell gesellschaftlichen Zusam‐ menlebens zugrunde. Ungeachtet der Frage, ob dieses Modell der gesellschaftlichen Realität entspricht oder jemals entsprochen hat, ändern sich die Gesellschaft und die in ihr für wichtig gehaltenen Werte doch regelmäßig im Laufe der Jahre. Eine kluge, vorausschauende Verfassungskonstruktion lässt es zu, zumindest gravierenden Ver‐ änderungen in der Gesellschaft durch Änderungen des Verfassungstextes (Grundge‐ setzänderungen) oder ggf. durch Ergänzungen (Amendments in der US-Verfassung) Rechnung zu tragen. Aber auch in diesen Fällen können sich Verfassungsrecht und politisch-gesellschaftliche Realität so gravierend auseinander entwickeln, dass es zum großen Eklat kommt.53 Soll dann unter allen Umständen die bestehende Ord‐ nung erhalten („zementiert“) werden, und wenn ja, wie? Bei der Anordnung des Ausnahmezustands geht es um mehr als nur um eine au‐ ßerordentliche Befugnis,54 da sie – wie Volker Neumann im Anschluss an Carl

51 Agamben 2004 – in Anlehnung an Schmitt 1922. S. 19. 52 Verfassung soll hier als „Verfassungsvertrag“ verstanden werden, vgl. Schmitt 1928, S. 61 ff., Schneider 1957, S, 116 ff.; typisch hierfür ist die Reichsverfassung von 1871, wo es in der Prä‐ ambel heißt: „Seine Majestät, der König von Preußen [es folgen die übrigen Fürsten] schließen eine ewigen Bund zum Schutz des Bundesgebietes […]. Dieser Bund wird den Namen Deut‐ sches Reich führen […]“. 53 Ein Beispiel für ein systembedingtes Hindernis ist der Grundsatzstreit zwischen US-Demokra‐ ten und Republikanern um den Bau einer Mauer an der Grenze zu Mexiko, der kaum auf der Grundlage der amerikanischen Verfassung zu lösen ist. 54 Bezeichnenderweise verzichtet Bodin auf die Aufstellung von Rechtsregeln für den gerechtfer‐ tigten Ausnahmezustand, weil dieser in seinem Begriff von Souveränität bereits enthalten war, Schilling 2005, S. 92.

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Schmitt formuliert – „die gesamte bestehende Ordnung zu suspendieren vermag“.55 Auch wenn diese Aussage sehr krass ist, geht es bei dem Ausnahmezustand doch um sehr viel. Dazu gehören z.B. alle polizeilichen Maßnahmen (auch durch sog. Sicher‐ heitskräfte), die der Bekämpfung von Aufständen, Aufruhr und Katastrophen aller Art dienen sollen. Dies kann sowohl innerhalb der Verfassung (intrakonstitutionell) als auch außerhalb der Verfassung (extrakonstitutionell) geregelt sein. Häufig wird auf sog. Notgesetze oder Notverordnungen (Art. 48 WRV) zurückgegriffen. In je‐ dem Fall wird damit jedoch zeitweise die Gewaltenteilung außer Kraft gesetzt, damit die Exekutive (Präsident bzw. Regierung) in der akuten Bedrohungssituation mög‐ lichst effektiv handeln kann. Die Frage ist jedoch, wie sichergestellt werden kann, dass diese besonderen Vollmachten, mit denen zentrale Grundrechte eingeschränkt werden können, nicht zur langfristigen Einschüchterung des Wahlvolks werden und nach dem Ende der Notsituation die verfassungsmäßige Ordnung wiederhergestellt wird. Die Legitimität des Ausnahmezustandes hängt also ganz wesentlich von der Motivation der Herrschenden, von der Dauer und der Verhältnismäßigkeit des Mit‐ teleinsatzes sowie von der Existenz von „Gegengewalten“ ab (checks and balances).

2.2 Instrumentarium zur Gefahrenbekämpfung Der Verfassungsjurist wird eine Rechtslage vorziehen, die genau festlegt, wann, von wem, unter welchen Voraussetzungen und mit welchem Verfahren so eingriffsinten‐ sive Maßnahmen ergriffen werden dürfen, wie es die Herstellung des Ausnahmezu‐ standes darstellt. Was geschieht jedoch, wenn das in der Verfassung zur Verfügung stehende Instrumentarium zur Gefahrenabwehr in Zeiten einer solchen (u.U. existen‐ tiellen) Bedrohung des Staates nicht ausreicht? Eine schnelle Änderung der Verfas‐ sung, die oft eher für „Schönwetterzeiten“ als für Krisen konzipiert ist, kommt meist nicht in Frage. Sie steht eher am Ende der Krise, vor allem dann, wenn sich andere als die herrschenden Kräfte durchgesetzt haben. Vielmehr gilt hier die Erkenntnis Carl Schmitts: „In seiner absoluten Gestalt ist der Ausnahmezustand dann eingetre‐ ten, wenn erst die Situation geschaffen werden muss, in der Rechtssätze gelten kön‐ nen“.56 Müssen in dieser akuten extremen Notsituation also u.U. Maßnahmen ergrif‐ fen werden, die von der Verfassung nicht gedeckt sind, womöglich, um deren Gel‐ tung wiederherzustellen? Wenn ja, wer soll dazu befugt sein? Carl Schmitt ist hier mit seiner berühmten Formel „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand ent‐ scheidet“,57 einen Weg gegangen, auf dem ihm nur wenige Autoren gefolgt sind.58 55 56 57 58

Neumann 1980, S. 60. Schmitt 1921. Schmitt 1922, S. 13. Ein Plädoyer gegen Schmitts Verständnis von Souveränität gibt Schliesky 2004, S. 108ff., vgl. auch den Sammelband Pircher (Hrsg.) 1999.

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„Ein solcher Satz weckt Spannung. Er schlägt ein. Er schockiert. Man wird, um der Überraschung Herr zu werden, willig, ja eifrig die nächstfolgenden [Sätze] lesen“.59 Peter Schneider hat auf das darin sichtbare „einzigartige Kunststück“ hingewiesen, „dem dürren Boden der Jurisprudenz ästhetischen Reiz abzugewinnen, obgleich er die Gebote der Fachlichkeit nicht übertritt“.60

2.3 Souveränität und Ausnahmezustand Diese berühmte Formel Carl Schmitts hat Hasso Hofmann in seinem Aufsatz Souve‐ rän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet in ihrer außenpolitisch-völker‐ rechtlichen Wendung auf Staat und Verfassung der Bundesrepublik Deutschland an‐ gewandt.61 Hofmann hat dabei das Schmittsche Motto zugrunde gelegt: „Die Aus‐ nahme offenbart das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten“62 und ist zu inter‐ essanten Ergebnissen gelangt. Nicht nur bei der Verabschiedung des Grundgesetzes im Jahre 1949 standen die Westdeutschen unter den besatzungsrechtlichen Vorbehal‐ ten, die sich auf alle Fragen der inneren und äußeren Staatssicherheit erstreckten.63 Vielmehr galt das auch für die „erste Souveränitätserklärung“ im Jahre 1955,64 weil durch Art. 5 Abs. 2 des Deutschlandvertrages die alliierten Notstandsbefugnisse aus‐ drücklich aufrecht erhalten wurden. Diese Befugnisse erloschen für das Bundesge‐ biet – nicht jedoch für Berlin65 – mit der Verabschiedung der sog. Notstandsverfas‐ sung im Jahre 1968, die gegen beträchtlichen Widerstand der westdeutschen Öffent‐ lichkeit durchgesetzt wurde. Nur eine Große Koalition aus CDU/CSU und SPD war mit ihrer erdrückenden Mehrheit im Bundestag (und Bundesrat) zu diesen Änderun‐ gen der Verfassung in der Lage. Es bedurfte allerdings erst des Zwei-plus-Vier-Ver‐ trages, Deutschland als Ganzes im Jahre 1990 – also genau 45 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – von den verbliebenen alliierten Vorbehalten weitgehend zu befreien.66 Bis dahin bestand lediglich eine eingeschränkte deutsche Souveräni‐

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Schneider 1957, S. 20. Schneider 1957, S. 20. Hofmann 2005, S. 171-186. Schmitt 1922, S. 19. Die Militärgouverneure waren der Ansicht, dass sie selbst „letzten Endes für die Sicherheit verantwortlich“ seien, vgl. Klein 1992, S. 391. 64 Bereits 1951 hatten die Westalliierten formell den Kriegszustand mit Deutschland beendet, 1955 folgte die Sowjetunion. 65 Für Berlin galt von 1972 bis 1990 das Viermächte-Abkommen der Alliierten. 66 Daher gilt der Zwei-plus-Vier-Vertrag zugleich als Ersatz für einen Friedensvertrag, vgl. Stern 1999, S. 2017 f.; es ist aber davon auszugehen, dass in Geheimverträgen weitere Souveränitäts‐ einschränkungen zugunsten der USA enthalten sind.

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tät.67 Seit 1990 liegen die Entscheidungen über den Ausnahmezustand – zumindest offiziell – sämtlich in der Hand deutscher Staatsorgane.68

2.4 Der verdrängte Ausnahmezustand Der Parlamentarische Rat hat 1949 versucht, ohne eine Generalklausel für die Sus‐ pendierung von Grundrechten im Grundgesetz auszukommen. Dabei konnte er sich zunächst auf die Souveränitätsvorbehalte der Alliierten berufen. Allerdings wurden unter dem Stichwort „wehrhafte Demokratie“ Bestimmungen in das Grundgesetz aufgenommen, die sich auch im Ausnahmezustand als nützlich erweisen könnten.69 Dazu gehört das Partei- und Vereinigungsverbot (Art. 21 Abs. 2 und 9 Abs. 2 Grund‐ gesetz) ebenso wie die Verwirkung von Grundrechten (Art. 18 Grundgesetz). Als in den 1960er Jahren die Frage der Ablösung der alliierten Notstandskompetenzen akut wurde, hatte man – freilich nur theoretisch – eine Aufspaltung des Gesamttatbestan‐ des des Ausnahmezustands vorgenommen, die dann jedoch keinen Niederschlag im Grundgesetz fand.70 Zunächst wurde unterschieden zwischen einem „Zustand der äußeren Gefahr“, der in den Zeiten des „Kalten Krieges“ als permanent vorhanden angesehen wurde und einem „Zustand der inneren Gefahr“, der nur punktuell, etwa zur Zeit des RAF-Terrors,71 bestand. Der Letztere wurde durch einen „Katastrophen‐ notstand“ ergänzt.72 Äußerlich klar erkennbar wurde aber nur der „Verteidigungs‐ fall“ als Zustand der äußeren Gefahr in einem eigenen Abschnitt des Grundgesetzes (Abschnitt Xa) geregelt. „Die Regelungsstrategie ist dem Bemühen geschuldet, […] denkbare Ausnahmefälle gleichsam als Regelbeispiele zu antizipieren, typisieren und möglichst grundrechtsschonend in den Gesamtrahmen des Grundgesetzes einzu‐ führen […]“.73

67 Die verbliebenen Truppen der britischen „Rheinarmee“ haben erst im Sommer 2013 – also 68 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges – Deutschland verlassen, die Stärke der US-Truppen auf deutschem Territorium beträgt zurzeit 35.800 von insgesamt 40.800 Soldaten ausländischer Streitkräfte in Deutschland, vgl. Deutscher Bundestag, WD 2 – 3000 – 009/17. 68 Wieweit diese Form der Souveränität tatsächlich geht, würde sich freilich erst im Falle eines echten Staatsnotstandes erweisen. Die (mindestens) 20 auf dem Stützpunkt Büchel lagernden US-Atomwaffen scheinen dort – mit Zustimmung der Bundeskanzlerin – weiterhin zu lagern und demnächst sogar noch einmal modernisiert zu werden. 69 Frankenberg 2010, S. 104. 70 Klein 1992, S. 392. 71 RAF = Rote Armee Fraktion. 72 Beispiel hierfür ist die Hamburger Flutkatastrophe von 1962, als sich der damals noch unbe‐ kannte Innensenator Helmut Schmidt – ohne grundgesetzliche Ermächtigung – zum Oberkom‐ mandierenden von ca. 2000 Bundeswehrsoldaten und Angehörigen der US-Streitkräfte machte, um der Flut Herr zu werden. 73 Frankenberg 2010, S. 105.

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Art. 115 a GG: „(1) Die Feststellung, dass das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegrif‐ fen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht (Verteidigungsfall), trifft der Bundes‐ tag mit Zustimmung des Bundesrates. Die Feststellung erfolgt auf Antrag der Bundesre‐ gierung und bedarf einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindes‐ tens der Mehrheit seiner Mitglieder. (4) Wird das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen und sind die zuständigen Bun‐ desorgane außerstande, sofort die Feststellung nach Absatz 1 Satz 1 zu treffen, so gilt die‐ se Feststellung als getroffen und als zu dem Zeitpunkt verkündet, in dem der Angriff be‐ gonnen hat. Unter den Voraussetzungen des Absatzes 2 tritt an die Stelle des Bundestages der gemeinsame Ausschuss.“

Ergänzend legt Art. 80 a Grundgesetz fest, dass der Bundestag mit Zwei-DrittelMehrheit als Vorstufe des Verteidigungsfalls den Spannungsfall feststellen kann. Dieser ist verbunden mit der Erhöhung der militärischen Alarmstufe. Als auf den in‐ nenpolitischen Notstand bezogener „Polizeiartikel“74 enthält Art. 91 Grundgesetz hingegen lediglich bestimmte Zuständigkeitsregelungen, die es der Bundesregierung erlauben, im Fall des Staatsnotstandes Landes- und Bundespolizei (früher: Bundes‐ grenzschutz) gezielt zur Gefahrenabwehr einzusetzen.75 Aus dem Verlauf dieser De‐ batte hat Ernst-Wolfgang Böckenförde den – durchaus plausiblen – Schluss gezogen, dass der Ausnahmezustand in der Bundesrepublik „verdrängt“ worden sei.76 Dabei geht er – wie Carl Schmitt – davon aus, dass sich das Ausnahmeproblem, das ja ge‐ rade durch seine Unvorhersehbarkeit charakterisiert sei, durch eine antizipierte „Ver‐ gesetzlichung“ außergewöhnlicher Situationen nicht umfassend lösen lasse.77 Das rechtsstaatlich Machbare müsse hingegen unbedingt im Grundgesetz geregelt wer‐ den, da andernfalls im Gefahrenfall die Berufung auf den sog. „übergesetzlichen Notstand“ an die Stelle verfassungsrechtlicher und damit rechtsstaatlicher Regelun‐ gen trete.78 Tatsächlich hat die bundesrepublikanische Praxis bei der Bekämpfung der RAF Ende der 1970er Jahre gezeigt, dass die Berufung auf einen „übergesetzli‐ chen Notstand“ Überreaktionen der Exekutive – wie z.B. die Einschränkung des Zu‐ gangs der Verteidiger zu ihren Mandanten – begünstigt, deren Folgen bei Abklingen der Gefahr nur schwer zu beseitigen sind.79

74 Klein 1992, S. 392. 75 Es ist allerdings fraglich, ob die Polizei nach Personalstärke, Ausrüstung und Ausbildung dazu überhaupt in der Lage ist. 76 Böckenförde 1978, S. 1881 ff. 77 Siehe hierzu den Beitrag von Andreas Anter und Verena Frick in diesem Band. 78 Vgl. Klein 1992, S. 388 f. 79 Vgl. Kraushaar (Hrsg.) 2006.

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2.5 Zwischen Recht und Politik Der Begriff des Ausnahmezustands ist vor allem aus drei Gründen schwer bestimm‐ bar. Zum einen muss zunächst geklärt werden, ob sich die Frage überhaupt empi‐ risch beantworten lässt: Liegt eine außerordentliche Krisensituation vor, die mit den herkömmlichen Mitteln nicht zu bewältigen ist und daher außergewöhnliche Maß‐ nahmen verlangt? Hier werden die politischen Meinungen – je nach Interessenlage – zumeist stark auseinander gehen. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass der Be‐ griff „Ausnahmezustand“ im Grenzbereich zwischen Recht und Politik liegt und na‐ he verwandt ist mit Widerstand, Aufruhr und Bürgerkrieg.80 Neben der Staatsrechts‐ lehre ist hier vor allem die Politikwissenschaft gefragt. Wer hat die Definitionsmacht darüber, ob die Krisensituation bereits als Staatsnotstand zu bewerten und damit der Ausnahmezustand gerechtfertigt ist? Würde eine Entscheidung des Bundesverfas‐ sungsgerichts nicht stets zu spät kommen? Und drittens schließlich geht es um die Entscheidung darüber, ob die in der Verfassung vorgesehenen Instrumente ausrei‐ chen, oder ob extrakonstitutionelle Maßnahmen ergriffen werden sollen. Sicher ist jedenfalls, dass man in dieser Situation nicht so weitermachen kann wie bisher. Der Begriff selbst deutet vielmehr bereits darauf hin, dass der regelgemäße Zustand nicht mehr besteht, solange die außergewöhnliche Notsituation anhält. Es bedarf also ge‐ eigneter Maßnahmen, um der Ausnahmesituation angemessen begegnen zu können; es müssen aber auch rechtzeitig geeignete Vorkehrungen getroffen werden, um die Rückkehr von der Ausnahme zur Regel zu ermöglichen.

2.6 Der Einsatz der Streitkräfte Ursprünglich bezog sich der Ausnahmezustand auf äußere Gefahren, in diesem Zu‐ sammenhang wird von Belagerungszustand oder Kriegsrecht gesprochen. Dabei greift der Staat auf seine Streitkräfte zurück, um die Gefahr abzuwehren. Ähnliches könnte auch für Bürgerkriege und ggf. sogar für Aufruhr und Aufstände im Inland gelten. Das Militär gilt in entwickelten Demokratien aber als ungeeignet, diese Auf‐ gabe im Innern zu erfüllen. Stattdessen haben die meisten westlichen Staaten hierfür eine spezielle Polizeitruppe, die sog. riot police (in anderen Ländern: Gendarmerie oder Carabinieri), aufgestellt. Sie ist besonders dafür geschult, Deeskalierungsstrate‐ gien anzuwenden und ggf. mit speziell für solche Fälle entwickelten Waffen (nonlethal weapons) schnell und effektiv Ruhe und Ordnung wiederherzustellen.81 Im Kampf gegen den Terrorismus verwischen sich allerdings die Grenzen zwischen mi‐ litärischem, geheimdienstlichem und polizeilichem Einsatz immer mehr. Oft sind es 80 Agamben 2004, S. 7 f. 81 Vgl. Voigt 2009, S. 101-116.

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eher polizeiliche Aufgaben, die z.B. von der UNO beauftragte Soldaten (gelegent‐ lich auch Polizisten) in mehr oder weniger gescheiterten Staaten übernehmen. Über‐ dies sind inzwischen innere Notlagen, wie z.B. Naturkatastrophen (Beispiel: Hurri‐ kan Katrina, 2010), hinzugekommen, die sich zumeist ohne menschliches Zutun er‐ eignen, aber die Anstrengungen aller Kräfte erfordern. Der Einsatz der Streitkräfte im Innern war seit der Gründung der Bundeswehr stets umstritten. Allerdings waren die Rahmenbedingungen im Zeichen des OstWest-Konflikts auch ganz andere. Zunächst regelte ein eigener Artikel die Zulässig‐ keit des Einsatzes, wenn auch wenig spezifisch, eher als Negativregelung und ohne den Begriff zu definieren.82 Dieser Art. 143 (alt) Grundgesetz galt bis zur Verab‐ schiedung der Notstandsverfassung und fiel dann in dieser Form ganz weg.83 Er lau‐ tete: „Die Voraussetzungen, unter denen es zulässig wird, die Streitkräfte im Falle eines inne‐ ren Notstandes in Anspruch zu nehmen, können nur durch ein Gesetz geregelt werden, das die Erfordernisse des Artikels 79 erfüllt“.

Von 1956 an verzichtete das Grundgesetz auch auf den Begriff „innerer Notstand“ ganz. Lediglich der äußere Notstand war in dem Abschnitt Xa „Verteidigungsfall“ in den Artikeln 115 a bis 115 l Grundgesetz geregelt. Während Art. 35 Grundgesetz in erster Linie die Katastrophenhilfe regelt, enthält Art. 91 Grundgesetz die eigentli‐ chen Regelungen für den inneren Notstand. Dieser Art. 91, der allerdings von den alliierten Militärgouverneuren bis zur Erteilung einer ausdrücklichen Genehmigung suspendiert war,84 lautet: „(1) Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokra‐ tische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann ein Land Polizeikräfte anderer Länder sowie Kräfte und Einrichtungen anderer Verwaltungen und des Bundesgrenz‐ schutzes85 anfordern. (2) Ist das Land, in dem die Gefahr droht, nicht selbst zur Bekämpfung der Gefahr bereit oder in der Lage, so kann die Bundesregierung die Polizei in diesem Lande und die Poli‐ zeikräfte anderer Länder ihren Weisungen unterstellen sowie Einheiten des Bundesgrenz‐ schutzes einsetzen. Die Anordnung ist nach Beseitigung der Gefahr, im übrigen jederzeit auf Verlangen des Bundesrates aufzuheben. Erstreckt sich die Gefahr auf das Gebiet mehr als eines Landes, so kann die Bundesregierung, soweit es zur wirksamen Bekämp‐ fung erforderlich ist, den Landesregierungen Weisungen erteilen. Satz 1 und Satz 2 blei‐ ben unberührt.“

82 Klein 1992, S. 391. 83 Gültigkeit vom 20. März 1956/22. März 1956 bis zum 25. Juni 1968/28. Juni 1968. 84 Genehmigungsschreiben der Militärgouverneure zum Grundgesetz vom 12.5.1949, vgl. Fran‐ kenberg 2010, S. 103. 85 An die Stelle des Bundesgrenzschutzes ist seit dem 1.3.2005 die Bundespolizei getreten.

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In Ergänzung zu Art. 91 Grundgesetz regelt Art. 87 a Abs. 4 Grundgesetz den mögli‐ chen Einsatz der Bundeswehr: „(4) Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokra‐ tische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann die Bundesregierung, wenn die Voraussetzungen des Artikels 91 Abs. 2 vorliegen und die Polizeikräfte sowie der Bun‐ desgrenzschutz nicht ausreichen, Streitkräfte86 zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung orga‐ nisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen. Der Einsatz von Streit‐ kräften ist einzustellen, wenn der Bundestag oder der Bundesrat es verlangen“.

2.7 Das umstrittene Luftsicherheitsgesetz Die Anschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center rückten auch in Deutschland die Frage in den Vordergrund, ob die Bundeswehr, in erster Linie also die Luftwaffe, eingesetzt werden dürfe, um Passagiermaschinen, die von Terroristen zu Anschlägen missbraucht werden sollen, im äußersten Notfall abzuschießen. Das Luftsicherheitsgesetz vom 11. Januar 2005,87 mit dem Art. 35 Grundgesetz geändert werden sollte, enthielt dazu eine entsprechende Regelung zum Einsatz der Streitkräf‐ te: „§ 13 Entscheidung der Bundesregierung (1) Liegen auf Grund eines erheblichen Luftzwischenfalls Tatsachen vor, die im Rahmen der Gefahrenabwehr die Annahme begründen, dass ein besonders schwerer Unglücksfall nach Art. 35 Abs. 2 Satz 2 oder Abs. 3 des Grundgesetzes bevorsteht, können die Streit‐ kräfte, soweit es zur wirksamen Bekämpfung erforderlich ist, zur Unterstützung der Poli‐ zeikräfte der Länder im Luftraum zur Verhinderung dieses Unglücksfalles eingesetzt werden. § 14 Einsatzmaßnahmen, Anordnungsbefugnis (1) Zur Vermeidung eines besonders schweren Unglücksfalles dürfen die Streitkräfte im Luftraum Luftfahrzeuge abdrängen, zur Landung zwingen, den Einsatz von Waffenge‐ walt androhen oder Warnschüsse abgeben. (3) Die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ist nur zulässig, wenn nach den Um‐ ständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Ge‐ fahr ist“.88

86 Die Streitkräfte werden hier als Hilfstruppe der Polizei tätig. 87 BGBl. I, S. 78. 88 § 14 Abs. 3 des Luftsicherungsgesetzes ist verfassungswidrig und daher nichtig.

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In einer Entscheidung des Jahres 2006 hat das Bundesverfassungsgericht (Erster Se‐ nat) jedoch die Verfassungswidrigkeit von § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz festge‐ stellt. In den Leitsätzen vom 15. Februar 2006 heißt es dazu:89 LS 2: „Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 GG erlaubt es dem Bund nicht, die Streit‐ kräfte bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfäl‐ len mit spezifisch militärischen Waffen einzusetzen“. LS 3: „Die Ermächtigung der Streitkräfte, gemäß § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ein Luftfahrzeug abzuschießen, das ge‐ gen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, ist mit dem Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar, soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden“.

Damit galt – zunächst – der Grundsatz, dass der Einsatz der Bundeswehr in Deutsch‐ land „mit spezifisch militärischen Waffen“ ausgeschlossen sei. In Abweichung von der Rechtsauffassung des Ersten Senats hat das Bundesverfassungsgericht auf An‐ trag des Zweiten Senats jedoch in einer Plenarsitzung entschieden,90 dass der Ein‐ satz der Bundeswehr zur Gefahrenabwehr „bei Ausnahmesituationen katastrophi‐ schen Ausmaßes, allerdings nicht bei Gefahren, die „von einer demonstrierenden Menschenmenge drohen“, und nur als „ultima ratio“ zulässig sei.91

3. Staatskrise – Ausnahmezustand – Bürgerkrieg Für die Herrschenden ist es von entscheidender Bedeutung, ob die bestehenden Spannungen innerhalb der Gesellschaft, die nicht zuletzt aus der unterschiedlichen Verteilung von Reichtum, Aufstiegschancen und Mitwirkungsmöglichkeiten resul‐ tieren, so kanalisiert und befriedet werden können, dass sie sich nicht in unkontrol‐ lierbaren Gewaltausbrüchen Bahn brechen, sondern letztlich beherrschbar bleiben. In der Frage, was unter „Beherrschbarkeit“ verstanden werden soll, liegt freilich ei‐ nes der wichtigsten Probleme, da dies nicht nur Verfahren, Instrumente und Metho‐ den staatlichen Handelns, sondern auch Umfang, Ausmaß und Intensität und damit letztlich die Legitimität von Gewaltanwendung umfasst. Innenpolitisch geht es dabei um ein Zusammenwirken von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik sowie außenpoli‐ tisch um die Rahmenbedingungen für den betroffenen Staat. Aus rechtsstaatlichen Erwägungen muss dabei unbedingt die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt blei‐ ben. Lassen die Anderen diesem Staat (relativ) freie Hand bei der Krisenbewälti‐ 89 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 15.2.2006 – 1 BvR 457/05. 90 Eine Plenarentscheidung beider Senate ist immer dann erforderlich, wenn ein Senat (hier der Erste Senat) von der Rechtsauffassung des anderen Senats abweichen will, § 16 Bundesverfas‐ sungsgerichtsgesetz. 91 BVerfG, Beschluss des Plenums vom 3.7.2012 – 2 PBvU 1/11.

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gung, oder verschärfen interessierte Kreise die interne Krise durch Druck von au‐ ßen? Bleibt angesichts der Macht des globalen Finanzsystems überhaupt ein Spiel‐ raum für nationale Krisenbewältigung? Kommt es umgekehrt womöglich sogar zu Interventionen anderer Staaten, ggf. unter dem Deckmantel der „humanitären Inter‐ vention“? Oder wird auch bei erkennbaren Menschenrechtsverletzungen – wie bei dem bewaffneten Eingreifen Saudi-Arabiens in die Bekämpfung des Bürgerkriegs im Jemen – aus politischer Rücksichtnahme selbst eine kritische Stellungnahme ver‐ mieden?

3.1 Der drohende Bürgerkrieg Nahezu jede Diskussion über den Ausnahmezustand ist von dem jederzeit – gewis‐ sermaßen am Horizont drohenden – „Horrorszenario“ eines Bürgerkrieges über‐ schattet, der unter allen Umständen vermieden werden soll. Das zeigte sich in der Staatstheorie besonders deutlich im 17. Jahrhundert bei Thomas Hobbes,92 später in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei Carl Schmitt93 und zeigt sich heute – im Angesicht der globalen Finanzkrise – z.B. bei Giorgio Agamben.94 Agamben hat den von Hobbes geschilderten Naturzustand uminterpretiert. Dieser sei „in Wahrheit ein Ausnahmezustand“, der „im bürgerlichen Staat in Form der Entscheidung fortwäh‐ rend wirksam“ bleibe.95 Hier trifft sich Agamben im Übrigen mit Schmitts Dezisio‐ nismus. Wie kann vermieden werden, dass die politischen Spannungen in einer Gesell‐ schaft so eskalieren, dass daraus blutige und womöglich bewaffnete Auseinanderset‐ zungen werden? Diese Frage betrifft inzwischen nicht nur die Länder des „Arabi‐ schen Frühlings“, sondern auch lateinamerikanische Staaten wie Venezuela. Frank‐ reich stand im Frühjahr 2019 angesichts der Massenproteste der sog. GelbwestenBewegung kurz vor einer solchen Situation. Und was ist zu tun, wenn der Konflikt bereits zum Bürgerkrieg eskaliert ist? Gibt es eine allseits respektierte Instanz, also eine Person oder eine Institution, die z.B. mit Hilfe des Ausnahmezustands die Ord‐ nung wieder herstellen könnte? Reicht dafür die Autorität dieser Instanz, und rei‐ chen ihre Machtmittel hierfür aus? Eine weitere wichtige Frage ist die, mit welchen Konsequenzen der- oder diejeni‐ ge nach dem Ende des Ausnahmezustands zu rechnen hat, der/die die Ausnahmebe‐ fugnisse wahrnimmt und später ordnungsgemäß wieder abgibt. Die Römer kamen im Laufe ihrer Geschichte oft in eine solche Situation und waren daher mit ihr ver‐ 92 93 94 95

Hobbes 1999. Schmitt 1936. Agamben 2004. Agamben 2002, S. 118.

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traut. Sie wählten – im Idealfall – für einen begrenzten Zeitraum (6 Monate) einen Diktator,96 der allen anderen Magistratsbeamten (auch den Konsuln) übergeordnet war. Für das, was er während seiner Amtszeit getan hatte, konnte er nicht strafrecht‐ lich belangt werden. Die wichtigste Aufgabe des Diktators war es, im Rahmen einer „kommissarischen Diktatur“ den Angriff eines starken äußeren Feindes durch Krieg abzuwehren oder einen Aufruhr im Innern niederzuschlagen, um anschließend die verfassungsgemäße Ordnung der Römischen Republik wieder herzustellen.97 Nach Ablauf seiner Wahlzeit verlor der Diktator sein Amt und damit seine Befugnisse. Dass hieraus ein großes Potenzial für den Machtmissbrauch durch einen „starken Mann“ erwächst, liegt auf der Hand. Denn wie kann sichergestellt werden, dass der Diktator auf Zeit die ihm treuhänderisch überlassenen Machtmittel auch freiwillig wieder aus der Hand gibt?

3.2 Die Weimarer Staatskrise Im Laufe der Geschichte hat es in vielen Teilen der Welt gravierende Staatskrisen und Staatsnotstände gegeben, die nur noch durch außerordentliche Maßnahmen be‐ kämpft werden konnten.98 In Deutschland bietet die Staatskrise der Weimarer Repu‐ blik ein anschauliches Beispiel für den Verlauf einer Krise im Europa der Zwischen‐ kriegszeit, die – so scheint es – nur zu einer temporären oder aber zu einer dauerhaf‐ ten Diktatur führen konnte.99 Hätte sich der uns bekannte Verlauf der Geschichte durch das Ausrufen eines zeitlich begrenzten Ausnahmezustands verhindern lassen? Die Weimarer Koalition, die vor allem aus SPD, Zentrum und Deutscher Demokrati‐ scher Partei100 bestanden hatte und – zumindest zeitweilig – als „tragende Säule“ der Weimarer Republik fungierte, zerbrach in der Weltwirtschaftskrise. Die ausländi‐ schen Kredite, auf die insbesondere Gustav Stresemann seine Politik gegründet hat‐ te, waren gestrichen worden, und die eigenen Steuereinkünfte gingen rapide zu‐ rück.101

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Wegen der zeitlichen Begrenzung sprach Bodin diesem „Kommissar“ das Merkmal der Sou‐ veränität ab, vgl. den Beitrag von Norbert Campagna in diesem Band. 97 Siehe hierzu: Agamben 2004, S. 52ff. 98 So verhängte etwa der damalige italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi am 26. Juli 2008 einen landesweiten Notstand zur Bewältigung der starken Zunahme sog. Bootsflüchtlin‐ ge (es waren 10.611 Flüchtlinge im 1. Halbjahr 2008). 99 Siehe hierzu den Beitrag von Dirk Blasius in diesem Band. 100 Später: Deutsche Staatspartei. 101 Vgl. Neumann 1980, S. 101.

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Anfang der 1930er Jahre102 hatten die demokratischen Parteien ihre Mehrheit im Reichstag verloren;103 auch die Präsidialkabinette Brüning (Zentrum), Papen (Zen‐ trum104) und Schleicher (parteilos), die mit Hilfe des präsidialen Notverordnungs‐ rechts (Art. 48 WRV) regierten, waren gescheitert. Sie fanden im Reichstag keine Zustimmung mehr. Reichspräsident Paul von Hindenburg stand daher vor einer schwierigen Entscheidung: Sollte er den bereits ausgearbeiteten Staatsnotstandsplan in Kraft setzen105 und damit die Verfassung brechen, oder sollte er Adolf Hitler als Parteichef der stärksten Fraktion im Reichstag (NSDAP), der eine Regierung der na‐ tionalen Konzentration zu bilden versprach, mit der Regierungsbildung beauftragen? Hindenburg entschied sich schließlich für die zweite Alternative106 und schickte den Reichstag nicht auf unbestimmte Zeit nach Hause.107 Der Reichspräsident hätte das Abweichen von der Verfassung nur mit dem Vorliegen eines Staatsnotstandes recht‐ fertigen können. Dabei wäre jedoch unklar gewesen, wie sich die radikalen Kräfte in dieser Situation verhalten hätten und ob die Republik stark genug gewesen wäre, diese Kräfte niederzuringen.

3.3 Der Staatsnotstand als Alternative wozu? Ob man damit die Zerrissenheit der (Weimarer) Gesellschaft und die – auch daraus resultierende – Zerstrittenheit der politischen Parteien, die sich in den Ergebnissen der Reichstagswahlen spiegelte, und die letztlich dazu führte, dass sich keine Mehr‐ heit mehr für eine Regierung der gemäßigten Kräfte fand, hätte beseitigen können, ist zumindest fraglich. Heinrich August Winkler hat die Behauptung aufgestellt, dass gerade die Alternative des Staatsnotstandsplans – also die Auflösung des Reichstags und die Vertagung seiner Wiedereinberufung auf unbestimmte Zeit108 – einen Aus‐ 102 Am 27. März 1930 scheiterte die von Reichskanzler Hermann Müller (SPD) geführte Koaliti‐ onsregierung aus SPD, DVP, Zentrum und DDP (Deutsche Demokratische Partei/Deutsche Staatspartei) an der Frage einer Beitragserhöhung der Arbeitslosenversicherung um einen hal‐ ben Prozentpunkt. 103 Bei der Reichstagswahl am 30. Juli 1932 ergab sich vielmehr eine (allerdings lediglich rech‐ nerische) Regierungsmehrheit für NSDAP und KPD. 104 Ab 1932 war Franz von Papen parteilos und von 1933-1934 Vizekanzler im Kabinett Hitler. 105 Das hätte aller Voraussicht nach allerdings den Einsatz der Reichwehr und der seit dem 20. Juli 1932 dem Reich unterstehenden preußischen Polizei und damit vermutlich den Bür‐ gerkrieg bedeutet. 106 Die Reichsregierung des Jahres 1933 bestand aus 3 Mitgliedern der NSDAP, darunter Hitler als Reichskanzler, sowie 2 Mitgliedern der DNVP und sechs Parteilosen, darunter von Papen als Vizekanzler und Hjalmar Schacht als Präsident der Reichbank, ab 1934 als Wirtschaftsmi‐ nister. 107 Berthold 1999, S. 28; Pyta 2009, S. 791ff. 108 Art. 25 Abs. 2 WRV legte für den Fall, dass der Reichspräsident den Reichstag aufgelöst hat‐ te, eindeutig fest: „Die Neuwahl findet spätestens am sechzigsten Tage nach der Auflösung statt“.

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weg aus der Staatskrise gebracht und die Weimarer Republik am Leben erhalten hät‐ te.109 Diese (spekulative) Behauptung spielt in der politischen Diskussion in Deutschland immer noch eine nicht unwesentliche Rolle. Letztlich ist heute – fast neunzig Jahre nach den Geschehnissen – jedoch nicht mehr eindeutig zu klären, ob sich in der Folge ein autoritäres Militärregime auf Dauer etabliert hätte, oder ob man wirklich zeitnah zu einer parlamentarischen Demokratie zurückgekehrt wäre.110 Die Voraussetzungen für die zweite Alternative waren jedenfalls denkbar schlecht, wie die Wahlergebnisse zeigten. Auf der anderen Seite ist es aber auch keineswegs si‐ cher, dass eine ähnlich bedrohliche Staatskrise mit dem heutigen Instrumentarium des Grundgesetzes tatsächlich zu bewältigen wäre, wie die Mitglieder des Parlamen‐ tarischen Rates 1949 – vor immerhin 70 Jahren – aber offenbar geglaubt haben.

4. Finanznotstände und Notkabinette Wirtschafts- und Finanznotstände, die oft auch einen Staatsbankrott einschlossen, hat es im 20. Jahrhundert häufig gegeben.111 Besonders den Deutschen ist die Hy‐ perinflation der Jahre 1922 bis 1923 mit ihrem „Notgeld“ noch in abschreckender Erinnerung.112 Der permanente Finanznotstand war im Übrigen eine der Ursachen für das Scheitern der Weimarer Republik.113 Zur endgültigen Überwindung der In‐ flation trugen zwei Ermächtigungsgesetze des Jahres 1923 entscheidend bei.114 Man kann Finanznotstände geradezu als die am häufigsten vorkommenden Staatsnotstän‐ de bezeichnen.115 Allerdings waren diese Notstände bis zum Inkrafttreten der Europäischen Währungsunion auch in Europa regelmäßig auf einzelne Staaten und deren nationale Währung begrenzt. Mit Art. 16 der Verfassung der Fünften Republik werden dem Präsidenten außer‐ ordentliche Handlungsvollmachten eingeräumt. Man könnte von einer „provisori‐ schen Diktatur“ sprechen.116 Art. 38 Abs. 1 eröffnet der französischen Regierung die Möglichkeit, den Belagerungszustand zu verhängen und Notprogramme zu erlassen. Freilich benötigt die Regierung nach der Verfassung dazu eine (befristete) Ermächti‐ gung zum Erlass gesetzesvertretender Verordnungen (ordonnances) durch die Natio‐ 109 Winkler 1993, S. 608. 110 Berthold 1999, S. 10. 111 Vgl. Kerber 2002; im 17. Jahrhundert war davon besonders Spanien betroffen, im 18./19. Jahrhundert vor allem Frankreich; Argentinien ist ein (abschreckendes) Beispiel für das 21. Jahrhundert. 112 Im November 1923 betrug der Umrechnungskurs für einen US-Dollar 4,2 Billionen Mark. 113 Agamben sieht darin eine Bestätigung, dass „in der Moderne politisch-militärischer Notstand und ökonomische Krise tendenziell zusammenfallen“, Agamben 2004, S. 23. 114 Ermächtigungsgesetz vom 13.10.1923 (RGBl. I, S. 943) und vom 8.12.1923 (RGBl. I, S. 1179), vgl. Folz 1962, S. 93 f. 115 Folz 1962, S. 89 f. 116 Mbongo 2017, S. 129-166.

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nalversammlung. Daneben gibt es noch einen weiteren Ausnahmezustand, der Not‐ stand (état d’urgence) genannt wird und ursprünglich für die ausschließliche An‐ wendung in Algerien bestimmt war. In der Folgezeit wurde dieses gesetzliche Instru‐ ment aber immer wieder – auch als Algerien bereits unabhängig war – angewandt.117 Gemäß Art. 36 wird der Belagerungszustand118 vom Ministerrat angeordnet, seine Anwendung über 12 Tage hinaus kann aber nur das Parlament durch Gesetz bestim‐ men. Bei diesen Regelungen wurde allerdings stets die vollständige Souveränität Frankreichs als Nationalstaat vorausgesetzt, zu der auch die Währungshoheit gehört. Mit der Einführung des Euro hat Frankreich aber keine eigene Währung mehr und kann dementsprechend in diesem Bereich nicht mehr allein agieren. Durch die Über‐ tragung der geldpolitischen Zuständigkeiten von der französischen Notenbank auf die Europäische Zentralbank ist die Lage bei einem nationalen Finanznotstand für Frankreich spätestens seit 2002 erheblich komplizierter geworden.119

4.1 Notkabinette als Retter aus der Krise? Eine in der Geschichte bereits mehrfach praktizierte Möglichkeit, die bestehende Ordnung – zumindest für einen gewissen Zeitraum – aufrecht zu erhalten, sind „Not‐ kabinette“, die nach dem Scheitern der „normalen“ Regierungen – oft auf Druck von außen – etabliert worden sind. Sie sollen eine dauerhafte Diktatur („Tyrannis“) ver‐ hindern, entpuppen sich oft aber lediglich als Vorstufe zu dieser. Walter Benjamin hat das schon 1925 klar erkannt: „Die Theorie der Souveränität, für die der Sonder‐ fall mit der Entfaltung diktatorischer Instanzen exemplarisch wird, drängt geradezu darauf, das Bild des Souveräns im Sinne des Tyrannen zu vollenden“.120 In der End‐ phase der Weimarer Republik gab es die drei Präsidialkabinette Brüning, Papen und Schleicher. Sie scheiterten und führten schließlich dazu, dass zunächst eine rechtsna‐ tionale Regierung unter Hitler gebildet wurde. In der Folge etablierte er ein national‐ sozialistisches Regime in Deutschland. Dieses sog. „Dritte Reich“ könnte man – mit Giorgio Agamben – selbst als Ausnahmezustand betrachten, der den Beginn eines „legalen Bürgerkriegs“ markierte.121 Denn durch Hitlers Notverordnung „zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933 sowie durch das Ermächtigungs‐

117 Z.B. In Neukaledonien, Französisch Polynesien, Korsika etc., siehe Tabelle bei Mbongo 2017, S. 131. 118 Hierdurch erhalten Militärpolizei und Militärgerichtsbarkeit besondere Befugnisse. 119 Ähnliches gilt natürlich für Deutschland ebenso wie für die übrigen Mitgliedsstaaten der Eu‐ rozone. 120 Benjamin 1991, S. 249. 121 Agamben 2004, S. 8.

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gesetz vom 24. März 1933122 wurden die individuellen Freiheitsrechte der Weimarer Reichsverfassung auf Dauer außer Kraft gesetzt. Ob dies durch die von Carl Schmitt beschworene Einsetzung eines „kommissarischen Diktators“ zu verhindern gewesen wäre, ist allerdings fraglich. Noch komplizierter wird diese Fragestellung, wenn man die Krisensituation der letzten Jahre als Parallele heranzieht. Im Zeichen der europäischen Finanz- und Währungskrise wurden zeitweilig Notkabinette in Italien (Regierung Monti) und Griechenland (Regierung Papademos) installiert. Sie hatten – teils gewollt, teils un‐ gewollt – nur eine kurze Lebensdauer und zeichneten sich einerseits durch eine ge‐ wisse Parteienferne,123 andererseits durch technokratische Expertise aus. Lassen sich die Notkabinette von Papademos und Monti als „kommissarische Diktaturen“ ver‐ stehen? Beide Ministerpräsidenten waren zuvor Banker bzw. Notenbankpräsidenten und verkörperten den Typus des antipolitischen (Finanz-) Technokraten. Mario Monti, der die italienische Übergangs-Regierung vom 16. November 2011 bis zu seinem Rücktritt am 21. Dezember 2012 leitete, gehörte dem internationalen Bera‐ terstab der Investmentbank Goldman Sachs an und war zeitweilig italienischer EUKommissar. Loukas Papademos, bis 2002 Gouverneur der Bank von Griechenland, amtierte als griechischer Ministerpräsident noch kürzer, nämlich vom 10. November 2011 bis zum 16. Mai 2012. Beide haben zwar Reformen angestoßen, scheiterten aber – trotz aller Unterschiede im Einzelnen – letztlich an dem Widerstand der eta‐ blierten politischen Parteien, die auf ihre eigenen Interessen fixiert waren. Tatsäch‐ lich waren weder Papademos noch Monti „kommissarische Diktatoren“, sie hatten weder die Macht noch die Zeit für durchgreifende Veränderungen, sie waren aber auch keine Regierungschefs im üblichen Sinne.

4.2 Tatsächliche Unregierbarkeit Das mit diesen „Notkabinetten“ verbundene Experiment, den Ausnahmezustand un‐ ter allen Umständen zu vermeiden, ist freilich gescheitert. Die eigentlichen Ursachen der Staatskrise konnten sie nicht beseitigen. In Griechenland bildete schließlich im Januar 2015 Alexis Tsipras mit seiner Partei Syriza124 in Koalition mit der rechtspo‐ pulistischen Partei Anexartito Ellines125 eine neue Regierung. Dieser Regierung ge‐ lang es, nach anfänglichen Schwierigkeiten sich mit tatkräftiger Hilfe der Europä‐ ischen Zentralbank aus dem Schuldenregime des Internationalen Währungsfonds 122 Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich. 123 Der parteilose „Nicht-Politiker“ Mario Monti wurde am 9. November 2011 von Staatspräsi‐ dent Giorgio Napolitano zum Senator auf Lebenszeit ernannt, um die Voraussetzungen für die Übernahme des Amts als Ministerpräsident zu schaffen. 124 Koalition der Radikalen Linken. 125 Unabhängige Griechen.

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und der EU zu befreien.126 In Italien ist bei der Wahl 2018 ein Parlament gewählt worden, das die Zerrissenheit der italienischen Gesellschaft widerspiegelt. Die Re‐ gierung aus der 5-Sterne-Bewegung und der Lega Nord bringt Italien an den Rand der Unregierbarkeit.127 Aus beiden Fällen scheint die EU nichts gelernt zu haben. Denn an den eigentlichen Ursachen, nämlich einem eklatanten Defizit an Staatlich‐ keit bei der Finanzmarktregulierung, wird nichts geändert.

5. Staatsnotstand in der Weimarer Republik „Die Spannung zwischen der Legalordnung und der tatsächlichen Machtausübung durch die Präsidialkabinette konnte auf zwei Wegen gelöst werden, entweder durch die Anpas‐ sung der Legalordnung an die Machtverhältnisse oder durch die Umgestaltung der Machtverhältnisse, so daß eine sinnvolle Ausfüllung der Legalordnung hätte möglich werden können“.128

Die Weimarer Republik hatte mit den ungeklärten Machtverhältnissen nach der durch den Kieler Matrosenaufstand vom November 1918 ausgelösten Revolution auch innenpolitisch ein schweres Erbe übernommen. Das durch die Weimarer Reichsverfassung manifestierte politische System stand – politisch wie wissen‐ schaftlich – beständig auf dem Prüfstand. Kriegsschulden, Reparationen und weitere Forderungen der Siegermächte verschärften die Krise. Spätestens seit 1930 wurde in Deutschland sowohl auf Tagungen wie auch in Publikationen vermehrt von der „gro‐ ßen Staatsreform“ gesprochen und geschrieben. Um die Jahreswende 1932/1933 ging es dann ganz konkret um die Frage, ob bereits ein Staatsnotstand vorliege, der entsprechende Maßnahmen rechtfertige, oder ob es gar keinen „echten Staatsnot‐ stand“ gebe. Dabei ging es zum einen um die wachsende Unmöglichkeit, eine Mehr‐ heit im Reichstag für Gesetzesvorlagen der jeweiligen Reichsregierung zustande zu bringen, zum anderen um die zunehmenden Angriffe der Kampforganisationen von KPD und NSDAP auf die bürgerliche Ordnung. In Berlin und anderen deutschen Großstädten lieferten sich Rotfrontkämpferbund und SA (Sturm-Abteilung) immer häufiger blutige Straßenschlachten, in die oft auch die Polizei involviert war.129

126 Diese Regierung wurde aber 2019 vor allem wegen ihrer schlechten Wirtschaftspolitik wieder abgewählt. 127 Bei der Wahl zum Europaparlament hat die Lega 34% der Stimmen (5-Sterne-Bewegung: 17%) erhalten und erhebt nunmehr den Anspruch auf die Führung der italienischen Regie‐ rung. 128 Neumann 1980, S. 116. 129 Auch die übrigen Parteien hatten Kampfbünde, wie z.B. „Stahlhelm“ (Deutsch Nationale Volkspartei) oder „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ (SPD).

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5.1 Notstandsplanungen der Reichsleitung Kurz vor dem Sturz Franz von Papens als Reichskanzler ließ Reichswehrminister Kurt von Schleicher im November 1932 ein militärisches Planspiel durchführen, um zu prüfen, ob sich Reichswehr und preußische Polizei tatsächlich gegen einen ge‐ meinsamen Aufstand von NSDAP und KPD behaupten könnten. Der Leiter dieses Planspiels war Schleichers Vertrauter Oberstleutnant Eugen Ott, Leiter der Wehr‐ machtsabteilung im Reichswehrministerium. Das Ergebnis war niederschmetternd: „[…] habe sich bei sorgfältiger Abwägung gezeigt, daß die Ordnungskräfte des Reiches und der Länder in keiner Weise ausreichten, die verfassungsmäßige Ordnung gegen einen gemeinsamen Aufstand von Nationalsozialisten und Kommunisten aufrechtzuerhalten und zugleich im Osten die Grenzen gegen einen dann zu erwartenden Aufstand der Polen zu schützen. Es sei daher die Pflicht des Reichswehrministers, die Zuflucht der Regie‐ rung zum militärischen Ausnahmezustand zu verhindern“.130

Am 3. Dezember 1932 wurde Papen als Reichskanzler gestürzt, und Schleicher trat an seine Stelle. Sechs Tage später beschloss der Reichstag, Art. 51 WRV dahinge‐ hend zu ändern, dass nicht mehr der Reichskanzler, sondern der Reichstagspräsident Stellvertreter des Reichspräsidenten sein solle.131 Damit war Schleichers Ambitio‐ nen verfassungsrechtlich ein Riegel vorgeschoben worden.132 Um dem am 31. Janu‐ ar 1933 erwarteten Misstrauensvotum des Reichstags zuvor zu kommen, sollte der Reichstag nach dem Willen Schleichers aufgelöst und die Neuwahlen – gegen den Wortlaut der Verfassung (Art. 25 WRV) – ausgesetzt werden.133 Carl Schmitt war wegen seiner engen Kontakte zur Wehrmachtsabteilung der Reichswehr offenbar un‐ mittelbar in die Notstandsplanungen der Reichsleitung eingeschaltet.134 Ob aller‐ dings Volker Neumanns Sicht der Dinge aus dem Jahre 1980, Schmitt habe von 1929 an den „schleichenden Übergang zur Diktatur auf der staatsrechtlichen Ebene“ vorbereitet,135 zutrifft, ist angesichts neuerer Forschungen fraglich. Tatsache ist al‐ lerdings, dass Schmitt als einer der staatsrechtlichen Berater der Reichswehr fungier‐ te. Am 13. September 1932 hatte Oberstleutnant Ott eine Aussprache mit den drei Staatsrechtslehrern Carl Schmitt, Karl Bilfinger und Erwin Jacobi.136 Auf die Frage, ob eine Verschiebung der Neuwahlen staatsrechtlich zu decken sei, bejahten alle Drei die Frage: 130 Huber 1964, Dok. Nr. 498, S. 619ff.; auf die Loyalität der Reichswehr konnte sich die Reichs‐ regierung ohnehin nicht rückhaltlos verlassen. 131 Gesetz über Änderung der Reichsverfassung, in Kraft getreten am 17.12.1932 (RGBl. I, S. 547). 132 Vgl. Neumann 1980, S. 125. 133 Art. 25 WRV lautet: „Der Reichspräsident kann den Reichstag auflösen. […] Die Neuwahl findet spätestens am sechzigsten Tage nach der Auflösung statt“. 134 Vgl. Huber 1988, S. 33ff.; Muth 1991, S. 75-147. 135 Neumann 1980, S. 107. 136 Neumann 2015, S. 294 f.

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„Wenn Verschiebung der Neuwahl begründet wird auf Verfassungseid (Schaden vom Volke abzuwenden) und begründet wird mit der schweren gegenwärtigen Notlage des deutschen Volkes, das unbedingt Ruhe braucht, so entsteht echtes Staatsnotrecht“.137

5.2 Der Reichspräsident in Beugehaft? Reichspräsident von Hindenburg verweigerte diesem Vorhaben jedoch seine Zustim‐ mung, und auch die demokratischen Parteien lehnten einen solchen Verfassungs‐ bruch ab.138 Hindenburg hätte im Falle seiner Zustimmung nach Art. 59 der Reichs‐ verfassung mit einer Präsidentenanklage vor dem Staatsgerichtshof rechnen müs‐ sen,139 die der Reichstag mit Zweidrittelmehrheit hätte beschließen können. Ein Treffen maßgeblicher Reichswehroffiziere unter dem Vorsitz des Chefs der Heeres‐ leitung, General Kurt von Hammerstein, kam zu dem Ergebnis, dass Hindenburg ge‐ nötigt werden solle, Hitler nicht zum Kanzler zu berufen. Im Falle seiner Weigerung sollte der militärische Ausnahmezustand verhängt und der Reichspräsident in der Festung Potsdam festgesetzt werden. Schleicher verwarf diesen Plan jedoch, am 28. Januar wurde er entlassen,140 und am 31. Januar 1933 wurde Hitler zu seinem Nachfolger ernannt. Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 enthielt mit Art. 48 einen Notstandsartikel, der weitgehende Vollmachten für den Reichspräsidenten enthielt und folgendermaßen lautete: „Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegen‐ den Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten. Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ord‐ nung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der be‐ waffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Arti‐ keln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen. Von allen gemäß Abs. 1 oder Abs. 2 dieses Artikels getroffenen Maßnahmen hat der Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstages außer Kraft zu setzen. Bei Gefahr im Verzuge kann die Landesregierung für ihr Gebiet einstweilige Maßnahmen der in Abs. 2 bezeichneten Art treffen. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichs‐ präsidenten oder des Reichstages außer Kraft zu setzen. Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz.“ 137 Zitiert nach Berthold 1999, S. 33. 138 Auch Schmitt änderte seine Meinung im Herbst 1932 und stand dem Notstandsplan nun mit großer Skepsis gegenüber, Berthold 1999, S. 34, 40 f. 139 Pyta 2009, S. 739. 140 Es erwies sich nun, dass Schleicher – ebenso wenig wie sein Vorgänger Papen – über keinen Rückhalt im Reichstag verfügte, vgl. Berthold 1999, S. 42.

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5.3 Staatsnotrecht außerhalb der Verfassung Von der „Diktaturgewalt“ dieses Notstandsartikels141 hatten bereits seit den 1920er Jahren beide Reichspräsidenten, Ebert und Hindenburg, ausgiebig Gebrauch ge‐ macht. Auch diese „äußerste Legalitätsreserve“ der Weimarer Verfassung142 half in der Krise der Jahreswende 1932/33 jedoch nicht weiter. Sie enthielt nach herrschen‐ der Meinung auch gar kein „Staatsnotrecht“ des Reichspräsidenten.143 Carl Schmitt hatte vielmehr stets ausdrücklich darauf verwiesen, dass ein Staatsnotrecht nicht in‐ nerhalb, sondern außerhalb der Verfassung zu suchen sei: „Das Staatsnotrecht beruht darauf, daß außerhalb oder entgegen Verfassungsbestimmun‐ gen im extremen, unvorhergesehenen Fall irgendein staatliches Organ, welches die Kraft zum Handeln hat, vorgeht, um die Existenz des Staates zu retten und das nach Lage der Sache Erforderliche zu tun“.144

Letztlich geht es bei der Frage nach dem Ausnahmezustand um einen Grundwider‐ spruch des modernen Staates, nämlich den zwischen Ordnung und Freiheit. Peter Schneider hat im Rahmen seiner Untersuchungen zu Ausnahmezustand und Norm die Frage aufgeworfen: Ist Souveränität – gleich welcher Art – im demokratischen Rechtsstaat überhaupt denkbar? Dabei gehe es um die Antinomie zwischen Freiheit und Staat, die eine eindeutige Entscheidung verlange: „Entweder ist die Freiheit oder dann ist der Staat das Höchste. […] Die Souveränität der Freiheit ist also im Normalzustand, die Souveränität des Staates im Ausnahmezustand aktuell“.145

Carl Schmitt hatte bereits 1922 konstatiert, dass eine Jurisprudenz, „die sich an den Fragen des täglichen Lebens und der laufenden Geschäfte“ orientiere, „kein Interes‐ se an dem Begriff der Souveränität“ habe.146 Dieses Desinteresse an Souveränitäts‐ fragen – oft verbunden mit einem gewissen Widerwillen gegenüber der Souveränität – lässt sich in der Tat bis in unsere Tage bei vielen Staatsrechtslehrern feststellen.

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Grau 1922; Schmitt 1924; Nawiasky 1925, S. 1ff. Berthold 1999, S. 55. Anschütz 1919, S. 279, Schmitt 1924, S. 83 f.; in eben dieser Weise hatte der damalige Hamburger Innensenator Helmut Schmidt bei der Sturmflut im Februar1962 die Initiative ergriffen und sich – unter Umgehung aller Vorschriften – zum Befehlshaber von Polizei und Bundeswehr („Herr der Flut“) gemacht. 145 Schneider 1957, S. 110, 111. 146 Schmitt 1922, S. 18.

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5.4 Übergesetzlicher Notstand als Rechtfertigung für Waffenlieferungen? In der Bundesrepublik Deutschland verbietet Art. 26 Grundgesetz die Vorbereitung eines Angriffskrieges, derartige Handlungen – z.B. der Bundesregierung – sind ver‐ fassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen. „Zur Kriegführung bestimmte Waf‐ fen dürfen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden“ (Abs. 2). Als Ausführungsgesetz zu Art. 26 Abs. 2 Grund‐ gesetz ist am 1. Juni 1961 das Kriegswaffenkontrollgesetz in Kraft getreten. Zu den Kriegswaffen gehören u.a. alle Kriegsschiffe sowie U-Boote. Zuständig für die Ge‐ nehmigung ist das Bundeswirtschaftsministerium. Letztlich entscheidet aber der Bundessicherheitsrat, der aus neun Mitgliedern (Bundeskanzlerin, Chef des Bundes‐ kanzleramtes, Bundesminister des Auswärtigen, für Verteidigung, der Finanzen, des Innern, der Justiz, für Wirtschaft und für wirtschaftliche Zusammenarbeit) besteht, geheim tagt und keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegt. Seit 1955 liefern die deutschen Bundesregierungen – gleich welcher Couleur – jedoch Waffen (darunter auch U-Boote) – an Israel, um dessen Sicherheit zu gewährleisten. Auch Bundes‐ kanzler Willy Brandt genehmigte während seiner Amtszeit Waffenlieferungen an Is‐ rael, was von den Beteiligten seinerzeit als „Rechtsbruch“ verstanden und mit einem „übergesetzlichen Notstand“ gerechtfertigt wurde.147 Eigentlich unterliegen Waffen‐ lieferungen in Krisengebiete besonderen Restriktionen, für Israel wird jedoch eine Ausnahme gemacht. Als im Juni 2012 bekannt wurde, dass Deutschland U-Boote an Israel liefert,148 die mit atomaren Marschflugkörpern ausgestattet werden können, wurde öffentliche Kritik laut,149 die freilich keine erkennbare Änderung der Politik der Bundesregierung bewirkt hat.

6. Fazit: Der permanente Ausnahmezustand Die Krisen des globalen Finanzsystems haben dazu geführt, dass der Handlungsund Entscheidungsspielraum der Staaten, aber auch der supra- und internationalen Institutionen, signifikant geschrumpft ist. Unter Aufbietung enormer Geldmittel – aber mit nur mäßigem Erfolg – wurde in der Europäischen Währungsunion (Eurozo‐ ne) mit Hilfe sog. Rettungsschirme versucht, das Finanzsystem zu stabilisieren. Mit der Gefahr für die Stabilität des Euro wird von den Regierenden eine Art „finanzpo‐ litischer Ausnahmezustand“ heraufbeschworen. Grundlegende Prinzipien der parla‐ mentarischen Demokratie bleiben dabei jedoch auf der Strecke, wenn Parlamente zu 147 Der Spiegel Nr. 23 vom 4.6.2012, S. 20-33 [24]. 148 Es geht dabei um insgesamt sechs U-Boote der Kieler Howaldtswerke-Deutsche Werft. Deutschland bezahlt ein Drittel der Kosten (135 Mill. €) und stundet den israelischen Anteil. 149 Günter Grass hatte in einem Gedicht Israel als eine „Bedrohung des Weltfriedens“ bezeichnet und vor einem Krieg Israels gegen Iran gewarnt und war dafür scharf kritisiert worden.

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bloßen Akklamationsinstanzen für an anderer Stelle bereits entschiedene milliarden‐ schwere „Rettungspakete“ degradiert werden. Zudem haben die angewandten Strate‐ gien allenfalls eine mittlere Reichweite, die in erster Linie die Eurozone umfasst. Auf die Aktionen anderer staatlicher Mitspieler (USA, Japan, China), fremder No‐ tenbanken oder privater (Groß-) Investoren haben Europäische Zentralbank oder vom Europäischen Rat veranlasste „Rettungsschirme“ zumindest keinen direkten Einfluss. Das globale Finanzsystem entzieht sich weitestgehend den Einflussmög‐ lichkeiten von Einzelstaaten und multi- oder internationalen Institutionen. Das ist aber keinesfalls zufällig oder eine Art „Unfall“, sondern vielmehr von neoliberalen Kräften in den Regierungen westlicher Staaten – allen voran die USA und Großbri‐ tannien – durchaus gewollt gewesen. In jüngster Zeit hat sich besonders Giorgio Agamben – in Anlehnung an Carl Schmitt sowie an Walter Benjamin,150 der von dem Ausnahmezustand als Normal‐ fall spricht, – mit dem Ausnahmezustand befasst und konstatiert, dass sich die west‐ lichen Demokratien in einem „permanenten Ausnahmezustand“ befinden. In seinen Schriften Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben151 und Ausnah‐ mezustand: Homo sacer II.1152 geht es ihm um das „Paradox der Souveränität“, nämlich dass der Souverän zugleich innerhalb und außerhalb der Rechtsordnung steht. Hier ist unschwer der Bezug zu Carl Schmitts Diktaturkonzept zu erkennen, der ja auch davon ausgeht, dass der Ausnahmezustand letztlich außerhalb der Rechtsordnung angesiedelt ist und das Volk als Souverän außerhalb der geltenden Rechtsordnung steht („souveräne Diktatur“), wenn es sich eine neue Verfassung gibt. Agamben verortet den Ausnahmezustand zwischen Demokratie und Absolutis‐ mus und konstatiert, dass dieser Zustand heute immer mehr von der Ausnahme zur Regel153 und damit zu einer „selbstverständlichen“ Technik des Regierens geworden ist.154 Aus der Endphase der Weimarer Republik zieht Agamben den Schluss, „daß eine ‚geschützte Demokratie‘ keine Demokratie ist und daß das Paradigma der Ver‐ fassungsdiktatur eher als Phase eines Übergangs funktioniert, der in fataler Weise zur Einsetzung eines totalitären Regimes führt“.

Die Frage, ob man Agambens Interpretation des Schmittschen Denkens – und die Verknüpfung mit der Foucaultschen Biopolitik – zu folgen bereit ist, ist offen. Aller‐ dings sind Agambens Einwände durchaus ernst zu nehmen. Er knüpft damit nämlich an Kelsens berühmtes Diktum an: „Eine Demokratie, die sich gegen den Willen der Mehrheit zu behaupten, gar mit Gewalt sich zu behaupten versucht, hat aufgehört, Demokratie zu sein. Eine Volksherrschaft 150 151 152 153 154

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Benjamin 1965, S. 84, Ziff. 8. Agamben 2002. Agamben 2004. Benjamin 1942, S. 697. Agamben 2004, S. 8 f.

kann nicht gegen das Volk bestehen bleiben. Und soll es auch gar nicht versuchen, d.h. wer für die Demokratie ist, darf sich nicht in den verhängnisvollen Widerspruch verstri‐ cken lassen und zur Diktatur greifen, um die Demokratie zu retten“.155

Wer in der Demokratie zur Diktatur greift, um die Demokratie zu retten, wird am Ende mit nichts Anderem als einer Spielart des breiten Spektrums totalitärer Syste‐ me konfrontiert sein. Wer die Demokratie aufs Spiel setzt, wird sie verlieren, sie zu‐ rückzuholen ist hingegen kaum möglich. Die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis finden sich in der Debatte um die „Postdemokratie“. Als Hülle existiert die Demo‐ kratie auch im „permanenten Ausnahmezustand“, es finden Wahlen statt, manchmal werden auch Regierungen abgewählt, aber es ändert sich nichts Grundlegendes.156 Chantal Mouffe weist unter Bezugnahme auf den Altmeister Niccolò Machiavelli eindringlich auf die Gefahren des „Postpolitischen“ hin: „Die postpolitische Perspektive ist durch die Behauptung definiert, wir seien in eine Ära eingetreten, in der dieser potentielle Antagonismus [nämlich der zwischen den Herr‐ schenden und den Beherrschten] verschwunden ist. Damit aber läuft sie Gefahr, die Zu‐ kunft demokratischer Politik aufs Spiel zu setzen“.157

Ist das die Erklärung für die Merkwürdigkeiten unserer Zeit, dass wir uns in einer „postpolitischen“ Phase befinden? Es wäre aber auch durchaus denkbar, dass der Gegenstand dieses – zugegebenermaßen sehr anspruchsvollen – Versuchs einer Be‐ schreibung lediglich die (sichtbare) Spitze des Eisbergs ist. Wir können nur be‐ schreiben, was wir sehen. Für den Versuch des globalen Finanzsystems, die Welt‐ herrschaft zu übernehmen, scheinen wir aber keine Augen zu haben. Er entzieht sich offenbar der Wahrnehmung durch unsere fünf Sinne. Das erlaubt es uns dann auch – im Lehnstuhl gemütlich vor dem Kamin sitzend –, ernsthaft über die Frage zu la‐ mentieren, ob die Beschaffung bewaffneter Drohnen für die Bundeswehr die (von Deutschland ausgehende?) Kriegsgefahr erhöht, oder ob die Regelung des Ausnah‐ mezustands im Grundgesetz den Einsatz demokratievernichtender Instrumente durch die Herrschenden wahrscheinlicher macht. Für eine Analyse der Gefahren für die Demokratie in der Gegenwart fehlt dann meist der nötige Elan.

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Dirk Blasius Preußische Bindungen Carl Schmitts „Ausnahmezustand“ in verfassungsgeschichtlicher Perspektive

1. Der Ausnahmezustand als Rechtsproblem Bei Carl Schmitt ist zwischen Einsichten und Absichten zu unterscheiden. Das gilt besonders für eine seiner wirkungsmächtigsten Definitionen, die kategoriale Erfas‐ sung des „Ausnahmezustandes“. 1922 veröffentlichte Schmitt unter dem Titel Politi‐ sche Theologie „Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität“. Das erste Kapitel „Definition der Souveränität“ leitete er mit dem Satz ein: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ 1 Der ideengeschichtliche und rechtstheoretische Zuschnitt seiner Überlegungen hat deren Rezeption stark beeinflusst. Giorgio Agam‐ ben greift auf Schmitt zurück, wenn er einen dem Ausnahmezustand anhaftenden Widerspruch zu benennen versucht. Wie könne durch eine Suspendierung der gülti‐ gen Ordnung deren Bestehen gesichert werden? Der Ausnahmezustand bleibt bezo‐ gen auf die geltende Rechtsordnung, und es sei die Frage, ob er diese zum Einsturz bringe oder für den Fall äußerster Not und der Gefährdung der Existenz des Staates nur eine Rechtslücke schließe. „Wenn das Eigentümliche des Ausnahmezustands die (totale oder partielle) Suspendie‐ rung der Rechtsordnung ist, wie kann dann eine solche Suspendierung noch in der Rechtsordnung enthalten sein? Wie kann eine Anomie in die Rechtsordnung eingeschrie‐ ben sein?“2

Ernst-Wolfgang Böckenförde, der bedeutende Staatsrechtler der Bundesrepublik, hat im Rückgriff auf Carl Schmitt für einen rechtspolitischen Pragmatismus plädiert. Gelernt habe er von Schmitt, so Böckenförde, „daß der Ausnahmezustand im Grun‐ de dazu dient, in der Krise eine bestehende Ordnung so weit möglich wieder zu sta‐ bilisieren. Auch im Ausnahmezustand kann nicht alles gemacht werden, was man will. Auch er hat eine Struktur, die dazu dient, über die Krise hinwegzukommen.“3 In seiner Freiburger Antrittsvorlesung Der verdrängte Ausnahmezustand. Zum Han‐ deln der Staatsgewalt in außergewöhnlichen Lagen von 1978, die er Carl Schmitt zum 90. Geburtstag widmete, vertrat Böckenförde die These, 1 Schmitt 1922, S. 9. 2 Agamben 2004, S. 32. 3 Böckenförde 2011, S. 372.

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„daß die Erhaltung der Integrität der rechtsstaatlichen Ordnung nicht durch eine vermehr‐ te Gesetzgebung (Problem der sog. Antiterrorgesetze) und schon gar nicht durch die Ein‐ führung des ‚übergesetzlichen Notstandes’ im Verfassungsrecht erreicht werden kann, sondern an die Anerkennung der Möglichkeit des Ausnahmezustandes und dessen verfas‐ sungsrechtliche Verankerung gebunden ist.“4

Böckenförde argumentierte von einer durch die Verfassungsordnung des Grundge‐ setzes vorgegebenen „Verfassungsvorstellung“ aus, bezog aber auch eine „Verfas‐ sungstradition“ ein, die eine ausdrückliche Regelung des Ausnahmezustandes ent‐ halten habe.5 Hier stellt sich die Frage nach der Stellung Carl Schmitts in dieser Tra‐ dition. Der folgende Beitrag untersucht die „Rezeptionsfähigkeit“ (Böckenförde) von Schmitts Lehre vom Ausnahmezustand.6 Methodisch wird ein Weg eingeschlagen, der historisches und juristisches Interesse an Schmitt verbindet. Seine begrifflichen Umschreibungen des Ausnahmezustandes werden auf die geschichtlichen Krisen be‐ zogen, mit denen er sich im Verlauf seines Lebens konfrontiert sah.

2. Von der „Diktatur und Belagerungszustand“ zur „Verfassungslehre“ Schmitts Grundgedanke von 1922, den Ausnahmezustand „im eminenten Sinne“ für die juristische Definition der Souveränität auszuweisen, gewann am Ende der Wei‐ marer Republik eine eminente politische Bedeutung. Die „Frage nach der Souverä‐ nität“ warf die „Frage nach dem Subjekt der Souveränität“ auf. Wer sollte zuständig sein für die Entscheidung, ob in einem „extremen Notfall“ des Staates – und dieser war Anfang der 1930er Jahre eingetreten – „die Verfassung in toto suspendiert wer‐ den kann.“7 Carl Schmitt stellte mit seinen „Lehren“ den Entscheidungsträgern der Weimarer Politik ein gedankliches Gerüst zur Verfügung. „Historisch-politisch-staatsrechtlich betrachtet laufen die Überlegungen offenbar auf eine Überhöhung der Diktaturgewalt des Reichspräsidenten und Oberbefehlshabers der Wehr‐ macht nach Art. 48 Abs. 2 WRV hinaus.“8

Ob Schmitt „in der Agonie der Weimarer Republik“ auf den Ausnahmezustand setz‐ te, um zur Normallage der Verfassungsordnung zurückzukehren, ist historisch um‐ stritten.9 Seine Tagebücher der Jahre 1930 – 1934 relativieren seine Rolle als Rechtsberater der drei Präsidialregierungen Brüning, Papen und Schleicher.

4 5 6 7 8 9

Böckenförde 1978, S. 1881. Böckenförde 1978, S. 1888. Böckenförde 2011, S. 378. Vgl. Schmitt 1922, S. 9 f. Hofmann 2006, S. 273 f. Oberreuter 2008.

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„Nach der Veröffentlichung der Tagebücher […] lässt sich seine juristische Ausdeutung des Präsidialsystems schwerlich weiter als Verteidigung der liberalen Substanz Weimars lesen. Man muss zwischen dem juristischen und dem politischen Denken unterscheiden. Politisch wünschte er niemals die Rückkehr zum parlamentarischen Gesetzgebungsstaat. Die Erwartung einer Wiederkehr des faulen Liberalismus war Ende Januar 1933 abwe‐ gig.“10

In der auf das Ende der Weimarer Republik eingegrenzten politischen Diskussion des Ausnahmezustandes gerät aus dem Blick, dass Carl Schmitts Begriffe weit in den Raum der preußisch-deutschen Verfassungsgeschichte hineinreichen. Sein Werk spiegelt deren Wendungen, Zuspitzungen und Fehlentwicklungen. Carl Schmitts Begriff des Ausnahmezustandes fußt auf einem Sockel historischer Erfahrungen, die ihm der Erste Weltkrieg vermittelte. Im August 1916 entließ der Kaiser den umstrittenen Chef der Heeresleitung Falkenhayn und verfügte die Ernen‐ nung Hindenburgs zum Chef des Generalstabs und Ludendorffs zum Ersten General‐ quartiermeister. Mit der Bildung der dritten Obersten Heeresleitung verschoben sich in einer kritischen Phase des Krieges die Gewichte im Verhältnis von politischer und militärischer Führung. Es drohte ein „System militärischer Suprematie“, für das sich in der politischen Öffentlichkeit der Name „Militärdiktatur“ einbürgerte.11 Carl Schmitt, Privatdozent an der Universität Straßburg, griff in einem Artikel, der 1917 in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft erschien, die Diskussion auf. Aus der Sicht der Staatsrechtslehre handelte er das Thema „Diktatur und Bela‐ gerungszustand“ ab.12 Man kann diesen Beitrag als das erste Betreten eines politi‐ schen Problemfeldes werten, auf dem er noch viele Schritte tun sollte. Schmitt arbei‐ tete in historischer Perspektive „den begrifflichen Gegensatz von Belagerungszu‐ stand und Diktatur“ heraus und verwies in der historischen Einkleidung seiner Argu‐ mente auf die Grenzen militärischen Machtanspruchs gegenüber den Trägern der Zi‐ vilgewalt. Schmitt entwickelte seine These, dass es „historisch ganz unberechtigt“ sei, „den Belagerungszustand als Rechtsinstitution mit der Diktatur zu identifizie‐ ren“, hauptsächlich an der Gesetzgebung Frankreichs, die einen erheblichen Einfluss auf die „heute im Deutschen Reich geltenden Gesetze“ gehabt habe.13 Die Revoluti‐ on des Jahres 1848 ist in Schmitts Augen der Anlass gewesen, sich der rechtlichen Behandlung des Staatsnotstandsproblems anzunehmen. Die französische „loi sur l’état de siège“ vom 9. August 1849 wurde zum „Vorbild“ auch der deutschen Ge‐ setzgebungen.14 Besonders geht Schmitt auf „das preußische Gesetz vom 4. Juni

10 11 12 13 14

Mehring 2011, S. 65. Huber 1978, Bd. V, S. 213 f. Schmitt 1917. Schmitt 1917, S. 138 f. Schmitt 1917, S. 153; vgl. Boldt 1967, S. 47-53.

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1851“ ein, „das durch Art. 68 der Reichsverfassung zum Reichsgesetz geworden ist.“15 So sehr sich Schmitt auch in den historischen Stoff vergräbt, dessen Relevanz für das Problem des Ausnahmezustandes in der Gegenwart verliert er nicht aus dem Au‐ ge. Das preußische Gesetz von 1851, schreibt Schmitt, dachte, „entsprechend den hi‐ storischen Verhältnissen seiner Entstehungszeit, mehr an eine Revolution als an einen Krieg“. Die revidierte Verfassung Preußens vom 31. Januar 1850 hatte in Art. 111 ein Gesetz in Aussicht gestellt, das es ermöglichen sollte, „für den Fall ei‐ nes Krieges oder Aufruhrs bei dringender Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ die in der Verfassungsurkunde genannten Grundrechte „zeit- und distriktweise“ außer Kraft zu setzen.16 Das Gesetz über den Belagerungszustand wurde 1851 in der Preu‐ ßischen Gesetzsammlung veröffentlicht.17 Es traf Regelungen „für den Fall eines Krieges“, aber auch „in Friedenszeiten“ konnte „für den Fall eines Aufruhrs“ der Belagerungszustand erklärt werden. Die Zuständigkeit zur Verhängung des Belage‐ rungszustandes übertrug das Gesetz nicht dem König, sondern dem preußischen „Staats-Ministerium“ (§ 2).18 Die Besonderheit dieser Gesetzgebung bestand darin, dass die Erklärung des Belagerungszustandes ein strenger Formalakt war.19 „Die Erklärung des Belagerungszustandes ist bei Trommelschlag oder Trompetenschall zu verkünden, und außerdem […] durch Anschlag an öffentlichen Plätzen und durch öf‐ fentliche Blätter ohne Verzug zur allgemeinen Kenntniß zu bringen. – Die Aufhebung des Belagerungszustandes wird durch Anzeige an die Gemeindebehörde und durch die öf‐ fentlichen Blätter zur allgemeinen Kenntniß gebracht.“ (§ 3)

Diese strenge Formulierung des konstitutionellen Belagerungszustandes blieb erhal‐ ten, wenn auch die Bismarcksche Reichsverfassung die Zuständigkeitsnorm änderte. Das Recht, den Reichsbelagerungszustand zu verkünden, hatte nun der deutsche Kaiser. Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871 legte in ihrem Ti‐ tel über das „Reichskriegswesen“ in Art. 68 fest, dass der Kaiser, „wenn die öffentli‐ che Sicherheit in dem Bundesgebiete bedroht ist, einen jeden Theil desselben in Kriegszustand erklären“ könne. „Bis zum Erlaß eines die Voraussetzungen, die Form der Verkündigung und die Wirkungen einer solchen Erklärung regelnden Reichsge‐ setzes gelten dafür die Vorschriften des Preußischen Gesetzes vom 4. Juni 1851.“20 Das preußische Gesetz blieb bis zum Ende des Kaiserreichs Teil des Reichsstaats‐ rechts. Die Verschachtelung von preußischem Recht und Reichsrecht hatte Schmitt vor Augen, wenn er das „Ergebnis“ seiner Ausführungen festhielt: 15 16 17 18 19 20

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Schmitt 1917, S. 147; vgl. Boldt 1967, S. 60-73. Huber 1961, Dokumente, S. 401-414, hier S. 413. Huber 1961, S. 414-418. Huber 1963, S. 61 f. Vgl. Huber 1963, S. 1049. Huber 1964, Dokumente, S. 290-305, hier S. 304.

„Die in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen Belagerungs- oder Kriegszustands‐ gesetze beabsichtigen nicht eine Vereinigung von Legislative und Exekutive. Der Militär‐ befehlshaber bekommt intensive Exekutivbefugnisse, die vollziehende Gewalt konzen‐ triert sich ganz in seiner Hand, gesetzliche Schranken fallen fort. Aber seine Tätigkeit und Kompetenz bleibt innerhalb der Exekutive. […] Hier ist der maßgebende rechtliche Unterschied zwischen dem Belagerungs- (oder Kriegs-) Zustand und der Diktatur zu se‐ hen: beim Belagerungszustand tritt unter Aufrechterhaltung der Trennung von Gesetzge‐ bung und Vollzug eine Konzentration innerhalb der Exekutive ein; bei der Diktatur bleibt der Unterschied von Gesetzgebung und Vollzug zwar bestehen, aber die Trennung wird beseitigt, indem die gleiche Stelle den Erlaß wie den Vollzug der Gesetze in der Hand hat – sei es, daß die Exekutive auch die Legislative oder daß die Legislative auch die Exeku‐ tive übernimmt.“21

Carl Schmitt argumentiert an dieser Stelle ganz in der preußischen Tradition einer rechtsstaatlichen Einhegung des Belagerungszustandes. Dessen „Unterarten“, den militärischen und sicherheitspolizeilichen Belagerungszustand, stellte er scharf der „Diktatur“ gegenüber.22 Hier knüpft er an einen Rechtsgelehrten des 19. Jahrhun‐ derts an, der den eigenen wissenschaftlichen Weg immer wieder begleitet hat. Lorenz von Stein (1815-1890) war für Schmitt eine Art Referenzfigur.23 Als Jurist und politischer Publizist war er einer der produktivsten Köpfe seiner Zeit. In der mehrbändigen Verwaltungslehre, an der Stein ab Mitte der 1860er Jahre arbeitete, behandelte er die zentralen Legitimationsprobleme der bürgerlichen Ordnung, die der Entwicklungsgang der bürgerlichen Gesellschaft aufwarf.24 Carl Schmitt wertete Steins Verwaltungslehre als einen großartigen Versuch „konkreten Ordnungsden‐ kens“. „Der liberalen Gewaltenteilungslehre, der Grundlage des liberalen Rechtsstaates und des ihm zugeordneten normativistischen Positivismus, wird – bei Stein weit größer als bei Gneist – deutsches Ordnungsdenken entgegengesetzt“, schrieb Schmitt 1934.25

Doch für Stein gehörten trotz seines am monarchischen Staat festhaltenden und des‐ sen Handlungsmöglichkeiten anmahnenden Denkens rechtsstaatliche Errungen‐ schaften zur Signatur seines Jahrhunderts. In den Teil seiner Verwaltungslehre, der das Polizeirecht enthält, fügte er ein eigenes Kapitel über „Das Recht des Belage‐ rungszustandes“ ein. Er untergliederte dieses Recht in „Kriegszustand und bürgerli‐ cher Belagerungszustand“.26 Für Stein bestand „kein Zweifel, daß derjenige Zustand, den wir den Belagerungszustand […] nennen, die äußerste sicherheitspolizeiliche Maßregel ist, deren Verhängung in der 21 22 23 24 25 26

Schmitt 1917, S. 154-156. Schmitt 1917, S. 147. Blasius 2001 u. 2007. Stein 1866-1884 [1962]. Schmitt 1934, S. 47 f. Stein 1867, S. 124-132.

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Gewalt der Verwaltung liegt. Daß aber auch selbst für diesen Zustand ein objektiv gülti‐ ges Recht zur Anerkennung gelangt ist, muß als einer der wesentlichsten Fortschritte der staatsbürgerlichen Freiheit anerkannt werden.“27

Modellcharakter hatte für Stein das preußische Gesetz über den Belagerungszustand vom 4. Juni 1851. Sein Urteil: „Das ausführlichste unter allen existirenden Geset‐ zen, hart, aber klar.“ Der militärische werde hier vom „bürgerlichen Belagerungszu‐ stand“ geschieden, die „spezielle Suspension der einzelnen bürgerlichen verfas‐ sungsmäßigen Rechte ist nothwendig.“28 Auch Lorenz von Stein wird mit seinen die „Widersprüche und Balancierungen“ des monarchischen Konstitutionalismus aufdeckenden Analysen in dem Werk zitiert, das als Schmitts Hauptwerk gilt.29 Dass seine Verfassungslehre „den Typus einer rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung mit einer bis auf den heutigen Tag über‐ zeugenden Systematik entwickelt hat“, wie Schmitt in der Vorbemerkung von 1954 zum unveränderten Nachdruck der 1928 erschienenen ersten Auflage schrieb, – die‐ ser Einschätzung muss freilich der Gesichtspunkt hinzugefügt werden, dass das Buch in einer Zeit schwelender und offen ausbrechender Krisen des Weimarer Staa‐ tes abgefasst wurde. Die Rechtsfrage nach dem Ausnahmezustand stellt Schmitt 1928 anders als im Kriegsjahr 1917. In seiner Verfassungslehre wird sie auf den Kri‐ senverlauf der Zwischenkriegszeit bezogen. Der Akzent liegt jetzt auf der Entbin‐ dung „politischer Aktivität“, nicht mehr auf „bürgerlich-rechtsstaatlichen Hemmun‐ gen der Staatsgewalt“, die, wie Schmitt schreibt, im Laufe des 19. Jahrhunderts „den sog. Belagerungs-, Kriegs- oder Ausnahmezustand“ als „Rechtsinstitut“ etabliert hatten. Für Schmitt ist Ende der 1920er Jahre die Zeit vorbei, in der die Vertreter des bürgerlichen Rechtsstaates den Ausnahmezustand noch „misstrauisch perhorreszie‐ ren“ konnten.30 Auch die Balancierung im Verhältnis von Diktatur und Belagerungs‐ zustand ist jetzt eine andere. Der Art. 48 Abs. 2 Satz 1 der Weimarer Verfassung hat‐ te dem Reichspräsidenten das Recht eingeräumt, „wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der Sicherheit und Ordnung nötigen Maß‐ nahmen [zu] treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht ein- [zu]schrei‐ ten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die […] Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.“31

Dieser Satz, so Schmitt, enthalte „die Regelung einer typischen Diktatur, zu deren Wesen es gehört, daß a) der Diktator zu Maßnahmen ermächtigt wird, die von der Lage der Sache bestimmt und weder Akte der Gesetzgebung noch der Justiz sind 27 28 29 30 31

128

Stein 1867, S. 124. Stein 1867, S. 131. Schmitt 1928 [1970], S. 309. Schmitt 1928, S. 110. Huber 1966, Dokumente, S. 129-156, hier S. 136.

noch irgendeines endgültig geregelten Verfahrens fähig sein können; daß ferner b) der Inhalt der Ermächtigung nicht tatbestandsmäßig im voraus beschrieben, sondern von dem Ermessen des Ermächtigten abhängig ist.“32 Die Diktatur des Reichspräsi‐ denten legt Schmitt als „kommissarische Diktatur“ aus, die dem Zweck diene, „die öffentliche Sicherheit und Ordnung, d.h. die bestehende Verfassung, zu schützen und zu verteidigen. Schutz der Verfassung und Schutz jeder einzelnen verfassungsgesetz‐ lichen Bestimmung ist ebensowenig dasselbe, wie Unantastbarkeit der Verfassung und Unantastbarkeit jeder einzelnen verfassungsgesetzlichen Bestimmung.“33 Im Begriff der „kommissarischen Diktatur“ lebt das klassische Modell des „bür‐ gerlichen Belagerungszustandes“ fort. Auch in Preußen gehörte der Rückgriff auf den „obersten Militärbefehlshaber“ zur Grundform des staatlichen Notstandsrechts. Man muss dieses preußische Verfassungserbe als möglichen Motivstrang für Schmitts Engagement in den Vorgängen um den sog. Preußenschlag ansehen.

3. Prägungen des „Ausnahmezustandes“ durch historische Lagen Die Reichsregierung unter von Papen hatte, gestützt auf Art. 48 Abs. 1 und 2 der Weimarer Verfassung, die Regierung Preußens unter dem sozialdemokratischen Mi‐ nisterpräsidenten Otto Braun am 20. Juli 1932 ihres Amtes enthoben. (Abs. 1) Carl Schmitt verteidigte im Prozess „Preußen kontra Reich“ vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig im Oktober 1932 das Vorgehen des Reiches.34 Die beiden Diktaturverord‐ nungen des Reichspräsidenten von Hindenburg, die „die Wiederherstellung der öf‐ fentlichen Sicherheit und Ordnung im Gebiet des Landes Preußen“ zum Ziel hatten, bewegten sich im Rahmen der verfassungsmäßigen Vorgaben. Die Absetzungsver‐ ordnung wurde am 30. Juni 1933 durch eine Folgeverordnung aufgehoben. Beson‐ ders die zweite Verordnung des Reichspräsidenten vom 20. Juli 1932 „betreffend die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Groß-Berlin und Pro‐ vinz Brandenburg“ spiegelt die Orientierung an den Normierungen des militärischpolizeilichen Kriegs- und Belagerungszustands des 19. Jahrhunderts. Die „vollzie‐ hende Gewalt“ ging „auf den Reichswehrminister über, der sie auf Militärbefehlsha‐ ber übertragen kann.“ Die „gesamte Schutzpolizei des bezeichneten Gebiets“ wurde dem „Inhaber der vollziehenden Gewalt […] unmittelbar unterstellt.“ Die Grund‐ rechtsartikel der Verfassung werden, heißt es in § 1, „bis auf weiteres außer Kraft ge‐ setzt.“ Diese Verordnung wurde durch eine weitere am 26. Juli 1932 aufgehoben.35

32 33 34 35

Schmitt 1928 [1970], S. 111. Schmitt 1928, S. 112. Preußen contra Reich vor dem Staatsgerichtshof 1933 [1976]. Huber 1992, Dokumente, S. 560-562.

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Carl Schmitt konnte die Gesamtaktion, unabhängig von den auf der Hand liegen‐ den politischen Implikationen, im Einklang mit dem „Sinn und Zweck des Ausnah‐ mezustandes“ sehen, wie er ihn in seiner Verfassungslehre beschrieben hatte.36 Nach 1933 verfiel Preußens Staats- und Rechtstradition zum Zitat in der Feier der natio‐ nalsozialistischen Machterlangung. In einem „Rückblick“ auf den 20. Juli 1932, ver‐ öffentlicht am 23. Juli 1933 im Westdeutschen Beobachter, stehen zwei Sätze, die die Bruchstelle in Schmitts historisch-politischem Denken genau benennen: „Die militärisch-verwaltungsmäßige Technik des Preußenschlags vom 20. Juli 1932 war meisterhaft. Aber ohne den Hintergrund der mächtigen nationalsozialistischen Bewegung wäre dieser Schlag nicht gelungen, und ohne, oder gar gegen diese Bewegung war der deutsche Staat nicht mehr zu halten.“37

Was war vom „deutschen Staat“ im NS-Staat übrig geblieben? In einer Nachbemer‐ kung zu einer 1931 erschienenen Publikation über Die staatsrechtliche Bedeutung der Notverordnung, insbesondere ihre Rechtsgültigkeit schrieb Schmitt 1958: „Keine Verfassung kommt ohne Ausnahmezustand aus, mag dieser als kommissarische Diktatur, politischer Belagerungszustand, Notstand, Regime außerordentlicher Vollmach‐ ten oder wie immer benannt werden. Aber die spezifische Methode, mit der sich ein Re‐ gime gegenüber dieser Lage verhält, ist enthüllend für seine konstitutionelle Organisati‐ on. Ein absoluter Fürst bedarf keines Art. 48; der Machthaber eines totalitären Systems noch viel weniger.“38

1933 hatte Carl Schmitt den Weg, den er von dem Aufsatz Diktatur und Belage‐ rungszustand zur Verfassungslehre gegangen war, verlassen. Die „Verfassung“ des Dritten Reiches kam ohne die Typvarianten des Ausnahmezustandes aus. Wie das nationalsozialistische Regime sich in einer schon früh eintretenden Lage des Aus‐ nahmezustandes verhielt, war enthüllend für seine totalitäre Organisation. Carl Schmitt hat immer sein Wort in die Waagschale der Zeit werfen wollen, doch in der ersten Hälfte des Jahres 1934 war dies besonders heikel. Eine Regimekrise braute sich um das ungeklärte Verhältnis von SA und Reichswehr zusammen. Die Reichswehr hatte sich früh zu Hitler bekannt, ihre Rolle wurde freilich durch den Rollenanspruch der SA infrage gestellt. Der Stabschef der SA, Ernst Röhm, der seit Dezember 1933 als Reichsminister ohne Geschäftsbereich dem Kabinett Hitler ange‐ hörte, warf die Richtungsfrage der Politik auf und stellte sich damit gegen die Richt‐ linienkompetenz des Reichskanzlers. Durch das rasante Anwachsen der Mitglieder‐ zahl von siebzigtausend im Jahr 1930 auf viereinhalb Millionen im Sommer 1934 war die SA unter der Führung Röhms zu einem eigenständigen Machtfaktor gewor‐ den. Der von Hitler angestrebte Gleichklang von Partei- und Staatsorganisation 36 Schmitt 1928 [1970], S. 26 f. 37 Schmitt Juli 1933. 38 Schmitt 1958, S. 260.

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schien gefährdet. Besonders die Reichswehr sah sich durch die Pläne Röhms, die SA zum Kern eines Milizheeres zu machen, herausgefordert. Röhm bestand auf dem „Primat des weltanschaulichen Soldaten“. Der SA-Chef plante sicherlich keinen Putsch, doch mit seinen Sondervorstellungen über den Fortgang der nationalsozialis‐ tischen Revolution und mit der gewaltigen Macht im Rücken, „verkörperte er für den misstrauischen Hitler eine ständige potentielle Putschdrohung.“39 In einer Rede vor dem Diplomatischen Korps und der Auslandspresse brachte Röhm am 18. April 1934 seine Kritik und seine Forderungen unverblümt vor: „In einer unbegreiflichen Milde hat das neue Regiment in Deutschland bei der Macht‐ übernahme mit den Trägern und Handlangern des alten und noch älteren Systems nicht rücksichtslos aufgeräumt.“40

Die nationalsozialistische Revolution, das war in den Augen Röhms nicht die Ver‐ bindung von preußischen Staats- und Rechtstraditionen mit der nationalsozialisti‐ schen Bewegung, nein, so beschloss er seine Ausführungen: „Die SA – das ist die nationalsozialistische Revolution!“ Röhms Konzept einer Permanenz-Revolution wurde von Hitler am 30. Juni 1934 ein blutiges Ende bereitet. Carl Schmitt sah sich 1934 mit einer politischen Krise konfrontiert, die ihn nötigte, auf dem Boden eines „Neubaus des Staats- und Verwal‐ tungsrechts“ zu agieren, für den er sich auf dem Leipziger Juristentag vom Oktober 1933 vehement ausgesprochen hatte.41 Carl Schmitt war auf dem Deutschen Juris‐ tentag, der vom 30. September bis 3. Oktober 1933 über 12.000 Richter, Staatsan‐ wälte, Rechtsanwälte und Verwaltungsbeamte in den Leipziger Messehallen versam‐ melte, kein beliebiger Referent. Er besaß einen Ruf als Wissenschaftler und war in Spitzenämter des „Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen“ aufgestie‐ gen.42 Schmitt sprach am 3. Oktober, morgens 10 Uhr zum Thema „Der Neubau des Staats- und Verwaltungsrechts“. An diesem Tag notierte er in sein Tagebuch: „Leip‐ zig 11 Uhr, großer Erfolg.“43 Den Erfolg bemaß Schmitt an der Aufnahme eines Vor‐ trags, der die These von der Exstirpation der Weimarer Verfassung untermauerte. Der Neubau des gesamten Staatsrechts habe sich aus der neu eingetretenen histori‐ schen Situation ergeben. Die Machtübertragung an Hitler wird als Zäsur markiert. „Das gesamte öffentliche Recht des heutigen Staates steht auf eigenem Boden. Die Weimarer Verfassung gilt nicht mehr.“44 Schmitts Ausführungen sind um ein rhetori‐ sches Zentrum organisiert: die adversative Charakterisierung von „früherer Rechts‐ lage“ und der „rechtlichen Verfassungsgrundlage des heutigen nationalsozialisti‐ 39 40 41 42 43 44

Fest 1973 [1995], S. 641 f. Ursachen und Folgen, Bd. 10, S. 151 f. Schmitt Oktober 1933. Koenen 1995, S. 499-502. Schmitt 2010, S. 305. Schmitt Oktober 1933, S. 242.

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schen Staates“. Die neue Gesamtstruktur der politischen Einheit „Deutsches Reich“ sieht Schmitt durch ihre „Dreigliedrigkeit“ gekennzeichnet: „Der heutige deutsche Staat und sein Verfassungsrecht besteht in drei Elementen: Staat, Bewegung, Volk. Diese drei Begriffe im richtigen Verhältnis zu sehen, ist die Vorausset‐ zung jedes nationalsozialistischen Staats- und Verwaltungsrechts.“45

Schmitt stellte seinen staatsrechtlichen Neubauplan mit dem Gestus eines überlegen argumentierenden Wissenschaftlers vor, dessen Schlussfolgerungen Evidenz bean‐ spruchen konnten. „Wir sehen also Staat, Bewegung und Volk fortwährend in dieser dreifachen Einheit und in einem Dreiklang. Die Gruppierung, die zwischen den drei Elementen notwendig ist, wird dadurch hergestellt, daß die nationalsozialistische Bewegung nicht nur die staattra‐ gende – als solche ist sie längst erkannt – sondern auch die volktragende Größe ist. Die Dreiheit – Staat, Bewegung, Volk – wird demnach von der Bewegung getragen. Die Be‐ wegung ist der führende Teil. So erkennen wir das erste große Grundgesetz des heutigen nationalsozialistischen Staates, das Gesetz des unbedingten Vorranges der politischen Führung, wie sie sich in der nationalsozialistischen Bewegung unter ihrem Führer Adolf Hitler darstellt.“46

Zum Abschluss des Deutschen Juristentages traf auch Hitler in Leipzig ein und rich‐ tete einen „Appell an die deutsche Justiz.“47 Der Führer, so berichtete der Völkische Beobachter, erläuterte „die weltanschaulichen Grundlagen des Rechts und zeigte den Wandel auf, dem in der Entwicklung der Völker auch die Rechtsauffassungen unterworfen sind. Er sprach insbe‐ sondere über die rassische Bedingtheit des Rechtsbegriffes, die zu Erkenntnissen führe, die für die Zukunft von entscheidender Bedeutung auch im internationalen Rechtsleben werden würden. […] Aus der Einheit zwischen Volk und Staat ergebe sich klar und ein‐ deutig die Aufgabe der Staatsführung: Volkserhaltung, Rassenschutz und Rassenpflege. […] Die Rechtsauffassung des liberalen Staates ende im Verfall eines Volkes, das am Staat und seiner Justiz allmählich irre werde. Der totale Staat werde keinen Unterschied dulden zwischen Recht und Moral. Nur im Rahmen seiner gegebenen Weltanschauung könne und müsse eine Justiz unabhängig sein.“

Schmitt folgte am frühen Abend des 3. Oktober 1933 gebannt den Ausführungen des Führers in der Leipziger Messehalle. In sein Tagebuch schrieb er: „Wunderbare Rede Adolf Hitlers über den totalen Staat. Sehr getröstet.“48 Es ist diese Rede Hitlers, mit der Schmitt seinen berüchtigten Aufsatz in der Deutschen Juristen-Zeitung vom 1. August 1934 Der Führer schützt das Recht. Zur

45 46 47 48

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Schmitt Oktober 1933, S. 245. Schmitt Oktober 1933. Völkischer Beobachter, 5. Oktober 1933, S. 2. Schmitt 2010, S. 305.

Reichstagsrede Adolf Hitlers vom 13. Juli 1934 eingeleitet hat.49 Die Herausgeber‐ schaft der DJZ hatte Schmitt erst im Mai 1934 übernommen. Die langatmigen Aus‐ führungen Hitlers vor dem Reichstag las er in der Berliner Ausgabe des Völkischen Beobachters vom 14. Juli 1934 nach.50 Die Frage nach dem „rechtspolitischen Sinn“ von Schmitts Artikel, der die von Hitler veranlassten politischen Morde rechtfertig‐ te, könne, so Reinhard Mehring, nicht dahingehend beantwortet werden, dass Schmitt „den Nationalsozialismus als Ausnahmezustand“ habe demaskieren und eine „Rückkehr zum Normalzustand“ fordern wollen. „Der stärkste Akzent des Arti‐ kels liegt auf der geschichtsphilosophischen Auszeichnung des Geschehens und der Absolution Hitlers.“51 Wählt man beim Blick auf die Niederschlagung des vermeintlichen Putsches der SA die verfassungsgeschichtliche Perspektive des Ausnahmezustandes, ergibt sich ein Zusammenhang zwischen dem Abstoßen des preußischen Verfassungserbes und der Entgrenzung führerstaatlichen Handelns. Zwar einigte sich Hitler mit der Reichsregierung auf das „Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr“ vom 3. Juli 1934, dessen einziger Artikel lautete: „Die zur Niederschlagung hoch- und landes‐ verräterischer Angriffe am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens“, doch Schmitt konnte diesem „Regierungsgesetz“, das er referierte, wenig abgewinnen.52 Er hob die „Besonderheit von Regierungsakt und Führerhandlung“ hervor und sah sie jenseits des überlieferten Staatsrechts mit seinen Beschreibungen des Ausnahmezustandes liegen. Dieses überholte Recht fes‐ sele mit seiner „angeblich lückenlosen Legalität“ Staat und Volk. „Für den äußersten Notfall werden ihm vielleicht unter der Hand apokryphe Notausgänge zugebilligt, die von einigen liberalen Rechtslehrern nach Lage der Sache anerkannt, von anderen im Namen des Rechtsstaates verneint und als juristisch nicht vorhanden angese‐ hen werden. Mit dieser Art von Jurisprudenz ist das Wort des Führers, daß er als des Vol‐ kes oberster Gerichtsherr gehandelt habe allerdings nicht zu begreifen. Sie kann die rich‐ terliche Tat des Führers nur in eine nachträglich zu legalisierende und indemnitätsbedürf‐ tige Maßnahme des Belagerungszustandes umdeuten. Ein fundamentaler Satz unseres ge‐ genwärtigen Verfassungsrechts, der Grundsatz des Vorranges der politischen Führung, wird dadurch in eine juristisch belanglose Formel und der Dank, den der Reichstag im Namen des deutschen Volkes dem Führer ausgesprochen hat, in eine Indemnität oder gar einen Freispruch verdreht.“53 49 Schmitt August 1934, Sp. 945-950. – Die beiden ersten Sätze des Aufsatzes lauten: „Auf dem Deutschen Juristentag in Leipzig, am 3. Okt. 1933, hat der Führer über Staat und Recht gespro‐ chen. Er zeigte den Gegensatz eines substanzhaften, von Sittlichkeit und Gerechtigkeit nicht abgetrennten Rechts zu der leeren Gesetzlichkeit einer unwahren Neutralität und entwickelte die inneren Widersprüche des Weimarer Systems, das sich in dieser neutralen Legalität selbst zerstörte und seinen eigenen Feinden auslieferte.“ 50 Vgl. Mehring 2009, S. 667, Anm. 50; Hitlers Rede in: Domarus 1965, Bd. I, 1. S. 410-424. 51 Mehring 2009, S. 353. 52 Gruchmann 1990, S. 450-454. 53 Schmitt, August 1934, Sp. 947.

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Konnte Schmitt noch 1933 davon sprechen, dass der „deutsche Staat“ sich am 20. Juli 1932 nur mit Hilfe der nationalsozialistischen Bewegung habe „halten“ kön‐ nen, war für ihn 1934 diese „staattragende Bewegung“ von allen juristischen Hemm‐ nissen historisch freigestellt. „Der Führer aber macht Ernst mit den Lehren der deut‐ schen Geschichte.“54 Die politische Ausnahmesituation, zu der die Röhm-Krise es‐ kaliert war, entzog sich ihrer Erfassung durch die juristische Kategorie des Ausnah‐ mezustands. Diese war ein Grundbestandteil der preußisch-deutschen Verfassungs‐ geschichte. Ihr Erbe wertete Schmitt 1933 als Erblast. In diesem Jahr, in dem die Weimarer Verfassung nicht mehr galt, stufte er den Ausnahmezustand zu einer juris‐ tisch belanglosen Floskel herab. Getilgt war freilich der Ausnahmezustand aus dem Leben des Rechtsgelehrten Carl Schmitt nicht. Nach 1945 fand dieses Rechtsinstitut eine neue Würdigung. Ju‐ ristisch könne man, schrieb er 1958, auf dem Weg einer verfassungsgestützten Insti‐ tutionalisierung mit dem „schwierigen Problem des Ausnahmezustandes fertig wer‐ den.“ Die geschriebenen Verfassungen klassischer Staaten wie Frankreich und Preu‐ ßen enthielten „das Rechtsinstitut des klassischen Belagerungszustandes, d.h. einer kommissarischen Diktatur mit gesetzlich umschriebenen Voraussetzungen und Be‐ fugnissen: förmliche Erklärung des Belagerungszustandes, Suspendierung von Grundrechten, Übergang der vollziehenden Gewalt auf den Militärbefehlshaber und Einsetzung von Sondergerichten. So spiegelt sich negativ, aber dafür umso schärfer, in dem französischen Belagerungszustandsgesetz vom 9. August 1849, im preußi‐ schen Gesetz über den Belagerungszustand vom 4. Juni 1851 und in dem bayeri‐ schen Gesetz über den Kriegszustand vom 5. November 1912 eine bestimmte Ver‐ fassungsstruktur.“55 Vielleicht war es die sich hier zeigende Bindung an preußische Traditionen, die die Schriften Carl Schmitts nach 1945 für führende Vertreter des öf‐ fentlichen Rechts studierenswert machten.

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54 Schmitt, August 1934, Sp. 946. 55 Schmitt 1958, S. 261.

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Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands, Bd. 10, o.J.

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Andreas Anter/Verena Frick Der verdrängte Carl Schmitt Ernst-Wolfgang Böckenfördes Diagnostik des Ausnahmezustandes

Als Ernst-Wolfgang Böckenförde im Mai 1978 seine Freiburger Antrittsvorlesung über den „verdrängten Ausnahmezustand“ hielt, stand die allgemeine politische und verfassungsrechtliche Debatte unter dem Eindruck der terroristischen Anschläge der RAF. Der „Deutsche Herbst“ lag erst ein halbes Jahr zurück. Die Bundesrepublik befand sich in einem „nicht erklärten Ausnahmezustand“.1 In dieser Lage richtete sich die rechtspolitische Diskussion auf die Frage der Effektivität wie auch die der Rechtmäßigkeit der getroffenen Antiterrormaßnahmen. Insbesondere der Rückgriff auf den sogenannten „übergesetzlichen Notstand“ aus § 34 StGB, um staatliches Handeln jenseits gesetzlicher Befugnisse zu rechtfertigen, wurde kontrovers disku‐ tiert.2 Auch die damals bereits existierenden Notstandsartikel des Grundgesetzes (Art. 80 a GG, Art. 115 a GG) boten keine Abwehrmöglichkeit gegen terroristische Bedrohung, sie beziehen sich allein auf den Verteidigungsfall, also auf eine Bedro‐ hung von außen.3 Damit wurde indes rund ein Jahrzehnt nach Verabschiedung der umstrittenen Notstandsverfassung offenkundig: das Problem des Ausnahmezustan‐ des war für die Bundesrepublik noch nicht erledigt. Angesichts der als defizitär empfundenen Lage hatte Theodor Eschenburg bereits Ende 1977 eine Verfassungsänderung vorgeschlagen, die sich am Modell des Not‐ standsartikels 48 der Weimarer Reichsverfassung orientieren solle.4 In der Tat ver‐ fügte die Weimarer Verfassung, die selbst in einer Bürgerkriegslage geboren wurde, scheinbar über ein breiteres Notstandsinstrumentarium. Allerdings hatte der exzessi‐ ve Gebrauch eben dieses Instrumentariums nach verbreiteter Ansicht zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen, weshalb der Weimarer Notstandsartikel in der Publizistik der jungen Bundesrepublik keine sonderlich gute Presse hatte. Diesem 1 Vgl. Kraushaar 2006. 2 In seiner Entscheidung zur Kontaktsperre hatte der Bundesgerichtshof die Heranziehung des § 34 StGB als Befugnisnorm für staatliches Handeln bejaht und damit eine Debatte in der Lite‐ ratur ausgelöst. Vgl. Entscheidung d. BGH vom 23. 9. 1977 (Kontaktsperre); NJW 30 (1977), S. 2172-2173. Zur Literatur: Schwabe 1977; Lange 1978; Lübbe-Wolff 1980. 3 Vgl. Zippelius/Würtenberger 2018, S. 598ff.; Klein 2014; März 2014; Mertins 2013, S. 30ff. u. 56ff; Zwitter 2012; Depenheuer 2008, S. 35ff.; Enders 2007; Hillgruber 2007; Schily 2005; Isensee 2004; Windthorst 2003; Esklony 2000, S. 143ff.; Hesse 1999, S. 300ff.; Graf Vitzthum 1992; Schröder 1978. 4 Eschenburg 1977.

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Eindruck trat Theodor Eschenburg in seinem Beitrag entgegen: Man solle sich durch den schlechten Ruf des Art. 48 WRV nicht beirren lassen; der Notstandsartikel sei gegen die nationalsozialistische Bedrohung nur nicht scharf genug angewandt wor‐ den.5 Auch Ernst-Wolfgang Böckenförde wandte in seiner Freiburger Antrittsvorlesung den Blick zurück in die Geschichte. Er blickte dabei jedoch weniger auf den umstrit‐ tenen Weimarer Notstandsartikel, sondern auf dessen wichtigsten Interpreten, Carl Schmitt,6 den damals wie heute prominentesten Theoretiker des Ausnahmezustan‐ des. Böckenförde plädierte mit Schmitt dafür, die Eventualität des Ausnahmezustan‐ des nicht zu verdrängen. Stattdessen forderte er, aktiv die hierzu notwendigen ver‐ fassungsrechtlichen Instrumente zu schaffen.7 Dabei verfolgte er eine doppelte Stra‐ tegie: einerseits ging es ihm um die Rehabilitierung der Positionen seines Lehrers Carl Schmitt und um deren konstruktive Wendung, gleichzeitig führte Böckenförde mit der Thematisierung des Ausnahmezustandes seine eigene rechtspolitische und -theoretische Linie fort. Wie aber sollten die Instrumente des Ausnahmezustandes beschaffen sein? Und inwieweit waren und sind solche Instrumente tatsächlich ver‐ fassungsrechtlich geboten?

I. Die Antrittsvorlesung Böckenfördes hatte über ihren aktuellen Anlass hinaus einen deutlich programmatischen Charakter. Sie behandelt ein genuines Carl-Schmitt-The‐ ma; sie ist Schmitt zum 90. Geburtstag gewidmet; und sie demonstriert eine intime Vertrautheit mit dem Werk des betagten Jubilars. Schon der erste Satz ist eine Varia‐ tion einer berühmten Schmitt-Sentenz.8 Dieser Eindruck bestätigt sich umso mehr, als es Böckenförde nach eigenem Bekunden darum ging, die Kategorien Carl Schmitts auf gegenwärtige Verfassungsfragen anzuwenden.9 Die Abhandlung ist existentiell grundiert, denn sie zielt auf ein Kernproblem der Legitimität des demo‐

5 6 7 8

Eschenburg 1977. Vgl. Schmitt 1924. Böckenförde 1978 a, S. 1882. „Die Erhaltung des Rechts der Normallage setzt die Anerkennung des Ausnahmezustands vor‐ aus.“ (Böckenförde 1978 a, S. 1882) Die berühmte Formel Schmitts lautet: „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus.“ (Schmitt 1963, S. 20). Unzutreffend ist daher die Annahme Günter Frankenbergs, der in diesem ersten Satz von Böckenfördes Abhandlung eine deutliche Distanzierung von Carl Schmitt erkennen will. Vgl. Frankenberg 2010, S. 149ff. 9 Vgl. Gosewinkel/Böckenförde 2011, S. 372. – Schmitts eigene Position zur bundesdeutschen Notstandsgesetzgebung erschließt sich aus einem Manuskript vom Dezember 1959 (Nachlass Carl Schmitt, Landesarchiv NRW), das von Florian Meinel 2013 publiziert wurde. Vgl. Meinel 2013.

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kratischen Rechtsstaates: Wie kann der Staat auf außergewöhnliche Lagen, speziell auf Ausnahmezustände, reagieren, ohne seine Rechtsstaatlichkeit einzubüßen? Böckenförde denkt, ähnlich wie Schmitt, stets von der „Lage“ her. Diese Lage war von der Herausforderung des Rechtsstaates durch den Terrorismus der RAF ge‐ prägt. Radikalenerlass, Lauschwanzen, Kontaktsperre und die Entführung des Ar‐ beitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer bestimmten die Diskussion. Im „Deut‐ schen Herbst“ richtete sich das Interesse der bundesdeutschen Staatsrechtslehre auf die Fragen der rechtsstaatlichen Bewältigung der terroristischen Bedrohung: die Fra‐ ge des „übergesetzlichen Notstandes“, das generelle Problem der Aufrechterhaltung rechtsstaatlicher Ordnung mithilfe sogenannter Antiterrorgesetzgebung, das Problem der Legitimität und Legalität der getroffenen polizeilich-justiziellen Maßnahmen. Die Dialektik von „Legalität und Legitimität“ verweist indes auf ein von Carl Schmitt intensiv beackertes Feld,10 mit dem auch Böckenförde bestens vertraut war – spätestens seitdem Schmitt dem damals Zweiundzwanzigjährigen nach ihrem ers‐ ten persönlichen Zusammentreffen im Frühjahr 1953 ein Exemplar seiner gleichlau‐ tenden Schrift zum Geschenk machte.11 Der Stein des Anstoßes für Böckenfördes Beschäftigung mit dem Ausnahmezu‐ stand waren Fälle staatlichen Handelns, in denen Eingriffe in bestehende Rechte al‐ lein mit dem „übergesetzlichen Notstand“ (§ 34 StGB) gerechtfertigt wurden und dieses Handeln schließlich auch der richterlichen Überprüfung standhielt. So hatte der Bundesgerichtshof nach der Schleyer-Entführung auf Antrag des Generalbun‐ desanwalts im September 1977 nicht nur die Unterbindung des Kontakts zwischen den inhaftierten Terroristen und anderen Häftlingen und Besuchern gebilligt, son‐ dern auch die Sperre des – in § 148 StPO garantierten – Kontakts zwischen den in‐ haftierten Terroristen und ihren Verteidigern für rechtens erklärt. Der Bundesge‐ richtshof stützte sich in seinem Urteil vom 23. September 1977 auf den „allgemei‐ nen Rechtsgedanken, daß die Verletzung eines Rechts in Kauf genommen werden muß, wenn es nur so möglich erscheint, ein höheres Rechtsgut zu retten“.12 Böckenförde bezweifelte, dass der Grundsatz des übergesetzlichen Notstands „als Rechtsordnung der Ausnahmelage Anwendung finden“ könne.13 Sein Argument lau‐ tete: „Bei einer Anwendung im Verfassungsrecht gerät der ‚übergesetzliche Not‐ stand’ zum überverfassungsmäßigen Notstand“, wodurch sich die Möglichkeit der umfassenden „Durchbrechung oder partiellen Außerkraftsetzung“ der Verfassung bieten würde. Der „übergesetzliche Notstand“ werde dann zum „Funktionsmodus der Bürokratie“.14 Diese Formel vom „Funktionsmodus der Bürokratie“ leuchtet in diesem Zusammenhang jedoch nicht unmittelbar ein. Wie kann Notstand zum 10 11 12 13 14

Vgl. Schmitt 1998. Vgl. Gosewinkel/Böckenförde 2011, S. 359. Vgl. Entscheidung d. BGH v. 23. 9. 1977 (Kontaktsperre); NJW 30 (1977), S. 2172-2173. Böckenförde 1978 a, S. 1882. Böckenförde 1978 a, S. 1883.

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„Funktionsmodus“ werden? Der Sinn der Formel erschließt sich erst, wenn man ihre Quelle aufsucht, und man findet sie im Werk Carl Schmitts. Ohne das Zitat auszu‐ weisen, greift Böckenförde an dieser Stelle auf Schmitts Formulierung von 1938 zu‐ rück, wonach die „Legalität“ der „positivistische Funktionsmodus der Bürokratie“ sei.15 Hinter dieser von Schmitt geliebten Formel verbirgt sich ein Aspekt seiner Kritik am Parlamentarismus der Massendemokratie des 20. Jahrhunderts. Schmitt misst den Zustand des Parlamentarismus an dem von ihm zugrunde gelegten Idealbild des Gesetzgebungsstaates der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts und sieht die Entwicklung als Verfallsgeschichte, als „Zusammenbruch des parlamentari‐ schen Gesetzgebungsstaates“.16 Zur Zeit der konstitutionellen Monarchie sei das Parlament Repräsentant des einheitlichen Volkswillens gewesen und habe mit seinen Beschlüssen diese materielle Einheit zum Ausdruck gebracht. Damit seien Legitimi‐ tät und Legalität in eins gefallen: das Parlamentsgesetz habe von vornherein einen materiellen Gehalt, mithin einen Bezug zur Gerechtigkeit besessen.17 Anders in der Weimarer Republik: Aufgrund der pluralistischen Aufspaltung des Parlaments reprä‐ sentierten seine Beschlüsse nicht länger die Einheit des Volkes. Das Ergebnis sei ein Legalitätssystem, „das in einem gegenstands- und beziehungslosen Formalismus en‐ det“.18 Legalität bezeichne nur noch maschinenhaft eine „bestimmte Methode des Arbeitens und Funktionierens von Behörden“19 und die „Reduktion auf Berechen‐ barkeit des Funktionierens“.20 Den in dieser Argumentation enthaltenen Grundgedanken – freilich ohne dessen antidemokratische und antipluralistische Stoßrichtung – nimmt Böckenförde auf. Damit wird vollends klar, was er mit der adaptierten Formel zum Ausdruck bringen möchte: die Gefahr, dass mit Hilfe des „übergesetzlichen Notstands“ Legalität und Legitimität der Verfassungsordnung auseinandertreten. Denn mit der Anerkennung des „übergesetzlichen Notstands“ entstehe „eine perfekte, in sich offene Generaler‐ mächtigung zur Bewältigung von Notständen/Notlagen, der gegenüber jede verfas‐ sungsrechtliche oder gesetzliche Ausformung und Begrenzung von Befugnissen vor‐ läufig wird.“21 Wer mit dem Vorwurf der „Ermächtigung“ hantiert, greift jedoch zu 15 Schmitt 1938, S. 101. Schmitt bezog sich in diesem Kontext auf Max Webers Position, dass die Bürokratie die eigentliche Trägerin des nach legalen Normen funktionierenden Staates sei: „Die Legalität ist der positivistische Funktionsmodus der Bürokratie.“ (Ebd.) – Erst drei Jahr‐ zehnte später, in einem Rundfunkgespräch, versah Schmitt die Formel mit einem geistigen Ei‐ gentumsstempel und erläuterte seine Urheberschaft: „Einer der Sätze, die ich oft wiederholt ha‐ be ... lautet: Die Legalität ... ist ein Funktionsmodus der Bürokratie“ (Schmitt/Schickel 1969, S. 25). 16 Schmitt 1998, S. 7. 17 Schmitt 1932 b, S. 276 f. 18 Schmitt 1998, S. 14. 19 Schmitt 1950, S. 444. 20 Schmitt 1978, S. 322. 21 Böckenförde 1978 a, S. 1883.

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einer scharfen Klinge. Denn mit diesem Begriff verbindet sich unwillkürlich der Akt der nationalsozialistischen Gleichschaltung, der endgültige Abschied vom Rechts‐ staat: das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933. Der Schein der Legalität blieb zwar mit dem Ermächtigungsgesetz vordergründig gewahrt, dennoch konnte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Recht jegliche Legitimität verloren hatte. Die mögliche Instrumentalisierung des § 34 StGB berührt einen Kerngedanken von Böckenfördes Rechtsverständnis. Für ihn ist das Recht wesentlich ein Schran‐ keninstrumentarium, das eine verlässliche Ordnung des Zusammenlebens errichtet und Freiheitssphären der Individuen untereinander verbindlich abgrenzt: „Freiheit als beständige, gesicherte Freiheit gibt es erst durch Recht und im Recht, das Gren‐ zen zieht.“22 Der Maßstab der Grenzfestlegungen des Rechts und damit gleichzeitig der Rechtsschöpfung müsse stets die Freiheit sein. Um tatsächliche Rechtssicherheit zu gewährleisten, ziele das Recht jedoch nicht nur auf normative, sondern auch auf soziale Geltung und so gehöre zum Recht „auch der Vollzug, die Durchsetzung, ein Sanktionsapparat“,23 – kurz: der Staat. Böckenförde betrachtet den Staat als „emi‐ nente politische Kulturleistung“ und ordnende Instanz, „die stark genug ist, die Be‐ grenzung und Regulierung der Sphären individueller und gruppenmäßiger Ungebun‐ denheit vorzunehmen und deren Befolgung zu garantieren“.24 Die Verfassung stelle dem Staat gegenüber wiederum eine Schranke dar und besitze als „umfassende und daher abschließende Regelung der Handlungsbefugnisse staatlicher Organe ... eine verbindliche begrenzende Wirkung und Funktion“.25 Eine offene Generalermächti‐ gung, wie Böckenförde § 34 StGB interpretiert, ist mit diesem Rechtsverständnis un‐ vereinbar. Das telos des Rechts, die Freiheitsgewährleistung durch Begrenzung, kä‐ me dem Recht abhanden, Legalität und Legitimität wären getrennt. Von diesem Standpunkt her erschließt sich, warum für Böckenförde die Rechtfer‐ tigung von Ausnahmebefugnissen mit § 34 StGB eine „Preisgabe des Prinzips des Verfassungsstaates“26 bedeutet. Seine Forderung lautete daher: Das Problem des Ausnahmezustandes müsse in der Verfassung selbst verankert werden. Sie dürfe die‐ ses Problem jedenfalls nicht verdrängen, sondern müsse sich der Frage der „Verfas‐ sungstheorie des Ausnahmezustandes“ stellen.27 Andernfalls drohe ein staatliches Handeln „unter Beiseitelassung der aufgestellten rechtlichen Grenzen“, was „den Übergang in einen von Rechtsbindung freien Raum“ bedeute.28 Auch im Ausnahme‐ zustand soll der Primat des Rechts, und damit die Freiheitsorientierung der staatli‐

22 Böckenförde 1999 a, S. 234. 23 Böckenförde 1999 b, S 214. 24 Böckenförde 1978 b, S. 8 u. 11. – Zu Böckenfördes Staatsverständnis im Kontext der staats‐ rechtlichen Debatten der 1970er Jahre Frick 2018, S. 81ff. 25 Böckenförde 1978 a, S. 1883. 26 Böckenförde 1978 a, S. 1884. 27 Böckenförde 1978 a, S. 1884. 28 Böckenförde 1978 a, S. 1885.

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chen Ordnung insgesamt, nicht preisgegeben werden. Es geht also um „Legitimitäts‐ verteidigung in der und durch die Legalordnung“.29

II. Wer das Augenmerk auf den Akt der „Verdrängung“ richtet und vor den negativen Folgen der Verdrängung warnt, der greift auf einen Topos zurück, der weniger im Verfassungsrecht als vielmehr in der Psychoanalyse beheimatet ist. Folgt man der Theorie Sigmund Freuds, dann handelt es sich bei dem Akt der Verdrängung um einen alltäglichen Abwehrreflex, der einer Person dazu dient, eine als bedrohlich oder fremd empfundene Wahrnehmung aus dem Bewusstsein zu entfernen. Freud betrachtete die Verdrängung als einen zwar alltäglichen, aber gleichwohl vergebli‐ chen, wenn nicht gefährlichen Vorgang. Denn sie führe nicht zum Vergessen des als bedrohlich Empfundenen, sondern nur zur späteren Wiederkehr des Verdrängten, al‐ lerdings nunmehr in pathologischer Form.30 Psychologische Theorien wie diese lassen sich gewiss nicht umstandslos auf ver‐ fassungspolitische Prozesse übertragen; zumal Böckenfördes Abhandlung keine An‐ zeichen einer Rezeption der Schriften Freuds erkennen lässt.31 Dennoch weist seine Argumentation eine bemerkenswerte Parallele zu Freuds Theorie auf. Sie tritt beson‐ ders deutlich an jenen Stellen hervor, an denen Böckenförde vor einer Verdrängung des Ausnahmezustandsproblems in der bundesdeutschen Verfassungspolitik warnt und die rhetorische Frage stellt: „Rächt sich hier eine verdrängte Wirklichkeit?“32 Böckenförde bejaht konsequenterweise diese Frage. Damit argumentiert er ganz auf der Linie der psychoanalytischen Theorie Freuds, vor allem mit Blick auf die negati‐ ven Folgen des Verdrängungsakts. Worin die Pathologie besteht, hat er deutlich be‐ nannt. Wenn Böckenförde hier mit einer „verdrängten Wirklichkeit“ argumentiert, taucht zudem ein Grundproblem auf, das schon in der Weimarer Staatsrechtslehre intensiv diskutiert worden war: das Verhältnis von Rechtsnorm und Wirklichkeit. Der Aus‐ nahmezustand erscheint als realer Prüfstein dieses rechtstheoretischen Problems, denn „angesichts einer unvorhergesehenen ernsten Gefahr, die den Staat fundamen‐ tal, in seinem Charakter als Friedenseinheit und Garant der Rechtsordnung betrifft“, entstehe eine „grundsätzliche Diskrepanz zwischen den vorhergesehenen Befugnis‐ 29 Böckenförde 1992, S. 278. 30 Freud 1915. 31 Jahrzehnte später, in seiner Dankesrede bei der Entgegennahme des Sigmund-Freud-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung im Oktober 2012 in Darmstadt, bekannte er, noch nie etwas von Freud gelesen zu haben. Seine Dankrede bezog sich gleichwohl auf Freuds Abhandlung über Das Unbehagen in der Kultur. 32 Böckenförde 1978 a, S. 1884.

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sen/Modalitäten und einer erfolgreichen Wahrnehmung der Aufgabe in ihrem Kern“.33 Die Vorgänge „des Lebens“,34 wie es Böckenförde an anderer Stelle be‐ schrieb, holen in der Krise gewissermaßen das Recht ein. Wie aber soll das Recht, das stets auf die Normallage ausgerichtet ist, darauf reagieren? Die Antwort der „Reinen Rechtslehre“ Hans Kelsens fand bei Böckenförde keine Zustimmung. Das Verhältnis von Rechtsnorm und sozialer Wirklichkeit sei von die‐ ser überhaupt nicht als genuines Rechtsproblem reflektiert worden. Entsprechend sei es für sie lediglich eine Frage der normativen Kraft einer Verfassung, ob sich die staatlichen Organe auch in schwierigen Zeiten an sie hielten.35 Vom Standpunkt der „Reinen Rechtslehre“ aus ist für das Problem der Rechtsgeltung vielmehr allein ent‐ scheidend, dass das Recht im „Erzeugungszusammenhang einer gültigen Ordnung“ steht, was nichts anderes bedeutet, als dass sich die Geltung „durch den Rekurs zu der die Geltung aller Normen begründenden ersten Verfassung“ ableitet36 – für Böckenförde ein „selbstbezogener Normativismus“.37 Exemplarisch scheint dafür Kelsens resignative Haltung angesichts des drohenden Endes der Weimarer Demo‐ kratie zu stehen: „wer für die Demokratie ist, darf sich nicht in den verhängnisvollen Widerspruch verstricken lassen und zur Diktatur greifen, um die Demokratie zu ret‐ ten. Man muß seiner Fahne treu bleiben, auch wenn das Schiff sinkt; und kann in die Tiefe nur die Hoffnung mitnehmen, daß das Ideal der Freiheit unzerstörbar ist und daß es, je tiefer es gesunken, um so leidenschaftlicher wieder aufleben wird.“38 Wenn Hans Kelsen dafür kritisiert wurde, die Wirklichkeit systematisch auszu‐ blenden und die Normgeltung unabhängig von ihrer realen Befolgung zu denken, so gilt Umgekehrtes für Carl Schmitt, der sich als Theoretiker des Ausnahmezustandes den Vorwurf gefallen lassen musste, die Normativität in einen falschen Gegensatz zur Existentialität zu bringen.39 Böckenförde folgte weder Kelsen noch Schmitt. Er nahm stattdessen eine vermittelnde Position ein, indem er – Hermann Heller para‐ phrasierend – von einer wechselseitigen Bedingtheit von Rechtsnorm und Wirklich‐ keit im Sinne einer „korrelativen Zuordnung“ sprach, um die Notwendigkeit einer Regelung des Ausnahmezustandes zu begründen.40 Schon bei seiner Bestimmung des Staates als „Handlungs- und Wirkungseinheit“ hatte Böckenförde wiederholt auf Hermann Heller zurückgegriffen.41 Von Heller 33 34 35 36 37 38 39 40 41

Böckenförde 1978 a, S. 1885. Böckenförde 1986, S. 183. Böckenförde 1978 a, S. 1884. Kelsen 1934, S. 83. Böckenförde 1978 a, S. 1884. Kelsen 1932, S. 237. Heller 1983, S. 286. Böckenförde 1978 a, S. 1884; vgl. auch Heller 1983, S. 185. Vgl. Böckenförde 1999 c, S. 138; Böckenförde 1978 b, S. 7. In seinem biographischen Inter‐ view gibt Böckenförde an, dass Hermann Heller neben Carl Schmitt ein „Schlüssel zu meinem Denken“ sei. Vgl. Gosewinkel/Böckenförde 2011, S. 378. Siehe dazu jetzt auch Jouanjan 2018.

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übernahm er nun auch die Erkenntnis, dass die Dialektik der „normativen Kraft des faktisch Normalen“ und der „normalisierenden Kraft des Normativen“ die Stabilität der Staatsverfassung garantiere.42 Das Recht müsse demnach die Wirklichkeit in Ge‐ stalt außerrechtlich geformter Verhaltensweisen in sich aufnehmen, um schließlich gestaltend und steuernd auf eben diese Wirklichkeit einwirken zu können und damit wiederum die Normalität der Lage zu befestigen. Normen könnten also nicht unab‐ hängig von der Wirklichkeit gelten, die sie zu ordnen beabsichtigten. Das heißt aber auch: „Entfällt die vorausgesetzte Normallage, entfällt der Bezugspunkt für die in‐ tendierte Regulierungskraft der Norm.“43 Mit seinen Schlussfolgerungen lag Böckenförde nun wieder ganz auf der Linie seines Lehrers Carl Schmitt. Wolle das Recht nicht vor der veränderten Wirklichkeit kapitulieren, bedürfe es rechtlicher Befugnisse, die auf diese Lage bezogen seien. Denn die „bloße Verweigerung oder Verdrängung der Ausnahmelage bleibt eine De‐ klamation des reinen Wollens, dem die Wirklichkeit entgleitet“.44 In rechtspoliti‐ scher Absicht entwickelte Böckenförde daher in seiner Antrittsvorlesung die Grund‐ züge eines Regelungsmodells des Ausnahmezustandes unter dem Grundgesetz. Da‐ bei orientierte er sich eng an Schmitts Konzeption der kommissarischen Diktatur. Deren Grundidee hatte Schmitt 1921 in seiner Abhandlung über Die Diktatur be‐ schrieben: „Gerade für die Republik soll die Diktatur eine Lebensfrage sein. Denn der Diktator ist kein Tyrann und die Diktatur nicht etwa eine Form der absoluten Herrschaft, sondern ein der republikanischen Verfassung eigentümliches Mittel, die Freiheit zu wahren.“45 Der kommissarische Diktator werde eingesetzt, um eine ge‐ gebene Verfassung vor Angriffen zu schützen, die auf ihre Vernichtung zielten. Um dafür alle notwendigen Maßnahmen treffen zu können, müsse er die geltende Ver‐ fassung suspendieren.46 Aus Schmitts Annahmen leitete Böckenförde die verfassungstheoretische Struk‐ tur des Ausnahmezustandes ab. Zum Charakter der Ausnahme gehöre „das Unvor‐ hersehbare, die nicht vorab berechenbare Situation“, daher könne eine Bewältigung des Ausnahmeproblems nicht in einer antizipierten „Vergesetzlichung bestimmter außergewöhnlicher Situationen“ im Sinne einer abschließenden Normierung konkre‐ ter Ausnahmetatbestände bestehen.47 Folglich erschöpfe sich eine mögliche Rege‐ lung in einer relativen Generalklausel. Demgegenüber seien jedoch die Vorausset‐ zungen und der Eintritt des Ausnahmezustandes sowie die Zuständigkeit zur Wahr‐ nehmung der Ausnahmebefugnisse einer Regelung fähig und bedürftig.48 Darüber 42 43 44 45 46 47 48

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Heller 1983, S. 285. – Zu Hellers Positionen siehe Henkel 2011, S. 483ff. Böckenförde 1978 a, S. 1884, wiederum Heller paraphrasierend. Böckenförde 1978 a, S. 1885. Schmitt 1921, S. 6. Vgl. Schmitt 1921, S. 133. Böckenförde 1978 a, S. 1885. Böckenförde 1978 a, S. 1885 f.

hinaus müssten sich die getroffenen Maßnahmen an ihrem Zweck messen und be‐ grenzen lassen: „In der Orientierung auf die Wiederherstellung des Normalzustands liegt die eigentliche Legitimation des Ausnahmezustandes und seiner besonderen Maßnahmen und damit auch seine Begrenzung.“49 Der Ausnahmezustand habe le‐ diglich „transitorischen Charakter“50 und das Ziel, sich selbst überflüssig zu ma‐ chen. Im Zentrum von Böckenfördes Modellstruktur steht der Begriff der Maßnahme; er bildet das rechtsinhaltliche Unterscheidungskriterium von Ausnahmezustand und Normallage. In seiner Interpretation des Art. 48 WRV hatte Carl Schmitt die Unter‐ scheidung von Norm und Maßnahme geprägt, um die unterschiedliche Rechtskraft der jeweils getroffenen Entscheidungen deutlich zu machen.51 Böckenförde definier‐ te in Anlehnung an Carl Schmitt die Maßnahme als Ausdruck „sach- und zweckge‐ richteter Aktion, praktisch-technischen Vollzugs und im Interesse eines konkreten Ziels“.52 Das Gesetz sei dagegen eine an einem „Rechtsprinzip orientierte Rechtsre‐ gel“,53 die „einem Rechtsgedanken dient und ihn vollziehbar macht“.54 Um die Inte‐ grität des Normalzustands zu erhalten, müssten die Maßregeln des Ausnahmezustan‐ des „von dem Recht der Normallage wesentlich und strukturell unterschieden blei‐ ben“.55 Die Maßnahme habe Befehlscharakter und nicht die Geltungskraft des Ge‐ setzes. Daher überlagere und suspendiere sie lediglich die Rechtsordnung, die weiter fortgelte und nur außer Anwendung sei. Denn allein rechtsinhaltlich fehle es der Maßnahme bereits an „Rang und Würde des Gesetzes“.56 Böckenförde bediente sich hier freilich Unterscheidungskriterien, die der Formty‐ pik des bürgerlichen Rechtsstaatsverständnisses des 19. Jahrhunderts entstammten. Demnach kennzeichnete die Maßnahme eine spezifische Relation von Mittel und Zweck, mithin eine punktuelle Regelung, während das Gesetz dazu bestimmt war, einen Lebensbereich allgemeingültig zu ordnen und daher die Vorstellung einer ge‐ rechten Ordnung beinhalten sollte.57 Ob diese Unterscheidung auch im demokrati‐ schen Sozialstaat des Grundgesetzes noch Trennschärfe und Gültigkeit besaß, war umstritten.58 Ungeachtet dieser Diskussion hielt Böckenförde damit aber vor allem an einer Konstante seiner Beschäftigung mit dem Recht des demokratischen Verfas‐

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Böckenförde 1978 a, S. 1886. Böckenförde 1986, S. 185. Vgl. Schmitt 1924, S. 247ff. Böckenförde 1978 a, S. 1889. Böckenförde 1978 a, S. 1889. Böckenförde 1986, S. 186. Böckenförde 1978 a, S. 1886. Böckenförde 1978 a, S. 1889. Vgl. Forsthoff 1955, S. 225. Vgl. dazu Forsthoff 1955, S. 226 f.; sowie die Berichte auf der Tagung der Staatsrechtslehrer‐ vereinigung 1956 von Menger/Wehrhahn 1957.

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sungsstaates fest, und zwar dass die Sicherung der Freiheit „zu einem guten Teil in Formen und Verfahren“ liegt.59 Ein genauerer Blick in die Fußnoten offenbart indes, dass Böckenförde weite Tei‐ le seiner Argumentation neben Schmitt noch auf einen zweiten Autor stützte: Kon‐ rad Hesse, den Freiburger Doyen der Smend-Schule. Böckenförde führte Hesse un‐ ter anderem als einen Kritiker der Notstandsverfassung an, als einen Befürworter einer klaren Trennung von Ausnahmezustand und Normallage sowie von weiten Ausnahme-Ermächtigungen.60 Hesse war als Sachverständiger an den Beratungen zur Notstandsverfassung beteiligt gewesen und äußerte sich schon früh zum Problem des Ausnahmezustandes unter dem Grundgesetz.61 Er ließ bereits 1955 Sympathie für den umstrittenen Art. 48 WRV erkennen, den er als „staatsrechtlich gebotene und rechtsstaatlich legitime Lösung des Problems“62 bezeichnete – ungeachtet einer spä‐ teren vorsichtigen Relativierung dieser Positionen im Hinblick auf die organisations‐ rechtliche Ausgestaltung dieser Generalklausel.63 Hesses Fazit gleicht demjenigen Böckenfördes: „An der Notwendigkeit, das GG durch Einfügung einer Notstands‐ klausel sozusagen wetterfest zu machen, kann heute kein Zweifel mehr bestehen. Eine Verfassung, die in Notzeiten nicht gehalten werden kann, verfehlt ihren Sinn.“64 Die Kombination dieser beiden Referenzen ist insofern interessant, als es sich um zwei Autoren handelt, die sich in ihren verfassungsrechtlichen Positionen konträr gegenüberstanden und sich auch sonst nicht wohlgesonnen waren.65 Wenn sie aber nun bei Böckenförde als einzige Autoren herausgestrichen und direkt aneinanderge‐ rückt werden, wirkt seine Antrittsrede wie der Versuch, Hesse und Schmitt zu ver‐ binden – und somit auch eine Brücke zwischen der Smend- und der Schmitt-Schule zu schlagen.66 Das Freiburger Publikum dürfte darin gleichwohl eine feine Spitze er‐ kannt haben, denn noch zehn Jahre zuvor war Böckenfördes Berufung auf einen Freiburger Lehrstuhl an der Intervention eines Smend-Schülers gescheitert.67 Gleichzeitig machte die Parallelisierung der beiden Autoren auch deutlich, dass mit 59 Gosewinkel/Böckenförde 2011, S. 366. Zur Bedeutung der rechtlichen Form für Böckenfördes Regelungsvorschlag des Ausnahmezustands jetzt auch Hong 2019. 60 Vgl. Böckenförde 1978 a, Fn. 3, 40, 65, 68. 61 Vgl. Hesse 1955. 62 Hesse 1955, S. 744. 63 Hesse 1960. 64 Hesse 1960, S. 108. 65 Unter vielen Anhängern der Schmitt-Schule war Konrad Hesse nicht sonderlich beliebt. Für Roman Schnur verkörperte er eine „Mischung aus Dummheit und Hochnäsigkeit“ (Roman Schnur an Carl Schmitt am 16. April 1963, mitgeteilt bei Günther 2004, S. 133). Auch Böckenförde sparte an anderer Stelle nicht mit sachlich-inhaltlicher Kritik an Hesses Verfas‐ sungsverständnis (Böckenförde 2011, S. 141ff.). 66 Zum Gegensatz zwischen diesen beiden Schulen: Günther 2004, passim. 67 Noch 1967 hatte wohl Wilhelm Hennis gegen die Berufung eines – neben Joseph H. Kaiser – weiteren Schmitt-Schülers opponiert. Zehn Jahre später dagegen war er es, der sich maßgeb‐ lich für die Berufung Böckenfördes einsetzte und ihn sogar zur Bewerbung ermunterte. Mitge‐

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dem Ausnahmezustand möglicherweise noch etwas anderes verdrängt worden war, nämlich die bleibenden Einsichten Carl Schmitts.

III. Eine „Verfassungstheorie des Ausnahmezustandes“, wie sie Böckenförde inaugu‐ riert, steht jedoch großen Schwierigkeiten gegenüber, womöglich den größten Schwierigkeiten, die im Verfassungsrecht überhaupt denkbar sind. Denn sie berüh‐ ren die Frage, wie das schlechthin Nicht-Normierbare normiert werden kann. Bö‐ ckenfördes Auskunft in dieser Frage fällt letztlich skeptisch aus: „Es ist keine zurei‐ chende und daher abschließende inhaltliche Regelung des Ausnahmezustandes mög‐ lich; zum Charakter der Ausnahme gehört das Unvorhersehbare, die nicht vorab be‐ rechenbare Situation, die daher auch normativ nicht antizipierbar ist.“68 Damit ist der Ausnahmezustand „aber doch ein Vorgang der Entgrenzung“,69 wie Böckenförde einräumen muss. Denn eine wirksame Regelung des Ausnahmezustandes kann nicht auf Generalklauseln verzichten. Die Notwendigkeit einer solchen Regelung scheint auf der Hand zu liegen: Da Notstandslagen und Ausnahmezustände naturgemäß un‐ vorhersehbar sind, ist es gar nicht möglich, sie durch einen detaillierten Regelungs‐ katalog zu normieren, zumal das Handeln in solchen Lagen eo ipso durch seine Un‐ vorhersehbarkeit codiert ist.70 Böckenfördes schärfste Kritikerin war die damals siebenundzwanzigjährige Frei‐ burger Doktorandin Gertrude Lübbe-Wolff. Insbesondere hielt sie seine Forderung nach einer verfassungsrechtlichen Verankerung des Ausnahmerechts für abwegig und wandte ein, daß seine These „keine Evidenz für sich in Anspruch nehmen kann“. Sie machte vielmehr deutlich, „daß die Gefahr der Perpetuierung eines recht‐ lich institutionalisierten Ausnahmezustandes im Prinzip größer ist als die Gefahr, daß ein Zustand permanenter Rechtlosigkeit aus einer Situation erwächst, in der un‐ ter dem exzeptionellen Handlungsdruck einer Notstandssituation zu illegalen Mitteln gegriffen wurde, ohne daß zu ihrer Rechtfertigung eine Notstandsermächtigung zur Verfügung gestanden hätte. Die legale Ungebundenheit, die der rechtlich institutio‐ nalisierte Ausnahmezustand ermöglicht, lädt dazu ein, es sich darin bequem zu ma‐ chen.“71 Für Lübbe-Wolff gab es dagegen nur eine Lösung des Ausnahmeproblems: den Ausnahmezustand zu ignorieren und keine Ausnahmeermächtigungen in der

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teilt in: Gosewinkel/Böckenförde 2011, S. 379. Kurz nach Böckenfördes Berufung veranstalte‐ ten sie in Freiburg bereits ein gemeinsames Seminar – über Carl Schmitt. Vgl. Hennis/Schlak 2013, S. 333. Böckenförde 1978 a, S. 1885. Böckenförde 1986, S. 188. Vgl. Eschenburg 1977; Böckenförde 1978 a, S. 1885; Lübbe-Wolff 1980, S. 117. Lübbe-Wolff 1980, S. 123.

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Rechtsordnung zur Verfügung zu stellen. Sie mutete „Staatsorganen, die sich durch exzeptionellen Handlungsdruck zu Rechtsverletzungen gezwungen sehen, die offene Illegalität zu“ und sah die Rechtsordnung „gerade dadurch am besten geschützt“.72 Zwar ließ Böckenförde den Einwand Lübbe-Wolffs nicht gelten. In seiner Replik, die noch im selben Jahrgang in der Zeitschrift für Parlamentsfragen erschien, vertei‐ digte er das von ihm vorgeschlagene Modell: darin sei schließlich „die Ausnahmeer‐ mächtigung von vornherein zeitlich eng begrenzt“, und sie werde daher nicht endlos perpetuiert, bis sie vom Parlament widerrufen werde.73 Er warf seiner jungen Oppo‐ nentin generell vor, Weimarer Gegebenheiten als Argumente „gegen ein Regelungs‐ modell ins Feld zu führen, das gerade auf anderen Voraussetzungen beruht und selbst Vorkehrungen trifft, daß Weimarer Entwicklungen sich nicht wiederholen können“.74 Böckenförde beharrte darauf, dass eine Verweigerung rechtlicher Aus‐ nahmebefugnisse unweigerlich ein Einfallstor für den „übergesetzlichen Notstand“ ins Verfassungsrecht sei.75 Dennoch dürften jene generellen Schwierigkeiten einer Normierung des Ausnah‐ mezustandes dazu geführt haben, dass Böckenfördes Vorstoß letztlich politisch nicht durchsetzbar war. Zwar befand er sich zur damaligen Zeit in regelmäßigem Aus‐ tausch mit dem rechtspolitischen Ausschuss beim Parteivorstand der regierenden SPD und offenbar wurde Böckenfördes Auffassung zum Ausnahmezustand dort auch mehrheitlich gebilligt. Die gesellschaftspolitische Debatte über den Ausnahme‐ zustand war jedoch zu „heiß“, als dass die SPD mit einem ernsthaften Vorstoß für eine Grundgesetzänderung an die Öffentlichkeit gegangen wäre.76 Böckenförde pu‐ blizierte schließlich einen bereits entsprechend ausgearbeiteten Regelungsentwurf als persönliche Ansicht in der Festschrift für den SPD-Rechtspolitiker und damali‐ gen Verfassungsrichter Martin Hirsch.77 Nichtsdestoweniger hielt Böckenförde an seiner Auffassung fest und bedauerte, dass nicht begriffen worden sei, „daß der Ausnahmezustand im Grunde dazu dient, in der Krise eine bestehende Ordnung soweit möglich wieder zu stabilisieren. ... Auch er hat eine Struktur, die dazu dient, über die Krise hinwegzukommen.“78 Dass man das Recht der Normallage von dem der Ausnahmelage unterscheiden müsse, ist generell eine der Grundmaximen der Schmitt-Schule. Für Ernst Forsthoff etwa war es schlicht ein „introvertiertes“ Verfassungsdenken, diese Unterscheidung zu igno‐ rieren. Für ihn war es, ebenso wie für Carl Schmitt, ein methodisches Grundprinzip,

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Lübbe-Wolff 1980, S. 125. Böckenförde 1980, S. 593. Böckenförde 1980, S. 594. Böckenförde 1980, S. 595. Vgl. Gosewinkel/Böckenförde 2011, S. 428. Vgl. Böckenförde 1981, S. 266ff. Zu jüngsten Versuchen, an Böckenfördes Regelungsmodell in rechtspraktischer Absicht anzuschließen, siehe Pasquino 2018; Rivers 2018; Shankar 2018. 78 Vgl. Gosewinkel/Böckenförde 2011, S. 372.

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auch in saturierteren Zeiten stets den Ausnahmezustand im Blick zu behalten. In den frühen sechziger Jahren warnte Forsthoff daher die Rechtspolitik davor, angesichts der „weitgehenden Entpolitisierung unter dem Grundgesetz“ den Fehler zu begehen, nunmehr „ausschließlich in Normallagen zu denken“.79 Er hoffte mit dieser Bemer‐ kung seinem alten Lehrer Carl Schmitt, wie er ihm noch vor der Veröffentlichung schrieb, „einigen Spass machen“ zu können,80 was ihm zweifellos auch gelang.

IV. Noch fünfzehn Jahre später empfand Ernst-Wolfgang Böckenförde ein ähnliches Vergnügen. Er betrachtete das Problem nun jedoch aus einem anderen Blickwinkel. Wie Forsthoff wehrte er sich zwar gegen ein introvertiertes Rechtsdenken, „das die eigenen Voraussetzungen nicht reflektiert“, aber seine Pointe war eine gewisserma‐ ßen dialektische: „Wer meint, Ausnahmelagen nur dadurch begegnen zu können oder zu dürfen, daß er sie gesetzlich normiert, schafft schließlich ein Recht der Nor‐ mallage, das vom Ausnahmezustand her bestimmt ist.“81 Darin ist eine entscheiden‐ de Änderung der Blickrichtung gegenüber seinen ‚exzeptionellen Lehrern Schmitt und Forsthoff zu sehen. Während diese sich methodisch auf den Fixpunkt der Aus‐ nahme kaprizierten, ging es Böckenförde letztlich um die Verteidigung der Normal‐ lage. Von dieser Orientierung blieb womöglich auch sein greiser Lehrer Carl Schmitt nicht unbeeindruckt. Als der neunzigjährige Schmitt im Jahr 1978 seinen Aufsatz über „Die legale Weltrevolution“ veröffentlichte, kam er einem Wunsch seines Schülers Ernst-Wolfgang Böckenförde nach, das Problem von Legalität und Legiti‐ mität rückblickend im Licht der Ereignisse von 1932/33 zu erörtern.82 Diese letzte Publikation Schmitts ist werkbiographisch insofern von Bedeutung, als er sich hier von seiner ironisch-distanzierten Haltung gegenüber dem Staat der Bundesrepublik verabschiedet. Vielmehr ist eine positive Hinwendung zu diesem Staat und seinen Problemen zu erkennen. Für diesen Einstellungswandel spielt sein Schüler Böckenförde womöglich eine weit größere Rolle, als man es von einem weit jünge‐ ren Schüler annehmen würde.

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Forsthoff 1963, S. 398. – Zu Forsthoffs Positionen siehe Meinel 2011, S. 430ff. Forsthoff, Brief an Carl Schmitt vom 9. Juli 1963 (in: Forsthoff 2007, S. 191). Böckenförde 1978 a, S. 1888. Vgl. Mehring 2007, S. 564.

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Reinhard Mehring Das Leben als Ausnahmezustand Carl Schmitts Repräsentation

1. Kompensative literarische Grenzüberschreitungen Juristen haben ein enges Verhältnis zum Wort und sind häufig gute Schriftsteller. Der bekannteste deutsche Fall ist Johann Wolfgang von Goethe. Aktuell wäre bei‐ spielsweise der Böckenförde-Schüler und Ebrach-Teilnehmer Bernhard Schlink zu nennen, der mit seinem Vorleser einen literarischen Welterfolg landete. Carl Schmitt waren literarische Ambitionen auch nicht ganz fremd. So erwog er 1922 eine Schlüsselnovelle über sein Eheleben als „treuer Zigeuner“ zu schreiben. Eine ganze Reihe veritabler Universitätsprofessoren schrieben Schlüsselromane über das Leben als Wissenschaftler. Aus der Reihe der Campus-Romane ist Perlmanns Schweigen (1995) besonders gelungen. Der Philosoph Peter Bieri, ein gebürtiger Schweizer, verfasste den umfangreichen Roman unter dem literarischen Pseudonym Pascal Mercier. Perlmanns Schweigen war Bieris erster Roman. Bieri war ein angesehener Philosoph aus der analytischen Schule, Professor für Philosophie in Bielefeld (1983), Marburg (1990) und Berlin (1993). An der Freien Universität Berlin wurde er der Nachfolger seines akademischen Lehrers Ernst Tugendhat. Philosophisch ent‐ fernte er sich in Berlin aber von der analytischen Schule1 und vertrat mit seinem Buch Das Handwerk der Freiheit2 eine recht konventionelle Verteidigung des intro‐ spektiv evidenten Teilnahmestandpunkts individueller Willensfreiheit. Perlmanns Schweigen, nach Bieris Wechsel an die Endstationsuniversität FU-Berlin veröffent‐ licht, ist ein tragikomischer Roman über die Psychologie akademischer Reputation, Kreativität und Originalität und die Diskrepanz zwischen akademischer Selbstwahr‐ nehmung und Außensicht. Der international renommierte Linguistik-Professor Philipp Perlmann hat den akademischen Betrieb eigentlich satt. Dennoch übernimmt er die Leitung eines elitä‐ ren Symposions in einem Nobelhotel an der ligurischen Küste. Einen eigenen Vor‐ tragstext hat er noch nicht. In der akademischen Konkurrenz mit einem amerikani‐ schen Kollegen beschließt er deshalb unter äußerstem Druck, Tablettenmissbrauch, Eskapaden und Reflexionsschleifen, eine drohende Blamage durch die Übersetzung 1 Bieri 2007, S. 333-344. 2 Bieri 2001.

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eines entlegenen russischen Textes abzuwenden. Doch der plagiierte russische Kol‐ lege trifft überraschend selbst als Teilnehmer am Symposion ein; Perlmann will ihn durch einen fingierten Autounfall töten. Es kommt dann nach manchen Verwicklun‐ gen doch zu einer anderen Lösung, und Perlmann steigt aus der Wissenschaft aus. Perlmanns Schweigen schildert mit satirischer Schärfe die Innensicht der akademi‐ schen Konkurrenzen, Reputationskämpfe, Disziplinierungs- und Ekstasetechniken, mit denen Perlmann seine professionelle Indifferenz gegenüber den akademischen Formen und Anforderungen überspielt und sich zum erwarteten Auftritt und Verhal‐ ten zwingt. Der satirische Witz des Romans liegt nicht nur in der Diskrepanz zwischen Perl‐ manns Selbstwahrnehmung und den akademischen Üblichkeiten und Ritualen, son‐ dern auch in der asymmetrischen Anerkennung, die Perlmann über die Mitwelt sei‐ ner Kollegen hinaus vom Romanleser erhält. Perlmann ist ein hochbegabter, brillan‐ ter Wissenschaftler. Daran zweifelt niemand außer ihm selbst. Ein Plagiat hat er nicht im Mindesten nötig. Jederzeit wäre er in der Lage, auch ohne Betrug den kolle‐ gialen Erwartungen zu entsprechen und sein hohes Ansehen als Wissenschaftler zu bestätigen. Er braucht im Rahmen eines solchen Symposions, der akademischen Ca‐ mouflage einer Urlaubsreise, eigentlich gar kein innovatives Manuskript. Seinen Rang als Wissenschaftler beweist er dort praktisch nicht durch seinen akademischen Output, seinen originellen Vortrag, sondern durch die Psychologie seines hohen Spiels um die akademische Reputation. Zum Spiel gehört der konventionelle Schein, dass es um die Sache und nicht um den sozialen Event oder persönliche Interessen und Beziehungen – freund-feindliche Konkurrenzen, kultivierte Geselligkeit und Unterhaltung oder auch erotische Abenteuer – geht. Max Weber schrieb in Wissen‐ schaft als Beruf: Wer „nicht die Fähigkeit besitzt, sich einmal sozusagen Scheuklappen anzuziehen und sich hineinzusteigern in die Vorstellung, daß das Schicksal seiner Seele davon abhängt: ob er diese, gerade diese Konjektur an dieser Stelle dieser Handschrift richtig macht, der bleibe der Wissenschaft nur ja fern. Niemals wird er in sich das durchmachen, was man das ‚Erlebnis’ der Wissenschaft nennen kann.“ (MWGA Bd. XVII, 80 f)

Während Weber von der Identifikation mit Inhalten spricht, der manischen Leiden‐ schaft für die „Sache“, analysiert Bieri alias Mercier die Passion der Wissenschaft als obsessive Abhängigkeit von kollegialer Anerkennung. Goethe und Schiller schrieben ein Xenion „Wissenschaft. Einem ist sie die hohe, die himmlische Göttin, dem andern / Eine tüchtige Kuh, die ihn mit Butter versorgt.“3 Es bedarf komplexer Mobilisierungsstrategien, um den akademischen Profi, der um die Spannung zwi‐ schen den akademischen Formen und Inhalten, der Wissenschaft als Job und Beru‐

3 Goethe/Schiller 1981, S. 211.

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fung, weiß, zu einem rollenkonformen Verhalten zu zwingen. Schließlich steigt Perl‐ mann aus. Der Umstieg aus der Wissenschaft in die Literatur ist ein Stück Kompensation. Man überschreitet die Diskurspflichten und Argumentationslasten und löst so die Spannungen zwischen den initialen Motiven, Zielen und Mittel der Wissenschaft. Was der Wissenschaft versagt bleibt, ist dem Dichter möglich. Die Problembestände, an denen die Wissenschaft scheitert, die sie methodisch verstellt, bearbeitet die Lite‐ ratur. Der Philosoph löst die Sinnfrage dichterisch, der Jurist findet fiktional die Ge‐ rechtigkeit, die ihm der Rechtswegestaat versagen muss. Wenn Juristen Kriminalro‐ mane schreiben, Fälle lösen, bleiben sie dem Recht auf der Suche nach Gerechtig‐ keit treu.

2. Schmitts Leben im Ausnahmezustand Schmitt hat die innere Berufung als Universitätslehrer bis 1945 wohl niemals verlas‐ sen. Den „Mandarinen“ des akademischen Betriebs und der strikten Selbstbeschrän‐ kung auf den rechtsdogmatischen Positivismus aber stand er stets distanziert gegen‐ über. Den Systemgrenzen der Universität und Wissenschaft suchte er schon durch seine starke politische Adressierung und Funktionalisierung seiner Wissenschaft zu entkommen. Vor allem aber setzte er sein Leben durch vielfältige Aufgaben und Ver‐ wicklungen in Spannung. Schmitt lebte geradezu literarischen Mustern von Georges Bernanos oder Louis-Ferdinand Célines Voyage au bout de la nuit nach. Ein Refe‐ renzautor ist Johann Arnold Kanne, dessen Autobiographie Schmitt 1917 herausgab. Die biographischen Details4 seiner repressiven Selbstmobilisierung und Stilisierung seines Lebens als produktiver Ausnahmezustand5 sind hier nur knapp zu rekapitulie‐ ren: Die frühen Düsseldorfer Tagebücher schildern ein desparates, exaltiertes Leben als Rechtsreferendar zwischen äußersten Geldsorgen, Liebesekstasen (Cari), Abhän‐ gigkeiten von einem dämonischen „Geheimrat“ (Hugo am Zehnhoff), kafkaesker Wahrnehmung des juristischen Ausbildungsbetriebs, Hass auf das konfessionelle und familiäre Herkunftsmilieu. Die Tagebücher der frühen Münchner Jahre im Mili‐ tärdienst belegen dann weitere Spannungen zwischen dienstlichen Pflichten („Hauptmann“ Roth) und dem Leben als Bohèmien in Künstler- und Intellektuellen‐ kreisen, Furcht vor der Front und Hass auf den „Militarismus“. Dazu kommt die un‐ gelöste Spannung zwischen philosemitischen und antisemitischen Strebungen. Spä‐ ter lebt Schmitt im ständigen Zwist und krasser Geringschätzung der juristischen Kollegen, der Scham und Verzweiflung über das Scheitern seiner katastrophalen Mesalliance mit der Hochstaplerin, Demimonde und Halbweltdame Cari, dem resul‐ 4 Dazu vgl. Mehring 2009, Mehring 2009 a. 5 Vgl. Hermanns 2018.

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tierenden Bruch mit der Kirche und dem katholischen Milieu, dem leisen Geläster und höhnischen Spott der Kollegen, den politischen Dissonanzen innerhalb der Zunft, dem Ressentiment gegen Versailles, Genf und Weimar. Mit der Beziehung zu Duschka Todorović und der erneuten Ehe auf Kosten kirchlicher Exkommunikation macht Schmitt zwar den Versuch eines Neuanfangs, bald auch durch seinen Wechsel nach Berlin, doch die lebensgefährliche Erkrankung Duschkas, unmittelbar nach der Hochzeit massiv ausbrechend, wirft ihn vollends aus der bürgerlichen Bahn in die private Verzweiflung, der Schmitt nun mit ständigen Affären und Prostituierten be‐ gegnet. Er stürzt sich ins Berliner Nachtleben, rutscht auf den Straßenstrich ab und greift zur Flasche. Parallel radikalisiert er sich politisch und antisemitisch. Aus der Bohème wechselt er in die nationalistischen Kreise der Konservativen Revolution über. An die Stelle der alten Gefährten und Freunde Georg Eisler, Franz Blei und Ludwig Feuchtwanger tritt nun der Umgang mit Rechtsintellektuellen wie Heinrich Oberheid, Ernst Jünger, Wilhelm Stapel und Albrecht Erich Günther. Der antisemiti‐ sche Affekt triumphiert. Auch die Genesung von Duschka und die Geburt der Toch‐ ter Anima stabilisieren sein bürgerliches Leben am Ende der Weimarer Republik kaum. Eheliche Treue und bürgerliche Ruhe und Ordnung findet Schmitt auch da‐ mals nicht. Mit seiner nationalsozialistischen Entscheidung sucht er 1933 dann auch seine innere Unruhe und Unzufriedenheit zu lösen. Der Außenseiter will endlich In‐ sider sein. Doch er begeht erneut den Fehler, die fatale „Dummheit“, sich in falsche Gesellschaft zu begeben und mit einer Bande von Räubern, Mördern und Irren zu paktieren. Paradigmatisch steht hier der jahrelange Umgang mit Hans Frank, dem späteren Generalgouverneur von Polen, den Schmitt später, neben seiner ersten Ehe, rückblickend die größte „Dummheit“ seines Lebens nennen wird. Zu nennen ist aber auch die Wahl prononciert nationalsozialistischer Mitarbeiter, SS-Männer und NSVerbrecher wie Herbert Gutjahr und Helmut Pfeiffer, und anderes mehr. Biedermeierlich gesprochen fehlte Schmitt die Menschenkenntnis; laienpsycholo‐ gisch gesprochen mag er als „narzisstische“ Persönlichkeit oder gar als „Borderli‐ ner“ (Kernberg) gelten.6 Nach heutigem Quellenstand dürfte es nicht sonderlich strittig sein, Schmitts Charakter und „Fall“ allerlei Untugenden zu attestieren: Res‐ sentiment, überspannten Ehrgeiz und Eitelkeit, Larmojanz, elitären Dünkel, Undank und mangelnde soziale Reziprozität, Geringschätzung der Mitwelt, Verzerrung, Ver‐ leugnung und Verdrängung einfacher Tatsachen. Solche Psychologisierungen und Pathologisierungen sind wohlfeil und billig. Dabei mag auch auf Schmitt zutreffen, was Hannah Arendt 1949 über Heidegger an Jaspers schrieb: „Was Sie Unreinheit nennen, würde ich Charakterlosigkeit nennen, aber in dem Sinne, daß er buchstäblich keinen hat, bestimmt auch keinen besonders schlechten. Dabei lebt er 6 Für mögliche Richtungen psychologischer und sozialpsychologisch-gruppensoziologischer Deu‐ tung perspektivisch interessant u.a. Kernberg 1983; zur Sozialpsychologie rechtsintellektueller Gruppen vgl. Breuer 1995; Breuer 2002.

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doch in einer Tiefe und mit einer Leidenschaftlichkeit, die man nicht leicht vergessen kann“.7

Schmitts schwankender Charakter wurde oft beschrieben: so von Moritz Bonn.8 Lö‐ with9 sprach 1935 von Okkasionalismus und Opportunismus. Schmitt unterschied rückblickend seinen katholisch-ästhetizistischen Habitus vom protestantischen Ethi‐ zismus und Rigorismus.10 Er selbst beschrieb sich nicht als starken Charakter etwa im Sinne von Kants Moralphilosophie (Tugend ist „moralische Stärke“ gegen „Wi‐ derstand“), sondern eher als seismographisch beobachtenden Teilnehmer, der die Krise der Zeit zum Pathos seines Lebens erhob. 1933 sagte er einmal: „Meine Arbeit erhält ihren Sinn dadurch, dass ich nichts anderes bin als ein Organ dieses substanz‐ haften Rechts des konkreten Volks“.11 1938 sprach er in seiner privaten Tischrede zum 50. Geburtstag von seiner „Fähigkeit, sich betrügen zulassen“.12 Später sprach er von einer – biographisch teils nachvollziehbaren – „merkwürdigen Passivität“ und meinte im Gespräch mit Spranger: „Ich bin ein kontemplativer Mensch und neige wohl zu scharfen Formulierungen, aber nicht zur Offensive, auch nicht zur Gegenoffensive. Mein Wesen ist langsam, geräusch‐ los und nachgiebig, wie ein stiller Fluß, wie die Mosel, tacito rumore Mosella.“13

Fast jedes Wort mag man hier in Zweifel ziehen, war doch sein „Gespräch“ nur zu oft auch eine polemische „Gegenoffensive“. Aber solche Fragen lassen sich kaum entscheiden. Beide Sichtweisen lassen sich vertreten, weil sie nicht in eine Richtung eindeutig zu belegen oder zu widerlegen sind. Das seismographische Wort vom „Or‐ gan“ scheint mir aber wichtig. Schmitts Leben war eine Krisenbiographie. Der „Ausnahmezustand“ war ihm auch ein biographisches Problem. Schmitt wollte die Krise der Zwischenkriegszeit intensiv erfahren und ein emphatischer Zeuge sein. In der Krise lässt sich nicht ruhig leben. Die Politik ist das „Schicksal“. Zeitgenössisch hat damals insbesondere Eric Voegelin den alten platonischen Gedanken von der pa‐ radigmatischen Spiegelung von Mensch, Staat und Kosmos im Ordnungsdenken be‐ tont. Gerade Voegelins Werk stand Schmitt auch, anders als die Sokratiker Kuhn oder Strauss, philosophisch nahe.

7 8 9 10 11 12 13

Arendt am 29.9.1949 an Jaspers, in: Arendt/Jaspers 1993, S. 178. Bonn 1953. Löwith 1935, S. 101-123. Schmitt 1988, S. 13-21. Schmitt 1975, S. 115. Schmitt 1996, S. 10-11, hier: S. 11. Schmitt 1950, S. 10; Schmitt zitiert hier den spätrömischen Dichter Decimus Magnus Ausonius mit seinem um 370 entstandenen Flussgedicht „Mosella“. Dazu vgl. Dräger (Hrsg.) 2002.

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3. Schmitts kategoriale Selbsterfassung: Souveränität im Ausnahmezustand Damit kommen wir zu Schmitts sozialer Konstruktion seines Lebens als Ausnahme‐ zustand. Die pathogenen Motive seien hier geschenkt. Eine psychopathologische Betrachtung ist, wie bei allen Menschen, aufschlussreich und erhellend; sie könnte Schmitt in seinem Umgang mit den Hypotheken und „Dummheiten“ seines Lebens – u.a. Cari und Hans Frank – auch ein Stück weit exkulpieren. Der „außergewöhnli‐ che Mann“ (Walter Jellinek)14 lebt nicht leicht alltäglich. Schmitt trug schweres Ge‐ päck, nicht nur die psychobiographischen Folgen mancher „Dummheiten“, sondern auch die soziale Hypothek seiner Hochbegabung. Seine verfassungstheoretischen Kategorien sind auch ethische Perzeptionen seines Handlungsfeldes. Die biographi‐ sche Lesart folgt dem Maßstab der Selbstbeschreibung und ist deshalb die mildeste Form interner Kritik. Ihr Rationalitätskriterium ist die interne Kohärenz von Denken und Tun. Eine starke Diskrepanz zwischen den selbst gesetzten Handlungsgrundsät‐ zen und dem Verhalten heißt dann „irrationales“ Versagen gegenüber den eigenen Ansprüchen. Abstrahiert man von starken psychologisierenden Deutungen und auch vom rechts- und sozialwissenschaftlichen Sachgehalt von Schmitts Kategorien und liest sie distanzierend als „soziale Konstruktionen“, so ist eine biographische Lesart statthaft. In den letzten Jahren wurde in der philosophischen Ethik viel von Lebenskunst und Lebensführung gesprochen.15 Man knüpfte dabei oft an die handlungsanalyti‐ sche Ethik des Aristoteles an. Aristoteles unterschied formal zwischen bloßem Über‐ leben und gutem Leben und formulierte das bürgerliche Maß: die goldene Mitte zwi‐ schen den Extremen und einen Primat der Vernunft. Auch das Scheitern aber mag als „Form des Glücks“ gewählt sein.16 Die Selbstbestimmung schließt auch den ex‐ tremen Lebensentwurf ein. Wir unterscheiden zwischen kurz-, mittel- und langfristi‐ gen Zielen und geben oft momentanen Wünschen und Neigungen nach. Leben heißt Problemlösen. Handeln kämpft mit Kontingenzen und droht im komplexen Gefüge immer zu scheitern. Schon Hegel beschrieb die Verselbständigung der Folgen gegen die Intentionen einer Handlung. Fichte sprach allgemein vom Streit zwischen „Ich“ und „Nicht-Ich“. Selbst bei Goethe findet sich (im Divan) der Satz: „Lebt man denn, wenn andere leben?“17 Leben besteht in der alltäglichen Lösung von Problemen, Aufgaben und Herausforderungen. Helmuth Plessner, von Schmitt exponiert zitiert, sprach von der „Exzentrizität“ des menschlichen Daseins, das sich an die Mitwelt verliert, um seine Freiheit in distanzierenden Akten zurückzugewinnen. Lachen und Weinen markieren Grenzfälle exzentrischer Positionalität. Heidegger sprach vom 14 Walter Jellinek am 29.5.1933 gutachterlich über Schmitt für die Nachfolge Anschütz, UA Hei‐ delberg H-II 563/3. Jetzt abgedruckt in: Schmittiana N.F. II (2014), S. 117. 15 Aus der Masse der Literatur besonders lesenswert Rentsch 2000; vgl. auch Mehring 2001. 16 Seel 1995. 17 Goethe 1981 a, S. 43.

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„Verfallen“ des eigentlichen Daseins an das „Man“, Hans Jonas analysierte das gnostische Lebensgefühl mit Heidegger. Schon Nietzsche verwarf den Eudämonis‐ mus des Glücks. „‚Was liegt am Glücke!’, antwortete er [Zarathustra], ‚ich trachte lange nicht mehr nach Glücke, ich trachte nach meinem Werke.’“18 Schmitts Begriff des Ausnahmezustands muss hier nicht in allen Nuancen rekon‐ struiert werden. Unstrittig hat dieser „Grenzbegriff“ heute große diagnostische Be‐ deutung. Die Finanzkrise der EU, nicht nur eine Griechenlandkrise, erinnert nur zu deutlich daran.19 Weitere weltweite Krisenlagen und Erosionen der Staatlichkeit sto‐ ßen uns auf den Begriff. Freilich ist die Rhetorik des Ausnahmezustands auch ein rechtspolitisch intentionales Krisenszenario. Günter Frankenberg20 hat diese Staats‐ technik der Optik des Ausnahmezustandes für den juristischen Gegenwartsdiskurs eindrucksvoll analysiert. Giorgio Agamben warf das Stichwort mit Schmitt und Ben‐ jamin neu in die Debatte. Seine Rekonstruktion eines „Gesprächs unter Abwesen‐ den“ (H. Meier) ist allerdings ziemlich fiktiv.21 Auch seine Implementierung der Un‐ terscheidung von potestas und auctoritas in die „Zone der Unbestimmtheit“ und „Anomie“ legt eine spekulative Dogmatik in Schmitts Stichwort, die der Text kaum hergibt. Zutreffend schreibt Agamben, dass Schmitt den Ausnahmezustand als Grenzbegriff „in einen Rechtskontext stellt“22 und als Rechtsbegriff retten möchte. Die spekulative Auslegung, die Agamben sucht, war Schmitt nicht ganz fremd. Der Ausnahmezustand begegnete ihm aber zunächst als militärischer Auftrag und bio‐ graphische Erfahrung. Das Thema des Belagerungs- und Ausnahmezustands wurde ihm 1915 in München zunächst dienstlich gestellt. Schmitt war damals wieder ein‐ mal über seine Lebensumstände ziemlich verzweifelt. Er litt unter dem Heeresdienst, zweifelte und verzweifelte an seiner Frau, fürchtete sich vor der Front und fühlte sich zwischen staatlicher „Autorität“ und Schwabinger „Anarchie“ hin und her ge‐ rissen. Er wusste nicht genau, wo er stand, und empfand seine Tätigkeit in der Hee‐ resverwaltung als Verrat. Am 6. September 1915 notierte er in sein Tagebuch: „Um 8 Uhr war ich bereit, Selbstmord zu begehen, in der Welt der Nacht und in der Stille zu versinken, mit ruhiger Überlegenheit; dann dachte ich nur daran, in der Welt Karriere zu machen. Einige Stunden später war mir alles gleichgültig und ich wollte gerne Soldat werden – es ist zum Verrücktwerden, diese Zusammenhanglosigkeit; was soll ich tun? Ich werde mich in einer Stunde vor Wut über meine Nichtigkeit erschießen.“ (TB II, 125)

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Nietzsche 1966, Bd. II, S. 477. Dazu vgl. Böckenförde 2011, S. 299-303. Frankenberg 2010. Eine solide philologische Quelle ist dagegen Schmitts Handexemplar von Benjamins Trauer‐ spielbuch. Dazu Mehring 2011, S. 239-256. 22 Agamben 2004, S. 62, vgl. S. 42ff.

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Einen Tag später notierte er dann: „Nachmittags: Bericht über das Belagerungs-Gesetz machen. Begründen, dass man den Belagerungszustand noch einige Jahre nach dem Krieg beibehält. Ausgerechnet ich! Wo‐ für mich die Vorsehung noch bestimmt hat.“ (TB II, 125)

Das Thema des Belagerungszustandes kommt ihm als Auftrag entgegen. Schmitt soll sagen, dass der Kriegszustand eine außerordentliche Ausweitung der exekutiven Maßnahmebefugnisse auch in die Nachkriegszeit hinein erfordert. Das wird ein zen‐ trales Thema seines späteren Werkes werden. Seine ganze Verfassungstheorie plä‐ diert dafür, dass das liberale System der Gewaltenunterscheidung nicht mehr zu hal‐ ten ist und die Exekutive das Recht für außerordentliche Maßnahmen braucht: für die Ausweitung exekutiver Macht auf Kosten der Legislative, des klassischen Parla‐ mentarismus und der Jurisdiktion. 1915 aber, mitten im Krieg, nimmt Schmitt diesen Auftrag zunächst mit Verwunderung auf. „Ausgerechnet ich! Wofür mich die Vorse‐ hung noch bestimmt hat!“ Die Bemerkung ist ironisch, denn Schmitt weiß ja, dass es sein Vorgesetzter (Hauptmann Roth, der spätere bayerische Justizminister) war, der ihn beauftragte. Er deutet damals noch an, dass er nicht geneigt ist, gegen die libera‐ le Gewaltenunterscheidung zu argumentieren, bejaht die Abkehr von rechtstaatli‐ chen Verhältnissen noch nicht, so wenig er den Krieg bejaht. Andererseits ahnt er bereits, dass dem Thema der Diktatur, der Transformation des liberalen Rechtsstaats in den Exekutivstaat, die Zukunft gehört. Es wird Schmitts verfassungspolitisches Lebensthema. Und es klingt in diesen ersten Formulierungen schon die existentielle Stabilisierung an, die für den desparaten Bohèmien im Auftrag liegt. Endlich hat Schmitt sein Lebensthema gefunden. Damit kann er sich eine Form geben und als „Soldat“ über die Bürger und Bohèmiens triumphieren. So ist seine Rede von der „Vorsehung“ nicht nur ironisch gemeint. In ihr steckt auch eine existentielle Ret‐ tung: eine Ahnung künftiger Entwicklungen, die ihm ein Ziel geben, an das er sich halten kann. Sofort will er das Thema als „Buch“ realisieren. Er schreibt dann einen „Bericht über das Belagerungszustands-Gesetz“ und beginnt mit seinen bedeutenden begriffsgeschichtlichen Studien zur Diktatur. In der Diktatur arbeitet Schmitt den Schritt aus der „kommissarischen“ in die „souveräne“ Diktatur besonders prägnant heraus. Die Politische Theologie stellt die Souveränität dann als „Grenzbegriff“ der Staatslehre in politisch-theologisches Licht. Schmitt definiert die Souveränität funktional: „Souverän ist, wer über den Aus‐ nahmezustand entscheidet.“ (PT 11) Er macht die Frage nach der Souveränität so zu einer „Frage nach dem Subjekt der Souveränität“ (PT 12, 16) Auch der Staatsbegriff wird dadurch offen: Wenn das Subjekt der Souveränität offen ist und der Souverän den Staat konstituiert, ist der Staat nicht vorab durch Institutionen definiert. Schmitt spricht aber in der Politischen Theologie weiter relativ selbstverständlich vom Staat als „Subjekt der Souveränität und der Rechtsordnung“. Er definiert den „Ausnahme‐ zustand“ als Grenzbegriff, von einer Normalitätserwartung her, durch die 162

„Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung. Ist dieser Zustand eingetreten, so ist klar, dass der Staat bestehen bleibt, während das Recht zurücktritt. Weil der Ausnahme‐ zustand immer noch etwas anderes ist als eine Anarchie und ein Chaos, besteht im juristi‐ schen Sinne immer noch eine Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung.“ (PT 18 f)

Schmitt hält also noch an einer juristischen Engführung seiner Souveränitätslehre fest, die durch die Souveränitätsformel selbst nicht ganz gedeckt ist. Die Souveräni‐ tätsformel ist auch für eine weitere Fassung des „Ausnahmezustands“ (als anarchi‐ sches Chaos) offen. In politisch-theologischer Perspektive fasst Schmitt den Aus‐ nahmezustand auch selbst schon innerhalb seiner Broschüre weiter. „Der Ausnahme‐ zustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie“, schreibt er zu Beginn seines titelgebenden Kapitels (PT 49). Schmitt kritisiert dann Kelsens Immanenzmetaphysik der Parallelisierung des juristischen Gesetzesdenkens mit der „Naturgesetzlichkeit“ (PT 54): also den strikten Allge‐ meinheitsanspruch von Kelsens Rechtsbegriff. Bekanntlich spielt er den Absolutis‐ mus, Personalismus und Dezisionismus von Hobbes gegen diesen „Normativismus“ aus (PT 61 f). Indem er auch den christlichen Theismus betont, hier bald von der Hobbes-Dissertation seines Schülers Werner Becker angeregt, nimmt er Hobbes ge‐ gen die naturrechtliche Letztvorstellung einer „konkreten Unordnung“ in Schutz (DARD 24). Erst 1934 spielt Schmitt sein „Ordnungsdenken“ aber deutlich gegen den atheistischen Dezisionismus der Unordnung aus. In seinem theistischen Weltbild ist die Natur im Grunde gut. Der Theismus rettet die Güte der Welt. Der Ausnahmezustand ist ein von einer Normalitätserwartung her konzipierter Gegen- und Grenzbegriff. Strikte Suspension aller Regularitäten und Regeln gibt es nicht. Wenigstens die Naturgesetze gelten in der entgötterten Welt. Das politische Handlungsfeld entsteht, historisch betrachtet, erst mit den alten Griechen als säkula‐ rer Raum23 mit der Entmythologisierung des Weltbildes und einer Trennung von Gott, Mensch und Welt. Eine Geburtsurkunde ist hier Platons geschichtsphilosophi‐ scher Mythos vom „Steuermann“, der das Ruder fahren lässt und die schwachen und sterblichen Menschen aus der „Obhut der Götter“ entlässt (Politikos 272-274). In metaphysikgeschichtlicher Perspektive verkehrt sich die Formel geradezu: Was un‐ geheuer säkular klingt, der Ausnahmezustand, ist näher betrachtet eigentlich eine metaphysische Fiktion. Die entgötterte Natur kennt keine Suspension aller Regeln und keinen radikalen Ausnahmezustand. Nur den Menschen erscheinen Bedro‐ hungslagen als katastrophale Ausnahmezustände. In der Dramatisierung von Krisen liegt eine gefährliche Übertreibung. Doch die Lebenserfahrung sagt auch: Hinter dem Horizont geht es weiter. Ein säkulares Weltbild sieht die Anthropozentrik des Ausnahmezustands letztlich nüchtern und zynisch. Das metaphysische Szenario der radikalen Endlichkeit hat Nietzsche prägnant und ironisch formuliert:

23 Dazu etwa Meier 1980.

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„In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausge‐ gossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der ‚Weltgeschichte’: aber doch nur eine Minute.“24

Wir rechnen heute fast stündlich mit dem Ende der Zivilisation. Seit Jahrzehnten fliegen aber Satelliten durchs Orbit und tragen noch bei erloschenen Funkkontakten gezielte Informationen vom menschlichen Dasein zu allen möglichen „vernünftigen Wesen“ (Kant). Die Menschheit rechnet heute wieder mit vernünftigen Wesen jen‐ seits des Menschen. Schmitts Souveränitätsformel dramatisiert die Möglichkeit eines amorphen Hand‐ lungsfeldes jenseits aller Regeln. So ist sie selbst ein „säkularisierter theologischer Begriff“. Die Politik sollte nicht mit gänzlich ungeregelten Zuständen rechnen, son‐ dern von der gegebenen Verfassung ausgehen, die sich zeigt und gilt. Nur wer die Regeln einigermaßen kennt, kann sich entsprechend verhalten. So ist der Grenzbe‐ griff des „Ausnahmezustands“ politisch zunächst einigermaßen irritierend und nebu‐ lös. Er fingiert eine amorphe Regellosigkeit, die im sozialen Gefüge nicht wirklich existiert. Als Handlungsratgeber ist er damit ziemlich entmutigend und unpraktisch. Sein Erkenntnisgehalt liegt eher im dramatischen Appell zum Umdenken. Die For‐ mel weist auf veränderte Handlungsumstände hin, auf die Notwendigkeit, sich auf eine neue Situation einzulassen und deren Umstände im Handeln explorativ und ris‐ kant zu erschließen. Die Pointe der Formel liegt in der formalen und offenen Fas‐ sung. Die Souveränität ist funktional an die Erfüllung einer Aufgabe und Funktion gebunden. Damit bindet Schmitt das Recht an eine politische Ordnungsleistung oder Macht. Die Souveränitätsformel ist ein Stück „Ordnungsdenken“. Das „Subjekt der Souveränität“, der Souverän, muss keine einzelne Person sein, sondern kann auch eine herrschende Elite oder soziale Klasse sein. Die kollektive Verantwortlichkeit für die ordnungsstiftende Leistung muss aber eindeutig gegeben sein. Diese ordnungsund souveränsstiftende Leistung muss nicht in einer einzelnen Maßnahme oder Tat bestehen und kann auch einen nachträglich zugerechneten Handlungsverlauf betref‐ fen. Wenn ein Feldherr etwa einen Konflikt entscheidet, Belisar beispielsweise bei Karthago die Vandalen unter Gelimer besiegt,25 so kann dies einem Oberbefehlsha‐ ber oder Kaiser (hier: Justinian) zugerechnet werden. Umgekehrt muss der Prinz von Homburg nicht für seine eigeninitiativ rettende Tat belobigt werden. Der Souverän muss nicht einmal als Mensch anerkannt werden. Auch Gott kann der Souverän sein. So verstand sich Jean d’Arc als Gefäß oder Werkzeug Gottes. Transzendente Mächte werden immer wieder als Herren der Geschichte gesehen. Konkrete Handlungen er‐ scheinen dann transpersonal als Vollzug einer „Vernunft in der Geschichte“. Schmitts Souveränitätsformel erzwingt nicht den starken Personalismus und Elitis‐ 24 Nietzsche 1966, Bd. III, S. 309. 25 Dazu Mehring 2012, S. 32-45.

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mus seines politischen Denkens. Der Souverän muss nicht ein Führer in Person sein. Sie kann deshalb im je konkreten Souveränitätsbeweis unterschiedlich formuliert werden: Der Feldherr erweist sich als Souverän, wenn und weil er die Schlacht ent‐ scheidet. Der Kaiser bewährt sich als Souverän, wenn ihm sein Feldherr die Standar‐ ten zu Füßen legt. Gott gilt als Souverän, wenn er geglaubt wird und ihm die Krieger den Sieg über die Heiden betend danken. Die Souveränitätsformel bezeichnet den Moment der Ordnungsstiftung als Akt der Anerkennung von Handlungsmacht. Mit Max Weber gesprochen signalisiert sie den Umschlag von Macht in Herrschaft, d.h. sozial anerkannte Macht. Der Souverän gewinnt die Initiative und das „Heft“ des Handelns zurück, gleichsam das Drehbuch oder die Regiebeschreibung, und verfügt über die semantische Hoheit und Definiti‐ onsmacht über die Situation: die Kompetenz-Kompetenz zur näheren Gestaltung der Lage. Er tritt damit, antik gesprochen, als Nomothet oder Legislateur auf und ge‐ winnt eine gesetzgeberische Macht und Funktion. Das muss keine diktatorische Vollmacht und Herrschaftspraxis bedeuten. Vielmehr zeigt die diktatorische Souve‐ ränitätsgeste eher Schwäche an. Der wahre Souverän hat rhetorische Machtdemons‐ trationen und Selbstverherrlichungen nicht nötig. Der demonstrative Führerkult geht leicht ins Leere. Platon vergleicht den Staatsmann (im Protagoras) mit einem Weber oder Webekünstler. Auch Schmitt vergleicht das politische Handeln später, in der Jünger-Festschrift, gegen die Auslegung des Dezisionismus als Ideologie des perma‐ nenten Gewaltstreiches, mit dem gordischen Knoten, der nicht zerschlagen, sondern behutsam gelöst wird. Ordnungsstiftung ist Verfassungsgebung. Die souveräne Ordnungsstiftung ver‐ wandelt den Ausnahmezustand in einen Normalzustand. Mit der Frage nach der Ver‐ fassungsfähigkeit einer politischen Einheit deuten sich Differenzierungen innerhalb des „Ausnahmezustands“ an. Es gibt Ausnahmezustände, die noch verfassungsfähig sind und „Entwicklungspfade“ oder Normalisierungschancen haben; und es gibt chaotische Zustände, deren Normalisierungschancen unabsehbar sind und die wenig Hoffnung lassen.26 Schmitt stellte dem Nationalsozialismus die Frage nach seiner Verfassungsfähigkeit mit Lorenz von Stein. Bis zum 30. Juni 1934 glaubte er noch an die Verfassungsfähigkeit des Nationalsozialismus und sprach deshalb auch von einer „Dreigliederung“ der „politischen Einheit“ und von „Ordnungsdenken“. Nach dem 30. Juni 1934 kamen ihm darüber starke Zweifel. Seine Formulierungen im Ar‐ tikel Der Führer schützt das Recht sind bekannt und berüchtigt: „Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Missbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft. […] In Wahrheit war die Tat des Führers echte Gerichtsbarkeit. […] Das Richtertum des Führers entspringt der höchsten Rechtsquelle, der alles Recht jedes Volkes entspringt. In der höchsten Not bewährt sich das höchste Recht und erscheint der höchste Grad richter‐ 26 Differenzierung für die einzelnen Länder der „arabischen Revolution“ etwa Perthes 2011.

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lich rächender Verwirklichung dieses Rechts. Alles Recht stammt aus dem Lebensrecht des Volkes.“ (PB 200)

Diese Sätze markieren nicht ohne doppelten Boden und „esoterische“ Auslegungs‐ möglichkeiten die Suspension der Rechtsordnung und den Gesetzesbruch des „Füh‐ rers“. Schmitts Souveränitätsformel lädt mit ihrer rhetorischen Prägnanz und Offenheit zu applikativen Variationen ein. Sie lässt sich auch ethisch auslegen und umformu‐ lieren: Souverän ist (als souveräner Typ gilt), wer diverse Herausforderungen im Alltag (zunächst und zumeist locker) besteht. Schmitt floh aus Routinen in die He‐ rausforderung und unterzog seinen Alltag damit gewissermaßen einem permanenten Souveränitätstest. Seine Stilisierung des Lebens als Herausforderung war auch eine Probe auf die Mitwelt. So machte er in seinem mitunter ziemlich fahrlässigen und chaotischen Umgang mit Geld bisweilen die Freundschaftsprobe: Ein Freund ist, wer Geld verleiht. Schmitt forderte mit den Kontingenzen des Handelns sein Glück heraus. Das hat auch eine religiöse Dimension der Prüfung des guten Gottes. All‐ tagssprachlich wird die Semantik der Souveränität meist mit einem individuellen Habitus und einer sozialen Performanz der Persönlichkeit verbunden. Ein Mensch agiert souverän. Als souveräner Typ gelingt es ihm, in diversen Situationen seine Kontenance zu bewahren. Er zeigt stoische Selbstbeherrschung und verliert auch in schwierigen Situationen nicht den zivilen Rahmen seiner Verfassung. Er beherrscht sich und meistert alltägliche und außeralltägliche Situationen. Niemandem gelingt das immer im Spiel um die Bedingungen und Kontingenzen der endlichen Existenz. Wer das vorgibt, wirkt leicht arrogant. Der souveräne Habitus ist sozialgeschichtlich und situationsgebunden zu betrachten. Fürstenspiegel, Hofmannsliteratur, bürgerli‐ che „Knigge“, militärische Dienstanweisungen oder Proletkultratgeber27 definieren die Handlungsmaximen im sozialen Geflecht der Personen und Situationen sehr un‐ terschiedlich. Handlungssouveränität ist aber in allen diesen sozialpsychologischen Charakterisierungen, Normierungen und Stilisierungen vorausgesetzt. Das Spiel um die eigene Souveränität wird in situationsinadäquatem Verhalten zur Pose. Wer unter allen Umständen seine Souveränität bewahren möchte, hat sie schon verloren. Ihm fehlt die Empathie für den Augenblick, und sein inadäquates Rollenverhalten erscheint als „Maske“.28 Souveränes Verhalten ist ein Spiel um Grenzen. Der bürgerliche Alltag sucht praktische Herausforderungen durch Routi‐ nen zu minimieren. Die Normalisierung, Verbürgerlichung, Veralltäglichung nimmt dem Leben dabei mit der dynamischen Spannung bisweilen seinen Reiz, Kick, seine Vitalität oder auch sein flüchtiges, in soziale Handlungsgefüge komplex verwobenes Charisma. Schon Weber betrachtete die „Veralltäglichung“ als einen Verlust an „Charisma“. Schmitt verabscheute die bürgerliche „Sekurität“ und wollte dem Le‐ 27 Aktuell etwa: Asserata 2003. 28 Plessner 1928.

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ben den Ernst der Herausforderung bewahren. Soziologisch betrachtet lebte er frei‐ lich ziemlich bürgerlich: Er war Beamter, hatte Familie und war nicht kriminell auf‐ fällig. Er erfüllte die bürgerlichen Erwartungen und Pflichten und hatte auch einen weiten Bekannten- und Freundeskreis. Sein „antibürgerlicher“ Gestus war seinem Leben nicht ganz kongruent. Gerade im Verhältnis zu Ernst Jünger kompensierte Schmitt etwas. Otto Koellreutter mokierte sich später über Schmitts Lob des Solda‐ ten bei mangelnder Fronterfahrung. Eine „Erstarrung“ des bürgerlichen Lebens ist mit einiger Phantasie und Lebenslust kaum zu fürchten. Im bürgerlichen Alltag er‐ starren nur diejenigen, die nicht darunter leiden. Dem menschlichen Dasein geht die Spannung so leicht nicht aus. Sind elementare Probleme gelöst, stellen sich neue. Kultur besteht im Spielraum der Selbstbestimmung über zu lösende Probleme. Schon Aristoteles hat unübertrefflich gesehen, dass die Kunst und Kultur des Lebens in der Verlagerung der Herausforderungen besteht. Wenn die Grundbedürfnisse gesi‐ chert sind, wird der Mensch für andere Möglichkeiten frei. Wissenschaft braucht Muße. Nur entwickelte Gesellschaften können sich bürgerliche Freiheit und Muße leisten. Arnold Gehlen sprach später eindringlich von der „Entlastung“.29 Der Mensch muss vom permanenten Handlungs- und Bewährungsdruck entlastet werden und bürgerliche Routinen stabilisieren, um einigermaßen kultiviert, produktiv und erfolgreich sein Leben zu meistern. Schmitt wollte nicht die bürgerliche Sekurität und Saturiertheit, aber auch nicht den Ausnahmezustand des permanenten Überle‐ benskampfes, sondern die Freiheit für interessante und selbst bestimmte Herausfor‐ derungen. Ernst Jünger gab dafür Stichworte vom „abenteuerlichen Herzen“ und „gefährlichen Leben“ aus. Wenn hier in erster Annäherung gesagt wurde, dass Schmitt die Dynamik des Le‐ bens in die permanente Souveränitätsprobe setzte, so lässt sich das werkbiogra‐ phisch genauer differenzieren. Schmitts diverse semantische Angebote sind dabei eher Akzentverschiebungen dessen, was man insgesamt seine Repräsentation nen‐ nen könnte. Sein Werk bietet eine ganze Reihe von Termini an, die diese Repräsen‐ tation umschreiben. Wichtig sind hier etwa folgende: 1. Die Dialektik von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit, die Schmitt 1914 im Wert des Staates mit Hegel einführt. 2. Die Rede von der „Sichtbarkeit“ der Kirche in ihrer Unterscheidung von der „un‐ sichtbaren“ und der „konkreten“ Kirche (Die Sichtbarkeit der Kirche, 1917). 3. Die Dialektik von Ausnahmezustand und Normalzustand (Politische Theologie, 1922). 4. Die Dialektik von Identität und Repräsentation (Verfassungslehre, 1928) mit der Formel von der Repräsentation als Sichtbarmachung eines „unsichtbaren Seins“

29 Gehlen 1956.

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(vgl. VL 208 f) und der brieflichen Feststellung gegenüber Voegelin, dass die Identität eigentlich „kein Formprinzip“30 sei. 5. Die Unterscheidung zwischen einem liberalen Rechtsstaat und dem „unmittelbar gerechten Staat“ des Nationalsozialismus; sie nimmt die frühere Unterscheidung zwischen Zeiten der Mittelbarkeit und der Unmittelbarkeit wieder auf und spricht apologetisch-euphemistisch vom Untergang der Legalität und der apoka‐ lyptischen Gegenwartslage im Nationalsozialismus. (Der Führer schützt das Recht; Was bedeutet der Streit um den ‚Rechtsstaat’?, 1934). 6. Die religiöse Rede von „Verzögerung“ und „Beschleunigung“ in der Figur des „Kat-echon“ (Beschleuniger wider Willen, 1942) 7. Die Unterscheidung zwischen einem protestantisch-ethischen und einem katho‐ lisch-ästhetizistischen Habitus, die die Ästhetik der Existenz vom rigorosen Cha‐ rakter ablöst (Berlin 1907, 1945) 8. Die neuerliche Betonung der Macht und Ohnmacht in der Dialektik der Souverä‐ nität (Gespräch über die Macht, 1954). 9. Die Theatralisierung des Dramas der Existenz durch den „Einbruch der Zeit in das Spiel“ und die konstitutive Anerkennung zwingender „Tabus“ (Hamlet oder Hekuba, 1956). 10. Die habituelle Identifikation mit dem Partisanen als riskanter Figur der Selbstbe‐ stimmung (Theorie des Partisanen, 1963). 11. Das Insistieren auf der religiösen Selbstauffassung des „Theologen“ (Politische Theologie II, 1970). Rekapituliert man diese zentralen Kategorien der Selbstbeschreibung, so konvenie‐ ren sie relativ bruch- und zwanglos in der Auffassung vom Leben als Herausforde‐ rung, Probe und Spiel um die eigene Existenz. Plessners Kategorie der exzentrischen Positionalität bezeichnet dies, auch aus Schmitts Sicht, ziemlich genau. Schmitt ver‐ pönte zwar die Rede vom Spiel und betonte den dramatischen Ernst seines Existenz‐ vollzugs. Eine vollständige Existentialanalyse der Daseinsbedingungen strebte er nicht an. Auch eine umfassende soziologische Beschreibung der „absoluten Verfas‐ sung“ in der Nachfolge von Montesquieu oder Tocqueville suchte er nicht. Wichtig ist aber, dass er auf der Formierung des Daseins und seiner rollenkonformen Reprä‐ sentation bestand. Man spricht heute gerne von der „Ästhetik der Existenz“. Soweit damit die For‐ mierung oder Gestaltung einer Rolle und Lebensform gemeint ist, stimmt Schmitt ihr zu. Gegenüber dem „Ästhetizismus“ besteht er aber – weiter in Übereinstim‐ mung mit Plessner – auf der Differenz des „unsichtbaren Seins“ oder „Idee“ dieser Lebensform. Ethisch gelesen meint Schmitts „Idee“ die Regeln und Prinzipien des 30 Schmitt am 30.3.1931 brieflich an Voegelin. Abdruck jetzt in Schmittiana II N.F. (2014), S. 186.

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Existenzentwurfes. Spranger31 unterscheidet in seinen Lebensformen sechs „ideale Grundtypen der Individualität“: den „theoretischen“, „ökonomischen“ „ästheti‐ schen“ und „sozialen“ Menschen, den „Machtmenschen“ und den „religiösen Men‐ schen“. Die Literatur ist damals reich an solchen charakterologischen Typenlehren und idealtypischen Entwürfen der „Gestalten“ und Gestaltungen der Existenz. Schmitt betonte eine Dialektik der Repräsentation: „Repräsentieren heißt, ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich anwesendes Sein sicht‐ bar zu machen. Die Dialektik des Begriffs liegt darin, daß das Unsichtbare als abwesend vorausgesetzt und doch gleichzeitig anwesend gemacht wird. […] In der Repräsentation […] kommt eine höhere Art des Seins zur konkreten Erscheinung. Die Idee der Reprä‐ sentation beruht darauf, daß ein als politische Einheit existierendes Volk gegenüber dem natürlichen Dasein einer irgendwie zusammenlebenden Menschengruppe eine höhere und gesteigerte, intensivere Art Sein hat.“ (VL 209 f)

Schmitt nennt hier Ideen und „Worte wie Größe, Hoheit, Majestät, Ruhm, Würde und Ehre“ (VL 201); er denkt an die monarchische Repräsentation, aber auch an die ethische Idealisierung des Volkes als „Nation“. Sein Begriff des Politischen fordert die „Selbstbehauptung“ der politischen Exis‐ tenz durch die Freund-Feind-Differenzierung im Kampf. Diese kämpferische Selbst‐ behauptung dient der Endlichkeit und kreatürlichen Kontingenz des Daseins. Wenn der Mensch unter Einsatz seines Lebens für sein Überleben und die Selbstbehaup‐ tung seiner Existenz, seiner kollektiven politischen „Daseinsweise“ kämpfen soll, ist die Kontingenz des Daseins als ein unhintergehbares und unvordenkliches Faktum vorausgesetzt. Vor jeder existentiellen Wahl einer Lebensform, im Jenseitsmythos von Platons Staat schon großartig ausfabuliert, liegt die religiöse Selbstwahrneh‐ mung und Anerkennung der eigenen „Geworfenheit“ (Heidegger) oder des endli‐ chen „Geschicks“. Dämon und Tyche sind Goethes erste orphische „Urworte“ (HA I, 403ff). Als Kern der religiösen Idee möchte ich, anlehnend an Hermann Lübbe,32 die Kontingenz der menschlichen Daseinsbedingungen bezeichnen. Schmitt insze‐ niert die Kontingenz seines Daseins im Spiel der Souveränität. Er dramatisiert und inszeniert sein Leben nicht nur als permanente Herausforderung, sondern auch als ein religiöses Geschehen. Tout ce quirrive est adorable, meinte er immer wieder. Goethe sprach von „Ehrfurcht“ und „Ergebung“ in Gott.33 Man könnte auch von Ge‐ lassenheit sprechen oder psychoanalytisch von „Urvertrauen“. Der Rheinländer sagt: Es kommt, wie es kommt. Das meint keinen fatalistischen Handlungsverzicht, son‐ dern die Akzeptanz der jeweiligen Lebensbedingungen als gegebenes Gut. Schmitt bekannte gelegentlich seinen Glauben an einen persönlichen Gott. Am 20. März 1947 schreibt er an seine Tochter Anima aus Nürnberger Haft: Ich „wurde 31 Spranger 1921. 32 Lübbe 1986. 33 Goethe1981 b, S. 169.

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gestern wieder verhaftet und schreibe aus meiner Zelle. Du sollst aber nicht traurig sein, sondern fleissig beten. Meinetwegen braucht niemand traurig zu sein, denn Gott beschützt mich.“34 Ähnliches schreibt er immer wieder. Wer prüft hier wen? Gott den Menschen? Der Mensch den Gott? Schmitt sprach sein Vertrauen auf eine glückliche Fügung seiner Lebensumstände religiös aus. Die Diskriminierungskosten seines Glücks kamen in seinem persönlichen Verhältnis zu Gott, seinem Selbstge‐ fühl von der eigenen Erwählung und Rettung nicht vor. Sein guter Gott war nicht sehr gerecht. Die doppelte Optik ist eine religiöse Rückversicherung. Wo der Normalzustand erodiert und die Verfassungsfähigkeit infrage steht, trägt die religiöse Herkunftssub‐ stanz noch. Es kommt, wie es kommt. Wenn es schlecht läuft, bleibt die religiöse In‐ terpretation der Katastrophe. Auch das Tohuwabohu macht religiösen Sinn. Es ist, recht verstanden, immer noch in Ordnung. Das Ende ist da, aber es kommt als Erlö‐ sung. Schmitts „Dezisionismus“ wurde zwar immer wieder als naturvergessener „Nihilismus“ gelesen: schon von Waldemar Gurian,35 Helmut Kuhn, und Karl Lö‐ with. Schmitt selbst bestand aber auch auf einer religiösen und christlichen Lesart. Sein Schritt vom „Dezisionismus“ zum „Ordnungsdenken“ erfolgte nicht zuletzt un‐ ter dem Eindruck von Ernst Rudolf Hubers Kritik; Huber überzeugte ihn von den komplexen Ordnungsvoraussetzungen der „Dezision“. Andreas Urs Sommer dichte‐ te Schmitt in seinem Lexikon der imaginären philosophischen Werke für die Zeit nach 1936 einen politisch-theologischen Pamphlet Der Belagerungszustand zu.36 Es lag demnach damals in der imaginären Logik von Schmitts Werk, in dessen objekti‐ ven Möglichkeiten, den Ausnahmezustand ethisch zu lesen und die „Biopolitik des Individuums“, so Sommer, in der Form eines Kommentars zu Theresa von Avila zu bedenken. Sommer liest diesen „Belagerungszustand“, diese fürsorgliche Selbstre‐ pression, als eine rigide religiöse Askese der Sorge um sich. Ein Lob der Askese fin‐ det sich bei Schmitt, dem ausschweifenden Bohèmien, schon im Begriff des Politi‐ schen. Dort kennzeichnet Schmitt die „kommende Elite“ durch eine „Wiedergeburt“ urchristlicher „Askese“ und „Armut“ (BP 93). Tatsächlich empfand er sein Leben im Ausnahmezustand eher als enorme Anstrengung und Strapaze denn als das lose Glück liberalen Amüsements der „Unterhaltung“. Glücklich im alltagssprachlichen Sinn eines entspannten Lebensgenusses war Schmitts Leben, folgt man seiner auto‐ biographischen Selbstbeschreibung, vor und nach 1933 kaum je. Als religiös erfüllt und sinnvoll aber betrachtete er es stets.

34 Maschinenschriftlicher Durchschlag: Schmitt am 20.3.1947 an Anima (Nachlass Carl Schmitt. Hauptstaatsarchiv NRW. Abteilung Rheinland. Standort Duisburg RW 265-13453). 35 Gurian 1934/35, S. 566-576. 36 Sommer 2012, S. 33-35.

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Teil 3: Globale und regionale Ausnahmezustände

Christian Kreuder-Sonnen Die Entgrenzung des Ausnahmezustands Globale Krisen, internationale Organisationen und dauerhafte Ermächtigung

1. Einleitung1 Das Konzept des Ausnahmezustands weist in seinem klassischen Verständnis zwei Grundkonstanten auf. Erstens ist es der Idee der Ausnahme inhärent, dass die konsti‐ tutionelle Ordnung lediglich zeitweise suspendiert wird, um einer besonderen Bedro‐ hung zu begegnen. Der Ausnahmezustand hat insofern konservativen Charakter, als dass alle Sonderregelungen und Befugnisse konkret auf die Wiederherstellung des vor einem Notstand bestehenden Status quo ausgerichtet sein sollen.2 Eine wahrlich kommissarische Diktatur erfüllt daher in letzter Konsequenz die Kernfunktion der eigenen Überwindung.3 Zweitens ist der Ausnahmezustand konzeptionell scheinbar unzertrennlich mit dem Staat als maßgebliche politische Einheit verbunden. Schließ‐ lich handelt es sich um ein verfassungsrechtliches Institut, das das Überleben der staatlichen Ordnung im Angesicht existenzbedrohender Krisen sichern soll. Dies war nicht zuletzt beim Etatisten Carl Schmitt das Leitmotiv der politischen Theorie. Für lange Zeit ist der Ausnahmezustand als „Stunde der Exekutive“, in der sich die Frage der Souveränität entscheidet,4 daher letztlich als rein staatstheoretisches Prob‐ lem behandelt worden. Beide Grundkonstanten in der Theorie des Ausnahmezustands werden durch em‐ pirische Entwicklungen herausgefordert. Bei der normativen Erwartung des Ausnah‐ mecharakters von Notstandsgewalten ist dies ein alter Hut: Während die Idee der zeitlichen Beschränkung für konstitutionalistische Perspektiven auf den Ausnahme‐ zustand zwar grundlegend ist, war sie schon immer begleitet von Befürchtungen einer Normalisierung von Notstandsgewalten oder, in den Worten Agambens, des „permanenten Ausnahmezustands“.5 Wenn exekutiven Akteuren in Krisensituatio‐ nen erhöhter Handlungsspielraum eingeräumt wird, ist es nicht auszuschließen –

1 Dieser Aufsatz beruht in substanziellen Teilen auf meinen Ausführungen in Kreuder-Sonnen 2019 a. Für Unterstützung bei der Übersetzung von Textabschnitten danke ich Johannes Scherzinger. 2 Vgl. Ferejohn/Paquino 2004, S. 217. 3 Vgl. Gottfried 1990, S. 97. 4 Schmitt PTh, S. 14. 5 Agamben 2004.

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wenn nicht gar zu erwarten – dass sie versucht sein werden, diesen Machtzuwachs über die Zeit des faktischen Notstands hinaus aufrechtzuerhalten. Die Gefahr der Festschreibung von Notstandskompetenzen ist äußerst real und aktuell.6 Nicht zu‐ letzt zeigen dies die Beispiele des 2015 im Anschluss an die Terroranschläge in Paris in Frankreich verhängten état d’urgence, der zunächst immer wieder verlängert wur‐ de, bis seine Regelungen nach über zwei Jahren mehrheitlich in normale Gesetzge‐ bung überführt wurden, sowie des 2016 nach dem Putschversuch in der Türkei ver‐ hängten Ausnahmezustands, dessen eigentlich drei-monatige Dauer ebenfalls auf über zwei Jahre ausgedehnt wurde. Doch auch die Fixierung des Ausnahmezustands auf den Nationalstaat steht neu‐ erdings zunehmend infrage. Im Zuge der Globalisierung und der mit ihr einherge‐ henden vermehrten transnationalen Politikverflechtung nehmen grenzüberschreiten‐ de Risiken und Krisen an Häufigkeit zu.7 Da in ihrem Fahrwasser auch die Problem‐ lösungskompetenz internationaler Organisationen (IOs) immer gefragter wird, sind IOs vor allem seit dem Ende des Ost-West-Konflikts zu autoritativen Akteuren mit zunehmender Regelungskompetenz in der internationalen Politik geworden.8 Im An‐ gesicht globaler Bedrohungssituationen, die nach globalen Antworten verlangen, – so eine zentrale These dieses Beitrags – können IOs daher nunmehr auch zum Lokus der Entscheidung über den Ausnahmezustand werden und in einen dezisionistischen Modus globalen Regierens verfallen. Es ergibt sich ein Möglichkeitshorizont für Notstandspolitik auch jenseits des Nationalstaats.9 Tatsächlich haben IOs in den vergangenen zwei Jahrzehnten in diversen grenz‐ überschreitenden Krisen politisch mächtige und rechtlich zweifelhafte Rollen ge‐ spielt. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) beispielsweise erweiterte sei‐ ne Kompetenzen maßgeblich in Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. Septem‐ ber 2001, indem er sich zum globalen Gesetzgeber ermächtigte und Verfahrensrechte von Individuen suspendierte. Während der SARS-Krise 2002-3 erweiterte auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eigenständig ihren Handlungsspielraum. Ohne vorherige rechtliche oder politische Autorisierung erließ das Sekretariat der WHO Reisewarnungen für betroffene Gebiete und griff in die Souveränitätsrechte einiger Mitgliedstaaten ein. Und nicht zuletzt hat sich die Herrschaftsstruktur der Europä‐ ischen Union (EU) seit dem Ausbruch der Eurokrise im Jahr 2010 stark gewandelt. Hierbei steht die extra-legale Ermächtigung der Europäischen Zentralbank (EZB) zum Geldgeber letzter Instanz sowie ihre Praxis, den Schuldnerländern Sparmaßnah‐ men zu verordnen, beispielhaft für einen breiteren Kanon an Kompetenzerweiterun‐ gen für supranationale und intergouvernementale Institutionen der EU, deren Legiti‐ 6 Vgl. die Einleitung von Rüdiger Voigt zu diesem Band. Siehe auch Gross/Ní Aoláin 2006, S. 230. 7 Boin/Rhinard 2008; Maull 2010. 8 Vgl. Zürn 2018. 9 Siehe auch Hanrieder/Kreuder-Sonnen 2014; White 2015 b; Heath 2016; Scheuerman 2018.

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mation sich kaum aus bestehendem Recht, sondern lediglich aus der Krisensituation selbst ableiten ließ.10 Die doppelte Entgrenzung des Ausnahmezustands entfaltet besondere Relevanz in der Kombination ihrer Einzelteile. Denn gerade für Notstandspolitik, die sich nicht im Rahmen von demokratischen Verfassungsstaaten abspielt, sondern im deutlich weniger konstitutionalisierten Kontext internationaler Organisationen, bieten sich Räume, um aus Ausnahmen verfassungspolitische Transformationen abzuleiten. Da IOs das Rechtsinstitut des Ausnahmezustands zumeist fremd ist,11 ist Notstandspoli‐ tik von IOs mehrheitlich extra-konstitutionell und damit im Vorhinein auch unregu‐ liert. Ceteris paribus sollte dies die Wahrscheinlichkeit einer Normalisierung des Ausnahmezustands bzw. eine dauerhafte Ermächtigung durch Notstandskompeten‐ zen wahrscheinlicher machen. Globale Krisen könnten daher zu einem wichtigen Katalysator für Autoritätszuwächse von IOs werden. Dieser Vermutung gehe ich im Folgenden nach. In einem ersten Schritt widme ich mich der Konzeptualisierung von Notstandspo‐ litik jenseits des Nationalstaats. Wie überträgt sich das verfassungstheoretische Problem des Ausnahmezustands auf politische Ordnungen ohne Verfassung – und insbesondere ohne Notstandsverfassung? Inwiefern unterscheidet sich der national begrenzte vom international entgrenzten Ausnahmezustand? In einem zweiten Schritt wird die Frage adressiert, unter welchen Bedingungen eine Normalisierung bzw. Verstetigung von Notstandsgewalten im Allgemeinen zu erwarten ist. Für die Notstandspolitik von internationalen Organisationen wird daraus die Vermutung einer erhöhten Normalisierungswahrscheinlichkeit abgeleitet. Der dritte Schritt be‐ steht sodann in der empirischen Illustration von Fällen von IO-Notstandspolitik und der Analyse ihrer längerfristigen institutionellen Entwicklungen. Hierzu werden die eingangs erwähnten Fälle des Krisenmanagements von UN Sicherheitsrat, WHO und EU näher unter die Lupe genommen.

2. Notstandspolitik jenseits des Nationalstaats Im folgenden Abschnitt werde ich zunächst die grundlegende Logik von Notstands‐ politik erläutern und ihre Anwendbarkeit im Kontext internationaler Organisationen herausstreichen. Danach werden drei wichtige Unterschiede zwischen nationaler Notstandspolitik und IO-Notstandspolitik dargelegt, die zum Verständnis des Phäno‐ mens maßgeblich sind.

10 Vgl. Scicluna 2017. 11 Schott 2008.

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2.1. Notstandspolitik als Herrschaftsmodus In der Verfassungstheorie wird der Ausnahmezustand als Rechtsinstitut verstanden, das die Suspendierung bestimmter Vorschriften der normal geltenden Rechtsordnung – also des Normalzustands – regelt.12 Er wird hervorgerufen durch eine Notsituation – eine außergewöhnliche Bedrohung der politischen Ordnung – , die einer außerge‐ wöhnlichen Antwort bedarf. Leicht paradox beschreibt der Ausnahmezustand also einen Rechtsrahmen für die Suspendierung des Rechts. Basierend auf dieser forma‐ len Definition untersuchen vergleichende Rechtswissenschaftler die unterschiedli‐ chen Prozeduren und Regulierungen des Ausnahmezustands in diversen Verfas‐ sungstraditionen.13 Bei der empirischen Analyse verbindet sich damit ein Fokus auf kodifizierte Regeln und offizielle Notstandserklärungen, die auf diesen Regeln ba‐ sieren. Aus dieser Perspektive betrachtet, scheint die Anwendbarkeit des Konzepts auf IOs stark begrenzt. Zwar sind IOs zumeist auf Verträgen gegründet, die eine po‐ litische Ordnung rechtlich konstituieren. Selten entsprechen diese Verträge jedoch der Regulierungstiefe staatlicher Verfassungen, und sie erkennen – auch angesichts der vergleichsweise geringen politischen Macht von IOs – formal kaum die Mög‐ lichkeit eines supranationalen Ausnahmezustands an, durch den die jeweilige IO Notstandskompetenzen erhalten könnte. Der sozialwissenschaftliche Blick auf die Problematik des Ausnahmezustands baut zwar auf dem verfassungstheoretischen auf, weicht allerdings auch davon ab. Er beschäftigt sich weniger mit den rechtlichen Vorschriften, die Notstände regulie‐ ren, als mit den politischen Praktiken und Rechtfertigungsdiskursen, die Herr‐ schaftsausübung im Notstand charakterisieren. Hier wird die Kombination von „ex‐ ceptional policies and practices, legitimated by claims about exceptional events and circumstances”14 als Notstandspolitik bezeichnet. Wie Jonathan White präzisiert, handelt es sich bei Notstandspolitik um einen Modus der Herrschaftsausübung, „in which actions contravening established norms are defended – often exclusively – as a response to exceptional circumstances that pose some form of existential threat. […] Necessity rather than consent is the organizing principle.”15 Das Konzept der Notstandspolitik hängt demnach weder von objektiven Bedingungen einer Notsitua‐ tion ab, noch von einer rechtlichen Basis oder der formalen Erklärung des Ausnah‐ mezustands. Diese Erweiterung hat nicht nur der Literatur geholfen, das Problem außerge‐ wöhnlicher Krisenpolitik auf nationaler Ebene sehr viel breiter zu erfassen. Sie hat es auch ermöglicht, Notstandspolitik jenseits des Nationalstaats in den Blick zu neh‐ 12 13 14 15

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Dyzenhaus 2006; Gross/Ní Aoláin 2006; Scheuerman 2006; Fatovic 2009. Vgl. Gross/Ní Aoláin 2006. Neal 2010, S. 1. White 2015 b, S. 302-303.

men. Denn die einzige notwendige konzeptuelle Voraussetzung für Notstandspolitik ist die Existenz von rechtlich konstituierter Herrschaftsgewalt bzw. politischer Auto‐ rität. Sobald diese vorhanden ist, kann sie im Modus der Notstandspolitik ausgeübt werden. Zwar wurde internationalen Organisationen lange Zeit eben diese Fähigkeit abgesprochen.16 Doch seit den 1990er Jahren haben IOs unbestreitbar einen massi‐ ven Zuwachs an Kompetenzen verzeichnet.17 Viele IOs verfügen heute über unter‐ schiedliche Grade an politischer Autorität, verstanden als Fähigkeit, kollektiv ver‐ bindliche Entscheidungen zu treffen, die von den Regelungsadressaten grundsätzlich akzeptiert werden, selbst wenn sie im Einzelfall gegen die Interessen einiger Mit‐ glieder verstoßen.18 Insbesondere wurde in intergouvernementalen IO-Gremien das sog. Pooling von Autorität vorangetrieben, wo z.B. durch die Einführung von Mehr‐ heitsentscheidungen einzelne Staaten ihr Vetorecht verloren und im Endeffekt der Autorität der Mehrheit unterworfen sind. Bürokratischen oder supranationalen IOOrganen wurden zudem qua Delegation vermehrt Initiations-, Entscheidungs- und Kontrollkompetenzen übertragen, denen formal alle Mitgliedstaaten unterworfen sind.19 IOs mit einem Mindestmaß an politischer Autorität sind demnach Herrschaftsträ‐ ger; und diese Herrschaft können sie potentiell auch im Notstandsmodus ausüben. Die innere Logik von Notstandspolitik ist simpel. Durch die rhetorische Verbindung politischer Maßnahmen mit einer existentiellen Bedrohung werden sie schwer be‐ streitbar aus Gründen, die nicht die Bedrohung selbst betreffen. Egal ob diese real oder (lediglich) wahrgenommen ist, ob sie von politischen Eliten aktiv konstruiert wurde oder eine quasi-natürliche Antithese zur menschlichen condition humaine darstellt: Unter dem Eindruck einer existentiellen Krise tendiert die Öffentlichkeit dazu, ein hartes Durchgreifen von Autoritäten zur Bekämpfung der Bedrohung zu akzeptieren, wenn nicht gar zu verlangen – und zwar selbst denn, wenn dies auf Kosten individueller Freiheitsrechte geschieht.20 Aufgrund der ungleichen Vertei‐ lung von Wissen und Information zugunsten exekutiver Autoritäten unter Bedingun‐ gen allgemeiner Unsicherheit werden Aussagen von Herrschaftsträgern über die Notwendigkeit politischer Maßnahmen zur Bewältigung der Krisensituation schnell akzeptiert. Politischer Widerspruch, beispielsweise bezüglich negativer Effekte der Maßnahmen auf Bürgerrechte, können dann als Ablenkung vom primären – da exis‐ tentiellen – Ziel der Abwendung der Bedrohung zurückgewiesen werden.21 Unab‐ hängig davon, ob die politische Antwort auf die Krise rein reaktiv und in gutem Glauben stattfindet, oder ein machtpolitisches Ausnutzen der Umstände darstellt, 16 17 18 19 20 21

Siehe etwa die Polemik von Mearsheimer 1994/1995. Hooghe et al. 2017; Zürn 2018. Vgl. Zürn et al. 2012. Hooghe/Marks 2015. Gross/Ní Aoláin 2006, S. 220–221; Krebs 2009, S. 185. Siehe auch Waever 1995, S. 53–54; Buzan/Waever/de Wilde 1998.

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impliziert Notstandspolitik immer eine Ausweitung des politischen Ermessenspiel‐ raumes für exekutive Akteure. Das Ausmaß ihrer politischen Autorität wächst sprungartig an. Die formale konstitutionelle Bezeichnung für diese außerordentliche Vergröße‐ rung exekutiver Verfügungsgewalt ist die Aneignung von Notstandsgewalten. Regel‐ mäßig geht die Aneignung von Notstandsgewalten einher mit der Ausweitung der Aufgaben und Funktionen, die exekutive Akteure wahrnehmen und die ihrerseits zu‐ meist eine Beeinträchtigung für die Rechte der Regelungsadressaten darstellen.22 Notstandsgewalten erweitern das Exekutivermessen dadurch sowohl in einer hori‐ zontalen als auch in einer vertikalen Dimension. Horizontal, also im Verhältnis zu anderen Autoritäten im Herrschaftssystem, ist die Frage, wie weit sich die Macht exekutiver Akteure beispielsweise auf die Bereiche legislativer und judikativer Funktionen ausdehnt. Dies bestimmt in meiner Terminologie die Reichweite von Notstandsgewalten. Vertikal, also im Verhältnis zu den Herrschaftsadressaten, ist die Frage, wie tief die Notstandsmaßnahmen in die liberalen oder republikanischen Rechte der Herrschaftssubjekte eingreifen – ob sie etwa lediglich in prozedurale As‐ pekte eingreifen oder bestimmte Freiheits- oder Partizipationsrechte gänzlich sus‐ pendieren oder gar annullieren. In meiner Terminologie bestimmt dies die Intrusivi‐ tät von Notstandsgewalten. Wie auch immer die konkrete Konfiguration der Werte auf diesen Skalen im em‐ pirischen Fall aussieht, Notstandspolitik bezeichnet im Allgemeinen immer eine Herrschaftsausübung, die als notwendig zum Abwenden einer Notsituation gerecht‐ fertigt wird und dafür den Ermessenspielraum der Exekutive erweitert, indem sie sich ein erweitertes Spektrum an Funktionen aneignet und in die Rechte der Adres‐ saten eingreift. Auf welche Weise Notstandsgewalten konstituiert werden, d.h. ob sie beispielsweise gemäß rechtlichen Verfahren übertragen werden oder das Ergebnis einer extra-legalen Selbstermächtigung der Exekutive darstellen, ist eine empirische Frage. Durch das Rechtfertigungskriterium kann sowohl konstitutionelle wie extrakonstitutionelle Notstandspolitik in den Blick genommen werden. Zusammenfas‐ send kann also festgehalten werden, dass Notstandspolitik auf zwei notwendigen Elementen beruht: (1) Notstandsgewalten, die die Verfügungsfreiheit der Exekutive sowohl horizontal als auch vertikal erweitern und (2) die explizite oder implizite Rechtfertigung der politischen Maßnahmen als notwendig zur Behebung der Notsi‐ tuation. Diese Konzeptualisierung ist ausreichend spezifisch, um Fälle von Not‐ standspolitik zu identifizieren und von anderen Formen der Herrschaftsausübung zu unterscheiden. Gleichzeitig ist sie breit genug, um eine große Vielfalt verschiedener Modelle und empirischer Manifestationen von Notstandspolitik zu erfassen, seien

22 Scheppele 2010, S. 134–143.

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sie legal oder extra-legal, formal erklärt oder implizit, rechtlich beschränkt oder qua‐ si-diktatorisch – und innerstaatlich oder international.

2.2. Innerstaatliche und überstaatliche Notstandspolitik Notstandspolitik internationaler Organisationen folgt dem gleichen Muster von Herrschaftsausübung wie nationale Notstandspolitik. Gleichzeitig muss sie als ei‐ genständiger, postnationaler Typus verstanden werden, der einige Distinktionsmerk‐ male aufweist.23 Diese leiten sich vorwiegend aus den strukturellen Unterschieden ab, die zwischen nationalen und internationalen Beziehungen von Hierarchie und Unterordnung bestehen.24 Aus ihnen gehen drei konkrete Beobachtungen über die spezifische Gestalt von IO-Notstandspolitik hervor: Erstens werden Notstandsgewalten im Nationalstaat typischerweise vor dem Hin‐ tergrund eines Zwangspotentials ausgeübt, das dem Staat per Gewaltmonopol zur Verfügung steht. Im Gegensatz dazu sind Notstandsgewalten von IOs Akte interna‐ tionaler Autorität, die ganz auf die freiwillige Akzeptanz der Beherrschten angewie‐ sen sind. Zwar ist die Anerkennung von Entscheidungskompetenz eine Grundbedin‐ gung für internationale Autorität. Diese Anerkennung ist aber nicht grenzenlos. Sie ist beschränkt auf einen (breiten) Korridor politischer Praxis, der als legitim ange‐ nommen wird, weil er der Erreichung eines Allgemeinguts dient. Die Abhängigkeit internationaler Organisationen von der Anerkennung und Legitimität in den Augen ihrer Mitglieder macht es wahrscheinlich, dass sie aufpassen werden, insbesondere die Mächtigsten unter ihnen nicht zu verprellen. Die ungleiche Machtverteilung un‐ ter den Staaten (und anderen Akteuren) im internationalen System hat daher starken Einfluss auf die Richtung und Effekte internationaler Autoritätsausübung allgemein und IO-Notstandspolitik im Speziellen.25 Da Notstandspolitik von IOs mit einem au‐ ßergewöhnlichen Anstieg der Reichweite und Intrusivität von IO-Autorität einher‐ geht, ist es unwahrscheinlich, dass die konkreten Maßnahmen den Interessen der mächtigsten Mitgliedstaaten widersprechen. Intergouvernementale IO-Gremien sind typischerweise von den mächtigsten Staaten dominiert, weshalb zu erwarten steht, dass sie deren Interessen eher reflektieren als unterminieren werden. Auch suprana‐ tionale IO-Organe müssen Konsequenzen fürchten, wenn sie im Widerspruch zu den Interessen der einflussreichsten Staaten handeln. Schließlich können diese die Büro‐ kratie materiell oder immateriell sanktionieren – etwa durch das Zurückhalten von Beitragszahlungen oder die Infragestellung der IO-Autorität.26 Eine zumindest im‐ 23 24 25 26

Siehe auch White 2015 b; Scheuerman 2018. Zürn 2018. Krisch 2005; Viola/Snida/Zürn 2015. Hawkins et al. 2006, S. 31–32.

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plizite Zustimmung der mächtigsten Mitgliedstaaten sollte daher als notwendige Be‐ dingung dafür gelten, dass IOs Notstandsgewalten annehmen. Die Effekte ihrer Maßnahmen wiederum sollten sich asymmetrisch bzw. stratifiziert über die Staaten verteilen – als Funktion der Machtverteilung unter ihnen.27 Zweitens stimmt bei Notstandspolitik durch IOs der Lokus der Autorität nicht notwendigerweise mit dem Lokus der Souveränität im Schmitt’schen Sinne überein – d.h. wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Während der idealtypische Aus‐ nahmezustand im Nationalstaat beide in einer klar hierarchisierten Institution ver‐ bindet, basiert IO Notstandspolitik auf komplexen formellen und informellen, direk‐ ten und indirekten Machtbeziehungen meist kompositer Akteure.28 Folglich mögen die konkreten Notstandsmaßnahmen zwar formal von der Autorität spezifischer IOOrgane ausgehen und die Form ihrer Rechtsinstrumente annehmen. Es ist jedoch eine andere Frage, wessen Macht und Interessen der politische Motor hinter den po‐ litischen Entscheidungen ist. Supranationale IO-Bürokratien können in der Tat mehr oder weniger autonom eine Situation als außergewöhnliche Bedrohung einstufen und Notstandsmaßnahmen erlassen, um ihr zu begegnen. Ebendiese supranationalen Akteure können jedoch auch informell durch mächtige Staaten kontrolliert bzw. ge‐ steuert sein, die die Autorität der IO ausnutzen, um ihre Politikpräferenzen interna‐ tional durchzusetzen.29 Logisch können wir daher drei Konstellationen von Autorität und Interessen unterscheiden. (1) Die Interessen mächtiger Staaten werden von mit‐ gliedstaatlichen IO-Gremien mit „gepoolter“ Autorität durchgesetzt. (2) Institutio‐ nelle Interessen werden von supranationalen IO-Gremien mit delegierter Autorität autonom durchgesetzt. (3) Die Interessen mächtiger Staaten werden von supranatio‐ nalen IO-Gremien mit delegierter Autorität durchgesetzt. Drittens ist das Autoritätsniveau von IOs noch immer sehr viel niedriger als das von Staaten. Zudem sind die politischen Ordnungen internationaler Organisationen im Schnitt deutlich weniger konstitutionalisiert als die ihrer nationalen Gegenstücke. Beide Aspekte zusammen begründen, warum IOs gemeinhin keine rechtlichen Vor‐ schriften kennen, die den Rückgriff auf Notstandsgewalten formalisieren würden. Zur Zeit ihrer Gründung wurde kaum eine IO als mächtig genug wahrgenommen, um die Verankerung starker Verfassungsbeschränkungen notwendig erscheinen zu lassen – und damit überhaupt erst die Notstandsproblematik formal relevant werden zu lassen. „Notstandsverfassungen“30 sind heute zwar in so gut wie allen staatlichen Rechtsordnungen auf die eine oder andere Weise verankert,31 den allermeisten IOs sind sie hingegen fremd. Eine der wenigen Organisationen mit institutionellen Re‐ geln, die einer Notstandsverfassung nahekommen, ist der UN Sicherheitsrat. Kapitel 27 28 29 30 31

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Viola/Snidal/Zürn 2015. Siehe auch White 2015 b, S. 311. Vgl. Stone 2011. Ackerman 2004. Krisch 2010, S. 45.

VII der UN Charta überträgt dem Rat praktisch Sonderbefugnisse (oder: Notstands‐ gewalten) für Krisenzeiten und bestimmt den Modus der Notstandserklärung (Art. 39) sowie die Notstandsmaßnahmen, welche zu ergreifen erlaubt sind (Art. 41-42). Doch selbst hier erkennen weder die beteiligten Akteure noch die For‐ schungscommunity Kapitel VII der UN Charta als Notstandsverfassung an und in‐ terpretieren die Krisenkompetenzen des Rates folglich auch nicht als Notstandsge‐ walten.32 Das Konzept eines konstitutionalisierten Notstands hat als regulatives Ide‐ al im Kontext internationaler Organisationen bislang nicht Fuß fassen können.33 Folglich wird Notstandspolitik von IOs typischerweise informeller sein als inner‐ staatliche Notstandspolitik. Da es für ihre Handlungen jenseits normalerweise gel‐ tender Herrschaftsbeschränkungen keine rechtliche Basis gibt, steht anzunehmen, dass IOs auch selbst nicht anerkennen werden, dass sie faktisch Notstandsgewalten ausüben. Im Regelfall dürfte das Zustandekommen von IO-Notstandsgewalten also der extra-legalen (Selbst-) Ermächtigung exekutiver Akteure entsprechen, die zwar die Außergewöhnlichkeit der Notsituation betonen, gleichzeitig aber die rechtliche Außergewöhnlichkeit ihrer Maßnahmen verneinen. Kurz gesagt: Notstandspolitik von IOs folgt derselben grundlegenden Logik wie Notstandspolitik auf jeder anderen Ebene politischer Autorität. Im Unterschied zum staatlichen Modell lassen sich jedoch drei spezifische Eigenheiten auf IO-Ebene aus‐ machen: Erstens sind die Reichweite und Zielrichtung von IO-Notstandsmaßnahmen gemäß der Machtverteilung unter den Herrschaftsadressaten stratifiziert. Zweitens kommt IO-Notstandspolitik in der Gestalt komplexer institutioneller Konfiguratio‐ nen, die eine diffuse Verlagerung der souveränen Entscheidungsgewalt über den Ausnahmezustand jenseits des Nationalstaats nach sich zieht. Drittens ist IO-Not‐ standspolitik aufgrund der Abwesenheit formaler Notstandsverfassungen zumeist in‐ formell und operiert häufig unter dem Deckmantel rechtlicher Normalität.

3. Ausnahme oder dauerhafte Ermächtigung? Schon immer sind die Konzepte des Ausnahmezustands und der Notstandsgewalten von der Befürchtung einer Normalisierung der Ausnahme begleitet worden – also der Befürchtung, dass die zunächst kurzfristig eingeführten Sonderbefugnisse und häufig damit einhergehenden Repressionsmaßnahmen von den Machthabern am En‐ de einer Krise nicht wieder aufgegeben werden, sondern zu permanenten Bestandtei‐ len des politischen Lebens werden. In der Tat sind Tendenzen der Normalisierung, manchmal gar Ausdehnung, von Notstandsgewalten über Zeit, Raum und Verwal‐ tungsebenen ein empirischer Befund der vergleichenden Forschung zu nationaler 32 Siehe z.B. die Interpretation im autoritativen Kommentar zur UN Charta durch Krisch 2012. 33 Schott 2008.

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Notstandspolitik.34 Im vorliegenden Abschnitt argumentiere ich, dass dieses auch als „Sperrklinkeneffekt“ bezeichnete Phänomen eine Möglichkeit ist, die sich auch und insbesondere auf die Notstandspolitik internationaler Organisationen übertragen lässt. In der Literatur zu den langfristigen politischen Konsequenzen nationaler Aus‐ nahmezustände wird der Sperrklinkeneffekt gemeinhin als Prozess verstanden, bei dem die Notstandslogik eine „schiefe Ebene“ (slippery slope) von Präzedenzen her‐ stellt, die es Exekutiven erlaubt, ihre erweiterten Befugnisse zu zementieren und bürgerliche Freiheiten immer weiter zu beschneiden. Die zugrundeliegende Erklä‐ rung lautet, dass „government and its agents grow accustomed to the convenience of emergency powers. Once they have experienced the ability to operate with fewer restraints and limitations they are unlikely to be willing to give up such freedom.”35 Das heißt nicht, dass es sich bei der Normalisierung von Notstandsgewalten um einen Automatismus handelt. Ganz im Gegenteil führt die durch den Ausnahmezu‐ stand hervorgebrachte Störung des konstitutionellen Gleichgewichts typischerweise zu Episoden der politischen Auseinandersetzung oder gar des politischen Kampfes zwischen den durch Notstandspolitik Er- und Entmächtigten.36 Während die Er‐ mächtigten einen Anreiz haben, sich für die Verstetigung ihres erweiterten Hand‐ lungsspielraums einzusetzen, haben diejenigen, die konkret oder strukturell von den Maßnahmen betroffen sind, einen Anreiz, für dessen Zurückdrängung zu kämpfen. Mit wessen Präferenzen der Ausgang dieses Kampfes am Ende übereinstimmt, hängt nicht zuletzt von den Machtressourcen ab, die den Akteuren jeweils zur Verfü‐ gung stehen. Es werden jedoch häufig Faktoren angeführt, die dazu führen könnten, dass die Befürworter der Normalisierung einen strukturellen Wettbewerbsvorteil haben und daher mit erhöhter Wahrscheinlichkeit als Sieger vom Platz gehen werden. Im inner‐ staatlichen Kontext spielen Informationsasymmetrien zugunsten exekutiver Akteure eine wichtige Rolle.37 Nicht selten hat die Exekutive partiell exklusiven Zugang zu sensiblen Informationen, etwa geheimdienstlichen Erkenntnissen, auf deren Basis eine Notsituation beschworen wird. Den Befürwortern einer Zurückdrängung mag dadurch die faktische Grundlage fehlen, um erfolgreich zu argumentieren, dass die den Notstand rechtfertigendenden empirischen Bedingungen nicht länger vorhanden sind, oder dass angesichts der empirischen Bedingungen die Notstandsgewalten zu weit gehen. Damit in Verbindung steht ein zweiter Aspekt: die Tendenz der Judikati‐ ve, sich dem Urteil der Exekutive in Krisenzeiten unterzuordnen. Dies geschieht wohl nicht zuletzt aus Furcht davor, Maßnahmen zu kassieren, die essentiell notwen‐ 34 35 36 37

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Krebs 2010; Tarrow 2015. Gross/Ní Aoláin 2006, S. 230. Vgl. Tarrow 2015. Bonner 1985, S. 49.

dig sein könnten, um einer Notsituation zu begegnen, welche die Richter – auch an‐ gesichts der Informationsasymmetrie – nicht gänzlich durchblicken können.38 So er‐ gibt es sich, dass Gerichte nicht selten extra-legale Maßnahmen rechtlich absegnen und dadurch Ausnahmebefugnisse in eine „autoritäre Legalität“39 überführen, die noch schwerer zurückzudrängen ist als es die Notstandsgewalten ohnehin schon sind. Ein dritter, institutioneller Faktor betrifft die Status quo-Orientierung legislati‐ ver Institutionen und die lock-in Effekte politischer Entscheidungen in Krisen. Ist der Sicherheitsapparat eines Staates erst einmal hochgefahren, lässt er sich nur schwer wieder einfangen, zum einen, weil er von innen durch institutionelle Eigen‐ interessen geschützt wird und zum anderen, weil ihn hohe Mehrheitsanforderungen für neue Gesetzgebung und insbesondere Verfassungsänderungen von außen schüt‐ zen.40 Mit gewissen Anpassungen lassen sich diese Faktoren auch auf den Kontext von IO-Notstandspolitik übertragen. In einigen Dimensionen verstärken die Eigenheiten von Notstandspolitik jenseits des Staates sogar den Hang zur Verstetigung von Not‐ standsgewalten. Der erste und wichtigste Grund ist, dass in IOs die Machtverteilung höchst ungleich zugunsten derjenigen Akteure strukturiert ist, die von Notstandspo‐ litik profitieren und daher ihre Normalisierung bevorzugen. Wie oben dargelegt, be‐ darf IO-Notstandspolitik des Impetus, der Zustimmung oder zumindest der implizi‐ ten Akzeptanz durch die mächtigsten Mitgliedstaaten der fraglichen IO. Diese Staa‐ ten sind daher typischerweise eher in der Rolle von Herrschaftsträgern als in der Rolle von Herrschaftsadressaten. Im Schnitt ist daher zu erwarten, dass sie einen Anreiz verspüren werden, sich für die Verstetigung eines erweiterten Handlungs‐ spielraums der IO-Exekutive einzusetzen.41 Aufgrund ihrer herausragenden formel‐ len und informellen Machtstellung sind diese Staaten in der Lage, Kompetenzerwei‐ terungen durch institutionelle Anpassungsprozesse in eine neue Rechtsnormalität zu überführen oder sie informell aufrecht zu erhalten, indem gegenläufige Reformpro‐ zesse blockiert werden.42 Die Größe der institutionellen Machtunterschiede kann freilich variieren, ihre Verteilung wird jedoch grundsätzlich eher Richtung Versteti‐ gung ausschlagen. Diese Neigung zugunsten von Kontinuität und Normalisierung wird durch die institutionellen Regeln von IOs weiter verstärkt. Insbesondere Ein‐ stimmigkeitserfordernisse und qualifizierte Mehrheitsregeln generieren eine Vielzahl an Vetospielern und Sperrminoritäten, die einmal getroffene institutionelle Entschei‐ dungen vor Umkehr schützen.43 38 39 40 41

Scheppele 2012. Diab 2015, S. 86-93. Friedberg 2000, S. 30–33; Gross 2003, 1090–1096. Zumindest ist es äußerst unwahrscheinlich, dass sie sich aktiv für eine Zurückdrängung der Notstandskompetenzen einsetzen, die sie selbst initiiert oder akzeptiert haben. 42 Siehe allgemein Hanrieder 2014. 43 Scharpf 1988.

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Zweitens vergrößert die charakteristische Flexibilität und Formbarkeit des Völ‐ kerrechts die Rolle und Effekte von Präzedenzfällen und reduziert zudem weiter die Wahrscheinlichkeit gerichtlicher Intervention bzw. Zurückdrängung. „International law is weakly institutionalized; international adjudication is fragmented and noncompulsory; enforcement of international law is weak; and the mechanism for chan‐ ging the law cumbersome […].”44 Internationale Rechtsnormen sind auch häufiger Gegenstand interpretativer Entwicklung und Anpassung. Sowohl Gewohnheitsrecht als auch kodifizierte Normen des Völkerrechts können sich durch Verhalten der Rechtssubjekte ändern, das anscheinend regelverletzend ist, aber von der Gemein‐ schaft kollektiv als wünschenswerte Verbesserung der Rechtslage eingeschätzt wird. Auf diese Weise verwandelt sich Nicht-Einhaltung des Rechts in eine Veränderung des Rechts.45 Rechtsbrüche oder Kompetenzüberschreitungen sind in diesem Kon‐ text nur schwer identifizierbar und daher aus rein rechtlichen Gründen kaum an‐ fechtbar. Dies verkompliziert die Lage internationaler Gerichte noch weiter und ver‐ leitet sie dazu, sich dem politischen Druck in Krisenzeiten zu beugen. Die daraus entstehende rechtliche Präzedenz wiederum erlaubt es Akteuren, in der Zukunft ähn‐ liche Praxis rechtlich zu rechtfertigen. In der Summe kann daher festgehalten wer‐ den, dass der Kontext des internationalen Rechts, in dem IO-Notstandspolitik ope‐ riert, den Befürwortern einer Normalisierung eine vorteilhaftere Opportunitätsstruk‐ tur bietet als ihren Gegnern.

4. Notstandspolitik als Mechanismus der Ermächtigung internationaler Organisationen Im Folgenden wird zunächst die allgemeine Existenzbehauptung bezüglich der Not‐ standspolitik internationaler Organisationen mit Fällen des UN Sicherheitsrates, der WHO und der EU empirisch gestützt. Es handelt sich hierbei um eine primär phäno‐ menologische Übung, weshalb die Fallauswahl in erster Linie dem Ziel folgt, zu zei‐ gen, dass IO-Notstandspolitik über verschiedene Politikfelder hinweg und in diver‐ sen institutionellen Konfigurationen vorkommt und daher tatsächlich eine nicht-idio‐ synkratische Phänomenklasse darstellt. Zudem zeige ich in den einzelnen Fällen die längerfristigen institutionellen Entwicklungen der Notstandsgewalten auf. Zwar las‐ sen sich unterschiedliche Verlaufstypen ausmachen, jedoch wird in allen Fällen eine klare Normalisierungstendenz festgestellt.

44 Vinx 2013, S. 91. 45 Hurd 2014.

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4.1. Wie der UN Sicherheitsrat nach dem 11. September zum globalen Gesetzgeber mutierte Nach dem 11. September 2001 unternahm der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UNSC) eine Reihe von beispiellosen Schritten, um transnationalen Terrorismus glo‐ bal zu bekämpfen. Angeführt von seinem mächtigsten Mitgliedstaat, den Vereinigten Staaten von Amerika, entwarf der Rat eine Reihe außergewöhnlicher Maßnahmen. Eine dieser Maßnahmen war Resolution 1373 (2001), die weniger als drei Wochen nach den Anschlägen vom 11. September und ohne öffentliche Debatte angenom‐ men wurde. Die Resolution war außergewöhnlich in vielerlei Hinsicht. Zunächst stellte sie fest, dass Terrorismus per se – ein abstraktes und generelles Phänomen – eine Gefahr für internationalen Frieden und Sicherheit darstellt. Zweitens verfügte sie, unter Kapitel VII der UN Charta, eine Reihe von rechtlichen Verpflichtungen, die alle Staaten in ihre nationale Gesetzgebung übernehmen mussten. Dies beinhal‐ tete u.a. die Pflicht, jegliche Form der Terrorunterstützung, logistisch wie finanziell, zu kriminalisieren, Geldmittel oder anderweitige Vermögen von Personen oder Kör‐ perschaften, die potentiell mit Terroristen in Verbindung stehen könnten, einzufrie‐ ren, Grenzkontrollen zu verschärfen sowie nachrichtendienstlichen Datenaustausch zu erhöhen.46 Mit diesem Herrschaftsakt aktivierte der Rat formal seine konstitutionellen Not‐ standsgewalten aus der Charta, die es ihm erlauben, außergewöhnliche Maßnahmen als Antwort auf Bedrohungen des Weltfriedens zu ergreifen.47 Allerdings gab es auch Stimmen, die zu bedenken gaben, dass die Maßnahmen zur Terrorismusbe‐ kämpfung des UNSC zuvor anerkannte konstitutionelle Beschränkungen bei Weitem überschritten. So gesehen stellten die Notstandsmaßnahmen eine „Ausnahme zu einer bereits existierenden Ausnahme“ dar.48 Dies geschah, indem der Rat seinen exekutiven Ermessensspielraum sowohl auf der horizontalen wie auf der vertikalen Dimension erweiterte. Horizontal weitete der UNSC die Reichweite seiner Not‐ standsgewalten aus, indem er das Terrain der exekutiven Regulierung verließ und das der globalen Gesetzgebung betrat.49 Das Ratsmandat war zuvor so interpretiert worden, dass es ihm erlaubt war, in einer Polizei-Funktion in konkrete, temporär und räumliche begrenzte Situationen zu intervenieren. Als globale Exekutive bestand seine Arbeit darin, abstrakte Normen auf spezifische Situationen anzuwenden. Mit Resolution 1373 ergriff der UNSC jedoch Maßnahmen, die selbst die Form von in‐ ternationalen Gesetzen annahmen: Verpflichtungen abstrakten Charakters (ohne mit einer spezifischen Situation verknüpft zu sein), die allgemeingültig (für alle Staaten) 46 47 48 49

Resolution 1373 (2001), operative Absätze 1 und 3. Schott 2008. Bianchi 2006, 891–2. Szasz 2002; Alvarez 2003.

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und ohne zeitliche Beschränkung wirksam sind.50 Wie bei allen internationalen Kon‐ ventionen und Verträgen, die im nationalstaatlichen Kontext ratifiziert werden müs‐ sen, so hatten Staaten auch eine gewisse Flexibilität in der Auslegung von Resoluti‐ on 1373. Allerdings durften sie nicht vom substanziellen Kern der auf internationa‐ ler Ebene entschiedenen Direktiven abweichen. Durch die Verlagerung von der In‐ terpretation abstrakter Normen in konkreten Situationen auf den Erlass ebenjener Normen, ermächtigte sich der UNSC also zum globalen Gesetzgeber. Auf der vertikalen Ebene unterminierte die Auferlegung internationaler Rechts‐ pflichten durch den UNSC das Konsensprinzip, auf welchem internationale Recht‐ setzung bislang basierte und griff damit in die nationale Souveränität verschiedener Mitgliedstaaten ein.51 Bis dato war es ein fundamentales Prinzip der internationalen Rechtsordnung gewesen, dass Staaten die Entscheidung freistand, ob sie sich einem Rechtsinstrument anschließen wollten oder nicht. Aus diesem Grund sind internatio‐ nale Verträge und Konventionen grundsätzlich optional und erlauben unilaterale Vorbehalte. Dies spiegelt die souveräne Gleichheit aller Staaten wider, welche in Ar‐ tikel 2(1) UNC festgeschrieben ist. Aus der Vorschrift leitet sich ab, dass kein Staat völkerrechtlichen Regeln unterworfen werden soll, denen er nicht explizit oder im‐ plizit zugestimmt hat. Durch sein Handeln als globaler Gesetzgeber suspendierte der Sicherheitsrat dieses Prinzip. Dies wird auch deutlich, wenn wir uns vergegenwärti‐ gen, dass Resolution 1373 maßgeblich auf Vorschriften aufbaute, die in der „Interna‐ tionalen Konvention für die Verfolgung von Terrorfinanzierung von 1999“ festgehal‐ ten sind. Die Konvention war bis zum September 2001 nämlich nur von einem Bruchteil der UN Mitgliedsstaaten ratifiziert worden. Diesem Vertrag zuzustimmen war eine souveräne Entscheidung der Nationalstaaten. Der Rat nutzte dann jedoch seine Kapitel VII-Befugnisse aus der Charta, um eine bindende Resolution zu erlas‐ sen, die die Normen der Konvention für alle Mitgliedstaaten verbindlich machte – ganz gleich was ihre Position zur Konvention gewesen war.52 Mehrere Völkerrecht‐ lerInnen kamen trotz des weiten Ermessensspielraums, der dem Rat gemäß Kapitel VII der Charta zur Verfügung steht, zu der Überzeugung, dass er ultra vires gehan‐ delt und politische Autorität usurpiert habe.53 Auf der anderen Seite machten die ständigen Mitglieder für sich geltend, dass die Maßnahmen in Gänze durch die Charta der Vereinten Nationen gedeckt und somit rechtlich gesehen einwandfrei waren. In diesem Zusammenhang schreibt Jean Co‐ hen, dass „care was taken by the Council to frame the expansive reading of its powers within the discursive limits and mandate of Chapter VII […].“54 Die Recht‐ fertigung des Rates für diese Handlungsweise basierte auf politischer Notwendig‐ 50 51 52 53 54

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Rosand 2004, 567; Joyner 2012 Elberling 2005, 351. Bantekas 2003, 326. Fremuth/Griebel 2007; Arato 2012; Cohen 2012. Cohen 2012, 271.

keit. Einerseits stellte er gemäß Art. 39 UNC eine Gefahr für den Weltfrieden fest, was als Ausrufung des Notstands verstanden werden kann.55 Andererseits führte der weitverbreitete und tiefliegende Kriseneindruck nach dem 11. September zu einen Moment der „außerordentlichen Politik“, in dem die permanenten Ratsmitglieder gar keine konkreten öffentlichen Rechtfertigungen mehr vorbringen mussten: Es schien ohnehin allen klar zu sein, dass extreme politische Antworten notwendig waren.56 Andrés Franco, zu diesem Zeitpunkt stellvertretender UN-Botschafter für Kolumbi‐ en, das im Jahre 2001 einen nicht-permanenten Sitz im Sicherheitsrat innehatte, sag‐ te in diesem Zusammenhang: „Who would dare to say anything in that moment? The context wasn’t there for a normal negotiation. It just wasn’t conducive for anyo‐ ne to raise the classical issues about why this resolution should be so strong.“57 Inso‐ fern tritt die Logik des Notstands, wenn auch nur implizit, in der politischen Begrün‐ dung für die Verabschiedung der Resolution 1373 zum Vorschein. Dieser Fall ist ein klares Beispiel für IO-Notstandspolitik, bei der sich ein zwi‐ schenstaatliches IO-Organ politische Autorität auf Geheiß der mächtigsten Mitglied‐ staaten aneignet. Die globale Gesetzgebung stammte größtenteils aus der Feder der Vereinigten Staaten, mit gelegentlicher Unterstützung des Vereinigten Königreichs. Die USA exportierten ihre nationale anti-Terror Gesetzgebung durch den Sicher‐ heitsrat als Transmissionsriemen. So gesehen externalisierte die Bush-Regierung die Umsetzung ihrer globalen Terrorismusbekämpfungsstrategie, indem sie die politi‐ sche Autorität des Sicherheitsrats ausnutzte.58 Nur durch die Kombination von USUnterstützung und UNSC-Kompetenz war es möglich, solche weitreichenden und intrusiven Notstandsmaßnahmen zu erlassen. Gleichzeitig waren die Effekte –ge‐ messen an ihren Anpassungskosten – sehr ungleich verteilt. Die Vereinigten Staaten hatten offensichtlich keine Anpassungskosten, aber auch andere ständige Mitglieder, darunter besonders China und Russland, deren „own attempts to deal with those they too readily described as religious extremist-separatist-terrorists never strayed far beyond strike hard campaigns,“59 mussten sich nicht verbiegen, um der Resolution nachzukommen. In schwächeren westlichen Demokratien waren gerade Souveräni‐ tätskosten höher, weil sie ihre Gesetzgebung zur inneren Sicherheit auf Kosten von Bürgerrechten verschärfen mussten. Die stärksten Konsequenzen erfuhren jedoch kleinere Entwicklungsländer, wo die jeweiligen Regierungen die Rechtsetzung des Rats so auslegten, dass sie als Werkzeug zur Unterdrückung der politischen Opposi‐ tion dienten.60 Wie zu erwarten, verteilten sich die Kosten der IO-Notstandspolitik

55 56 57 58 59 60

Schott 2008. Bosco 2009, 217. Zitiert in Bosco 2009, 218. Alvarez 2003, 875; Tarrow 2015, 229–30. Foot 2007, 500. Schepple 2006.

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also nicht gleichmäßig auf die Adressaten, sondern richteten sich nach den Machtun‐ terschieden. Wie steht es um die langfristigen institutionellen Konsequenzen dieser Annahme von Notstandsgewalten durch den Sicherheitsrat? Die Notstandsverordnungen aus Resolution 1373 sind heute immer noch in Kraft. Zudem nutzte der Rat diesen selbstkreierten Präzedenzfall, um weitere legislative Machtansprüche über seine exe‐ kutive Funktion hinaus geltend zu machen.61 Trotz anfänglichen Widerstands setzte der Rat mit Resolution 1540 (2004) und Resolution 2178 (2014) strukturell ähnliche Maßnahmen in den Gebieten der Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungs‐ waffen und ausländischen Kämpfern für den sog. Islamischen Staat durch. Die stän‐ digen Mitglieder versuchten nicht einmal, für diese Kompetenzerweiterung eine for‐ male rechtliche Autorisierung zu bekommen. Dennoch ist globale Gesetzgebung über die Jahre zu einer akzeptierten Kompetenz im Notstandsarsenal des UNSC ge‐ worden.62 Jüngstes Beispiel dieser legislativen Notstandskompetenz ist Resolution 2396 (2017), welche die zuvor Erlassene „foreign fighters“-Resolution durch weite‐ re gesetzgeberische Maßnahmen zur Stärkung von Grenzüberwachung, Datenaus‐ tausch und Strafverfolgung nochmals konkretisiert. So hat die Ausnahme nach dem 11. September wohl oder übel zu einer dauerhaften Ermächtigung des Rats geführt, im Falle einer Friedensbedrohung global verbindliche und zeitlich unbegrenzte Ver‐ pflichtungen erlassen zu können. Der Zuwachs an Legislativkompetenzen für den UNSC scheint sich größtenteils durch die Verteilung institutioneller Macht und günstige politische Kontextbedin‐ gungen zu erklären. Im Vorfeld der Verabschiedung von Resolution 1540 (2004) – der ersten Dekretierung von Legislativmaßnahmen seit dem 11. September – wurde der Entwurf in einer öffentlichen Lesung mit deutlichem Widerstand quittiert. Eine beträchtliche Anzahl an Mitgliedsstaaten lehnte die neuen Legislativbefugnisse des Rates ab. Vornehmlich Mitglieder des sog. Non-Aligned Movements, aber auch Mit‐ telmächte wie Brasilien, Indien, oder Pakistan, befürworteten eine Rücknahme der Notstandskompetenzen. Diese Staaten argumentierten insbesondere, dass globale Gesetzgebung außerhalb des rechtlichen Kompetenzrahmens des Rates lag und er die Souveränität der Mitgliedsstaaten beschneiden würde. Weiterhin war es die Auf‐ fassung dieser Staaten, dass man dem Rat keine Doppelrolle als Regelsetzer und -Durchsetzer zuschreiben dürfe.63 Letzten Endes fehlten diesen Mitgliedern jedoch die nötige Verhandlungsmacht sowie der institutionelle Einfluss, um die Haltung des Rats nachhaltig zu beeinflussen. Die ständigen Mitglieder des Rates waren die größ‐ ten Nutznießer des neuen Handlungsspielraums – jeder seiner eigenen nationalen Anti-Terrorismus-Agenda folgend – und waren gleichzeitig institutionell gesehen 61 Cohen 2012, 277. 62 Heupel 2014. 63 UNSC 2004.

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die mächtigsten Akteure.64 Da sie über das Vetorecht verfügen, können sie jederzeit Initiativen blockieren, die ihren Handlungsspielraum ganz oder teilweise zurück‐ schrauben würden. Bis auf einige marginale Änderungen in der Semantik blieb die Resolution daher größtenteils unverändert. Die legislative Autorität des Sicherheits‐ rates ist so zu einer dauerhaften Realität geworden, gegen die anscheinend immer weniger Staaten aufbegehren wollen. So gab es zur „Foreign Fighters-Resolution“ von 2014 abgesehen von ein paar kritischen Stimmen aus der Wissenschaft, kaum Widerstand.

4.2. Wie die WHO in der SARS-Krise das System der globalen Gesundheitspolitik revolutionierte Im November 2002 trat eine bislang unbekannte Art von Lungenentzündung zu Ta‐ ge: das Schwere Akute Respiratorische Syndrom (SARS). Die Krankheit breitete sich weltweit auf 32 Regionen aus, infizierte 8096 Menschen und tötete 774 von ih‐ nen.65 Zum Zeitpunkt des Ausbruchs war die globale Gesundheitsarchitektur im Be‐ reich der Überwachung und Kontrolle von Infektionskrankheiten durch ein „Westfä‐ lisches“ System des Intergouvernementalismus gekennzeichnet, in dem politische Herrschaft ausschließlich durch souveräne Staaten ausgeübt wurde.66 Der suprana‐ tionale Zweig der WHO war auf die Rolle des Beobachters und Dienstleisters be‐ schränkt. So steht es bereits in der Verfassung der WHO, und so wurde es auch noch spezifischer in den Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) von 1969 festge‐ schrieben. Die größte Einschränkung, die die WHO bei der Bekämpfung anstecken‐ der Krankheiten hinnehmen musste, lag darin, dass Mitgliedstaaten ein effektives Veto darüber besaßen, ob Krankheiten auf ihrem Staatsgebiet publik gemacht wur‐ den. Das Sekretariat durfte nur solche Informationen an die Öffentlichkeit weiterge‐ ben, die zuvor durch die Mitgliedstaaten abgesegnet worden waren.67 Für eine lange Zeit war die Organisation somit gezwungen, dem Ausbruch von Epidemien tatenlos zuzusehen, da sie über keinerlei autonome Kompetenzen zum Eingreifen verfügte, und die Mitgliedstaaten sich weigerten, solche Eingriffe zu autorisieren. Angeführt von Generaldirektorin (DG) Gro Harlem Brundtland, unternahm das Sekretariat der WHO jedoch in der SARS-Krise einige beispiellose und außergewöhnlich aggressi‐ ve Schritte, um dem Ausbruch entgegenzuwirken. Angesichts einer extrem schnel‐ len Ausbreitung der Viruserkrankung entschied die WHO, die Sache in die eigene Hand zu nehmen und sich gleichsam selbst als primäre Entscheidungsgewalt einzu‐ 64 65 66 67

Foot 2007, 500. WHO 2004. Beigbeder 1998, 15; Fidler 2004 a. Zacher und Keefe 2008, 41.

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setzen. Die WHO unterzog nicht nur jene Mitgliedstaaten einer naming und shaming Kampagne, die ihre Maßnahmen und Empfehlung nicht umsetzten, sondern sie gab auch Reisewarnungen für ganze Regionen heraus, ohne Einverständnis, ja bisweilen sogar gegen den expliziten Willen einzelner Mitgliedsstaaten.68 Die Krisenreaktion der WHO bewirkte somit eine Erweiterung des exekutiven Handlungsspielraums in vertikaler wie horizontaler Dimension. Vertikal gesehen griffen die Notstandsmaßnahmen der Organisation in die Souve‐ ränitätsrechte nationalstaatlicher Regeladressaten ein. Ohne die betreffenden Staaten auch nur zu konsultieren, erteilte die WHO im April 2003 Reisewarnungen für Hong Kong und die Guangdong Provinz Chinas, die dazu rieten, jegliche nicht-essentielle Reise in die Regionen zu unterlassen.69 China widersprach vehement seiner Aufnah‐ me in die Liste der mit Reisewarnungen belegten Länder und versuchte anfangs so‐ gar, die WHO-Kampagne zu unterminieren. Die chinesische Regierung tat dies ins‐ besondere, indem sie der WHO substantielle Informationen über die SARS-Ausbrü‐ che auf ihrem Territorium vorenthielt70 – wozu sie gemäß der noch geltenden IGV von 1969 auch rechtlich befugt war. Doch obwohl die WHO weder über ein politi‐ sches noch rechtliches Mandat verfügte, um in die inneren Angelegenheiten ihrer Mitgliedsstaaten einzugreifen, rügte die WHO China für den Umgang mit der SARS-Epidemie – ein Tätigkeitsfeld, das bislang formal im exklusiven Kompetenz‐ bereich der Nationalstaaten lag.71 Horizontal gesehen führte die WHO eine autono‐ me Erweiterung ihrer Kompetenzen durch, welche nun auch quasi-administrative Verordnungen in der Form von Notstandsempfehlungen umfassten. Auf diese Weise umging das Sekretariat die Weltgesundheitsversammlung (WHA), welche normaler‐ weise für die Zuteilung einer solchen Kompetenz zuständig gewesen wäre. Wie auch schon im vorherigen Fall wurde das Ergreifen der Notstandsmaßnah‐ men mit dem Verweis auf politische Notwendigkeit gerechtfertigt. Schließlich war es die WHO gewesen, die die Alarmglocken läutete, indem sie die SARS-Erkran‐ kung „als weltweite Gesundheitsbedrohung deklarierte“ und Maßnahmen in diesem Zusammenhang als unausweichlich darstellte.72 Die WHO veranlasste somit eine fundamentale strukturelle Autoritätsverlagerung, die einzig und allein mit Bezug auf Erfordernisse der Krise gerechtfertigt wurde.73 In diesem Zusammenhang hat ein Reporter der Washington Post rückblickend zusammengefasst: „Like the natural if unelected leader of a crowded lifeboat, WHO gave orders that no one wanted to be

68 Fidler 2004 b; Hanrieder/Kreuder-Sonnen 2014; Kamradt-Scott 2015, S. 94–99. 69 In den folgenden Wochen wurden die Reisewarnungen auf zehn weitere Gebiete ausgedehnt, darunter Regionen in Kanada, China, Hong Kong und Taiwan. 70 Kamradt-Scott 2015, S. 97–98. 71 Siehe hierzu Cortell und Peterson 2006. 72 WHO 2003. 73 Siehe auch Hanrieder/Kreuder-Sonnen 2014.

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the first to disobey.“74 Der WHO-Fall ist ein klares Beispiel für IO-Notstandspolitik, bei der sich ein supranationales IO-Organ zusätzliche politische Autorität relativ au‐ tonom aneignet. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass irgendein Mitgliedsstaat das Notstandsregime der SARS-Krise mitinitiiert oder dessen Maßnahmen im Vorfeld autorisiert hätte. Das Sekretariat der WHO handelte selbstständig und im institutio‐ nellen Eigeninteresse (dass wiederum im Verfolgen von Gemeinwohlinteressen be‐ stand), indem es die Situation im Einklang mit den übergeordneten Grundsätzen und Zielen der Organisation anging.75 Der Fall unterstreicht aber auch, dass supranationale IO-Notstandspolitik auf das Einverständnis der mächtigsten Mitgliedsstaaten angewiesen ist, wodurch einerseits das Ausmaß der Kompetenzerweiterungen gemäßigt und andererseits die Effekte der Notstandsmaßnahmen ungleich verteilt werden. Während die Maßnahmen der WHO sich zwar gegen die Interessen manch mächtiger Mitgliedsstaaten richteten, so wa‐ ren ihre Reichweite und Intrusivität doch ziemlich begrenzt. Weiterhin generierten die Notstandsmaßnahmen keine Kosten für die mächtigsten Mitgliedsstaaten. Tat‐ sächlich profitierten alle anderen mächtigen Mitgliedsstaaten vom globalen Gemein‐ gut der Gesundheitssicherheit auf Kosten kanadischer und chinesischer Souveräni‐ tätsrechte. Die (Selbst-) Ermächtigung der WHO während der SARS-Krise führte zur per‐ manenten Institutionalisierung eines Notstandsregimes für sog. „Public Health Emergencies of International Concern“ (PHEICs), das seither die rechtliche Grund‐ lage für die Notstandsmaßnahmen der WHO bildet. Im Jahr 2005 verabschiedete die WHA eine überarbeitete Version der IGV, welche der WHO-Generaldirektorin und seinem neuen Notstandskomitee die Befugnis einräumt, eigenständig über den glo‐ balen Gesundheitsnotstand zu entscheiden und Maßnahmen zu bestimmen, die die Mitgliedstaaten national umsetzen sollen.76 In starkem Kontrast zur Prä-SARS Ära, als die WHO kaum Autorität besaß, um internationale Anstrengungen gegen Seu‐ chen und Epidemien zu unternehmen, führte die Notstandspolitik im Jahre 2003 zu einer dauerhaften Autoritätsverlagerung in der globalen Gesundheitspolitik.77 Die WHO nutzte diesen erweiterten Handlungsspielraum, um, beispielsweise 2009, der H1N1 „Schweinegrippe“ Einhalt zu gebieten und 2016, um das Zika Virus zu be‐ kämpfen, während sie bekanntermaßen im Jahre 2014 ihren Erwartungen im Zuge des Ebola-Ausbruchs nicht gerecht wurde. Die rechtliche Normalisierung der von der WHO erstmals während der SARSKrise angenommenen Notstandsgewalten scheint größtenteils durch die Macht des (erfolgreichen) Präzedenzfalls zustande gekommen zu sein. Nach Jahren stockender 74 75 76 77

Washington Post 2003. Davies/Kamradt-Scott/Rushton 2015. Fidler 2005. Davies, Kamradt-Scott, and Rushton 2015.

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Verhandlungen über eine mögliche Überarbeitung des IGV schaffte die WHO mit‐ tels ihres selbstbewusstem Krisenmanagements Fakten. In weiten Teilen der Öffent‐ lichkeit und der internationalen Staatengemeinschaft wurde das resolute Eingreifen der WHO als Erfolgsgeschichte wahrgenommen. Schließlich konnte das Sekretariat auf den Umstand verweisen, zwischenmenschliche Übertragungen des Virus nur we‐ nige Monate nach Ausbruch der Krankheit erfolgreich eingedämmt zu haben.78 Des‐ halb war die WHO nun in einer deutlich besseren argumentativen Position als vor dem Ausbruch: Um die Konturen der IGV neu zu verhandeln, konnte sie auf die SARS-Krise als prototypische Gefahr verweisen, die starke supranationale Mecha‐ nismen zur Bekämpfung benötigt. Weiterhin konnte sie ihre eigene Notstandspolitik in der SARS-Krise als Beispiel anführen, wie eine globale Gesundheitskrise erfolg‐ reich zu bewältigen ist. Faktisch wurden letztlich alle Mitgliedsstaaten (manchmal widerwillig) überzeugt, das WHO-Notstandsregime in den neuen IGV auch rechtlich festzuschreiben.

4.3. Wie in der Eurokrise ein europäisches Bailout-Regime institutionalisiert wurde Während der ersten zwei Jahre der Eurokrise, beginnend im Jahr 2010, riefen die Mitglieder der Eurozone Notkreditanlagen, wie die Europäische Finanzstabilisie‐ rungsfazilität (EFSF) und den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), ins Le‐ ben um Euro-Mitgliedern im Falle drohender Zahlungsunfähigkeit Finanzspritzen zukommen lassen zu können. Am wichtigsten war hierbei die Tatsache, dass jedwe‐ de finanzielle Hilfe an strikte Konditionalitäten geknüpft war, die die Schuldnerstaa‐ ten umzusetzen hatten. Diese Konditionalitäten waren in „Memoranda of Understan‐ ding” (MoUs) zwischen den Schuldnerstaaten und der sog. Troika (bestehend aus der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem Inter‐ nationalen Währungsfond (IWF)) „verhandelt“ worden. Darüber hinaus war die Troika auch für die Leitung und Überwachung der Umsetzung verantwortlich. An‐ gesichts ihrer eklatanten finanziellen Notlage konnten es sich die Regierungen der Kredit-nehmenden Länder nicht leisten, sich den fiskalpolitischen Austeritätsforde‐ rungen der Troika zu widersetzen. Daher erhielten Staaten wie Griechenland, Portu‐ gal und Irland detaillierte Listen an politischen Maßnahmen, die in salienten und mit starken Verteilungseffekten verbundenen Politikfeldern wie dem Gesundheitswesen, der Bildung oder dem Arbeitsrecht umzusetzen wären. In ihrer Funktion als Notstandsgouverneure erweiterten die Institutionen der Troi‐ ka ihren Ermessensspielraum horizontal wie vertikal. In der horizontalen Dimension eignete sich vor allem die EZB neue Funktionen an, die das strikt gefasste Mandat

78 Kamradt-Scott 2015, S. 100.

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der Preisstabilität überschritten.79 Viel wichtiger war jedoch, dass die Troika, als komposite Institution betrachtet, erheblich ihren Handlungsspielraum in der vertika‐ len Dimensionen erweiterte und dabei sowohl Individualrechte als auch Souveräni‐ tätsrechte beschnitt. Zunächst ersetzte die Troika zumindest teilweise die Legislative ihrer Schuldnerstaaten. Am auffälligsten ist hierbei die Entmachtung des griechi‐ schen Parlaments im Jahr 2015, als sich die Troika im Rahmen des dritten Hilfspa‐ kets das Recht vorbehielt, jeglichen Gesetzesvorschlag mit wirtschaftlichen oder fi‐ nanziellen Auswirkungen per Veto zu stoppen.80 Doch auch zuvor hatte die Troika schon die komplette Überarbeitung des Arbeits- und Beschäftigungsrechts sowie drastische Einsparungen bei der Bereitstellung öffentlicher Güter von den Schuld‐ nerstaaten gefordert. Die Maßnahmen waren nicht verhandelbar, und somit wurden diese Staaten ihrer fiskalpolitischen Souveränität und haushaltspolitischen Autono‐ mie beraubt.81 Zweitens beschnitten die Notstandsmaßnahmen individuelle wie kol‐ lektive wirtschaftliche und soziale Grundrechte.82 Durch den Erlass drastischer Kür‐ zungen im Wohlfahrtstaat und die Reduktion öffentlicher Gesundheitsversorgung wurden beispielsweise das Recht auf soziale Absicherung und das Recht auf Ge‐ sundheit unterminiert.83 Außerdem unterminierten die MoUs Arbeits- und Gewerk‐ schaftsrechte, beispielweise indem sie Auflagen zur Kürzung des Mindestlohns und der Besoldung im öffentlichen Dienst erließen, den Kündigungsschutz lockerten, Verhandlungsrechte der Gewerkschaften schwächten und Tarifverträge suspendier‐ ten.84 Sowohl die Staats- und Regierungschefs als auch Vertreter der supranationalen Institutionen rechtfertigten dieses Bailout-Regime als „außergewöhnliche Maßnah‐ men in außergewöhnlichen Zeiten.“85 Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel behauptete sogar, dass die griechische Rettungsaktion mit all ihren Konsequenzen auf einer „ultima ratio, auf einer Notsituation“ basierte, die „durch die Europäische Zentralbank, die Europäische Kommission und den Internationalen Währungsfond festgestellt“ worden war.86 Die Gründung der Troika sowie ihr erweiterter Ermes‐ sensspielraum entsprechen somit der Logik der Notstandspolitik. Wo ist in diesem Fall die politische Verantwortung zu lokalisieren? Wie zuvor beschrieben, liegen die Notstandsgewalten hier bei einem kollektiven Akteur bestehend aus supranationalen IO-Organen: der Troika. Es handelt sich hier jedoch nicht um eine Kompetenzan‐ maßung durch supranationale Selbstbemächtigung. Die Etablierung und Ermächti‐

79 80 81 82 83 84 85 86

Beukers 2013. Europäische Kommission 2015, S. 4. Dawson/de Witte 2013, S. 825. Fischer-Lescano 2014; Salomon 2015. Fischer-Lescano 2014, S. 48. Kreuder-Sonnen 2016, S. 1^356; siehe auch Fischer-Lescano 2014, S. 42–88; Salomon 2015. Siehe z.B. Barroso 2011. Merkel 2010.

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gung der Troika scheint eher das Resultat eines Aktes „informeller Delegation“ durch Mitgliedsstaaten des EFSF zu sein. Angeführt von Deutschland wurde die Troika mandatiert, ihre harschen Austeritätsmaßnahmen in den Schuldnerstaaten durchzusetzen. Deshalb handelt es sich um einen Fall von IO-Notstandspolitik, bei dem supranationale Institutionen zwar an Autorität gewinnen, diese aber den mäch‐ tigsten Staaten zu verdanken haben und sie in ihrem Sinne ausüben. Tatsächlich ist die Troika nicht nur ein untergeordneter Agent seines (kollektiven) Prinzipals. Ihre Institutionen haben eigene politische Ideen und genießen ein gewisses Maß an Er‐ messensspielraum beim Design der konkreten Konditionalitäten. Der politische An‐ stoß für das Austeritätsregime und die dafür notwendige Suspendierung rechtlicher Beschränkungen kamen jedoch von den (zahlenden) Mitgliedern des EFSF. Mögli‐ cherweise versuchten sie, die technokratische supranationale Autorität der Kommis‐ sion, der EZB und des IWF auszunutzen, um so ihre harten politischen Vorstell‐ ungen für die Schuldnerländer durchzusetzen.87 Auch wenn die Durchführung also von der Troika vorgenommen wurde, so waren die Notstandsgewalten doch von mächtigen Mitgliedstaaten veranlasst. Dies beinhaltete auch eine extrem disparate Verteilung von Anpassungskosten. Während die Kreditgeber Steuergelder aufwen‐ den mussten, um die Rettungspakete zu finanzieren, mussten die Schuldnerstaaten die großen institutionellen Reformen sowie die damit einhergehenden sozialen, wirt‐ schaftlichen und demokratischen Kosten schultern.88 Zwar stellt der Fall der Eurokrise noch so etwas wie eine sich wandelnde Ziel‐ scheibe dar, weil die Entwicklungen nicht vollends abgeschlossen sind. Es zeigt sich jedoch bereits, dass die meisten Zeichen auf institutionelle Normalisierung der Not‐ standsgewalten stehen.89 Teilweise wurden verfassungsrechtliche Grundlagen ge‐ schaffen, indem man die extra-legalen Schritte des Bailout-Regimes mittels Ver‐ tragsänderung in den EU-Vertrag überführte (Artikel 136(3) AEUV) und somit ex post den ESM, sowie das Prinzip der „strikten Konditionalität“ verstetigte. In ande‐ ren Teilen blieben die Notstandsverordnungen der Troika – mehr oder weniger um‐ stritten – schlicht in Kraft. Beispielsweise behält die Troika immer noch ein Veto für Gesetzesinitiativen im griechischen Parlament. Zuletzt beinhalten Vorschläge für die Gründung eines permanenten Europäischen Währungsfonds weitreichende Kompe‐ tenzen, zumindest für die Kommission und die EZB, bei der Überwachung und Um‐ setzung von Konditionalitäten.90 Den vorläufigen Fortbestand des Bailout-Regimes kann man auf eine Kombinati‐ on von institutionellen Machtverhältnissen und judikativer Zurückhaltung zurück‐ führen. Die Notkreditanlagen sowie die Einführung und Arbeitsweise der Troika rie‐ 87 88 89 90

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Henning 2017. Schimmelfennig 2015. White 2015 a. Financial Times 2017.

fen Kritik und Widerstand von einem breiten Spektrum der politischen Opposition hervor. Um es einfach auszudrücken: Die Rettungspakete wurden hauptsächlich von rechten Kräften in den Geberländern abgelehnt, während die Troika-Konditionalitä‐ ten vor allem aus dem linken Lager in den Schuldnerländern abgelehnt wurden.91 Beide Seiten sprachen sich für eine Rücknahme unterschiedlicher Aspekte des Not‐ standsregimes aus. Dem jedoch stand eine Phalanx aus EU-Institutionen und mächti‐ gen Mitgliedsstaaten gegenüber, die den neugewonnen Handlungsspielraum, wel‐ chen sie durch die Notstandsgewalten der Troika errungen hatten, verteidigten.92 In Teilen wurde dieser Spielraum sogar noch vergrößert und durch Vertragsänderungen institutionalisiert. Der schwierigsten Herausforderung sah sich das Notstandsregime jedoch außerhalb der Sphäre politischer Verhandlungen ausgesetzt. Im Pringle Fall aus dem Jahr 2012 erlangte der gleichnamige irische Parlamentarier ein Vorabent‐ scheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), dem der oberste irische Gerichtshof ein Verfahren überstellte, in dem die Legalität des ESM infrage gestellt wurde. Unter dem anhaltenden Eindruck der sich zyklisch verschärfenden Eurokrise und unter großem politischen wie öffentlichen Druck fand der EuGH je‐ doch schnellstens Gründe, um die Notstandsmaßnahmen als rechtlich unbedenklich einzustufen.93 Er billigte die Gründung des ESM unter Bezugnahme auf den allum‐ fassenden Telos der „finanziellen Stabilität des Euroraums als Ganzem“ und machte die weitere Einforderung strikter Konditionalitäten durch die Troika gar zur Bedin‐ gung für die Legalität seiner folgenden Operationen. Es kann daher argumentiert werden, dass die Fügsamkeit des EuGH den Effekt hatte, „sanctifying constitutional‐ ly the innovations which legal and institutional experimentation in the management of the Eurozone crisis had brought about.“94

5. Fazit: Demokratisch geht anders Dieser Aufsatz handelte von einer doppelten Entgrenzung des Ausnahmezustands. Im Kontext von Globalisierung und global governance, so habe ich argumentiert, löst sich das Konzept zum einen von nationalstaatlichen Grenzen. Mit dem Anwach‐ sen von Herrschaftsbefugnissen in IOs ergibt sich die Möglichkeit von Notstandspo‐ litik jenseits des Nationalstaats, durchgeführt von intergouvernementalen oder supra‐ nationalen Organen internationaler Organisationen. Zum anderen habe ich gezeigt, dass das berühmte Problem der zeitlichen Entgrenzung von Notstandsgewalten im Falle von internationalen Organisationen besonders relevant ist. Aufgrund der Ei‐ 91 92 93 94

Kousis 2014. Niemann und Ioannou 2015, S. 209–212; Schimmelfennig 2015. Everson 2015, S. 480. Tuori/Tuori 2014, S. 149.

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genheiten von IO-Notstandspolitik – schwache Einhegung durch internationales Recht, Unterstützung durch mächtige Staaten, fehlende Gewaltenteilung – besteht die Gefahr der Normalisierung des Ausnahmezustands auf der Ebene von IOs in überproportionalem Umfang. In den drei besprochenen Fällen von IO-Notstandspo‐ litik durch den UN Sicherheitsrat, die WHO und die Troika sind überall klare Nor‐ malisierungstendenzen feststellbar. Der „globale“ Ausnahmezustand scheint somit vielfach auch gleichzeitig der „permanente“ Ausnahmezustand zu sein. Diese Beobachtung ist auch und gerade für die Forschung zur konstitutionellen Entwicklung internationaler Institutionen relevant. Einerseits scheint IO-Notstands‐ politik so nämlich einen bisher übersehenen Mechanismus der abrupten, aber infor‐ mellen Autoritätsverschiebung darzustellen. In der politikwissenschaftlichen Litera‐ tur ist bislang entweder von abruptem Autoritätsübertragungen die Rede, der wäh‐ rend „critical junctures“ durch formale Vertragsänderungen herbeigeführt werden,95 oder von inkrementellem Autoritätszuwächsen, die sich IOs auf informellen Wegen aneignen – dem sog. „mission creep“.96 Neu sind abrupte und doch dauerhafte Er‐ mächtigungen von IOs, die nicht dem formalen Vertragsänderungsverfahren folgen, sondern der Logik der Notstandspolitik. Andererseits verbindet sich mit der Beobachtung freilich die Frage nach der nor‐ mativen Legitimität von IO-Notstandspolitik und ihren verfassungspolitischen Fol‐ gen. Denn während Notstandsgewalten als zeitlich begrenzte Ausnahmeerscheinung prinzipiell nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip bewertet werden können, unter‐ liegt die dauerhafte Aneignung vergrößerter Herrschaftsgewalt demokratischen Le‐ gitimitätskriterien.97 Zudem verschiebt sich der Fokus beim Übergang von Not- auf Dauerzustand von der Output-Dimension auf die Input-Dimension demokratischer Legitimation. Im Kontext von Verfassungspolitik, einer Aufgabe der konstituieren‐ den Gewalt, sind die partizipativen Anforderungen noch einmal größer – sollte doch grundsätzlich verhindert werden, dass bereits konstituierte Gewalten (insbesondere nationale Exekutiven) sich zur konstituierenden aufschwingen.98 Die Normalisie‐ rung von Notstandsgewalten internationaler Organisationen muss daher zwar nicht per se illegitim sein. Vorstellbar ist eine Situation, in der situativ gerechtfertigte Not‐ standskompetenzen im Nachhinein zur Disposition gestellt werden und nach öffent‐ lichen Debatten und transparenten Prozessen durch eine demokratische Versamm‐ lung institutionalisiert werden. Empirisch beobachtbar ist diese Situation bislang je‐ doch nicht. Ganz im Gegenteil: Der Normalisierungsprozess von IO-Notstandsge‐ walten – ähnlich wie der Prozess ihrer Genese – ist zumeist höchst intransparent, ge‐ trieben von den Exekutiven der mächtigsten Mitgliedstaaten und äußerst rechtferti‐ 95 96 97 98

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Hawkins et al. 2006; Johnson 2014. Barnett/Finnemore 2004; Weaver 2008. Kreuder-Sonnen 2019, S. 197. Patberg 2018.

gungsarm. Durch Notstandspolitik ermächtigte IOs verstärken somit ihr Demokra‐ tieproblem exponentiell. Es wird sich zeigen, ob dies langfristig zu einer Erosion von öffentlichem Vertrauen in diese Institutionen führt. Die Legitimitätskrise der EU zumindest deutet eine solche Entwicklung an.99

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Matthias Lemke Am Rande der Republik – Revisited Ausnahmezustände und die Behauptung existenzieller Äußerlichkeit in der V. Französischen Republik

Vorbemerkung Die Ränder der Republik haben sich verschoben. Nachdem dieser Beitrag im Jahr 2013 erstmalig erschienen ist, stand Frankreich der längste Ausnahmezustand in der Geschichte der V. Republik noch bevor. Jene 719 Tage, vom 13.11.2015 bis zum 31.10.20171, machen eine Neubewertung des état d’urgence notwendig. Insofern ist das Erscheinen der zweiten Auflage dieses Bandes eine außerordentlich begrüßens‐ werte – und gegenwartsdiagnostisch komme ich nicht umhin festzustellen: politisch notwendige – Gelegenheit, die Praxis der kriseninduzierten Expansion der Exekutiv‐ kompetenzen im Lichte dessen, was ich an anderer Stelle2 als Normalisierung des Ausnahmezustandes bezeichnet habe, erneut zu untersuchen.3 Im vorliegenden Beitrag konzentriere ich mich auf zwei Dimensionen des Aus‐ nahmezustands in Frankreich: einerseits die Darstellung seiner verfassungsmäßigen Grundlagen, andererseits die Analyse der diskursiven Praktiken, die in der politi‐ schen Öffentlichkeit bei seiner Anwendung zum Tragen gekommen sind. Im Ver‐ gleich zur ersten Version dieses Beitrages habe ich – neben kleineren Änderungen und Korrekturen – zwei bedeutendere Ergänzungen vorgenommen. Ich habe die De‐ finition von Ausnahmezustand präzisiert und eine Analyse der Plausibilisierungs‐ 1 Vgl. Lemke 2017, S. 246–256; Mbongo 2017, Jobard 2018. 2 Vgl. Lemke 2018 b. Die Frage, wie eine kritische, internationale vergleichende Analyse der Plausibilisierungspraktiken und Normalisierungstendenzen des Ausnahmezustandes inhaltlich und methodologisch aussehen kann, ist nach wie vor nicht hinreichend beantwortet. Dement‐ sprechend fehlt es an einschlägigen, interdisziplinär angelegten Studien. 3 Frankreich ist hierfür ein idealer Forschungsgegenstand. Denn es hat unter den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union nicht bloß eine punktuelle – wie das etwa auch in Spanien oder in Großbritannien der Fall war –, sondern eine langfristige, wiederholte Anwendung des Ausnah‐ mezustands erlebt. Trotz einer knapp zweijährigen Phase des Ausnahmezustandes ist die Repu‐ blik – wie ich erläutern werde – in ihrem demokratisch-rechtsstaatlichen Bestand letztlich weit‐ gehend intakt geblieben. Anders stellt sich der Fall in der Türkei dar, wo nach einem gescheiter‐ ten Militärputsch vom 15. auf den 16.7.2016 eine tiefgreifende Verfassungsänderung durchge‐ setzt wurde, die Präsident Erdogan einen signifikanten Zuwachs an Kompetenzen eingebracht hat. Warum es in der Türkei im Ausnahmezustand zu einer autokratischen Wende gekommen ist, in Frankreich aber nicht, ist eine überaus relevante Frage, die in der gegenwärtigen Ausnah‐ mezustandsforschung noch nicht hinreichend adressiert worden ist.

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praktiken jener 719 Tage eingefügt, die in Frankreich zuletzt in eine schleichende Normalisierung ausnahmezustandlicher Praktiken gemündet sind.

Die V. Französische Republik und der Ausnahmezustand „Wir wissen um den Wert von Verfassungen! In den letzten einhundertfünfzig Jahren haben wir uns siebzehn davon gegeben. Und die Natur der Dinge ist stärker als von Politikern erlassene Verfassungstexte.“ Charles de Gaulle4

Die Natur der Dinge, die Charles de Gaulle hier als eine Art Kontingenzprinzip der politischen Ordnung sowie der Planbarkeit kollektiv verbindlicher Entscheidungs‐ findung entgegenstellt, ist, so lautet wohl die Schlussfolgerung aus dem Gesagten, stärker als es das Gesetz jemals sein wird. Und dementsprechend scheint sie, histo‐ risch betrachtet und wenig verwunderlich, der französischen Politik immer wieder in die Quere gekommen zu sein. Hierfür mag die Vielfalt an Begriffen und Bestimmun‐ gen, über die das politische System Frankreichs zur Regulierung von Situationen jenseits der normalen Ordnung verfügt, als Indikator dienen: Der État d’urgence ist nur eines von mehreren funktional grundsätzlich äquivalenten, in den konkreten Ausführungsbestimmungen mehr oder weniger stark divergenten Instrumenten zur Regelung der Erweiterung der Exekutivkompetenzen im Ausnahmezustand.5 Mit diesem auf de Gaulle gestützten, halb historischen, halb anekdotischen Be‐ fund liegt noch kein Indiz für eine grundsätzliche Bejahung der These von Cindy Skach vor, wonach semipräsidentielle Regierungssysteme vergleichsweise wenig Skrupel bei der Auslotung der Grenzen ihrer verfassungsmäßigen Normen kennen: „My argument so far has been that the semi-presidential constitution, under certain party conditions, may not be self-enforcing, but rather, may provide incentives for presidents (and other actors) to transgress democratic boundaries.“6

4 De Gaulle 1960, S. 246; alle Übersetzungen, soweit nicht anders angegeben, vom Verfasser; vgl. dazu auch Léon Noël: „Das Verfassungsgericht legt diese Waffe in Ihre Hände; es wünscht, dass Sie von ihr nur dann Gebrauch machen, wenn Sie nicht anders können.“ Léon Noël gegenüber Charles de Gaulle anlässlich der Erkennung auf Vorliegen der Voraussetzungen für die Anwen‐ dung von Artikel 16 durch den Conseil constitutionnel am 23.4.1961, zit. nach Hamon 1994, S. 12. 5 Vgl. grundsätzlich Le Sénat 2006, S. 5: „Verkündet durch ein im Ministerrat beschlossenes De‐ kret gibt er (i.e. der Ausnahmezustand, ML) den zivilen Behörden für das Gebiet, für das er ver‐ hängt wurde, außerordentliche polizeiliche Machtbefugnisse bezüglich der Regelung der Freizü‐ gigkeit und des Aufenthaltes von Personen, die Schließung von für die Öffentlichkeit zugängli‐ chen Orten und die Beschlagnahmung von Waffen. Das den Ausnahmezustand erklärende De‐ kret kann eine Ausweitung der polizeilichen Machtbefugnisse im Bereich der Durchsuchung und Kontrolle von Informationsmedien vorsehen. Über den Zeitraum von zwölf Tagen hinaus kann die Verlängerung des Ausnahmezustandes nur durch Gesetz erfolgen.“ 6 Skach 2005, S. 356.

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Mit Blick auf die Einschätzung Raymond Arons, der hinsichtlich der Bestimmungen von Artikel 16 der Verfassung der V. Republik noch deutlich alarmistischer von einem „legal coup d’état“7 geschrieben hatte, soll im Folgenden zweigleisig argu‐ mentiert werden: Die politische wie verfassungsrechtliche Ordnung Frankreichs hat die Exekutive tatsächlich mit einer – im Vergleich zu anderen etablierten repräsenta‐ tiven Demokratien – bedeutenden Ausnahmekompetenz für die politische Praxis ver‐ sehen. Diese Kompetenz kommt indes, so die historische Einschränkung, nicht in kontingenten Krisensituationen zum Einsatz, sondern tritt offenbar in ähnlichen, zeitunabhängigen Anwendungsszenarien gehäuft auf. Diese Anwendungsszenarien standen in der Geschichte der V. Republik – bis zu eben jenen Anschlägen des 13.11.2015 – ausnahmslos im Zusammenhang mit Dekolonisierungsprozessen, sei es in den (ehemaligen) Kolonien oder im französischen Mutterland (la France mé‐ tropolitaine) selbst. Erstmals mit den Anschlägen auf das Stade de France, mehrere Cafés im 10. und 11. Arrondissement sowie das Bataclan tritt das Szenario eines von Außen induzierten Terrorismus auf. Mit dem Szenario der Dekolonisierung teilt der Terrorismus das Merkmal, dass hinsichtlich der Verursacher im öffentlichen Diskurs auf eine der französischen Mehrheitsgesellschaft äußere Gruppe verwiesen werden kann – und auch wurde. Dekolonisierung und Terrorismus teilen demnach eine exis‐ tenzielle Äußerlichkeit als gemeinsames Motiv der Plausibilisierung des Ausnahme‐ zustandes. Ließen sich beide Argumente hinreichend belegen – das verfassungsrechtliche einer sehr deutlich ausgeprägten Ausnahmekompetenz des französischen Semipräsi‐ dentialismus und das politisch-kulturelle einer thematisch-situativen Verengung von Anwendungsszenarien auf Situationen existenzieller Äußerlichkeit – dann bliebe schließlich zu diskutieren, ob das von Aron artikulierte Unbehagen an dieser prag‐ matischen Krisenintervention berechtigt ist, eben weil die Republik als System der repräsentativ-demokratisch verfassten Rechtsgeltung hier an den Rand des NichtRechts beziehungsweise der exklusiven Rechtsgeltung gelangt. Oder aber ist der von de Gaulle mit Blick auf Machiavellis necessità proklamierte Pragmatismus für das Überleben der Republik, ist mithin also der Rückgriff des Rechts auf das NichtRecht doch unerlässlich, um möglichst langfristig die Stabilität der Republik für alle Staatsbürger zu garantieren? Machiavelli hatte hierzu in den Discorsi (1531) festge‐ halten: „Meine Meinung ist, daß Republiken, die in äußerster Gefahr nicht zur diktatorischen oder einer ähnlichen Gewalt Zuflucht nehmen, bei schweren Erschütterungen zugrunde gehen werden.“8

7 Aron 1960, S. 23. 8 Machiavelli 1990, S. 185.

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Das aus dieser Position ersichtliche Dilemma einer als Rechtsstaat begriffenen mo‐ dernen Demokratie enthält eine nachgerade klassische Aktualität: Wenn die Demo‐ kratie und mit ihr der Rechtsstaat als das zukunftsweisende Modell kollektiv ver‐ bindlicher Entscheidungsfindung gelten soll, wo genau verlaufen dann die Grenzen des in der Demokratie zum Selbsterhalt noch Zulässigen? Oder anders formuliert: Wie weit genau darf eine demokratisch gewählte, an das Recht gebundene Regie‐ rung gehen, um das Herrschaftsmodell zu verteidigen, das gleichzeitig ihren We‐ senskern ausmacht? Für eine Einschätzung zu dieser Problematik bedarf es eines Überblicks über die Rechtslage zum Ausnahmezustand in der V. Republik sowie einer historisch-politischen, diskursiven Rekonstruktion der Situationen, in denen es tatsächlich zur Anwendung des Ausnahmezustandes gekommen ist.

Der Ausnahmezustand in der Verfassung der V. Französischen Republik – eine Rekonstruktion Ausgangspunkt jeder sozialwissenschaftlichen Analyse ist die Klärung der zentralen Begriffe, mit denen sie operiert: Was also heißt Ausnamezustand?9 Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, denn Ausnahmezustand ist ein außerordentlich viel‐ schichtiger Begriff. In den vergangenen Jahren ist er als Instrument der Kriseninter‐ vention so häufig angewendet worden – zum Beispiel in Frankreich, in der Türkei, auf den Philippinen, auf den Marshall-Inseln, sowie in Spanien und Großbritannien – dass man ihn für die neue Normalität der Regierungspraxis in westlichen Demo‐ kratien halten könnte. Sowohl nach einer Naturkatastrophe (nicht menschengemach‐ tes Ereignis) sowie nach einem Terroranschlag (menschengemachtes Ereignis) spre‐ chen wir von einem Ausnahmezustand. Laut Duden wird der Begriff zudem verwen‐ det, um ausgelassene Feierlichkeiten, außergewöhnliche Sportereignisse oder auch die emotionale Disposition in Liebesdingen zu umschreiben. Er dient als Synonym für Chaos, Unordnung, Katastrophe, Aufstand, Bürgerkrieg – kurzum für alles, das nicht als normal, erwartbar oder langweilig, sondern das als unerwartet und außerge‐ wöhnlich erscheint. In politikwissenschaftlicher Perspektive ist demnach ohne Zweifel eine spezifi‐ schere Begriffsbestimmung erforderlich. Hier beschreibt der Begriff einen in der Verfassung verankerten Mechanismus zur Krisenintervention, oder aber bezieht sich auf Situationen, Handlungen oder Umstände, die mit diesem Mechanismus in Zu‐ sammenhang stehen. Historisch betrachtet geht der Begriff des Ausnahmezustands auf die Erfahrung des belagert Werdens sowie auf den Versuch zurück, die Belagerung zu durchbre‐

9 Vgl. zu den einleitenden Ausführungen dieses Kapitels Lemke 2018 a, S- 373–375.

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chen. Diese geschichtliche Referenz spiegelt sich noch heute nahezu wörtlich in den Rechtsbegriffen wider, die als Varianten von Ausnahmezuständen Verwendung fin‐ den, etwa im deutschen Verteidigungsfall oder im französischen état de siège oder dem état de siège fictif, welche in Artikel 36 der Verfassung der Fünften Französi‐ schen Republik festgelegt sind. In rechtlicher Hinsicht erstreckt sich der Begriff des Ausnahmezustandes auf eine Vielzahl von Krisenreaktionsmechanismen im Rahmen ausdifferenzierter Staatlich‐ keit. Diesen Mechanismen ist gemein, dass sie darauf abzielen, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Regierung zu erhöhen, wenn die Umstände dies erfor‐ dern. Das erklärte Ziel der Anwendung dieser Mechanismen ist die schnellstmögli‐ che Rückkehr zum status quo ante, also zur Situation vor Ausbruch der Krise – und zwar in rechtlicher, wie auch in gesellschaftlicher, substanzieller Hinsicht. Von dieser rechtlichen Perspektive ausgehend bedarf eine allgemeine Definition des Ausnahmezustandes nicht bloß einer Auflistung seiner gesetzlichen Grundlagen. Vielmehr bedarf es einer Berücksichtigung der Prozeduren und Institutionen der Ausnahme, wie sie in der Verfassungsordnung eines Staates vorgesehen sind. Be‐ rücksichtigt man diese, so kann der Ausnahmezustand als ein (1) extra-legaler, oder aber als ein (2) legal integrierter Zustand gefasst werden. Im zweiten Fall können zudem (2.1) exekutivorientierte und (2.2) nicht exekutivorientierte Arrangements unterschieden werden10: (1) Ein Ausnahmezustand kann als extra-legal bezeichnet werden, wenn seine Ausrufung die verfassungsmäßige Ordnung für die Dauer des Ausnahmezustandes aufhebt. Das paradigmatische historische Beispiel für einen extra-legalen Ausnah‐ mezustand ist die Ernennung eines Diktators, wie sie in der klassischen Phase der Römischen Republik erfolgte. Den verfügbaren historischen Quellen römischer Ge‐ schichtsschreibung zufolge11 konnte der Senat einen Diktator ernennen, wenn es die Umstände erforderten, also etwa, um Krieg zu führen oder um Spiele zu organisie‐ ren. War der Diktator ernannt, so konnte er seinen Auftrag erfüllen, ohne dabei an die üblichen rechtlichen Regelungen gebunden zu sein, wie etwa das Kollegialitäts‐ prinzip. Somit suspendierte die Ernennung des Diktators durch den Senat die Gel‐ tung der Verfassungsordnung – idealiter mit einer Beschränkung auf einen Zeitraum von sechs Monaten.12 In der italienischen Renaissance hat Niccolò Machiavelli die Idee, wonach insbesondere Republiken angesichts fundamentaler Krisensituationen und außergewöhnlicher Umstände eines gestrafften Entscheidungsfindungsprozesses bedürfen, wieder aufgegriffen. Er bestand darauf, dass die Institution der Diktatur

10 Vgl. zur Differenzierung verschiedener Varianten des Ausnahmezustandes auch Scheppele 2008. 11 Vgl. Lemke 2017, S. 53–59. 12 Vgl. Broughton 1984; Cicero 2004, III, S. 3; 9.

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die letzte Zuflucht für Republiken in Krisensituationen sei – ansonsten wären sie an‐ gesichts Existenz gefährdender Herausforderungen verloren.13 (2) Ein Ausnahmezustand ist legal integriert, wenn im Falle seiner Ausrufung die verfassungsmäßige Ordnung nicht gänzlich, sondern lediglich in Teilen suspendiert wird. Die Verfassung selbst oder aber nachgeordnete Gesetze halten Regelungen für die Kompetenzzuschreibung an die Exekutive, für die Ausgestaltung der Gewalten‐ teilung sowie für die Dauer des Ausnahmezustandes ebenso bereit, wie Anweisun‐ gen, welche Grundrechte wie eingeschränkt werden dürfen. Die weitere Ausdiffe‐ renzierung dieses Typus des Ausnahmezustandes resultiert aus der Logik der Einbe‐ ziehung verschiedener Verfassungsorgane zum Zeitpunkt seiner Ausrufung. Kann die Exekutive den Ausnahmezustand eigenständig erklären (2.1) oder ist sie dabei auf die Kooperation mit anderen Verfassungsorganen, wie etwa dem Parlament, an‐ gewiesen (2.2)? (2.1) Beispiele für eine exekutivorientierte, legal integrierte Variante sind der Ausnahmezustand nach Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung (WRV), oder der état d’urgence, basierend auf dem Gesetz 358/55, wie er aktuell in Frankreich ange‐ wendet wird beziehungsweise angewendet werden kann. Beide gründen auf einer klaren Kompetenzzuschreibung an die Exekutive, sowohl mit Blick auf die Initia‐ tiv-, wie auch die Handlungskompetenz. Ideengeschichtlich betrachtet ist das typi‐ sche Beispiel für diese exekutivorientierte, legal integrierte Variante des Ausnahme‐ zustandes die von Carl Schmitt so bezeichnete ›Kommissarische Diktatur‹. (2.2) Eine weitaus weniger häufig auftretende Form des legal integrierten Aus‐ nahmezustandes stellen jene institutionellen Arrangements dar, die der Legislative weitreichende Kompetenzen zuschreiben. In diesen Fällen kann der Ausnahmezu‐ stand nur ausgerufen werden, wenn das Parlament oder aber zumindest Teile des Parlaments zustimmen. Dies ist etwa beim deutschen Notstand (Art. 35 und 91 GG) der Fall, der konzeptionell auf den Erfahrungen der Anwendung von Artikel 48 WRV basiert und dementsprechend die Entstehung einer übertriebenen Machtkon‐ zentration in den Händen der Exekutive zu vermeiden sucht.14 In diesem Sinne kann diese Variante als nicht-exekutivorien-tierter, legal integrierter Ausnahmezustand be‐ zeichnet werden. Ungeachtet der Einbindung des Parlaments in grundsätzliche Ent‐ scheidungsprozesse gilt natürlich auch hier die Herstellung einer möglichst effektiv handlungsfähigen Exekutive als höchstes Ziel. Zurück zu Frankreich. Die politisch-historische Rekonstruktion von Regelung und Anwendung des Ausnahmezustandes in der V. Republik wiederum erfordert eine Betrachtung auf drei Ebenen. Da die V. Republik und ihre Verfassungsordnung als Nationalstaat nicht voraussetzungslos und zudem gegenwärtig in den supranatio‐ nalen Staatenverbund der Europäischen Union eingebunden sind, gilt es, neben der 13 Vgl. Lemke/Zbiranski 2018. 14 Vgl. Lemke 2017, S. 127–135.

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historischen Dimension des Ausnahmezustandes in Frankreich auch dessen national‐ staatliche Normierung sowie die darüber hinaus gehenden supranationalen Rück‐ kopplungen für den Umgang mit Exekutivexpansionen in Krisensituationen, die aus der Einbindung Frankreichs in einen europäischen Vertragskontext resultieren, in den Blick zu nehmen. Beginnt man bei den europäischen Verflechtungen nationaler Gesetzgebung, dann lassen sich der Ausnahmezustand und seine rechtliche Verregelung in Frankreich zu‐ nächst aus der Zusammenschau einer nationalstaatlichen und supranationalen – europäischen – Normsetzungspraxis im Umgang mit Krisensituationen begreifen. So kann die eingangs behauptete erhöhte Bereitschaft zu einer Politik der Normsuspen‐ dierung und Exekutivexpansion im französischen Semipräsidentialismus anhand des Umgangs Frankreichs mit der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschen‐ rechte und Grundfreiheiten, die als ursprüngliche Europaratsinitiative mittlerweile Bestandteil des Unionsrechts ist, exemplarisch illustriert werden. Ziel der auf die Festschreibung von Menschenrechten ausgerichteten Vereinbarung war unter ande‐ rem die weitest mögliche Unterbindung von Normsuspendierungen sowie die Einhe‐ gung der damit einhergehenden Erweiterung von Exekutivkompetenzen, und zwar insbesondere dann, wenn diese geeignet scheinen, habeas-corpus-Rechte zu erodie‐ ren. Die Konvention, die Frankreich am 3.5.1974 ratifiziert hat, erlegt den Regierun‐ gen der Unterzeichnerstaaten auf, grundsätzlich solche Praktiken zu unterlassen, die von ihrer Anlage her geeignet sein könnten, die jederzeitige Geltung der Schutzan‐ sprüche der Bürger vor Übergriffen durch den Staat zu unterminieren. Allerdings sieht Artikel 15 der Konvention (unter dem Titel „Abweichen im Notstandsfall“) zwei Einschränkungen vor, nämlich den „Kriegsfall“ und den nicht näher spezifi‐ zierten „anderen öffentlichen Notstand“: „Wird das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand be‐ droht, so kann jede Hohe Vertragspartei Maßnahmen treffen, die von den in dieser Kon‐ vention vorgesehenen Verpflichtungen abweichen, jedoch nur, soweit es die Lage unbe‐ dingt erfordert und wenn die Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den sonstigen völker‐ rechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen.“15

Zusätzlich zu diesen Abweichungsbestimmungen im Kriegs- oder Krisenfall, wie sie die Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vorsieht, hat Frankreich nach Ratifikation der Konvention und mit Blick auf die ei‐ genen gesetzlichen Bestimmungen für den État d’urgence eine Verzahnung der bei‐ den Rechtsquellen vorgenommen: 15 Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Artikel 15, Absatz 1; zu den internationalen Bemühungen der Einhegung von Exekutivrechten und dem Schutz von Bürger- und Menschenrechten im Zusammenhang mit Ausnahmesituationen, etwa in Form der Paris Minimum Standards of Human Rights Norms in a State of Emergency, vgl. Chowdhury 1989.

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„Die aufgelisteten Umstände für das Inkrafttreten von Artikel 16 der Verfassung, von Ar‐ tikel 1 des Gesetzes vom 3. April 1978 und des Gesetzes vom 9. August 1849 für die Ausrufung des Belagerungszustandes, von Artikel 1 des Gesetzes Nr. 55-385 vom 3. April 1955 für die Ausrufung des Ausnahmezustandes und die die Anwendung der in diesen Texten vorgesehenen Bestimmungen erlauben, müssen als konform mit dem Ge‐ genstand des Artikels 15 der Konvention verstanden werden.“16

Durch diese Verzahnung der eigenen Verfassungsbestimmungen über den État d’ur‐ gence mit denjenigen der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist in rein rechtlicher Perspektive eine umfassende Interventi‐ onssouveränität der französischen Regierung im Krisenfall sichergestellt, ohne dass eine Bindung durch inter- oder supranationale Verträge diese souveräne Handlungs‐ kompetenz einzuschränken vermag. In politischer Hinsicht stellt die Ratifikation der Europäischen Konvention dennoch eine Hürde hinsichtlich der Enthemmung von Praktiken der Normsuspendierung dar. Denn die politische wie institutionelle Nähe der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (respektive der Europäischen Gemein‐ schaft) und deren Selbstverständnis als repräsentative Demokratien bedingt gleich‐ sam eine Beobachtung der nationalstaatlichen Politiken durch die europäische Öf‐ fentlichkeit. Diese Verknüpfung von Politik und Öffentlichkeit stellt zwar keine ver‐ traglich festgelegte Normsetzungspraxis dar, wie sie für die Verregelung des Aus‐ nahmezustandes auf nationaler Ebene gegeben ist. Dennoch scheint sie als Kontrollund Bewertungsmechanismus trotz ihrer bloß politisch-kulturellen Verankerung ge‐ eignet, in kontroversen Fällen der Normsuspendierung und Exekutivexpansion – zu‐ mindest der Theorie nach – einen erheblichen Rechtfertigungsdruck auf die Exekuti‐ ve ausüben zu können. Durch diesen Kontrolldruck erhöht sich wiederum die Chan‐ ce, das Exzesse der Normsuspendierung und damit verbundene, nachhaltige, also länger andauernde oder auf Dauer gestellte Aushöhlungen der Grund- und Men‐ schenrechte tendenziell eher unterbleiben. Nimmt man die Rechtssetzungspraxis für den Ausnahmezustand in nationalstaat‐ lichem Maßstab in den Blick – für den die Kontrollmechanismen der politischen Öf‐ fentlichkeit in wohl noch stärkerem Maße vorausgesetzt werden können, als dies für eine europäische Öffentlichkeit der Fall ist – dann ergibt sich folgendes Bild. Neben den Verflechtungen mit supranationalen Normen weist Frankreich auf nationalstaat‐ licher Ebene ein komplexes Instrumentarium konstitutioneller und davon abgeleite‐ ter gesetzlicher Bestimmungen zur Anwendung des Ausnahmezustandes auf. Dieses Geflecht von Bestimmungen liefert einerseits die verfahrenspraktische Grundlage für die Praxis der Normsuspendierung, auf deren Komplexität und Fluidität Charles de Gaulle in der eingangs zitierten Pressekonferenz bereits im Frühstadium der V. 16 Houillon 2005, S. 23. Zur politischen Konsequenz dieser Verzahnung heißt es dort: „Dadurch sind die Bestimmungen, die auf Grundlage des Inkrafttretens des Ausnahmezustandes ergriffen werden können, nicht der Gesamtheit der Verpflichtungen unterworfen, wie sie von der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschen- und Freiheitsrechte aufgezählt werden.“

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Republik hingewiesen hatte und die für die Genese des politischen Systems Frank‐ reichs überhaupt – also seit 1789 – so typisch ist. Mit der Existenz verfassungsrecht‐ lich verankerter und durch das Parlament auszugestaltender Bestimmungen für die Handhabung des Ausnahmezustandes deutet sich neben der politischen Öffentlich‐ keit mit der Legislative ein weiterer Ort für die Entwicklung politisch relevanter Be‐ gründungen hinsichtlich der Ausweitung von Exekutivkompetenzen jenseits der Exekutive an. Für die Anwendung des Ausnahmezustandes in Frankreich bedeutet das, dass neben dem Präsidenten und der Regierung, denen ob des semipräsidentiel‐ len Charakters des politischen Systems der V. Republik ohnedies eine herausgehobe‐ ne politische Funktion zukommt, nunmehr auch die Assemblée Nationale und damit also Parlamentsdebatten zu Orten der Begründung von Normsuspendierungen wer‐ den. Der Ausnahmezustand und die Verfügungsmacht über ihn hält somit Einzug in das französische Parlament, wobei diese Diversifizierung von Mitbestimmungsrech‐ ten eine missbräuchliche Verwendung der Erweiterung der Exekutivkompetenzen zusätzlich einschränkt. Neben dem Hinweis auf die Wechselhaftigkeit der französischen Verfassungsge‐ schichte eröffnet de Gaulle mit seiner oben zitierten Aussage noch eine weitere, da‐ für aber eine sehr grundsätzliche Perspektive auf die Bedingungen der Krisenreakti‐ onskompetenzen politischer Systeme überhaupt. Deren politische wie rechtliche Qualität als demokratisch verfasste Republiken, wie sie hier ja zur Disposition steht, wird im Krisenfall in doppelter Hinsicht, nämlich exogen – also durch den aufgetre‐ tenen, konkreten Notfall selbst – wie eben auch endogen – also durch die gegen den Notfall selbstbestimmt getroffenen Maßnahmen – in Frage gestellt. Das für den Nor‐ malfall Geltung beanspruchende Ordnungsangebot einer Verfassung korrespondiert ständig, so kann de Gaulles Klage über die permanente Instabilität der eigentlich Stabilität suggerierenden Verfassungsordnung gedeutet werden, mit einer in ontolo‐ gischer, nicht in territorialer Sicht äußerlichen Unordnung. Sowohl die Ordnung als auch ihre Negation scheinen für de Gaulle aufeinander bezogen zu sein, sie sind zwei Seiten einer Medaille. In diesem Beziehungsverhältnis überwiegt jedoch offen‐ sichtlich der Einfluss der Nicht-Ordnung, jene stärkere Natur der Dinge (de Gaulle), die im Renaissancedenken Machiavellis noch necessità geheißen hatte und der sich die politische Ordnung anzupassen und unterzuordnen habe. Denn sie stellt die je‐ derzeit präsente Umwelt und den von dieser Umwelt ausgehenden Druck dar, gegen den sich die Ordnung ebenso permanent zu behaupten hat. „Die Notwendigkeit“, so schreibt François Saint-Bonnet, „verweist hier auf eine Tatsache, die an die Norm, an das Normale aneckt.“17 Die Ordnung wäre demnach permanent einer latent über‐ mächtigen Unordnung ausgeliefert, durch die sie sich permanent in Frage gestellt sieht.

17 Saint-Bonnet 2001, S. 1.

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Wenn die Herausforderung der politischen Ordnung sich demnach permanent und latent als stärker erweist als die politische Ordnung selbst, dann verwundert die weitreichende Auslegung des Ausnahmezustandes, des État d’urgence in der Verfas‐ sung der V. Republik vom 4.10.1958 kaum.18 Hinsichtlich des im Krisenfall „zu mo‐ bilisierenden juristischen Arsenals“19 heißt es dort: „(1) Wenn die Institutionen der Republik, die Unabhängigkeit der Nation, die Integrität ihres Territoriums oder die Ausübung ihres internationalen Engagements unmittelbar und schwerwiegend bedroht sind und das reguläre Funktionieren der verfassungsmäßigen öf‐ fentlichen Institutionen unterbrochen ist, ergreift der Präsident der Republik, nach erfolg‐ ter offizieller Absprache mit dem Premierminister, den Präsidenten der Kammern des Parlaments und dem Verfassungsgericht, die angesichts dieser Umstände erforderlichen Maßnahmen. [...]. (3) Diese Maßnahmen müssen von dem Willen getragen sein, den verfassungsmäßigen öffentlichen Institutionen unverzüglich die Mittel für die Erfüllung ihrer Aufgaben zu si‐ chern. [...]. (6) (Verfassungsgesetz Nr. 2008-724 vom 23. Juli 2008) Nach dreißig Tagen der Anwen‐ dung von Ausnahmekompetenzen kann das Verfassungsgericht vom Präsidenten der Na‐ tionalversammlung, dem Präsidenten des Senats, sechzig Abgeordneten oder sechzig Se‐ natoren dazu aufgefordert werden zu untersuchen, ob die im ersten Absatz formulierten Bedingungen weiterhin erfüllt sind. Es erklärt sich innerhalb der kürzesten möglichen Frist durch eine öffentliche Bekanntmachung. Es unternimmt diese Untersuchung von Rechts wegen und erklärt sich unter den gleichen Bedingungen nach Ablauf von sechzig Tagen der Anwendung von außerordentlichen Machtbefugnissen und zu jedem Zeitpunkt nach Ablauf dieser Frist.“20

Dieser Versuch einer législation d’exception (François Saint-Bonnet), deren Ähn‐ lichkeit mit den Regelungen von Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung mitunter betont wird21, erweist sich in zweierlei Hinsicht als problematisch. Auch wenn der französische Gesetzgeber hier bemüht ist, die Anwendung von Praktiken der Norm‐ suspendierung in Gesetze zu fassen, so geschieht das nach wie vor mit einem Voka‐ bular, das hinsichtlich seiner Schlüsselbegriffe (Bedrohung, erforderliche Maßnah‐ men et cetera) extrem interpretationsbedürftig bleibt. Angesichts der infrage stehen‐ den Rechtsgüter – die demokratisch-republikanische Staatsform sowie die jederzeiti‐ ge Garantie personenbezogener Grund- und Freiheitsrechte – scheint eine solche Auslieferung von Grundrechten an die situative Deutungsmacht einer politischen

18 Zum Entstehungskontext und zur Schwierigkeit der Begriffsbestimmung des État d’urgence nach Artikel 16 vgl. Voisset 1969, S. 1–4. 19 Houillon 2005, S. 12. 20 Constitution de la République Française du 4 octobre 1958, modifié en dernier lieu par la loi constitutionnelle No2008-724, Artikel 16; ferner wird in Art. 16 bestimmt, dass die französi‐ sche Nation von der Verhängung des Ausnahmezustandes zu informieren und dass die Auflö‐ sung der Nationalversammlung während der Dauer des Ausnahmezustandes unzulässig sei. 21 Vgl. etwa Le Sénat 2006, S. 11, Fußnote 1.

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Autorität fragwürdig22. Wiewohl auch die Unmöglichkeit gegeben ist, eine politisch relevante Krise in all ihren tatsächlichen Erscheinungsformen a priori zu definieren, was die Offenheit der Definition wiederum unumgänglich macht. – Allzumal dann, wenn Exekutive und Legislative sich erst einmal ganz grundsätzlich auf die Bereit‐ schaft zur Normsuspendierung eingelassen, sie also als politisch notwendige Maß‐ nahme möglichst permanenter souveräner Selbstbestimmung begriffen und akzep‐ tiert haben. Wenn darüber hinaus der Exekutive mit jenem „mysteriösen und zweifelhaften [...] obskuren und beunruhigenden“23 Instrument des État d’urgence angesichts qua‐ litativ nicht näher spezifizierter „Bedrohungen“ möglichst weitreichende Reaktionsund Gestaltungsspielräume eröffnet werden24, so die implizite Verfahrenslogik der hier zitierten Auszüge aus Artikel 16 der Verfassung vom 4.10.1958, dann vergrö‐ ßert sich damit auch die tatsächliche Chance der Exekutive zur erfolgreichen Auf‐ rechterhaltung der Systemintegrität nach der Überwindung des Krisenfalls. Aller‐ dings steht eine solche Strategie in diametralem Widerspruch zum Wesenskern repu‐ blikanisch-demokratischer Herrschaft, wonach die Ausübung von Herrschaftsmacht zum Zweck der Vermeidung von ungewollten, übermäßigen Machtallokationen im‐ mer zu kontrollieren und zu limitieren ist. Anhand dieser beiden interpretatorischen wie strategischen Probleme, die sich an die Bestimmungen von Artikel 16 anschließen, wird deutlich, dass die Beurteilung der Demokratieverträglichkeit von Praktiken der Normsuspendierung25 analytisch zwei sehr unterschiedliche Dimensionen politischen Handelns zu berücksichtigen hat. Einerseits die hier präsente, instrumentelle oder immanente Dimension der tat‐ sächlichen Abarbeitung eines – in der frühen Verfassungslogik primär äußeren26 – Krisenfalls und darüber hinaus diejenige teleologische oder finalitätsbezogene Di‐ mension, die den Zweck und damit gleichsam auch den legitimatorischen Kern der Normsuspendierungspraxis in sich trägt, nämlich den angestrebten Erhalt von De‐ mokratie und Republik über die Krise hinaus. Aus dieser binären Dimensionalität politischen Handelns ließe sich – nebenbei bemerkt – eine analytisch akzentuierte 22 Vgl. Saint-Bonnet 2001, S. 24: „Wie auch immer die konkrete Beschaffenheit einer Krise aussehen mag, ein außerordentliches Regime wird von der Autorität ausgerufen, die die Situation als Krise einstuft.“ 23 Voisset 1969, S. 1. 24 Vgl. ebd., S. 14: „Der Anwendungsbereich außerordentlicher polizeilicher Machtbefugnisse ist folglich extrem weit und man muss sogleich unterstreichen, dass das zur Zeit der Ausarbeitung der Verfassung weit weniger der Fall war.“ 25 Die spezifische Brisanz, die der Ausnahmezustand im Kontext demokratischer Regime entfal‐ tet, rührt aus der Tatsache, dass demokratisch verfasste Staaten für sich grundsätzlich auch die Qualität der Rechtsstaatlichkeit in Anspruch nehmen. Vgl. hierzu etwa Dyzenhaus 2008, S. 33: „According to Carl Schmitt, the limits of law exposed by emergencies debunk not only legal theory, but also what we might think of as the political theory of liberal democracy, since Schmitt rightly took liberal democracy to be committed to the rule of law.“ 26 Vgl. ebd., S. 17 f.

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Definition des Ausnahmezustandes ableiten: Immer dann, wenn politische Krisenin‐ terventionen so beschaffen sind, dass sich in ihnen die vorgenannte immanente und die finalitätsbezogene Dimension überlagern, liegt grundsätzlich eine Situation des Ausnahmezustandes vor.27 Als entscheidend für die Beurteilung der demokratischen Qualität der Maßnahmen im Ausnahmefall jedenfalls erweist sich angesichts des hier vorgestellten, massierten Arsenals verschiedenster Verfahrens- und Handlungs‐ optionen die Finalitätsdimension. Mit anderen Worten: Die Anwendung nicht-demo‐ kratischer Mittel im Ausnahmezustand stellt per se eine Gefährdung der demokra‐ tisch-republikanischen Kultur dar. Die Möglichkeit einer reaktiven Eskalation in der Krisenintervention nach dem Motto viel hilft viel, die ihrerseits die permanente Ga‐ rantie der Geltung oder der Wiederherstellung der Geltung der Verfassung zu ihrem zentralen Zweck erhebt, stellt dabei – auch mit Blick auf ihre grundsätzliche Offen‐ heit gegenüber einer a priori nicht determinierten Varianz an Handlungsoptionen der Exekutive – keine genuine Innovation der V. Republik dar. Die Möglichkeit einer reaktiven Eskalation, ungeachtet des Versuchs ihrer konstitutionellen Kodifizierung, steht historisch weit über die V. Republik hinaus – etwa in den Federalist Papers28 – für die angenommene Notwendigkeit einer demokratisch verankerten „Diktatur als heroischem Regime der Krise“29. Die gegenwärtige Praxis dieses Heroismus und die aus der Anwendung unmittel‐ bar folgende Etablierung eines außerordentlichen Rechtsregimes in der IV. wie auch in der V. Republik nimmt – mitsamt der bis in die zweite Hälfte der Französischen Revolution zurückreichenden politischen Tradition der Normsuspendierung – auf zwei Gesetze Bezug. Einmal auf das Gesetz No55-385 vom 3.4.1955, das den Aus‐ nahmezustand im Sinne des État d’urgence als Rechtsinstitut regelt. Dieses Gesetz ist damit der juristische Ort, an dem alle verfahrenspraktischen und rechtlich rele‐ vanten Fäden der politischen Entwicklung des Ausnahmezustandes in Frankreich zusammenlaufen, auch die, die ihren Ausgangspunkt bereits in der Zeit vor der Ver‐ abschiedung des Gesetzes hatten. Darüber hinaus handelt es sich um den oben be‐ reits angesprochenen Artikel 16 der Verfassung vom 4.10.195830, dessen Regelun‐ gen für den Semipräsidentialismus der V. Republik, nicht aber für das parlamentari‐ sche System der IV. Republik gelten. Ausgehend von diesen beiden zentralen Punk‐ 27 28 29 30

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Vgl. hierzu auch Saint-Bonnet 2001, S. 8. Vgl. Lemke 2011, S. 371 f. Barthélemy 1931, S. 111. Der hinsichtlich der möglichen außerordentlichen Exekutivreaktionen weiterreichende État de siège, also der Belagerungszustand, ist in Artikel 36 der Verfassung geregelt und bezieht sich auf Gefährdungen, die aus einem militärischen Angriff von außen oder aber aus einer bewaff‐ neten Erhebung im Innern resultieren. Vgl. hierzu Le Sénat 2006, S. 5: „Der Belagerungszu‐ stand, vorgesehen von Artikel 36 der Verfassung und im Falle einer unmittelbaren Gefahr, die aus einem äußeren Krieg oder aus einem bewaffneten Aufstand resultiert, ist im Wesentlichen durch eine Übertragung von polizeilichen Machtbefugnissen an das Militär gekennzeichnet. Er wird vom Ministerrat angeordnet, aber seine Verlängerung über eine Dauer von zwölf Tagen hinaus bedarf der Autorisierung durch das Parlament.“

ten im Netz der französischen Ausnahmebestimmungen können demnach – auf‐ grund der vielfältigen juristischen wie politischen Bezugnahmen auf das Gesetz No55-385 sowie auf Artikel 16 – die verfassungsrechtlichen Grundlagen in ihrer hi‐ storischen Entwicklung rekonstruiert werden. In einer historisch-genealogischen Rekonstruktion – die hier natürlich nur ange‐ rissen werden kann – wird ein grundsätzliches politisches wie juristisches Bedürfnis deutlich, an dem sich die Gesetzgebung über außerordentliche Exekutivmaßnahmen in Frankreich schon in der Zeit der III. Republik orientiert hat. Dieses Bedürfnis be‐ trifft die Unterscheidung zwischen den Gesetzen und ihrer Geltung einerseits und der Schaffung oder Garantie eines Zustandes, in dem Gesetze überhaupt erst Gel‐ tung erlangen können, andererseits: „Zuerst regieren und verwalten: danach das Gesetz ausführen – was bedeutet: zuerst le‐ ben, und danach regelkonform leben, immer unter normalen Umständen, soweit wie möglich unter unnormalen Umständen.“31

Anhand dieser souveränen politischen Leitunterscheidung, die eine existenziell be‐ gründete Gewichtung und damit einhergehend eine Bevorzugung des biologischen gegenüber dem politischen – und wertend könnte man auch formulieren: die eine Bevorzugung des archaischen gegenüber dem zivilisierten – Leben vornimmt, lässt sich die Notwendigkeit des Ausnahmezustandes im Kontext des Rechtsstaates plau‐ sibilisieren. Konkret bestünde diese Notwendigkeit im französischen Fall in der Be‐ reitstellung eines Instrumentariums, das es dem Staat angesichts der ständigen po‐ tenziellen Lücke zwischen Recht und Wirklichkeit ermöglicht, das Recht den Tatsa‐ chen anzupassen und die Lücke zwischen beiden immer wieder neu zu schließen. Historisch lässt sich dieses politische Bedürfnis auf den Begriff des Belagerungs‐ zustandes, den État de siège, zurückführen, der die reale Situation einer existenziel‐ len Bedrohung einer belagerten Stadt durch eine äußere militärische Streitmacht be‐ schreibt.32 Gegen diese Bedrohung galt es die Stadt und ihr Verfassungsgefüge mili‐ tärisch und praktisch zu verteidigen. Im Zuge der Französischen Revolution wurde der Begriff insofern ausgeweitet, als er von einem rein militärischen zu einem politi‐ schen Begriff avancierte. Der État de siège bezog sich fortan nicht mehr auf die durch Maßnahmen von außen induzierte existenzielle Bedrohung, sondern auch auf Bedrohungen aus dem Inneren: „This expansion of the notion of state of siege created the dichotomy between état de siè‐ ge réel (state of siege in its original sense) and the état de siège fictif (‘constructive’ state of siege).“33

31 Maurice Hauriou, zit. nach Saint-Bonnet 2001, S. 9. 32 Für die folgenden Ausführungen vgl. grundsätzlich auch Rossiter 1948, S. 79–129. 33 Aoláin/Gross 2006, S. 27.

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Der État de siège fictif wurde somit zu einem Rechtsinstrument, das es durch seine Verankerung in der Verfassung erlaubte, ex ante Maßnahmen zu definieren, die bei tatsächlichem Eintreten einer existenziellen Bedrohung der Verfassungsordnung zu ergreifen sein würden, mit dem Ziel, die Bedrohung abzuwenden oder die Krise zu beenden und die Geltung der Verfassungsordnung aufrecht zu erhalten oder wieder herzustellen. Der État de siège fictif erscheint somit als eine erste „legal crisis insti‐ tution“34 und damit als ein die Exekutive juristisch bindender Vorläufer des État d’urgence: „The vital point is that the state of siege is not a condition in which law is temporarily abrogated, and the arbitrary fiat of a ‘commander’ takes its place. It is emphatically a le‐ gal institution, expressly authorized by the constitutions and the various bills of rights that succeeded each other in France, and organized under this authority by a specific sta‐ tute.“35

In der Zusammenschau ergibt sich mit Blick auf die eingangs formulierte These, wo‐ nach der Ausnahmezustand im Rahmen des französischen Semipräsidentialismus in der V. Republik ein gesteigertes Anwendungspotenzial aufweist, ein ambivalenter Befund. Denn einerseits verfügt Frankreich mit der Verfassung von 1958 (Artikel 16) und dem Gesetz No55-385 vom 3.4.1955 tatsächlich über zwei explizite Rege‐ lungsmechanismen für den Ausnahmefall auf nationalstaatlicher Ebene, die der Exe‐ kutive entsprechend einer von ihr vorzunehmenden Interpretation einer Lage als Ge‐ fahrenlage erweiterte Handlungskompetenzen eröffnen. Die gesteigerte Bereitschaft zur Überschreitung demokratischer Normen, von der Cindy Skatch mit Blick auf den französischen Semipräsidentialismus – und unter der Einschränkung bestimmter Parteienkonstellationen – geschrieben hatte, wäre mit Blick auf die Gesetzeslage also potenziell gegeben. Die entscheidende sich nun stel‐ lende Frage lautet: Welchen Gebrauch hat die Exekutive von diesen ihr zur Verfü‐ gung stehenden Möglichkeiten tatsächlich gemacht?

Ausnahmezustände in der V. Republik: Fallanalysen zur Plausibilisierungspraxis Dieser signifikanten, de jure gegebenen Konzentration von Deutungs- und Hand‐ lungsmacht bei der Exekutive im Krisenfall steht indes für die Zeit der späten IV. und der gesamten V. Republik eine überschaubare Zahl von mitunter demokratisch gravierenden Anwendungen gegenüber. Insgesamt geht es um vier Szenarien, wobei diese Zählung aus der jeweiligen Zusammenschau der Komplexe Algerien / Algeri‐

34 Ebd. 35 Radin 1942, S. 634, 637.

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enkrieg, Neukaledonien, Pariser Banlieue und der Terroranschöäge des „IS“ resul‐ tiert. Tab. 1: Ausnahmezustände in der V. Republik: Anwendungsfälle. Ausnahmezustand im Zusammenhang mit ... Algerien / Algerien‐ krieg

Neukaledonien Banlieue Parisienne

Terroranschläge des „IS“

Datum der Ausru‐ fung (Erstausru‐ fung) 7.8.1955* 13.5.1958* 23.4.1961 6.10.1961 12.1.1985 8.11.2005

13.11.2015

angewandte Gesetzesgrundlage, Geltungsbereich (lokal) Loi No55-385, Algerien Loi No55-385, Algerien Article 16, Algerien Article 16, Paris (Île de France) Loi No55-385, Loi No85-96 Loi No55-385, Gebiete in städt‐ ischen Ballungsräumen entspre‐ chend der Bestimmungen in Dekret No2005-1387 Loi No55-385 in verschiedenen Va‐ rianten, französisches Staats- und Hoheitsgebiet; Verlängerungen je‐ weils am: 20.11.2015, 19.2.2016, 20.5.2016, 21.7.2016, 19.12.2016, 11.7.2017

Quelle: eigene Darstellung; Zeichenerklärung: * = späte IV. Republik.

Dass es sich bei den Anwendungsfällen um nationale Krisensituationen handelt, war zudem politisch jeweils weitgehend unbestritten. Aus Sicht der historischen und ju‐ ristischen Rekonstruktion ergibt sich somit das Bild einer sehr ausdifferenzierten Verregelung des Ausnahmezustandes, das insofern zu funktionieren scheint, als Aus‐ nahmezustände die Verfassung bislang nicht zu erodieren vermochten. Das mag un‐ ter anderem daran liegen, dass alle Plausibilisierungspraktiken bis 2015 eine bemer‐ kenswerte Gemeinsamkeit aufweisen, insofern sie in unmittelbarem oder aber zu‐ mindest in mittelbarem Zusammenhang mit der kolonialen Vergangenheit Frank‐ reichs stehen. Erst mit dem Ausnahmezustand in Reaktion auf den Terror des „IS“ wird das anders – und schon stellt sich die Frage der Normalisierung ausgeweiteter Exekutivkompetenzen. Was hinsichtlich des konkreten Engagements Frankreichs im Zusammenhang mit dem Algerienkrieg (1954–1962) und den Konflikten anlässlich der Bestrebungen zur Unabhängigwerdung Neukaledoniens (1984–1988) noch beinahe als selbstevident erscheinen mag, bedarf angesichts der Ausschreitungen, die im Herbst und Winter 2005/06 zunächst die Pariser Banlieue und in der Folge mehr als 300 Gemeinden in ganz Frankreich ergriffen haben, einer eingehenderen Erklärung. In einem Editorial von Le Monde findet sich, in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Erklärung des État 219

d’urgence vom 18.11.2005 durch den Conseil des ministres, der unter Rückgriff auf jenes Gesetz No55-385 verhängt worden war, das seinerseits erstmalig in der IV. Re‐ publik von der Regierung Edgar Faure im Zusammenhang mit dem Algerienkrieg zur Anwendung gekommen war, folgender Hinweis: „Exhuming a 1955 law sends to the youth of the suburbs a message of astonishing bruta‐ lity: that after 50 years France intends to treat them exactly as it did their grandpar‐ ents.“36

Nimmt man diese sich über recht genau fünfzig Jahre erstreckende historische Ana‐ logie der Ereignisse in Algerien zu jenen in den Vororten der französischen Städte an, wie sie Le Monde hier insinuiert, dann mündet diese Annahme in einen aus de‐ mokratisch-republikanischer Perspektive beunruhigenden Befund. Wenn das politi‐ sche Wunder (Carl Schmitt) des Ausnahmezustandes der Konstruktion eines Feind‐ bildes, eines Außen bedarf, dann wäre die politische Praxis der IV. und V. Republik hierfür insofern ein empirischer Beleg, als mit den Kolonien beziehungsweise mit den aus den Kolonien stammenden Migranten in der französischen Gesellschaft ein strukturelles Äußeres gegeben ist, das die Implementierung von Normsuspendierun‐ gen durch die Exekutive offensichtlich begleitet oder gar erleichtert. Dass die Ju‐ gendlichen, die im Rahmen der Vorortunruhen verhaftet wurden, zwar mehrheitlich algerischer, marokkanischer oder tunesischer Abstammung waren, jedoch ebenso mehrheitlich über einen französischen Pass verfügten und also französische Staats‐ bürger sind, verkompliziert die Diagnose dahingehend, dass die hier offenkundig greifenden Mechanismen der Ausgrenzung so subtiler Natur sind, dass sie offen‐ sichtliche Rechtstatbestände – wie eben das Vorliegen der französischen Staatsbür‐ gerschaft – zu überdecken beziehungsweise zu ignorieren vermögen.37 Der Ausnah‐ mezustand von 2015–2017 stellt vor diesem Hintergrund einen Fall eigener Art dar, insofern ein (post-)kolonialer Bezug nicht herstellbar ist. Was jedoch strukturell gleich bleibt, ist der Verweis auf einen als existentiell andersartig beschreibbaren, bedrohlichen, als genuinen Gegenentwurf zur Republik und ihren Werten begreifba‐ ren Akteur, dem es mit aller Härte zu begegnen gilt.

36 Le Monde, zit. nach Aoláin/Gross 2006, S. 201. 37 Erhärtet wird dieser Befund noch durch den Umstand, dass im Zusammenhang mit den Studie‐ rendenprotesten des Jahres 1968 – die eben nicht von den Angehörigen einer wie auch immer gearteten Minderheit ausgingen – auf die Verhängung eines État d’urgence verzichtet worden ist, obschon die Gewalttätigkeit im Rahmen dieser Proteste verglichen mit den Vorortunruhen aus 2005 einen solchen Schritt durchaus gerechtfertigt hätte. Zudem besteht eine Analogie zum amerikanischen Fall Korematsu vs. United States, in dessen Zusammenhang das Minderheits‐ urteil von Justice Black zu der Einschätzung gekommen war, das Regierungshandeln beruhe auf rassistischen Motiven. Vgl. hierzu ausführlich Lemke 2011, S. 375 ff.

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Algerien Der Algerienkrieg (1954–62) hat wie kein anderes Ereignis nach 1945 die politische wie auch die konstitutionelle Ordnung Frankreichs berührt. Als Katalysator hat er den im Rahmen einer römischen Diktatur (Raymond Aron38) durch Charles de Gaul‐ le maßgeblich gestalteten Verfassungswechsel von der IV. zur V. Republik eklatant beschleunigt. Der Prozess der Unabhängigwerdung Algeriens – und in ähnlicher Ausrichtung auch der vorangegangene Indochinakrieg von 1946–195439 – führt da‐ mit auf bedrückende Art und Weise vor, wie mit der IV. Republik ein Rechtsstaat in Form einer parlamentarischen Demokratie, der nicht zuletzt aufgrund einer manifes‐ ten Instabilität in der Exekutive nicht mehr hinreichend zwischen Normalität und Ausnahme zu unterscheiden vermag, eben weil die Ausnahme eine Tendenz zur Usurpation der Normalität entfaltet, scheitert. Zwischen 1954 und 1962 überlagern sich zwei Krisen. Die innen- oder verfas‐ sungspolitische, die in der politischen Fragilität und Diskontinuität der Exekutive wie auch der Legislative der IV. Republik gründet und schließlich in der von Charles de Gaulle initiierten Verfassung der V. Republik aufgeht; und jene kolonialpoliti‐ sche « crise extrêmement grave »40 angesichts der Unabhängigkeitsbestrebungen Al‐ geriens. Der Übergang von der IV. zur V. Republik – das von Raymond Aron mit Blick auf die Person Charles de Gaulle verwendete Vokabular macht das deutlich – kann mit Recht als Verfassungserosion bezeichnet werden. Für diese Ablösung einer Verfassungsordnung gilt es im Folgenden exemplarisch aufzuzeigen, welche Be‐ gründungsmuster der Implementierung des Ausnahmezustandes, zugrunde liegen. Der verfassungsrechtliche Übergang von der IV. in die V. Republik tritt darüber in den Hintergrund und ist nur insofern von Belang, als die Krise in Algerien die Aus‐ formulierung der Bestimmungen über den Ausnahmezustand in der Verfassung der V. Republik, Artikel 16, mit induziert hat.41 Die argumentative Plausibilisierung des Ausnahmezustandes und seiner Verhän‐ gung durch Charles de Gaulle in der Zeit des Algerienkrieges rekurriert immer wie‐ der auf die Herstellung einer Situation der Äußerlichkeit, die sich vor dem Hinter‐ grund der Auseinandersetzungen in Algerien relativ einfach herstellen ließ. Während 38 Vgl. Aron 1959, S. 16 f.: „Die von der Regierung des General de Gaulle innerhalb der sechsmonatigen römischen Diktatur durchgeführten Reformen sind zu zahlreich und zu komplex, um sie auf einigen wenigen Seiten zusammenfassen zu können.“ An anderer Stelle bezeichnet Aron de Gaulle in ähnlicher, wohl an die Begrifflichkeit bei Rousseau angelehnter Diktion als „dictateur-législateur“. Vgl. ebd., S. 169. 39 Vgl. ebd., S. 131 f.: „In historischer Perspektive erscheinen die zwölf Jahre der IV. Republik von diesen zwei Konflikten beherrscht, die man koloniale nennen könnte, aber die, durch ihre Tragweite, für Frankreich zu nationalen Konflikten geworden sind.“ 40 De Gaulle 1958. 41 In diesem Zusammenhang ist grundsätzlich interessant Blanchard 2006, der außerordentliche Polizeimaßnahmen in den Blick nimmt, und – mit für die Geschichte des Konflikts und seiner (schulischen) Aufbereitung – Kohser-Spohn/Renken 2006.

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die Anhänger des Präsidenten und seiner Politik auf der einen Seite standen, bildeten die Gegner de Gaulles und also die Befürworter des Verbleibs Algeriens bei Frank‐ reich die andere Seite. Durch die solcherart über Jahre wiederholte Erzählung der kriegerischen Unruhe sowie einer bis hin zur Spaltung entlang der Algerienfrage rei‐ chenden inneren Instabilität Frankreichs – die im Zusammenhang mit dem soge‐ nannten Putsch der Generäle vom 21.–26.4.1961 an einen Höhepunkt gekommen war – war eine politische Atmosphäre geschaffen, die am 22.4.1961 in die Verhän‐ gung des Ausnahmezustandes nach Artikel 16 mündete. In seiner Rede am 23.4.1961 lieferte Charles de Gaulle eine knappe Begründung der Expansion der Exekutivkompetenzen, die immer wieder auf die oben beschriebene Gegnerschaft Bezug nimmt: „Denn die immense Anstrengung der Wiederaufrichtung Frankreichs, angefangen vom Boden des Abgrundes, dem 18. Juni 1940, dann weitergeführt bis, trotz allem, der Sieg errungen, die Unabhängigkeit gesichert, die Republik wiederhergestellt war; seit drei Jahren wieder aufgenommen, um den Staat zu erneuern, die nationale Einheit zu erhalten, unsere Macht und unseren Rang nach außen wieder herzustellen, unser Werk in Übersee hin zu einer notwendigen Dekolonisierung weiter zu verfolgen, all das droht sich, selbst am Vortag des Erfolges, wegen des schändlichen und dummen Abenteuers der Aufständi‐ schen in Algerien als vergeblich zu erweisen.“42

Auf der einen Seite des Konflikts steht de Gaulle als einzig legitime Verkörperung der nationalen Integrität des freien Frankreichs, des Frankreichs nach Vichy, der Staatsraison sowie der französischen Würde nach innen wie nach außen; auf der an‐ deren Seite stehen vier schändliche und dumme „Generäle in Rente“, die mit ihrem Beharren auf dem kolonialen Anspruch Frankreichs an Algerien die V. Republik in ein „nationales Desaster“43 zu führen versuchen. Und auch wenn der Putsch der Ge‐ neräle letztlich erfolglos gewesen ist – er hat doch den Algerienkrieg auf das franzö‐ sische Festland getragen und zu einer weiteren Eskalation der von den Befürwortern wie Gegnern der algerischen Unabhängigkeit vorgetragenen Maßnahmen geführt. Eine der unmittelbaren Folgewirkungen noch im Jahr 1961 war die Zunahme von Attentaten durch die Front de Libération Nationale (FLN), die im Rahmen ihres Un‐ abhängigkeitskampfes zunehmend französische Polizisten und Gendarmen in Frank‐ reich zu überfallen und zu töten begonnen hatte. Als Reaktion auf dieses Vorgehen verhängte Maurice Papon44, damals Präfekt der Pariser Polizei, für die Stadt Paris eine Ausgangssperre für Franzosen algerischer Herkunft, die ihrerseits im Verdacht standen, mit der FLN zu kooperieren. Mit der seit dem Putsch der Generäle gestie‐ genen Verunsicherung auf Seiten der sich selbst als Inkarnation der Staatsraison be‐ 42 De Gaulle 1961. 43 Ebd. 44 Papon war während des Vichy-Regimes Nazi-Kollaborateur und wurde später wegen Kriegs‐ verbrechen zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt.

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greifenden Exekutive und der allgemeinen Konfusion ging eine Aussonderung eines Teils der Pariser Bevölkerung einher. Diese aus politischer Unsicherheit geborene Segregation kulminierte im Massaker von Paris am 17.10.1961. Im Verlauf einer von der FLN organisierten Demonstration für die Unabhängigkeit Algeriens45 mit insgesamt zwischen 28.000 und 50.000 Teilnehmern wurden – je nach Zählung – zwischen 2 (offizielle Angabe der Pariser Polizei am 18.10.1961) bis hin zu 384 (Schätzung Jean-Luc Einaudi46) Menschen unter anderem durch die Pariser Polizei getötet. Zudem internierte die Polizei – teilweise über mehrere Tage – circa 6.000 bis 9.000 Personen in Sportstadien oder Konzerthallen, etwas im Palais de Sports oder im Stade Pierre de Coubertain. Die Ereignisse rund um das Massaker von Paris sind hier deswegen so relevant, weil sie – ganz gleich, welche Zahlen nun näher an der Realität sind – eine Brutalität im Vorgehen der Polizei gegenüber einem Teil der Bevölkerung offenbaren, die durch die im Rahmen des Algerienkrieges latent wirksame Segregationserzählung noch befördert wurden. Mit anderen Worten: Die sich in Folge der Regierungspolitik zunehmend etablierende Vorstellung der Unabhängigkeit Algeriens führt zu einem de facto Ausschluss der algerischstämmigen Franzosen aus dem französischen Sou‐ verän. Algerier – auch wenn sie de jure französische Staatsbürger sind – werden so‐ mit zu einem außenstehenden, zudem zu einem als feindlich konnotierten Akteur, der eine Behandlung durch die Staatsorgane erfährt, die an Maßnahmen im Rahmen einer kriegerischen Auseinandersetzung erinnern.

Neukaledonien Ähnlich wie in Algerien betrifft auch der Neukaledonienkonflikt den Prozess der Se‐ gregation einer Kolonie von ihrem Mutterland. In der von Jean-Yves Faberon und Guy Agniel herausgegebenen rechtswissenschaftlichen Analyse des verfassungs‐ rechtlichen Status von Neukaledonien nach der Verhängung des Ausnahmezustandes zwischen 1985 findet sich der Ausdruck einer „souveraineté partagée“47. Wenn hier von geteilter Souveränität die Rede ist, dann verweist diese Begrifflichkeit auf das Ergebnis des Konflikts über die politische Selbstbestimmung der – je nach Perspek‐ tive – ehemaligen Kolonie. Wegen des vormaligen Status’ Neukaledoniens als Terri‐ toire d’outre-mer – heute ist die Inselgruppe nach Artikel 76 und 77 der französi‐ schen Verfassung eine Collectivité sui generis48 – steht die geteilte Souveränität als 45 46 47 48

Für den Ablauf der Ereignisse vgl. die Studie von House/MacMaster 2008. Vgl. Einaudi 1991. Vgl. Faberon/Agniel 2000. Beim Referendum vom 4.11.2018 stimmten 56,67% der Wähler gegen die Unabhängigkeit. Vgl. Haut-Commissariat de la République en Nouvelle-Calédonie unter http://www.nouvelle-c aledonie.gouv.fr/Politiques-publiques/Elections-2018/Referendum-2018 .

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Ausdruck für einen massiven Eingriff in das französische Selbstverständnis als ein‐ heitliche Nation. Wie im vorangegangenen Algerienkrieg und wie später im Rahmen der Vorstadt‐ unruhen steht auch die Anwendung des Ausnahmezustandes in Neukaledonien im Zusammenhang mit der Schaffung einer Situation der Äußerlichkeit, die ihrerseits auf der Binnendifferenzierung des französischen Souveräns beruht. Dabei ist die für die Binnendifferenzierung ursächliche Gruppe – die Front de libération nationale kanak et socialiste (FLNKS) – ähnlich eindeutig identifizierbar, wie im Algerien‐ krieg die FLN. Deren Boykott der örtlichen Wahlen bildete 1984 den ersten von zahlreichen weiteren Schritten im von der FLNKS geführten Kampf um die politi‐ sche Unabhängigkeit Neukaledoniens. Innerhalb weniger Monate spitzte sich dieser Kampf bis zu einem drohenden Bürgerkrieg zu, auf den die französische Regierung am 12.1.1985 mit der Verhängung eines Ausnahmezustandes sowie einer Ausgangs‐ sperre für die Dauer von sechs Monaten reagierte. Im Hintergrund – das machen Plenardebatten in der Assemblée Nationale deutlich – verlief bereits seit mehreren Jahren die eigentliche Konfliktlinie zwischen der Durchsetzung der nationalen Interessen Frankreichs im Pazifikraum und dem Zuge‐ ständnis der souveränen Selbstbestimmung an die indigenen Bevölkerungen der ko‐ lonialen Besitzungen – im Falle Neukaledoniens der Kanaken. Der Abgeordnete Roch Pidjot vertritt dabei die Position des Rechts auf kanakische Selbstbestimmung: „Die Legitimität des kanakischen Volkes, sein qua Geburt erworbenes und aktives Recht auf Unabhängigkeit werden von dem heute in dritter Lesung vorgelegten Text verhöhnt. Tatsächlich bleibt das kanakische Volk, als Ureinwohner, fremd in seinem eigenen Land, denn der Kolonialherr verfügt durch dieses Statut über alle Rechte auf die Selbstbestim‐ mung und Unabhängigkeit des kolonisierten Volkes. Die einzige Sorge Frankreichs besteht darin, sich im Pazifikraum zu halten. Dazu bevor‐ zugt es die Interessen von Europäern und anderen Emigranten. Es verhöhnt damit seine eigenen Ankündigungen von vor 1981, die von der sozialistischen Partei, der kommunis‐ tischen Partei und der Erklärung von Nainville-les-Roches hinsichtlich des qua Geburt erworbenen und aktiven Rechts des kanakischen Volkes auf Unabhängigkeit gemacht wurden. [...]. Darüber hinaus bleibt Frankreich bis in seine Denkstruktur hinein Kolonialmacht. Und ich schäme mich für euch wegen dieser Verachtung, wegen dieser Herabwürdigung, die ihr ständig unter Beweis stellt, wenn ihr von meinem Volk sprecht.“49

Die Herstellung einer Situation der Äußerlichkeit, wie sie insbesondere im letzten Satz anklingt, erscheint hier – auch wenn sie unterschiedlich bewertet werden mag – jedoch in der Sache in keiner Weise als kontrovers, sie ist über den Begriff der indi‐ genen Bevölkerung bereits etabliert. Demgegenüber vertritt der Abgeordnete Jacques Toubon als Mitglied der Opposition (RPR) die paternalistisch eingefasste Notwenig‐ 49 Journal officiel de la République française 1984, S. 4229.

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keit der Wahrung der nationalen Integrität, der Wahrung der Einheit der Republik und ihrer ‚Kinder’: „Den Text, der von der Nationalversammlung angenommen werden wird, empfinden wir durchweg und in vielerlei Hinsicht als beunruhigend [...], aber ich will hoffen, dass die Art wie die Zentralregierung die Forderungen der einen wie der anderen, egal welcher Rasse oder welcher politischen Überzeugung sie angehören, aus welcher wirtschaftli‐ chen, sozialen oder kulturellen Situation innerhalb des Landes sie stammen, auf demo‐ kratische Weise aufgenommen hat, diejenigen, die in den letzten Tagen extreme Posi‐ tionen eingenommen haben, dazu bewegen wird, wieder vernünftig zu werden und in Be‐ tracht zu ziehen [...], dass es für Neukaledonien und für seine Bewohner außerhalb Frankreichs, außerhalb der Französischen Republik keine Zukunft geben wird.“50

Anhand dieser beiden Debattenbeiträge wird deutlich, dass die politische Zukunft Neukaledoniens noch Mitte 1984 völlig umstritten war – das Bemühen Frankreichs um die Wahrung seiner Kontrolle des Dekolonisierungsprozesses indes war es nicht. Insofern besteht das Spezifikum der Situation in Neukaledonien darin, dass mit der Unabhängigkeitsbewegung der FLNKS ein Akteur die politische Bühne betreten hat, der mit seinen politischen Aktivitäten einen zunehmenden Kontrollverlust der Zen‐ tralregierung über Neukaledonien herbeigeführt hat. Der eigentliche Kern des Kon‐ flikts besteht damit nicht in der Frage der Modalitäten des Unabhängigkeitsprozes‐ ses oder der Zuerkennung von Rechten gegenüber indigenen Bevölkerungsgruppen, sondern ausschließlich in der Infragestellung der Durchsetzung souveräner, nationa‐ ler Interessen Frankreichs. Der äußere Feind – die FLNKS – wird, weil sie die natio‐ nale französische Durchsetzungsfähigkeit zu unterminieren droht, mit einer Auswei‐ tung der Exekutivbefugnisse der Vertreter der Pariser Zentralregierung in dem von ihr beanspruchten Gebiet konfrontiert. Weit ab vom französischen Festland erscheint der Ausnahmezustand hier als ein pragmatisches Kontroll- und Machtinstrument französischer Außenpolitik, das sich – so steht zu vermuten – auch deswegen so un‐ bedenklich anwenden lässt, weil es gegen einen äußeren Feind um die Aufrechter‐ haltung souveräner nationaler Interessen geht.

Banlieue Parisienne Die Anwendung des Ausnahmezustandes im Zusammenhang mit den Unruhen in den französischen Vorstädten 2005/06 war zunächst insofern signifikant anders als die beiden vorgenannten Fälle, die in der Hauptsache immer auf ein territoriales Äu‐ ßeres des französischen Festlandes bezogen blieben, als die mit seiner Ausrufung verbundenen Maßnahmen rein territorial betrachtet den französischen Staat unmit‐

50 Ebd., S. 4230.

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telbar betrafen. Der Ausnahmezustand und Frankreich, so könnte man zugespitzt formulieren, kamen einander näher. Anlässlich der Ausschreitungen in den Pariser Vororten zwischen dem 8.11.2005 und dem 4.1.2006, die sich in Folge des Todes zweier Jugendlicher am 25.10.2005 während deren Flucht vor der Police Nationale51 entzündeten, rief die französische Regierung den Ausnahmezustand in La France métropolitaine aus.52 Auch wenn das Instrumentarium der Ausweitung der Exekutivbefugnisse explizit auch für den in‐ nenpolitischen Bereich gedacht war, so erscheint seine Anwendung im französischen Kernland keineswegs als ein wie selbstverständlich wählbares Instrumentarium im Arsenal der Exekutive. Allerdings mag eine zunehmende Ausweitung der als akzep‐ tabel betrachteten Anlässe für die Verhängung von Ausnahmezuständen enthemmt wirken, der Expansion von Exekutivkompetenzen und mit ihr die Beschneidung von habeas-corpus-Rechten für bestimmte Zielgruppen wird hoffähig. Für eine solche Einschätzung sprechen zweierlei Gründe, einmal ein wahltaktischer, und zudem ein historisch-genealogischer. Betrachtet man die Entscheidung zur Suspendierung von habeas-corpus-Rechten, die lokal und damit implizit stark auf bestimmte Personen‐ gruppen (männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund) zugeschnitten war, aus einem wahltaktischen Kalkül heraus, dann entsteht eine win-win-Situation. Zunächst werden die Einwohner der betroffenen Pariser Vororte ohnehin nicht zum Wählerre‐ servoir der Regierung zählen. So kann davon ausgegangen werden, dass der mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes einhergehende Imageschaden im Sinne einer Negativauslese der Politik weitgehend folgenlos an der Exekutive vorüberzieht. Und nicht nur, dass sie in einer Wahl keine Stimmen verlieren wird, sie wird im Gegen‐ teil bei ihrer eigenen Wählerklientel punkten, die in der Zielgruppe der Ausnahme‐ zustandsregelung eine Projektionsfläche für tatsächliche oder vermeintliche Miss‐ stände ausgemacht hat. Insofern ist aus wahltaktischer Sicht die Entscheidung zur Suspendierung von Grundrechten angesichts der Unruhen nur folgerichtig. Eine sol‐ che, rein immanente, situative Erklärung würde aber die politische Dimension der Ausrufung des Ausnahmezustandes verkennen. Denn sie könnte nahelegen, dass der Ausrufung des Ausnahmezustandes eine offene, keineswegs aber eine tendenziell zwingende Entscheidungssituation vorausgegangen ist. Tatsächlich reiht sich der Ausnahmezustand von 2005 in eine lange Reihe ähnlich gelagerter Entscheidungen in der Geschichte der V. Republik ein. In diesem Zusammenhang sei noch einmal an das bereits vorgestellte Zitat aus Le Monde erinnert:

51 Zur Entwicklung des Instruments der Polizei im Kontext souveräner Staatlichkeit und Regie‐ rung vgl. Foucault 2004 449 ff. 52 Vgl. hierzu die Dekrete No2005-1386 (Ausrufung des Notstandes) und No 2005-1387 (Defini‐ tion derjenigen Gebiete und Großstädte, in denen der Notstand gilt).

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„Exhuming a 1955 law sends to the youth of the suburbs a message of astonishing bruta‐ lity: that after 50 years France intends to treat them exactly as it did their grandpar‐ ents.“53

Worauf Le Monde hier verweist, ist eine Reduktion der möglichen Differenz in poli‐ tischen Entscheidungsprozessen. Statt einer situativen Offenheit im Rahmen der in‐ stitutionellen Ordnung spielen offensichtlich historisch ererbte Muster der Zuschrei‐ bung von Äußerlichkeit für die tagespolitische Entscheidungsfindung eine Rolle. Dies führt de facto zu einer verminderten Rechtsgeltung für Personengruppen, deren tatsächlicher Grad an Integration in die politische wie soziale Kultur Frankreichs als relativ unterdurchschnittlich vermutet wird. Somit entsteht eine politische Pfadab‐ hängigkeit zugunsten einer Bereitschaft zur Exklusion von als außen stehend oder als abseitig wahrgenommenen de jure Staatsbürgern, die auch für künftige Situatio‐ nen die potenziellen Entscheidungsspielräume der Politik weiter verengen dürfte. Das qualitativ Neue an der Situation des Jahres 2005 besteht also einerseits in der Vermengung des Instruments des Ausnahmezustandes mit dem wahltaktischen Kal‐ kül, wodurch dem Souverän jenseits der Banlieue eine Ausschließung des Souve‐ räns in der Banlieue angeboten wird. Dieses Angebot funktioniert, weil der Souve‐ rän – auch hierin liegt übrigens eine Parallele zum US-amerikanischen Fall Kore‐ matsu vs. United States von 194454 – binnendifferenziert, und die Teile dann gegen‐ einander ausgespielt werden. Die Adressaten der Politik des harten Durchgreifens können als Wähler gewonnen werden, die Adressaten des harten Durchgreifens selbst waren nie Teil dieser Kalkulationen. Darüber hinaus greifen klassische Reakti‐ onsmuster, die auch in anderen Dekolonisierungskonflikten aus Sicht der Exekutive bereits funktioniert haben. Anstatt ein ernsthaftes Integrationsangebot zu formulie‐ ren, werden Repressionsmaßnahmen gegen Gruppen von Personen durchgesetzt, die von der Exekutive offenkundig nicht als Bürger – und dementsprechend nicht als schutzwürdige Mitglieder der politischen Gemeinschaft der Republik – betrachtet werden können. Sie können deswegen nicht als solche betrachtet werden, weil die politische Kultur der V. Republik seit ihrem Bestehen auf der Wahrnehmung eines politischen wie rechtlichen Gefälles zwischen sich selbst und seinen (ehemaligen) Kolonien gründet. Eine solche Asymmetrie in der Wahrnehmung setzt sich dann auch in der Sprache der Amtsträger der Republik fort, was sich anhand der entspre‐ chenden Äußerungen von Nikolas Sarkozy – damals noch französischer Innenminis‐ ter – belegen lässt. Sarkozy, der spätere Amtsnachfolger von Jacques Chirac als französischer Staatspräsident, profitierte unter anderem auch deswegen so massiv von der Situation, weil er die latent bestehenden Konfliktlinien zwischen Mutterland und ehemaligen Kolonien so zugespitzt formuliert hat. Im Rahmen eines Besuches in La Courneuve (Département Seine Saint-Denis, nördliche Banlieue Parisienne) – 53 Le Monde, zit. nach Aoláin/Gross, S. 201. 54 Vgl. hierzu auch ausführlicher Lemke 2012.

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schon vor dem Ausbruch der eigentlichen Unruhen des Jahres 2005 – kündigte Sar‐ kozy am 29. Juni 2005 gegenüber Einwohnern und im Beisein mehrerer Fernseh‐ teams an, die Staatsmacht werde das Problem des zunehmenden Vandalismus und der Gewaltkriminalität mit dem „Hochdruckreiniger“ beseitigen: „Der Begriff ‚kärchern’ ist der Begriff, der sich hier aufdrängt, weil das gesäubert wer‐ den muss.“55

Fortan konnte sich Sarkozy eines Images als Law-and-Order-Mann sicher sein, der eine Politik der Tolérance Zéro betrieb. Subjekt – hier im Wortsinne – seiner To‐ lérance Zéro waren jene, meist aus Nordafrika stammenden, vielfach von Armut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit sowie von Ausgrenzung betroffenen jungen Män‐ ner, denen, obschon sie französische Staatsbürger sind, nur sehr schwer ein Zugang zum Leben in Frankreich jenseits der Banlieue offen stehen würde. Für Sarkozy wa‐ ren sie jene „racaille“, jenes Gesindel, jener Abschaum, den er mit dem Hochdruck‐ reiniger zu beseitigen gedachte. Noch deutlich verquerer – und in Teilen subtiler – wird die Begründungslage, wenn man die Regierungserklärung von Premierminister Dominique de Villepin vom 8.11.2005 heranzieht,56 in der dieser die Verhängung des Ausnahmezustandes vor der Assemblée Nationale gerechtfertigt hat. In seiner Argumentation verknüpft de Villepin zwei Ebenen – einmal das Bemühen der Regierung um die Wiederher‐ stellung der öffentlichen Ordnung und zum anderen das damit einhergehende Gleichheitsgebot aller Franzosen als Staatsbürger („l’exigence républicaine“57). Die‐ se argumentative Strategie ist insoweit bemerkenswert, als dass sie gezielt verschlei‐ ert, was de facto den Kern der hegemonialen Krisenerzählung ausmacht. Während Dominique de Villepin in seinem Teil der Regierungserklärung relativ neutral von „organisierter Kriminalität“ spricht, von der im Rahmen eines „Kampfes“ „Unord‐ nung“, „Gewalt“, „Tristesse“ und eine weit verbreitete „Unsicherheit“ in „zerstörten Stadtvierteln“58 ausgeht, formuliert er – auch hierin wenig kontrovers – das Ziel sei‐ ner Politik. Ihm geht es, weil „Sicherheit über alles geht“59 darum, die „Ruhe und den zivilen Frieden wieder herzustellen“60. Interessant ist hier das Adjektiv zivil, das einerseits als nicht-kriegsbezogen, andererseits aber auch im Sinne von zivilisiert verstanden werden kann. Welche Variante der Begriffsbedeutung gemeint sein könnte, wird im Fortgang der Debatte im Rahmen des Auftritts von Nicolas Sarkozy deutlich, der in seiner Funktion als Innenminister im Rahmen der gleichen Sitzung der Assemblée Natio‐ 55 56 57 58 59 60

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France 2, 29.6.2005. Vgl. Journal officiel de la République française 2005. Ebd., S. 6483. Ebd., S. 6478, 6483. Ebd., S. 6478. Ebd., S. 6479.

nale vor den Abgeordneten Stellung nimmt. Bei Sarkozy verliert sich – im Unter‐ schied zu den Ausführungen de Villepins – die Neutralität bei der Bezeichnung des für die Unruhen und damit für die Verhängung des Ausnahmezustandes ursächlichen Akteurs. Anstelle von organisierter Kriminalität spricht Sarkozy von einem vielsei‐ tigen Frankreich, von „la France multiple“61, was bei ihm jedoch die interessante Doppeldeutigkeit des binnendifferenzierten Souveräns wieder eröffnet. Damit ist je‐ ne Ausschließung sprachlich erneut eingeführt, die de Villepin so vehement versucht hatte auszublenden. Und entsprechend drastisch fallen die Bezeichnungen Sarkozys aus, wenn es um die Benennung der Vorstadtbewohner als Verursacher der Unruhen geht: hier handele es sich um „Banden“, um „Aufständische“62 im Sinne nicht zivili‐ sierter Horden63. Dass eine solche Bezeichnung der Beteiligten, der vermeintlich kollektiv ursäch‐ lichen Gruppen von Jugendlichen maghrebinischer Herkunft in ganzen Stadtteilen, den Ausnahmezustand von 2005 und 2006 in der Banlieue Parisienne und darüber hinaus in den Kontext der Dekolonisierungskonflikte der V. Republik rückt, ist evi‐ dent. Allzumal es sich dabei nicht etwa um eine ex post konstruierte Bedeutungszu‐ schreibung handelt, sondern um eine Feststellung aus der Debatte selbst heraus. So hatte der Abgeordnete François Asensi (PCF) in seinem Redebeitrag in Reaktion schon auf Dominique de Villepin festgestellt: „Ihre Regierung erneuert nach fünfzig Jahren eine der dunkelsten Seiten in der Geschich‐ te unseres Landes: die eines Kolonialkrieges.“64

Das von Sarkozy explizit so bezeichnet Gesindel jedenfalls wurde, in der Zeit vom 8.11.2005 bis zum 4.1.2006, derjenige, sozusagen subjektivierte Ort,65 an dem die Expansion der Exekutivmacht als nachgelagerter Kolonialisierungskonflikt vollzo‐ gen werden konnte. Was bleibt, ist offizielle Statistik, doch wie so oft sind Zahlen wenig aussagefähig, wenn es um politische oder soziale Phänomene geht. Was etwa bedeuten die im Zuge der Verhängung des Ausnahmezustandes durchgeführten, mehr als 2.800 vorläufige Festnahmen in den betroffenen städtischen Gebieten? Be‐ legen sie den ‚Erfolg’ dieser Praxis? – Wohl kaum. Für Sarkozy war die Befürwor‐ tung und die damit einhergehende Enthemmung der Normsuspendierung im Kontext 61 Ebd., S. 6494. 62 Ebd., S. 6492. 63 Vgl. hierzu ebd.: „Der Innenminister (i.e. Nikolas Sarkozy, ML): Anstelle des Begriffs der ‚Asozialität’ bevorzuge ich den der Aufruhr, der Aufrührer und der Randalierer.“ 64 Ebd., S. 6488; Asensi führt weiter aus: „Es ist also der Liberalismus, auf den wir heute mit dem Finger zeigen, und nicht unser Gesellschaftsmodell. Wenn das letztere nicht funktioniert, dann liegt das an einer Politik, die einen alle Formen von Solidarität zerstörenden Liberalismus propagiert oder begleitet hat. Diese Politik hat unsere Republik und ihre Werte ihres Sinns be‐ raubt.“ 65 Zu den kulturellen Mechanismen der Ausgrenzung, zu denen auch die (meist unfreiwillige, gleichwohl aber stigmatisierende) Wahl des Wohnortes gehört, vgl. paradigmatisch Bourdieu 1979.

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seiner Politik der Tolérance Zéro ein Baustein für die bei der Präsidentschaftswahl 2007 letztlich erfolgreiche Integration des Lagers der rechten Mitte. Doch könnte – mit Blick auf die eingangs zitierten Äußerungen von Raymond Aron und Charles de Gaulle – dieser Erfolg teuer erkauft worden sein. Denn die Selbstverteidigung der Republik unter Rückgriff auf den Ausnahmezustand hat, wie besonders anhand des Beispiels der Vorstadtunruhen von 2005/06 deutlich geworden ist, insofern einen im‐ mensen Schaden angerichtet, als die Integration des Souveräns und somit die der Französischen Republik selbst zumindest brüchig geworden ist.

Terrorismus des „IS“ Auch die Analyse der politischen Öffentlichkeit im Zusammenhang mit dem Aus‐ nahmezustand 2015–2017 kann angesichts der immensen Materialfülle nur exempla‐ rischen Charakter haben.66 Die Auswahl der hier besprochenen Texte konzentriert sich daher auf drei Reden: Zwei zum Beginn des Ausnahmezustandes im November 2015 und eine zu seiner Aufhebung im Oktober 2017. Durch diese Fokussierung auf die Ränder des Ausnahmezustands kann einerseits eine komprimierte Analyse politi‐ scher Öffentlichkeit sichergestellt werden; andererseits treten dadurch die erweiterte politische Öffentlichkeit und Kritik sowie alternative Deutungsangebote in den Hin‐ tergrund. Dennoch erscheint ein solches Vorgehen aufgrund der situativen Deutungs‐ macht hochrangiger Vertreter der Exekutive, des Staatspräsidenten und des Premier‐ ministers, als legitim. Wenden wir uns der exemplarischen politischen Öffentlichkeit nach den Anschlä‐ gen des 13.11.201567 zu: Rahmen und Ort der Rede François Hollandes am 16.11.2015 zeugen von mehr als nur symbolischer Entschlossenheit: Wenn der fran‐ zösische Congrès, der beide Kammern des Parlaments, die Assemblée Nationale und den Sénat, umfasst, im Schloss von Versailles zusammenkommt, dann ist das ein seltenes Ereignis aus besonderem Anlass. Die Besonderheit hatte Hollande selbst noch vor Beginn seiner Rede auf eine prägnante Formel verdichtet. Die Verbrechen, der Terrorismus des 13.11.2015 war bei ihm zu einem „Akt des Krieges“ 68 avan‐ ciert: „Frankreich“, so der erste Satz der Rede, „befindet sich im Krieg“ .69 Diese ungemein starke Formulierung zur Beschreibung der Situation nach den Anschlägen – Frankreich, angegriffen, durch eine „neue Qualität des Terrorismus“ (ebd.) von

66 Vgl. zu den Ausführungen dieses Kapitels auch Lemke 2019 (i.E.). 67 Die nachfolgende Analyse orientiert sich, was die Reden von Staatspräsident Hollande und Premierminister Valls anbelangt, an Lemke 2017, S. 247–258. 68 »Ce qui s’est produit hier à Paris et à Saint-Denis […] est un acte de guerre et face à la guerre, le pays doit prendre les décisions appropriées.« (Hollande 2015 c) 69 Hollande 2015 c.

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seinen „Feinden“70 (ebd.) überrascht, zur Reaktion aus der Defensive heraus genö‐ tigt – setzt den Standard für alle weiteren, bloß noch konsekutiven Plausibilisierun‐ gen. Der diskursive Möglichkeitsraum wird eingeschränkt, Zustimmung zu den Maßnahmen der Exekutive ist obligatorisch. Wie stark die von Hollande gewählte und von Manuel Valls später aufgegriffene Formulierung ist, lässt sich anhand der beiden erstgenannten Plausibilisierungsmus‐ ter – Schaffung einer Situation der Äußerlichkeit und Freund-Feind-Unterscheidung – illustrieren. Beide sind, wenn, dann nur analytisch, nicht aber hinsichtlich des Bil‐ des, das sie zur Handlungsermöglichung entwerfen, zu trennen. Die Aussage „Frankreich befindet sich im Krieg“ (ebd.) impliziert eine Binnenintegration der Ge‐ samtheit der französischen Nation71, dem „Land der Freiheit“ (ebd.), als Angegriffe‐ ne und als die Äußerlichkeit des Angreifers betonende Zuschreibung gleichermaßen. Angesichts einer französischen Nation, die als Werteverbund zum kollektiven Opfer geworden ist,72 entwirft Hollande ein Täterbild von „feigen Mördern“ (ebd.), von „Barbaren“ (ebd.), das die Frage nach der Anerkennung des anderen als legitimem Kombattanten gar nicht erst aufkommen lässt. Nach der konkreten Zuschreibung einer Gruppenverantwortung an den sogenannten Islamischen Staat – „eine djihadis‐ tische Armee, die Gruppe Daesch73, die uns bekämpft […]“ (ebd.) – folgen zahlrei‐ che, mitunter auch nur implizite Attribuierungen, deren gegenteilige Assoziationen und Entsprechungen die „Terroristen“ qualifizieren. Frankreich ist Freiheit, Demo‐ kratie, Republik, es „liebt das Leben, die Kultur, den Sport, das Feiern“ (ebd.), ohne dabei nach Hautfarbe, Herkunft, Bildungsgrad oder religiöser Zugehörigkeit zu un‐ terscheiden. Alle diese Eigenschaften machen die französische Nation in ihrer Ge‐ samtheit aus – und für die Terroristen hassenswert.74 Die Terroristen, auch wenn sie zu Teilen aus Frankreich stammen sollten und damit eigentlich über die Staatsbür‐ gerschaft Anteil an der französischen Nation haben,75 repräsentieren das andere, die völlige Negation der vorstehenden Eigenschaften, Werte, Institutionen. Damit ist die 70 »Cependant, avec les actes de guerre du 13 novembre, l’ennemi a franchi une nouvelle étape.« (ebd.) 71 »Vendredi, c’est la France tout entière qui était la cible des terroristes.« (ebd.) 72 »Les actes commis vendredi soir à Paris […], sont des actes de guerre. Ils ont fait au moins 129 morts et de nombreux blessés. Ils constituent une agression contre notre pays, contre ses valeurs, contre sa jeunesse, contre son mode de vie.« (ebd.) 73 In Frankreich wird zur Bezeichnung des sogenannten Islamischen Staats von ›Daesh‹ (deut‐ sche Schreibweise: ›Daesch‹) gesprochen. Diese Abkürzung gilt bei Mitgliedern der Terroror‐ ganisation als beleidigend. 74 Vgl. ganz in diesem Sinne auch Valls 2015: »Ne nous y trompons pas : le terrorisme a frappé la France, non pas pour ce qu’elle fait en Irak, en Syrie ou au Sahel, mais pour ce qu’elle est.« 75 Die Trennlinie, die Hollande zieht, verläuft nicht zwischen Franzosen und Nichtfranzosen, son‐ dern zwischen Franzosen (und all jenen, die deren Werte teilen) und den Terroristen als Ver‐ körperung der Negation dieser Werte. Die Zuschreibung der Kombattantenrollen erfolgt damit postnational im globalisierten Raum: »Nous le savons, et c’est cruel que de le dire, ce sont des Français qui ont tué vendredi d’autres Français. Il y a, vivant sur notre sol, des individus qui, de la délinquance passent à la radicalisation puis à la criminalité terroriste. Parfois, ils sont al‐

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Konfliktstellung keinesfalls auf Frankreich beschränkt, sie ist global76: auf der einen Seite die französische Nation und alle, die deren Werte teilen; auf der anderen die Terroristen. Das, worum es in diesem Konflikt geht, ist die existenziell gemeinte Durchsetzung eines Lebensstils gegen einen anderen. Erfolg tritt in dieser Logik ge‐ nau dann ein, wenn die eine Seite den Lebensstil der anderen vernichtet hat. Und Hollande macht sich diese Logik, die ja eigentlich den radikalen islamistischen Dji‐ hadismus ausmacht, gleichsam mit zu eigen, wenn er ebenfalls kompromisslos for‐ dert: „Wir werden den Terrorismus auslöschen.“ (ebd.). Die Plausibilisierungsstrate‐ gie der Schaffung einer Situation der Äußerlichkeit mündet damit in eine globale Di‐ mension, die durch die Freund-Feind-Unterscheidung zudem existenziell aufgeladen wird. Radikaler lässt sich eine Konfliktstellung nicht formulieren, denn sie lässt kei‐ nen Raum mehr für eine weitere, über diese Zuspitzung hinausreichende Eskalation. Auch die Plausibilisierungsstrategie des Effizienzgebotes wird in der Rede be‐ dient: „Angesichts der kriegerischen Handlungen, die auf unserem Territorium ausgeübt wor‐ den sind – und die sich an die Attentate des 7., 8. und 9. Januar und an so viele andere, im Laufe der vergangenen Jahre im Namen einer und derselben djihadistischen Ideologie begangenen Verbrechen anschließen – müssen wir erbarmungslos reagieren.“ (ebd.)

In seiner Erklärung am Abend der Attentate hatte Hollande noch etwas zurückhal‐ tender geklungen: „Im Angesicht des Terrors muss Frankreich stark sein; es muss groß sein und die staatlichen Autoritäten entschlossen. Das werden wir sein.“ (ebd.). Die rhetorische Zielperspektive bleibt jedoch unverändert: Unter Verweis auf vor‐ gängige Anschläge und Verbrechen,77 in deren Ablauf er die Ereignisse des 13.11.2015 einordnet, sodass diese – obschon es sich um grundsätzlich distinkte Ak‐ te handelt – wie eine Art maximale Eskalation in einer langen Reihe terroristischer Aktivitäten auf französischem Boden erscheinen, ist die Forderung nach einem har‐ ten, effizienten Durchgreifen der Exekutive selbstevident. Frankreich müsse „seine Kräfte mobilisieren“ (ebd.), denn nur hartes, effizientes Durchgreifen, ebenso erbar‐ mungsloses wie entschlossenes Handeln, ohne Rücksicht, ohne Umkehr, ohne Gna‐ de führt zum Erfolg. Die schiere Notwendigkeit – das vierte gängige Plausibilisierungsmuster im Zu‐ sammenhang mit der Implementierung von Ausnahmezuständen – erhellt unmittel‐ lés combattre en Syrie ou en Irak. Parfois ils forment des réseaux qui s’entraînent en fonction des circonstances, ou qui s’entraident pour mener à un moment que leurs commanditaires ont choisi des actes terroristes.« (Hollande 2015 c) 76 Vgl. ebd.: »Ce qui a été visé par les terroristes, c’était la France ouverte au monde. Plusieurs dizaines d’amis étrangers font partie des victimes, représentant 19 nationalités différentes. […] la nécessité de détruire Daech constitue un sujet qui concerne toute la communauté internatio‐ nale.« 77 Gemeint sind die Überfälle auf die Redaktion von Charlie Hebdo sowie auf einen jüdischen Supermarkt »Hyper Cacher« an der Porte de Vincennes im Osten von Paris.

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bar aus der Forderung nach erbarmungslosem und entschlossenem Handeln. Sie er‐ weitert dieses um eine spezifische Kausalität. Die Exekutive ist in dieser Erzähllogik bloß reaktive Kraft: „Wir müssen“, so Hollande, „uns verteidigen, jetzt akut und auf lange Sicht“ (ebd.). Es sind die Terroristen und ihre Attentate, die der französischen Regierung die Ausweitung ihrer Kompetenzen zum Zweck der Durchsetzung von Sicherheit nachgerade aufzwingen. Hinsichtlich der normativen Bewertung des Han‐ delns der Exekutive macht das einen gewaltigen Unterschied: Nicht die Regierung will oder strebt nach mehr Macht, sie wird durch die Ereignisse zu ihrer Ermächti‐ gung gedrängt. Angesichts dieser Plausibilisierungsstrategie erscheint die Verhängung des Aus‐ nahmezustandes als folgerichtig, nicht hinterfragbar, wie sie von Hollande bereits in der Nacht vom 13. auf den 14.11.2015 verkündet worden war: „[…] der Ausnahmezustand wird angeordnet, was bedeutet, dass der Zugang zu be‐ stimmten Orten unterbunden wird; der öffentliche Verkehr kann verboten werden; und es werden zudem Hausdurchsuchungen stattfinden, was den gesamten Pariser Großraum [Île-de-France] betrifft. Der Ausnahmezustand wird für das gesamte Staatsgebiet ausge‐ rufen.“ (ebd.)

Die Sprachmuster zur Plausibilisierung des Ausnahmezustandes erweisen sich – das mag ein erster Befund zur Charakteristik der Rede sein – als sehr verdichtet und überaus stark ineinander verschränkt: Weder sind die Situation der Äußerlichkeit und die Freund-Feind-Unterscheidung noch das Effizienzgebot und die Notwendig‐ keit auch nur ansatzweise voneinander zu trennen. Dichte und Verschränkung der Sprachmuster in der Choreographie der Rede zeigen deutlich, wie sehr sich die Exe‐ kutive um die Darstellung entschlossenen, zielgerichteten und letztlich erfolgreichen Handelns bemüht. Bis hierhin bedient die Rede damit alle für die Plausibilisierung von Ausnahmezuständen in repräsentativen Demokratien typischerweise festzustel‐ lenden Muster, auch wenn die Akzentuierung auf dem der Situation der Äußerlich‐ keit und der Freund-Feind-Unterscheidung liegt. Darüber hinaus enthält sie etwas Neues. Denn mit der vorstehenden Akzentuie‐ rung geht eine kaum merkliche, dafür aber politisch umso wirkungsmächtigere Ver‐ schiebung des Fokus der öffentlichen Debatte einher: Das ‚Was’ – nämlich die Be‐ kämpfung der Gruppe Daesch – steht außer Frage. Es geht einzig noch um das ‚Wie’ – und um dessen möglichst optimale Ausgestaltung. Hollande kündigte hierzu einen Gesetzentwurf an, der dieses ‚Wie’ weiter spezifizieren und das Arsenal der an‐ wendbaren Maßnahmen signifikant erweitern würde: „Ich habe entschieden, dass das Parlament ab Mittwoch [18.11.2015] mit einem Gesetz‐ entwurf befasst werden wird, der den Ausnahmezustand um drei Monate verlängern und

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seinen Inhalt an die technologischen Entwicklungen sowie die der aktuellen Bedrohungs‐ lage anpassen wird.“78)

Denn aktuell verfüge Frankreich zwar über einschlägige Regime zur rechts- und grundrechtskonformen Reaktion auf manifeste Krisensituationen. Beide jedoch wür‐ den jeweils spezifische Unzulänglichkeiten aufweisen: „Das erste Regime besteht im Rückgriff auf Artikel 16 der Verfassung. Es setzt voraus, dass der Normalvollzug der öffentlichen Gewalten nicht mehr gewährleistet ist. Der Prä‐ sident der Republik ergreift daraufhin die notwendigen Maßnahmen und darf dabei von der Verteilung der verfassungsmäßigen Kompetenzen abweichen. Und dann gibt es den Artikel 36 der Verfassung, der den Belagerungszustand regelt. Auch er taugt nicht für die aktuelle Situation. Der Belagerungszustand wird im Falle unmittelbarer Bedrohung in Folge eines Staatenkrieges oder eines bewaffneten Aufstandes verhängt. In diesem Falle werden verschiedene Kompetenzen von der zivilen an die militärische Administration übertragen.“ (ebd.)

Beide Regime, so das Urteil Hollandes, träfen, wie jeder zweifelsohne zugestehen müsse, auf die gegenwärtige Situation nicht zu. Folglich delegiert er an seinen Pre‐ mierminister die Aufgabe der legislativen Umsetzung erforderlicher Anpassungen der bestehenden rechtlichen Instrumente zur Krisenintervention im Ausnahmezu‐ stand. Das zentrale Anliegen, das Manuel Valls drei Tage nach dem Auftritt Hollandes am 19.11.2015 verfolgt, besteht dementsprechend nicht primär darin, Zustimmung für die ohnehin unstrittige, von der Exekutive vorgegebene Marschroute zu generie‐ ren. Dass zwischen seine und die Position des Präsidenten nicht einmal das sprich‐ wörtliche Blatt Papier passt, macht schon die drastische Wortwahl deutlich, mit der er Verlauf und Folgen der Attentate beschreibt: „Einhundertneunundzwanzig Men‐ schenleben79 wurden ausradiert, ohne jedes Mitleid.“80 Noch viel wichtiger als die Herstellung und Festigung der ohnehin gegebenen nationalen Einheit ist hingegen – entsprechend des präsidialen Auftrages – die Schaffung einer für das Exekutivhan‐ deln möglichst optimalen gesetzlichen Ausgangslage. Dementsprechend lautet die zentrale Aussage in der Rede von Manuel Valls vor der Assemblée Nationale: „Meine Damen und Herren Abgeordneten, weil die terroristische Bedrohung da ist, weil unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger von uns verlangen, alles zu unternehmen, um sie 78 Hollande 2015 c. Und er fährt fort: » […] la loi qui régit l’état d’urgence, la loi du 3 avril 1955 ne pouvait pas être conforme à l’état des technologies et des menaces que nous rencontrons aujourd’hui. Mais elle comporte deux mesures exceptionnelles: l’assignation à résidence et les perquisitions administratives. Ces deux mesures offrent des moyens utiles pour prévenir la commission de nouveaux actes terroristes. Je veux leur donner immédiatement toute leur por‐ tée et les consolider. Le Premier ministre proposera donc au Parlement d’adopter un régime juridique complet pour chacune de ces dispositions. Et mesdames, messieurs les parlemen‐ taires, je vous invite à le voter d’ici la fin de la semaine.« 79 Laut polizeilicher Angaben sind in Folge der Attentate 130 Menschen ums Leben gekommen. 80 Valls 2015.

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zu schützen, weil wir unser Handeln effizient weiterführen müssen, deswegen muss der Ausnahmezustand für das gesamte Territorium […] verlängert werden. Die Dauer, die Ih‐ nen zur Entscheidung vorliegt, beläuft sich auf drei Monate. Sie wird es erlauben, die Ausschaltung und Zerstörung der Terrornetzwerke zu beschleunigen, ganz im Zeichen des Respekts für die juristische Aufarbeitung, die auf mittlere und lange Sicht die einzige Antwort sein kann, um diese Netzwerke zu neutralisieren. Die Verlängerung des Ausnah‐ mezustandes muss einhergehen mit einer Modernisierung der durch das Gesetz von 1955 bereitgestellten Möglichkeiten, denn als dieses verabschiedet wurde, war der Kontext gänzlich anders. Das Gesetz von 1955 wurde für die Bewältigung ziviler Unruhen ge‐ schaffen und nicht, um dem Terror des 21. Jahrhunderts die Stirn zu bieten! Es sieht sich nun mit einem rechtlichen wie auch technologischen Umfeld konfrontiert, das mit jenem seiner Entstehungszeit nichts mehr zu tun hat: Die Terroristen wissen das sehr wohl.“ (ebd.)

Die für Valls durch den „totalitären“ (ebd.) Terrorismus massiv veränderten Umfeld‐ bedingungen machen für ein effektives Krisenmanagements die Modernisierung des Gesetzes unumgänglich. Das forderten schließlich auch die Bürgerinnen und Bürger: „Sie erwarten von uns allen harte, schnelle und effektive Antworten.“ (ebd.). Und er lässt keinen Zweifel daran, dass sie diese harten, schnellen und effektiven Reaktio‐ nen von Exekutive und Legislative auch geliefert bekommen werden: „Frankreich kämpft“ (ebd.), aber es kämpft, vereint, entschlossen, auf dem Boden des Rechts. Das Recht zum Ausnahmezustand selbst wird so zur Waffe.81 Es muss dementspre‐ chend, wenn es in diesem „neuen terroristischen Krieg“ (ebd.) effektiv funktionieren und entscheidend dazu beitragen soll, dass Frankreich die Herausforderung über‐ steht, angepasst – um nicht zu sagen: verschärft – werden. Die im Schnellverfahren behandelte Modifikation des Gesetzes No55-385 unter dem Titel Projet de Loi, prorogeant l’application de la loi No55-385 du 3 avril 1955 relative à l’état d’ur‐ gence et renforçant l’efficacité de ses dispositions82 enthält drei Kernelemente, die zusammen die „schnelle und starke“ (ebd.) Reaktion ermöglichen, die jetzt erforder‐ lich sei: (1) Tatbestandserweiterung – Die bisherige Formulierung des Anwendungsberei‐ ches, wonach sich Maßnahmen lediglich auf „[jede Person,] deren Aktivität sich als gefährlich für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erweist“83,84 erstrecken dür‐ fen, soll, weil sie aus Sicht der Exekutive als zu restriktiv erscheint, gestrichen wer‐ den. An ihrer Stelle soll folgender Teilsatz eingefügt werden: „[jede Person,] in An‐ betracht derer ernstzunehmende Gründe vorliegen, die darauf schließen lassen, dass 81 Vgl. Valls 2015: »Nous devons être unis, et parce que nous sommes une grande démocratie, nous appuyer sur la force de notre droit. Or, la force de notre droit, c’est notamment l’état d’ur‐ gence.« 82 Vgl. Valls/Cazeneuve (2015) und La Commission des Lois Constitutionnelles, de la Législati‐ on et de l’Administration générale de la République (2015). 83 Im Original: »[de toute personne] dont l’activité s’avère dangereuse pour la sécurité et l’ordre publics«. 84 Valls/Cazeneuve 2015.

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sein/ihr Verhalten eine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar‐ stellt“85 (ebd.). Diese Umformulierung des Tatbestandes kommt einer Ausweitung durch Aufweichung gleich. Indem nun nachrichtendienstlich oder sonst wie gewon‐ nene Erkenntnisse über Verhalten, Bewegungsprofile, Absichten in die Beurteilung der Gefährdungslage nicht nur einfließen, sondern in ihrer Potenzialität auch ver‐ folgbar werden, wächst der Bereich justiziablen Verhaltens signifikant an – und zwar ohne dass es einer Tat im Sinne eines Verbrechens bedarf. (2) Verschärfung individueller und kollektiver Grundrechtseinschränkungen – Die Rechte auf Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit einzelner Personen werden ebenso eingeschränkt wie das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Bürgerinnen und Bürger können von den Exekutivbehörden aufgefordert werden, sich an einen be‐ stimmten Ort zu begeben, dort zu verbleiben oder aber sich regelmäßig bei den Poli‐ zei- oder Meldebehörden zwecks Überprüfung des Aufenthaltsortes vorzustellen. Einzig die Bildung von Camps zum Zwecke der Internierung von Bürgerinnen und Bürgern bleibt – nach den einschlägigen Erfahrungen im Kontext des Algerienkrie‐ ges – verboten. Auf kollektiver Ebene wird zudem das Recht auf Zusammenschluss, gleich welcher Natur er sein mag, verdachtsabhängig eingeschränkt. Von der Intenti‐ on dieser Bestimmung her86 erweitern sich auch hier die Kontroll- und Sanktions‐ möglichkeiten der Exekutive. Terroristische, oder in der gegenwärtigen Situation: is‐ lamistische und/oder djihadistische Gruppierungen oder religiöse Zusammenschlüs‐ se oder solche, die unter entsprechendem Verdacht stehen, sollen auf Grundlage die‐ ser Bestimmung aufgelöst werden können. (3) Informationspflicht – Die Exekutive soll, entsprechend der Bestimmung von Artikel 4-1, der ebenfalls neu eingefügt wird, beide Kammern der Legislative „ohne jeden Vollzug“ (vgl. ebd.) von ihren Beschlüssen zum Ausnahmezustand unterrich‐ ten.87 Valls argumentiert vor der Assemblée Nationale, dass es gerade in der Krise gelte, verstärkt „aufeinander zu hören“ (ebd.) und Informationen auszutauschen. In der einschlägigen Passage seiner Rede88 bleibt indes eine inhaltliche Begründung aus, was, wenn man die Exekutive und die Legislative als distinkte Akteure der poli‐ 85 Im Original: »[de toute personne] à l’égard de laquelle il existe des raisons sérieuses de penser que son comportement constitue une menace pour la sécurité et l’ordre publics«. 86 Der neu eingefügte Art. 6-1 im Wortlaut: »Sans préjudice de l’application de l’article L. 212-1 du code de la sécurité intérieure, sont dissous par décret en conseil des ministres les associati‐ ons ou groupements de fait qui participent à la commission d’actes portant une atteinte grave à l’ordre public ou dont les activités facilitent cette commission ou y incitent.« 87 Vgl. Art. 4-1: »L’Assemblée Nationale et le Sénat sont informés sans délai des mesures prises par le Gouvernement pendant l’état d’urgence. Ils peuvent requérir toute information complé‐ mentaire dans le cadre du contrôle et de l’évaluation de ces mesures.« 88 Vgl. Valls 2015: »Moderniser la loi de 1955, c’est aussi mieux informer le Parlement. Depuis ce week-end, celui-ci est associé très étroitement. Dimanche, le Président de la République a reçu les présidents des assemblées, les présidents de tous les groupes parlementaires et les pré‐ sidents des commissions concernées. Lundi, le chef de l’État s’est exprimé devant le Parlement réuni en Congrès. À l’initiative de Jean-Jacques Urvoas, avec le soutien de tous les groupes, un

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tischen Öffentlichkeit begreift, die Interpretation zulässt, dass durch derlei Vorab‐ stimmungen der diskursiv-offene Charakter öffentlicher Debatten zumindest herab‐ gesetzt wird. Denn informieren ist nicht diskutieren, und die Informationspflicht der Exekutive gegenüber der Legislative muss nicht notwendigerweise in der Öffentlich‐ keit vollzogen werden. Diese drei Kernmaßnahmen zur Modernisierung des état d’urgence lassen sich al‐ lesamt in eine Richtung deuten. Es geht – auf individueller, auf kollektiver wie auch auf politisch-institutioneller Ebene – um die Steigerung von Konzentration und Kon‐ trolle in der politischen Arena. Gleichsam indes, so betont das Exposé zum Gesetz‐ entwurf, gelte es, nicht mehr erforderliche Grundrechtseinschränkungen, die noch aus der Zeit des Algerienkriegs stammen, aufzuheben: „Die vorgeschlagenen Modifikationen zielen zudem auf die Aufhebung vorgesehener Maßnahmen, die aus dem Kontext der Zeit stammen, in dem das Gesetz ursprünglich be‐ schlossen worden war und die heute keiner ernsthaften Überprüfung mehr standhalten, wie beispielsweise die Kontrolle der Presse oder anderer Veröffentlichungen.“ (ebd.)

Diese Formulierung ist schwierig einzuordnen. Denn sie zielt in einer Phase der Konzentration der Exekutivkompetenzen auf die dezidierte Aufgabe bestehender Kontrollbefugnisse. Zwei miteinander konkurrierende Motivlagen können sie erklä‐ ren: Entweder es geht der Exekutive tatsächlich um einen nachhaltigen Grundrechte‐ schutz im Bereich der Presse- und Informationsfreiheit, oder aber sie gibt ein in Zei‐ ten von Social Media, Smartphones und Internet ohnedies nicht mehr zu kontrollie‐ rendes Terrain symbolisch preis, um mit dieser Preisgabe andere, restriktive Maß‐ nahmen zu verschleiern. Angesichts des bisher festgestellten Tenors der zur Be‐ schlussfassung vorliegenden Maßnahmen gibt es gute Gründe anzunehmen, dass eher letzteres Motiv – und damit die Expansion des Ausnahmezustandes – aus‐ schlaggebend zu sein scheint. Eine dritte exemplarische Einlassung zum Ausnahmezustand, die hier Berück‐ sichtigung finden soll, ist jene Emmanuel Macrons, die er im Rahmen der Abwick‐ lung des Ausnahmezustandes am 19.10.2017 vor Vertretern der Sicherheitsorgane gehalten hat. Im Unterschied zur diskursiven Positionierung von Hollande und Valls geht es Macron nunmehr, Mitte Oktober 2017, nicht mehr darum, die Verschärfung oder die Fortschreibung des Ausnahmezustandes zu plausibilisieren. Stattdessen geht es ihm um die Gestaltung des Übergangs vom Ausnahmezustand in die nach‐ ausnahmezustandliche Phase:

amendement important a été adopté prévoyant l’information du Parlement s’agissant des mesu‐ res prises pendant l’état d’urgence. Le Gouvernement y est bien évidemment favorable, et je vous proposerai par ailleurs des rendez-vous réguliers pour faire le point sur sa mise en œuvre et, avec les ministres concernés, vous fournir toutes les informations nécessaires et possibles, sur la lutte antiterroriste sur notre sol et nos opérations militaires au Levant.«

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„Ich habe schon sehr früh gesagt, dass ich mir wünsche, dass wir den Ausnahmezustand wieder verlassen können. Der Ausnahmezustand war ein Mittel der ersten Tage, der ers‐ ten Wochen nach den Anschlägen, und er hat erste sehr effektive Maßnahmen ermög‐ licht. Aber, wie wir seit einigen Monaten sehen können, entspricht der eigentliche Nutzen des Ausnahmezustandes nicht mehr den Anforderungen. Er schützt leider nicht gegen be‐ stimmte Formen von Attentaten, weil kein Staat, welcher auch immer es sei, vollumfäng‐ lich gegen jegliche Bedrohung Schutz gewähren kann.“ (Macron 2017).

Ein wesentliches Element der Gestaltung dieses Übergangs liegt in dem immer wie‐ derkehrenden Hinweis, dass der Ausnahmezustand per se nur ein Provisorium sein könne, das nur für einen begrenzten Zeitraum und im Anbetracht außergewöhnlicher Umstände angewendet werden dürfe. Noch dazu, auch das eine bemerkenswerte, wenn auch wohl als politisch-strategisch einzuschätzende Aussage, erteilt er einem umfassenden Sicherheitsdenken, wonach immer mehr Sicherheit durch den Staat möglich wäre, eine Absage. Mit dieser binären Logik – der Ausnahmezustand gilt, oder aber er gilt nicht – macht er sich eine stark legalistische Perspektive zu eigen, die hinsichtlich der Komplexität der ausnahmezustandlichen Praxis insgesamt als verkürzt erscheint. Anstelle eines Provisoriums, so Macron weiter, müsse es maßge‐ schneiderte gesetzliche Regelungen geben, die anstelle der nur allgemein ausgestal‐ teten Bestimmungen des Ausnahmezustandes tatsächlich auf die Herausforderung des islamistischen Terrorismus passen: „Zudem ist es unabdingbar, diese Situation, die per Definition nur provisorisch sein kann, zum 1. November zu beenden, das aber heute mit einem gesetzlichen Instrument zu tun, an dem sie lange gearbeitet haben, das solide und wesentlich mehr auf die Bedrohung, auf ihre Natur ausgerichtet ist und das es erlauben wird, wie ich hoffe, auf die Herausfor‐ derung durch den islamistischen Terrorismus effektiv zu reagieren.“ (ebd.)

Bei einer solchen gesetzlichen Regelung, wie sie die Gesetzesvorlage zur Stärkung des Kampfes gegen den Terrorismus (2017–1510) mit Blick auf die Ergänzung des Code de la sécurité intérieure vorlegt, gelte es zudem, die Balance zwischen effekti‐ ver Herstellung von Sicherheit und der Wahrung individueller Freiheitsrechte zu wahren: „Dieses Gesetz wird Ihnen gerade im Bereich des Ordnungs- und Verwaltungsrechts neue Kompetenzen an die Hand geben, und es wird Ihnen obliegen, diese so anzuwenden, dass die Anwendung im Einklang mit den individuellen Freiheitsrechten steht, so dass diese Maßnahmen es wiederum dem Ausnahmezustand erlauben werden, seine eigentliche Funktion eines nur in Ausnahmefällen anzuwendenden Regimes wiederzufinden. Mit diesem Text und ohne unseren Prinzipien und Werten zu widersagen, geben wir Ihnen dauerhaft die Mittel, damit Sie effektiver arbeiten können, denn was uns alle schützt, das ist nicht ein Text, sondern das ist die Effektivität der gemeinsamen Organisation, die die Rechte eines jeden Einzelnen schützt, indem sie effektiv den Kampf gegen den Terroris‐ mus führt.“ (ebd.)

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Die nachstehend noch zu besprechenden Berichte von Amnesty International (2016) und Human Rights Watch (2016) zeigen, wie schwierig das ist, und auch Macron schweigt sich darüber aus, wie die von ihm geforderte Balance tatsächlich gelingen soll beziehungsweise kann. Wichtig scheint aber mit Blick auf die Plausibilisie‐ rungsstrategien des Ausnahmezustandes, dass hier, in dieser Spätphase und nachdem über Monate hinweg der öffentliche Diskurs von einer Freund-Feind-Unterschei‐ dung sowie von Kampf- und Kriegsmetaphoriken geprägt war, nun auch wieder in‐ dividuelle Freiheitsrechte als politische Forderung aufscheinen. Zwar sind – auch bei Macron – die Rhetoriken der Unterscheidung und des Kampfes nicht verschwun‐ den, wohl aber ergänzt er diese um die Forderung nach dem Schutz „der Rechte ei‐ nes jeden Einzelnen.“ (ebd.) und hegt damit, zumindest sprachlich, die Unnachgie‐ bigkeit der politischen Auseinandersetzung etwas ein. Andererseits stellt sich die Frage, ob der rechtsstaatlichen Qualität mit speziell auf die Terrorismusbekämpfung zugeschnittenen Gesetzen besser gedient ist, als das vorher mit dem Ausnahmezu‐ stand der Fall war. Dieser hatte zumindest den Vorteil, nicht als Dauerlösung ange‐ legt zu sein. Für spezielle Anti-Terror-Gesetze gilt diese Einschränkung nicht. Es sind diese beiden Elemente, der Appell zur Wahrung individueller Freiheitsrechte und die Forderung nach effektiver Anti-Terror-Gesetzgebung, die die gesamte Am‐ bivalenz der Normalisierung des Ausnahmezustandes bereits im Kern in sich tragen. Die inhaltsanalytische Aufbereitung der vorstehenden Interventionen von François Hollande, Manuel Valls und Emmanuel Macron mündet hinsichtlich der verwendeten Plausibilisierungsstrategien in drei zentrale Befunde: (1) Existenzielle Äußerlichkeit – Die Plausibilisierungsmuster der Situation der Äußerlichkeit und der Freund-Feind-Unterscheidung sind den Reden eng miteinan‐ der verwoben. Analytisch sind sie schlechterdings nicht zu trennen. Das sagt viel aus über den Schock, den Frankreich und seine Regierung erlitten hat, ein Schock, der in eine Vernichtungskriegsrhetorik mündet, die jeden Plausibilisierungsversuch des État d’urgence dominiert. Derart unbedingt gewollt und existenziell gemeint, wird der Ausnahmezustand in seiner instrumentellen Dimension zu einem totalen Aus‐ nahmezustand. Die Exekutive treibt die kriseninduzierte Expansion ihrer Kompeten‐ zen nicht nur bis an deren rechtliche Grenzen – sie meint, noch weiter zu müssen, weil sie sich im Krieg wähnt. Der sogenannte Krieg gegen den Terror war indes schon nach 9/11 nicht zu gewinnen, und nach 11/13 sieht das kaum anders aus: „Weltweit dem Terrorismus den Krieg zu erklären, war ein schrecklicher Fehler und er ist zum Scheitern verdammt“,89 hat Louise Richardson einmal hinsichtlich der versuchten und mittlerweile gescheiterten Krisenbewältigung durch die Bush-Admi‐ nistration geschrieben. Denn:

89 Richardson 2007, S. 22.

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„Etwas einen Krieg zu erklären, das letztlich nur eine Strategie ist, ergibt […] wenig Sinn. Niemand käme auf die Idee, beispielsweise Präzisionslenkwaffen den Krieg zu er‐ klären. […] Terror ist wie Angst eine Emotion, und einer Emotion einen Krieg zu erklä‐ ren, ist kaum eine zum Erfolg führende Strategie.“ (ebd., S. 228)

Auch wenn mit dem sogenannten Islamischen Staat hier eine Konfliktpartei bereit‐ steht, der sich der Krieg erklären ließe, so ist angesichts der Erfahrungen nach 9/11 sehr fraglich, ob mit militärischen Maßnahmen alleine der terroristischen Bedrohung angemessen beizukommen ist. (2) Arbeitsteilung – Bemerkenswert ist darüber hinaus die institutionelle Auftei‐ lung der Plausibilisierung. Zu beobachten ist eine Orientierung der Akzentsetzungen bei den Plausibilisierungsmustern an den Funktionsposten in der Exekutive. Wäh‐ rend Hollande in seiner Rede primär die Muster der Situation der Äußerlichkeit und der Freund-Feind-Unterscheidung bedient und damit – entsprechend seiner Funktion als Staatspräsident – die grundsätzliche Richtung der Politik vorgibt, ist Valls als Premierminister auf das Muster der Effizienz ausgerichtet, in dessen Rahmen er das Klein-Klein der als erforderlich erachteten gesetzlichen ‚Modernisierungen’ abhan‐ delt. Der letzte der drei Befunde, der aus der Analyse der öffentlichen Plausibilisierung des Ausnahmezustandes, aus dem Werben für seine Verschärfung resultiert, enthält eine starke rechtliche Komponente. Er lautet: (3) Modernisierung – Ein von Hollande und Valls im Zusammenhang mit der Forderung nach einer Reform der einschlägigen Ausnahmegesetze und Verfassungsbestimmungen verbundener Topos ist das der weitestmöglichen Legalisierung der Normsuspendierung, genauer: ihrer nachhaltigen Modernisierung. Hierin liegt das Neue der Situation nach dem 13.11.2015. Im Zuge der von Hollande beauftragten und von Valls betriebenen politischen Vorbereitung möglichst optimaler Bedingun‐ gen für ein in diesem Sinne befreites Exekutivhandeln tritt erstmalig ein Plausibili‐ sierungsmuster auf, das im Kern aus drei Schritten besteht: In einem paradox anmu‐ tenden, zwischen situativer politischer Erfordernis und geltendem Verfassungsrecht angesiedelten Spannungsbogen wird die situative Notwendigkeit des Ausnahmezu‐ standes bekräftigt, gleichsam seine eigentliche Unwirksamkeit beklagt und daraus die Erfordernis abgeleitet, ihn zu ‚modernisieren’, sprich ihn zu verschärfen.

Erosion der Republik – Zur Normalisierung des Ausnahmezustandes Mit Blick auf die Frage nach den etwaigen Grenzen des Selbsterhalts und den dafür von einer demokratisch verfassten Republik einsetzbaren Mitteln ergibt sich unter Berücksichtigung der hier vorgestellten Szenarien ein ernüchternder Befund. Das beachtliche Arsenal verfassungsrechtlicher Mittel zur Ausweitung von Exekutiv‐

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kompetenzen ist immer wieder im Zusammenhang mit Dekolonisierungsprozessen angewendet worden, was dem postulierten Bedarf einer breiten Handlungskompe‐ tenz der Exekutive insoweit widerspricht, als dass die tatsächlichen Anwendungen einer radikalen Ursachenverengung unterliegen. Krisenreaktion im Ausnahmezustand – und das gilt auch für die Situation nach den Anschlägen des „IS“ – funktioniert über den Mechanismus der argumentativen Herstellung einer Situation der Äußerlichkeit.90 Diese Position des Außen wird zu einer existenziellen Bedrohung verdichtet, auf welche die Exekutive aus Gründen der Staatsraison zu reagieren hat. Die eigentliche demokratisch-republikanische Sprengkraft dieses Prozesses besteht einerseits darin, dass die als Bedrohung be‐ schriebene Äußerlichkeit, auf die dann in der Folge Maßnahmen des Ausnahmezu‐ standes angewendet werden, auf einer Binnendifferenzierung des französischen Sou‐ veräns gründen. Alle Anwendungsbeispiele des Ausnahmezustandes bis 2015 unter‐ minieren damit eine zentralen Wert des republikanischen Denkens überhaupt – näm‐ lich die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz. Mit dem Ausnahmezustand von 2015–2017 kommt ein weiterer Aspekt hinzu, nämlich die Zuspitzung der Bedro‐ hung dahingehend, dass eine Normalisierung ausnahmezustandlicher Praktiken an‐ gezeigt erscheint. Auch die Überführung entsprechender Handlungsoptionen der Exekutive in normale, dauerhaft anwendbare Gesetzgebung unterminiert die Repu‐ blik, deren Rechtsbindung immer auch Selbstbeschränkung durch das Recht meint. Zweifelsfrei bedürfen Freiheit und Sicherheit, also die hier im Kern auszutarie‐ renden gesellschaftlichen Bedürfnisse, einer permanenten Anpassung. Die Praxis des État d’urgence in der V. Republik, so ließe sich resümieren, dient wegen nach‐ haltiger Ausgrenzungs- und Normalisierungstendenzen ausnahmezustandlicher Praktiken nicht der Rettung der demokratisch verfassten Republik. Die Normalisie‐ rung der Ausnahme führt auf lange Sicht die politische Kultur der Republik an den Rand ihrer Existenz – und vielleicht auch darüber hinaus.

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90 Vgl. hierzu auch Lemke 2012.

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Jochen Kleinschmidt Ausnahmezustand, organisierte Kriminalität und sozialer Wandel Beobachtungen zum Drogenkrieg in Mexiko

1. Der Krieg gegen die Drogen und der Begriff des Ausnahmezustands Der Begriff des Ausnahmezustands in seinen von Giorgio Agamben und Carl Schmitt geprägten Bedeutungen ist mittlerweile ein in sozialwissenschaftlichen For‐ schungen recht gängiges Interpretament.1 Neben dem ,Krieg gegen den Terror‘ oder dem polizeilich-paramilitärischen Umgang mit illegaler Einwanderung wird auch der sog. ,Krieg gegen die Drogen‘, der als Bündel innen-, außen- und sicherheitspo‐ litischer Maßnahmen 1971 vom amerikanischen Präsidenten Richard M. Nixon aus‐ gerufen wurde und trotz semantischer Modifikationen prinzipiell bis heute in ver‐ schiedenen Formen andauert, häufig als Phänomen eines Ausnahmezustands ge‐ fasst.2 Typischerweise wird dabei der Ausnahmecharakter dieser Maßnahmen so verstanden, dass der Rückgriff auf den Kampf gegen den Handel mit illegalen Nar‐ kotika Verstöße gegen die Norm der territorialen Integrität solcher Staaten legitimie‐ ren könne, in denen die Akteure des transnationalen Drogenhandels bedeutende phy‐ sische und soziale Infrastrukturen unterhalten. Die Bekämpfung des Drogenhandels sei also zu betrachten als eine imperiale Herrschaftstechnik, die eine Vielzahl von Eingriffen in die politische Autonomie von Staaten des globalen Südens durch die des Nordens, gemeint sind hier meist die USA, ermögliche. Eine solche imperiale Logik wird auch oft bei den aktuellen Ereignissen in Mexiko im Kontext der histo‐ risch stark asymmetrischen Beziehungen zwischen den USA und Mexiko unter‐ stellt.3 These dieses Beitrags ist es, dass eine solche Verwendung des Konzepts des Aus‐ nahmezustands allenfalls einen unterkomplexen Blick auf die vielschichtigen Kon‐ fliktphänomene im heutigen Mexiko bietet. Ein angemessenes Verständnis für diese kann nicht aus einer stark verallgemeinernden Imperialismuskritik, sondern nur 1 Lemke (2017) bietet ein anspruchsvolles Panorama gegenwärtiger Forschung zum und mit dem Begriff des Ausnahmezustands. 2 Hudson 2011, S. 127. 3 Eine repräsentative Fassung dieser Interpretation findet sich etwa bei Kienscherf 2012, S. 21 f. Dabei werden aber auch die Grenzen dieses einfachen, imperialen Modells des Drogenkriegs deutlich, wenn etwa die Unterstützung der kolumbianischen Sicherheitskräfte im Rahmen des Plan Colombia als konstitutiv für einen Ausnahmezustand im Rahmen der Drogenbekämpfung beschrieben werden; vgl. hierzu Weiss 2012.

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durch einen historisch informierten Blick auf die Kontextualisierung des Drogen‐ handels in den sich wandelnden politischen und sozialen Strukturen Mexikos ge‐ wonnen werden. Damit wird im Anschluss eine differenziertere Einschätzung der Begrifflichkeit des Ausnahmezustands in Bezug auf diese Phänomene ermöglicht. Als vorläufiges Ergebnis ist festzuhalten, dass Ausnahmezustände als vorübergehen‐ de oder permanente Suspension bestehender rechtlicher und politischer Normen sehr viel mehr auf die innerstaatliche mexikanische Ordnung zu beziehen sind als auf das bilaterale Verhältnis zwischen Mexiko und den USA – auch wenn ihre Ausprägun‐ gen in vielfacher Hinsicht durch Letzteres konditioniert werden. Die Verwendung der Begrifflichkeit im Kontext des Drogenhandels bezieht sich allgemein auf dessen häufige Verbindung mit verschiedenartigen Gewaltakteuren – von bewaffneten Straßengangs und Beschaffungskriminalität im Bereich der End‐ konsumenten bis hin zur Kontrolle der Drogenproduktion durch Insurgenten oder parastaatliche Akteure und zu internationalen militärischen Interventionen gegen diese. Wenn so in bestimmten Gebieten die staatliche und internationale Rechtsord‐ nung bis hin zu deren struktureller Irrelevanz unterlaufen wird, wäre eine Bezeich‐ nung als Ausnahmezustand zunächst sehr plausibel. Dies ist ein weithin bekanntes und vielfach untersuchtes Phänomen – man denke etwa an die politische und media‐ le Aufmerksamkeit, die hierzulande die partielle Finanzierung der afghanischen Ta‐ liban durch den Opiumhandel erfährt.4 Überraschenderweise jedoch scheinen die ge‐ walttätigen Prozesse, die meist unter Bezeichnungen wie ‚Drogenkrieg in Mexiko‘ beziehungsweise auf Englisch ‚Mexican drug war‘ zusammengefasst werden,5 rela‐ tiv wenig sozialwissenschaftliche Aufmerksamkeit im Sinne theoriegeleiteter For‐ schung zu erfahren. Dies verwundert ob ihrer beträchtlichen Ausmaße – mit weit über 60.000 Todesopfern seit 2006 und einem vermutlich auch gegenwärtig allen‐ falls stagnierenden Niveau stellt die Gewalt in Mexiko einen der größeren nicht-in‐ ternationalen bewaffneten Konflikte der Gegenwart dar, in den verwendeten Gewalt‐ formen ähnelt sie durchaus den Insurgenzen in Syrien oder Afghanistan.6 Zudem er‐ eignet er sich in einer der 15 größten Volkswirtschaften der Welt, in einem OECDMitgliedsstaat sowie in direkter Nachbarschaft zur Supermacht USA. Diese weitgehende Nichtbeachtung steht in auffallendem Kontrast zu der großen Zahl an Zeitschriftenaufsätzen und Monographien, die sich etwa dem im Vergleich doch sowohl lokal sehr begrenzten als auch politisch wenig folgenreichen Konflikt zwischen Zapatisten und staatlichen wie auch nichtstaatlichen Akteuren im mexika‐ nischen Bundesstaat Chiapas widmen. Auch die dem Drogenkrieg zugesprochene außen- und sicherheitspolitische Relevanz für die USA – das US Joint Forces Com‐ 4 Vgl. z.B. Shelley/Picarelli 2005. 5 Auch wenn einige Gesichtspunkte gegen die simple Einordnung als „Krieg“ sprechen, überneh‐ me ich i.F. diese gängig gewordene Vokabel. Im Spanischen wird meist die Sammelbezeichnung el narco für alle mit dem Drogenhandel in Verbindung stehenden Phänomene verwandt. 6 Miroff/Booth 2012; vgl. auch Sánchez 2010; Pacheco 2009, S. 1021.

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mand sprach einem potenziellen Kollaps des mexikanischen Staates die gleiche Re‐ levanz wie dem denkbaren Zerfall Pakistans zu, und der damalige Direktor der CIA nannte Mexiko neben der Auseinandersetzung um das iranische Nuklearprogramm als zentrale sicherheitspolitische Herausforderung der Regierung Barack Obamas – sowie eine enorme (und oft hochgradig sensationalistische) Medienpräsenz haben offensichtlich nicht zu verstärktem analytischem Interesse an den Gewaltphänome‐ nen in Mexiko geführt.7 Eine denkbare Ursache für diese geringe Beachtung könnte in der mittlerweile hochgradigen Spezialisierung und der damit einhergehenden disziplinären Zersplit‐ terung der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung liegen: neben die klassische si‐ cherheitspolitische Forschung mit ihrem Fokus auf staatliche Strategien in interna‐ tionalen Konfliktsituationen ist eine Terrorismusforschung getreten, die Terrorismus nicht nur anhand seiner Gewaltformen, sondern vor allem auch über seine ideolo‐ gisch-politische Intention definiert – und die insbesondere nach dem 11. September 2001 einen möglicherweise zu eng gefassten Schwerpunkt auf spektakuläre Einzel‐ operationen sowie die Verwendung von Massenvernichtungsmitteln setzt.8 Im deut‐ schen Sprachraum besonders ausgeprägt ist die normativ vorgehende Friedensfor‐ schung, die sich aber – historisch bedingt durch ihre Institutionalisierung im Kontext des Ost-West-Konflikts und später über ihre selbstdefinierte Rolle als kritische Ge‐ gendisziplin gegenüber der sicherheitspolitischen Praxis der OECD-Staaten – auf in‐ ternationale oder globale Großkonflikte sowie seit den 1990er Jahren auf humanitäre Interventionen, ‚state building‘ und andere aktuelle Probleme staatlicher Sicherheits‐ politik konzentriert.9 Darüber hinaus hat sich im Kontext der sogenannten „neuen Kriege“ eine umfangreiche Forschung zu kriegerischen Auseinandersetzungen und Gewaltökonomien in völlig oder nahezu staatsfreien Gebieten entwickelt, die sich insbesondere für die „Privatisierung und Kommerzialisierung“ kriegerischer Gewalt in diesen Kontexten interessiert.10 Diese in der Politikwissenschaft verankerten Perspektiven haben jenseits aller Unterschiede gemeinsam, dass sie Gewalt als kollektives soziales Phänomen analy‐ sieren, welches sich als makrosozialer Prozess zwischen wie auch immer konstitu‐ ierten Gemeinwesen abspielt. Ihnen gegenüber steht in der kriminologischen Ge‐ waltforschung eine Disziplin, die ihr Forschungsinteresse strikt auf Gewalt zwischen Individuen begrenzt, der in Ermangelung einer – abgesehen vielleicht von mikropo‐ litischen Prozessen innerhalb krimineller Gruppen – kollektiven Dimension jegliche politische Relevanz abgesprochen wird.11 Das Problem bei der Erfassung der Ge‐ waltphänomene in Mexiko ist nun m.E. darin zu suchen, dass diese gewissermaßen 7 8 9 10 11

Grayson 2010, S. 267. Zur Kritik dessen bereits frühzeitig Pillar 2001, S. 4 f. Vgl. Weller 2004, S. 61 f. Münkler 2004, S. 33 f. Thome 2004, S. 315.

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zwischen den Stühlen der hochspezialisierten Strömungen der sozialwissenschaftli‐ chen Gewaltforschung sitzen:12 Als prinzipiell kommerzielle Akteure eingestuft, scheint die Gewalt der Kartelle für die politikwissenschaftliche Forschung nicht hin‐ reichend politisch motiviert zu sein.13 Auf die Terminologie des Ausnahmezustands bezogen bedeutet dies, dass die Ge‐ waltakteure nicht der Sphäre des Politischen zugerechnet werden und eine bestehen‐ de normative Ordnungen in Frage stellende Position somit nicht zuerkannt bekom‐ men. Bei den Akteuren der Gewaltökonomien in zerfallenden Staaten, für die mit der Rhetorik der ,failed states‘ eine Art Ausnahmebegrifflichkeit zur Verfügung steht, wird zwar ebenfalls oft eine primär wirtschaftliche Orientierung erkannt – die‐ se operieren aber meist im Rahmen proto-territorialer Herrschaftsausübung und stre‐ ben in vielen Fällen zumindest der Form halber die Insignien politischer Herrschaft an, darüber hinaus werden sie über externe Interventionen und im Rahmen der Ent‐ wicklungshilfe für internationale Akteure relevant.14 Andererseits ist die Vorgehens‐ weise der Kartelle (bzw. die Reaktion des mexikanischen Staates) – wie bereits an‐ gedeutet – zu sehr dem von Terroristen oder Insurgenten ähnlich (bzw. zu militari‐ siert), um einen Gegenstand für die kriminologische Forschung, die zudem meist einen nationalen oder regionalen Fokus auf die Staaten des globalen Nordens auf‐ weist, darzustellen. Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, dass der Charakter der mexikanischen Drogenkartelle als Gewaltakteure – im Gegensatz zu den von der Politikwissenschaft und der Kriminologie entwickelten Modellen, die letztlich vor dem Hintergrund der Modernisierungserfahrungen in Europa und den USA entstan‐ den sind – auf einer einem Ausnahmezustand gleichkommenden, aber regularisier‐ ten Praxis der Herrschaftsausübung in von diesen Erfahrungen deutlich abweichen‐ den sozialen und politischen Strukturen beruht.

12 Dies gilt zum Zeitpunkt dieser Neuauflage nur noch eingeschränkt – in Mexiko waren der Dro‐ genhandel und die mit ihm assoziierten Gewaltphänomene schon seit jeher Gegenstand der Ar‐ beit einer Reihe auf ihn spezialisierter Forscher – z.B. Astorga 2015. Aber auch in den eng‐ lischsprachigen Sozialwissenschaften erscheinen theoretisch anspruchsvolle Forschungen – insbesondere Lessing 2015; 2018. Das Defizit Letzterer liegt m.E. darin, dass sie oft – ähnlich wie etwa die rationalistischen Internationalen Beziehungen der 1980er und 90er (vgl. Jackson/ Nexon 2013) – die beteiligten Akteure als diskrete, mit ihrer sozialen Umgebung wie Billard‐ kugeln als isolierte Objekte interagierend darstellen. Dies ist häufig nicht der Fall in Arbeiten, die in Soziologie oder Anthropologie angesiedelt sind (z.B. Pansters 2018), diese stehen die‐ sem Beitrag insofern ontologisch näher. 13 Wenn in diesem Text der Begriff ‚Kartell’ für die mit Herstellung, Transport und Verkauf von illegalen Narkotika befassten Organisationen verwendet wird, stellt dies natürlich nicht eine Gleichsetzung mit Kartellen im volkswirtschaftlichen Sinne dar. Eher handelt es sich um Syn‐ dikate im Sinne regionaler Monopole, und ihre Aktivitäten gehen weit über den ökonomischen Bereich hinaus, vgl. auch Cook 2007, S. 1. 14 Vgl. z.B. Schlichte 2005, S. 84 f.

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2. Zur Geschichte der Kartelle als Gewaltakteure Der grenzübergreifende Schmuggel zählt bereits seit der spanischen Kolonialherr‐ schaft im damaligen Vizekönigreich Neuspanien zu den bedeutenden Wirtschafts‐ faktoren im heutigen Mexiko, wobei sich der Schmuggel historisch aufgrund der Nähe zu den USA als Ziel und Herkunft geschmuggelter Güter stets im Norden des Landes konzentrierte. Während der kolonialen Epoche diente er zunächst der Über‐ windung von durch das merkantilistische Regime des Mutterlandes verursachten Knappheiten.15 Seine Bedeutung wuchs noch beträchtlich nach der Unabhängigkeit Mexikos und der Westausdehnung der USA im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts, so dass etwa im Jahr 1850 zwei Drittel der im nordöstlichen Mexiko gehandelten Waren Schmuggelgut waren – und bereits damals operierten die Schmuggler häufig mit Rückendeckung durch die politische Führung der nördlichen Bundesstaaten. Durch die Bürgerkriege sowohl in den USA als auch einige Jahre später in Mexiko kam es zeitweise zu einem zusätzlichen Aufschwung des Waffenhandels.16 Nach dem Verbot des Opiumimports in den USA im Jahr 1909 wurde der Opium‐ handel zu einem weiteren Rückgrat der Grenzlandökonomie, wobei er – zunächst von chinesischen Immigranten etabliert und dominiert – bald von Bauern und Schmugglern in den weitgehend gesetzlosen Bergregionen der Bundesstaaten Sina‐ loa und Durango übernommen wurde. Durch die im folgenden Jahr ausbrechende Mexikanische Revolution mit ihren zehn Jahre währenden Kampfhandlungen vor al‐ lem in Nordmexiko nahm das Geschäft häufig die Form des Tausches von Opium gegen Kriegswaffen an. Nach dem Abflauen der Kämpfe und der politischen Resta‐ bilisierung Mexikos unter dem Einparteienregime der später so benannten Partei der Institutionellen Revolution (PRI) entstanden durch die Prohibition in den USA neue Gelegenheiten,17 und bereits in dieser Phase wurden die Aktivitäten der Drogen‐ händler von manchen lokalen politischen Autoritäten gedeckt.18 Von besonderem Interesse dürfte hier sein, dass die Übernahme des Opiumge‐ schäfts von den Chinesen im Kontext von antichinesischen Pogromen erfolgte, bei denen zahlreiche Angehörige der Minderheit ermordet, andere misshandelt und aus dem Norden Mexikos vertrieben wurden. Diese Pogrome verschärften sich ab 1924 mit der Präsidentschaft des mit rechtsextremen Positionen sympathisierenden Präsi‐ denten Plutarco Elías Calles, mehrere xenophobe Bewegungen betrieben systemati‐ sche ,ethnische Säuberungen‘, die bis in die 1930er Jahre teils offizielle Regierungs‐ politik wurden. Die Assoziation der chinesischen Bevölkerung mit dem Opiumkon‐ sum diente dabei einerseits als Rechtfertigung für Diskriminierung und Vertreibung, 15 16 17 18

Sadler 2000, S. 162. Ebd., S. 163. Sadler 2000, S. 164-166. Astorga 2000, S. 67.

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zum anderen wurde ihre Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben von vielen Ge‐ schäftsleuten begrüßt – dies traf auch auf das Geschäft mit illegalen Drogen zu. Die – wie in den USA – mit rassistischer Rhetorik einhergehende Prohibition von Schlafmohn und anderen Narkotika war also keineswegs einfach ein US-amerikani‐ scher Oktroi, sondern auch in Mexiko eng mit ökonomischen Interessen dortiger Akteure verknüpft.19 Die Strukturierung der illegalen Ökonomie erfolgte im Zuge einer durch eine extralegale Politik der Ausnahme herbeigeführten Gewaltwelle, in deren Rahmen sie in die zentralistischen Machtverhältnisse des Landes eingegliedert wurde. Der Grundstein für die heute bestehende Drogenindustrie wurde schließlich auch mit der inoffiziellen Förderung des Schlafmohnanbaus in Nordmexiko zur Gewin‐ nung von Schmerzmitteln für das Sanitätswesen der US-Streitkräfte im 2. Weltkrieg gelegt. In der Nachkriegszeit sorgte dann der massiv ansteigende Marihuana- und Heroinkonsum in den USA für ein rasantes Wachstum, der Anbau von Hanf und Schlafmohn breitete sich von Sinaloa und Durango auf die umgebenden Bundesstaa‐ ten aus.20 Mit dem ökonomischen Wachstum gewannen auch die politischen Aspek‐ te des Drogenhandels an Bedeutung, und in einem rudimentären Feudalsystem wur‐ de es üblich, dass lokale Funktionäre ‚plazas‘ – Gebiete und Korridore für den An‐ bau, die Weiterverarbeitung und den Transport illegaler Substanzen – vergaben. Im‐ mer noch wurden aber sowohl Anbau als auch Transport zunächst von zahlreichen kleinen, meist auf Familienbasis operierenden und nur gelegentlich gewaltsam kon‐ kurrierenden Organisationen durchgeführt, die sich in einem Verhältnis hierarchi‐ scher Abhängigkeit von den herrschenden Lokal- und Landespolitikern befanden. Sie dienten diesen auch gelegentlich zur Diskreditierung von Rivalen als in illegale Geschäfte verwickelt. In dieser Zeit scheint es zur Etablierung einer regelgeleiteten Praxis gekommen sein, der gemäß territoriale Abgrenzungen und das Leben Un‐ schuldiger zu respektieren sowie der Verkauf an Konsumenten innerhalb Mexikos und gewalttätige Auseinandersetzungen in Großstädten untersagt waren. Dispute wurden von Stellvertretern der Gouverneure der jeweiligen Bundesstaaten entschie‐ den.21 Hier finden sich Anzeichen für einen andauernden Ausnahmezustand im schmittianischen Sinn: Die politische Souveränität bestand tatsächlich darin, die Gültigkeit bestimmter Gesetze fallweise außer Kraft zu setzen und die sich daraus ergebenden ökonomischen Gewinnchancen in klientelistischen Netzwerken zur Sta‐ bilisierung der eigenen Herrschaft zu verteilen. Ab den siebziger Jahren kam es jedoch zu einer zunehmenden Professionalisie‐ rung und Monopolisierung des Geschäfts – ein Prozess, der eng mit der Person Mi‐ guel Angel Félix Gallardos und dem Aufblühen des Handels mit kolumbianischem 19 Osorno 2009, S. 58-62. 20 Pacheco 2009, S. 1026. 21 Grayson 2010, S. 29 f.

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Kokain verbunden war. Félix Gallardo begann seine Karriere als Kriminalpolizist in Sinaloa und wurde Ende der 1960er Jahre zum Leibwächter des dortigen Gouver‐ neurs Leopoldo Sánchez Celis. Er organisierte seine – später nach seiner Operations‐ basis im Bundesstaat Jalisco auch als ‚Guadalajara-Kartell‘ bezeichnete – Gruppe nach kolumbianischem Vorbild gemäß betriebswirtschaftlicher Regeln und verwalte‐ te zentral die Kontakte zu den Lieferanten nach Kolumbien. Auch zahlreiche Anfüh‐ rer späterer mexikanischer Kartelle stammen aus dem Umfeld Gallardos oder sind – wie im Fall der Familie Arellano Félix, die seit Jahren die Anführer des TijuanaKartells stellen, – direkt mit ihm verwandt.22 Trotz der nach wie vor bestehenden Unterordnung unter staatliche Strukturen kam es aber ab dieser Epoche, ermöglicht durch die durch den beginnenden Handel mit kolumbianischem Kokain erworbenen enormen Geldbeträge, zu einem allmählichen Aufbau eigenständiger Machtbasen der führenden Figuren des Kartells, die in vielen Fällen ihre Heimatorte mit „Elek‐ trizität, Trinkwasser, Kanalisation, Straßen, Schulen“ und anderen Annehmlichkei‐ ten ausstatteten, sich somit zu einer Art parastaatlichem Wohlfahrtsstaatssurrogat aufschwangen und damit vermutlich die umfassende Loyalität der Bevölkerung in ihren jeweiligen Gebieten genossen – entsprechend dürfte die Bedeutung der politi‐ schen Protektion geschwunden sein bzw. sich in manchen Fällen auf lokaler Ebene sogar in ihr Gegenteil verkehrt haben.23 Ab dem Ende der 1970er Jahre kam es dann auch zu einem massiven Verfall der ‚ritterlichen‘ Regeln der Nachkriegszeit. Einer der Hauptfaktoren dürfte dabei der überwältigende Druck amerikanischer Behörden auf die mexikanische Regierung gewesen sein, angesichts der massiven Heroinschwemme in den USA weiträumige militärische Operationen gegen Opium‐ anbaugebiete einzuleiten, das zunehmend unabhängige Agieren der Kartelle könnte ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Das Resultat war die „Operation Condor“, die 1976 begann und den Einsatz von Tausenden Soldaten sowie die Verwendung von Herbiziden vor allem in den gebirgigen Regionen von Sinaloa mit sich brachte.24 Dabei hatten die eingesetzten Truppenteile nicht nur mit dem ungeheuren Ausmaß der Opiumfelder, sondern auch mit dem schwer bewaffneten Widerstand ihrer Besit‐ zer zu kämpfen – zahllose Menschenrechtsverletzungen, die geographische Zerstreu‐ ung der Kartelle und der Opiumbauern sowie vor allem eine weitreichende Delegiti‐ mierung des Staates in den betroffenen Gebieten waren die Folge.25 Hier wäre auf den ersten Blick die Annahme eines imperialen Ausnahmezustands gerechtfertigt, wie er später etwa auch im Kontext der Terrorismusbekämpfung diagnostiziert wur‐ de.26

22 23 24 25 26

Astorga 2000, S. 73 f. Ebd., S. 133. Übersetzungen: J.K. Zum Konzept der Parastaatlichkeit siehe von Trotha 2000. Craig 1980, S. 347. Ebd., S. 354 f. Chandler 2009.

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Zum ersten Mal in der Geschichte Mexikos hatte das Gewaltniveau das gemein‐ hin für ‚rein kriminelle‘ Gewalt als typisch angesehene Maß überschritten und zum Teil durchaus aufstandsähnliche Formen mit schweren Gefechten und abgeschosse‐ nen Hubschraubern angenommen. Trotz des vorübergehenden Erfolgs der Operation – abzulesen an gestiegenen Preisen für Heroin und gesunkenen Zahlen von Drogen‐ toten in den USA – dürfte das Resultat mittelfristig extrem kontraproduktiv gewesen sein: die Organisationen verteilten sich auf verschiedene neue Operationsbasen, Fé‐ lix Gallardo etwa machte Guadalajara zum neuen Mittelpunkt des Drogenhandels, der durch die mit kolumbianischem Kokain erwirtschafteten enormen Profite schnell rekonstituiert werden konnte. Fast symbolisch scheint die Tatsache, dass dem Ver‐ antwortlichen für die Operation Condor, einem Beamten der Bundesstaatsanwalt‐ schaft, Jahre später selbst eine zentrale Rolle bei dieser Reorganisation nachgewie‐ sen werden konnte.27 Neben dem amerikanischen Einfluss waren es wohl auch in der Operationsweise des Drogenhandels selbst liegende Faktoren, die eine weitere, durch ausnahmeartige Maßnahmen erreichte Reorganisation attraktiv erscheinen lie‐ ßen. Mit dem erweiterten finanziellen Handlungsspielraum der Kartelle wurde der Zugriff auf Finanzplätze und legale wirtschaftliche Infrastruktur notwendig, der wie‐ derum eine geographische Ausdehnung auf Gegenden wie eben Guadalajara und an‐ dere Großstädte bedingte. Um deren Destabilisierung zu verhindern, wurde eine weitere Zentralisierung der politischen Kontrolle des Geschäfts notwendig, die unter anderem durch eine personelle Eingliederung der Führungsebene insbesondere des Guadalajara-Kartells in den Bundessicherheitsdienst DFS erreicht wurde.28 Diese Zentralisierung ermöglichte zunächst ein ungestörtes Funktionieren der Schattenwirtschaft in Verbindung mit einer Minimierung des Gewaltniveaus. Die mexikanischen Organisationen waren damit auch für die US-amerikanischen Behör‐ den weitgehend unauffällig, man konzentrierte sich auf die kolumbianischen Kartel‐ le von Medellín und Cali, deren karibische Schmuggelroute aber allmählich zuguns‐ ten des Transports über Mexiko an Relevanz verlor. Dieser Zustand vorübergehen‐ der relativer Normalität wurde aber schon 1985 wieder durchbrochen: Ein amerika‐ nischer DEA-Agent hatte in Guadalajara auf eigene Faust Ermittlungen angestellt und wurde schließlich von Agenten des dortigen Kartells gefoltert und ermordet. Nun war es neben amerikanischem Druck auch die mexikanische Staatsführung, die eine derartige Selbstermächtigung nicht zulassen wollte – das monolithische Kartell von Guadalajara wurde zerschlagen, wobei es in einigen Fällen ausreichte, die An‐ führer bei ohnehin vereinbarten Treffen mit Offizieren des DFS einfach zu verhaf‐ ten.29

27 Astorga 2003. 28 Grayson 2010, S. 74. 29 Grillo 2011, S. 65-69.

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Die plazas wurden daraufhin neu aufgeteilt und nun an eine Vielzahl von Grup‐ pen verteilt, um eine riskante Machtansammlung wie zuvor im Kartell von Guadala‐ jara zu vermeiden. Anfang der 1990er Jahre nahm die grundlegende Organisations‐ form der Kartelle in Mexiko somit allmählich die Gestalt an, die sie zu Beginn der heutigen Auseinandersetzungen besaß – eine Handvoll von netzwerkförmigen Orga‐ nisationen, die jeweils über regionale Schwerpunkte verfügen, in denen sie weitrei‐ chenden Einfluss auf Behörden und Politik nehmen können und vielfach einen ge‐ wichtigen Wirtschaftsfaktor darstellen.30 Der Unterschied zur Situation vor der Ope‐ ration Condor bestand vor allem in der nun geographisch polyzentrischen Struktur der kriminellen Landschaft, die bedingt war durch den ökonomischen Schwerpunkt‐ wechsel von in relativ wenigen Regionen selbst produziertem Heroin und Marihuana hin zu aus Kolumbien importiertem Kokain sowie später auch zu Amphetaminen. Die Positionierung außerhalb ländlicher Gebirgsregionen gab den Kartellen zudem weiterhin bessere Möglichkeiten des Zugriffs auf Verkehrs- und Finanzinfrastruktu‐ ren.31 Diese gewannen insbesondere deswegen an Bedeutung, weil aufgrund von massi‐ ven Operationen der US-Marine die Schmuggelroute über die Karibik immer riskan‐ ter wurde und die mexikanischen Kartelle somit zur praktisch einzigen Option für den Transport aus Kolumbien wurden – eine Entwicklung, die durch das NAFTAFreihandelsabkommen begünstigt wurde, welches das Handelsvolumen zwischen Mexiko und den USA vervielfachte und die Kontrolle der Grenzübergänge er‐ schwerte. In jedem Fall begannen die mexikanischen Organisationen gegenüber den kolumbianischen ab den 1990er Jahren zu dominieren.32 Ihr Einfluss auf staatliche Strukturen reichte immer noch bis in die oberste Ebene der Politik, so wurde etwa der Bruder des Präsidenten Salinas de Gortari, Raúl Salinas, wegen seiner Verstri‐ ckungen in die organisierte Kriminalität zu einer Freiheitsstrafe verurteilt (und spä‐ ter freigesprochen); der Leiter des Nationalen Instituts für Drogenbekämpfung, Ge‐ neralleutnant José de Jesús Gutiérrez Rebollo, wurde der Zusammenarbeit mit dem Amado Carrillo Fuentes, Anführer des Kartells von Juárez, überführt.33 Dabei exis‐ tieren unterschiedliche Beurteilungen der Frage, ob in diesen Fällen die Kartelle po‐ litische Strukturen für ihre eigenen Zwecke penetriert hatten oder ob mächtige politi‐ sche Akteure die Patronage über den Drogenhandel für politische Zwecke nutzten, so wie etwa der besagte Raúl Salinas den Polizeioffizier González Calderoni mit der Bespitzelung von politischen Gegnern beauftragte.34

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Campbell 2009, S. 22 f. Astorga 2001, S. 429. Grayson 2010, S. 56 f. Grillo 2011, S. 84; 91. Dieser Fall wurde in Steven Soderberghs Film Traffic recht plausibel fiktionalisiert. 34 Astorga 2001, S. 429.

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3. Systemwandel und der Beginn des Drogenkrieges Schließlich erlitt die enge Vernetzung von Staat und Kartellen einen endgültigen Bruch durch das Ende der Einparteienherrschaft der PRI, welches im Jahr 2000 mit der Wahl von Vicente Fox Quesada zum mexikanischen Präsidenten besiegelt wur‐ de. Bereits zuvor hatte dessen bürgerlich-konservative Partei PAN die Regierung in einigen nördlichen Bundesstaaten übernommen, und in eben diesen Staaten began‐ nen die bisherigen Gebietskonflikte zu kriegsähnlichen Auseinandersetzungen zu es‐ kalieren.35 Damit einhergehend kam es zur zunehmenden Militarisierung der Kar‐ tellstrukturen: hatte man zuvor die Exekution von internen Rivalen oder Abtrünni‐ gen zahlenmäßig wenigen Auftragsmördern (sicarios) überlassen und sich bei Strei‐ tigkeiten mit konkurrierenden Organisationen auf die Dienste korrumpierter Polizis‐ ten oder Militärs verlassen, so kam es nun zu einem enormen Bedeutungsgewinn re‐ gelrechter Privatarmeen. Die bekanntesten unter ihnen sind nach wie vor die soge‐ nannten Zetas – sie entstanden 1997, als eine von einem ehemaligen Angehörigen der militärischen Spezialeinheit GAFES (Grupo Aeromovíl de Fuerzas Especiales)36 gebildete Gruppe ein Angebot vom Anführer des Golf-Kartells Osiel Cárdenas Guil‐ lén annahm, seine Leibwächter zu werden.37 In vielerlei Hinsicht kann dieser Seitenwechsel als Datum für den allmählichen Beginn des gegenwärtigen Konflikts angesehen werden, auch wenn das bereits er‐ wähnte Tijuana-Kartell mit der Rekrutierung von Polizisten und Mitgliedern von Ju‐ gendbanden in bewaffnete Formationen vermutlich schon vorher eine Eskalation einleitete.38 Andere Organisationen bedienten sich wiederum der Dienste desertierter Soldaten der Kaibiles, einer Spezialeinheit des Militärs im benachbarten Guatemala, die bereits aus dem dortigen Bürgerkrieg in der 1980er Jahren berüchtigt waren.39 Mit dem Amtsantritt des PAN-Präsidenten Calderón 2006 wurden angesichts eska‐ lierender Auseinandersetzungen und vor allem des äußerst defizitären Funktionie‐ rens der Polizeibehörden,40 vor allem auch in den betroffenen Regionen, wiederum die mexikanischen Streitkräfte mit der Eindämmung des Problems beauftragt. Auch wären die zuvor existierenden Polizeieinheiten auf rein taktischem Niveau vermut‐ 35 Der enge kausale Zusammenhang wird nicht zuletzt dadurch demonstriert, dass die Gewalt in solchen Bundesstaaten, in denen die PRI an die Macht zurückkehrte, temporär wieder zurück‐ ging – anscheinend aufgrund der Reaktivierung alter Regeln im Rahmen von Patronagenetz‐ werken. Vgl. O’Neil 2009, S. 65. 36 Dieses war und ist von Aufgaben, Ausrüstung und Ausbildung her in etwa zu vergleichen mit dem deutschen KSK oder den amerikanischen Special Forces. 37 Brands 2009, S. 8. 38 Stewart 2010. 39 Otero 2005. 40 Müller 2006, S. 508 f. Bereits 1998 wurde mit der Policía Federal Preventiva (PFP) aus ver‐ schiedenen Polizei- und früheren Armeeeinheiten eine neue Bundespolizeibehörde geschaffen, die nach einem Professionalisierungsprozess schließlich federführend bei den Operationen ge‐ gen die Kartelle werden sollte.

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lich nicht zur Auseinandersetzung mit den Kartellen befähigt gewesen: Die Ausrüs‐ tung und Ausbildung dieser paramilitärischen Einheiten ist mittlerweile umfassend und denen der meisten anderen irregulären Gewaltakteure der Gegenwart – auch hierarchisch organisierten und paramilitärisch operierenden Insurgenten wie etwa den Taliban – weit überlegen, so verfügen sie nach Angaben von General Barry Mc‐ Caffrey unter anderem über in Einheiten von Zuggröße eingesetzte „Nachtsichtgeräte, Fernmeldeaufklärung, verschlüsselte Funkverbindungen, […], Hub‐ schrauber und moderne Transportflugzeuge, automatische Waffen, Panzerfäuste, 66 mmPanzerabwehrraketen, Minen und Sprengfallen, schwere Maschinengewehre, 12,7 mmScharfschützengewehre, Unmengen an Handgranaten und die modernsten vollautomati‐ schen 40 mm-Granatwerfer.“41

Im dreiseitigen Konflikt zwischen Streitkräften und Kartellen sowie der Kartelle un‐ tereinander hatte sich der Schwerpunkt mittlerweile auf den Kampf dieser gegen die Staatsgewalt verlegt – etwa drei Viertel aller Kampfhandlungen sind Regierungssta‐ tistiken zufolge letzterem Typ zuzurechnen.42 Dabei war es den staatlichen Kräften zwar gelungen, zumindest eines der großen Kartelle zu zerschlagen – namentlich das der Gebrüder Beltrán Leyva – und drei weitere deutlich zu schwächen. Allerdings sind auch neue Organisationen entstanden, insbesondere die sogenannte Familia Mi‐ choacana (‚Familie von Michoacán‘), die sich meist durch eine erheblich höhere Gewaltbereitschaft auszeichnen und dementsprechend von Bundespolizei und Mili‐ tär prioritär bekämpft werden.43 Dies führte wiederum zu Vorwürfen, die PAN-Re‐ gierung bevorzuge das von Joaquín „El Chapo“ Guzmán Loera geführte SinaloaKartell, um die Gewalt durch Herstellung einer monopolartigen Situation einzudäm‐ men.44 Derartige Vorwürfe sind aber in vielen Fällen auch Resultat der äußerst pro‐ fessionellen Informationskriegsführung mancher Kartelle, die etwa im Bundesstaat Tamaulipas bezahlte Demonstrationen gegen die Militärpräsenz organisierten.45 Der zuvor nur fallweise gewalttätig ausartende Ausnahmezustand des Drogenhandels in den Grenzregionen Mexikos ist nun zu einem permanent eskalierenden bewaffneten Konflikt geworden, der sich längst nicht mehr auf die geographische Peripherie be‐ schränkt, sondern auch in urbanen Zentren wie Monterrey stattfindet.

41 Zitiert bei Quinones 2009, S. 78. McCaffrey ist ehemaliger ‚Drug Czar‘ der amerikanischen Regierung. 42 Bravo/Mercado 2010. 43 Stewart 2010. 44 Burnett/Peñaloza 2010. 45 Castañeda 2009, S. 165.

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4. Kartelle als ökonomisch motivierte Gewaltakteure? Allgemein kann die organisatorische Struktur des Handels mit illegalen Rauschmit‐ teln drastisch unterschiedliche Formen annehmen, wobei das Spektrum von lose gekoppelten und fallweise kooperierenden Kleingruppen bis hin zu hierarchisch ge‐ steuerten und geradezu bürokratisch arbeitenden Großunternehmen reicht. Dabei sind alle auf diesem Markt tätigen Organisationen zumindest potenzielle Gewaltak‐ teure, und zwar schlicht aufgrund der Tatsache, dass sie ihre Geschäfte gezwunge‐ nermaßen unter Ausschluss des Rechtsweges tätigen und somit im Fall von Zah‐ lungsausfällen und Ähnlichem eine eigene Erzwingungskapazität benötigen. In mi‐ kropolitischer Hinsicht operieren Drogenhändler gewissermaßen stets in einer Art Ausnahmezustand – sie müssen Regeln durchsetzen, die keineswegs den politisch gesetzten Normen entsprechen. Die dabei tatsächlich auftauchenden Gewaltformen sind aber primär danach zu unterscheiden, an welchem Ort in der klandestinen Ver‐ sorgungskette sie auftauchen.46 An der Quelle – also an den Produktionsstätten von Narkotika, die in vielen Fällen wie bei Marihuana, Kokain oder Heroin eine land‐ wirtschaftliche und damit flächenmäßig ausgedehnte Komponente aufweisen – sind dementsprechend partisanenartige,47 also auf quasi-territoriale Kontrolle abzielende Gewaltformen wahrscheinlich, wie sie etwa im Rahmen der o.g. Operation Condor auftauchten oder heute in Kolumbien, Afghanistan und umkämpften Regionen Bur‐ mas zu beobachten sind.48 Diese können sowohl zwischen Organisationen konkur‐ rierender Produzenten als auch zwischen diesen und staatlichen oder internationalen Polizei- und Militäreinheiten auftreten. Dabei fällt auf, dass der Drogenhandel in solchen Fällen oftmals lediglich eine unter mehreren Finanzierungsquellen für die ihn beschützenden Kräfte darstellt, de‐ ren Konfliktbereitschaft auf andere, bereits unabhängig von ihrer Finanzierung durch Narkotika gegebene Faktoren zurückzuführen ist. In fast allen Fällen sind die an der Quelle, also durch die Herstellung von Drogen oder lediglich ihrer Ausgangs‐ produkte zu erzielenden Gewinne vergleichsweise gering (typischerweise zwischen 10 und 20 Prozent des mit dem fertigen Produkt zu erzielenden Umsatzes),49 so dass eine rein kommerzielle Motivation von ‚Narco-Insurgenten‘ hier meist auszuschlie‐ ßen ist – schließlich könnte eine solche auch nicht die in Gebieten wie Afghanistan oder Kolumbien zu beobachtende und durch ökonomische Kalküle nicht herbeizu‐

46 Plausibel wäre natürlich zunächst eine Unterscheidung nach der Art der gehandelten Rausch‐ mittel (Marihuana, Kokain, Amphetamine, Heroin etc.). Diese wäre aber im hier untersuchten Fall nicht weiterführend, da die mexikanischen Kartelle mit praktisch allen gängigen Narkotika handeln und in ihrem Angebot auch relativ flexibel sind. Vgl. Miró 2003, S. 5. 47 Vgl. Schneckener 2006, S. 37. 48 UNODC 2009, S. 33. 49 Decker/Chapman 2008, S. 51, 56.

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führende Durchhaltefähigkeit der jeweiligen bewaffneten Gruppen erklären.50 Viel‐ mehr dürfte der durch die Verteidigung von Drogenanbaugebieten bei der dadurch versorgten Bevölkerung zu erzielende Legitimitätsgewinn eine mitentscheidende Rolle spielen.51 In diesen Fällen wäre demnach das Vorhandensein von gewaltsamen Konflikten und die dadurch entstehenden staatsfreien Gebiete Ursache für das Ent‐ stehen von Drogenanbaugebieten bzw. von Organisationen, die um diese kämpfen, und nicht umgekehrt. Einer entgegengesetzten Logik folgen diejenigen Gewaltformen, die am anderen Ende der Versorgungskette auftauchen, also in den Gegenden, in denen Drogen kon‐ sumiert werden. Diese befinden sich typischerweise in den wohlhabenderen Regio‐ nen der OECD-Welt und verfügen dementsprechend meist über relativ gut funktio‐ nierende Polizei- und Justizorgane, so dass gegenüber dem Drogenhandel von ho‐ hem Verfolgungsdruck auszugehen ist.52 Unter diesen Umständen ist die Verteilung an den Endkunden meist in Form kleiner, wenig hierarchisch strukturierter und oft stark fluktuierender Netzwerke organisiert. Diese vermeiden generell den Einsatz von massiver Gewalt im Sinne von Terrorismus oder Insurgenz – sie wären zu einer koordinierten Auseinandersetzung um territoriale Monopole auch kaum in der Lage und würden sich dadurch einem übergroßen Festnahmerisiko aussetzen. Bei diesen Akteuren sind schwere, d.h. vor allem bewaffnete Gewaltverbrechen vergleichswei‐ se selten.53 Zur Sicherstellung der Loyalität untergeordneter Mitglieder dienen an‐ stelle der Gewaltdrohung in vielen Fällen familiär oder ethnisch verankerte Normen, die häufig die einzige Option zur langfristigen Etablierung kooperativer Beziehun‐ gen darstellen. Gegenüber staatlichen Organisationen stellt Unauffälligkeit das Hauptziel dar.54 Damit entsprechen die kleinteilig vernetzten Akteure des Konsu‐ mentengeschäfts am ehesten dem klassischen Bild der rein kommerziell orientierten und jenseits von unterwelttypischen Loyalitätsnormen ideologiefreien Kriminalität. Dieses konnte sich in der frühen sozialwissenschaftlichen Forschung zu organisierter Kriminalität gewissermaßen als Leitbild etablieren, welches aber durch die ‚privile‐ gierte‘ Beobachtung der in bereits relativ weit modernisierten Regionen bestehenden Strukturen – vor allem der amerikanischen und italienischen Mafia – eine gewisse Befangenheit zugunsten ‚ordentlicher‘, funktional differenzierter Strukturen auf‐ weist.55

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Gutiérrez 2003, S. 21. Felbab-Brown 2009, S. 17. UNODC 2009, S. 17. Vgl. Heber 2009, S. 18. Hinzu kommt das durch die erheblichen Kosten illegaler Narkotika verursachte Problem der – unter Umständen gewaltsamen – Beschaffungskriminalität, welches aber nicht den im Drogenhandel aktiven Organisationen direkt zugerechnet werden kann. 54 Mörbel 1999, S. 47. 55 McMullin 2009, S. 78.

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An den Grenzübergängen zu den USA, wo die Chance zur Erzielung von Milliar‐ denumsätzen durch die Kontrolle der Umschlagplätze für illegale Narkotika besteht, sind hingegen seit Jahren intensive Gewaltkonflikte zu beobachten.56 Eine für diese Territorialkonflikte typische Gewaltform ist die gezielte Ermordung von auf der Ge‐ haltsliste des gegnerischen Kartells stehenden Polizei- und Sicherheitsbeamten, um diese durch von der eigenen Seite zu beeinflussende Personen zu ersetzen und somit die Herrschaft über die Schmuggelroute zu übernehmen. Obwohl eine Auseinander‐ setzung mit der Staatsgewalt nicht intendiert wird, kommt es naturgemäß zu Reak‐ tionen auf die Tötung von Staatsdienern – und somit zu den bekannten Auseinander‐ setzungen mit ihrem angesichts der involvierten Geldsummen und den einfach zu er‐ werbenden Waffenarsenalen inhärenten Eskalationspotenzial.57 Dieses wird zudem noch dadurch verstärkt, dass der geographische Zugang zum US-Markt über eine re‐ lativ geringe Zahl von stark genutzten Grenzübergängen in den amerikanisch-mexi‐ kanischen Zwillingsstädten verläuft – insbesondere Tijuana/San Diego, Nogales/ Nogales, Ciudad Juárez/El Paso, Nuevo Laredo/Laredo, Reynosa/Hidalgo und Mata‐ moros/Brownsville sind von Bedeutung. Wichtig sind daneben auch bestimmte Ha‐ fenstädte wie Acapulco oder Lazaro Cárdenas als Transitpunkte sowie Städte wie Culiacán in Sinaloa, die bedeutende Mohn- und Marihuanaanbaugebiete dominieren – letztere Stadt ist außerdem Herkunftsort vieler Kartellanführer. Im Allgemeinen bilden sich die größten und stabilsten Kartelle um einen oder mehrere dieser strate‐ gischen Punkte, in denen dieser ökonomischen Logik folgend auch die blutigsten Konflikte stattfinden, während kleinere Organisationen eher taktische Allianzen ein‐ gehen und Handlangerdienste verrichten.58 Die sowohl quantitative als auch qualita‐ tive Eskalation der Gewalt an diesen Orten wird im ökonomischen Ansatz dann meist mit dem enormen Bedeutungszuwachs der mexikanischen Drogenroute gegen‐ über der früher von den großen kolumbianischen Organisationen genutzten karibi‐ schen Route erklärt – so wuchs der über Mexiko laufende Anteil des in die USA ge‐ schmuggelten Kokains von 50 Prozent im Jahr 1991 auf etwa 90 Prozent im Jahr 2004.59 Hinzu kommt, dass aufgrund des demokratischen Wandels Vereinbarungen der Kartelle mit lokalen Politikern aufgrund deren Abwählbarkeit zu einer geringe‐ ren Haltbarkeit tendierten, und die Bundesregierung der von 2000 bis 2006 regieren‐ den bürgerlich-konservativen PAN eine deutlich geringere Toleranz gegenüber jeder Form von Delinquenz zu einem zentralen Thema ihrer Politik machte, so dass fast gleichzeitig mit dem Wachsen der Profitchancen auch ein Ansteigen des Verfol‐

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Dávila 2009. Pacheco 2009, S. 1032. Brands 2009, S. 6 f. O’Neil 2009, S. 66.

gungsdrucks zu erwarten war.60 Die Ungewissheit über die Verteilung zukünftiger Gewinnmöglichkeiten wird damit zur strukturellen Ursache des Drogenkriegs er‐ klärt.61 Die ökonomische Erklärung der überbordenden Gewalt beruht somit auf der Vor‐ stellung, dass die mexikanischen Kartelle in einer Situation erheblich höherer Ge‐ winnerwartungen für die ungewisse Hoffnung auf eine Monopolisierung des Dro‐ genhandels im Grenzgebiet zu den USA das Risiko einer direkten Konfrontation mit der Staatsgewalt zu tragen bereit waren – eine Konfrontation, die in früheren Zeiten aus kommerziellen Motiven stets gemieden wurde.62 Sie hat allen zur Verfügung ste‐ henden empirischen Indikatoren zufolge extrem negative Konsequenzen für die wirt‐ schaftliche Situation der involvierten Organisationen. Die Auswirkungen des ver‐ stärkten Abfangens von Lieferungen in Mexiko sind schwer zu ermitteln – deutliche Steigerungen des Straßenpreises in den USA bei gleichzeitig stagnierender Nachfra‐ ge lassen allerdings auf eine erhebliche Angebotsverknappung schließen. Als noch wirksamer könnten sich die Einschnitte durch das erstmalige dezidierte Vorgehen mexikanischer Behörden gegen Geldschmuggel und -wäsche erweisen.63 Enorme personelle Verluste werden in dem Versuch der Zetas offensichtlich, illegale Ein‐ wanderer zur Arbeit für ihre Organisation zu zwingen.64 Am deutlichsten allerdings wird die teils prekäre ökonomische Situation zumindest einiger Kartelle an der Tat‐ sache, dass sie sich mehr und mehr an anderen Sektoren krimineller Aktivitäten wie etwa Produktpiraterie, Entführungen und Menschenschmuggel und Erpressungen beteiligen – Berichten zufolge hat etwa das früher bedeutende Tijuana-Kartell einen nahezu vollständigen Wandel vom Drogen- zum Entführungsgeschäft vollzogen, ähnliche Tendenzen scheinen sich teils bei den Zetas anzudeuten.65 Es handelt sich dabei um Kriminalitätsformen, deren Profitraten so gering sind, dass sie noch An‐ fang der 2000er Jahre von den großen Kartellen so gut wie keine Beachtung fanden – sie hätten allenfalls das Entdeckungsrisiko bei den eigentlich profitablen Schmug‐ geloperationen gesteigert.66 Unter ökonomischen Gesichtspunkten ist ihr Verhalten somit kontraintuitiv. 60 Vor allem in Medienberichten werden die gewalttätigen Auseinandersetzungen häufig auch auf Konflikte um innermexikanische Konsumentenmärkte zurückgeführt. Eine umfassende Wider‐ legung der These von der Bedeutung des mexikanischen Verbrauchermarkts findet sich bei Aguilar/Castañeda 2009, S. 18-31. 61 Brands 2009, S. 6. 62 Pacheco 2009, S. 1027. 63 Aguilar/Castañeda 2009, S. 48 f.; Pacheco 2009, S. 1040. 64 Deren Verweigerung einer Mitarbeit führte zu dem bisher blutigsten Einzelereignis des Dro‐ genkriegs, dem Massaker von San Fernando an 72 Migranten aus Süd- und Mittelamerika im Bundesstaat Tamaulipas. Berichten zufolge greift die Praxis der Zwangsrekrutierung immer mehr um sich, was auf eine deutliche Schwächung der Kartelle hinweisen würde. Vgl. Gómez 2010. 65 Ravelo 2009, S. 15, 21. 66 Cook 2007, S. 6.

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5. Narcocultura als Lebenswelt und Gewaltkultur Mexikanische Soziologen befassen sich im Gegensatz zu traditionellen, rationalisti‐ schen Paradigmen der Sicherheitsforschung zuzurechnenden ausländischen For‐ schern eher mit den lebensweltlichen Umständen des Drogenhandels, für die Auto‐ ren wie Nery Córdova den Begriff der narcocultura prägten. Gemeint sind damit diejenigen symbolischen und kulturellen Formen der sozialen Vergemeinschaftung, welche jene Sektoren der mexikanischen Gesellschaft verregeln, die ihr Auskommen in der gefährlichen und von bürgerlichen Normen und Gesetzen nicht erfassten Dro‐ genökonomie finden.67 Sie nimmt die Form einer milieuspezifischen Subkultur an, die demographisch bedeutende Teile der Bevölkerung beeinflussen dürfte und der bereits aufgrund dieser Tatsache über den ökonomischen Aspekt hinaus politische und sozialstrukturelle Relevanz zukommt: in den gebirgigen Regionen des Nordwes‐ tens stellt der Drogenhandel teilweise die einzig mögliche Einkommensquelle dar, da in Abwesenheit jeglicher Infrastruktur und mit für die Landwirtschaft denkbar ungeeignetem Terrain andere Wirtschaftszweige nicht Fuß fassen könnten.68 Für das gesamte Land geht die mexikanische Bundesregierung von einer Zahl von rund 500.000 direkt mit dem Drogenhandel befassten Personen aus, wobei von die‐ sen etwa 300.000 mit der Herstellung und Verarbeitung, etwa 160.000 mit Transport und Verteilung sowie als Informanten und die restlichen 40.000 als Anführer – und somit auch mit den verschiedenen Formen der Gewaltanwendung – beschäftigt sind.69 Über finanziell abhängige Familienmitglieder und die scheinlegale Peripherie der Kartelle – von denen einige über enorme Imperien insbesondere im Immobilien‐ bereich, aber auch in verschiedenen Industriebranchen verfügen70 – dürfte die Zahl der indirekt Abhängigen noch bedeutend höher liegen, wobei die Symbolik und Äs‐ thetik der narcocultura noch weit über diese hinausreicht und insbesondere in den letzten Jahren geradezu popkulturelle Anziehungskraft entfaltet. Der hier gemeinte Sinn des Begriffs beschränkt sich aber auf die lebensweltlichen Praxen und Sinndeu‐ tungen, die im spezifischen Bereich des Drogenhandels in Mexiko zum „Erwerb so‐ ziokultureller Identität“ beiträgt.71 Grundsätzlich erfüllt die narcocultura diese identitätsbildende Funktion, indem sie eine moralisch affirmative, ästhetisch attraktive Beschreibung des Lebensstils im Milieu der Kartelle erbringt und dabei ein minimales Maß an Erwartungssicherheit in einer annähernd anarchischen Umwelt generiert sowie vor allem einen positiven Selbstbezug ermöglicht.72 Ihr typisches Narrativ findet sich in den narcocorridos 67 68 69 70 71 72

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Córdova 2011, S. 8 f. Ebd., S. 117. Merlos 2008. Vgl. Ravelo 2009 a, S. 147. Meyer 2002, S. 43. Córdova 2004, S. 10 f.

(„Drogenschlagern“) – volkstümlichen Musikstücken, die insbesondere in Nordme‐ xiko fast allgegenwärtig sind – und verläuft meist ungefähr folgendermaßen: Der narco als archetypischer Vertreter dieser Symbolwelt wird zum „Antihelden“ stili‐ siert, der es – aus ärmlichen Verhältnissen stammend – im Drogengeschäft durch Geschick, Glück und Charisma, vor allem aber durch strikte Loyalität gegenüber seinen Komplizen sowie durch rücksichtslose Gewalt gegenüber Außenstehenden zu Erfolg bringt. Er ist gewissermaßen eine subkulturelle Verkörperung des Ausnahme‐ zustands. Die Verfolgung durch Behörden, Rivalen und die US-amerikanischen Grenzbehörden erträgt er gelassen und sieht dabei furchtlos dem (meist frühen) Tod ins Auge. Motiviert wird er weniger durch Eigennutz, sondern durch die Liebe zu seiner Familie und seinem Heimatdorf – beide unterstützt er finanziell großzügig – was ihn aber nicht daran hindert, einen ausgesprochen glamourösen Lebensstil mit zahlreichen Eskapaden zu führen.73 Die über den Tod hinausgehende Kompensation besteht für ihn in der letzten Ruhe in einer Grabstättenarchitektur, deren Entfaltung dekadenter Pracht in der modernen westlichen Welt ohne Beispiel sein dürfte. In dem Mausoleum eines bedeutenden Kartellchefs, Amado Carrillo Fuentes, werden an seinem Todesdatum jeden Monat katholische Messen gefeiert.74 Vor allem bei den Anführern der älteren Generation wird oft von einer enormen Religiosität be‐ richtet, sie manifestierte sich in den sogenannten narcolimosnas – „Narco-Almo‐ sen“: so finanzierte etwa die bereits erwähnte Familie Arellano Félix in Tijuana ein hervorragend ausgestattetes Gebäude für ein Priesterseminar. Der Bischof des Bun‐ desstaates Aguascalientes rechtfertigte seinerseits öffentlich die Annahme solcher Spenden mit dem altbekannten Argument des Pecuniam non olet. Hohe Mitglieder des Klerus dienten aufgrund derartiger Verbindungen als Mittler zur Bundesregie‐ rung.75 Aber auch die weniger orthodoxen Inkarnationen der narcocultura sind geprägt von zahlreichen quasi-religiösen Bezügen, die wiederum in engem Bezug zur sozia‐ len Identität der – in diesem Fall meist niederrangigeren – Kartellmitglieder stehen. Die meiste Beachtung wird der kultartigen Verehrung des mythischen Räubers und Insurgenten Jesús Juárez Mazo – bekannt unter dem Namen Jesús Malverde – zuteil, der vor allem im Bundesstaat Sinaloa und in den umliegenden Gebieten als Volks‐ heiliger und Archetyp des ‚wohltätigen Banditen’ (und als popkulturelle Ikone des machismo) dient. Ebenso wie im narcocorrido wird auch hier die Figur des Antihel‐ den gefeiert, der sich im gewaltsamen Widerstand gegen staatliche Autoritäten be‐ weist und schließlich ums Leben kommt.76 Dieser Aspekt der traditionellen narco‐ cultura ist geprägt von einem todesbejahenden Immanentismus, der für die Chance 73 74 75 76

Ebd.; Montoya Arías 2008, S. 53-61. Dávila 2009 a, S. 138-144. Pérez-Rayón 2006, S. 145-150. López 2009, S. 133 f.

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auf einen schnelllebigen, exzessiven Lebensstil die damit einhergehenden Gefahren und ganz explizit auch ein gewaltsames Ende akzeptiert; so wie in dem diese Hal‐ tung zusammenfassenden Sprichwort „más vale vivir cinco años como rey que cin‐ cuenta como güey“ – ‚lieber fünf Jahre wie ein König leben denn fünfzig wie ein Ochse’.77 Vermutlich handelt es sich bei dem Malverde-Kult um das Resultat indi‐ gen-katholischer Synkretismen in Sinaloa, wo er bereits vor dem Aufkommen des Drogenhandels Teil einer Gegenkultur marginalisierter Bevölkerungsteile darstell‐ te.78 Ähnlich verhält es sich mit dem wachsenden Kult der Santa Muerte (des ‚heili‐ gen Todes‘), die in manchen Fällen auf Altären als weibliches Gegenstück zu Jesús Malverde auftritt und die typischerweise vor wichtigen Vorhaben – etwa vor größe‐ ren Schmuggeloperationen, aber mehr und mehr auch von nicht in den Drogenhan‐ del involvierten Personen – durch Geschenke und Riten günstig gestimmt werden soll.79

6. Kriminalität und Ausnahmezustand im Modernisierungsprozess Neben die traditionellen Elemente der narcocultura sind in den letzten Jahren neuar‐ tige Phänomene getreten, die im Kontext mit dem sowohl extensiven als auch inten‐ siven Anwachsen der Kartellgewalt zu sehen sind. Einige Analysten bezeichnen die‐ sen Prozess als eine Art „Prätorianerrevolte“ der bewaffneten Teilorganisationen der Kartelle, die sich in mehreren Fällen gegen ihre ursprünglichen Dachorganisationen wandten und diesen gegenüber gewaltsam die Vorherrschaft beanspruchten – die be‐ kanntesten Beispiele sind die bereits genannten Zetas sowie die Organisation der Gebrüder Beltrán Leyva, deren Anführer Arturo im Dezember 2009 medienwirksam von der mexikanischen Marineinfanterie erschossen wurde.80 Noch deutlicher wird der veränderte Charakter des Konflikts im Fall der Familia Michoacana, die über die drastische Gewaltbereitschaft hinaus auch Züge einer extremistischen Sekte trug: die Angehörigen werden bei Bibelstunden in die Theologie des evangelikalen ameri‐ kanischen Predigers John Eldredge indoktriniert und zum Verzicht auf Drogen und Alkohol gezwungen. Die Rekrutierung neuer Mitglieder erfolgt im Rahmen der Mis‐ sionierung insbesondere unter Strafgefangenen und Patienten in Suchtkliniken. An‐ stelle einer Gewinnbeteiligung oder Einzelzahlungen für geleistete Dienste erhalten sie einen regelmäßigen, recht großzügigen Sold, müssen aber weiter an der religiö‐

77 Pérez-Rayón 2006, S. 155. Tatsächlich beträgt aktuellen Untersuchungen zufolge die durch‐ schnittliche Karrieredauer eines mexikanischen Auftragsmörders nur etwa drei Jahre, sie endet typischerweise tödlich oder – in relativ wenigen Fällen – durch Inhaftierung, so Rios 2010. 78 López 2009, S. 133 f. 79 Vgl. Villarreal 2009. 80 Logan/Sullivan 2010.

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sen Indoktrination teilnehmen.81 Entstanden ist die Familia Michoacana vermutlich aus Gruppen von Vigilanten, die ihre Region vor dem Eindringen der Zetas beschüt‐ zen wollten – bis heute beanspruchen sie eine Rolle als Verteidiger ihres Bundes‐ staats gegen Kriminelle, so werden etwa Diebe und Drogenverkäufer öffentlich ver‐ prügelt oder hingerichtet. Daneben verteilen sie Berichten zufolge auch Bibeln in öf‐ fentlichen Gebäuden und vergeben Kleinkredite an Landwirte und Kleinunterneh‐ mer – hier tritt wieder der parastaatliche Charakter mancher Kartelle hervor – den‐ noch handelt es sich, gemessen an ihrer Größe, um die wohl gewalttätigste Gruppe in Mexiko.82 Bei diesen neuen ‚paramilitärischen‘ Kartellen handelt es sich ganz offensichtlich nicht mehr um die sich auf finanziellen Gewinn (und soziale Anerkennung) konzen‐ trierenden Gruppen der 70er oder 80er Jahre. Diese ordneten die Gewaltanwendung zum Einen der kommerziellen Logik und darüber hinaus wie oben beschrieben im‐ pliziten gewaltlimitierenden Regeln unter, allenfalls kam es zu eher atavistischen, duellartigen Racheakten bei empfundenen Vergehen gegen die persönliche Ehre. Die neue Logik ist eine der kollektiven Gewaltausübung, der Vergeltung und Gegenver‐ geltung.83 Dies wird auch in einer neuartigen Ästhetik der Gewalt sichtbar: anstelle der alten cowboyartigen Kleidung mit diversen Luxusaccessoires nebst Maschinen‐ pistolen mit Goldrand werden bei getöteten oder gefangengenommenen Kartellmit‐ gliedern mittlerweile häufig uniformartige Kleidungsstücke – inklusive Einheitsab‐ zeichen und die Kartellzugehörigkeit symbolisierende Wappen – gefunden, in eini‐ gen Fällen auch mit diesen gekennzeichnete Standarten und Fahrzeuge.84 Diese Ver‐ änderung der Symbolik scheint auf einen tiefgreifenderen Wandel in der Selbstwahr‐ nehmung der Akteure hinzudeuten: vom teuer gewandeten, radikal individualisti‐ schen, smarten Aufsteiger, der seinen eigenen finanziellen Gewinn verfolgte und einem basalen Ehrenkodex gehorchte, hin zum unerbittlichen paramilitärischen Kämpfer gegen die Staatsgewalt, der auch terroristische Gewaltformen nicht scheut. Geblieben ist indes das Phänomen der Inkaufnahme des eigenen Todes bei Aktionen gegen Konkurrenten und staatliche Kräfte, die von einem Analysten bereits mit der Todesverachtung nahöstlicher Selbstmordattentäter verglichen wurde.85 Insofern ist die Rede von „Narco-Terrorismus“ durchaus mehr als lediglich eine rhetorische Strategie zur Gewinnung von US-amerikanischer finanzieller Unterstützung im Kampf gegen die Kartelle.86 Vielmehr erfasst der Begriff durchaus einen neuen As‐ pekt sowohl in der Praxis als auch in der Selbstbeschreibung dieser Organisationen. Sie wird auch sichtbar an dem Wandel der Botschaften, die durch die bereits er‐ 81 82 83 84 85 86

Grayson 2009. Grayson 2009 a. Jimenez 2007, S. 17. Gómez 2010 a. Campbell 2009, S. 27. So aber z.B. Schneiker 2009, S. 85.

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wähnten narcomantas verbreitet werden: enthielten diese noch vor einigen Jahren meist Botschaften, die auf die behaupteten Verfehlungen konkurrierender Gruppen oder einzelner Mitglieder der eigenen Organisation hinwiesen, so sind neben diese in letzter Zeit Botschaften getreten, die regionale Herrschaftsansprüche gegenüber der Staatsgewalt geltend machen und zum Teil explizite politische Entscheidungen einfordern.87 In einem Text, dessen Veröffentlichung in einer Regionalzeitung durch Gewaltdrohungen erpresst wurde, wurde ein „Pakt“ der Regierung mit der Kartellen für notwendig erklärt.88 Mit diesem explizit gegen die Legitimität der mexikanischen Staatsgewalt gerich‐ teten Fokus einiger Kartelle erscheint eine Erklärung der terroristischen Gewaltfor‐ men durch Synmorphie – also eine zweckfreie, nicht strukturell bedingte, reine Imi‐ tation von zeitgleich etwa im Nahen Osten auftauchenden Gewaltformen – als eher zweifelhaft.89 Eher dürfte es sich um eine Reaktion auf den strukturellen Wandel der mexikanischen Gesellschaft handeln, der die vormalige Integration der Kartelle in ökonomische und vor allem politische Strukturen prekär werden lässt. In der „post‐ revolutionären“ Epoche – also unter dem Einparteienregime der PRI – kam dem po‐ litischen System Mexikos jenseits des Treffens kollektiv bindender Entscheidungen eine „Hyperfunktion“ der Garantie der übergreifenden sozialen Ordnung im Sinne der Bestimmung des ökonomischen Status von Gruppen und Personen sowie der Entscheidung jeglicher sozialer Konflikte zu.90 Diese Dominanz politischer Ent‐ scheidungen insbesondere gegenüber rechtlichen Codierungen lässt sich mit Marce‐ lo Neves als typisches Phänomen der „peripheren Moderne“ beschreiben, in dem an die Stelle von für die „zentrale Moderne“ typische Form der funktionalen Differen‐ zierung – und dementsprechend der rechtlich vermittelten und dementsprechend ge‐ neralisierten Erwartungen und Erwartungserwartungen – die Inklusion (bzw. dem‐ entsprechend die Exklusion) von Personen durch personalisierte Machtstrukturen tritt.91 Eben darin liegt ein ständiger, generalisierter Ausnahmezustand im Sinne der überrechtlichen Verfügungsgewalt über Inklusion und Position in derartigen kliente‐ listischen Netzwerken, der in zahlreichen Kontexten des „globalen Südens“ vorliegt und dabei nicht notwendigerweise in Gewalt endet.92 Zu deren Erklärung sind weite‐ re Faktoren einzubeziehen. Die klassischen Kartelle (von Tijuana, Juárez, Sinaloa usw.) fungierten in diesem Sinne als Mechanismen zur politischen Inklusion peripherer Gebiete und vor allem illegaler ökonomischer Gewinnmöglichkeiten in klientelistische Verteilungs- und Herrschaftsstrukturen und konnten insofern – unabhängig von der gelegentlichen 87 88 89 90 91 92

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Vgl. Córdova 2011, S. 23.; Ramirez 2008. Jiménez 2010. Eine solche Erklärung bevorzugt etwa Pacheco 2009, S. 1032 f. Millán 2008, S. 164. Neves 2007, S. 206 f. Kleinschmidt 2018, S. 71 f.

Verhaftung von Kartellanführern, die ihre Grenzen überschritten hatten – mit einer gesicherten sozialen Funktion und stabilen Rahmenbedingungen für ihre Aktivitäten rechnen. Mit der Demokratisierung des mexikanischen politischen Systems wurde die Inklusion der Kartelle in die staatlichen Strukturen mehr und mehr hinfällig. In‐ nerhalb der Eigenlogik ausdifferenzierter politischer und rechtlicher Systeme ist für die proto-feudale Struktur der klassischen Kartelle als regionale Integrationsmecha‐ nismen kein Platz mehr – rechtlich treten sie als Delinquenten, politisch als illegiti‐ me Konkurrenz um Entscheidungskompetenzen in Erscheinung. Somit stehen die Kartelle unter dem bereits beschriebenen Transformationsdruck, sich entweder zu kleinteiligeren, weitgehend unauffälligen Netzwerken der organisierten Kriminalität zu entwickeln – oder aber die Konfrontation zu suchen, um ihren Herrschaftsan‐ spruch offen durchzusetzen. In der Terrorismusforschung wurde in anderen empiri‐ schen Kontexten bereits die Bedeutung der Gewalt nach außen zur Erhaltung der in‐ ternen Macht- und Solidaritätsstrukturen hervorgehoben, und eben diese Erklärung scheint auch für die Gewalt der mexikanischen Kartelle an Plausibilität zu gewin‐ nen.93 Der Terrorismus der Kartelle wäre dann zu deuten als der Versuch, ungeachtet der gesellschaftlichen Evolution Mexikos die eigene – auf die Bedingungen der So‐ zialstruktur der peripheren Moderne angewiesene – Organisationsweise zu erhalten. Der permanente Ausnahmezustand wird gefährdet durch den Einbruch der durch funktionale Differenzierung und unpersönliche Machtausübung gekennzeichneten Moderne. Ungeachtet der Eskalation der Gewalt kann von einem Kollaps des mexikani‐ schen Staates aber keine Rede sein – im Gegenteil, in zahlreichen Regionen des Landes ist der Konflikt kaum zu bemerken.94 Trotz gelegentlicher wirtschaftlicher Krisenerscheinungen und den Betrugsvorwürfen um die Präsidentschaftswahlen 2006 und 2012 werden die demokratischen Institutionen allgemein als stabil be‐ trachtet.95 Eher könnte es sich bei der ausufernden Gewalt um die temporäre Neben‐ folge eines insgesamt recht erfolgreich verlaufenen Modernisierungsprozesses han‐ deln. Mit dessen Fortschreiten werden für die Kartelle zwei Optionen sichtbar: ent‐ weder sie passen sich an die veränderten Rahmenbedingungen an, indem sie ihre re‐ gionalen Herrschaftsansprüche zugunsten rein profitorientierter, klandestiner Tätig‐ keit zurückstellen – zugunsten eines konsensualen Modells, welches sich am deut‐ lichsten in der aktuellen Entwicklung des Sinaloa-Kartells abzuzeichnen scheint. Dieses hat sich angesichts der Verluste der gewaltbereiteren Organisationen und der Konzentration der staatlichen Kräfte auf diese allmählich zum dominanten Faktor im 93 Abrahms 2008, S. 95 f. 94 Die Mordrate in Mexiko ist insgesamt immer noch wesentlich niedriger als im allgemein als Erfolgsmodell betrachteten Brasilien, in manchen Bundesstaaten ist sie niedriger als in Kana‐ da; siehe The Economist 2010. In Mexico City stellt sich die Sicherheitslage immer noch als erhebliche Verbesserung gegenüber der Straßenkriminalität der 1980er Jahre dar. 95 Grayson 2007, S. 291.

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eigentlichen Kerngeschäft der Kartelle entwickelt.96 Die Alternative wäre eine Transformation hin zu regionalen Gewaltakteuren, die durch Terrordrohungen gegen Politiker und Bevölkerung ihre Machtposition sichern, dabei aber auch parastaatli‐ che Ordnungsleistungen erbringen müssen – wie sich dies in der Operationsweise der Familia Michoacana, die sich mittlerweile unter staatlichem Druck radikalisiert hat und nunmehr unter der Bezeichnung „Tempelritter“ firmiert, äußert. Unter de‐ mokratisch-normativen Aspekten wäre die erste Option vermutlich in jedem Fall vorzuziehen – solange jedenfalls die Prohibition bestimmter Rauschmittel andauert, ist angesichts der zu erzielenden Gewinne mit der Existenz des Drogenhandels zu rechnen. Die Frage für Mexiko ist gegenwärtig, wie sich unter den Bedingungen de‐ mokratischer Politik und sich entwickelnder Rechtsstaatlichkeit die Nebenfolgen seiner Aktivitäten minimieren lassen. Die Regierung des 2012 gewählten Präsidenten Enrique Peña Nieto hatte ange‐ kündigt, anstelle des militarisierten Kampfs gegen die Kartellorganisationen und der gezielten Jagd auf deren Anführer den Blick auf die allgemeine öffentliche Sicher‐ heit zu richten – mithin also einen Schritt weg vom Ausnahmezustand zu tun und normale, rechtsstaatliche Kriminalitätsbekämpfung zum Maßstab des Erfolgs zu ma‐ chen.97 Diese Politik basierte in ihrer Umsetzung dann aber unter anderem auf der tatsächlichen Einführung von regionalen Ausnahmezuständen in der Ernennung von „Sonderbeauftragten“ in besonders betroffenen Gebieten, so etwa in der „Tierra Ca‐ liente“ von Michoacán. Diese gingen unter Einsatz von „autodefensas“, also irregu‐ lären Milizen nach kolumbianischem Vorbild, gegen Drogenkartelle vor, und setzten sich dabei oftmals auch im Bezug auf illegale Geschäfte an deren Stelle.98 Während zunächst sinkende Mordraten einen Erfolg anzudeuten schienen, sind diese nun wie‐ der in bisher unerreichte Höhen gestiegen. Die repressionsbasierte Politik verfehlte wohl die in diesem Beitrag rekonstruierte Handlungslogik der kriminellen Organisationen, die für die Kontinuität ihrer profita‐ blen Geschäfte eben auch das stabile Arrangement mit politischen Akteuren suchen müssen. Ein solches kann es aber unter der Voraussetzung von Rechtsstaatlichkeit und regelmäßiger demokratischer Machtwechsel auf allen politischen Ebenen nicht dauerhaft geben – die mexikanischen Kartelle sind Produkte und Verteidiger eines postkolonialen, vordemokratischen Ausnahmezustands, und der blutige Gewaltkon‐ flikt der Gegenwart könnte letztlich als Begleiterscheinung einer Modernisierung gedeutet werden, die sich in zahlreichen anderen gesellschaftlichen Bereichen struk‐ turell ähnlich, wenn auch unblutig abspielt. Neben den Exzessen in einigen Bundes‐ staaten lässt sich dabei aber auch beobachten, dass die am stärksten gewalttätigen Organisationen wie die Zetas allmählich an Bedeutung verlieren – ihre Verhaltens‐ 96 Vgl. Carrasco 2010, S. 13. 97 Althaus 2013. 98 Gómez 2017.

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weisen werden von kleineren Organisationen, die oft aus dem Zerfall größerer Strukturen entstehen, übernommen.99 Die Möglichkeiten der Politik, auf diesen gesellschaftlichen Wandel steuernd oder auch nur beschleunigend einzugreifen, dürften begrenzt sein. Die Verhaftung der meisten führenden Kartellmitglieder – darunter auch El Chapo, der gegenwärtig in den USA einer langen Haftstrafe entgegensieht – hat das Gesamtphänomen des Drogenhandels nicht erkennbar beeinträchtigt. Gleichzeitig hat sich mit der bisheri‐ gen Stabilität der mexikanischen politischen Institutionen und der durchaus zufrie‐ denstellenden wirtschaftlichen Entwicklung aber gezeigt, dass auch demokratische Staaten mit einem geographisch und sozialstrukturell begrenzten Ausnahmezustand umgehen und diesen eventuell sogar als Treiber für weitergehende, dringend benö‐ tigte institutionelle Reformen im Sicherheits- und Justizbereich nutzen können.100 Mit der Präsidentschaft des populistischen Kandidaten Andrés Manuel López Ob‐ rador zeigt sich allerdings auch, dass die Akzeptanz der bisherigen, liberal geprägten Gesamtentwicklung Mexikos – wohl auch unter dem Einfluss der aggressiven Aus‐ sagen Donald Trumps in den USA – bei den Wählern an ein Ende gelangt ist. Ein genereller Vertrauensverlust in die bisherige staatliche Politik wurde hier zumindest teilweise von Verstrickungen der Sicherheitsorgane in die Ermordung von 43 Stu‐ denten im Jahre 2014 – unter noch immer teils ungeklärten Umständen – enorm be‐ schleunigt. Gleichzeitig ist aber diese Vertrauenskrise keineswegs exklusiv durch die Sicher‐ heitsproblematik bedingt, sondern im Kontext einer weitergehenden Frustration mit Gerechtigkeitsdefiziten der politischen und gesellschaftlichen Ordnung zu sehen – und in dieser Hinsicht erscheint die Wahl von López Obrador eher als Phänomen, wie es auch in anderen OECD-Staaten anzutreffen ist.101 Der Ausnahmezustand auf‐ grund der Drogenkriminalität wird weitgehend als regional begrenztes Phänomen in‐ terpretiert – was dem gegenwärtigen Interesse an „regions of exception“102 in der Politikwissenschaft entgegenkommen dürfte. Die in der Prohibition bestimmter Sub‐ stanzen liegenden und über zahlreiche völkerrechtliche Konventionen verankerten Grundproblematik dürfte so jedoch noch weniger beizukommen sein,103 vielmehr wird sie in dieser Wahrnehmung entpolitisiert und bis zu einem gewissen Grad natu‐ ralisiert.

99 100 101 102 103

Correa-Cabrera 2017, S. 248. Shirk 2011. Vgl. Cunningham 2019. Pepinsky 2017. Vgl. Sanchéz-Avilés/Ditrych 2018, S. 478.

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Pedro Villas Bôas Castelo Branco1 Die Humanisierung des internationalen Rechts aus der Perspektive des Ausnahmezustands Theorie des Ausnahmezustands versus Grundlagen der Humanisierung des internationalen Rechts

1. Einleitung: Humanisierung und Ausnahme Die Globalisierung2 des Kriegs gegen den Terror, der Wirtschaftskrisen, der Massen‐ arbeitslosigkeit, der Umweltschäden wird häufig als Ausnahmezustand bezeichnet. Heute ist es zum Gemeinplatz geworden, vom wirtschaftlichen Ausnahmezustand,3 vom globalen Ausnahmezustand, vom ständigen Ausnahmezustand,4 vom universel‐ len Kriegszustand,5 vom ständigen Bürgerkrieg6 etc. zu reden. Durch die kontinuier‐ lichen wirtschaftlichen, humanitären und ökologischen Krisen und die Häufigkeit der Kriege und terroristischen Aktionen sind die Grenzen zwischen Normalität und Anormalität durchlässig geworden. Das Verblassen der Linien, welche die Grenzen zwischen Nomos und Anomie, zwischen Regulärem und Irregulärem, zwischen Vor‐ hersehbarem und Unvorhersehbarem ziehen könnten, offenbaren tiefgreifende Ver‐ änderungen in der globalen Politik. Diesem Eindruck – dessen Beschreibung das Bild einer Welt projiziert, der es an einem Minimum an Normalität, Ordnung und Stabilität fehlt – steht ein Szenario gegenüber, das von den Ideen einer humanisti‐ schen Quelle des internationalen Rechts entworfen wird. Ihre zentrale These besagt, dass das Auftreten neuer Akteure und neuer Normen auf der Bühne der Weltpolitik die Bewegung der Humanisierung des internationalen Rechts und den Prozess der Internationalisierung der Menschenrechte angestoßen habe.

1 Übersetzung aus dem Brasilianischen von Markus André Hediger. 2 Hier drängt sich Virilios Frage auf: „Totality or all-inclusiveness? We can scarcely avoid the question today of what is meant by the endlessly repeated word globalization.” 2005, S. 7. 3 Siehe Bercovici 2004, S. 149-180. In dieser Arbeit legt der Autor seine These dar, wonach an der Peripherie ein permanenter wirtschaftlicher Ausnahmezustand herrschte. Siehe diesbezüg‐ lich auch Reiner Hanks Artikel „Der Ausnahmezustand Europas”, in Frankfurt Allgemeine vom 12.08.2012. 4 Es existieren diverse andere Ausdrücke, deren Semantik einen dem Ausnahmezustand ähnlichen Sinn aufweisen, so z.B. die globale Wirtschaftskrise, der globale Zustand, der permanente Not‐ stand etc. 5 Castelo Branco 1983, S. 17. 6 Negri 2003, S. 74.

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Um diese Veränderungen zu untersuchen, sollen im Folgenden diese beiden Denkrichtungen miteinander konfrontiert werden. Deren Erste wird von Autoren vertreten, die sich Gedanken über die Ausnahme machen und diesen Begriff ver‐ wenden, um die Dynamik des Kampfes um die Errichtung einer Ordnung in der Weltpolitik zu verstehen. Diese Denkrichtung nenne ich „Ausnahmetheorie”.7 Sie wird, unter anderen von Carl Schmitt, Giorgio Agamben, Alain Benoist, Reinhart Koselleck, Gilberto Bercovici und Chantal Mouffe vertreten. Für die zweite Denk‐ richtung, die ich hier die humanistische8 nennen werde, stehen Jürgen Habermas, John Rawls, Norberto Bobbio, Cançado Trindade, Celso Lafer, Thomas Buergenthal, Flávia Piovesan und Andere. Ihr wesentliches Merkmal ist die Verteidigung der Hu‐ manisierungsbewegung des internationalen Rechts und der Internationalisierung der Menschenrechte. Die Humanisierung ist das zentrale Element einer Vorstellung der internationalen Beziehungen, welcher der Glaube an die Substitution des klassischen jus gentium durch ein neues jus gentium zugrunde liegt, dessen fundamentales Merkmal die Erhebung des Prinzips der Würde des Menschen zum vorrangigen Zweck der Konkretisierung des internationalen Rechts ist. Die Würde des Menschen oder die Aufwertung der Menschheit als Ziel an sich wäre demzufolge ein ethischer Imperativ, der in der Lage wäre, die Normierungen des internationalen Rechts zu de‐ finieren und abzugleichen und den juristischen Entscheidungen der internationalen Gerichtshöfe das rechte Maß an die Hand zu geben. In der humanistischen Perspek‐ tive erscheint das Individuum als Subjekt von Rechten und Pflichten internationaler Ordnung und als Hauptdarsteller auf der Bühne des neuen jus gentium, indem sie die Menschheit zu einem Ziel an sich erhebt. Diese Bekräftigung und Anerkennung der juristischen internationalen Persönlich‐ keit und Fähigkeit des Individuums beruht auf dem Kantschen Ideal, dessen Dreh‐ punkt in der Übertragung der Metaphysik auf die Konkretisierung des Rechts be‐ steht. Somit umschreiben „die Menschenrechte [...] also genau den Teil einer aufge‐ klärten Moral, der ins Medium des zwingenden Rechts übersetzt und in der Gestalt effektiver Grundrechte politische Wirklichkeit werden kann.9 So wäre es also mög‐ lich, eine Brücke zwischen der Autonomie des Willens des freien und vernünftigen Subjekts und der mit dem Zwangsrecht bewaffneten Heteronomie zu schlagen.10 Die Einführung moralischer Werte im Recht bedeutete also ihre Legitimierung auf der Grundlage eines universalisierbaren Fundamentes, das in der Lage wäre, die Huma‐ 7

Selbstverständlich weist das Denken dieser Autoren große Unterschiede auf, was sie aber alle gemeinsam haben, ist die Bedeutung, die sie dem Antagonismus beimessen, wonach es un‐ möglich ist, den Extremfall der existenziellen Konflikte aus der politischen Praxis und Reflexi‐ on fernzuhalten. 8 Ungeachtet der unterschiedlichen Nuancen im Denken dieser Autoren, gründen sie alle das Recht auf universellen moralischen Werten und leugnen den unvernünftigen, aggressiven und unergründlichen Charakter des Menschen. 9 Habermas 2011, S. 22. 10 Kant 2004, S. 65 f.

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nisierung des internationalen Rechts anzustoßen und die Ausmerzung von Antago‐ nismen zu beschleunigen. Man könnte jedoch auch hervorheben: Moralische Perspektiven dienen unter diesem Gesichtspunkt der Generalisierung von Konflikten, denn wenn jemand schon schändlich ist, dann ist er das natürlich in jeder Be‐ ziehung und nicht nur in dem Moment, der mir gerade aufgefallen ist. Wenn ich mora‐ lisch argumentiere, habe ich immer die Tendenz, Konflikte zu generalisieren.11

Vom Standpunkt der Ausnahmetheoretiker aus gesehen ist das moralische Funda‐ ment, auf dem die Theorie der Humanisierung des internationalen Rechts gründet, die „Hefe“, die die Intensität der Konflikte übermäßig steigern und den Andern sei‐ ner menschlichen Natur oder seines alter egos berauben kann. So gesehen, steht hin‐ ter der universalisierenden Denkrichtung der Menschenrechte die Unnachgiebigkeit in Bezug auf den Unterschied und den Ausschluss der Qualität des Menschlichen von den biologischen Lebewesen, deren gegensätzliche Stimmen „ein neues und wahres internationales Recht der Menschheit“ ablehnen.12 Deshalb muss jede Art der Verleugnung wahrer universeller moralischer Werte13 mit aller Schärfe krimina‐ lisiert und überwunden werden. Je mehr man also die Bewegung der Internationali‐ sierung der Menschenrechte und die Humanisierung des internationalen Rechts aus‐ weitet, umso mehr vergrößern und verschärfen sich die Gegensätze. Deshalb dreht sich die aktuelle Debatte im Bereich der Weltpolitik um das Problem der humanitä‐ ren Intervention, deren theoretische Grundlage auf der Vorstellung des in einem Sys‐ tem universeller moralischer Werte verankerten Rechts beruht. Die militärische In‐ tervention, die sich euphemistisch als „humanitär“ ausgibt, erfolgt in zunehmendem Masse ohne UN-Mandat, was einem Ausschluss der Einrichtungen ihrer eigenen Charta gleichkommt. Ihre Anwendung stellt die Aufhebung der grundlegendsten Normen, die auf dem Prinzip der Nicht-Intervention in nationalen Angelegenheiten der UNO-Mitgliedstaaten gründen. Der Ausnahmezustand, dem die Normen der Charta unterworfen werden, beruft sich auf ein absolutes moralisches Fundament: die Rettung der Menschheit. Aus humanistischer Perspektive entzieht sich die militärische Aktion zur Rettung der Menschenrechte jeder Diskussion, vor allem wenn es Anzeichen für einen Geno‐ zid, für Verbrechen gegen die Menschheit und für Kriegs- und Aggressionsverbre‐ chen gibt (Artikel 5 des Römischen Statuts des Internationalen Gerichtshofs). Vielen gilt der Minderheitenentscheid des Sicherheitsrats14 als letzter Garant zur Wahrung der grundlegendsten Rechte der Menschheit. Die Ausnahmetheoretiker wiederum 11 Luhmann 2004, S. 337. 12 Cançado Trindade 2010, S. 19. 13 Zu einer Analyse der Rolle des Moralischen in der nordamerikanischen Außenpolitik siehe McCormick 2010, S. 21. 14 In seiner Analyse der Rolle des Sicherheitsrates beobachtet Buergenthal, dass “[…] the resolu‐ tions authorizing these measures are ambigous in terms of legal norma and factural considerati‐ ons giving rise to them, it may be premature to assert that the Security Council has adopted a

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vertreten die Auffassung, dass eine solche Aktion nur von Ländern unternommen werden kann, die die Unterstützung der großen Atommächte genießen, vor allem der imperialen Souveränität der USA, welche seit der Übernahme einer universalen In‐ terpretation der Monroe-Doktrin jegliche Frage der Weltpolitik als innenpolitische Angelegenheit betrachten. Die Erosion des westfälischen Systems, die Umwandlung des Staatenkrieges in einen Weltbürgerkrieg, die Verwischung des Unterschieds zwischen Zivilem und Militärischem, zwischen Freund und Feind, zwischen Soldat und Zivilperson, zwi‐ schen Krieg und Frieden, Sicherheit und Unsicherheit, Aufrüstung und Abrüstung ergibt ein Szenario, dessen erhöhter Kontingenzpegel zur Feststellung der Entwick‐ lung des provisorischen Ausnahmezustands in einen nicht mehr aufzuhebenden Aus‐ nahmezustand führt.15 Die Zerstückelung der Zwischenstaatlichkeit, die Deterritoria‐ lisierung und der Niedergang der staatlichen Souveränität wären also Symptome einer neuen Weltordnung, in welcher das Territorium zu Land, Wasser, Luft und Kosmos von der größten Streitmacht des Planeten beherrscht wird, die zudem über die Aufhebung der juristischen Weltordnung in Übereinstimmung mit ihren eigenen Interessen entscheidet, die übrigens immer jene von Eliten sind, die in der Lage sind, größte Macht anzuwenden. Der Ausnahmezustand, dessen Ausweitung sich in verschiedenen Lebensberei‐ chen bemerkbar macht, ist Indikator und Ursache einer Veränderung der Vorstellung von Raum und Zeit. Es ist bemerkenswert, wie der Begriff des Ausnahmezustands immer mehr die Vorstellung des Vorübergehenden, Temporären verliert. Diese Be‐ deutung, die auf eine vorübergehende Notsituation verweist, wird von der Vorstel‐ lung des Unwiderruflichen verdrängt; seine exzessive zeitliche Ausweitung macht aus dem temporären einen permanenten Ausnahmezustand. Indizien für die Verdrän‐ gung des Vorübergehenden durch das Permanente sind kritische Situationen, in de‐ nen Krisen des Finanzmarktes, Kriege und jegliche Art von Interventionen in der Normalität des Alltags sich häufen. Der Ausnahmezustand wird als Indikator und Ursache der Mutation der Souveränität betrachtet, deren wichtigste Veränderung in der Übertragung der Staatsmacht auf überstaatliche Institutionen besteht, die von der imperialistischen Weltmacht gestützt oder aufgehoben werden. Die „permanente“ Entgleisung der Rechtsordnung hat die Unmöglichkeit zur Folge, zwischen Ordnung und Unordnung, Stabilität und Instabilität, gewöhnlichem und ungewöhnlichem Le‐ ben, Normalität und Anomalität, Regulärem und Irregulärem zu unterscheiden, was schließlich die verwirklichende und wiederherstellende Kraft des Rechts der eigenen souveränen Entscheidung überflüssig macht. Die politische Substanz von Handlung und Entscheidung im Staatsbereich – die von der Transzendenz und Überindividuali‐ modern version of the doctrine of collective humanitarian intervention” (Buergenthal 2004, S. 4). 15 Schmitt 2002, S. 37.

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tät gekennzeichnet ist – und somit auch seine Souveränität nutzen sich ab, so dass jedes Individuum schließlich seinem eigenen Schicksal überlassen bleibt. Die Hu‐ manisierung des internationalen Rechts projiziert das Individuum als letzte Entschei‐ dungsinstanz, jener aber, der über die letzten Fragen verfügt, ist es, der über den Ausnahmezustand der Weltordnung entscheidet, d.h. über die Aufhebung der inter‐ nationalen Normen der Charta der Vereinten Nationen: Im Fortgang unserer Überlegung müssen wir natürlich von der UNO sprechen, der globa‐ len Organisation, der die Aufgabe zukommt, den Frieden und die Weltordnung zu si‐ chern. Doch wir sind uns bewusst, dass die UNO nichts anderes ist als der Reflex der bestehenden Ordnung und leider auch der Unordnung. Die UNO konstituiert nicht. Wie wir sehen, tut sie nichts anderes, als jede Wendung in der Entwicklung des kalten Krieges nachzuvollziehen. Niemand wird abstreiten, dass ihre Methoden und Verfahrensweisen einen gewissen Wert besitzen, doch die wirklichen Probleme und objektiven Phänomene lösen sich nicht mit normativen oder prozessähnlichen Diskussionen16.

Wenn die Charta tatsächlich, wie Habermas behauptet, eine „Weltverfassung“17 dar‐ stellt, ist sie tatsächlich „nichts anderes als der Reflex der bestehenden Ordnung und leider auch der Unordnung“. Entsprechend der Hauptrolle, die die Regierung der USA in der heutigen Weltordnung spielt, ist sie als Trägerin der Supersouveränität in der Lage, die „Weltverfassung“ außer Kraft zu setzen. Diese Vorstellung von Souve‐ ränität ist nicht dieselbe, die Schmitt ihr zuwies, als er sagte: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“.18 Obwohl Schmitt die semantische Tiefe des Begriffs untersucht und sogar eine Art Souveränität verteidigt hatte, die in der Lage wäre, die herrschende Rechtsordnung außer Kraft zu setzen, um sie zu schützen – z. B. im Fall einer kommissarischen Diktatur –, hat er doch eine imperialistische Sou‐ veränität ebenso wenig verteidigt wie das Entscheidungsmonopol über die Ausnah‐ me. Indem er aber die Entmachtung des Staates, die Asymmetrie der Konflikte und die Existenz einer Weltpolizei und eines totalen Bürgerkriegs ankündigte, hat er den Übergang von der provisorischen zur permanenten Ausnahme vorhergesehen. In die‐ sem Sinne jedoch verwenden die USA die Souveränität, also die Entscheidung über den Ausnahmezustand, nicht, „um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit zu bewahren oder wiederherzustellen“ – weder vom Standpunkt des rechtskonstituierenden Subjekts aus gesehen noch von jenem, dessen Übermacht ihn in die Lage versetzt, das Recht außer Kraft zu setzen. Der Unterschied zur Idee der Ausnahme in der kommissarischen Diktatur besteht darin, die Aufhebung der inter‐ nationalen Rechtsordnung weder an eine konkrete Situation noch an ein bestimmtes Ziel zu binden. Der Ausnahmezustand verliert somit seinen wichtigsten Zweck, der dem Schutz der bedrohten Rechtsordnung gilt. Den Ausnahmetheoretikern zufolge 16 Schmitt Nomos, S. 593; cf. Maschke. 17 Habermas 2004, S. 157. 18 Schmitt 2004, S. 13.

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war der vorübergehende oder provisorische Ausnahmezustand nur in einem zwi‐ schenstaatlichen System möglich, da kein Staat eine derart starke Souveränität be‐ saß, die ihn in die Lage versetzt hätte, die internationale Ordnung aufzuheben. Die staatlichen Souveränitäten beschränkten sich vielmehr gegenseitig durch ihre viel‐ seitigen Beziehungen im Bereich der Weltpolitik. So gesehen, konnte nur eine impe‐ rialistische Souveränität, groß genug, um alle anderen staatlichen Einheiten an Grö‐ ße und Kraft zu übertrumpfen, die Weltordnung außer Kraft setzen, um eine neue Ordnung und Ortung zu konstituieren. Die fortschreitende Monopolisierung des Ausnahmezustandes durch eine Macht geht einher mit der Dezentralisierung der Mächte der staatlichen Einheiten internationaler Politik. In der gegenwärtigen Weltordnung befindet sich die globale Souveränität sowohl innerhalb als auch außerhalb der internationalen Rechtsordnung und kann die inter‐ nationalen Normen teilweise oder ganz außer Kraft setzen, je nachdem was die si‐ tuationsbedingten Interessen der Elite der größten Macht unseres Planeten erfordern. Der Verlust von Macht und Kompetenz der Staaten an übernationale Organismen, deren Funktionieren von der Weltpolitik der USA gewährleistet wird, bewirkt ein demokratisches Defizit aufgrund der Bürokratisierung und Elitisierung und vergrö‐ ßert die Hegemonialmacht, die als letzte Entscheidungsinstanz wirkt – sowohl in Be‐ zug auf das internationale Recht als auch in Bezug auf die Menschenrechte. Dies ist das Dilemma der UNO, deren Existenz die von der nordamerikanischen Macht ge‐ währleistete Weltsicherheit voraussetzt19 und, im Namen der humanitären Interventi‐ on, die gezielten Morde, die vorbeugende Verteidigung, die Beherrschung des Land-, Meer- und Luftraums20 und die Errichtung oder Deaktivierung von Konzen‐ trationslagern wie Guantánamo21 und Abu Ghraib rechtfertigt. Einerseits versetzen die Vertreter der Humanisierung des internationalen Rechts das Individuum ins Zen‐ trum des internationalen Rechtssystems, andererseits aber verfügen sie nicht über die Mittel, ihnen die nötigen Garantien gegen die Gewalt zu bieten, die vor allem von den „Großen“ ausgeübt wird, von jenen Ländern also, die sich in der Lage se‐ hen, ihre Hauptrolle auf der Bühne der internationalen Politik auszufüllen. Grundle‐ gende Entscheidungen werden wieder den Individuen zugemutet, denen nichts An‐ deres bleibt, als auf ihr Glück oder auf die Hilfe einer philanthropischen Institution zu hoffen. Daraus ergibt sich das Problem der Verantwortung, das häufig auf das Prinzip der Souveränität übertragen wird, den Schwächeren also, seien dies die poli‐ tischen Autoritäten armer Länder oder Individuen, denen die Unterlassung der Aus‐ übung ihrer Rechte und Pflichten zur Last gelegt wird. Der Diskurs, der das indivi‐ duelle Subjekt zum Dreh- und Angelpunkt des Völkerrechts macht, überlässt ihn mehr sich selbst, als dass er ihn beschützt. Indem das Paradigma des Völkerrechts 19 Münkler 2005, S. 8. 20 Siehe Schmitt 1995, S. 521. 21 Siehe Gómez 2008, S. 267-308.

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sich vom Recht zur Selbstbestimmung der Völker zum Recht des Individuums ver‐ schob, wurde dieser noch mehr seinem eigenen Schicksal überlassen. Das neue, von der liberalen Ideologie gestützte jus gentium gibt dem Recht des Individuums dem Völkerrecht, der Globalisierung sowie der Souveränität gegenüber den Vorrang: Wir befinden uns in einem ideologischen Klima, das die Forderungen der „nationalen Souveränität“ zugunsten der Forderungen der „Globalität“ schwächt, das die Völkerrech‐ te zugunsten der Rechte des Individuums verdunkelt und in dem die Freiheits- und Klas‐ senkämpfe als abgeschlossene Phänomene, als obsolete Begriffe erscheinen. An die Stel‐ le der „Befreiung“ setzt man nun „Anschluss“ oder „Einschluss“ und an die Stelle des sozialen Kampfes die humanitäre oder unternehmerische Solidarität.22

Die supranationalen Organisationen oder internationalen Gerichtshöfe sind von den Staaten abhängig, um grundlegende Rechte garantieren zu können. Alles andere als trivial ist der Fall der Palästinenser, deren Kampf um die internationale Anerken‐ nung ihres Staates – kürzlich von der UNO anerkannt, ohne Unterstützung jedoch der USA und Israels – offenbart das kollektive Bewusstsein, wonach es ohne ein Mi‐ nimum an Souveränität nicht möglich ist, den eigenen Mitgliedern ein Recht auf Le‐ ben zu sichern. Wendet man die Ausnahmetheorie auf die Weltpolitik an, so wird er‐ sichtlich, dass der dem Individuum als Rechtssubjekt der internationalen Beziehun‐ gen eingeräumte Vorrang – von vielen Vertretern der Humanisierung und Internatio‐ nalisierung des internationalen Rechts bereits als erwiesene Tatsache gefeiert – seine Schutzlosigkeit gegenüber der Struktur der konkreten Wirklichkeit fördert, die ge‐ kennzeichnet ist von der Dynamik der Machtverhältnisse, deren gegenwärtiger Aus‐ druck einer fortschreitenden Asymmetrie der Antagonismen entspricht. Räumlich betrachtet hat die permanente Ausnahme das Nicht-Verständnis der Raumlinien zur Folge, deren Grenzen den räumlichen Vorstellungen von innen und außen, Inland und Ausland, oben und unten, Sichtbarkeit verleihen. Das Verwischen der räumlichen Grenzlinien ist in der Sicht der Ausnahmetheorie Indiz und Faktor der Ausweitung der Konflikte, die ihre räumliche Hegung mit dem Zerfall der Terri‐ torialstaaten einbüßen. So meint Negri: Im Laufe dieser modernen Epoche wurde die internationale Bühne von einer Reihe natio‐ naler, souveräner Mächte beherrscht, die gegenseitig ihre eigene Souveränität ein‐ schränkten und die über die Nationen und die ihnen untergeordneten Regionen herrsch‐ ten.23

Jede Veränderung des Geschichtsbegriffs bewirkt auch eine Veränderung in der Vor‐ stellung des Raums, und heute sehen wir uns mit der Wahrnehmung der Beschleuni‐ gung der historischen Zeit konfrontiert, die unter anderem durch die Erosion des Er‐ fahrungsraumes und der kleiner werdenden Lücke zwischen Denken und Handeln 22 Casanova 2002, S. 46 23 Negri 2003, S. 73 f.

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verursacht wird. Eine andere Perspektive der zeitlichen Struktur, die in einem Be‐ reich der Gleichzeitigkeiten gegenwärtig ist24 und von den elektronischen Medien konfiguriert wird, produziert einen Überschuss an Erfahrungs- und Handlungsmög‐ lichkeiten, die in der Zeit nicht abnehmen. In diesem Sinne könnte die permanente Ausnahme im Licht eines „neuen Topos der zeitlichen Lähmung und der Gleichzei‐ tigkeiten“ gedacht werden.25 Es ist bemerkenswert, wie „zu Beginn des 21. Jahrhun‐ derts sich die Zukunft keineswegs als dem menschlichen Handeln offenstehender Horizont von Möglichkeiten darstellt“. Vorübergehend oder unwiderruflich, regulär oder irregulär, kontingent oder geläu‐ fig – vielleicht ist es möglich, zumindest eine Hypertrophie anzuerkennen. Die zeit‐ lichen Phasen zwischen den Ausbrüchen werden immer kürzer. Die Ausweitung der Ausnahme kann auch in der Ausbreitung des systemischen Finanzrisikos, der Aus‐ breitung und des Einsatzes atomarer und anderer Massenvernichtungswaffen (che‐ mischer und biologischer Waffen) diagnostiziert werden. Der gesetzgeberische Eifer, der juristische Aktivismus, die zunehmende Judizialisierung der Politik, deren Aus‐ weitung die nationalen und internationalen Ebenen überschwemmt, zeugen von dem Versuch, die Gleichzeitigkeit der Handlungen und Ereignisse, deren Folgen sich der Kontrolle und also der normativen Vorhersage entziehen, zu bändigen. Die Zunahme von Abkommen, Konventionen, internationalen Gerichtshöfen und jeglicher Art su‐ prastaatlicher Organisationen ist Zeichen einer Wirklichkeit, deren Kontingenzni‐ veau übermäßig angestiegen ist und die Möglichkeiten ihrer Eindämmung längst überstiegen hat: der globale Bürgerkrieg, die absolute Feindschaft, der Krieg ohne gegenseitige Eingrenzung der staatlichen Souveränitäten. Die regionale und globale Verrechtlichung der Politik und die Ausweitung einer globalen Gerichtsbarkeit wer‐ den einerseits als Humanisierung der internationalen Beziehungen und andererseits – zugleich – als Ausbreitung der Bürokratisierung, die sich der politischen Hand‐ lungsfähigkeit und der souveränen Entscheidung der Staaten in den Weg stellt, inter‐ pretiert. Die globale Verrechtlichung der Politik spiegelt, so behaupten die Humanis‐ ten, die Verwirklichung des Gerechtigkeitsideals wider. So meint Cançado Trindade, Richter am Internationalen Gerichtshof (IGH): Die Organisation der Vereinten Nationen hat ihrerseits ihren Beitrag geleistet, damit in diesem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts die Konsolidierung des Prinzips der univer‐ sellen Gerichtsbarkeit inmitten der Ausweitung der internationalen rechtlichen Funktion 24 Gumbrecht 2012. S. 55. „Eine weitverbreite, rein technische Denkweise kennt heute eine ande‐ re Möglichkeit. Für sie ist die Erde schon so klein geworden, dass man sie mühelos übersehen und in die Hand nehmen kann” (Schmitt 1995, S. 521). 25 Es ist wichtig zu sehen, dass Schmitt den permanenten Ausnahmezustand und die Beschleuni‐ gung der destruktiven Kräfte wie auch die Asymmetrie der Konflikte vorhergesehen hat. Aus diesem Grund beharrte er immer auf der Notwendigkeit des Katechons als Form der Entschleu‐ nigung der Unordnung (Schmitt 1995, S. 436), als souveräne Kraft, die in der Lage ist, die Be‐ schleunigung der historischen Zeit aufzuhalten und somit die Aufhebung des permanenten Ausnahmezustandes zu erreichen.

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Wirklichkeit werde, dies im Bestreben, das antike Ideal der Gerechtigkeit auf internatio‐ naler Ebene des Rechts zu verwirklichen.26

Die Bewegung der Internationalisierung der Menschenrechte und die Humanisie‐ rung des internationalen Rechts, die auf die Kodifizierung des internationalen Rechts, auf die Ausweitung der internationalen Gerichtshöfe und auf jede Art über‐ nationaler Organismen setzt, stellt einen globalen Prozess der Bürokratisierung dar. Richter, Angeklagte, Staatsanwälte, Gerichtsdiener, Polizisten und Beiräte sind die kafkaesken Figuren der globalisierten Superbürokratisierung. Diese übernationalen Akteure, Mitglieder des Verwaltungsapparates der globalen bürokratischen Herr‐ schaft, besitzen ein spezialisiertes Wissen, eingeschränkte Kompetenzen, und die Gesamtheit ihrer Handlungen wirkt sich zugunsten der Verrechtlichung der Politik aus. Nicht einmal Max Weber, der das Wachstum der bürokratischen Maschinerie vorhergesagt hat, hätte sich eine derart radikale Ausweitung der bürokratischen Herrschaft vorstellen können: Weitere Einwände richten sich nicht bloß gegen ein Weltreich, sondern gegen jede Art von Weltstaat. Sie betonen seine Bürgerferne, ferner seine Nichtregierbarkeit oder aber die Gefahr einer Überbürokratisierung.27 Die Superbürokratisierung entspricht, wie Hannah Arendt zu Recht in einer Weber-ähnli‐ chen Weise bemerkte, der Unpersönlichkeit der Macht, der keine Verantwortung zuge‐ schrieben werden kann. Es ist Macht, die, wenn sie sich als politisches Handeln heraus‐ kristallisiert, Gewalt anstachelt. Wie Arendt betont: [...] the greater the bureaucratization of public life, the greater will be the atractions to violence. In a fully developed bureaucracy there is nobody left with whom one can argue, to whom one can present grievances, on whom the pressures of power can exerted. Bu‐ reaucracy is the form of government in which everybody is deprived of political freedom, of the power to act; for the rule by Nobody is not no-rule and where all are equally powerless we have a tyranny. (Arendt S. 1972 178) Es ist bemerkenswert, wie die Philosophie, auch ohne Max Weber zu erwähnen, zu‐ stimmt, dass die Bürokratie die unerschütterlichste Form der Herrschaft ist, die zur Ko‐ agulation28 des Geistes führt und zur Erosion des Handelns und zu politischen Entschei‐ dungen

26 Cançado Trindade 2010, S. 43. 27 Höffe 2010, S. 98 f. (Hervorhebung durch den Autor). 28 Gerinnung.

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2. Der Begriff des Ausnahmezustandes bei Schmitt: Erkenntnistheorie, Ontologie und Anthropologie Die Ausnahme nimmt als Thema einen zentralen Platz im Denken Carl Schmitts ein. Schon in seinen ersten Schriften taucht die Vorstellung des Ausnahmezustandes im Rahmen seiner Überlegungen zur Rechtstheorie und Rechtspraxis auf. Die Rolle, die die Ausnahme in Schmitts Denken einnimmt,29 ist untrennbar verbunden mit der Vorstellung einer konkreten Wirklichkeit. Der Ausnahmebegriff bei Carl Schmitt weist drei grundlegende Aspekte auf, deren Gehalt die Erkenntnistheorie, die Onto‐ logie und die Anthropologie betrifft. Die drei Inhalte sind aufs Innigste miteinander verknüpft. Zunächst also gilt es allerdings, den erkenntnistheoretischen Sinn heraus‐ zuarbeiten, um ihn dann mit dem ontologischen und anthropologischen Aspekt in Verbindung zu setzen. Wie der Autor selbst sagt, entspricht die Ausnahme einem in‐ tellektuellen Konstrukt,30 dessen Zweck der Zugriff auf die Wirklichkeit von einer privilegierten Perspektive aus ist. In der philosophisch-politischen Literatur ist es üblich, einen privilegierten Platz zu finden, von dem aus die politischen Umstände einer bestimmten Wirklichkeit mit größerer Genauigkeit untersucht werden. Ein Bei‐ spiel dafür finden wir in Hobbesʼ Behemoth, in dem er von dem Platz spricht, von dem aus man eine privilegierte Perspektive habe, um die Welt und die Handlungen der Menschen im englischen Bürgerkrieg zu beobachten. Wie Hobbes sagt, handelt es sich um einen Standpunkt „[...] as from the Devil´s Mountain, should have looked upon the world and observed the actions of men, especially in England, might have had a prospect of all kinds of injustice, and of all kinds of folly [...]“.31

Der außerordentliche Blickpunkt kehrt die übliche Art und Weise, die Wirklichkeit des politischen und sozialen Lebens zu verstehen, um. Indem er die Einhaltung ihrer Bedingungen untersucht, welche des Regulären und der Stabilität bedürfen, stellt er fest, dass die Bedingungen der Erkenntnis sich nicht an der gewöhnlichen, mit einer gewissen Routine behafteten Erfahrung orientieren können. Das Regelhafte des poli‐ tischen und sozialen Lebens stellt ein erkenntnistheoretisches Hindernis dar, denn in der Normalität der juristischen Ordnung ist es vom Standpunkt des Verständnisses ihrer Schaffungs- und Erhaltungsbedingungen her gesehen unverständlich. Es ist just in einer Grenzsituation, in extremen, außerordentlichen und unvorhersehbaren Um‐ ständen, dass die konkrete Wirklichkeit sich der Erkenntnis erschließt und verständ‐ lich wird. Um also die konkrete Wirklichkeit zu verstehen, gilt es, einen extremen oder außerordentlichen Blickpunkt einzunehmen. Die Ausnahme wird hier zu einem 29 Siehe diesbezüglich Ferreira 2012, S. 343-382. 30 Schmitt spricht von der „Konstruktion der Ausnahme“ als von einer kontrafaktischen Erkennt‐ nisform der konkreten Wirklichkeit (Schmitt 1996, S. 53). 31 Hobbes 1990, S. 1 (Hervorhebungen durch den Autor).

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Konstrukt erhoben, dessen Zweck die Einnahme eines extremen Standpunkts ist. Die heuristische Methode besteht in der Polarität zwischen dem wiederholten und vor‐ hersehbaren Verlauf und der unvorhersehbaren Situation, die sich den Regeln und Normen des Rechts entzieht. Hier kommt Schmitts Kritik am Liberalismus und an dessen Theorie des positivistischen Rechts in Spiel, welche das Recht auf eine An‐ sammlung von Regeln und Normen einer juristischen Ordnung reduziert. Die Er‐ kenntnis des Regulären der Wirklichkeit verlangt nach einer Positionierung in einer Grenzsituation, in welcher der Fall sich der normativen Rationalität entzieht. Im sel‐ ben Maß, in dem das Reguläre der Normalität die Erkenntnis behindert, erlaubt das Irreguläre das Erkennen der Bedingungen der Schaffung und Erhaltung, die sich einer normativen Vorhersage entziehen. Mir scheint die Frage nach der Normalität oder Abnormalität der konkreten Situation von grundlegender Bedeutung zu sein. Wer davon ausgeht, dass ein abnormer Zustand vor‐ liegt – sei es nun, dass er die Welt in einer radikalen Abnormität erblickt, sei es, dass er nur eine besondere Situation für Abnormität hält –, wird das Problem von Politik, Moral und Recht anders lösen, als wer von ihrer prinzipiellen, nur durch kleine Störungen ge‐ trübten Normalität überzeugt ist. (...) Aus der Ausnahme der abnormen Situation ergeben sich besonders geartete, dezisionistische Konsequenzen, ergibt sich ein Sinn für Durch‐ brechung, für eine, oberflächliche Irrationalität (...)32.

Die erkenntnistheoretische Grundlage für das Erkennen der Faktoren, die geeignet sind, die Fassade des regulären sozialen Lebens zu errichten, hängt vom Ausnahme‐ fall oder vom extremen Blickpunkt ab. Andernfalls verfiele man der Illusion der Im‐ manenzdarstellungen, die eine selbstgeschaffene Regelhaftigkeit und Kontinuität im Fluss der Lebensereignisse von universeller Gültigkeit voraussetzen. Die Extremoder Grenzsituation und die Erkenntniskritik auszuschließen, würde bedeuten, an der Fassade der Ereignisse stehenzubleiben, hieße, an der Oberflächlichkeit des re‐ gulären Flusses des politischen und sozialen Lebens hängenzubleiben. Die Perspek‐ tive der Ausnahme ist ein heuristisches Werkzeug, mit dessen Hilfe der Beobachter die Oberfläche der erlebten Wirklichkeit durchbricht, um den Untergrund, auf wel‐ chem ihre Schaffungsbedingungen beruhen, von einem radikalen Standpunkt aus zu begreifen. Deshalb privilegiert die erkenntnistheoretische Perspektive der Ausnahme immer den Blick, der sich als fähig erweist, die Immanenzdarstellungen der Wirk‐ lichkeit, deren Ontologie immer mit dem Regelhaften, mit der Selbstkontrolle ausge‐ stattet ist, zu übersteigen. Die Erkenntnistheorie, die in die Falle der Immanenzdar‐ stellungen der Wirklichkeit tappt, schließt immer die Möglichkeit aus, die politi‐ schen Bedingungen zu erkennen, die das Funktionieren der untersuchten Wirklich‐ keit ermöglichen.

32 Schmitt 1994.

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Hier stoßen wir auf eine ontologische Vorstellung der Wirklichkeit, deren Struk‐ tur unbestimmt, kontingent und zwischen den Dimensionen des Sollens und des Seins, zwischen Gültigkeit und Faktizität, zwischen Abstraktem und Konkretem ge‐ teilt ist. Der erkenntnistheoretische Charakter der Ausnahme verlangt nach einer Methode, welche es erlaubt, die gewöhnliche Wirklichkeit zu verzerren, um über das Intellektuelle eine Grenzsituation zu erschaffen. Schmitt zufolge wäre dies der Weg, um die kontingenten Elemente, die konkrete Ausnahme hervorzutreiben, die die kol‐ lektive Existenz bestimmt. Die Ausnahme wird so zu einem „besonders entscheiden‐ den Sinn, der den Kern der Dinge offenbart“.33 Die Ausnahme nimmt damit einen erkenntnistheoretischen Charakter an, der die konkrete Wirklichkeit vom radikalen Blickpunkt ihrer politischen Schaffungs- und Erhaltungsbedingungen aus zu verste‐ hen sucht. Bei Schmitt erlaubt die Ausnahme die Erkenntnis, dass das ontologische Bild der Wirklichkeit durch ihre Unbestimmtheit gekennzeichnet ist, wodurch sie sich der normativen Vernunft entzieht. Nur mittels der Ausnahme lässt sich die Not‐ wendigkeit einer souveränen Entscheidung – und nicht die einer unpersönlichen Norm – für die Struktur des politischen und sozialen Lebens begreifen. Die eng mit dem erkenntnistheoretischen und ontologischen Aspekt verbundene anthropologische Frage liegt in Schmitts Kritik in der aufklärerischen Vorstellung des liberalen Denkens der menschlichen Natur begründet. Schmitt verwirft den Glauben an das Bild eines freien und vernünftigen Menschen. Seine Anthropologie ist weder pessimistisch noch optimistisch, denn beide Sichtweisen könnten zu einer deterministischen Illusion führen, wonach der vernünftige Mensch nach einem libe‐ ralen, nicht interventionistischen Staat verlangt. Das anthropologische Fundament, das dem Denken Schmitts zugrunde liegt, offenbart einen kontingenten, in gewissem Sinne unvorhersehbaren Menschen. Das Wissen um den Menschen ist der Wissen‐ schaft nicht gänzlich zugänglich – auch nicht der Neurowissenschaft, die derzeit in Mode ist –, es bleibt immer ein Bereich des Unvorhersehbaren und des Unvernünfti‐ gen, eine existentielle Dimension, die sich jedem normativen Versuch, die verborge‐ nen Bestimmungen zu ergründen, entzieht. Das anthropologische – in gewissem Masse unergründliche – Fundament der conditio humana erlaubt es, den Grund zu verstehen, weshalb Schmitts ontologisches Wirklichkeitsbild von der Unbestimmt‐ heit gekennzeichnet ist. Diese konkrete Wirklichkeit kann nur teilweise erkannt wer‐ den – da sie nie auf einen Begriff reduziert werden kann –, wenn die Prämisse des kontingenten und unergründlichen Charakters des Menschen anerkannt wird. Die Sichtweise der Ausnahme als erkenntnistheoretische Strategie übernimmt den me‐ thodologischen Pessimismus als Erkenntnis des politischen Lebens, was jedoch nicht bedeutet, dass der Mensch böse sei, sondern nur unzureichend erkennbar, um eine Vorhersage über seine Handlungsweise in Extremsituationen zu erlauben. Carl

33 Schmitt 2002, S. 35.

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Schmitts existentialistische Anthropologie offenbart die Nichtreduzierbarkeit des Menschen, dessen einzigartiges Merkmal nicht auf einen Begriff reduziert, noch durch sprachliche Formulierungen eingefangen werden kann. Das einzige strukturel‐ le, metahistorische Element – eine wahre anthropologische Konstante – ist die Pola‐ rität der ewig wiederkehrenden menschlichen Gegensätze, dergestalt dass die Freund-Feind-Relation eine anthropologische Konstante darstellt, sich jedoch immer weiter von einem symmetrischen Ideal entfernt. So wie Reinhart Koselleck bezwei‐ felte auch Schmitt die Annahme, dass Begriffe in der Lage seien, das Einzigartige, den singulären Charakter der Ereignisse34 einzufangen, die sie zu rekonstruieren hel‐ fen. Gleicherweise ist der Mensch komplexer als die sprachlichen Kategorien, die geschaffen wurden, um ihn zu begreifen. Wir sehen also, wie der Ausnahmebegriff nahtlos an den Grenzbegriff der Souve‐ ränität anschließt und eine Art und Weise darstellt, mit der konkreten Wirklichkeit umzugehen, die von dem Bruch zwischen Idealem und Realem, Gültigkeit und Fak‐ tizität, dem abstrakten Charakter der Normen und den konkreten Umständen der Wirklichkeit geprägt ist. Im Grunde haben wir ein ontologisches Verständnis der Wirklichkeit als Abgrund: auf der einen Seite befindet sich die normative Dimensi‐ on, auf der anderen die konkrete Wirklichkeit. Die Übertragung des Abstrakten auf die konkrete Wirklichkeit ist immer problematisch. In seinem Buch Diktatur breitet Schmitt eine Geschichte des Begriffs der Dikta‐ tur aus, um die Bedeutungen dieser juristischen Institution vom antiken Rom bis zur Weimarer Zeit zu untersuchen. Für die Genealogie des Begriffs bedient sich Schmitt als Ausgangspunkt der Strategie, die übliche, dem Begriff zugeschriebene Bedeu‐ tung zu hinterfragen. Die Bedeutung, die die bürgerliche Literatur dem Wort zu‐ schreibt, entspricht jener der persönlichen Macht eines einzigen, legitimierten Indi‐ viduums, das, ausgerüstet mit einem stark zentralisierten Regierungsapparat, die De‐ mokratie außer Kraft setzt. Die Geschichte des Ausnahmebegriffs vermischt sich mit der Geschichte des Begriffs der römischen Diktatur, dieser außergewöhnlichen Insti‐ tution der römischen Republik, die nach definierten Abläufen und innerhalb der von der Verfassung gesetzten Grenzen aktiviert werden konnte. Ihr außergewöhnlicher Charakter zeigt sich in der strengen Begrenzung der zeitlichen Ausdehnung. Die Dauer dieser Diktatur durfte sechs Monate nicht überschreiten. Häufig wird dies als Hauptgrund ihres Niedergangs ab dem 3. Jahrhundert zitiert. Diese Form der Dikta‐ tur ist eine alte republikanische Institution und weist ganz andere Merkmale auf als die Diktaturen von Sulla und Caesar im 1. Jahrhundert. Diese weisen größere se‐ mantische Ähnlichkeiten mit den Diktaturen des 20. Jahrhunderts auf, da sie einen 34 Schmitt schreibt: „Eine geschichtliche Wahrheit dagegen ist nur einmal wahr. Wie oft sollte sie denn auch wahr sein, da sie nicht ewig wahr sein kann, weil das ihrer Geschichtlichkeit wider‐ spräche? Die Einmaligkeit der geschichtlichen Wahrheit ist das uralte Arkanum der Ontolo‐ gie“, Schmitt 1955, S. 153.

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imperialistischen, permanenten Charakter annehmen und sich nicht an ein konkretes Resultat in Bezug auf den Schutz der republikanischen Institutionen festlegen las‐ sen. Die Diktatur wird als Ausnahmezustand interpretiert: Ausnahme in Bezug auf das Recht, Ausnahme in Bezug auf die Demokratie oder Ausnahme in Bezug auf ein po‐ litisches Ideal. Die Behauptung, die Diktatur sei eine Ausnahme in Bezug auf eine Norm, bedeutet nicht, dass sie als zufällige Ausnahme irgendeiner Norm begriffen wird, denn dies wäre offensichtlich ein willkürliches Dispositiv. Die Diktatur ist eine Ausnahme in Bezug auf jene Norm, die sie wiederherstellen will, und deshalb ist sie direkt an einen Zweck gebunden, den sie verwirklichen will, wie z.B. eine Ordnung, die es wiederherzustellen gilt, das Recht also zur Einsetzung, das aber, sobald es ver‐ wirklicht ist, überflüssig wird. Die Diktatur ist kein Zweck an sich, ihr Zweck be‐ steht vielmehr darin, eine normale Situation zu schaffen.35 Ihre Essenz besteht dem‐ nach darin, das zu leugnen, was sie einzusetzen gedenkt. Es gilt daher, das herr‐ schende Recht zu leugnen (das Recht beschränkt sich nicht auf die juristischen Nor‐ men der herrschenden Ordnung), um das Recht einzusetzen. Die Diktatur macht die grundlegende Unterscheidung noch verständlicher, die Schmitt bereits in seinen ers‐ ten Arbeiten getroffen hatte: die Unterscheidung von Rechtsnorm und Rechtsver‐ wirklichung. Nur ausgehend von dieser Unterscheidung kann die Diktatur begriffen werden, deren Merkmal darin besteht, dass ihre Verleugnung der herrschenden juris‐ tischen Normen nicht einer Verleugnung des Rechts gleichkommt, denn ihr Zweck besteht darin, dieses zu schützen. Wer die Rechtmäßigkeit im Moment der Rechts‐ verwirklichung verleugnet, verleugnet auch die Diktatur als juristische Institution. Der paradoxe Charakter der Diktatur zeigt, dass ihr Wesen in der Verleugnung des Rechts zur Einsetzung des Rechts besteht. Zu behaupten, dass eine gewisse Verleug‐ nung des Rechts praktiziert wird, um eine Ordnung wiederherzustellen oder einzu‐ setzen, bedeutet nicht, ihr eine juristische Legitimität zuzuschreiben, was von der Diktatur jedoch verlangt wird, da ihre Absicht ja darin besteht, die Rechtsnormen zu leugnen, um das Recht zu verwirklichen. Diese Notwendigkeit ergibt sich in einer Grenzsituation, in der die Rechtsnormen sich mit ihrer Ohnmacht konfrontiert sehen und zu ihrer Durchsetzung der exekutiven Macht des Staates bedürfen, um sie ange‐ sichts konkreter Umstände einzusetzen und die bedrohte Rechtsordnung wiederher‐ zustellen. Das Problem besteht nun darin zu wissen, wann eine solche Situation vor‐ liegt. Die Legitimität ergibt sich aus der Anwesenheit einer höchsten Macht, die den Ausnahmezustand anerkennt und folglich die Diktatur bewilligt: abstrakt ausge‐ drückt, reduziert sich das Problem der Diktatur auf die konkrete Ausnahme. Die Diktatur ist konstitutiv an die tatsächliche Situation gebunden, an die histo‐ rische Wirklichkeit, denn nur die Anerkennung des Ausnahmezustandes durch die

35 Schmitt 2004, S. 19.

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höchste Autorität kann ihr die Legitimität zusprechen. Einerseits also ist die Diktatur an das historisch Konkrete, andererseits aber an die höchste Autorität gebunden, und ist folglich immer Mandat, Auftrag einer souveränen Macht.36 Doch nicht immer ist diese souveräne Macht eine konstituierte Macht, vielmehr kann es auch eine konsti‐ tuierende Macht sein. So wird zwischen einer kommissarischen und einer souverä‐ nen Diktatur unterschieden: Erstere beruht auf dem Mandat einer konstituierten Au‐ torität, letztere hängt von einer sich zu konstituierenden Macht ab, von welcher sie ihre Grundlage und Rechtfertigung bezieht. Angesichts des Kampfes gegen den Terror ist die Hegung des Krieges obsolet ge‐ worden. Der Krieg gegen den Terror ist zugleich Angriffs- und Verteidigungskrieg. Er stellt insofern einen permanenten Ausnahmezustand dar, als er eine grenzenlose Verfolgung rechtfertigt und zugleich dem Verfolger die Macht verleiht, seine Hege‐ monie in allen Erdteilen durchzusetzen.37 Benoist zufolge resultiert der Krieg gegen den Terrorismus aus dem Notstand und mündet deshalb in einen Notstand. Im Aus‐ nahmezustand sieht sich ein Staat unversehens mit der extremen Todesgefahr kon‐ frontiert, der nur mit Mitteln begegnet werden kann, die in Übereinstimmung mit den eigenen Gesetzen nicht gerechtfertigt wären. Die Notlage oder der Ausnahmezu‐ stand definiert sich als ein brutales Herausgerissenwerden durch außerordentliche Ereignisse oder unvorhergesehene Situationen, die aufgrund der durch sie dargestell‐ ten Bedrohung als einzig mögliche Antwort eine unmittelbare Aktion mit außerge‐ wöhnlichen Mitteln verlangt: Einschränkung der Freiheiten, Kriegsrecht, Belage‐ rungszustände etc.

3. Die Beziehung zwischen dem Begriff des Politischen, der Diktatur und der Ausnahme Schmitt beginnt seine Schrift Der Begriff des Politischen mit der Aussage: „Der Be‐ griff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus“.38 Diese Aussage deckt sich mit jener in der Schrift Politische Theologie, die das erste Kapitel über die Defi‐ nition der Souveränität eröffnet: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand ent‐ scheidet“.39 Die Wurzeln der Unterscheidung zwischen dem Politischen und dem Staatlichen finden sich in der Abhandlung Der Wert des Staates aus dem Jahre 1914, in der Kritik am Positivismus, welcher die Macht mit der juristischen Ordnung gleichsetzte. In Die Diktatur (1921) zeigte Schmitt bereits auf, dass die Aufhebung der normalen juristischen Ordnung nicht die Eliminierung der Autorität des Staates 36 37 38 39

Schmitt 1994. Benoist 2007, S. 113. Schmitt 2002 b, S. 20. Schmitt 2004 b, S. 13.

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bedeutete, der weiterhin regierungsfähig blieb, um die Ordnung wiederherzustellen. Die Doktrin der Souveränität lehrte, dass die konkrete Bedrohung der Normen einer juristischen Ordnung eine Unterscheidung zwischen Rechtsnormen und Normen zur Rechtsverwirklichung erforderte. Angesichts der Gefahr einer Auflösung der Rechtsordnung des Staates ist es notwendig, die Rechtsnormen außer Kraft zu set‐ zen, um das dem Ideal der eigenen Normen zugehörige Recht zu verwirklichen. Die Loslösung des Ideals der Rechtsnormen von ihrer Verwirklichung erlaubt es, das Recht aufgrund der souveränen Macht zu verwirklichen, die nicht illegitim agiert, da sie ihre Legitimität von der Rechtsverwirklichung bezieht. Die Rechtsver‐ wirklichung, eine Aufgabe, zu deren Ausführung sich das normative Recht als unfä‐ hig erweist, wäre also ein Attribut des Subjekts der Souveränität, das nicht persönli‐ che Interessen verfolgt, sondern die Rechtsidee, dessen Absicht die Bewahrung der Rechtsordnung ist. Ist das Ziel der Rechtsnormen erreicht, müsste der Souverän sei‐ ne Macht abgeben, andernfalls verwandelte er sich in einen Tyrannen: Eine Diktatur, die sich nicht abhängig macht von dem einer normativen Vorstellung ent‐ sprechenden, aber konkret herbeizuführenden Erfolg, die demnach nicht den Zweck hat, sich selbst überflüssig zu machen, ist ein beliebiger Despotismus.40

In seinem Diktatur-Buch erklärt Schmitt: „Wer den Ausnahmezustand beherrscht, beherrscht daher den Staat, denn er entscheidet darüber, wann dieser Zustand eintre‐ ten soll und darüber, was dann nach der Lage der Sache erforderlich ist“.41 Die Ein‐ dämmung der Ausnahme durch die Wiederherstellung der inneren Ordnung, Ruhe und Sicherheit ist die politische Bedingung für die Möglichkeit, die normale Situati‐ on wieder herbeizuführen, die wiederum eine Voraussetzung dafür ist, dass die Rechtsnormen gelten können.42 Die politische Entscheidung wird weiterhin durch die Rechtszwecke gerechtfertigt und ist somit legitim, denn sie verwirklicht die ju‐ ristischen Absichten der Reduzierung der Kontingenz oder der Unvorhersehbarkeit, welche die Gültigkeit der Rechtsnormen unmöglich macht. Die Unterscheidung zwi‐ schen Rechtsnorm und der Entscheidung zur Rechtsverwirklichung ist dabei von grundlegender Bedeutung, denn sie verleiht dem Politischen, d.h. der persönlichen souveränen Autorität, jene Sichtbarkeit, die die Einheit der politischen Gemeinschaft aufrechterhält. Deshalb bemüht sich Schmitt in seiner Arbeit Der Begriff des Politi‐ schen auch zu zeigen, dass der Normalzustand die Sichtbarkeit oder Säkularisierung des Politischen voraussetzt, genauer, die Klarheit darüber, wer die souveräne Autori‐ tät ist, die entscheidet, wer Freund und wer Feind ist, wer die Grenze zwischen juris‐ tischer Ordnung und Unordnung festlegt und die räumlichen Abgrenzungen zwi‐ schen Inland und Ausland bestimmt. Schmitt zufolge besteht die Verwirklichung des

40 Schmitt 1994, S. XVII. 41 Schmitt 1994, S. 17. 42 Schmitt 2002 b, S. 46.

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normalen Staates darin, zuallererst im Innern des Staates und seines Territoriums eine komplette Zufriedenheit, „Ruhe, Sicherheit und Ordnung“ herzustellen, um so einen normalen Zustand zu schaffen, der Voraussetzung für die Gültigkeit der Nor‐ men ist, da jede Norm eine normale Situation voraussetzt, und keine Norm in einer ihr völlig anormalen Situation Gültigkeit haben kann.43 Der Begriff des Ernstfalles oder des Ausnahmezustandes, den Carl Schmitts Ver‐ fassungstheorie im Kontext seiner Liberalismuskritik behandelt, hat eine zentrale Funktion in seinem Denken. Da jeder Ausnahmefall unvorhersehbar ist, hält es Schmitt für einen Irrtum zu glauben, man könne im Voraus bestimmen, mit welchen Mitteln auf ihn reagiert werden soll. Der vom neukantischen Formalismus oder von Kelsens Positivismus geprägte Liberalismus kann das Wesen des Ausnahmezustan‐ des weder verstehen noch angehen, ohne sich selbst zu verraten, da er aufgrund sei‐ nes Verständnisses einer rigorosen prozeduralen und juristisch-formalen sozialen Ordnung von der Idee ausgeht, nach der eine vorgängig festgelegte Norm auf jede Situation anzuwenden sei, womit er freilich die historische Erfahrung leugnet. Obwohl Schmitt nie den Ausdruck permanenter Ausnahmezustand verwendet hat, ist die entsprechende Vorstellung doch in seinen Arbeiten präsent. Sowohl in seiner auf der inneren Ebene des Staates angesiedelten Analyse als auch in seiner Diagnose der internationalen Beziehungen wies der Autor auf die exzessive Anhebung der Kontingenzniveaus hin. Aus der Innenperspektive hob er seit 1912 in Gesetz und Urteil den „Notstand des Richters“ hervor,44 den Ernstfall also, in dem sich die Richter zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgrund ihrer Unterwerfung unter das Ge‐ setz der fortschreitenden Gesetzgebung befanden.45 Er beobachtete auch im Bereich der Exekutive ein unkontrolliertes Übermaß an provisorischen Maßnahmen. In Deutschland beschleunigt sich der legislative Prozess nach 1914, mit dem Krieg und in der Nachkriegszeit, mit der Inflation usw. immer mehr, und die Zeit, die dem Inkraft‐ treten der Normen gegeben ist, wird immer kürzer. Damit verändert sich der staatliche Rechtspositivismus in seiner Substanz: er wird zu einer legislativen Maschine, die das Produktionstempo in unvorstellbarem Ausmaß erhöht. Die Vorstellung des an die Ver‐ gangenheit gebundenen Gesetzes und des noch vom Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts geführten Federstriches, der jedoch schon in der Lage war, ganze Bibliotheken auszulö‐ schen, müssen dem ‚motorisierten Gesetz‘, dem Dekret, den Übergangsregelungen und jeder elastischen Form des Gesetzes weichen. Die Beschleunigung und der Kontrollver‐ lust des allmächtigen Gesetzes offenbaren dessen Unterwerfung unter die faktische Be‐ fehlsgewalt.46

43 44 45 46

Schmitt 2002 b, S. 46. Schmitt, 1912, S. 9. Castelo Branco 2013, S. 35. Castelo Branco 2013, S. 42.

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Aber mit der Motorisierung des Gesetzes zur bloßen Verordnung war der Höhepunkt der Vereinfachungen und Beschleunigungen noch nicht erreicht. Neue Beschleunigungen er‐ gaben sich aus der Marktordnung und der staatlichen Lenkung der Wirtschaft […].47

Die Dysfunktion der legislativen Maschinerie aufgrund ihrer Motorisierung und das Bemühen der Exekutive, die immer komplexer werdende konkrete Wirklichkeit auf normativem Wege zu kontrollieren, deutete bereits eine Hypertrophie des Ausnah‐ mezustands an. Auf der Ebene der internationalen Beziehungen wies er auf den Ver‐ lust der scharfen Unterscheidung zwischen Soldat und Zivilperson, auf die Irregula‐ rität des Krieges, auf den Verlust des Monopols der letzten Entscheidung durch die politische Staatseinheit, auf die Aufhebung von Grenzen, auf die Herrschaft des Meeres und der Luft und auf den Kampf um die Herrschaft im kosmischen Raum hin. Dies und vor allem die Diagnose des globalen Bürgerkrieges und die propheti‐ sche Vorhersage des Erscheinens der Kosmopiraten48 waren für Schmitt Indizien ei‐ nes permanenten Ausnahmezustandes. Aus seiner Sicht entsprach diesem Ausnah‐ mezustand „ein beliebiger Despotismus“,49 da er weder die frühere Ordnung wieder‐ herstellt, noch eine sichere Ordnung mit einem Minimum an Stabilität und Vorher‐ sehbarkeit errichtet, die notwendig sind, damit die Normen Gültigkeit haben können und das soziale Leben einen geregelten Lauf nehmen kann. Der unbeschreibliche und unaufhaltsame Fortschritt der Technik, die Motorisierung der Waffen, deren Auswirkungen sich der menschlichen Kontrolle entziehen, reduzieren den Menschen zu einer Raumkapsel,50 die in einem Meer der Ungewissheiten vor sich hintreibt. Die Zunahme der Zerstörungskraft der Waffen und ihre Kontrolle durch egoistische Eliten macht die Weltordnung zu einer außerordentlich prekären Angelegenheit. Die Ausweitung des humanistischen internationalen Rechts trägt darüber hinaus dazu bei, den Verschleiß der staatlichen Souveränität zu beschleunigen und schlussendlich die Einheit einer Welt zu erreichen, die von einem einzigen Herrn beherrscht wird. Das universelle Wertesystem der Bewegung der Internationalisierung der Menschen‐ rechte hat ihr theologisches Fundament in der von Schmitt erwähnten Triade: Ein Gott – Eine Welt – Ein Imperium.51 Die Humanisierung des internationalen Rechts ist direkte Erbin der aufkläreri‐ schen Tradition, welche, wie Schmitt sagt, jede Form der Ausnahme oder der extre‐ men Kontingenz komplett zurückweist: „Der Rationalismus der Aufklärung verwarf den Ausnahmefall in jeder Form“.52

47 48 49 50 51 52

290

Schmitt 2003, S. 407. Schmitt 2002, S. 82. Schmitt 1994, S. XVII. Schmitt, Politische Theologie II, S. 36. Schmitt 1996, S. 62. Schmitt, Politische Theologie, S. 43.

4. Ausnahme versus Humanisierung Die Verteidiger der Humanisierung des internationalen Rechts bewerten demgegen‐ über die beschleunigte Internationalisierung der Menschenrechte und die Stärkung ihrer Garantie durch die Konkretisierung ihrer universellen Prinzipien als Weg, den Glauben an die Nichtreduzierbarkeit der Konflikte und die Notwendigkeit des sou‐ veränen Staates auszumerzen. Die Humanisten sehen als hauptsächlichste Quelle der Konfliktproduktion die staatliche Souveränität, deren Grenzenlosigkeit die Weltord‐ nung des jus gentium untergräbt. Der zentrale Faktor, der sie zum Hauptakteur in der Konfliktproduktion macht, besteht ihrer Meinung nach in der Unverantwortlichkeit der Regierenden, ihrer Funktionäre, Generäle etc. Während die Internationalisierung die Expansion und Durchdringung der in Erklärungen und Verfassungen, Abkom‐ men und Konventionen und sonstigen Konkretisierungen der internationalen Nor‐ men festgeschriebenen Menschenrechte darstellt, hat die Humanisierung ihren Drehund Angelpunkt im grundlegenden Prinzip der Würde des Menschen, weshalb es notwendig sei „den Zusammenhang des systemischen Begriffs der Menschenrechte mit dem genealogischen Begriff der Menschenwürde“ zu untersuchen.53 Habermas’Argumentation bezweckt die Rechtfertigung einer realistischen Uto‐ pie. Was sich jedoch an Realem an dieser Utopie der in der Menschenwürde veran‐ kerten Rechte finden lässt, ist, dass sie auf dieser Welt keinen Platz findet, ganz ein‐ fach, weil kein Konsens über sie existiert, weder in Bezug auf ihre Universalität noch in Bezug auf ihre Konstruktion. Diese Rechte, die sich in der konkreten Wirk‐ lichkeit durch Kämpfe, Propaganda und gegenseitige Gefälligkeiten durchsetzen, zeigen, dass es keine als kollektives Singular verstandene Menschenrechte gibt: Jede Kultur hat ihre eigenen Vorstellungen bezüglich der Menschenrechte und des Menschheitsbegriffs, der diesen zugrundeliegt. Die von der internationalen Politik der USA so sehr verteidigte Menschheit hört an der Grenze der USA – genauer, außerhalb der Grenzen der Hauptstadt des Welt‐ imperiums – auf, denn außerhalb dieser hat es mindestens zwei Lager unterhalten, wo es, wie Primo Levi sagte, kein Warum gab: Guantánamo und Abu Ghraib. In der Metropole des Imperiums geschieht die Außerkraftsetzung der Menschenrechte auf außergewöhnliche Art und Weise, aber außerhalb ihrer Grenzen ist die Ausnahme permanent, und die imperialistische Souveränität zeigt sich in einem exzessiven und ununterbrochenen Interventionismus. Richard Pierre Claude und Burns H. Weston beobachten: Der Begriff ‚internationale Menschenrechte‘ ist ein Sprachcode für eine – kontinuierlich wachsende und sich ausbreitende – Reihe verschiedener Initiativen: a) ein Angriff auf die

53 Habermas 2012, S. 10 und 22.

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übliche Vorstellung der staatlichen Souveränität; b) die Ausarbeitung einer Agenda für eine globale Politik; [...].

Der zeitgenössische Diskurs über die Internationalisierung der Menschenrechte be‐ gann nach dem Zweiten Weltkrieg und findet seinen wichtigsten historischen Vor‐ läufer in den Werten der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Der Prozess der Univer‐ salisierung und Internationalisierung der Menschenrechte erweist sich als eine ex‐ trem junge Bewegung in der Rechtsgeschichte und bildet sich konkret erst nach dem Zweiten Weltkrieg heraus. Seither haben die internationalen Menschenrechtsabkom‐ men den Staaten Verantwortungen in Bezug auf die ihrer Gerichtsbarkeit unterstell‐ ten Menschen auferlegt, und es hat sich ein Gewohnheitsrecht herausgebildet. Ein anderes Merkmal der internationalen Menschenrechte bewirkte eine progressive Einbindung in ihr Recht der imperativen Normen, d.h. des jus cogens.54 Somit ent‐ springt sie der Überzeugung, wonach die „zeitgenössische internationale Gesell‐ schaft“ anerkennt, dass in ihr grundlegende Werte von der Art konstitutiver Prinzipi‐ en der internationalen öffentlichen Ordnung herrschen, und sie sich an diesen orien‐ tiert. Die Subjekte des internationalen Rechts können sich diesen Prinzipien nicht widersetzen, denn sie besitzen die Kraft imperativer Normen, die sich über dispositi‐ ve Normen hinwegsetzen können. Man geht davon aus, dass die internationalen ju‐ ristischen Normen, welche die Menschenrechte verteidigen, tatsächlich aufgrund ihres imperativen Wesens die internationale Gemeinschaft und den individuellen Menschen vor den „Folgen des Relativismus, des Subjektivismus und des Volunta‐ rismus, die die staatliche Souveränität der internationalen Ordnung aufdrückt“, be‐ wahren könnten.55 Es ist bemerkenswert, wie eine Universalisierungsbewegung der Menschenrechte die staatliche Souveränität auf derart reduktionistische Weise be‐ handeln kann. Der universalistische Diskurs der Menschenrechte neigt nicht dazu, unnachgiebig und intolerant in Bezug auf die Hinterfragung einiger ihrer wichtigsten Traktate als Dogmen zu reagieren. Die Geschichte der Menschenrechte wird norma‐ lerweise als Kampf um die Anerkennung der menschlichen Würde erzählt. Ihr Hauptziel besteht darin, diese als Schwerpunkt zu setzen, um den herum alle Rechte und alle juristischen Normen kreisen sollen, und die nationalen und internationalen Gerichtshöfe böten den Ausweg aus dem Staat Hobbesscher Machart auf dem Weg zum Kantischen ewigen Frieden. Die Konfliktlösung auf dem zivilisierten Weg des Rechts und der Verrechtlichung56 und die Expansion der Gerichtshöfe würde die Kontingenzen, die Antagonismen oder jede Art von Hindernissen auf dem Weg zum Frieden ausmerzen. Habermas zufolge besteht das wichtigste Erbe der Menschen‐ rechte in der Kantischen Rechtsdoktrin, welche diesen Rechten und anderen subjek‐ tiven Rechten einen moralischen Inhalt zuschreibt. Dies bedeute jedoch nicht, dass 54 Cf. Cançado Trindade 2006, S. 19. 55 Lafer 1988, S. 30. 56 Habermas 1999, S. 226.

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diese Rechte auf eine Ordnungsstruktur eines positiven und koerzitiven Rechts ver‐ zichten können.57 Der „humanitäre“ Kampf gegen jede Form von Ausschluss und Unterdrückung erwählte sich zu seinem wichtigsten Feind den souveränen Staat. Die grundlegenden Menschenrechte seien an das Gemeinwohl gebunden, und die Anstrengungen, die zu ihrer Ausbreitung unternommen werden, wären in der Lage, die Beendigung der Konflikte zu fördern.58 Ihre naturrechtliche Grundlage mit ihren im Glauben, in der Vernunft, in der Wissenschaft, im Fortschritt, in der Freiheit, in der Gleichheit und in der Gerechtigkeit verankerten aufklärerischen Idealen sei universell und universali‐ sierbar dank einer recta ratio. Die Menschenrechte wären also Erben des traditionel‐ len Naturrechts, dessen Auffassung einen unleugbaren moralischen Wert ausdrücken würde, der jeder Art von positivem, von einer herrschenden Ordnung erlassenem Recht vorausgehe und dieses übersteige – da es der Natur jedes menschlichen Lebe‐ wesens immanent sei. Es handelt sich also um eine Art von Recht, dessen morali‐ scher Gehalt aus der menschlichen Natur abgeleitet und jedem staatlichen Dekret entgegengehalten werden kann, das dieses Recht nicht anerkennt. Die Bewusstmachung des historischen Bruchs zwischen der Vergangenheit und der Zukunft als Folge der Auflösung universeller westlicher Werte würde es also er‐ lauben, den Menschenrechtsdiskurs wiederaufzunehmen und, ausgehend von einer rekonstruktiven Methode, den Kampf um seine Verwirklichung fortzusetzen (das Problem besteht, wie Schmitt sagt, im blinden Glauben an die Konkretisierung). Die Wahrnehmung dieses Bruchs löste die Krise der Menschenrechte aus, deren Fort‐ schritt durch das Aufkommen eines „totalitären Staates der Natur“ unterbrochen wurde.59 Dennoch sei es möglich gewesen, in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Pfad des Fortschritts zurückzukehren, dessen wichtigster Eckstein die Grün‐ dung der UNO und die Unterzeichnung der Allgemeinen Erklärung der Menschen‐ rechte gewesen sei. In Folge dessen bedienen sich die Humanisten des internationa‐ len Rechts einer rekonstruktiven Methode, um die universellen Rechte der menschli‐ chen Natur zu retten und eine Geschichtsschreibung zu übernehmen, in der die Ver‐ teidiger der Menschenrechte sich immer jenseits von Gut und Böse befinden, sie sind weder Sieger noch Verlierer, weder Freund noch Feind, sondern diejenigen, die den wahren Sinn der menschlichen Würde erkannt haben und deshalb den Auftrag erhalten haben, ihn zu universalisieren. Viele Vertreter der Humanisierung des inter‐ nationalen Rechts wie Habermas, Rawls, Piovesan, Bobbio, Ferrajoli, Buergenthal und Trindade bezwecken nicht etwa, eine Genealogie zu erstellen, um dieses Recht

57 Habermas 1996, S. 225. 58 Cançado Trindade 2003, S. 34 f. 59 Lafer 1988, S. 118.

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in seinen religiösen Ursprüngen aufzuspüren, denn sie behaupten ja, dass ihre emi‐ nent universelle Mission erst in den Anfängen stecke.60 Habermas betont, dass der Nationalismus für die Eroberung der Menschenrechte entscheidend gewesen sei, denn er bedeutete auch den Übergang vom Zustand des Untertans in den Zustand des Bürgers und eröffnete nach 1945 auch den Weg zum Kantischen Ideal des kosmopolitischen Bürgers. Der Nationalismus führte jedoch auch zum Ausschluss des Andern, der zum Fremden herabgestuft wurde. Die Radi‐ kalisierung der Unterscheidung von menschlichen Gruppierungen führte zu Frem‐ denhass und Eliminierung. Hatte der Nationalismus also einerseits einen katalyti‐ schen Effekt auf die Solidarität zwischen einander fremden Menschen, der sie zum Kampf um ihre zivilen und politischen Rechte bewegte, so förderte er andererseits den Ausschluss des Andern, die Ablehnung seiner Existenz, seiner Lebensweise, seines Weltbildes, seiner Geschichte und seiner Kultur. Die Verinnerlichung und der Ausschluss des Andern resultierten aus der Radikalisierung des Nationalismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden mit der Gründung der UNO die Menschenrechte einer passiven Revolution unterzogen, die von ihrer Ausweitung gekennzeichnet war. Das Ende des Ausnahmezustands des Zweiten Weltkriegs erlaubte de Rekon‐ struktion der Menschenrechte auf einer sichereren Grundlage. Die juristische For‐ mulierung der Vorstellung der dem Menschen inhärenten Rechte gewann mit der Unterzeichnung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 neuen Schwung. Von da an beginnt sich das Ende des zwischenstaatlichen Systems rasch abzuzeichnen: In einer etwas weiteren Dimension befinden wir uns inmitten eines historischen und ju‐ ristisch revolutionären Prozesses, der Rekonstruktion eines neuen Paradigmas im Interna‐ tionalen Öffentlichen Recht, das ganz eindeutig seine alte, lediglich zwischenstaatliche und heute völlig überwundene Dimension übersteigt.61

Der auf das Sollen reduzierte Idealismus führt zur triumphalen Behauptung: Im neuen jus gentium des 21. Jahrhunderts taucht der Mensch als Subjekt jener Rechte auf, die direkt dem Internationalen Recht entspringen, und mit der Fähigkeit ausgestattet, sie einzufordern. Ich erlaube mir, diese breite Evolution als Rekonstruktion des jus genti‐ um zu bezeichnen, entsprechend der recta ratio, als ein neues und wahres universelles Recht der Menschheit. Aufgrund seiner Humanisierung und Universalisierung beschäf‐ tigt sich das internationale Recht nun direkter mit der Identifizierung und Verwirklichung der allgemeinen höheren Werte und Ziele, die die Menschheit als Ganzes betreffen. Zu diesem historischen Prozess haben sowohl der Aufstieg des Internationalen Rechts der Menschenrechte als auch das Recht der Internationalen Organisationen entscheidend bei‐ getragen.62

60 Cançado Trindade 2003, S. 34. 61 Cançado Trindade 2006, S. 18 [Hervorhebungen durch den Autor]. 62 Cançado Trindade 2006, S. 18 f.

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Das „neue“ jus gentium jedoch exhumierte den Begriff des gerechten Krieges, und viele Vertreter der Menschenrechte begannen, diesen zu verteidigen. In Bezug auf die humanitäre Intervention wird behauptet: “This doctrine was greatly misused in the past and frequently served as pretext for the occupation or invasion of weaker countries“.63 Die Analyse des Einsatzes der humanitären Intervention zeigt, dass diese Doktrin nicht nur in der Vergangenheit missbraucht wurde, sondern auch wei‐ terhin unter dem Vorwand der Verteidigung der Menschenrechte verwendet wird, um die Interessen mächtiger Staaten zu verteidigen. Regelmäßig wird die Doktrin der Intervention vom modernen oder zeitgenössischen Imperialismus mit dem zivilisato‐ rischen oder humanitären Argument angewandt, wobei diese immer mit einer abso‐ luten, als Axiom behandelten Moral gerechtfertigt wird. Es ist kein Zufall, dass der Internationale Strafgerichtshof seine Urteile nur gegen Regierende und Funktionäre schwacher Länder ausspricht. Der Rekordhalter in Sachen Menschenrechtsverlet‐ zungen erhebt sich über jede internationale Norm und Institution. Eine andere un‐ übersehbare Tatsache sind die jüngsten humanitären Interventionen ohne UNOMandat im Kosovo, Irak, Libyen und Mali. Mit oder ohne Mandat nehmen die hu‐ manitären Interventionen ständig zu, was ein starkes Indiz für einen permanenten Ausnahmezustand ist. Hier nimmt die Verbindung zwischen Recht und Moral, wel‐ che die Öffentlichkeit blenden soll, die Form einer effektiven Bedrohung der Welt‐ ordnung an. Der Sicherheitsrat bewilligt, sich auf eine kontroverse Interpretation des 7. Artikels der UNO-Charta berufend, die Anwendung militärischer Gewalt im Na‐ men der „humanitären“ Intervention. Im Artikel 39 des besagten Kapitels heißt es: Der Sicherheitsrat stellt fest, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt; er gibt Empfehlungen ab oder beschließt, welche Maßnahmen auf Grund der Artikel 41 und 42 zu treffen sind, um den Weltfrieden und die internatio‐ nale Sicherheit zu wahren oder wiederherzustellen.

Wer das Monopol über die Menschenrechte besitzt, besitzt auch die Kontrolle über die neue Weltordnung, da sie es […] selber sind, die definieren, interpretieren und anwenden. Sie entscheiden, wann et‐ was Krieg ist oder ein friedliches Mittel internationaler Politik, ein friedliches Mittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit in einem Staat, der selber dazu nicht im‐ stande ist, zum Schutze des Lebens und des Privateigentums, überhaupt zur Pazifizierung der Erde.64

Artikel 39 wurde in den Entscheidungen des Rates zu den Kurden und anderen zivi‐ len Gruppierungen im Irak, in Ex-Jugoslawien, Haiti, Sierra Leone und Osttimor an‐ gerufen.

63 Buergenthal 2002, S. 3 (Hervorhebung durch den Autor). 64 Schmitt 1994, S. 201.

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Because the resolutions authorizing these measures are ambiguous in terms of the legal norms and factual considerations giving rise to them, it may be premature to assert that the Security Council has adopted a modern version of the collective humanitarian inter‐ vention.

Hier müsste man zuallererst die notwendigen Reformen der oligarchischen Struktu‐ ren der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates diskutieren, unter denen sich der Hauptakteur der internationalen Politik befindet. Die USA sind nicht nur der größte Geldgeber, sondern haben auch die größte Streitmacht und sind Rekordhalter bei den Menschenrechtsverletzungen. Tatsächlich ist die Situation noch ernster, denn die oligarchische Struktur des Rates, zu dessen ständigen Mitgliedern die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges zählen, verdunkelt die imperialistische Souveränität Nord‐ amerikas: Nevertheless, the doctrine of humanitarian intervention was the first to give expression to the proposition that there were some limits to the freedom states enjoyed under interna‐ tional law in dealing with their own nationals. Contemporary arguments about the rights of international organizations or groups of states to use the force, if necessary, to put an end to massive violations of human rights have been justified at time by reference to this doctrine.65

Die Souveränität ist direkt mit der Idee der Intervention verbunden. So haben die USA unter Zuhilfenahme der Monroe-Doktrin eine defensive Expansion in eine im‐ perialistische Expansion und auch das Prinzip der Nichtintervention in ein Instru‐ ment der andauernden Intervention verwandelt.66 Obwohl die Humanisten des ge‐ genwärtigen internationalen Rechts die Nichtreduzierbarkeit des Konflikts in der konkreten Wirklichkeit auf der Bühne der politischen Beziehungen verleugnen, wi‐ dersprechen sich ihre Interpretationen bezüglich der universellen Gültigkeit der Menschenrechte. In der Wahrnehmung von Celso Lafer, bedeuten die Menschenrechte als globales Thema im Bereich der Jurisdiktion eines jeden Staates, dass nur die effektive Sicherstellung der Menschenrechte der Bevölkerung den Regierenden auf internationaler Ebene völlige Legitimität verleiht.67

Die Rekonstruktion der Menschenrechte folgt einer Logik, die sich an der Verleug‐ nung des Politischen orientiert. Aus ihrer historischen Rekonstruktion werden alle dem Begriff der Menschheit zugrundeliegenden Antagonismen ausgeschlossen, de‐ ren Gehalt in ihrem politischen Gebrauch eine binäre Struktur des Ein-/Ausschlusses aufweist und vom universellen und abstrakten Charakter der Menschheitsidee ver‐ dunkelt wird. Der Inhalt der Rekonstruktion der Menschenrechte wird verstanden als Folge friedlicher Revolutionen: 65 Buergenthal 2002, S. 4. 66 Schmitt 1994, S. 188. 67 Lafer im Vorwort zu Lindgren Alves’ Buch – apud Piovesan 2012, S. 365.

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Wenn das Ende des Zweiten Weltkrieges die erste Revolution des Prozesses der Interna‐ tionalisierung der Menschenrechte bedeutete und die Schaffung internationaler Überwa‐ chungsorgane sowie die Ausarbeitung von Abkommen zum Schutz der Menschenrechte bewirkte – welche die globalen und regionalen Systeme zum Schutz der Menschenrechte darstellen –, dann war das Ende des Kalten Krieges aufgrund der Konsolidierung und Be‐ kräftigung der Menschenrechte als globales Thema die zweite Revolution im Prozess der Internationalisierung der Menschenrechte.68

Es ist kurios, wie die rekonstruierende Erzählung der „Revolutionen“ des Internatio‐ nalisierungsprozesses der Menschenrechte von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit begleitet wird. Die historische Erzählung der Rekonstruktion der Menschenrechte pflegt diese Kontingenzen oder Situationen zu ignorieren, welche nicht in eine Erzählung passen, deren Inhalt die entsprechenden Ausnahmesituatio‐ nen ausschließt. Rückblickend auf das 20. Jahrhundert ergibt sich üblicherweise eine zwiespältige politi‐ sche Bilanz. Sicherlich sind bisher noch in keinem Jahrhundert zuvor so viele Menschen Opfer von Kriegen und Massenvernichtung geworden wie in diesem. Und das, obwohl dieses Jahrhundert gleichzeitig die weltweite Anerkennung der aufklärerischen Ideen von Menschenrechten und politischer Demokratie mit sich brachte – die allerdings noch nicht mit ihrer politischen Verwirklichung gleichgesetzt werden kann.69

Der polemische und konfliktbeladene Charakter, den die Humanisten des internatio‐ nalen Rechts in den internationalen Beziehungen nicht anerkennen wollen, zeigt sich eindeutig, wenn man die Frage nach dem Fundament und dem Wesen der Men‐ schenrechte stellt. Die von der Grundlegung der Menschenrechte provozierte Kon‐ troverse ist eines von vielen Indizien, welche die Merkmale ihrer semantischen Struktur in Frage stellen, so z.B. ihren Anspruch auf Universalität: Schon immer war die Polemik um das Fundament und das Wesen der Menschenrechte sehr intensiv: sind die Rechte naturgegeben und angeboren, sind es positive Rechte, his‐ torische Rechte oder etwa Rechte, die sich von einem bestimmten Moralsystem herleiten lassen? Diese Fragestellung wird auch in unserer Zeit noch sehr intensiv diskutiert.“70

Es sei hier daran erinnert, dass die Menschenrechte ihren Ursprung im Naturrecht haben, deren Merkmal der Universalität immer Grund für heftige Konfrontationen gewesen ist, da es sich dabei um ein revolutionäres Recht gehandelt hat, das verwen‐ det wurde, um den Status quo anzugreifen. In Wirtschaft und Gesellschaft bemerkt Max Weber im Kontext seiner Behandlung der Naturrechte und ihrer Typen: Das Naturrecht ist daher die spezifische Legitimitätsform der revolutionär geschaffenen Ordnungen. Berufung auf ‚Naturrecht‘ ist immer wieder die Form gewesen, in welcher Klassen, die sich gegen die bestehende Ordnung auflehnten, ihrem Verlangen nach 68 Piovesan 2012, S. 364 (Hervorhebungen durch den Autor). 69 Greven 2009, S. 143. 70 Piovesan 2012, S. 175.

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Rechtsschöpfung Legitimität verliehen, sofern sie sich nicht auf positive religiöse Nor‐ men und Offenbarungen stützten. Zwar ist jedes Naturrecht seinem gemeinten Sinn nach ‚revolutionär‘, derart dass es bestimmten Normen die Berechtigung zuspräche, einer be‐ stehenden Ordnung gegenüber durch gewaltsames Handeln oder durch passive Renitenz durchgesetzt zu werden.71

Dieses Zitat zeigt, wie Max Weber den politisch-revolutionären Charakter des Na‐ turrechts offenlegt. Man kommt gar nicht umhin, dies von einem politischen Stand‐ punkt aus zu sehen. Nur so erkennt man seine historische Struktur, deren Zeitlichkeit den Handlungsverlauf in der Zeit beschränkt und wie die Räumlichkeit an einem be‐ stimmten Ort festmacht. Außerdem begreift man so, dass es nicht möglich ist, ihre Natürlichkeit zu naturalisieren, denn das Merkmal „natürlich“, das da dem Recht zu‐ geschrieben wird, beruht auf dem Versuch, ihm eine universelle Substanz zuzu‐ schreiben, deren Funktion zwar immer den Einschluss der Rechtlosen hervorruft, gleichzeitig aber auch den Ausschluss jener bewirkt, deren Eigenheiten nicht ausrei‐ chen, um sie unter die menschliche Natur zu subsumieren. In ihrem Versuch, die Geschichte der Menschenrechte zu rekonstruieren, stoßen die Humanisten des internationalen Rechts immer wieder auf das Problem ihrer Grundlage. Aufgrund seiner universalistischen Semantik gründete dieses Recht im‐ mer auf einem absoluten Fundament. Nie aber gab es einen Konsens bezüglich des wahren Fundaments der Menschenrechte. Im Handlungsverlauf gerieten die in den Kampf um die Menschenrechte involvierten Parteien immer wieder in Konflikt mit‐ einander, wobei die jeweils daraus hervorgehenden Sieger den Vorstellungen von Gleichheit und Freiheit unterschiedliche Legitimationen zuschrieben. Jede Herr‐ schaft brauchte also zum Zweck ihrer Rechtfertigung einen Ersatz für ihre (metaphy‐ sische) Grundlage. Von der Perspektive der Ausnahmetheorie aus betrachtet, können die Menschenrechte nur im Licht der politischen Kämpfe betrachtet werden, deren Ergebnisse zu einem Übergang vom theologischen zum rationalen Fundament führ‐ te. Mal beruhte ihre Quelle in der Transzendenz einer Gottheit, mal in der progressi‐ ven Geschichte, in der Nation, im Individuum. In jedem Konflikt um die Bestim‐ mung eines neuen Fundaments verblieb jedoch ein Rest einer absolutisierenden Theologie: Das Absolute – und Melville zufolge wurde ein Absolutes in die Menschenrechte einge‐ führt – resultiert in einem Unglück für alle, wenn es in die Welt der Politik eingeführt wird.72

In ihrer Abhandlung über die Aporien der Menschenrechte untersucht Hannah Arendt diese vom historisch-geistigen Standpunkt der Menschenrechtserklärungen der zwei großen Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts. Die Erklärungen, de‐ 71 Weber 2005, S. 636. 72 Arendt 1988, S. 67.

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ren Gehalt die wichtigsten Grundlagen jedes zeitgenössischen Prozesses der Ver‐ wirklichung der Menschenrechte darstellen, zeigen ihr zufolge zweifelsfrei auf, dass es nicht mehr die göttlichen Gesetze und Gewohnheiten sind, sondern die Men‐ schen, die bestimmen, was gerecht und was ungerecht sei.73 Arendt zufolge hätten sich die Völker in Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts von der Aufsicht jeder historischen, sozialen und religiösen Autorität befreit. Diese Form der Emanzipation habe sich aus einer in einem moralisch-pädagogischen Pro‐ jekt gründenden Erziehung ergeben, deren Abschluss die Menschheit zur Mündig‐ keit geführt habe. Der utopische Charakter der Menschenrechte zeigt sich in der Unmöglichkeit, ihr Versprechen einzulösen, d.h. ihre Rechte zu garantieren. Einerseits verleugneten sie die sozialen Kräfte, die religiösen Mächte und jegliche Form von traditioneller poli‐ tischer Autorität, andererseits konnten die eingeforderten Rechte nur auf den Staat und seine Verfassung zählen: Die Rolle der Menschenrechte in diesem Prozess war, das zu garantieren, was politisch nicht garantierbar oder doch noch nie politisch garantiert worden ist.74

Es ist bemerkenswert, wie die heutige Rhetorik der Internationalisierung der Men‐ schenrechte verspricht, was sie nicht halten kann, was politisch nicht garantiert wer‐ den konnte, noch jemals garantiert werden kann. Obwohl sich die Expansionsbewe‐ gung der Menschenrechte häufig als friedliche Revolution oder als apolitische Be‐ wegung ausgibt, kämpft sie verbissen gegen ihren größten Feind, die staatliche Sou‐ veränität, deren Bedeutung sie auf einen Handlungs- und Entscheidungsraum zur Verteidigung egoistischer, voluntaristischer Interessen, die die Menschenrechte ver‐ letzen, reduziert. Das Paradox beruht also auf der Tatsache, dass die Bewegung viel stärker als jede andere übernationale Organisation von der staatlichen Souveränität zur effektiven Sicherstellung ihrer Rechte abhängt. Obwohl die Verfechter der Hu‐ manisierung des internationalen Rechts sogar schon den Untergang der Staaten pro‐ klamiert haben, gelingt es ihnen nicht, die Rechte ohne Appelle an die Staaten zu schützen, da diese die Hauptakteure auf der Bühne der Weltpolitik sind, ohne die es keinen Schutz der zivilen, politischen, sozialen, ökologischen und aller anderen Rechte gibt. Der grundlegende Punkt, auf den Arendt aufmerksam macht, bezieht sich auf die Abhängigkeit der universalistischen Bewegung der Menschenrechte von der konkreten Wirklichkeit der nationalen Staaten. Die Abstraktion der Menschen‐ rechte, durch welche jeder Mensch unabhängig von Herkunft und Rang zum Rechts‐ subjekt wird, könnte nur dann teilweise Wirklichkeit werden, wenn ihr universeller Rechtsanspruch durch einen nationalen Staat gestützt würde, der auch über die legi‐ timen Mittel der Gewalt verfügt. An dieser Stelle können wir auf ein weiteres Para‐ 73 Arendt 1986, S. 453. 74 Arendt 1986, S. 453.

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dox hinweisen, das in der Regel in der Rhetorik der Menschenrechte nicht erwähnt wird: Wie kann man Sicherheit vor der Gewalt durch Gewalt garantieren? Wie kon‐ trolliert man die Gewalt gegen die Gewalt? Wie kann man die Verletzungen der Menschenrechte durch die Verfechter und Institutionen der Menschenrechte eindäm‐ men? Eine wichtige Tatsache kann in der konkreten Wirklichkeit einer Reihe von Völ‐ kern beobachtet werden, wie z.B. im Fall der Palästinenser,75 von Ländern im Mitt‐ leren Orient und verschiedenen ethnischen Gruppen in Afrika, die sich um die Schaffung eines Staates bemühen, der in der Lage wäre, Ordnung, Stabilität und ein Minimum an Rechten zu gewährleisten, denn wenn sie auf die Aktivisten und über‐ nationalen Organisationen vertrauen, werden sie für immer rechtlos bleiben. Dies ist die eine Seite der Geschichte: Während einige Länder ihre Kompetenzen und Voll‐ machten auf überstaatliche Organismen übertragen, wie dies in Europa geschieht, gibt es unzählige andere Völker, die mit einem Minimum an Kräften um die Grün‐ dung eines Staates kämpfen, der ihre Grundrechte zu sichern vermag. Doch (...) wenn die Menschenrechte wirklich den Grundstein der Verfassung aller zivili‐ sierten Länder bilden, wie immer vorausgesetzt wurde, dann mussten die verschiedenen Gesetze der Staatsbürger das unabdingbare Recht des Menschen, das an sich unabhängig von Staatsbürgerschaft und nationaler Differenz konzipiert war, mit verkörpern und kon‐ kretisieren.76

Eines der Probleme der Menschenrechte ist ihre Verleugnung der staatlichen Souve‐ ränität, denn es handelt sich dabei um jene Institution, welche geschaffen wurde, um das Individuum und das Kollektiv zu schützen. In diesem Sinn sei hier an das klassi‐ sche Binom von Hobbesʼ Staatstheorie erinnert, das Schutz im Tausch gegen Gehor‐ sam gewährte. Aus der vom humanitären internationalen Recht übernommenen Vorstellung von Menschheit wurde die Ausnahme ausgeschlossen, denn die Ausnahme als Grenzbe‐ griff ist immer zugleich drinnen und draußen, die Ausnahme ist das Politische: die existenzielle Dimension, die von der Möglichkeit eines Antagonismus nicht zu tren‐ nen ist. Indem der Menschheitsbegriff die Idee der Befriedung in sich aufnimmt, schließt er die ursprüngliche Wirklichkeit der conditio humana aus, der zufolge die ganze Geschichte der Menschheit von Antagonismen gekennzeichnet ist: von den Gegensätzen zwischen Christen und Nichtchristen, zwischen Zivilisierten und Unzi‐ vilisierten, zwischen Ost und West, zwischen Griechen und Barbaren, wobei diese Unterschiede jeweils „wissenschaftlich“ auf die absurdesten Arten und Weisen ge‐ rechtfertigt wurden.77 75 Nach langem Kampf erlangten die Palästinenser die Anerkennung ihres Staates durch die UNVollversammlung. 76 Arendt 1986, S. 453 f. 77 Schmitt 1994, S. 185.

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4. Schluss Die Humanisierung des internationalen Rechts weist jede Form von Ausnahme zu‐ rück, denn sie verleugnet auch die staatliche Souveränität, die Antagonismen und die normative Fehlbarkeit des juristischen Systems. Während die wichtigste Konse‐ quenz der staatlichen Souveränität das Prinzip der Nichtintervention ist, ist eines der wichtigsten Merkmale der Humanisierung des internationalen Rechts die humanitäre Intervention: die Einmischung also in die Angelegenheiten eines anderen Staates – und jede Staatsangelegenheit wird zu einer innenpolitischen oder peripheren Angele‐ genheit – ist nicht nur erlaubt, sondern auch geboten, wenn der Verdacht auf eine Menschenrechtsverletzung besteht. Obwohl die zeitgenössischen Humanisten und Verfechter der Internationalisierung der Menschenrechte sich vom Rechtspositivis‐ mus abwenden, kämpfen sie dennoch für die Ausweitung der Menschenrechte auf dem Wege ihrer Kodifizierung und der Ausweitung der internationalen Gerichtshö‐ fe. Paradoxerweise lässt sich eine Rückkehr zum positivistischen Geist feststellen, der die Politik auf das Recht reduziert – vor allem auf das kodifizierte Recht, denn es stützt sich in blindem Glauben auf die Gesetzgebung, so dass die Allmacht nicht nur auf dem Gesetz, sondern auch auf der Verrechtlichung der internationalen Politik und auf dem juristischen Aktivismus ruht – und so die Nichtreduzierbarkeit der Antagonismen leugnet. Der Primat der Menschenrechte und ihre blinde Verteidigung verleitet einige dazu zu glauben, dass die UN-Charta eine Art Weltverfassung sei und dass alle juristischen Normen auf dieser Verfassung gründen sollten, deren letzte Entscheidungsinstanz der Sicherheitsrat ist, deren Hauptakteur die USA sind. Auf den ersten Blick sind die Folgen der Humanisierung des internationalen Rechts die Kodierung und die Verrechtlichung der Politik. Eine genauere Analyse zeigt jedoch, dass die wichtigste Konsequenz dieser von Bobbio geprägten Ausweitung des Rechts die Bürokratisierung, die Elitisierung und Technokratisierung sind. Diese Diagnose führt uns direkt zu der Vorhersage Max Webers zurück, der, als er von der Abhängigkeit des gewählten Präsidenten und des Monarchen vom spezialisierten Beamten sprach, die Bürokratisierung vorhersah. Die Humanisierung hat uns zu einer typischen Herrschaftsform der Technokratie geführt. Es handelt sich also viel mehr um eine Bürokratisierung als um eine Humanisierung. Die Bürokratie ist ab‐ hängig von der Sicherheit des US-Imperiums, denn sie braucht den Krieg und die Ausweitung der Märkte – eine Geschichte, die uns an den Aufstieg und Fall des al‐ ten römischen Imperiums erinnert. Die Folge des permanenten Ausnahmezustandes, den Schmitt sehr lange vor Agamben und auf ganze andere Weise angeprangert hat, ist der permanente Inter‐ ventionismus jener, welche in der Lage sind, die Rolle der Großmacht auf dem Par‐ kett der internationalen Politik zu spielen. Durch ihre progressive und universalisti‐ sche Geschichtsphilosophie verdrängte die Bewegung der Aufklärung die kulturel‐

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len Unterschiede und bereitete so den Weg zur Verleugnung der Konflikte und zur gewaltsamen Einführung der Menschenrechte als universelle Pflicht. Indem die zeit‐ genössischen Humanisten den Staat und die ihm eigene Form der Souveränität ver‐ leugnen, bestärken sie entgegen ihren Absichten den Imperialismus, die Hegemonie und den Unilateralismus. Die Rhetorik der Menschenrechte und ihr begrifflicher Ap‐ parat stellen eine gefährliche politische Waffe dar, deren Monopol vergleichbar ist mit dem Monopol der heiligen Schriften, deren Inhalt den Weg zum Heil der Menschheit bestimmte.

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Prof. Dr. Andreas Anter, Professor für Politische Bildung / Politisches System Deutschlands an der Universität Erfurt. Forschungsschwerpunkte: Verfassungspoli‐ tik, Staatstheorie und Staatspraxis. Veröffentlichungen: Theorien der Macht zur Ein‐ führung, 4. Aufl. Hamburg 2018; Max Weber und die Staatsrechtslehre, Tübingen 2016; Max Weber’s Theory of the Modern State: Origins, Structure and Significan‐ ce, Basingstoke/New York 2014; Staatskonzepte. Die Theorien der bundesdeutschen Politikwissenschaft, Frankfurt/New York 2013; Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des Politischen, 2. Aufl. Tübingen 2007. Email: [email protected] Prof. Dr. Dirk Blasius, Jg. 1941, emeritierter Professor für Rechts-, Verfassungsund Sozialgeschichte an der Universität Duisburg-Essen. Email: [email protected] Prof. Dr. Norbert Campagna, Jg. 1963, Professor an der Universität Luxemburg. Neuere Veröffentlichungen: Der klassische Liberalismus und die Gretchenfrage. Zum Verhältnis von Freiheit, Staat und Religion im klassischen politischen Libera‐ lismus, Stuttgart 2018. Email: [email protected] Prof. Dr. Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco; Professor am Institut für soziale und politische Studien (IESP) der Universität des Bundesstaates Rio de Ja‐ neiro (UERJ) und des Doktoratsprogramms für Rechtswissenschaften der Universi‐ tät Veiga de Almeida (UVA). Er koordiniert das Labor für politische Studien der Verteidigung und der inneren Sicherheit (LEPDESP), eine Partnerschaft zwischen IESP und Escola Superior de Guerra (ESG). Er ist Koordinator der Arbeitsgruppe Politische Theorie und politisches Denken der Nationalen Vereinigung für Graduier‐ tenstudien in den Sozialwissenschaften (ANPOCS). Neuere Veröffentlichung in deutscher Sprache: Die unvollendete Säkularisierung. Politik und Recht im Denken Carl Schmitts, Stuttgart 2013. Email: [email protected] Dr. Verena Frick, Jg. 1986, Akademische Rätin a.Z. am Institut für Politikwissen‐ schaft der Georg-August-Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Demo‐ kratischer Konstitutionalismus, Demokratietheorie, Politik und Recht: Neuere Veröf‐ fentlichungen: Die Staatsrechtslehre im Streit um ihren Gegenstand. Die Staats- und Verfassungsdebatten seit 1979, Tübingen 2018; (hrsg. mit Andreas Anter) Politik, Recht und Religion, Tübingen 2019; (hrsg. mit Oliver W. Lembcke & Roland Lhot‐

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ta) Politik und Recht. Umrisse eines politikwissenschaftlichen Forschungsfeldes, Baden-Baden 2017. Email: [email protected] PD Dr. Oliver Hidalgo, Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Re‐ gensburg. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte, Demo‐ kratietheorie, Politik und Religion. Neuere Veröffentlichungen: Die Antinomien der Demokratie, Frankfurt a. M./New York 2014; Staat und Religion. Zentrale Posi‐ tionen zu einer Schlüsselfrage des politischen Denkens (hrsg. mit Christian Polke), Wiesbaden 2017; Das Narrativ von der Wiederkehr der Religionen (hrsg. mit Holger Zapf und Philipp W. Hildmann), Wiesbaden 2018; Politische Theologie. Beiträge zum untrennbaren Zusammenhang zwischen Religion und Politik, Wiesbaden 2018. Email: [email protected] Prof. Dr. Jochen Kleinschmidt ist Professor an der Fakultät für Politikwissenschaft der Universidad del Rosario in Bogotá, Kolumbien. Forschungsschwerpunkte: Theo‐ rien der Internationalen Beziehungen, der politischen Geographie, und der Konflikt‐ forschung. Neuere Veröffentlichungen: Seine Arbeiten sind unter anderem erschie‐ nen in Alternatives, International Politics, und Revista Brasileira de Política Inter‐ nacional. Email: [email protected] Dr. Christian Kreuder-Sonnen, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschafts‐ zentrum Berlin für Sozialforschung. Forschungsschwerpunkte: Internationale Orga‐ nisationen, Institutionalismus, Rechtstheorie. Neuere Veröffentlichungen: Emergen‐ cy Powers of International Organizations. Between Normalization and Containment, Oxford i.E.; Der globale Ausnahmezustand. Carl Schmitt und die Anti-Terror-Politik des UN-Sicherheitsrates, Baden-Baden 2012. Email: [email protected] RR Dr. habil. Matthias Lemke, Jg. 1978, Dozent an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Bundespolizei, Lübeck. Forschungsschwer‐ punkte: Ausnahmezustand und Demokratie, Grundrechte, Sicherheitspolitik; Neuere Veröffentlichungen: (zus. m. Ece Göztepe und Olivier Cahn) (Hg.) New Normality? State of Exception as Contemporary Government Technique, Wiesbaden 2018 (=Zeitschrift für Politikwissenschaft (ZPol), 28(4)); Demokratie im Ausnahmezu‐ stand. Wie Regierungen ihre Macht ausweiten, Frankfurt a.M./New York 2017. Email: [email protected] Prof. Dr. Reinhard Mehring, Jg. 1959, Professor für Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Carl Schmitt, Martin Heidegger, Thomas Mann. Neuere Veröffentlichungen: Heideggers „große Politik“. Die semantische Revolution der Gesamtausgabe, Frei‐ burg 2018; Vom Umgang mit Carl Schmitt. Die Forschungsdynamik der letzten Epo‐ 306

che im Rezensionsspiegel, Baden-Baden 2018; Die Erfindung der Freiheit. Vom Aufstieg und Fall der philosophischen Pädagogik, Würzburg 2018; Thomas Manns philosophische Dichtung. Vom Grund und Zweck seines Projekts, Freiburg 2019. Email: [email protected] Dr. Stefano Saracino, Jg. 1980, Dr. phil., Stipendiat der Goethe-Universität Frank‐ furt a.M. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Geschichte des politi‐ schen Denkens insbesondere der Antike und der frühen Neuzeit, Republikanismus, Renaissance-Utopien. Neuere Veröffentlichungen: „Niccolò Machiavelli“, in: Rüdi‐ ger Voigt/Ulrich Weiß (Hrsg.): Handbuch Staatsdenker, Stuttgart 2010, S. 261–266, Politische Thymotik und das Streben nach Ruhm. Eine vergessene Quelle der repu‐ blikanischen Ordnung, in: Jahrbuch Politisches Denken, 2010, S. 165-195; Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli. Eine antitraditionelle Auffassung politischer Gewalt, politischer Ordnung und Herrschaftsmoral, München 2012. E-Mail: [email protected], Website: http://www.geschichte.uni-frankfurt.de/igk/Stipendiaten /Dr_Stefano_Sara cino/index. html. Prof. Dr. Rüdiger Voigt, Jg. 1941. Emeritierter ordentlicher Professor für Verwal‐ tungswissenschaft der Universität der Bundeswehr München. Forschungsschwer‐ punkte: Staats- und Rechtstheorie, Krieg und Weltordnung, Visualisierung der Poli‐ tik; Neuere Veröffentlichungen: Den Staat denken. Der Leviathan im Zeichen der Krise, 3. Aufl. Baden-Baden 2014; Denken in Widersprüchen. Carl Schmitts wider den Zeitgeist, Baden-Baden 2015; Staatsdenken. Zum Stand der Staatstheorie heute (Hrsg.), Baden-Baden 2016; Die Arroganz der Macht. Hochmut kommt vor dem Fall, Baden-Baden 2018; Handbuch Staat, 2 Bände (Hrsg.), Wiesbaden 2018. Email: [email protected]

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