Positionen des Romans im späten Mittelalter [Reprint 2012 ed.] 9783110949667, 9783484155015

168 21 12MB

German Pages 373 [376] Year 1991

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Positionen des Romans im späten Mittelalter [Reprint 2012 ed.]
 9783110949667, 9783484155015

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Der Artusroman und sein König. Beobachtungen zur Artusfigur am Beispiel von Ginovers Entführung
Von der ›Gral-Queste‹ zum ›Tod des Königs Artus‹. Zum Einheitsproblem des ›Prosa-Lancelot‹
›Tandareis und Flordibel‹ von dem Pleier. Eine poetologische Reflexion über Liebe im Artusroman
Ulrich von Etzenbach, ›Alexander‹
›Reinfried von Braunschweig‹. Vorüberlegungen zu einer Interpretation
Heinrich von Neustadt, ›Apollonius von Tyrland‹
Die Apollonius-Version der ›Gesta Romanorum‹
Johann von Würzburg, ›Wilhelm von Osterreich‹
›Friedrich von Schwaben‹
›Johann aus dem Baumgarten‹ und ›Joncker Jan wt den vergiere‹. Eine Skizze. – Im Anhang: Transkription des ›Joncker Jan‹ nach dem Amsterdamer Druck
Geschichte und Liebe im Melusinenroman
Über die Schwierigkeiten des Erzählens in ›nachklassischer‹ Zeit
Corrigenda zu Fortuna vitrea Band 1. Seite VIII, Beitragstitel Walter Haug es muß heißen „Erzählens“ statt „Erzählers“

Citation preview

FORTUNA VITREA Arbeiten zur literarischen Tradition zwischen dem 13- und l6. Jahrhundert Herausgegeben von Walter Haug und Burghart Wachinger Band 1

Positionen des Romans im späten Mittelalter Herausgegeben von Walter Haug und Burghart Wachinger

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN

Gedruckt mit Mitteln aus dem Leibniz-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Positionen des Romans im späten Mittelalter / hrsg. von Walter Haug und Burghart Wachinger. - Tübingen : Niemeyer, 1991 (Fortuna vitrea ; Bd. 1) NE: Haug, Walter [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-15501-9

ISSN 0938-9660

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1991 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen

Vorwort

Die neue Reihe, die mit diesem Band eröffnet wird, und die Forschungsarbeiten, die in ihr veröffentlicht werden sollen, sind möglich geworden durch Sondermittel, die die Deutsche Forschungsgemeinschaft Walter Haug und mir als Förderpreis im >Gottfried Wilhelm Leibniz Programm< von 1988 an für fünf Jahre zur Verfugung gestellt hat. Wir möchten die uns gebotene Chance dazu nutzen, der Erforschung literarischer Traditionen zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert und der Diskussion der Epochenschwellen zwischen Mittelalter und Neuzeit (und damit der Epochenbegriffe selbst) in gemeinsamer Arbeit und im interdisziplinären Gespräch neue Impulse zu geben. Die Reihe wird insbesondere die Ergebnisse von kleinen Arbeitstagungen vorstellen, die während der Laufzeit des Projekts zweimal jährlich auf der Reisensburg bei Günzburg stattfinden. Daneben werden einige Monographien aus dem Umkreis der Projektarbeit Aufnahme finden. Die Entstehung des vorliegenden ersten Bandes reicht freilich weiter zurück. Die meisten Beiträge sind in erster Fassung entstanden als Referate für ein Tübinger Oberseminar des Wintersemesters 1987/88. Dieses Seminar war geplant als Ehrung und Geschenk für Walter Haug zu seinem sechzigsten Geburtstag. Wir hatten uns vorgenommen, an eines seiner Hauptarbeitsgebiete, seine Forschungen zum mittelalterlichen R o m a n , anzuknüpfen und zugleich seinen neuen Interessen, die sich mehr und mehr dem Spätmittelalter zuwandten, entgegenzukommen. So sollten vor allem solche R o m a n e des 13. bis 15. Jahrhunderts behandelt werden, zu denen er sich noch nicht schriftlich geäußert hatte. Dabei war von vornherein ins Auge gefaßt, daß der Geehrte selbst mitzuarbeiten hätte. Eine Ehrengabe mit solcher Zumutung schien uns bei diesem Gegenstand fast unvermeidlich, aber auch dem Temperament Walter Haugs nicht unangemessen. Als dann der Leibniz-Preis neue Perspektiven eröffnete und neue Formen gemeinsamer Arbeit wünschenswert machte, lag es nahe, das erste der Reisensburger Gespräche dem spätmittelalterlichen R o m a n zu widmen. So wurden v o m 17. bis 19. Juni 1988 eine Reihe von Referaten des vorausgegangenen Semesters und dazu zwei neue Beiträge noch einmal in einem neuen Kreis diskutiert, und am Ende der Tagung versuchte Walter Haug ein Resümee, Grundlage seines Beitrags zu diesem Band.

V

Vorwort

Die hier vorgelegten Arbeiten nähern sich ihren Gegenständen in j e verschiedener Weise. Ihnen allen aber sind die intensiven Diskussionen und die Auseinandersetzung mit weiteren Vorträgen und Vorlagen, die aus verschiedenen Gründen nicht in den vorliegenden Band eingehen konnten, sehr zugute gekommen. Darum möchte ich im Namen aller Beiträger auch jenen Gesprächsteilnehmern herzlich danken, die hier nicht durch eine Arbeit vertreten sind. Die Redaktion lag in den Händen von Anna Mühlherr, Brigitte Weiske und Hans-Joachim Ziegeler. Auch ihnen gilt unser Dank. Tübingen, im Oktober 1989

Burghart Wachinger

VI

Inhalt

Klaus Grubmüller Der Artusroman und sein König. Beobachtungen zur Artusfigur am Beispiel von Ginovers Entfuhrung

1

Christoph Huber Von der >Gral-Queste< zum >Tod des Königs ArtusProsa Lancelot

21

Christoph Cormeau >Tandareis und Flordibel< von dem Pleier. Eine poetologische Reflexion über Liebe im Artusroman

39

Benedikt Konrad Vollmann Ulrich von Etzenbach, > Alexanden

54

Derk Ohlenroth >Reinfried von BraunschweigApollonius von Tyrland
Gesta Romanorum
Wilhelm von Österreich
Friedrich von Schwabenc

136

Manfred Günter Scholz >Johann aus dem Baumgarten< und >Joncker Jan wt den vergiereJoncker Jan< nach dem Amsterdamer Druck

146

VII

Inhalt

Frieder Schanze Hans von Bühel, >Die Königstochter von Frankreich Struktur, Überlieferung, Rezeption. Mit einem buchgeschichtlichen Anhang zu den >KönigstocherHug SchaplerKönigstochternachklassischer< Zeit

VIII

233

328

. .

338

KLAUS GRUBMÜLLER

Der Artusroman und sein König Beobachtungen zur Artusfigur am Beispiel von Ginovers Entfuhrung*

Es kann keinen Spaß machen, König zu sein im Epos des deutschen Mittelalters:1 Der Burgunderkönig Gunter verbringt seine Hochzeitsnacht wenig k o m fortabel und ohne die rechte erotische Ausstrahlung an die Wand geheftet; Marke von Cornwall wird aufs peinlichste betrogen und in seiner Leichtgläubigkeit bloßgestellt; der Hunne Etzel wird zum bloßen Werkzeug der Rache, die seine zweite Frau im Sinne hat; und auch Dietrich, der Ostgotenkönig, macht — zögernd, immer dem Unglück verbunden — nicht unbedingt eine gute Figur. Auch Artus bildet keine Ausnahme. Schon in Chrestiens >Yvain< fällt er unangenehm auf (v. 42-52), weil er sich, - an einem Festtag wie Pfingsten - zu einem erholsamen Mittagsschläfchen zurückzieht, 2 und die AfFairen um seine Frau können seinem Ansehen auch nicht gerade forderlich sein. Die jüngeren Artus-Epen, selbst die deutschen, 3 treiben's meist noch schlimmer mit dem * Ich belasse diese Ausfuhrungen im Zustand einer vorläufigen Skizze und hoffe, in anderem Zusammenhang auf das hier nur Angedeutete zurückkommen zu können. 1 Für die vorhöfischen Epen sind die Materialien zusammengestellt bei Maria Dobozy, T h e role of the king in selected Middle High German epics, Diss. Univ. of Kansas 1978. Auf propagierte Idealvorstellungen ausgerichtet sind Lucie Sandrock, Das Herrscherideal in der erzählenden Dichtung des deutschen Mittelalters, Emsdetten 1931, und Gerhard Schmidt, Die Darstellung des Herrschers in deutschen Epen des Mittelalters, Diss. Leipzig 1951. In größere Z u s a m m e n hänge ist die Königsfigur gestellt bei Manfred W . Hellmann, Fürst, Herrscher und Fürstengemeinschaft. Untersuchungen zu ihrer Bedeutung als politischer Elemente in mittelhochdeutschen Epen. Annolied, Kaiserchronik, Rolandslied, Herzog Ernst, Wolframs Willehalm, Bonn 1969. Nützlich und anregend außerdem: Karl-Bernhard Knappe, Repräsentation und Herrschaftszeichen. Z u r Herrscherdarstellung in der vorhöfischen Epik, München 1974 (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 17), und Erich Kleinschmidt, Herrscherdarstellung. Z u r Disposition mittelalterlichen Aussageverhaltens untersucht an Texten über R u d o l f I. von Habsburg, Bern 1974 (Bibliotheca Germanica 17). 2

Z u r Stelle und zu Hartmanns Modifikationen kurz Karl-Heinz Borck, Über Ehre, Artuskritik und Dankbarkeit in Hartmanns Iwein, in: August O b e r m a y e r (Hg.), Die Ehre als literarisches Motiv. Eric W . Herd z u m 65. Geburtstag, Dunedin 1986, S. 1-18. Der neue >YvainYvain< [Le chevalier au lion] de Chretien de Troyes, tome I, vv. 1-3411, Geneve 1986 [Publications romanes et fran^aises 170]) geht auf inhaltliche Fragen k a u m ein.

3

Z u kritischen und parodistischen Tendenzen im späten französischen Artusroman vgl. Beate Schmolke-Hasselmann, Der arthurische Versroman von Chrestien bis Froissart. Z u r Geschichte einer Gattung, Tübingen 1980 (Beihefte Z f r o m P h 177), bes. S. 51-57; zur Komik des Hahnreis in den späten englischen Balladen Karl Heinz Göller, König Arthur in der englischen Literatur

1

Klaus

Grubmüller

König: Der Stricker 4 läßt ihn von einem Riesen wie einen Flederwisch (v. 6951: [er] zuckte in üf als einen schoup) auf eine Bergspitze setzen, u n d in der >Crone< Heinrichs von dem Türlin findet sich die b e r ü h m t e Szene, in der der frierend von der Jagd zurückkehrende Artus sich am Feuer w ä r m t (v. 3365: er stuont und saz und wärmt sich wol) und fur solche Beschaulichkeit den Spott der Königin erntet (v. 3373-3375: wer lert iuch dise hovezuht, / her künec, daz ir iuwern Up / so eisieret als ein wtp?)5 — eine Szene, die dem deutschen Artusroman erhalten bleibt und zum Ende des 15. Jahrhunderts von Ulrich Füetrer 6 noch einmal mit sichtbarem Vergnügen ausgestaltet wird: als Awentewr, wie Artus ab ainem gejaid cham und sich wermät bey ainem fewr und wie sein dy künigin spott durch ainen ritter, der all nacht nackent rait und vor Karidol, dem hag und vor der künigin palast ein mynne lied sang (Überschrift zu Str. 1424ff.). Artus freilich ist trotz aller Ähnlichkeiten zu anderen kein König wie diese: 7 Mit der Erfindung eines u m ihn gruppierten Epentyps durch Chrestien von Troyes ist er ausdrücklich und programmatisch der außerhalb von Kampf, Anfechtung u n d B e w ä h r u n g stehende unbewegte Mittelpunkt seiner H e r r schaft: Schiedsrichter über andere, Repräsentant einer Lebensform, Abbild des deus quietus. »Dem K ö n i g t u m seiner Tage« habe Chrestien mit einem solcherart enthistorisierten literarischen König »einen korrigierenden Spiegel« vorhalten wollen - so lautet die i m m e r noch geschlossenste u n d prägnanteste D e u tung dieser »höfische(n) Verschiebung des alten feudalen Königsbildes ins Ethisch-Ästhetische« durch Erich Köhler. 8 Im Interesse der großen Feudalherren (der Gönner Chrestiens) werde der König z u m primus inter pares; aus der Phalanx der aktiv Handelnden werde er verdrängt u n d zur Symbolfigur verklärt - nicht etwa nur zur Entschädigung für verlorene Macht, sondern zugleich als Verpflichtung auf Ideale und Werte, mit denen politische Ansprüche des späten Mittelalters, Göttingen 1963 (Palaestra 238), S. 170-174, außerdem: Jörg O . Fichte, Die englischsprachige Artusromanze im 15. Jahrhundert: Kritik - Groteske - Burleske, in: Friedrich Wolfzettel (Hg.), Artusrittertum im späten Mittelalter. Ethos und Ideologie, Gießen 1984, S. 47-59. 4 Daniel von dem Blühenden Tal, hg. v. Michael Rcslcr, Tübingen 1983 (ATB 92). 5 Diu Cröne von Heinrich von dem Türlin, zum ersten Male hg. von Gottlob Heinrich F. Scholl, Stuttgart 1852 (StLV 27), v. 3313-3394. 6 Die Gralepen in Ulrich Füetrers Bearbeitung (Buch der Abenteuer), hg. von Kurt Nyholm, Berlin 1964 ( D T M 57), S. 213-217. 7 Die Materialien sind für die deutsche Literatur zusammengestellt von Karin R . Gürttier, >Künec Artus der guoteGarel vom Blühenden Tal< des Pleier 10 und dort — wiederum beispielsweise — in der Episode von Ginovers Entfuhrung: B e i m großen Frühlingsfest zu Pfingsten, während der König speist und alle anderen es sich auch wohl sein lassen, k o m m t ein fremder Ritter angesprengt und bittet ohne große Umschweife und ohne weitere Erklärungen den künic umb die künigin, daz er die müeste fueren hin. daz was dem künege Artus leit; doch behielt er sine wärheit: die küneginne hiez er fueren dan. daz klagten wip unde man. (v. 55-60) Auch König Artus klagt über dieses wunderliche Mißgeschick, wenn auch nicht gerade übertrieben, eher erstaunt darüber, daß im diu küniginne (ist) benomen (v. 137); von seinem Musterritter, Garel von dem blühenden Tal, läßt er sich zur Mäßigung seiner Trauer (v. 202f.: >sines leides nieman sol / ze trüric stw, daz ist min rät) und zum Frohsinn raten (v. 210: habt einen vroelichen muot)\ und nach der Überantwortung der Königin in den Schutz Gottes (v. 214f.: swar min frowe kere, / da bewar si got der guote) wendet sich die Geschichte Wichtigerem zu. Ganz am Ende des R o m a n s wird Ginover dem Artushof zurückgewonnen, aber der König hat dafür nichts geleistet; er gibt sich behaglich-wohlwollend als Empfänger einer freundlichen Gabe: Artusen, dem was wider komen / Ginover diu vil guote (v. I7636f.). 1 1 9

Köhlers Argumentation wird brüchig, aber nicht im ganzen widerlegt durch den doch wohl gelungenen Nachweis, ausgerechnet der erste Artusroman, >ErecKarrenritter< 18 setzt m i t der Entflihrungsepisode ein: ein g e r ü steter R i t t e r sprengt grußlos in die Halle, teilt mit, daß sich D a m e n u n d H e r r e n des H o f e s in seiner G e w a l t befänden u n d bietet einen Z w e i k a m p f u m die Königin als Preis f ü r die Freiheit der G e f a n g e n e n an. Die Situation ist der i m >Lanzelet< ähnlich in der H e r a u s f o r d e r u n g an den K ö n i g : ein Einbruch v o n G e w a l t setzt eine Zwangssituation. Anders als dort aber bleibt ein Entscheidungsspielraum: die Preisgabe der Ehefrau als P f a n d i m Vertrauen auf den einen als Z w e i k ä m p f e r g e f o r d e r t e n R i t t e r seines Hofes k a n n ja nicht wie ein Rechtstitel beansprucht w e r d e n . Verlangt w i r d v o n Artus eine >politische< Entscheidung: O p f e r u n g seiner U n t e r t a n e n u n d d a m i t Vernachlässigung seiner Herrscherpflichten oder Einsatz der E h e f r a u als politisches Handelsobjekt. Das sorgsam a u f g e b a u t e D i l e m m a läuft ins Leere; d e n n die Entscheidung, die durch das gattungskonstitutive Vertrauen des A r t u s hofes auf die u n ü b e r b i e t b a r e Qualität seiner R i t t e r p r ä f o r m i e r t ist u n d doch n u r f u r die A n n a h m e des Z w e i k a m p f a n g e b o t e s fallen k ö n n t e , w i r d Artus aus der H a n d g e n o m m e n durch eine doppelte Folge v o n List u n d B e t r u g . Zuerst d r ä n g t sich Key in die R o l l e des Z w e i k ä m p f e r s , i n d e m er den K ö n i g , der sein W o r t noch nie z u r ü c k g e n o m m e n hatte (v. 183: car ains de rien ne se desdist), z u m Versprechen provoziert, i h m j e d e n Wunsch zu g e w ä h r e n u n d dann die K ö n i g i n u n d die attraktive A u f g a b e ihres Schutzes f ü r sich v e r langt; d a n n w i r d der Entscheidungszweikampf, der als Gelegenheit zur e r w a r t e t e n B e w ä h r u n g des A r t u s k ä m p f e r s dieser List noch die Schärfe n i m m t , überflüssig gemacht, d e n n M e l j a g a n t bereitet einen Hinterhalt u n d eignet sich G i n o v e r so durch W o r t b r u c h u n d m i t G e w a l t an. Das Schema des vorbehaltlosen Versprechens 19 — bei Ulrich v o n Z a t z i k h o v e n ganz a m R a n d e zur E r m ö g l i c h u n g gefahrloser R e d e genützt, 2 0 m o t i v >LanzeletKarrenritter< nicht gekannt habe (Zur Interpretation von Hartmanns >Iwein< [1965], hier nach: Hartmann von Aue, hg. von H u g o Kuhn und Christoph C o r m e a u , Darmstadt 1973 [Wege der Forschung 309], S. 408-425, hier S. 410 A n m . 6); nur Chrestiens >Yvain< und eine nicht identifizierte weitere Quelle setzt Frank Shaw voraus (Die Ginoverentfuhrung in Hartmanns >IweinIweinIweinArtus-Kritik< treffe, nicht aber in den Folgerungen für eine Wertehierarchie, in der die Ehre über der Ehefrau stehe (weil diese leichter wiederzubeschaffen sei als jene: S 31). Vgl. zur Diskussion z. B. Ursula Peters, Artusroman und Fürstenhof. Darstellung und Kritik neuerer sozialgeschichtlicher Untersuchungen zu Hartmanns >ErecQualifikationsgewinn< aus, der die neue Ritterlichkeit begründet; der maßstabsetzende König bleibt hinter seinem Helden zurück: sichtbar darin, daß die Belobigungen des eigentlich immer mit ihm zufriedenen Artushofes der Selbstkritik des Helden nicht mehr standhalten (z. B. im >Erec< überlistet Gawan den noch widerstrebenden Helden zur Zwischeneinkehr am Artushof [v. 4889ff.], im >Iwein< läßt Artus den soeben von Laudine Verstoßenen suchen, um ihn zu trösten [v. 3240fr.]). — Die thematische Randexistenz des Königs steht schließlich auch im Widerspruch dazu, daß in der Figur Artus in jedem Fall das Bild eines Herrschers gezeichnet wird, das auch durch strukturelle Einbindung niemals die direkte, möglicherweise auch punktuell abgelesene semantische Valenz verliert, das nicht nur in syntagmatischen Erzählabläufen, sondern auch in paradigmatischen Beziehungen zu anderen Bildern von der Würde und vom Heil des Königs (oder auch von seinem Versagen) steht.27 Im gemeinsamen Nenner dieser Beobachtungen vermute ich Grenzen des Spielraumes, den >Fiktionalität< im Mittelalter 28 dauerhaft erreichen kann; auch sie scheinen mir dafür verantwortlich zu sein, daß Chrestiens Experi27

Dies müßte im größeren Zusammenhang der Entwicklung der Herrschervorstellung im Mittelalter und ihrer methodisch heiklen Korrelation mit literarischen Herrscherbildern diskutiert werden. Ansätze dazu bisher bei Hellmann (Anm. 1) und Kleinschmidt (Anm. 1) und in der Literatur zu den Fürstenspiegeln. Für den Hintergrund nenne ich nur: Fritz Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter. Zur Entwicklungsgeschichte der M o narchie, Leipzig 1914; Percy Ernst Schramm, Der König von Frankreich. Das Wesen der M o narchie vom 9. bis zum 16. Jahrhundert, Weimar 1939; ders., Herrschaftszeichen und Staatssymbolik, 3 Bde., Stuttgart 1954-1956 (Schriften der M G H 13/1-3); Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen, Sigmaringen 1956 (Mainauvorträge 1954); Ernst H. Kantorowicz, The King's two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton, N . J . 1957; Walter Ullmann, Principles of Government and Politics in the Middle Ages, London 1961; ders., A History of Political Thought. The Middle Ages, Harmondsworth 1970; Hans K. Schulze, Monarchie. III. Germanische, christliche und antike Wirkungsverbindung im Mittelalter, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. O t t o Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 141-168. Vgl. jetzt auch: Der Herrscher, hg. von Hans Hecker (Anm. 18).

28

Grundlegend jetzt Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einfuhrung, Darmstadt 1985, bes. S. 91—106.

11

Klaus

Grubmüller

m e n t eines letzten Endes doch i m m e r auf die Fiktionalisierung v o n G e schichte g e g r ü n d e t e n »freie(n) Spiel(s) m i t d e m Unwahrscheinlichen« (Haug ebd. S. 106) in der Gattungsgeschichte i m m e r angefochten blieb.

II. D i e a m Beispiel des >Garel v o n d e m B l ü h e n d e n TalCröne< H a r t m a n n r ü h m t u n d Kenntnis des >Iwein< p r o g r a m m a t i s c h voraussetzt, 2 9 greift f ü r die Entführungsszenen gleichwohl auf älteres Material zurück: Wie in Ulrichs >Lanzelet< erscheint ein f r e m d e r R i t t e r , hier Gasozein, der (wieder ein Verweis auf die mythischen Ursprünge) 3 0 ältere Ansprüche auf G i n o v e r anmeldet, sich ihren rehten amis (ν. 4838) n e n n t u n d ihren M a n n . Artus ist — n a c h d e m er gerade v o n G i n o v e r selbst in der b e k a n n t e n Szene als fröstelnder Hausvater in einen sehr bildkräftigen Kontrast z u m feurigen Liebhaber gesetzt w o r d e n w a r (v. 3313—3427) — der Diskussionspartner Gasozeins im D i s p u t u m die untriuwe seiner Frau (v. 4894), er a r g u m e n t i e r t vorbildlich k o r r e k t u n d höfisch f ü r ihre Ehre, u n d (anders als i m >LanzeletIwein< als Bezugsp u n k t sichern) 31 — den v o n Gasozein a n g e b o t e n e n Entscheidungszweikampf f ü r 29

Vgl. C h r i s t o p h C o r m e a u , >Wigalois< u n d >Diu Cröneir lobet mich so hoher wise, swes ir nu sit der gernde, versag ich daz, so krenket mich an priseso tut di milte hin, daz ir icht mere gebt, swes einer mute! daz bringet iuch von kuniclicher ere.< (Str. 2517,3f.), u n d gibt sich fortan besonnener: . . . daz er nu spilte rechter maze schantze / beid an gab und ouch an hochgeziten (Str. 2518,2f.). Ganz in der Art eines Exempels bleibt die Episode hier im Gang der Handlung ein Fremdkörper; sie beschränkt sich auf die eindeutige, aber auch folgenlose Botschaft, das Ü b e r m a ß zu meiden - und könnte so illustrieren, was die Interpreten d e m >Iwein< zumuten, wenn sie dort die gleiche >Lehre< ablesen wollen (vgl. A n m . 23).

III. W e n n U l r i c h F ü e t r e r z u m E n d e des 15. J a h r h u n d e r t s , also g u t 2 0 0 J a h r e n a c h d e r >CroneCröneBuch der Abenteuen wie ein Turnierbuch an; auch darin könnte seine Attraktivität gelegen haben, denn es trifft so auf den Symbolwert, den gerade im ausgehenden 15. Jahrhundert das Turnier fur adelige Repräsentation und genealogische Begründungen gewonnen hat: Bei dem mehrfachen Übereinanderblenden des Auftraggebers Albrecht mit Figuren der Erzählung wird das >Buch der Abenteuen so auch zu einer Vorgeschichte des sich im Turnier darstellenden Herzogshauses. 4 3 Ich frage am Beispiel nach: O h n e Umschweife stellt sich Artus dem Herausforderer, Goswein von Gorzogare, zum Z w e i k a m p f . Goswein braucht nur seine Forderung zu nennen (Str. 1448,1-3): Dye kunigin für aigen mein amey solte sein, das ich wol mag ertzaigen; wellt ir mich lassen bey dem rechten mein, so wil ich kampflich, herre, mit euch dingen,

39

Vgl. Christelrose Rischer, Literarische R e z e p t i o n und kulturelles Selbstverständnis in der deutschen Literatur der >Ritterrenaissance< des 15. Jahrhunderts. U n t e r s u c h u n g e n zu Ulrich Füetrers >Buch der A b e n t e u e n und d e m >Ehrenbrief< des J a k o b Püterich von Reichertshausen, Stuttgart 1973; H o r s t Wenzel, >Alls in ain s u m m zu pringenBuch der A b e n t e u e n a m H o f Albrechts IV., in: Mittelalter-Rezeption. Ein S y m p o s i o n , h g . v. Peter Wapnewski, Stuttgart 1986 ( G e r m . S y m p o s i e n 6), S. 1 0 - 3 1 .

40

Vgl. e t w a die bei N y h o l m ( A n m . 6), p . X X V I , genannte Literatur.

41

N y h o l m ( A n m . 6), Str.1424-1479.

42

Vgl. N y h o l m ( A n m . 6), p . X C V I : >Buch der A b e n t e u e n , S t r . 1 3 1 3 - 1 6 2 9 entsprechen >CröneEhrenbrief< und seine Überlieferungsgemeinschaft mit R ü x n e r s >Turnierbuchich wil haltten in kämpf alhie mein erCrone< noch auszeichnet. D o r t erscheint er, der nur mit einem H e m d bekleidet auf einem schneeweißen Pferd und mit schimmernden Waffen durch Eis und Schnee reitet und dies bevorzugt im Mondlicht, wie aus einer anderen Welt; er vertritt für diese Episode das Element des Jenseitig-Bedrohlichen, das in der >Cröne< i m m e r wieder hevorbricht und dessen Bändigung an die mythischen Grundlagen des Artusromans heranreicht. Wenn dieser unbegreifliche Ritter sich z u m Minnediener stilisiert und mit geheimnisvollen Andeutungen über eine frühere Verbindung zwischen sich und Ginover seine Ansprüche begründet, dann geraten nicht nur Wertmaßstäbe durcheinander, sondern Erfahrungswelten: Weder Artus noch Ginover können sich ihrer weiterhin sicher sein. Wenn Ulrich Füetrer seinen Goswein im seidenen Hemd frewdenreich durch die Nacht reiten läßt, dann wirkt dies eher ein wenig spleenig: Es fehlt der bedrohliche Hintergrund, jede A n d e u t u n g eines Früher oder Jenseits. U n d wenn er anhebt, frolichen ain mynne lied in hohem dan zu singen (Str. 1435,4), unterstreicht das die heitere Zuversicht des Ritters, hält aber die drohende Emotionalität Gasozeins völlig von ihm fern. Wenn dieser Herausforderer die Königin beansprucht, ist das unverständlich und daher anmaßend, allenfalls auf Kampfestüchtigkeit begründet: So bietet die Szene gerade in ihrer R e d u k t i o n auch die Gelegenheit, Artus in ein anderes, neues Licht zu rücken: nicht — wie in der >Crone< - bei aller Kampfbereitschaft zögernd, zweifelnd, u m R a t bittend, sondern im sicheren Vertrauen auf die eigene Kampfeskraft selbstgewiß den Rivalen bestehend; auch nicht durch die P r ü f u n g e n der Lächerlichkeit geführt: in der Behaglichkeit von Füetrers Kaminszene spricht nur die pure Vernunft dagegen, sich von der Marotte eines halbnackten Ritters tangieren zu

18

Der Artusroman und sein König

lassen. Selbst die Anfechtung seiner Manneswürde, die in der Preisgabe seiner selbst in die Entscheidung einer in Verwirrung geratenen Ginover liegt, bleibt ihm erspart; Füetrers Ginover versteht den U n f u g nicht, der ihr zugemutet wird (Str. 1461,lf.): Ir wisst doch all fur ware, das ich bey euch zu lanndt gewand hab ettlich jare und pin durch wierd des landes fraw genant.

U n d sie verwahrt sich ausdrücklich dagegen, zur Zweikampftrophäe gemacht zu werden (Str. 1459,lf.): >Was sol ditz schympfen maynnen? ir seit ains tails zu gogel.< si tett züchtigcleich waynen. >bin ich gedigen euch zu eim spil vogel?
Cröne< wird so umgestülpt, aber es erscheint doch derselbe Sinn: eine Frau wird in ihre Entscheidungsgewalt eingesetzt - eine unverzichtbar gewordene Errungenschaft in der Personalitätsdiskussion des höfischen R o m a n s . Ich halte aus diesem letzten Vergleichsschritt nur zwei Beobachtungen fest, die mir über die bloße Bestätigung der Forschungsmeinungen hinauszugehen scheinen: 1. Die Reduktion der Bauformen und Inhalte auf Geschehensfolgen und Ausstattungskult bleibt nicht stehen in bloßer Repräsentativität und der Deklamierung einer Lebensform. Sie schafft zugleich R a u m für neue Bilder. Die Mechanisierung der Abläufe transportiert z. B . ein Herrscherbild, dem die Aura eines unbefragt gültigen Charismas verlorengegangen ist, dem Bewährung und Bestätigung zwar abgefordert werden, dem aber andererseits diese Bewährung stets mühelos und vorhersagbar gelingt: ein Souverän, den seine Leistung unangreifbar macht. Es scheint dies kein zufälliges Ergebnis zu sein für das Ende des 15. Jahrhunderts; der Vergleich zum Maximilian des >TeuerdanckBuch der Abenteuer< erzeugt zugleich auch die Brüche, in denen sich - bei aller Selbstfeier dieser Hofgesellschaft — Komik und kritische Distanz einnisten können. Ginovers Kritik und ihr Pochen auf die Würde der Frau nützt eine dieser Stellen, an denen Glaubwürdigkeit durch Aussparung verspielt worden ist; die Figur des Goswein enthält in ihrer Verkürzung Ansätze für einen deutschen Don Quijote — bei denen es dann leider auch geblieben ist. 44

Vgl. Jan-Dirk Müller, Funktionswandel ritterlicher Epik am Ausgang des Mittelalters, in: Gesellschaftliche Sinnangebote mittelalterlicher Literatur, hg. v. Gert Kaiser, München 1982 (Forschungen z. Geschichte der älteren deutschen Literatur 1), S. 11-35.

19

Klaus

Grubmüller

Rückblick Das Bild des Königs, wie es Chrestien entwirft, bleibt in der Geschichte des deutschen Artusromans Episode. Die Distanz zur historischen Realität kennzeichnet es als utopischen Entwurf, dem nicht einmal mehr der anderswo noch mögliche negative Weltbezug der Satire offensteht. Andererseits entfallen durch das Fehlen stützender Bezüge von außen auch Hemmnisse für die konsequente Auszeichnung der im literarischen Programm angelegten Züge. Es kann sich so ungestört entfalten, musterhaft zu Ende gedacht durch die konstruktive Intelligenz eines Literaten wie Hartmann, aber in ihren Möglichkeiten ausgeschöpft auch in den Bemühungen seiner Nachfolger um die Erhaltung von Stringenz und Sinn. Ihre Modellierung (oder auch schon ihre Grenze) findet solche Konsequenz vielleicht dort, wo sie mit historisch verbindlichen, meist weiträumigen Wertbegriffen und Bildern kollidiert. Hier: in Vorstellungen, die der Würde des Herrschers jenseits aller aktuellen Bedeutungslosigkeit der Personen als Rangbegriff Gewicht geben. Dabei verschränken sich das literarisch-technische Bedürfnis nach Figuren, deren Fallhöhe Aufmerksamkeit garantiert (Marke, auch Dietrich), und die Adaptationsversuchungen einer feudalaristokratischen Gesellschaft. Zugleich ist dies die Stelle, an der — wenn die interne Dynamik einmal zum Stillstand gekommen ist — von außen neue Sinnvermittlung angestoßen werden kann.

20

CHRISTOPH HUBER

Von der >Gral-Queste< zum >Tod des Königs Artus< Z u m Einheitsproblem des >Prosa-Lancelot
Historia regum Britanniae< des Geoffrey von Monmouth (gegen 1136) ist in den Artusstoff die doppelte Bewegung von Aufstieg und Niedergang eingezeichnet. Die so gerundete Biographie des Königs ist weiter in den Rahmen einer universalen Profanhistorie eingebettet, die sich vom Untergang Trojas herschreibt und auf die Gegenwart hin offen ist.1 Eine heilsgeschichtliche Zuordnung nimmt dagegen das Fußbodenmosaik der Kathedrale von Otranto vor (gegen 1165). Der sagenhafte Katzenkampf des Königs mit tragischem Ausgang ist hier zwischen die Vertreibung der Ureltern aus dem Paradies und den Brudermord eingegliedert. Der unterliegende Mythenheld bildet die vom Bösen überwältigte Menschheit ab, kann aber anderseits wie Abel auch schon auf die Wiederherstellung durch den Tod des Erlösers vorausweisen. 2 Noch die jüngsten Adaptationen des Artusstoffes, etwa Tankred Dorsts >Merlin< (1981), sehen Aufstieg und Verfall des Reiches zusammen und beziehen aus dem Verlaufsmodell einer Kultur ihren zeitkritischen Appell. In die Schlußszene blendet Dorst einen Bericht vom Untergang der Menschheit und des Planeten Erde ein. Anderseits deutet er mit der Vertreibung der heidnischen Götter und ihrer Rückkehr oder dem im Weißdornbusch wartenden Merlin auch zirkuläre Modelle an. 3 So ist der Artusstoff auf komplexe Zeitstrukturen hin offen: Der historische Ablauf konfrontiert die Zeit der Erzählung und die des Erzählers. Säkulare und (quasi)-religiöse Ordnungsschemata treten spannungsreich zueinander. Geschichtssinn und zeitübergreifende Exemplarik verquicken sich, um den Bogen einer Kulturentwicklung zwischen Aufstieg und Niedergang auszudeuten.

1

T h e Historia R e g u m Britanniae of Geoffrey of M o n m o u t h , hg. v. Acton Griscom, London 1929 [Nachdr. Genf 1977].-Übers, v. Karl Langosch, Geoffrey von M o n m o u t h , Die Geschichte der Könige von Britannien, in: König Artus und seine Tafelrunde, hg. v. K. L., Stuttgart 1980, S. 14—71.— Z u den verschiedenen Versionen des Artustodes in der Stoffgeschichte Rosemary Morris, T h e Character of King Arthur in Medieval Literature, Cambridge 1982 (Arthurian Studies 4), S. 130-134 [mit Lit.].

2

Vgl. Walter Haug, Das Mosaik von Otranto, Wiesbaden 1977, S. 31-39; 88-93. Tankred Dorst, Merlin oder das wüste Land, Frankfurt a. M. 1981, hier S. 370f.; 19 u. 373.

3

21

Christoph

Huber

Vor diesen Möglichkeiten entfaltet sich im frühen 13. Jahrhundert über eine Reihe von Vorstufen der monumentale Komplex des französischen >LancelotGral-ProsazyklusLancelot propreQueste del Saint Graal< und der >Mort Artu< ist nicht nur als Summe der vorausgehenden Artustradition zu sehen, sondern auch als eigentümliche Ausformung, als Differenzierung und Diversifizierung der in der historiographischen Linie des Stoffes angelegten Doppelbewegung von Aufstieg und Untergang einer Kultur. Das hochkomplexe literarische Gebilde ist also nicht nur danach zu befragen, welche Elemente versammelt und wie sie verklammert werden. Die Analyse ist im Blick auf das Ensemble von vornherein auch so zu wenden: Wie setzt sich die Grunddisposition der zweistrahligen Gesamtbewegung durch? Wie verteilt sie sich auf die Stoffmasse? Wieweit wird diese auf geschehensleitende Prinzipien und womöglich ein geschichtstheoretisches Konzept verpflichtet? Damit ist die prekäre Einheits-Diskussion des Werkes angesprochen, mit der für jedes übergreifende Verstehen die Weichen gestellt werden. Daß in der narrativen Verknüpfung der Ereignisse ein schlüssiger Bauplan, eine »unite de plan« die Trilogie zusammenhält, wird heute nicht mehr bestritten. 4 O b darüber hinaus die Teile einer »unite« oder einer »diversite d'esprit« gehorchen und schließlich einem oder mehreren Verfassern zuzuschreiben sind, wird bis in die jüngste Forschungsdiskussion hinein kontrovers beurteilt. 5 Das Einheitsproblem ist hier grundsätzlich auf der Konzeptebene des Textes angesiedelt und entsprechend auf ihr zu verhandeln, zumal die Überlieferung des französischen Originals wie die fiktive Zuschreibung an Walter Map den zyklischen Verbund nachdrücklich bestätigen. 6 Auf der einen Seite glaubt man,unüberbrückbare Normdifferenzen bis hin zum Scheitern einer verbindlichen Normbildung überhaupt zu erkennen. 7 Auf der anderen Seite beschwört man die Konstanz bestimmter Rahmennormen des Gesamtwerks, voran der »inspiration religieuse«,des Rechts oder der Liebe.8 4

Grundlegend Jean Frappier, Etude sur la >Mort ArtuLancelotGral-Queste
Tod des Königs

Artus
LancelotLancelot propre< zur >Queste< eine großangelegte Normumschichtung detailliert herausgearbeitet. 10 Verschieden bewertet wird, wie dabei die höfische Welt des Eingangsteils vor der >QuesteQueste< zum >Tod des Königs ArtusProsa-LancelotProsa-LancelotQueste< im >LancelotGral-Queste< zum >Tod des Königs Artus
GottesmordesTreuebruch< der J u d e n erfahren haben soll, bedarf eines genaueren Nachweises. Die auf den j ü d i s c h e n Krieg* des Flavius Josephus zurückgehenden Berichte v o n der Z e r s t ö r u n g Jerusalems d e k ken diesen Z u s a m m e n h a n g nicht ab. Im H i n t e r g r u n d der Stelle m u ß eine der legendenhaften Darstellungen stehen, nach denen der römische Kaiser v o n der Unschuld Christi informiert, Pilatus zur Rechenschaft gezogen u n d die Schuld auf die J u d e n abgewälzt wird. 2 0 In diesen K o n t e x t rückt Vespasian in einer a n o n y m e n K o m p i l a t i o n des 12. J a h r h u n d e r t s , welche die Pilatus-Vita, die Veronica-Legende, N e r o - A n e k d o t e n , einen Bericht von der Z e r s t ö r u n g Jerusalems u n d die Judas-Vita verbindet. 2 1 D e r >Queste R o m a n du Saint Graal< des R o b e r t de B o r o n rezipiert haben, o h n e die legendarischen Einzelheiten zu ü b e r n e h m e n . 2 2 Hier w i r d v o n der H e i l u n g Vespasians v o m Aussatz durch das Schweißtuch der Veronica u n d v o n seiner anschließenden R a c h e a k t i o n gegen 19

20

Vgl. den Überblick bis Augustinus bei Bernhard Blumenkranz, Die Judenpredigt Augustins, Paris 1973: Z u r Blindheit gegenüber den Christusprophetien des AT, S. 162—164; zur Verantw o r t u n g für die Kreuzigung, S. 190-194. Dazu auch ders., Juifs et Chretiens dans le m o n d e occidental. 430-1096, Paris 1960, S. 269f. Für Hinweise zu diesem T h e m a danke ich Joachim Knape, B a m b e r g . - Vgl. Ernst von D o b schütz, Christusbilder, Leipzig 1899 [in der Ausg. v. 1909 ohne Nachweise!], S. 206-218; 2 3 0 253.

21

Dobschütz (Anm. 20), S. 230-234; 278*f., Nr.8. - Mit Edition Joachim Knape, Die >Historia apocrypha< der >Legenda aurea< (dt.), in: J. K. u. Karl Strobel (Hgg.), Z u r D e u t u n g von Geschichte in Antike und Mittelalter, B a m b e r g 1985 (Bamberger Hochschulschriften 11), S. 113172; zur Stoffkompilation S. 114, 118-127.

22

R o b e r t de Boron, Le R o m a n du Saint Graal (altfranz.-nhd.), übers, u. eingel. v. Monica Schöler-Beinhauer, München 1 9 8 1 . - Vgl. Dobschütz (Anm. 20), S. 289*f., N r . 26 [mit H i n weisen zu altfranz. Parallelen].

27

Christoph

Huber

die Juden berichtet, die in der Zerstörung Jerusalems gipfelt. Pilatus sucht seine Entlastung von der Hinrichtung Christi vor allem über das Wort der Juden: »Sein Blut k o m m e über uns und unsere Kinder!« (Mt 27,25; hier v. 131 Iff.). Genau dieses Schriftwort zitiert auch der dritte Auslegungsschritt des Mönches zu Galaads aventiure. Es ist Bezeichnungsinhalt für das schreckliche Geschrei des Toten und begründet erneut den Judenuntergang: durch des willen so wurden sie verlorn und verlorn alles das das sie hatten (50,13f.). D e r Exeget faßt dann den Sinn der aventiure zusammen. Sie bedeutet den passion unsers Herren und schin von synem zukomen (50,13f.), im französischen Text: la passion Jhesucrist et la semblance de son avenement (39,20f.). Meint dies zweierlei? Das zweite Satzglied könnte mit dem Inkarnations - adventus, von dem bisher die R e d e war, die Passion übergreifen. Es k ö n n t e hier aber auch schon das endzeitliche K o m m e n Christi ansprechen. 23 Die Judenvernichtung durch Vespasian w ü r d e in diesem Fall als Paradigma des Jüngsten Gerichtes erklärt. Der Wortlaut der Stelle ist nicht mit Sicherheit auf eine dieser D e u tungen festzulegen, doch bietet die Allegorese des schreienden Toten insgesamt auf jeden Fall auch ein Modell des Artusunterganges in einer heils-weltgeschichtlichen Gesamtschau an. Für die Situation der aventiure wird außerdem noch eine zweite Erklärung nachgeschoben, die als moralische Interpretation an der Oberfläche liegt (50,14ff.). Für die vor Galaad angetretenen und gescheiterten aventiure-R.itter galt: Der Teufel, der aus dem Toten sprach, erkannte ihre Unreinheit u n d ließ sie vor Schrecken das Bewußtsein verlieren. Der keusche Galaad aber war dagegen gefeit u n d stark genug, den bösen Geist zu vertreiben. Zweierlei ist an diesem ausgreifenden E n t w u r f weiter zu klären: die Eigenart des in den R o m a n gebrachten heilsgeschichtlichen Bezugs und seine Aussagefähigkeit flir den Verlauf der Erzählung. Der so etablierte Bezug Galaad-Christus ist mit einem einfachen Modell von exemplum und imitatio nicht zu erfassen. Wir haben hier einen typologischen Befund anzusetzen, der dem in der mediävistischen Forschung umstrittenen Postfigurationsbegriff entspricht. 24 Der christusförmige Held, der über Vater und M u t t e r aus dem Hause Davids stammt, ist genealogisch lückenlos in die Heilsgeschichte eingegliedert und behauptet seinen Platz in diesem Geschichtskontinuum. D e r Rangunterschied von Typus u n d Antitypus wird ausdrücklich vermerkt: Darumh sol uwer zukunfft glichen der zukunfft unsers herren 23

Z u den adventus-Schemata

vgl. C h r i s t o p h H u b e r , Die A u f n a h m e u n d Verarbeitung des Alanus

ab Insulis in mittelhochdeutschen D i c h t u n g e n , M ü n c h e n 1988 ( M T U 89), S. 215. 24

D e r v o n Albrecht Schoene eingeführte Postfigurationsbegriff w i r d v o n den verschiedenen P a r teien in der Typologie-Diskussion eher ablehnend behandelt, vgl. die Voten in H a u g 1979 ( A n m . 15), S. 144 A n m . 1 (Friedrich O h l y ) ; S. 174f. (F. O h l y u. a.); aber S. 57 ( R e i n h a r t H e r zog).

28

Von der >Gral-Queste< zum >Tod des Königs Artus
in der Analogie, nicht im RangQueste< auch Matarasso (Anm. 15), S. 18ff. passim, ohne das Methodenproblem anzuschneiden.

29

Christoph

Huber

mensch in solchen freuden gestorben were als ich hett gethan (375,19ff.). Anderseits wird der Gral den Bewohnern von Logres genommen umb yrer sund willen (376,10). Wie ihn die Guten durch ihre Güte gewonnen und erhalten haben, so verlieren ihn nun die Bösen wegen ihrer Bosheit. Beide Motivationen stehen unverbunden nebeneinander. Auch wird nicht begründet, warum gerade jetzt in Logres das Maß der Bosheit voll wird. Nach der Gralerfüllung treten individuelle Erfahrung des Begnadeten und Zustand der Gesellschaft abrupt auseinander. Das Lebensende Galaads ist unabhängig davon von verstreuten Passionssignalen gekennzeichnet (376ff.). Bei der Überfahrt nach Sarras vollzieht er die in Salomons brief vorgeschriebene rituelle R u h e auf dem Bett mit dem Baldachin aus den drei Hölzern, die vom Baum des Sündenfalls herstammen (vgl. 291fF., 306ff.). Parallel zur Kreuzholzlegende ist das eine symbolische Kreuzigung, die als postfiguratives Konstrukt dem vorausdeutenden Todesschlaf des Moses unter den Kreuzhölzern entspricht. 26 Bei der Ankunft in Sarras heilt Galaad einen Lahmen, der ihm die Graltafel in die Stadt tragen hilft wie Simon von Cyrene das Kreuz. 2 7 Dort wird er wie Joseph, der Sohn Josephs von Arimathia in der Geschichte des jüdischen Untergangs, zunächst gefangengesetzt, tritt aber nach dem Tod des bösen Königs dessen Nachfolge an. Galaad wird am Jahrestag seiner Krönung nach einer von Joseph persönlich zelebrierten Messe, in der er die göttlichen Mysterien bereits im Fleische schauen darf, friedlich abberufen. Die Ritterschaft von Logres hat ihn also nicht eigentlich ausgestoßen. Galaad ist durch seine R o l l e allein gelassen, senglement mehr als sigloß. Seine Passion ist ein individueller Weg, auf dem sich das Erleiden in der Nachfolge Christi eher als liturgischer Nachvollzug denn als Geschehen im politischen R a u m mit höchster Erwählung und Erfüllung verbinden. Christi Tod kann in der Eucharistie unblutig und sogar beglückend nachgelebt werden. Damit muß aber für das typologische Sinnmodell, das über der ganzen >Queste< schwebt, von Anfang an mit einer Dissoziierung von Artusgesellschaft und Gralheld gerechnet werden. Die Artusgesellschaft kann einen heilsgeschichtlichen Platz gar nicht einnehmen. Sie bleibt von vornherein hinter diesem Privileg zurück. Sie bleibt auf einer moralisch beschriebenen Verfallsebene stehen, von der sie sich mit dem historischen Erwählten und Gesandten Gottes nicht erheben kann. Eine typologische Analogie Juden — Artusgesellschaft, wie sie zunächst angekündigt scheint, wird also im folgenden nicht tragfähig. Vielmehr setzt sich als Sinnkategorie ein neben der Typologie herlaufender sensus 26

Esther Casier Quinn, T h e Quest o f Seth, Solomon's Ship and the Grail, Traditio 21 (1965), S. 2 8 8 - 3 2 2 , hier S. 2 9 8 - 3 0 5 ; dies., T h e Quest o f Seth, Chicago 1972, bes. S. 4 9 - 6 6 ; Matarasso (Anm. 15), S. 85.

27

Matarasso (Anm. 15), S. 86.

30

Von der >Cral-Queste< zum >Tod des Königs Artus
QuesteSein Blut k o m m e über uns u n d unsere K i n d e n . D a m i t w i r d die genuin typologische Qualität der U n t e r g a n g s p r o p h e zeiung nicht ausgelöscht, aber es zeichnet sich doch die ethische Ü b e r t r a g b a r keit dieser heilsgeschichtlichen Vorgänge u n d ein i m m a n e n t e r Geschlechterfluch ab. Dazu paßt, daß die dritte Auslegung, die der S t i m m e aus d e m Leichn a m gilt, auch eine zweite, rein moralische Exegese erhält (50,14ff., vgl. oben). Ebenso folgt in der B r u d e r m o r d e r z ä h l u n g der heilsgeschichtlichen eine allgemein-ethische Erklärung: Wann es ist aller böser lüt sitte das sie kriegen wiedder die guten lute, umb das sie sie haßen (298,9ff., vgl. oben). Von dieser Sinnebene ist direkt die V e r b i n d u n g z u m A r t u s - U n t e r g a n g zu ziehen. Die Ereignisse des Schlußromans demonstrieren p r o g r a m m a t i s c h , wie die G r u n d l a g e n des wechselseitigen Erkennens u n d Vertrauens u n d der Konsens der sozialen Verständigung zerbrechen. Die S ü n d e n der Vergangenheit k o m m e n zerstörerisch ans Licht. Das gilt nicht n u r f ü r die L a n c e l o t - G i n o v e r M i n n e , sondern v o r allem f ü r die genealogische H y p o t h e k der Artusherrschaft, die Inzestzeugung M o r d r e d s . So geht das R e i c h schließlich aus d e m i n t i m e n familialen K e r n heraus, der pervertierten V a t e r - S o h n - B e z i e h u n g u n d der gestörten Ehe, z u g r u n d e .

III. Diese Konsequenzen lassen sich unschwer an die Exegese der Gaizad-aventiure anbinden, auch w e n n der B o g e n weit gespannt ist. D o c h w i r d dieser Ausblick bereits in der >Queste< episch realisiert u n d n o r m a t i v ausformuliert. G a w a n u n d H e c t o r ziehen aventiurelos u n d entsprechend gereizt durch die Landschaft. A n 28

Speckenbach (Anm. 15), bes. S. 226-234.

31

Christoph Huber

stelle ritterlicher Taten werden ihnen zwei Träume zuteil, die später durch den Einsiedler Nasiens ausgelegt werden. W ä h r e n d Hectors Traum der R o l l e Lancelots gilt, erfaßt Gawans Traum die der übrigen Artusritter, einschließlich der drei Erwählten, und reicht in seiner Aussage über die Ereignisse der >Queste< hinaus. Gawan erblickt eine groß wieße vol krudes und blumen. In der wiesen was ein kripffe, daran aßen anderthalb hundert stier. Und die stiere waren hoffertig, one dry [. . .] Da sprachen die stiere alle gar: >Gan wir von hinnen suchen beßer weyde dann diße ist.< Und die stier gingen von dannen und gingen über den weg und nit über die wieße, und verliben sere lang da. Und da sie wieder kamen, da gebrach ir sere viel, und die da herwiedder kamen waren als mager und als müde das sie sich kam künden gehalten [. . .] Und da sie waren wiedder komen zu der kruppjen, da hub sich wunder reyßung, also das yne alle spise abging, und sie musten von dannen die ein und die andern (203,1 Off.). Diesem Traumbild entlockt der Einsiedler dann folgenden Sinn (212,7ff.): Die kripffe bedeutet die Tafelrunde, die Installation wie die Institution. Das wird aus der Ähnlichkeit der Abgrenzung der Plätze an der Krippe u n d an der Tafel entwickelt und u m f a ß t implizit die Symbolik des Mahls als Ritual der Ranggleichheit. Die Wiese voll von Kräutern und Blumen bedeutet die Werte der demutikeit und gedult, auf welchen die Institution der Tafelrunde aufruht. Sie sichern ihren Bestand u n d schenken der vereinigten Rittergesellschaft sußikeit und bruderschafft (doufor und fraternite). Die Stiere an der Krippe fressen nun nicht von der Wiese, sind also nicht demütig und geduldig, sondern hoffertig und iie/.29 Sie brechen auf zu besserer Weide, d. h. zur Gral->QuesteMort Artu< einsetzt. Die Tiere sind mager, m ü d e u n d können sich kaum auf den Beinen halten. Das heißt im moralischen Sinne: sie sind beladen mit Todsünden, da sie sich untereinander niedergemetzelt haben. Sie können kein Glied als 29 30

212,20; nach der ursprünglichen Lesung von P, anders Kluge, s. Apparat. Auch franz., vgl. 157,12ff.

32

Von der >Gral-Queste< zum >Tod des Königs Artus
estrif< schwankt

nach Auskunft der Lexika zwischen Kummer, Gezänk und kriegerischem Großunternehmen. Beide Dimensionen des Konflikts sind in der >Mort Artu< so bekannt, beide sind sie faktisch aneinander gebunden. >Estriß benennt das Gezischel der Gawan-Brüder über das ehebrecherische Paar Lancelot und Ginover und später den großen Zweikampf zwischen Gawan und Lancelot. 3 2 Als Folge des estrif berichtet der Traum, >daß ihnen alle Speise ausginge Das meint nicht Verpflegungsschwierigkeiten, sondern einen geistigen Zustand, der aus der Speisemetaphorik der Passage hinreichend zu erschließen ist. Das Futter der Wiese verweist auf einen Satz von Tugenden, Demut und Geduld, welche die Gemeinschaft in Zuneigung und Brüderlichkeit verbinden. In Opposition dazu formiert sich eine Gruppe von Lastern, Hoffart und Eitelkeit, Unkeuschheit und Mord. Diese kommen zum Ausbruch, als die Stiere auf der Suche nach besserer Weide vor dem problematischen Doppelziel von Weltehre und Geistspeisung nicht auf der Wiese bleiben, sondern den ausgetretenen Weg zur Hölle wandern. Anderseits ist die Wendung nach unten bereits an der Futterkrippe angelegt: In der krupffen aßen anderthalb hundert stier. Sie aßen, doch enwaren sie nit in der wiesen;

wann weren sie dainne gewest,

ir herczen weren verliben in de-

mutikeit und in gedult (212,17ff.). Hier zeichnet sich ab, daß der Bruch in der Tafelrunden-Gesellschaft bereits vor ihrem Aufbruch zu besserer Weide angelegt ist. Bereits das Fressen aus der Krippe wird als Abkehr von den Fundamentalwerten der Demut und Geduld mit den verbindenden Werten der Liebe und Brüderlichkeit kritisiert. Das muß nicht heißen, daß die höfische Artuskultur grundsätzlich verworfen wird, aber bereits die Institution der R u n d e birgt, wenn wir den Text beim Wort nehmen, den Keim des Verfalls. Die R u n d e vermag in den Augen des Einsiedlers keine positive Idealität zu begründen. Erinnern wir uns an die zwielichtige Eingliederung Lancelots in den arthurischen Ritterverband seit dem Beginn des R o m a n s , so ist dieses düstere Bild nicht nur eine >QuesteQueste< eine geistliche F ä r b u n g erhalten. 3 3 D a ß hier p r i m ä r sozial-ethische T u g e n den g e m e i n t sind, die in geistlichen w i e weltlichen Gemeinschaften w i r k e n , bestätigt gerade der K o n t e x t . Zwischen den T r a u m u n d seine Auslegung ist die E r m o r d u n g Iweins durch G a w a n eingeschachtelt. In einem bis zur Groteske überzeichneten aventiure-Hunger s t ü r m t G a w a n auf den ersten besten G e w a p p neten a m H o r i z o n t los u n d liefert i h m ein tödliches Gefecht. D e r G e g n e r ist sein W a f f e n b r u d e r Iwein, der i h m sterbend verzeiht u n d den A r t u s h o f u m Gebetsflirbitte ersucht umb die bruderschafft die under yn und mir ist (210,2f.). Ebenso weist der B r u d e r k a m p f zwischen Lyonel u n d B o h o r t , der n u r durch transzendenten Blitz u n d D o n n e r verhindert w i r d (257ff.), voraus auf die wechselseitige Vernichtung dieser Ritterschaft, die sich i m A r t u s u n t e r g a n g erfüllt. D e r G a w a n - T r a u m skizziert so ein säkular-ethisches M o d e l l dieses U n t e r ganges, das sich in das v o r h e r a n g e b o t e n e heilsgeschichtliche mit zahlreichen Berührungsflächen einpaßt, systematisch sich aber nicht schlüssig integriert. Die Verfassung dieser Gesellschaft trägt genau die M e r k m a l e der Heillosigkeit v o r der A n k u n f t Christi; die Kainstat des B r u d e r m o r d s leitet ihre A u f l ö s u n g ein. D e r e n A n k ü n d i g u n g klingt motivlich an die Z e r s t r e u u n g des jüdischen Volkes durch Vespasian an, aber das D i l e m m a w i r d geschlossen moraliter verhandelt, es bedarf keiner transzendenten Geschichtsdynamik, auch w e n n die Ü b e r m ä c h te mitspielen. Es bedarf auch keiner geistlich-asketischen Lösungsperspektive. Die ü b e r weiteste Strecken des C o r p u s ü b e r k o m p l e x vernetzten E n t w ü r f e w o l len letztlich nicht verschmelzen, sondern tendieren gerade auseinander. Das bedeutet n u n f u r die W e r t u m s c h i c h t u n g der Trilogie: D i e Fuge z w i schen >Queste< u n d >Mort< liegt nicht a m Ü b e r g a n g zwischen beiden R o m a nen. Sie ist weit v o r g e z o g e n u n d als eine A r t W e g g a b e l u n g bereits an den A u f b r u c h der Gralsuche verlegt. Von hier erheben sich die drei E r w ä h l t e n zur mystischen Schau. Von hier macht sich Lancelot auf seinen mittleren W e g , der ihn a u f - u n d w i e d e r abwärts f u h r e n w i r d . Von hier tritt die ü b r i g e Artusgesellschaft ihren Abstieg aus d e m säkular-ethischen Konsens an, der schon i m m e r , d. h. seit der Institution der R u n d e , gefährdet ist.

33

Gegen eine monastische Ausrichtung der >QuesteGral-Queste< zum >Tod des Königs Artus
Lancelot propre< zurück. 34 Wie nun die Zersetzung des sozialen Konsenses analytisch weitergetrieben wird, liegt außerhalb unseres Themas. Jedenfalls werden die Katastrophen des Untergangs bis zum Ende in einer atemberaubenden Handlungsregie in der Schwebe gehalten. Das Prinzip des sich drehenden Fortuna-Rades wie finale Untergangsprophezeiungen scheinen immer wieder in die moralische Verfügbarkeit gestellt zu sein und erst durch verantwortetes Versagen wirksam zu werden. Auf der moralischen Ebene, im Abschluß der Einzelschicksale, wird zuletzt Versöhnung erreicht. Der Bruch zur Normwelt der >Queste< erscheint vor allem als Vergessen der geistlichen Sinndimension, das die auktoriale Perspektive prägt. Daß dies eine programmatische Verweigerung ist, will ich an einer Szene andeuten. Zwischen eine verschachtelte Turniersequenz und die Entdeckung des Ehebruch-Paares in flagranti, die über die unbeabsichtigte Tötung des GawanBruders Gaheries in eine Kette von Kriegen führt, ist ein Handlungsglied eingefügt (486,1 Iff.), das schlecht angebunden und kaum integriert erscheint — so die einhellige Kritik der Interpreten. 35 Ein bis dahin unbekannter Ritter Arvalan oder Avalans spielt Ginover eine vergiftete Frucht zu, mit der er Gawan töten will. Das Opfer wird aber ein gewisser Garheiß, dessen Bruder Mador von der Porczen die Königin vor ein Gericht mit einem Zweikampf als Mittel der Rechtsfindung zieht. Ginover wird nur durch das Wiedererscheinen des verschollenen Lancelot gerettet, und dies kampflos. Das erneut vereinigte Paar initiiert schließlich durch seine hemmungslose Unvorsichtigkeit die finale Reaktionskette. Die Episode, deren Vorbilder in der späten Karlsepik und in Geoffreys von Monmouth >Vita Merlini< neuerdings überprüft wurden, 36 ist offensichtlich als der Frau zugewiesene Doublette und Vorwegnahme der Tötung des Gaheries durch Lancelot konstruiert. Sie findet keinen Platz in der sonst unerbittlich stringent gewobenen Handlungskausalität und ist nur sinnvoll in einem quer 34

Frappier (Anm. 4), 2 1961, S. 27-31.

35

Frappier (Anm. 4), 2 1961, S. 196-198 - Yolande de Pontfarcy, Source et structure de l'episode de Γ empoisonnement dans >La M o r t ArtuLa M o r t le R o i A r t u c une double meprise, Travaux de Linguistique et de Litterature (Centre de Philologie et de Literatures romanes de l'Universite de Strasbourg) 17/2 (1979), S. 7-22, hier S. 9; für beide Szenen erfolgt eine A u f w e r t u n g im Hinblick auf composition, valeur dramatique usw.; zu einer allegorischen Be-

36

deutung der Hirsch-Episode, S. 20f. Vgl. Pontfarcy (Anm. 35).

35

Christoph

Huber

zur H a n d l u n g stehenden D e u t u n g s b e z u g . Anders als in der S t r u k t u r der Vergleichstexte ist G i n o v e r hier v o n v o r n h e r e i n n u r zur V e r m i t t l u n g der T o desfrucht b e s t i m m t , die d e m ersten R e p r ä s e n t a n t e n des Artushofes gilt. Anders bleibt hier der Schuldige eine d u n k l e Instanz im H i n t e r g r u n d , die nicht belangt w e r d e n kann. D e r Verweis auf den Sündenfall mit d e m Verführer u n d Eva als A k t e u r e n scheint m i r hier so unabweisbar, w i e er unausgesprochen bleibt. D e r Sündenfall-Exkurs der >Queste< b e g i n n t f o l g e n d e r m a ß e n : Nu saget uns die abenture von dem heiligen grale alhie das es geschähe das die erst sünderin, die da was die erstfrauwe, hett genomen radt an dem dötlichen finde, das was der tujel, der da zu der stünde begund nyden das menschlich geschlecht und zu döten [. . .] Und er bracht sie mit synem ungetrüwen willen darczu das er sie det brechen der dötlichen frucht [. . .], die wol billich sol syn geheißen dötlich, wann durch sie so kam er dott über diße zwey und darnach zu den anderen (288,13ff.). G i n o v e r w i r d so in der strukturell isolierten Szene der >Mort Artu< noch einmal als Eva gezeigt. Dabei zieht sie nicht n u r ihren Geliebten ins Verderben, die R e i n t e r p r e t a t i o n der ersten B e g e g n u n g m i t d e m K n a p p e n Lancelot als Sündenfall-Parallele w u r d e bereits in der Einsiedlerpredigt der >Queste< v o r Lancelot durchexerziert (vgl. 169,12ff.). N u n soll G i n o v e r f ü r die Vernichtung der Artus-Gesellschaft in i h r e m R e p r ä s e n t a n t e n G a w a n geradestehen. D e r A n schlag gelingt n u r m i t Verzögerung, u n d die Vermittlerin des Übels w i r d in dieser Szene b e m e r k e n s w e r t entlastet. Für die Erzählhaltung der >Mort< ist es symptomatisch, daß eine heilsgeschichtliche Sinnebene der R o m a n h a n d l u n g zwar angedeutet, aber als explizite Auslegung v e r w e i g e r t w i r d . D e r A u t o r k a n n die Verfahren der >Queste< nicht vergessen haben, er erinnert an sie; aber, u m sie zurückzustellen. Für die inhaltliche M o d e l l b i l d u n g des Schlußteils der Trilogie w i r d so angezeigt: D e r U n t e r g a n g ist die unerbittliche Konsequenz des Sündenfalls, aber o h n e daß die versinkende K u l t u r in das historisch-typologische K o n t i n u u m der Erlösungsgeschichte a u f g e n o m m e n w ü r d e . D e r Fall des Artusreiches ist hier einer der vielen U n t e r g ä n g e einer weltgeschichtlichen Zwischenzeit. Dieses K o n z e p t läßt sich, w i e w i r sahen, durchaus an die >Queste< zurückbinden. Ich resümiere abschließend die wichtigsten Ergebnisse, die f ü r die e i g e n t ü m liche Verzahnung der beiden Schlußteile festzuhalten sind u n d auch f ü r das Einheitsproblem des G e s a m t c o r p u s Beachtung verdienen. Die >Lancelot-Prosatrilogie< ist nicht n u r auf der Ebene der Erzählarchitektur, sondern auch auf derjenigen der Sinnbildung zwischen den Einzelromanen verflochten. 3 7 Dies ist als g r u n d l e g e n d e Dissoziierung v o n Aufstieg u n d Verfall angelegt. W ä h r e n d die D y n a m i k des Aufstiegs ganz d e m Protagonisten-Paar zugewiesen ist, ten37

Zu den romanistischen Positionen Anm. 4 u. 6. Die Folgerungen zu Verfasser und Entstehungszeit überlasse ich den Romanisten; vgl. Micha (Anm. 6).

36

Von der >Gral-Queste< zum >Tod des Königs Artus
QuesteQueste< nicht bruchlos behaupten. Die Analogie Artusgesellschaft - Juden zerfällt in eine Reihe moralisch signifikanter Entsprechungen, welche die Auflösung sozialer Integration beschreiben. Der geistliche Sinn der >Queste< tritt so in eine typologische Finalstruktur und eine moralische Jederzeitlichkeit auseinander, welche auf der Basis der protologischen Determination abrollt. Der Gral wird nach oben entrückt, das Artusschwert nach unten ins Wasser gezogen. Dieses eigentümliche Auseinander in die Finalstruktur der Entwicklung einzelner nach oben und die Wiederholungsstruktur im kollektiven Verfall verbietet den Ansatz eines einheitlich gültigen Geschichtskonzepts. Endzeitliche Strukturen im strengen Sinne kommen nur für den Gralhelden, nicht für die untergehende Artusgesellschaft in Betracht. 38 Der Artusuntergang wird nicht universalgeschichtlich gedeutet. Dieses Konstrukt bestätigt die von Gert Melville herausgearbeitete These, daß das Mittelalter in der theologischen Tradition sich gegen den Niedergangsgedanken sperrt. 39 Der einzelne kann aus dem Zeitverfall aussteigen, sei es im mystischen Weg oder in der jederzeit zu übenden Kunst des Sterbens. Das R a d der Fortuna muß sich noch oft drehen, bis das angesagte gute Ende der Universalgeschichte erreicht ist. Wir beobachten so ein Nebeneinander von Sinnmodellen, die verschränkt und gewiß auch hierarchisch geschichtet sind. Aus dem Erzählverlauf und der Normgewinnung als Prozeß ist aber zu schließen, daß trotz eines verblüffenden Integrationspotentials gerade die Disjunktion der Modelle angestrebt ist. Dies betrifft nicht nur die Verbindung der Teilromane, sondern auch deren Binnenstruktur bis ins narrative Filigran. Wie dieser Befund zu deuten ist, muß hier offen bleiben. 40 Die beschriebenen Divergenzen der Sinnbildung über das literarische Medium scheinen aber kaum in einem einheitlichen dualistischen oder gradualistischen Normkonzept aufzugehen. So ist nach zwei Seiten hin Skepsis angebracht: Gegenüber einer ideengeschichtlichen Aufrechnung der Konflikte im Sinne einer 'Krise' wie gegenüber einem Ausgleich der Wider38

39

Vielleicht läßt sich so die Forschungskontroverse R u h - F r o m m - S p e c k e n b a c h entflechten, vgl. Klaus Speckenbach, Endzeiterwartung im >Lancelot-Gral-ZyklusTandareis und Flordibel< von dem Pleier Eine poetologische Reflexion über Liebe im Artusroman 1

Die deutschen Artusromane von Hartmanns >Erec< an konstruieren ihre Handlung nach einem gemeinsamen Prinzip: Alle Aktionen lassen sich unter zwei thematischen Polen zusammenfassen: K a m p f und Minne. Diese Beschränkung ist nicht einmal nur dieser Gattungsreihe eigen, sondern charakterisiert den Verlauf vieler mittelalterlicher Erzähltexte. 2 Gattungstypisch wird sie erst durch die aventiurehafte Ausgestaltung und die latente Erwartung des erfolgreichen Ausgangs. Der Held besteht die verschiedensten Aventiuren gegen höfische und außerhöfische Gegenspieler, für seinen eigenen Erfolg oder altruistisch für den Nutzen anderer, er bewährt sich in verschiedenen Dimensionen, macht seine Bindung an höfische Verhaltensnormen offenbar, erwirbt sich einen anerkannten sozialen Status und eine Herrschaft, sein irdisches Glück oder sogar sein religiöses Heil: Das Mittel seiner Durchsetzung, die Handlungsfolie für die verschiedenen Sinndimensionen ist die Behauptung des Ritters im Kampf. Das zweite Thema ist die Liebe, das Finden, Gewinnen und Wiedergewinnen der zubestimmten Partnerin, ohne die das Glück am Ende nicht vollständig und dauerhaft wäre. Beide thematischen Pole sind nicht strikt voneinander zu trennen. Aventiuren werden in verschiedenen Konstellationen um der Liebe willen bestanden, und Aventiuren, die um ihrer selbst willen unternommen werden, können unversehens mit der Partnerin zusammenführen. U n d gerade die Relation beider Ziele zueinander gibt mehrfach die Perspektive der Handlungsführung. Die Szenen, die sich nicht unter die beiden Themen subsumieren lassen, sind vor allem die Feste am Artushof, aber diese der Selbstdarstellung der höfischen 1

Meine Überlegungen habe ich beim K o l l o q u i u m A m o r e e avventura nel romanzo arturiano del m e d i o e v o in Triest im O k t o b e r 1988 (siehe den Sammelband von Michael Dallapiazza und Paola Schulze-Belli, Göppingen 1990) und später an der Universität O x f o r d vorgetragen. Ich habe die Vortragsform weitgehend beibehalten und nur die notwendigen Nachweise ergänzt. Meine Argumentation ist strukturalistischen Ideen in Fortfuhrung der Arbeit von Waldimir P r o p p verpflichtet, beschränkt sich hier aber ohne eigentlich theoretische B e g r ü n d u n g auf die D e u t u n g des Erzählmaterials.

2

A u f den allgemeinen Charakter dieser Sinnfiguren hat schon Jan Huizinga, Herbst des Mittelalters, Stuttgart "'1969, S. 99-110, hingewiesen.

39

Christoph

Cortneau

Gesellschaft gewidmeten Tableaus stellen die Ruhepunkte der eigentlichen Aktion dar und lassen sich deshalb als Rahmen um die beiden thematischen Pole verstehen. In dieser allgemeinen Form ist meine Umschreibung des thematischen Inventars gewiß akzeptabel. Sie ist aber, was den Inhalt und die handlungsbestimmende Funktion der Liebe betrifft, noch sehr vage. In einem früheren Versuch, die Konstituenten der Gattung in ähnlicher Weise zu abstrahieren, habe ich relativ unbekümmert und nicht ganz zutreffend eine komplementäre Zweiteilung unterstellt. 3 Bei der überwiegenden Zahl der R o m a n e stehe die Aventiurereihe, wie auch immer sie motiviert und auszudeuten ist, im Vordergrund, die Verbindung mit der Partnerin sei letztlich akzeptierte Folge des zufälligen Zusammentreffens — Beispiel etwa der >Erec< oder das Lieblingsmotiv der Gattung, daß der Held eine von unerwünschten Freiern bedrängte Burgherrin befreit. Bei anderen Erzählungen bestimme offenbar die Liebe den Handlungsfaden und die Aventiuren seien abgeleitete Folgen. Diese Beschreibung war zu sehr vereinfacht und verstellt den Blick auf charakteristische Einschränkungen oder Schwierigkeiten, die mit dem Thema Liebe im Artusroman verbunden sind. Es läßt sich wohl Konsens darüber erzielen, daß die Liebe im Artusroman in das Spektrum des neuen höfischen Liebesbegriffs gehört, der zwar keineswegs in jeder Hinsicht einheitlich ist — schon die unterschiedlichen Gattungen bedingen eine ganze Reihe von Modifikationen —, aber doch grundlegende Gemeinsamkeiten aufweist. 4 Man kann sie vielleicht mit dem Stichwort personale Betroffenheit benennen. Wenn z. B. Erec sich Enite vom Vater als Partnerin für den Schönheitspreis und im Fall des Erfolgs als Gattin erbittet, ist diese Verbindung noch ganz in den Kategorien zweckrationalen Handelns in den Aventiurebedingungen oder auch analog der Eheschließungspraxis in der feudalen Realität zu beschreiben. In der Folge verwenden aber Chretien wie Hartmann sehr viel Mühe darauf zu zeigen, wie aus diesen äußeren Vorgegebenheiten eine innere Geschichte der wechselseitigen Anziehung und Neuausrichtung auf den Partner bis zum Ende in Harmonie wird, die sich an der neuen Liebesauffassung orientiert, auch wenn Enite den Part der gehorsamen, dienenden Ehefrau kaum überschreitet. Entsprechend werden die Partnerverhältnisse in diesem wie in anderen Romanen als Minneehen aufgefaßt. Doch die spezifischen Unterschiede dieser Minneehen zu anderen erzählerischen Ausgestaltungen des Themas Minne sind bisher noch zu wenig reflektiert worden, und mir scheint, von ihnen aus läßt sich wieder die Semantik des Artusromans in ein klareres Licht rücken. 3

4

Christoph Cormeau, >Wigalois< und >Diu CroneTandareis und Flordibeh

von dem

Pleier

Betrachtet man einmal die Darstellung nicht von der Geschichte des Erzählens her, w o die neuen Ansprüche an die Partnerbindung im Artusroman nach dem Vorspiel in Heinrichs von Veldeke >Eneit< ins Auge fallen, sondern v o m ganzen Spektrum des neuen höfischen Minnebegriffs, werden die Einschränkungen augenfällig. Dies liegt nicht nur daran, daß der optimistische Grundton des Artusromans einen Unterschied zum tragischen Scheitern markiert, das den R o m a n der großen Passion vorzüglich prägt. Der Tristan-Roman, in dem sich das liebende Paar und eine höfische Gesellschaft in unvereinbarem Gegensatz gegenüberstehen, diskutiert so das Thema Liebe, und er ist nicht nur stofflich-äußerlich, sondern den inneren Prinzipien nach kein Artusroman. Der Lancelot-Roman kann hier vorläufig beiseitebleiben, denn Chretiens C h e v a lier de la charrete< hat nicht in die deutsche Gattungsgeschichte bestimmend hineingewirkt, und ebenso bleibt der Prosaroman isoliert. In der Gattungsreihe Artusroman von Hartmanns >Erec< an wird das Thema Liebe sehr moderat behandelt. 5 Die Phase der beunruhigenden Entdeckung der wechselseitigen Anziehung währt nur kurz, im >Erec< nach Vorklängen im Schönheitspreis gerade den R ü c k w e g lang von Tulmein zum Artushof, w o unverzüglich die Hochzeit des Paares gefeiert wird. Im >Iwein< ist sie fabelbedingt noch kürzer, von Iweins Blick auf Laudine, der sofort die Minne entflammen läßt, bis zur eiligen Eheschließung nach Laudines Sinneswandel. Danach ist die Minnebeziehung in der Ehe legalisiert und in das höfische M u ster der Gesellschaftsbeziehung — eigener Herrschaftsbereich des Titelhelden und Zugehörigkeit zum Kreis der Ritter u m Artus, in dem den Damen nur die Funktion dekorativer Staffage zufällt — integriert. Natürlich werden gerade diese Minneehen in der Folge zum Problem, insofern sich Erec auf seine Eherolle zurückzieht und Iwein seine Verpflichtungen nach kurzem Beginn gleich wieder über ein Jahr lang vergißt. Das Problem ist aber das einer integrierenden Zueinanderordnung von Liebe und ritterlicher Tat, und es wird als Beweis ausschließlicher Treue Iweins oder gegenseitiger Angewiesenheit Erecs und seiner überaus duldsamen Enite in überwiegend kampfbestimmten Aventiuren gelöst. Die anarchische Ausschließlichkeit einer Paarbeziehung wird von Erec gerade durch seinen Sieg über Mabonagrin in der Joie-de-la-court-Episode in ihre Schranken verwiesen. Die scheue Annäherung zwischen Parzival und Condwiramurs entfaltet sich zum vollen Minneglück; doch das ist nur ein nach Tagen gezählter Aufenthalt, dann zieht der Held seinen Aventiureweg weiter, und erst lange danach werden Gattin und Kinder in die endlich erreichte Gralsherrschaft einbezogen. Z w a r motiviert die in Condwiramurs erfahrene Minne

5

Ich nehme hier Beobachtungen Gert Kaisers auf: Artushof und Liebe, in: Gert Kaiser u. JanDirk Müller (Hgg.), Höfische Literatur, Hofgesellschaft, Höfische Lebensformen um 1200, Düsseldorf 1986, S. 243-251.

41

Christoph

Cormeau

Parzival in tiefgreifender Weise, bis zur Selbstvergessenheit kann sich die Erinnerung in der Blutstropfenszene steigern, aber sein weiteres Handeln füllen Rittertum und Gralssuche aus; nötig ist die Frau, übertrieben ausgedrückt, erst wieder zur Abrundung des Endes, und die Gattin wird in die Gesetzlichkeit der Gralsherrschaft eingefugt. In einem R o m a n wie Wirnts >Wigalois< wird die pünktlich beim ersten Zusammentreffen entstehende Minne zu Larie, deren ererbtes Land Korntin der Protagonist erlösen soll, zu einer zusätzlichen M o tivation, die ihm die nötigen psychischen Kräfte mobilisiert, die Frau und die Herrschaft an ihrer Seite fallen ihm schließlich wie eine Prämie für seine tatkräftige Bewährung zu. Die Minne ist weniger eigenes Handlungsthema als Moment, die emotionale Ausstattung des Ritters zu komplettieren. So sind die erwähnten Minneehen doch eine sehr moderate Variante höfischer Liebe. Das wird auch textimmanent klar, denn andere Facetten des Themas Liebe werden an zahlreichen Nebenpersonen deutlich. Nicht so wichtig für meine Argumentation ist dabei das Gegenbild, das unverhüllte animalische Begehren oder die versuchte gewaltsame Inbesitznahme, denn dieses unterliegt der eindeutig negativen Wertung und wird als unhöfisch ausgegrenzt, ob es sich nun um Riesen, um die begehrlichen Grafen im >ErecParzivalCrone< und >Wigalois< handelt. Von dieser negativen Folie hebt sich die neue höfische Liebe ab. An anderen Figuren wird diese aber mit leidenschaftlicheren, ausschließlicheren, gelegentlich auch sinnlicheren Akzenten vorgeführt, als sie den besprochenen Minneehen eigen sind. Das gilt für Gawans rasches Abenteuer mit Antikonie, seinen Dienst für Orgeluse im >Parzival< wie für seine Minne zu Amurfma in der >CroneCroneTandareis und Flordibel·

von dem

Pleier

könnte nämlich einwenden, die Beobachtung, nur eine moderate Form der Liebe sei zugelassen, täusche, denn es sei rein zufällig so, daß die erwähnten Romane ihre Fabel dominant als Aventiurekette inszenierten. Die ritterliche Bewährung stünde im Vordergrund, die Minne gehöre zwar auch zur Handlung, weil sie unverzichtbarer Bestandteil der idealen Existenz sei, dieser thematische Pol sei aber eindeutig dem anderen nachgeordnet und von daher in seiner Entfaltung eingeschränkt. Der Einwand läßt sich nicht einfach abweisen. Durch einen Vergleich freilich läßt er sich im wesentlichen widerlegen, denn — glücklicherweise — gibt es einen Artusroman, in dem fraglos die Liebeshandlung den roten Faden abgibt, >Tandareis und Flordibel< von dem Pleier, und ihn will ich nun durchmustern, welchen Spielraum die Gattung dem Thema läßt und ob sie spezifische Einschränkungen setzt. Der Pleier, von dessen Person nichts bekannt ist, - seine Heimat wird im Südosten, im heutigen Grenzbereich zwischen Österreich und Bayern vermutet - ist Verfasser dreier Artusromane: >Garel von dem blühenden TalTandareis und Flordibel< und >MeleranzGarel< z. B. ist eine Umarbeitung von des Stricker >DanielTandareisTandareis und Flordibel·

von dem

Pleier

Der Pleier ist kein großer, eher ein drittrangiger Autor. An manchen Stellen verschenkt er Möglichkeiten, die ihm seine Fabel geboten hätte. So hat er nicht das Geschick, die Entstehung der Minne auszugestalten. Er stellt gleich fest, daß Tandareis seinen Knappendienst für Flordibel in vorbildlicher Weise erfüllt, und fugt unvermittelt als Motivation hinzu: . . .wan diu süeze maget sim herzen also wol behaget daz er ir keine stunde niht vergezzen künde der maget in sinem herzen, (v. 763—767)

Die Vermutung, daß sie seinen Sehnsuchtsschmerz wenig achten werde und er Gefahr laufe, sie zu verstimmen, und die Rücksicht auf Artus verschließen ihm aber den Mund fünf Jahre lang. N u r an die Minne kann er sich in Gedanken wenden, sie möge ihre Meisterschaft auch an Flordibel zeigen. Und ebenso karg wird der Minneausbruch bei Flordibel zum späteren Zeitpunkt festgestellt: ir geschach von im rehte alsam als im von ir was geschehen: der Minne muost sie siges jehen. (v. 936—938)

Auch als sich Tandareis beim Tischdienst schneidet, wird von der ebenfalls schon in Minne entbrannten Flordibel nicht mehr an nachdenklicher Reaktion mitgeteilt als: diu juncvrowe valsches laz sach den knaben tougen an. (v. 1086f.)

Aus einer so langen Entstehungsphase der Minne hätte sich erzählerisch mehr machen lassen, und die literarische Tradition, auf die sich der Pleier stützt, hätte auch Anregungen geboten. Das begrenzte dichterische Vermögen des Autors hat aber für den Literaturwissenschaftler einen Vorteil: Die Gattungsschemata, denen der Pleier, so wie er sie versteht, verpflichtet ist, liegen unverhüllt vor Augen; keine Raffinesse der Darbietung lenkt den Blick von der Sujetfiigung ab. Was sich an ihm über die Gattung ablesen läßt, macht den R o m a n interessanter als seine literarische Qualität. Die Szene, in der sich die Liebenden einander offenbaren (v. 1116—1407), ist dem Pleier besser gelungen. Hier setzt er die traditionelle Psychologie der Minne ein, um aus der Unterredung das Bekenntnis der persönlichen Betroffenheit herauszuspinnen. Sie gibt den beiden das Vertrauen zueinander, weil jeder ohne Falsch ist. Ihre Zuneigung ist unbedingt und beständig. Die siegreiche Gewalt der Minne läßt ihnen gar keine andere Wahl, als die endgültige Gemeinschaft anzustreben. In der Folge handelt Tandareis auch konsequent auf 45

Christoph

Cormeau

dieses Ziel hin, sowohl umsichtig wie kampftüchtig den Ausgleich mit Artus vorbereitend, der als mehr oder minder freiwillig gesetztes Hindernis die Erfüllung der Minne noch verzögert. Nach dem Urteil, das Tandareis zur Aventiure verpflichtet, zugleich aber nun die Liebesbindung anerkennt, bleibt die Minne Antrieb seines Handelns, die Gedanken an die ferne Flordibel nehmen ihn gefangen (v. 4110—4115). Flordibel ihrerseits trauert in Liebe und Sorge am Artushof (v. 8041—8064), bis die Befreiten dorthin kommen. Mitfühlend läßt Artus die Liebende holen, ehe diese von Tandareis' Heldentaten berichten. Da der Zufall verhindert, daß Tandareis von Artus' Versöhnungsbereitschaft hört, muß Flordibel noch weiter warten. N u r die besiegten Ritter, die Tandareis zu ihr schickt, bezeugen am Artushof seine weitere Aventiure. Inzwischen sehnt sich Tandareis nach ihr (v. 12012—12026; 13489—13495), so daß er keine Augen für den Liebreiz Antonies hat. In die Turniertage bei Artus sind verschiedene Minnemomente eingeflochten, erwartungsvolle Sehnsucht, Sorge, Gedankenverlorenheit, die Ahnung Ginovers, wer der diesmal rot gewandete Ritter sei, und Flordibels sicheres Wissen durch die beiderseitige Bewußtseinstrübung (v. 12860-13186; 13627-13811; 14161-14291). Bei der abschließenden Entscheidung über die Ansprüche der konkurrierenden Frauen gehört Artus' Sympathie eindeutig Flordibel, und er ist sich auch über Tandareis' Haltung sicher (v. 15786—96). Der aber entscheidet sich, höflich gegen die anderen Damen, ohne Schwanken für Flordibel (v. 16315—16320). Der R o m a n erzählt das Sich-Finden der Liebenden und den Weg durch Trennung und alle Hindernisse bis zur endgültigen Vereinigung. Insoweit ist das Thema Liebe der Leitfaden der Handlung. Sie ist durch gattungstypische Aventiurefolgen erweitert, deren Episoden sind aber dem Hauptthema untergeordnet. Man kann sie in einem gewissen Sinn im Rahmen der Minne interpretieren. In der ersten Sequenz beweist der junge Ritter seine Fähigkeiten und damit seine Minnewürdigkeit vor dem Urteil des Hofes. Die von den Liebenden heimlich eingegangene Bindung findet so aufgrund nachgeholter Bewährung die öffentliche Billigung. In der zweiten Sequenz agiert Tandareis als Frauenritter, indem er vor allem bedrängten Damen selbstlos und ohne Ansehen eigenen Schadens zu Hilfe eilt. Zugleich aber beweist er seine Treue zu Flordibel, als keine der Damen ihn für sich zu interessieren vermag. Aus allen Taten und Leiden geht die Minne umso gefestigter hervor. Der Pleier hat also einen Liebesroman als Artusroman geschrieben; zu fragen ist, mit welchen Folgen für Gattung und Thema, oder schon kritischer formuliert, um welchen Preis ihm das gelungen ist. Seine Fabel kombiniert er in einem Verfahren imitativer Variation, das Peter Kern in allen Details beschrieben hat, aus den vorausgehenden Romanen der Gattung. Hartmanns >ErecGarel< und — für den letzten Aventiureteil — irritierenderweise der >LancelotTandareis und FlordibeU von dem

Pleier

Aventiuresequenzen; daneben sind Motive aus >IweinParzival< und Wirnts >Wigalois< im R o m a n zu entdecken. 7 Durch gezielte literarische Anspielungen weist der Autor auch auf den imitativen Charakter hin. »Offenbar sollte der Hörer/Leser die mehrfache Nachahmung als Nachahmung wahrnehmen.« 8 Die Liebesgeschichte, der rote Faden der Handlung, variiert darüberhinaus ein anderes Vorbild: Rudolfs von Ems >Willehalm von OrlensWillehalm< beruht nach Auskunft des Prologs auf einer heute verlorenen französischen Quelle, deren Motivbasis zum Teil immerhin an anderer Stelle literarisch faßbar wird. 9 Das triviale Schema Entstehung einer Liebesbeziehung — Trennung — Uberwindung von Hindernissen und endgültige Vereinigung ist zudem weit verbreitet. Der Zusammenhang mit dem spätantiken Liebesroman jedoch ist loser, als mehrfach für den >Willehalm< angenommen wurde. 10 Walter Haug 11 hat aber gezeigt, wie auffallend eng sich Rudolfs R o m a n an Gottfrieds >Tristan< anlehnt und dies nicht nur, indem er Motive daraus verwendet, sondern indem er strukturbildende Handlungsschritte übernimmt, sie aber in ihrem Sinn, auch um den Preis erzählerischer Schwächen, umkehrt in das Gegenteil. Der Autor beabsichtige damit, so der Schluß Haugs, mindestens eine »positive Variante zum Tristan«, »mit glücklicher Lösung«, wenn nicht gar eine kritische Kontrafaktur, einen »Antitristan«.12 Diesem Ergebnis stimme ich uneingeschränkt zu. Damit erweitert sich der literarische Horizont für die Beurteilung des >Tandareis< um interessante Dimensionen: Rudolf wendet das Modell des >Tristan< ins Positive, der Pleier nimmt diese Lösung auf und transponiert sie in den Artusroman, ein unter dem Gesichtspunkt der Gattung bemerkenswertes Experiment, auch wenn die erzählerischen Fähigkeiten des Autors begrenzt sind. In der Perspektive vom >Tristan< über den >WillehalmTandareis< lassen sich jetzt, meine ich, gut die Modifikationen aufspüren, die dadurch zustande kommen, daß der Pleier seinen Liebesroman im Artusgenre plaziert; und diese werfen umgekehrt ein Licht auf das Artusschema selbst. Zur Se7

8 9

Peter Kern, Die Artusromane des Pleier, Berlin 1981 (Phil. Studien u. Quellen 100), vor allem S. 77-84, 216-263. Ebd., S. 232. Helmut Brackert, Rudolf von Ems, Heidelberg 1968, S. 58-67; Walter Haug, Rudolfs >Willehalm< und Gottfrieds »Tristan«, in: Wolfgang Harms u. L. Peter Johnson (Hgg.), Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Colloquium 1973, Berlin 1975, S. 83-98, S. 90 Anm. 13, wieder in: W . H., Strukturen als Schlüssel zur Welt, Tübingen 1989, S. 637-650.

10

Xenja von Ertzdorff, Rudolf von Ems. Untersuchungen zum höfischen R o m a n im 13. Jahrhundert, München 1967, S. 21-23, 221f.; Kern (Anm. 7), S. 217-221. 11 Wie Anm. 9. 12 Haug (Anm. 9), S. 95f.; zu früheren Beobachtungen der >TristanWillehalm< wie im >Tandareis< entsteht die Minne ganz natürlich mit der Zunahme des Alters und der Vertrautheit. Dieser Kontrast zum Einbruch dämonischer Macht ist eine Bändigung auf die in den Liebenden selbst ruhende Kraft. Die doppelte Sicht von der — einmal formelhaft ausgedrückt — übermenschlichen und menschlichen Macht der Minne gehört jedoch zur Spannweite des neuen Liebesbegriffs, so daß hier die Änderung nicht nur auf die direkte Opposition zum >Tristan< eingeengt werden darf. U m eine wesentlich moderatere Form der Minne handelt es sich in den beiden R o m a n e n allemal. Im >Willehalm< spiegelt sich die Unbedingtheit noch in Willehalms M i n nekrankheit zum Tod, als Amelie ihn aus kindlichem Unverständnis zunächst abweist. Im >Tandareis< gibt es dafür kein Äquivalent mehr. Tandareis erfährt keine Zurückweisung, er furchtet sie nur als Möglichkeit. Dafür leidet er zwar fünf Jahre glaubwürdige Sehnsuchtsqualen, übersteht sie aber offensichtlich ohne nennenswerten Schaden (v. 774—915). Nach der wechselseitigen Offenbarung und dem Einverständnis werden in beiden R o m a n e n vor die Minneerfullung Bedingungen gesetzt, auch das wieder ein Zug der Mäßigung und der Anpassung an gesellschaftliche Konventionen. Daß schon die Aussicht darauf den todkranken Willehalm heilt, mag als etwas biedere Form des Minnediensts erscheinen; doch darf Amelies Bedingung von Schwertleite und ritterlicher Bewährung in ihrer Bedeutung als Mannbarkeitsritus im R a h m e n der höfischen Ideologie nicht unterschätzt werden. Ohne diese scheint mir eine soziale Anerkennung der Minneverbindung nicht denkbar. Im >Tandareis< ist die aufschiebende Bedingung noch eingeschränkter, dafür im Artusschema konsequenter und überzeugender (v. 1373-1405). Der Wunsch, erst Artus' Wohlwollen wiederzugewinnen, ist unmittelbarer aus der Situation motiviert, daß die beiden als nächsten Schritt die gemeinsame Flucht planen. Freilich verkörpert Artus gerade in seiner Person eine soziale N o r m . Die Bedingung ist aber insofern erzählerisch geschickter gehandhabt, als sie ein wesentliches M o ment, Flordibels Unberührtheit, festhält, das später Artus' Einlenken unter Wahrung seines Eids ermöglicht. Vergleichsweise raffiniert erzielt der Pleier einen anderen Effekt nebenher: die Konfrontation mit Artus zieht automatisch

48

> Tandareis

und Flordibel< von dem

Pleier

Tandareis' Schwertleite u n d ritterliche B e w ä h r u n g nach sich, erfüllt also eine Voraussetzung ganz nebenbei, die i m >Willehalm< positiv gesetzt w e r d e n m u ß . D e r Konflikt bricht i m >Tristan< wie i m >Willehalm< an der Figur eines R i valen auf. Die legale V e r b i n d u n g m i t K ö n i g M a r k e steht hier den Liebenden im Wege; d o r t hat Amelies Vater die Absicht, sie zur Besiegelung eines Friedensschlusses mit Avenis, d e m K ö n i g v o n Spanien, zu verheiraten, was W i l lehalm mit d e m scheiternden Entflihrungsversuch durchkreuzen will. Das A u f treten des K o n k u r r e n t e n Avenis w i r k t etwas aufgesetzt, doch ist er eine Z u t a t zu einem Konfliktpotential, das in d e m Schema durchaus impliziert ist. Das gegenseitige Einverständnis der Liebenden setzt nicht eo ipso das R e c h t der Väter außer Kraft, unter politischen Gesichtspunkten die E h e w e r b e r der Tochter zu beurteilen. D e r Konflikt zwischen der überpersönlichen S i p p e n b i n d u n g u n d der persönlichen W a h l oder L i e b e s b e s t i m m u n g ist schon in den B r a u t w e r b u n g s e p e n angelegt. R u d o l f läßt das M o t i v ins Leere laufen, d e n n der R i v a l e Avenis zeigt sich völlig d e m neuen LiebesbegrifF verpflichtet u n d tritt freiwillig zurück, als er v o n Amelies Liebe erfährt. Die Frage der politischen K o n v e n i e n z w i r d nicht w i e d e r a u f g e n o m m e n . I m >Tandareis< ist die K o n f l i k t lage radikal vereinfacht, m a n k a n n auch sagen banalisiert. Einen R i v a l e n gibt es nicht, die Angemessenheit der Partner füreinander, subjektiv im Sinne der M i n n e w ü r d i g k e i t , objektiv im Sinn der sozialen Gleichrangigkeit, ist keine Frage; Hindernis f ü r die ungestörte E n t f a l t u n g der Beziehung ist lediglich das Ausgangsverdikt gegen die M i n n e . Das ist eine sehr äußerlich motivierte, e r zählerisch d ü r f t i g e u n d s p a n n u n g s a r m e Schürzung des Knotens, d e n n es ist natürlich klar, daß ein solches M i n n e v e r b o t n u r dazu da ist, gebrochen zu w e r d e n . Das Verdikt h ä n g t an der A u t o r i t ä t Artus', ich w e r d e später darauf eingehen, was das f ü r seine R o l l e bedeutet. So schwach die E i n f ü h r u n g b e g r ü n d e t ist — m a n c h e costume in anderen A r t u s r o m a n e n erscheint freilich ebenso willkürlich —, die H a n d l u n g s e n t w i c k lung verläuft dann konsequent: Die Flucht als einziger A u s w e g , der b e w a f f n e t e Konflikt, die Lösung durch das Gerichtsverfahren. Letzteres m a g in seiner K a suistik auch noch eine gewisse Künstlichkeit haben, die Verurteilung Tandareis' zur Aventiurepflicht aber ist ganz artusgerecht; sie schickt den Helden nach außen zur weiteren B e w ä h r u n g , die i h m schließlich die A u f n a h m e in die Tafelrunde einbringen w i r d , was sinnvoll auch die R e k o n z i l i a t i o n m i t der durch die Flucht gebrochenen A r t u s n o r m v e r k ö r p e r t . D e r Pleier paßt hier die Fabel d e m Artusschema an, i n d e m er Tandareis a u f g r u n d anderer Vorlagen ganz z u m aktiven Held der A v e n t i u r e macht. Willehalm dagegen, durch sein W o r t z u m Schweigen u n d Exil verpflichtet, ist trotz mancher R i t t e r t a t e n ein passiver, leidender Held, u n d erst durch komplizierte Hilfskonstruktionen, die zu seiner Identifizierung f u h r e n u n d i h m a u f g r u n d v o n D a n k v e r p f l i c h t u n g Fürsprache beim englischen K ö n i g einbringen, kann die A u f h e b u n g des Verdikts u n d die

49

Christoph

Cormeau

Wiedervereinigung des Paares inszeniert werden. Artus dagegen erfüllt nur seine Rolle als Norminstanz, wenn er den hinreichenden Aventiureerfolg anerkennt; und, als die Rückholung scheitert, wird er in seinem Rahmen aktiv, Tandareis zurückzubringen. Der Zufall allerdings, der die Aussöhnung zunächst verhindert, ist schlechter Zufall ohne Bezeichnungswert, ein pures Verfehlen, und erinnert an die blinden Fährnisse in der an den griechischen Liebesroman anknüpfenden Tradition; denn nur sehr bedingt läßt sich der Aventiurefügung eine tiefere Absicht unterstellen, Tandareis' Treue auch in der Versuchung durch andere Frauen zu erweisen. Das Motiv der konkurrierenden Ansprüche auf den Helden wird im >Willehalm< durch eine aufgedeckte Verwandtschaft, die eine Bindung ohnehin verhindert, abgebogen; der Held war aber in einem tieferen Sinn — Heilung der bei der Entführung erlittenen Speerwunde — auf Duzabel angewiesen gewesen. Im >Tandareis< wird das Motiv durch die Doppelung entschärft und konventionalisiert. Der Befreier hat immer die Möglichkeit, die Hand der Befreiten zu fordern, wie umgekehrt zu Unrecht Eingekerkerte mehrfach durch die Hilfe höfischer Frauen am Leben erhalten werden. Eine Reihung solcher Möglichkeiten, neue Beziehungen anzuknüpfen, funktioniert aber seit dem >Iwein< als Beweis der unwandelbaren Treue. Durch einige Akzente, z. B. die besondere Pflege, die die verliebte Antonie Tandareis zwischen den beiden Turnieren angedeihen läßt, verstärkt der Pleier diesen Treuebeweis. Der Held hat nicht die geringste Aufmerksamkeit für die Bereitschaft Antonies, sich verfuhren zu lassen: unt haete er ihtes an si gert ich waen sie haete ims niht versaget, (v. 13485f.)

Bei dieser subjektiven Unangreifbarkeit kann seine spätere Entscheidung nicht in Zweifel stehen. Andererseits wirken die Ehewünsche der beiden Konkurrentinnen bei diesem aktiven Helden, anders als beim stumm leidenden Willehalm, etwas unmotiviert. Das subjektive Finden in der Liebe ist selbstverständlicher Bestandteil des Liebesbegriffs, und Tandareis enthält sich jeder auch nur mißverständlichen Geste, so daß der objektive Nutzen - auch der Lebensrettung - in diesem Konzept keine glaubwürdige Motivationsbasis mehr abgibt. Als Ergebnis der Anpassung des Konzepts an das Artusschema läßt sich also Gewinn und Verlust bilanzieren. Einige Motivationsschwächen seines Vorbilds kann der Pleier dadurch ganz gut kompensieren; die Liebesleidenschaft muß allerdings noch weiter gezähmt werden, und manche Handlungsschritte werden durch die Konventionalisierung in das Artusschema noch blasser. Eine besondere Betrachtung verdient noch die Rolle, die Artus zugewiesen wird. Artus ist der Mittelpunkt der normbildenden Gesellschaft, wie in der Gattung üblich, über die namhaften Ritter wird der literarische Traditions50

>Tandareis und Flordibelt

von dem

Pleier

Zusammenhang abgerufen. Daran ist nichts auffällig. Der Liebeshandlung gegenüber aber ist er der Gegner, die unterdrückende Instanz. Er spielt diese Rolle nicht ganz freiwillig, sondern als Folge des ihm abverlangten Versprechens. Das Geben dieses Versprechens wird in ganz typischer Manier inszeniert in der Eingangsszene, die selbst diese Typenhaftigkeit mit b e w u ß t macht. 14 Keie sieht sofort, daß hier sich wieder altbekannte Gefahr einstellt, daß der König sich vorschnell zu etwas verpflichtet, was gegen seine Intention ist, und warnt. Dennoch k o m m t es dazu, daß Artus das Minneverdikt Flordibels mit seiner ganzen Autorität sanktioniert. Die Imitation der typischen Szene unterstützt zweifellos die Glaubwürdigkeit der reichlich konstruierten Bedingung — w a r u m eigentlich m u ß sich Flordibel vor sich selbst schützen lassen; immerhin wäre es ja sie selbst, die die erbetene M i n n e gewährt —, sie begründet aber keine innere Distanz zur abgenötigten Pflicht. Denn nachher verfolgt Artus den Übertreter wutschnaubend und unversöhnlich. Zwischen der Kasuistik von Eid u n d späterer gerichtlicher Feststellung und Artus' tatsächlicher Reaktion tut sich ein gewisser Zwiespalt auf. Artus b e k o m m t einen Z u g von aufgebrachtem Brautvater, d e m das soziale Tauschobjekt entwendet wurde, oder gar einen Hauch von düpiertem Marke, und das will gar nicht zu seiner sonstigen Unangreifbarkeit passen. Von der Genese der Fabel her ist das leicht erklärbar. Willehalm hatte es mit d e m Vater der Braut zu tun, der politische Pläne gefährdet u n d seine Verfügungsgewalt unterlaufen sah. Doch will mir scheinen, der notierte Zwiespalt beruhe nicht nur auf einem Mangel der schemagerechten Anpassung durch den Pleier. Auch in der herkömmlichen Rolle von Artus selbst liegt etwas, was ihn zum Gegner macht; er kann eine H a n d lung, deren Fortgang durch die Liebe bestimmt ist, nicht von sich aus dulden. Z u r Poetik des Artusromans gehört Artus' R o l l e als Mittelpunkt. Der r ä u m liche und moralische Standort des handelnden Helden wird von diesem Bezugspunkt aus geortet. Ralf Simon gebrauchte den Begriff der axis mundi zur Beschreibung dieses Sachverhalts. 15 Die ganze Erzählwelt des Artusromans hat ihren Fixpunkt, von dem alle Koordinaten ausgehen, im König. Diese Strukturkonstante ebnet nicht Unterschiede im Erscheinungsbild des Königs ein, sie läßt einen Spielraum der Variation. Artus kann durchaus verschieden dargestellt werden, souverän oder entschlußlos, königlich repräsentierend oder in förmlichen R e g e l n gefangen, bis hin z u m burlesken Spiel, das seine Person an den R a n d der Lächerlichkeit rückt wie in Heinrichs von dem Türlin >CroneTandareis< so entschieden gegen die Minne Partei nehmen, oder anders ausgedrückt, deshalb fällt das willkürliche Minneverbot mit einem Konstruktionsprinzip der Artusgesellschaft zusammen, auch wenn an der Oberfläche die Initiative von Flordibel ausgeht. Daß der Schluß plausibel ist, lehrt nochmals ein Blick auf den >WillehalmWillehalm< zur biederen Wohlanständigkeit des >TandareisTandareis< deckt aber auch auf, daß eine genuine Liebeshandlung nicht wirklich mit dem Artusschema integrierbar ist. Denn zwangsläufig erhält die Handlung damit zwei Zentren, Artus und die Geliebte, die sich nicht wirklich versöhnen lassen. Der Pleier konnte den unlösbaren Widerspruch nur mit kasuistischen Tricks überdecken. Man könnte nun einwenden, ich überforderte mein Beispiel, wenn ich daraus für den Artusroman generell Folgerungen zöge. Doch scheint es kein Z u fall, daß nur im >Tandareis< die volle Integration von Liebesroman und Artusroman versucht wird. Dem Pleier selbst ist wohl nicht entgangen, daß ein Widerspruch bleibt, und er geht in seinem nächsten R o m a n , dem >MeleranzTandareis und Flordibeh

von dem

Pleier

nalisiert: Rittertat erfolgt als Überwindung von Hindernissen, die auf dem Weg zur Geliebten aufgebaut werden. Der Liebesroman verträgt sich mit dem Artusschema nur, w o die Partnerin außerhalb gefunden wird und bleibt. Findet die große Leidenschaft aber ihr Ziel im Inneren der Artuswelt - nochmals ein abschließender Ausblick —, dann reißt er mit dem Augenblick des unleugbar Bekanntwerdens notwendig die ganze Artuswelt in einen unaufhaltsamen U n tergang, wie der >Prosa-Lancelot< so eindrucksvoll vor Augen stellt.

53

BENEDIKT K O N R A D VOLLMANN

Ulrich von Etzenbach, >Alexander
Alexandreis< Walters von Chätillon, 2 so taucht man in die Antike ein und vergißt fast, daß dieser Text erst um 1180 entstanden ist; bei Ulrich vergißt man, daß der Held vor eineinhalb Jahrtausenden gelebt hat — er könnte für einen mittelalterlichen Eroberer (und einen Orientfahrer vom Schlage des Herzog Ernst) durchgehen. Vor die Aufgabe gestellt, Ulrichs Dichtung zu charakterisieren und seine Stelle in der Literaturgeschichte des 13. Jahrhunderts zu umreißen, werden wir uns vornehmlich mit dem Phänomen dieser Andersartigkeit, den hiefür aufgewandten Mitteln und den damit verfolgten Zielen zu befassen haben, da die vertrauten Methoden der Romaninterpretation, Analyse des Stoffes und seiner Disposition, in U l richs vorlagengetreuem Werk weitgehend versagen. Daneben werden wir auch Rudolfs von Ems >Alexander< zum Vergleich heranziehen. Obwohl Ulrich das etwa 50 Jahre ältere Werk kaum gekannt haben dürfte und somit keine intertextuelle Beziehung besteht, ist es doch interessant zu sehen, wie verschieden zwei mhd. Dichter des 13. Jahrhunderts dieselben lateinischen Vorlagen verarbeiten.

I. Das erste, nicht zu übersehende Fremdheits-Signal sind die Einleitungen, die Ulrich jedem der zehn Bücher seiner Erzählung vorangestellt hat; jedenfalls überraschen sie den Leser der lateinischen Alexander-Romane. Der Archipresbyter Leo, der wohl um 950 in Neapel eine lateinische Ubersetzung des griechischen, unter dem Namen des Kallisthenes laufenden Alexanderromans 1

Ulrich von Eschenbach, Alexander, hg. v. Wendelin Toischer, Tübingen 1888 (StLV 183).

2

Galteri de Castellione Alexandreis, hg. v. Marvin L. Colker, Padua 1978 (Thesaurus mundi 17).

54

Ulrich von Etzenbach, >Alexander
Gesta Romanorum< bieten keine explizite Literaturtheorie, aber in der Verbindung von literarischen Kleinformen zu einer Großform, die den einzelnen Text einem Text-Typus zuordnet, zeigen sie eine implizite, gewissermaßen funktionale Ästhetik, die Erzählstoffe nach ihrer Verwertbarkeit für das gestaspezifische Schema auswählt und umformt.

122

GISELA VOLLMANN-PROFE

Johann von Würzburg, > Wilhelm von Osterreich
Köder< braucht, um das Einhorn zu fangen. Doch ihr Mann läßt sich nicht aufhalten, und so nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Während der J a g d wird der Held heimtückisch ermordet. Man bringt seinen Leichnam zurück, und die Frau bricht sterbend über der Bahre ihres Mannes zusammen. Dies ist die Fabel des Versromans >Wilhelm von Österreichuf min triwe!/ min mut hat des vereinet sich,/ solt das lant ze Osterrich/ mir ymmer wesen wilde,/ ich kum do min bilde/ ist also schone lebende/ als ez mir vor ist swebende/ mit liehtem anblicke:/ mir ist reht als ein wiche/ baidiu erbe und aigen< (vv. 790—799; ähnlich vv. 1255—1261). Anders als Erec oder Parzival oder auch Wilhelm von Orlens bleibt Wilhelm von Österreich im G r u n d e i m m e r ein aventiure-Ritter, auf sich selbst gestellt und auf sich selbst bezogen. D e n n das Ziel seiner aventiuren ist, o b w o h l im N a m e n der Minne durchgeführt, letztlich i m m e r Wilhelm selbst. Auch w o es u m >Rettungsaventiuren< geht, dienen diese schlußendlich der R e t t u n g des Helden. Durch Taten dieser Art gelangt Wilhelm zwar zu R u h m , aber >Mitleidstaten Wilhelm

von

Österreich

U m seine Geschichte von fügende, aventur und minne zu erzählen, bedient sich der Autor aber nicht nur des höfischen Romans, den er charakteristisch verändert; er macht in derselben Weise auch vom Legendenroman, näherhin von Wolframs >WillehalmSeele< des Unternehmens, obwohl der K a m p f genauso wie bei Wolfram dadurch ausgelöst wird, daß der heidnische König über die Ehe seiner Tochter mit einem christlichen Fürsten aufgebracht ist. Nicht Wilhelm ist es, der das christliche Heer aufbietet, sondern sein Vater, der alte Herzog von Österreich, dem ein Spielmann von der bedrängten Lage seines Sohnes berichtet hatte. Wilhelm ist weder der Anfuhrer des Heeres noch wird ihm — wie dem Markgrafen Willehalm — das Töten von Menschen im Namen der Religion zum Problem. Er nimmt selbstverständlich mit der gewohnten Tapferkeit an den Kämpfen teil; aber strategisch wie geistig läuft die Auseinandersetzung zwischen Christentum — heidenschaft an ihm vorbei. Auch in der Motivation des Kampfes erscheint Wilhelm eigentümlich isoliert. Wie bei Wolfram werden auch bei Johann die Kämpfenden zu mutigem Einsatz ermuntert durch den Hinweis auf Verwandtschaftsbindung, Glaubensverpflichtung und Vasallentreue — aber diese Motive gelten nur fur die Mitstreiter. Wilhelm kämpft auch im >Kreuzzugsunternehmen< fur sich und seinen Anspruch auf Aglye. Eine letzte Beobachtung weist ebenfalls in diese Richtung. Die Gewinnung der nie gesehenen, ebenso schönen wie fernen, vom Vater eifersüchtig gehüteten Königstochter, die unter großen Gefahren erobert werden muß, weil sie die einzige angemessene Partnerin ist, erinnert deutlich an die Werbungsfahrten der Spielmannsepik. Aber auch hier springt der Unterschied ins Auge: Anders als dort hat die >Brautsuche< des Herzogssohnes nichts mit dem Erhalt der Dynastie zu tun. Wilhelms queste ist die denkbar privateste Herzensangelegenheit«. 11 A m erhobenen Befund ist nicht zu rütteln: Johann stellt seinen Helden als einen ritterlichen Kämpfer voller tugende dar, der um seiner minne willen sich jeder aventiure unterzieht, die Vollkommenheiten früherer Romanhelden in 11

So wird denn auch mit Wilhelms Aufbruch die Ebene des >realenModernität< des R o mans. Dabei ist Wilhelm keineswegs ein störender Außenseiter, dem gesellschaftliche Verhaltensnormen gleichgültig wären, sondern ein formvollendeter Ritter, der ganz selbstverständlich den höfischen Komment beachtet. Er ist nach Meinung des Autors auch kein krasser Egoist, der brutale Rücksichtslosigkeit mit feinem Benehmen kaschiert — Johann könnte sonst nicht immerzu die Vorbildlichkeit seines Helden rühmen. Wilhelm ist ein Mensch auf der Suche nach seiner Identität, nach einer glücklichen, sicheren Möglichkeit der Selbstbejahung, die darin bestünde, daß die (objektive) Außenwelt mit seiner (subjektiven) Vorstellung von dieser Außenwelt zur Deckung käme. Darin, daß dies nicht gelingt, nicht gelingen kann, besteht seine Tragik; darin, daß er diese ihm auferlegte Suche bis zum Ende kompromißlos durchhält, seine Größe. Wilhelms Lebensarbeit (und seine Isolation) beginnt in dem Augenblick, in dem das Kind zum Bewußtsein seiner selbst gelangt. Der Roman macht das in einer Art Expositionsszene (vv. 650-888) deutlich: Im Innern des jungen Wilhelm lebt, von Frau Venus eingegossen, ein Bild von überwältigender Schönheit, Aglyens Bild, das ihn ganz gefangennimmt. Wilhelm möchte, überwältigt von dem, was in ihm vorgeht, sich seiner Umwelt mitteilen — und scheitert. Dies nicht, weil er auf ein von vornherein feindliches Gegenüber stoßen würde, sondern weil er erfahren muß, daß das Wesentliche nicht mitteilbar ist. Er kann zwar seinem Vater sagen, daß er ein wunderschönes Bild im Herzen trage, aber als dieser daraufhin >schöne Bilden malen läßt, können sie Wilhelm nicht genügen; er will nicht ein Bild, er will sein Bild. Dabei ist das Ausschlaggebende nicht, daß keines der Bilder die >richtige< Frau zeigt, sondern daß die Umwelt gar nicht versteht, was sin bilde für Wilhelm bedeutet. Das Ergebnis des gegenseitigen Nichtverstehens ist eine von Mißtrauen nicht freie Wachsamkeit auf Seiten des Vaters, andererseits der Entschluß des Sohnes, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und die reale Entsprechung seines Bildes zu suchen koste es, was es wolle. Das in Kindheitsliebe und Ausfahrt sich abzeichnende Verhältnis des Helden zur Welt bleibt im Verlauf der gesamten Handlung im Grunde unverändert: Wilhelm erfährt die Welt als das andere, Gegenüberstehende — und er bemüht sich, die empfundene Distanz zu überwinden, Innenwelt und Außenwelt in Einklang zu bringen, sei es, daß er versucht, durch das Wort (Gespräch, Brief) das Gegenüber in seine Welt des Denkens und Fühlens hineinzuziehen, sei es,

128

Johann von Würzburg,

> Wilhelm von

Österreich

daß er v o m Gegenüber Besitz ergreift — und dabei alles, was sich ihm in den Weg stellt, rücksichtslos eliminiert. 12 A m deutlichsten tritt die Spannung Innen - Außen, mentale Welt - reale Welt, dort zutage, w o man am ehesten die Ü b e r w i n d u n g der Distanz, der Fremdheit erwarten könnte, in der Liebe. M a n sollte meinen, daß mit dem glücklichen Ausgang der Minnehandlung, mit der Vermählung des liebenden Paares, die queste Wilhelms zu Ende ist und jener Zustand harmonischer Ichund Weltbejahung herrscht, v o n dem oben die R e d e war: Wilhelm hat doch nun in der Realität sein >Bild< gefunden! Doch nichts dergleichen tritt ein. Z w a r lieben sich Wilhelm und Aglye aufrichtig und zärtlich, aber Wilhelms U n r u h e ist nicht gestillt — die real existierende Aglye ist nicht v o l l k o m m e n identisch mit dem Bild, das in seinem Herzen lebte. Die Situation am Schluß des R o m a n s , als Wilhelm und Aglye über die Einhornjagd diskutieren, rekapituliert in gesteigerter Form die Diskussion Wilhelms mit seinem Vater zu Beginn der Handlung. Beide Male fühlt Wilhelm den unwiderstehlichen Drang, in der Realität das zu erfahren, was bisher in seinem Inneren als Bild, Vorstellung, Begriff vorhanden war; 1 3 beide Male gelingt es ihm nicht, seine Verhaltensweise verständlich zu machen und die Z u s t i m m u n g der ihm nahestehenden Menschen zu erreichen; beide Male setzt er rücksichtslos seinen Willen durch. 14 So zeigt der R o m a n neben d e m strahlenden Sieger und edlen Dulder Wilhelm auch einen äußerst schwierigen und keineswegs uneingeschränkt vorbildhaften Helden — u n d dies nicht etwa im Sinne eines Zustands, der durch eine >Entwicklung< zu überwinden wäre: Bis zum Ende apostrophiert der Autor seinen Helden als den tapfersten und edelsten aller Zeiten, und bis z u m Ende 12

Als gewalttätig u n d rücksichtslos e m p f a n d e n nicht n u r m o d e r n e Interpreten (s. A n m . 4) Wilhelms Z w e i k a m p f m i t Wildomis, der a h n u n g s - u n d arglos u m Aglye g e w o r b e n hatte u n d deshalb v o n Wilhelm getötet w u r d e . Hans Sachs sah in dieser Episode ein Musterbeispiel fur irregeleitete Liebe. Vgl. Michael Schilling, Z u r Dramatisierung des >Wilhelm v o n Ö s t e r r e i c h durch Hans Sachs, in: Z u r deutschen Literatur u n d Sprache des 14. J a h r h u n d e r t s ( A n m . 4), S. 262-277, hier S. 266.

13

Bezeichnend ist in diesem Z u s a m m e n h a n g Wilhelms B e g r ü n d u n g für die J a g d auf das Einhorn, das Selber-Sehen-Wollen: Wildhelm der furste sprach:/ >der gesach ich kainen nie./ naina, ratet alle wie/ wir den nu gejagen,/ daz ich auch moht gesagen/ daz ich ir ain het gesehen!' (vv. 18860-18865).

14

Es k ö n n t e übertrieben erscheinen, Wilhelms W e i g e r u n g , auf Aglyens Bitten einzugehen u n d auf die E i n h o r n j a g d zu verzichten, als >rücksichtslos< zu bezeichnen, da Wilhelm seine W e i g e r u n g in außerordentlich höfliche W o r t e kleidet u n d die Liebenden sich zärtlich wieder versöhnen. Aber Wilhelms verbale Verbindlichkeit kann nicht über seine H ä r t e in der Sache hinwegtäuschen. Es ist unbestreitbar, daß er, der w ä h r e n d des gesamten Handlungsverlaufs i m m e r wieder die Liebe als M o v e n s seiner Taten a n g e f ü h r t hatte, a m Ende ein Verhalten an den Tag legt, das diesen B e t e u e r u n g e n widerspricht. Die abschließende aventiure bestätigt nicht die endlich erreichte Gemeinsamkeit des Paares, sondern zeigt beide in der v o m M a n n e r z w u n g e n e n Isolation: Aglye ist als Frau von der E i n h o r n j a g d per definitionem ausgeschlossen.

129

Gisela

VoUmann-Profe

bleibt — zumindest implizit - ein gewisses Unbehagen an seinem Verhalten spürbar. Beide Bilder stehen nebeneinander; sie können nicht zur Deckung gebracht werden und verweisen eben dadurch auf eine Krise, die nicht mehr in der traditionellen Weise als Krise des Helden darstellbar war. Eine solche erfährt Wilhelm denn auch nicht; einerseits läßt er sich durchaus den vielen krisenlosen Helden in anderen nachklassischen Romanen vergleichen, andererseits befindet er sich permanent in einer kritischen Situation. Sie ist mit seiner Existenz gegeben und hat ihren Grund darin, daß der Held dieses Romans stärker als seine Vorgänger mit einem subjektiven Innenraum ausgestattet ist, von dem aus er die Welt wahrnimmt und der ihm ein fragloses Akzeptieren der >objektiven< Welt und seiner Stellung in ihr unmöglich macht. Zu einer eigentlichen Krise aber kann sich diese Situation nicht verdichten, da dies sich nur über eine Weiterentwicklung bzw. Bewußtmachung der subjektiven Ansätze bewerkstelligen ließe. Damit aber ist der Held - wie auch sein Autor - überfordert: Wilhelm kennt keine Relativierungen. Zwar handelt er immer - unbeschadet äußerer Widerstände — so, wie es seinem Wünschen und Wollen entspricht, sieht sich (und die Welt) dabei aber stets bezogen auf ein absolutes, unveränderliches, weil unbedingtes Wertesystem. 15 Ein Zitat des hl. Thomas von Aquin 16 abwandelnd, könnte man sagen, daß Johann an Wilhelm eine reditio incompleta ad se ipsum vorfuhrt. 17 Indem er aber ein zwiespältiges Heldenbild 15

D i e beim Protagonisten zu beobachtende Diskrepanz von unverändert geltender N o r m und subjektivem Handeln hat ihr Analogon in der allegorischen Welt Joraffins (vv. 3 7 9 1 ^ 4 6 8 ) . In diesem R e i c h gibt es Gute und Böse, deren Beurteilung ganz auf dem traditionellen N o r m e n kanon beruht, doch ihr Herr, Joraffin, der keineswegs negativ gezeichnet ist, stellt sich als mütwille

vor, d. h. als einer, der seinen eigenen Willen handelnd realisiert. N e b e n den ethischen

M o t o r des Weltganzen tritt hier ein biotischer: die Intensität. D e m >Eigenwillen< als lebensbestimmender G r ö ß e wird ein gewisser Freiraum zugestanden, ohne daß sein Verhältnis zur theologisch-ethischen Weltauffassung näher bestimmt würde. D a ß durch das ungeklärte N e b e n e i n ander zweier Wertungssysteme in ein und derselben Allegorie die Allegorie selbst brüchig und in ihrem Gattungscharakter verändert wird, ist eine literarhistorisch bedeutsame Entwicklung. C r a m e r hat dies wohl zu wenig berücksichtigt, w e n n er schreibt: »Im >Wilhelm von Österreich< [. . .] wird die Welt des Abenteuers, j e n e r Bereich, in dem der schöpferische A u t o r Welt entwerfen könnte, grundsätzlich zur Allegorie erklärt und damit seiner A u t o n o m i e beraubt« ( T h o mas C r a m e r , Solus creator est deus. D e r A u t o r auf dem W e g zum Schöpfertum, Daphnis 15 [1986], S. 2 6 1 - 2 7 6 , hier S. 268). - D e m >gebrochenen< Charakter der Joraffin-Welt wird man auch kaum gerecht, wenn man die Darstellung seines Reiches nur als Allegorie eines M i n n e paradieses deutet, wie zuletzt wieder Huschenbett ( A n m . 4), S. 241f. (Ansätze zu einer umfassenderen Deutung finden sich schon bei Walter B l a n k , D i e deutsche Minneallegorie. Gestaltung und Funktion einer spätmittelalterlichen Dichtungsform, Stuttgart 1970, S. 95.) 16

S u m m a contra Gentiles, I V 11 reditio completa

17

Vgl. Karl R a h n e r , Anthropologie, in: 2 L T h K B d . I, 1957, Sp. 622: »die scholastische O n t o l o g i e

ad se

ipsum.

als Seins-Geist-Ontologie bildet einen an sich radikalen Ansatz fur die Erkenntnis der echten Subjektivität, insofern sie erkennt, daß etwas genau und nur in dem M a ß Sein ist oder hat, als es sich selbst besitzende Subjektivität, >reditio completa Wilhelm von

Österreich

darstellt und die Widersprüche konsequent durchhält, vermag er die Problematik eines im Wandel befindlichen Menschenbildes zwar nicht auf den Begriff zu bringen, aber doch zu signalisieren.18 Die Einhorn-Episode illustriert dies prägnant: Aus einer Weltsicht, die bestimmt ist von absoluten Normen, kann die Jagd auf ein Einhorn durchaus verstanden werden als eine Allegorie fur das Streben des Menschen nach höchsten Werten. Sobald aber neben diese quasi vertikale Sicht eine horizontale tritt, d. h., sobald ein ganz bestimmter Mensch in einer spezifischen Situation vorgeführt wird, ausgestattet mit seiner persönlichen Geschichte, eingebunden in soziale Beziehungen, kann das gleiche Unternehmen zur selbstsüchtigen Marotte werden, die (selbst-)zerstörerische Konsequenzen hat. Der R o m a n nimmt beide Möglichkeiten ernst.

II. Bei einem R o m a n , dessen Held zumindest ansatzweise mit einer subjektiven Weltsicht ausgestattet ist, darf man gespannt sein, ob - und gegebenenfalls wie — der Autor seine eigene Subjektivität in den Blick zu fassen vermag. Was bereits bei flüchtiger Lektüre des Romans auffällt, ist die breite Entfaltung der Erzählerrolle; keines der älteren Werke gibt ihr so viel R a u m . Da häufen sich Bescheidenheitsgesten und Anrufe an alle möglichen helfenden Instanzen — minne, a vent tire, nature,19 auch Gott, wenn die gerade präferierte VorBegriffe sind. Vgl. etwa Ernstpeter R u h e u. R u d o l f Behrens (Hgg.), Mittelalterbilder aus neuer Perspektive. Diskussionsanstöße zu amour courtois, Subjektivität in der Dichtung und Strategien des Erzählens, München 1985. 18

Wie sehr die Spannung zwischen objektiver Ordnung einerseits und subjektiver Erfahrung/individuellem Lebensweg andererseits das Spätmittelalter beschäftigt hat, belegt ζ. B . auch der >MelusineWilhelm von Österreich< kann die Möglichkeit zu neuen Entwicklungen »vom Helden selbst noch nicht wirklich ergriffen werden«. Ebenso wie der Held der >Melusine< läßt sich Wilhelm »zwar in Form einer persönlichen Entscheidung auf das Glück ein, er vermag es aber nicht eigentlich subjektiv zu entwickeln [. . .]. Er erfährt das Neue als etwas, das zugleich heilbringend und dämonisch ist, ohne daß er in der Lage wäre, die verlorene objektive O r d nung durch einen neuen subjektiven E n t w u r f zu ersetzen [. . .]. Entsprechend bleibt das Schöpferische des poetischen Prozesses in der Montage und in der Allegorie stecken. Die individuelle Erfahrung vermittelt sich über das Zitat. Poetologisch steckt das Neue auch hier in der literarischen Kombinatorik; das Individuelle bricht in der Irritation auf, die der Montageakt hervorruft« (Walter Haug, Francesco Petrarca — Nikolaus Cusanus — Thüring von Ringoltingen. Drei Probestücke zu einer Geschichte der Individualität im 14./15. Jahrhundert, in: Manfred Frank u. Anselm Haverkamp [Hgg.], Individualität, München 1988 [Poetik und Hermeneutik 13], S. 2 9 1 - 3 2 4 , hier S. 322).

19

Huschenbett (Anm. 4) verweist darauf, daß die häufigen Autor-Apostrophen der Personifikationsallegorien (Frau Minne, Frau Natur usw.) dem Einfluß der >Minnelehren< zu verdanken seien. Die Annahme, daß der »moderne« Texttyp der >Artes amandi< auf Johann eingewirkt

131

Gisela

Vollmann-Profe

läge das nahelegt. Auch die Figuren der Handlung werden mit Erzählerapostrophen bedacht — fragend, warnend, mitleidsvoll oder auch anfeuernd. All das ist nicht neu, aber doch auffällig durch seine Häufigkeit. 2 0 Natürlich wird auch das Publikum in dieses Spiel einbezogen. Bald tritt ihm ein allwissender, bald ein völlig ratloser A u t o r gegenüber, der auch nicht versäumt, i m m e r wieder zu versichern, das Erzählte sei wirklich wahr. M a n hat darauf verwiesen, daß diese Wahrheitsbeteuerungen sich bevorzugt gerade an den allerunglaubwürdigsten Stellen finden; ich habe den Eindruck, daß sie im Verlauf der Handlung i m m e r abenteuerlicher werden - und i m m e r umfassender. Den Anfang macht die ebenso unwiderlegbare wie unwichtige Feststellung, das über die N a t u r des Quecksilbers Gesagte entspreche den Tatsachen (vv. 74—82); am Ende steht die absurde Beglaubigung des gesamten Werkes durch den Hinweis auf den lateinischen Bericht, den Aglyes Vater, König Agrant, von den Ereignissen habe anfertigen lassen (vv. 19561-19569). All dies - und es ließen sich noch viele Einzelelemente der Erzählstrategie hinzufügen — hat einen wohlkalkulierten Effekt: Das Ganze soll dem Publikum nachdrücklich als fiktional präsentiert werden und in den Rezipienten das Bewußtsein wachhalten, daß der Autor auch dort, w o er sich nicht als Erzählerfigur unübersehbar ins Spiel bringt, der Arrangeur des Ganzen ist. Ein besonders anschauliches Beispiel für Johanns bewußtes Gestalten ist die Parclise-Episode (vv. 10861— 11282), w o mit der Fiktion in der Fiktion gespielt wird und der Reiz sich nicht zuletzt aus dem unterschiedlichen Wissensstand des Helden, seiner Mitspieler und des Publikums ergibt. Doch auch den scheinbar eingeweihten H ö rern/Lesern bleibt angesichts der Unwahrscheinlichkeiten der >Wahrheit< am Ende nur die eine Gewißheit: D a ß hier ein A u t o r ein höchst amüsantes Erzählspiel inszeniert hat, in dem beinahe nichts unmöglich ist. Angesichts einer solchen Erzählerhaltung kann es nicht erstaunen, wenn Johann im Epilog feststellt: >Wahr oder erfunden — das ist ohne Bedeutung!< Der Kontext macht deutlich, wie der Autor diese Aussage verstanden wissen will: ich han den werden vorgesait/ dits durch bezzerunge,/ si sin alt oder junge,/ die gern horn werdekait:/ ez si luge oder warhait,! sagt auch ez von eren tat,j ain ieglichs daz sich verstat,j bezzerunge nimt da von (vv. 19502-19509). Mit der Freude am Ästhetisch-Fiktionalen einerseits und der B e t o n u n g der Lehre andererseits scheint Johann recht genau jener Charakteristik zu entsprechen, die H a u g v o m nachklassischen R o m a n gibt: Die poetische Kunst erreicht hier »eine neue Stufe der Autonomie: Wenn der Sinn sich als Lehre verselbständigt, erscheint die Poesie als ein Mittel, das m a n z u m Zwecke der Lehre einsetzen kann, und das hat zur Folge, daß das

20

habe, ist nicht von der Hand zu weisen; doch k o m m t dieser A n r e g u n g m . E. keine Sonderstellung zu: Johann benützt sie wie viele andere auch zur Ausgestaltung der A u t o r - R o l l e . Vgl. etwa vv. 3495—3595: Von den 100 Versen sind über ein Viertel Erzählerbemerkungen!

132

Johann von Würzburg,

> Wilhelm von

Österreich

Verhältnis von poetischer W i r k u n g u n d didaktischem Zweck in die Reflexion gerät.« 21 Vergleicht m a n J o h a n n dann aber mit dem w o h l profiliertesten Vertreter dieser >neuen StufePartonopier und Meliur< vv. 144f.) ist bei ihm unvorstellbar. Auf die ästhetischen Qualitäten seines Werkes hebt er denn auch kaum ab - und dies nicht primär aus m e h r oder weniger affektierter Bescheidenheit, 22 sondern weil seinem auf Verbindlichkeit bedachten Ernst ästhetisches Spiel wenig e n t g e g e n k o m m t . Auf der anderen Seite hat J o h a n n schließlich im G r u n d e auch keine explizit formulierbare, verbindliche Lehre zu vermitteln: Die Darstellung vollkommener, allgemeingültiger tugent w a r ihm unter der H a n d z u m Problem geworden, die tugent-lUustration geriet i m m e r m e h r zur angestrengten fugenf-Beschwörung. So ist auch Johanns Festhalten am didaktischen Zweck< nicht unproblematisch. Er sieht die Rechtfertigung seines Tuns in möglichen positiven Wirkungen seines Werkes. D a m i t aber begibt er sich auf unsicheren Boden. D e n n ein Werk, das seinen Wert ausschließlich abhängig macht von seiner Wirkung, liefert sich ganz an sein P u b l i k u m aus; es ist darauf angewiesen, was dieses aus ihm macht. D e r Prolog scheint noch zu insinuieren, daß die Qualität des Werkes diesen Prozeß steuern könne — indem sie nämlich beschaidenhait (v. 112) hervorrufe. Doch wenn auch dort auf der Bildebene der Prozeß des Vergoldens problemlos gelingt — der auf der Deutungsebene korrespondierende Vorgang der Veredelung durch Literatur läuft keineswegs so glatt ab. M a n gewinnt vielmehr schon im Prolog den Eindruck, der Gedanke an einen negativen Ausgang des Vorhabens müsse mit Anstrengung abgewehrt werden. Im Epilog ist diese Skepsis dann zur Resignation geworden. Das Werk ist nun beinahe neutral, angewiesen auf den mutwillen derer, die sich seiner bedienen. Es mag den tugentrichen zur Stärk u n g ihrer tugent dienen, doch es kann nicht ausgeschlossen werden, daß es auch von den ubelen in Dienst g e n o m m e n wird. 2 3 Tugent kann auch hier nur gewünscht und beschworen werden, Sicherheit ist nicht zu erreichen. So bleibt für J o h a n n schließlich nur eine Gewißheit: der eigene gute Wille, der ihn veranlaßte uf getihtes u>an [. . .] tugentlich zu erzählen (vv. 158-160). Doch diese subjektive Ü b e r z e u g u n g kann i h m nicht genügen; so sieht er keine andere

21

H a u g ( A n m . 9), S. 56; wieder in: H a u g , Strukturen ( A n m . 7), hier S. 706.

22

Entsprechende Ä u ß e r u n g e n finden sich auch bei J o h a n n (vgl. e t w a vv. 144—155), doch eher selten u n d beiläufig. Was ihn u m t r e i b t , ist i m G r u n d e w e n i g e r der Z w e i f e l am eigenen K ö n n e n als die Skepsis g e g e n ü b e r der Kunst u n d ihren Möglichkeiten ü b e r h a u p t .

23

Vgl. die Epilogverse 19511-19515: davon ich bit der uns geschufI durch sinen gotlichen ruf,j daz er mir welle vergeben,! ob ich suntliches leben/ iht hab gesterkt dar inne.

133

Gisela

Vollmanti-Profe

Möglichkeit, als zu verstummen, o b w o h l in ihm ist noch beslozzen

vil

wilder

aventur (vv. 19478f.) 2 4

III. Was also ist — u m zur Ausgangsfrage zurückzukehren — v o n >Wilhelm v o n Österreich b z w . seinem Autor zu halten? Ich habe versucht, eine A n t w o r t zu finden, indem ich vor d e m Hintergrund der Romantradition untersuchte, w i e Johann das Vorgefundene genützt hat. A u f der Ebene der Handlungsführung hat er durchaus die in der Konstellation minne-aventiure-Geselhchaft liegende Möglichkeit zur Problematisierung zentraler Fragen gesehen, diese M ö g l i c h keit aber nicht einfach aufgegriffen und modifizierend durchgespielt, sondern d e m W e g des Helden eine andere R i c h t u n g gegeben, indem er ihn konsequent aus d e m Gesellschaftsbezug herauslöste. So kann er durch die entstehende D i s krepanz darauf hinweisen, daß die herkömmlichen Beschreibungsmodelle zur Darstellung der verschärften Spannung zwischen Ich und Welt nicht mehr genügen. — Im U m g a n g mit der Fiktionalität ist Johann eine erstaunliche S o u veränität kaum abzusprechen. D o c h dieses K ö n n e n steht letztlich isoliert, eilt seinem eigenen Selbstverständnis voraus und führt seinen Autor, w o h i n er nicht wollte: Er kapituliert am Ende vor einer Situation, der er sich nicht gewachsen fühlte. 25 Er kann s o w e n i g eine konsequente neue Ästhetik entwer24

D u r c h diese Feststellungen soll die Lebenswirklichkeit des Dichters keineswegs ausgeblendet w e r d e n , die gegen E n d e des Werkes i m m e r unvermittelter zur Sprache k o m m t . Die ablehnende H a l t u n g der prospektiven Mäzene hat die k o n k r e t e n Arbeitsbedingungen Johanns o h n e Z w e i f e l entscheidend beeinflußt. Aber es w ü r d e angesichts der konsequenten Anlage des R o m a n s zu kurz greifen, wollte m a n des Autors Resignation bei Abschluß seines Werkes n u r damit b e g r ü n d e n , daß H o h e n b e r g u n d / o d e r H a b s b u r g nicht zahlten. Im G r u n d e kann m a n in den Aussagen des A u t o r s ü b e r das Verhältnis zu seinen G ö n n e r n eine persönliche A u s f o r m u n g seines grundsätzlichen D i l e m m a s sehen: einerseits der Glaube an eine v o r g e g e b e n e O r d n u n g , andererseits eine Wirklichkeit, die damit nicht in Einklang zu bringen ist. J o h a n n sieht in seinem Fall eine ideale Konstellation (eine Geschichte v o n tugent, v o m A u t o r tugentlich erzählt f u r tugentriche herren) gegeben, an der er m i t einiger Hartnäckigkeit festhält; gleichzeitig zeichnet er ein v o n Bitterkeit geprägtes Bild der eigenen Situation.

25

Es ist eine Situation, vergleichbar der, die Zink f ü r die französische Literatur des 13. J a h r h u n derts f o l g e n d e r m a ß e n beschreibt: »L' apparition de la litterature fran^aise se t r o u v e d o n e coincider avec le m o m e n t oü l'art doit reconnaitre qu'il n'a d'autre verite que celle de la subjectivite qui s'encarne en lui. C e t t e prise de conscience [. . .] definit la litterature telle que n o u s l'entendons et qui en ce sens apparait au ΧΙΙΓ siecle. M o n t r e r que l'absolu de la subjectivite cherche ä s'encarner dans u n e f o r m e revient inversement ä dire que les textes litteraires d u M o y e n A g e p e u v e n t etre lus c o m m e des essais p o u r fixer dans le language [. . .] le desir d ' u n e subjectivite et ses representations« (Michel Z i n k , Le retour d u subjectif ou: La litterature d u M o y e n A g e est-elle romantique?, in: Mittelalterbilder [ A n m . 17], S. 240-249, hier S. 248). J o h a n n k o m m t m . E. der hier geschilderten Position de facto recht nahe - nur: er will u n d kann sie nicht akzeptieren.

134

Johann von Würzburg,

> Wilhelm von

Österreich

fen, wie sich an seinem Helden eine einheitliche neue Anthropologie ablesen ließe. Vielmehr ist der Autor wie sein Held auf abenteuerlichen Pfaden unterwegs zum gleichen, wenn auch noch nicht genau definierbaren Ziel: einem neuen Menschen- und Weltbild, für das der moderne Subjekt-Begriff zunehmend Bedeutung gewann. Johann steht damit nicht allein in einer Zeit, in der sich Neues in vielfältiger Weise ankündigt; die literarischen Gestaltungsmöglichkeiten aber, die er dafür gefunden hat, verschaffen ihm in der Reihe seiner schreibenden Zeitgenossen durchaus einen respektablen Platz.

135

PAUL SAPPLER

>Friedrich von Schwaben
Friedrich von Schwaben< etwas beschwerlich machen; es sind auch Umständlichkeiten der Darstellung wie die öftere langatmige Wiederholung von Berichten (bei welcher sogar Ich- und Er-Erzählung durcheinandergehen können), die Manier, Namen erst spät einzuführen, auch wohl das Magisch-Mechanistische der Handlung und eine gewisse Vordergründigkeit der Figuren, überhaupt ein anscheinender Mangel an interpretierbarer Vertiefung. Wenn uns der R o m a n zunächst nicht besonders anziehend vorkommt, so hat er doch für das damalige Publikum seine Reize und seine Bedeutung gehabt, wie die Überlieferung zeigt. Als Gründe für das Publikumsinteresse kommen sehr verschiedene Momente in Betracht; welche der Möglichkeiten da und dort aktualisiert wurden und in welchem Zusammenspiel, ist unbekannt, aber man kann doch über die in Frage kommenden Eigenheiten des Romans Vermutungen anstellen. Es sei hier versucht, das Spektrum der Vermutungen zu erweitern, und zwar bezüglich der Thematik des Romans. Man hat als Charakteristika seine Märchennähe und seinen Bezug zu einem bestimmten historischen Ort hervorgehoben. Der R o m a n läuft ja, wie die folgende Inhaltsangabe deutlich zeigt, wie ein Märchen ab und kann wie ein solches gelesen werden; er bietet die Möglichkeit leichter, schemagemäßer Identifikation mit dem Helden, Wunscherfüllung, Begegnung mit der anderen Welt, hier vollzogen im Schema von der gestörten Mahrtenehe. 1 Auf der anderen Seite hat der R o m a n offenbar die Funktion, ein auf das staufische Stammesherzogtum zurückbezogenes Landesbewußtsein zu propagieren, indem er eine »allgemeine schwäbische Stammessage für die Ritterschaft Schwabens« und die Geschlechtssage seines (nicht näher bezeichneten) Herrscherhauses bietet. 2 Solche Züge sind sicher zu Recht herausgestellt worden, aber Reiz und Eigen1

2

Siehe zuletzt die schöne Übersicht von Nikolaus Henkel, Friedrich von Schwaben, in: EM, Bd. 5, 1987, Sp. 358-361, mit Literatur. Dies überzeugend bei Klaus Graf, G m ü n d e r Chroniken im 16. Jahrhundert. Texte und U n tersuchungen zur Geschichtsschreibung der Reichsstadt Schwäbisch G m ü n d , Schwäbisch G m ü n d 1984, S. 17—21; vgl. Klaus Graf, Exemplarische Geschichten. Thomas Lirers »Schwäbische Chronik« und die »Gmünder Kaiserchronik«, München 1987, S. l l l f .

136

>Friedrich von

Schwaben

art des Romans sind damit wohl nicht vollständig genug erfaßt; mit in Betracht zu ziehen sind Möglichkeiten des Romanverständnisses auf der Ebene der Thematik, einer Ebene, die einerseits konkreter ist als die allgemeinste Sinnhaltigkeit des Mahrtenehenschemas, andererseits allgemeiner als die konkrete geschichtliche Situation eines mutmaßlichen Publikums. 1: Fürst Heinrich v o n Schwaben stirbt. Friedrich, der jüngste der drei Söhne, verirrt sich auf der Jagd nach einem Hirsch i m Wald und gelangt in eine menschenleere B u r g . Angelburg k o m m t i m D u n k e l n ans Bett und erzählt ihre Geschichte: 161: Sie, die Tochter des Königs M o m p o l i e r , hatte ihre böse Stiefmutter Flanea zur Tugend ermahnt, u n d diese hatte daraufhin mit Hilfe ihres Geliebten, des Zauberers Jeroparg, bewirkt, daß M o m p o l i e r die Tochter verstieß. Von Flanea verzaubert, müssen sie u n d ihre beiden J u n g f r a u e n Malmelona u n d Salme sich tagsüber als Hirsche, nachts in menschlicher Gestalt i m Wald aufhalten. Flanea hat auch die Erlösungsbedingungen festgelegt: n u r ein Fürstensohn k ö n n e sie durch keusches Beilager über dreißig Nächte in f ü n f Serien hinweg, bei dem auch ein Sichtverbot zu beachten ist, erlösen; w e n n er gegen das letztere Verbot verstieße u n d so scheiterte, bestünde die A u f g a b e darin, den dann in Tauben verwandelten Mädchen w ä h r e n d ihres Bades i m allerliechtesten brunnen ihr Federkleid zu rauben. 657: Nach der vierten Serie v o n Nächten wird Friedrich liebeskrank. Jeroparg als Arzt rät ihm, das Sichtverbot zu übertreten. In der 22. Nacht mißlingt so die Erlösung. Friedrich b e k o m m t drei Zauberringe, die in späteren K ä m p f e n hilfreich sind, u n d m u ß scheiden. 1586: Friedrich verkauft sein Erbteil und bricht mit dreißig Gefährten zur Suchfahrt auf. Als er in N o t gerät, w e r d e n die Begleiter zurückgeschickt. 1828: Er befreit O s a n n v o n Prafant v o n der Belagerung durch A r m i n o l t v o n N o r w e gen, schlägt dann aber ihre H a n d aus. 2365: Von Osann neu ausgestattet, dann wieder verarmt, trifft er die Z w e r g e n k ö n i g i n J e r o m e in einem Zelt auf einem Plan u n d w i r d dann v o n ihr in den hohlen Bergen festgehalten; ihnen w i r d eine Tochter Ziproner geboren, die Menschengröße hat. Die zur Strafe i m Berg angeschmiedete Z w e r g i n S y r o d a m e n verhilft Friedrich zur Flucht, vor welcher er einen erklärenden Abschiedsbrief schreibt. J e r o m e w i r d vor K u m m e r krank und übergibt die Herrschaft dem Z w e r g e n k ö n i g Buktzinos. 3695: Aus N o t tritt Friedrich in den Dienst des Königs Tumeas, w i r k t dort als H a u p t m a n n , R a t g e b e r u n d D i p l o m a t u n d besiegt zweimal dessen Gegner N e m o r a s . W ä h r e n d seiner Zeit a m H o f e gewinnt er den Grafen Pirnas z u m Freund. N a c h zehn Jahren will ihn Tumeas zunächst nicht ziehen lassen, spricht i h m dann als L o h n lediglich das Fell eines noch nicht erlegten Hirsches zu. Dieser erweist sich als die durch den zehnjährigen Dienst bei Tumeas u n d eine U m a r m u n g zu erlösende J u n g f r a u Pragnet v o n Persolon, die ihn zu Angelburg weist.

137

Paul

Sappler

4389: Beim allerliechtesten brunneti erlöst Friedrich am Ende seiner insgesamt zwanzigjährigen Suchfahrt nach Vorschrift Angelburg und ihre Jungfrauen. 4889: Sie kehren heim in Angeiburgs von der Mutter her ererbtes Land, die Liecht öw. Gegen einen von Flanea und Jeroparg zu erwartenden Angriff werden Bundesgenossen herbeigerufen: Friedrichs Brüder Ruoprecht und Heinrich (aus Gmünd) mit 4000 Mann, Osann mit 2000, Pragnet mit 5000. Flanea bringt Mompolier dazu, Angelburg ihr Land abzufordern, dann (in einem Bettgespräch), o b w o h l Mompoliers Herren abraten, den Krieg mit 10000 M a n n zu beginnen; Jeroparg gewinnt die Hilfe des Turneas. Beim K a m p f u m Angeiburgs Stadt R o g a n t bestehen die Schwaben (Ruoprecht und Heinrich; dazu k o m m e n Ruoprechts Söhne Kuonrat, Uolrich und Ludwig sowie Vivianz von Teck als Bannerträger) auf d e m alten Recht des Vorfechtens. Friedrich n i m m t den Turneas, Heinrich den Mompolier gefangen. Jeroparg wird trotz Zauberei in drei Zweikämpfen von Friedrich besiegt, gesteht seine und Flaneas Taten und wird mit ihr verbrannt. Mompoliers Land geht an Angelburg, das des Turneas an Friedrich, der somit die Kronen dreier Länder trägt. Die Hochzeit wird festgesetzt. 6623: Jerome läßt die elfjährige Ziproner auf ihren Wunsch zu ihrem Vater ziehen; Angelburg n i m m t sie als Tochter an. Friedrich stiftet Ehen: Heinrich mit Malmelona, Uolrich mit Salme (Heinrich und Uolrich b e k o m m e n des Turneas Land), Kuonrat mit Osann, Ludwig mit Pragnet. 7061: Im ersten Jahr der Ehe b e k o m m e n Friedrich und Angelburg einen Sohn Heinrich. Im neunten Jahr stirbt Angelburg, nachdem sie ihr Land der Ziproner und Mompoliers Land ihrem Sohn vermacht hat und Friedrich aufgetragen hat, Jerome zu heiraten, damit Ziproner eheliches Kind wird. Jerome läßt sich nach 23jähriger Trauer von den Kindern und Friedrich zu Vergebung und Heirat erweichen. Friedrich bittet Syrodamen frei und wird dafür von deren Eltern gepriesen. Ein dann geborener zwergischer Sohn Friedrichs und Jeromes erbt das Zwergenreich, die anderen Kinder werden königlich verheiratet. D e r H a n d l u n g s a b l a u f des R o m a n s w i r d w e s e n t l i c h d u r c h das E r z ä h l s c h e m a v o n d e r g e s t ö r t e n M a h r t e n e h e b e s t i m m t . D a m i t ist n i c h t gesagt, d a ß die H e l d i n A n g e l b u r g eine M a h r t e sei, d. h. ein a l p d r u c k e r z e u g e n d e s S a g e n w e s e n , ein N a c h t m a h r (auch w e n n sie a u f d e n nächtlich i m B e t t l i e g e n d e n H e l d e n z u k o m m t [gehwr oder ungehür?,

143] u n d g e f a n g e n w e r d e n k a n n , w a s — als e t w a s

S a g e n t y p i s c h e s — a u f erotische T r ä u m e g e d e u t e t w o r d e n ist); sie ist auch n i c h t Fee, d. h. ein W e s e n aus einer a n d e r e n W e l t , das eine erotische B e g e g n u n g m i t e i n e m irdischen M a n n a r r a n g i e r t , sich i h m h i n g i b t , f r e u n d l i c h , a b e r n i c h t v e r t r a u t , da sie i h r e M a c h t aus d e r F e e n w e l t h a t u n d d e r e n f r e m d e n G e s e t z e n u n t e r w o r f e n ist; k u r z , sie h a t als F i g u r des R o m a n s w e n i g v o m s u p e r n a t u r a l wifeFriedrich von Schwaben< Das Fehlen jenseitiger Züge bei der Figur läßt auch nicht zu, daß sie innerhalb des Romans diabolisiert wird; es fehlt die Verleumdung der Heldin als teuflisch durch gesellschaftliche Instanzen wie die Mutter des Helden und geistliche Würdenträger im >Partonopier< oder die Verwandten des Peter von Staufenberg, und es fehlt damit eine Spannung des Jenseitigen zum Irdisch-Gesellschaftlichen. Das Transzendente erscheint im >Friedrich von Schwaben< nur insofern, als das Paar Frömmigkeit und Gottvertrauen zeigt, ohne übrigens Antwort von Gott oder sein Eingreifen im einzelnen zu erwarten. Trotzdem: Angelburg ist eigentlich übernatürliche Partnerin des irdischen Helden Friedrich; dies ergibt sich aus der Struktur des Romans. Die Mahrtenehenerzählungen sind (mit Varianten) durch folgende Momente gekennzeichnet: 1. Der Held geht einen Weg heraus aus dem Alltäglichen, oft durch Verirren, und kommt an einen besonderen Ort, gern in wilder Umgebung. 2. Er trifft dort eine auf ihn wartende Partnerin, in der Regel mit nicht ganz irdischen Eigenschaften, von anderer Seinsart, und verbindet sich mit ihr unter dem Gesetz eines Verbotes. 3. Der Verstoß gegen das Verbot, der >TabubruchAmor und Psyche< und wie 139

Paul

Sappler

im >PartonopierKönigin vom Brennenden See< die einzige Kampfbewährung des Helden ist, das dreitägige Turnier mit der Dame als Preis, in dem der Held seine Identität offenbart und seine Ansprüche durchsetzt, paßt hier zunächst nicht ins Erlösungsschema und ist deshalb als Krönung der Schlußabrechnung mit der bösen Gegenpartei etwas nach hinten verlegt. Man könnte das skizzierte Mahrtenehenschema noch weiter bis in die Einzelheiten der aktuellen Ausformung verfolgen. Wo ein solches Schema der Erzählung zugrundeliegt, hat es der Erzähler motivierend ausgefüllt und dabei Bauentsprechungen entweder hervorgehoben oder unrealisiert gelassen. Das Mahrtenehenschema legt dem Erzähler augenscheinlich Zweiteiligkeit nahe, und zwar in den märchenartigen Gestaltungen so gut wie in den breiteren romanhaften. Damit sind Fragen der Motivierung und architektonischen Verweisung angesprochen, die zum Begriff des doppelten Cursus hinleiten. Es wird zu prüfen sein, ob diese Strukturzusammenhänge im >Friedrich von Schwaben< dazu genutzt werden, mögliche Themen zu entwickeln und herauszustellen. Die beiden Wege (1 und 4 des Schemas) sind nach Motivierung und Gestaltung ganz verschieden, die jeweils als Erlösungen gestalteten Gewinnungen der Dame (2 und 5) aber deutlich aufeinander bezogen. Zwar ist es einmal eine 3

Die Turneas-Episode zeigt interessante Ähnlichkeiten mit dem ersten Teil des >RuodliebFriedrich von

Schwaben

Hindenfee, das zweite Mal eine Schwanjungfrau (Variante Taube), die erlöst werden muß; zwar ist es einmal ein Verbotskomplex (Zurückhaltung!), dann eine zauberische Gewandraubvorschrift (Aggressivität!), die Erlösung bringen soll; zwar mißlingt erst, was dann gelingt. Aber das Verschiedene ist doch gleichgerichtet, und zwar im Sinne einer Steigerung. >Steigerung< ist hier nicht so gemeint, daß die erste Gewinnung leicht, die zweite schwer wäre, die erste unverdient, moralisch bedenklich wäre, die zweite erst Vorzüglichkeit und Einzigartigkeit, ja Vorbestimmtheit des Helden für Großes bestätigte, wie das (je nach dem Tabu dazwischen) schon einmal gestaltet sein kann. Friedrichs Übertretung des Verbots ist sehr entschuldbar, ja liegt in seiner Liebesentscheidung für Angelburg begründet und zeigt so keinen grundsätzlichen Mangel, der aus ihm herausgeläutert werden müßte. Er ist in beiden Erlösungen fast gleich perfekt, löst seine Aufgabe aber beim zweiten Mal vollständig und insofern besser. (Weil die Verinnerlichung der Aufgabenstellung fehlt, kann die zweite Erlösung auch nicht vordergründig spielerisch sein in halb ironischer Erfüllung der Vorschriften wie in Parzivals zweiter Erlösungsfrage gegenüber Amfortas.) Die Steigerung im >Friedrich von Schwaben< fuhrt vom Persönlichen ins Hochpolitische, vom Jagdabenteuer zum Kriegsernst, vom einzelfallbezogenen Erlösungsvorsatz zur Vernichtung des Bösen überhaupt und zu einer geordneten Welt. Der hiermit angedeutete Hintergrund von Bedeutung ist ansonsten aber durch die Handlungsfuhrung eher gefährdet, weil nämlich die Mechanik des Ablaufs eine Füllung mit Symbolgehalt erschwert. Noch mechanisch-pedantischer als in der Inhaltsangabe nacherzählbar werden ja z. B. die Erlösungsvorschriften gehandhabt; ich nenne vier Charakteristika: a) das Tabu tritt gehäuft auf: Beischlaf-, Sicht- und dazu noch ein etwas schwächeres Redeverbot (letzteres übertritt Friedrich gegenüber Jeroparg [ganz unnötig!]; das Beischlafverbot ist insofern erzähltechnisch kein richtiges Tabu, als es gar nicht übertreten wird); b) der Zusammenhang von Verstoß und Strafe ist im Detail sehr kompliziert; z. B. ewiges Hirschdasein Angeiburgs bei Verstoß Friedrichs gegen das Beischlafverbot, komplizierter anderer Weg bei Verstoß gegen das Sichtverbot, nämlich Verlust eines Auges, das von einer Jungfrau (das ist dann Pragnet) wiedergegeben werden muß — dann erst nächste Chance am anderen Ort, die aber ein unadliger Ankömmling vorher schon zunichte gemacht haben könnte; c) die Erlösungsleistungen sind auf äußerliche Weise gehäuft; 30 Erlösungsnächte m ü s s e n erzählerisch unergiebig sein, auch wenn es eine Steigerung 2 - 3 - 5 - 1 0 - 1 0 gibt. 4 4

Zeit wird auch in der Begrenzung des Zielzustandes, der Ehe Friedrichs mit Angelburg, und im

141

Paul

Sappler

d) zu alledem wissen Leser und Figuren von Anfang an über die Abfolge der Aufgaben Bescheid bis hin zu den drei Zweikämpfen nach der Taubenerlösung, die so zum Teil der Erlösungshandlung gemacht werden. Wenn also die Mahrtenehenmechanik nicht sehr viel für die Bestimmung der Thematik hergibt, so vielleicht die auslösende anfängliche Parteiengegenüberstellung, bei der es um eine Art Sexualmoral zu gehen scheint. Anlaß für die Verzauberung Angeiburgs sind moralische und Anstandsforderungen gegenüber Flanea; diese steht in einer Dreieckskonstellation am Hof, in der der königliche Ehemann Mompolier die R o l l e Markes spielt, das Liebespaar aber nach einer Art Gottesurteil im Feuer untergeht. Die Liebe der beiden ist eine als solche stimmige, stetige, unbedingte Liebe (außer in J e r o pargs Todesnot). Angelburg wird für das Vertreten der gesellschaftlichen N o r m bestraft derart, daß freie Liebe, wie sie nach Jeropargs Worten der Natur entspricht (1117), bei ihr zu ewigem Tierdasein führen würde. Später scheint bei der eigentlichen Erlösung das Eheversprechen magisch notwendig. Ist dies die Ethik des R o m a n s : Keuschheit, also Triebverzicht, und normenentsprechende Liebe sei der freien, unsublimierten Liebe überlegen? So könnte man die Parteiungen des R o m a n s und ihre Wertung verstehen. Es gibt aber Indizien dafür, daß doch nicht ein Gegensatz Liebe — Ehe im Zentrum steht. Als Lohn für Friedrichs Zurückhaltung wird j a anfangs nicht etwa die Heirat versprochen, sondern Angeiburgs keusche Liebe als solche. Keusches Beilager als Leistung eines Liebenden setzt übrigens auch sonst der Deutung Widerstand entgegen, und die betreffenden Werke spielen jeweils auf ihre Weise mit einem Paradox: Gawein gegenüber der Frau des Grünen R i t ters, König Hans in der >Königin vom Brennenden SeeKrone< und der Liebhaber der siebten Novelle des Heptameron. Wie dem auch sei, es gibt keinen Preis der Enthaltsamkeit als solcher; gebrochen wird das Sichtverbot, das von Haus aus eher den Kontakt mit der jenseitigen Welt und ihrem Glanz (Verlust des Auges) tabuiert, nicht das funktionsarme aufgesetzte Beischlafverbot; wo die Liebe Friedrichs die Vorschriften sprengt, beim Bruch des Sichtverbots, ist sie >richtig< und wird nicht kritisiert, sondern zur Entschuldigung eingesetzt; auf den Bezug der Jerome-Handlung zum Thema des Triebverzichts schließlich k o m m e ich noch zurück. Es scheint also nicht so wichtig zu sein, in welchen Bahnen Friedrichs Liebe verläuft, sondern nur, daß er liebt, stetig dient, Mitleid hat, das Vertrauen der Hilflosen nicht enttäuscht. Schicksal Jeromes erfahrbar; dazu und zum Folgenden Dieter Welz, Zeit als Formkategorie und Erzählproblem im Friedrich von Schwaben, ZfdA 104 (1975), S. 1 5 7 - 1 6 9 ; vgl. auch Jürgen Egyptien, Höfisierter Text und Verstädterung der Sprache. Städtische Wahrnehmung als Palimpsest spätmittelalterlicher Versromane, Würzburg 1987, S. 114-121.

142

>Friedrich von Schwaben*

Das Thema Triebverzicht schien sich irgendwie schief aus der Auffüllung der Mahrtenehengeschichte mit einem Gegenspielermoment zu ergeben. Es ist nun beachtenswert, daß zwei wichtige Figuren der Suchfahrt, Jerome und Pragnet, ebenfalls Mahrtenziige aufweisen. Bei Pragnet liegt die Ähnlichkeit mit dem Angelburg-Schicksal auf der Hand: Auch sie ist von einer bösen Stiefmutter in einen Hirsch verwandelt worden (wobei die Tatsache, daß die J a g d des Turneas und schon seiner Vorfahren auf ihn immer erfolglos war, noch stärker ins Sagenhaft-Magische fuhrt) und muß durch Leistungen erlöst werden, jetzt aber durch Drangeben des zehnjährigen Dienstes bei Turneas. Hier scheint die (wohl nie ausgeführte) Idee die gewesen zu sein, daß Friedrich unter mehreren Angeboten den richtigen Lohn wählen soll, sich dann durch eine äußerlich falsche, tatsächlich aber richtige mitmenschliche Wahl bewährt und so die entscheidende Helferin gewinnt. Recht zufällig ist Turneas in die Rolle des Bösewichts geraten, der den Helden um den ihm zustehenden Lohn betrügt und dafür von Pirnas heftig getadelt wird; die naheliegende moralische Einfärbung parallel zur Angelburggeschichte hat jedenfalls nicht stattgefunden. Was man aber beobachten kann, ist eine gewisse Souveränität des Autors beim U m g a n g mit dem Schema, mit der er vor dessen thematischer Überinterpretation zu warnen scheint, einmal, indem er die Jungfrau Pragnet das Enthaltsamkeits- und Treueproben-Motiv beiseite schieben läßt, das in der Osann-Episode immerhin eine kleine Rolle spielte: >Gern übergäbe ich dir mich und mein Land, aber du strebst zu Angelburg, und man kann dich j a nicht einmal in einen Zielkonflikt stürzen< zum anderen, wie er Friedrich das Hilfsangebot des Hirsches recht witzig ablehnen läßt: >Nur nicht nochmal einen Hirsch, und schon gar keinen sprechenden. Einer, der mich in N o t gebracht hat, ist genug.< Das Thema bleibt also vorläufig etwas unbestimmt: der vorzügliche Held ist ein großer Minner, hilfsbereit, beharrlich, leidet alle Strapazen, kämpft siegreich gegen das Böse, ist ein guter Politiker und wird bestätigt durch Erhöhung und Machtgewinn. Die Heldin bleibt an Vorzüglichkeit nicht dahinter zurück, angefangen von ihrer Tugendmahnung gegen Flanea bis zur Akzeptierung der Stieftochter Ziproner und dem R a t , nach ihrem Tod die Partnerin seiner Untreue, die verlassene Jerome, zu heiraten. Das mögen jeweils vorbildliche Z ü g e sein, aber das Themenspektrum ist damit sicher nicht vollständig bestimmt. Vielleicht ist es doch stärker an den Weg des leidenden Minners gebunden, und man hätte Friedrichs moralisches Verhalten und Gefühlsleben in den Blick zu nehmen. D a ist es nun die Jeromehandlung, die ein eigentümliches Licht auf den Helden wirft. Auch Jerome 5 zeigt, wie Pragnet, übernatürliche Züge, aber sie ist deutlich eher Fee als verzauberte Jungfrau. Das Zusammentreffen des schon erwarteten 5

O b diese Jerome-Partien interpoliert sind, worauf ihr Fehlen im erhaltenen Teil der knapperen Redaktion der Handschrift I 1 deuten könnte, ist hier nicht wesentlich, weil es j a u m die Vulgatfassung des R o m a n s geht. (Allerdings fehlte einer Urfassung ohne J e r o m e doch sehr viel,

143

Paul

Sappler

herumirrenden Helden in der Wildnis mit einer schönen Frau, die bereit ist, sich ihm hinzugeben, ihre nicht-menschliche Seinsart als Zwergenkönigin, das magische Festhalten Friedrichs in ihrem Reich mögen zum Beweis genügen. Strukturell gesehen schaltet sich diese Zauberin Kirke als Hindernis in den Weg des Helden. Er läßt sich auf die Verbindung ein im Sinn einer List, die ihm zum Entkommen verhelfen soll. Das hat dann auch mit Moral zu tun, zuerst als ein Verstoß gegen die Treue zur >Verlobten< Angelburg, dann als ein Schuldigwerden an Ziproner als Kind der Liebe. A m eindrücklichsten für den Zeitgeschmack 6 scheint aber gewesen zu sein die entstehende starke seelische Bindung an die Frau, teilweise über die geliebte Tochter, ein Konflikt von Bindungen, der am Schluß durch die zweite Heirat und sonst wohl nicht zu lösen ist. O b dem Autor der Schluß gelungen ist, mag ich nicht beurteilen; immerhin muß er Angelburg sterben lassen, um so etwas wie die Lösung nach der Lösung zu etablieren. O b der leidende Minner der Suchfahrt die Jerome am Schluß aus allmählich entstehender Liebe, aus Mitleid, Anständigkeit oder wegen des gemeinsamen Kindes heiratet, ist wohl die falsche Frage. Vielleicht ist der Gefühlskonflikt entstanden beim Auserzählen und genauen Beobachten einer interessanten Konstellation. Mensch und andersartiges Wesen: genauso wie das Problem der Größe und Art der Nachkommenschaft irgendwann geklärt werden muß (die schwere Geburt Ziproners), so geht es irgendwann nicht mehr an, die Verführerin als Durchgangsstation glatt hinter w ä h r e n d ihr Wegfall in einer kürzenden U m a r b e i t u n g leichter zu erklären wäre.) Für die Beurteilung der Ursprünglichkeit ist in Betracht zu ziehen: 1. D i e Tatsache der E r g ä n z u n g der die Γ - R e d a k t i o n vertretenden Handschrift durch Vulgata-Partien erleichtert die B e w e r t u n g nicht, denn die Z u f ü g u n g e n sind zu spät, als daß sie die Entstehung der V u l g a t - R e d a k t i o n zeigen könnten (vgl. Herbert Wegener, Studien z u m Friedrich v o n Schwaben Diss. Kiel 1943, S. 7). 2. D a ß Friedrich in V und einer anderen Handschrift während der Suchfahrt den N a m e n Wieland trägt, kann aus d e m K o m p l e x der Wielandsage ererbt u n d dann in Teilen der Ü b e r lieferung v e r l o r e n g e g a n g e n , kann aber auch j u n g e Assoziation über das S c h w a n j u n g f r a u e n m o t i v sein. 3. Plusverse in der Vulgata sind in einigen Fällen deutlich sekundär (z. B . 5853— 5868), in einigen ursprünglich (z. B . 4 3 0 5 - 4 3 1 2 ) ; soweit ich sehe, ist dies aber für keine Partie, in der a u f J e r o m e angespielt w i r d , zweifelsfrei zu entscheiden. D u r c h g ä n g i g e Bearbeitungsschichten lassen sich w o h l fürs erste nicht dingfest machen, auch wenn einige Punkte v o n Wegeners Stiluntersuchung dafür sprechen. 6

D i e D a t i e r u n g ins 14. J a h r h u n d e r t geht v o m terminus post q u e m 1314 aus, d e m Fertigstellungstermin v o n J o h a n n s von W ü r z b u r g R o m a n »Wilhelm v o n Österreich^ der v. 4827 genannt und aus d e m entlehnt wird. Nichts spricht d a g e g e n , w o r a u f mich Hans-Joachim Ziegeler hinweist, den »Friedrich v o n Schwaben< ins 15. Jahrhundert zu rücken, vielleicht in Kreise k u n d i g gelehrter rückschauender Literaturliebhaber w i e Püterich v o n Reichertshausen, denen m a n die M i n n e r k a t a l o g e u n d das Einbauen v o n Versatzstücken aus klassischen R o m a n e n w o h l zutrauen darf. Für das Entstehen der Redaktionsunterschiede braucht keine lange Texttradition veranschlagt zu werden.

144

>Friedrich von

Schwaben

sich zu lassen, jedenfalls nicht bei Friedrich, dieser tadelsfreien Persönlichkeit neuen Stils. Reiches Innenleben und Feinfühligkeit kommen häufig zu Tage, z. B . bei der zartfühlenden Ablehnung von Osanns Antrag. Eigentümlich auch, wie im Freudenmoment der endgültigen Erlösung (ab 4630) der Gefühlsreichtum zu uns burlesk vorkommenden Ohnmächten fuhrt, die die tragischen Verwicklungen um vermeintlichen Tod (vom Typ >Pyramus und ThisbeJoncker Jan wt den vergiere< Eine Skizze. — Im Anhang: Transkription des >Joncker Jan< nach dem Amsterdamer Druck

I. Im folgenden soll von zwei Texten die Rede sein, die Bearbeitungen eines dritten, nicht erhaltenen, sind: >Johann aus dem BaumgartenJoncker Jan wt den vergiereJohann< im Prolog in der Bitte an Gott, daß [. . .] diz buch werde vollenbraht, Daz ich zu schriben habe gedaht U z flemschen in unser dutsche sieht, Zurbrochen rime machen reht. (v. 25—28)

Wüßten wir, wie v. 28 zu verstehen ist, könnten wir vielleicht Genaueres über den Charakter der nl. Vorlage aussagen. Handelte es sich bei ihr bereits um eine »Prosaauflösung mit durchschimmernden Reimen«, oder sah der deutsche Bearbeiter »die flämischen Reime wie mundartliche Unart an, der man nicht folgen dürfe«?2 1

Johan uz dem virgiere. Eine spätmhd. Ritterdichtung nach flämischer Quelle nebst dem Faksimileabdruck des flämischen Volksbuches Joncker Jan wt den vergiere, hg. und eingeleitet v. R o bert Priebsch, Heidelberg 1931 (Germ. Bibl., 2. Abt., 32). - Da das Faksimile nur schwer lesbar ist, hat Walter Haug mich um eine Transkription des mnl. Textes gebeten. Sie ist als Anhang diesen Ausführungen beigegeben. Ich zitiere den Joncker Jan< nachfolgend mit Kapitel- und Zeilenangabe nach der Umschrift. - Was den Titel des deutschen Werkes betrifft, so hat schon der Schreiber ihn nicht verstanden (er schreibt Johan vßer dem friegere), was mir die Lizenz gibt, ihn einzudeutschen.

2

Beide Vermutungen bei Edward Schröder, Der Text des Johan uz dem VirgiereParzival< v. 337,25 heißt rtme brechen >zwei Reimzeilen verschiedenen Sätzen zuteilen< (vgl. B M Z Bd. 2/1, S. 703), in Heinrichs von Krolewiz >Vaterunser< v. 3979 >den Vers verderben< (vgl. ebd.). In der >Apokalypse< Heinrichs von Hesler tauchen Wendungen auf wie rim oder sin zubrechen (v. 1340), sin zubrechen (v. 1452), satz des rimes zubrechen (v. 1360). Dies ist nach Fedor Bech, Über Nicolaus von Jeroschin, Germania 7 (1862), S. 74—101, hier S. 81, darauf beziehbar, »daß entweder die Ebenmäßigkeit der zu einem Paar verbundenen Verse oder daß der Gleichklang der Endsilben gestört ist.«

146

>Johann aus dem Baumgarten< und >Joncker Jan wt den uergiere
Johann< haben wir einen Text vor uns, der nach autoritativer Meinung »aus zehnmal wiederholten, aber offenbar immer noch nicht verbrauchten Motiven« zusammengefugt ist3 und, darf man die Intensität, mit der sich die Forschung eines Werkes annimmt, als Gradmesser nehmen für dessen Wert, nicht eben bedeutend genannt werden kann. Nur zwei Gelehrte haben sich intensiv und produktiv mit ihm auseinandergesetzt: Robert Priebsch, der die Handschrift entdeckt und Auszüge daraus publiziert, Jahrzehnte später eine Gesamtausgabe veranstaltet und den Artikel im alten Verfasserlexikon geschrieben hat, 4 und Edward Schröder, von dem die einzige wirklich erwähnenswerte Rezension der Ausgabe sowie ein Aufsatz zu Text und Metrik des >Johann< stammt. 5 Was sonst noch darüber geschrieben worden ist, gelangt über den damals erreichten Forschungsstand nicht hinaus. Das gilt für die m o tivgeschichtlichen Ausfuhrungen van der Lees 6 wie für den Artikel im neuen Verfasserlexikon von Beckers. 7 Mein Versuch erstreckt sich auf eine Überprüfung der gängigen Datierungen der Texte und auf Bemerkungen zur Darstellungsweise und Struktur, wobei das deutsche Werk im Mittelpunkt steht. Zur ersten Orientierung sei auf die Inhaltsangaben zum >Johann< bei Priebsch, zum >Joncker Jan< bei Meyer und Debaene verwiesen. 8

3

Helmut de Boor, Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Zerfall und Neubeginn. 1. Teil:

4

Deutsche Handschriften in England, beschrieben v. Robert Priebsch. Bd. 1, Erlangen 1896,

1250-1350, München 1962 (de Boor, LG, Bd. 3/1), S. 126. S. 98 (Kurzbeschreibung der Handschrift), S. 241-285 (Auszüge); ders., Ausgabe (Anm. 1); ders. Johann aus dem VirgiereJoncker Jan< insgesamt: S. 89-95).

147

Manfred Günter

Scholz

II. Zur D a t i e r u n g 1) Forschungspositionen: Die verlorene nl. Versfassung wird, so vermutet Priebsch, 9 spätestens im frühen 14. Jahrhundert »oder sagen wir rund u m 1300« entstanden sein. Beckers 10 wiederholt diesen letzteren Datierungsvorschlag und versieht ihn mit einem Fragezeichen. Der mhd. Text wird von Priebsch 11 zunächst ins 14. Jahrhundert, dann genauer in dessen zweite Hälfte verlegt. Schröder 12 hält aufgrund der Erwähnung verschiedener Realien im Text diese Datierung fur die frühestmögliche, Stil und Metrik sprächen nicht gegen eine spätere Ansetzung. In einem neuen Beitrag vermißt Beckers 13 zwingende Argumente für Priebschs Datierung und erwägt, ob man das Werk nicht mit dem Heidelberger Literatenkreis in Verbindung bringen, d. h. in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts verlegen könne. Was die Datierung der Handschrift angeht, übernimmt er freilich kommentarlos die Angabe Priebschs: Mitte des 15. Jahrhunderts. 14 Zur Entstehungszeit der nl. Prosa äußert sich Priebsch nicht direkt; seine Frage, ob in einem bestimmten Z u g des Textes eine Verbeugung vor der spanischen Oberherrschaft zu sehen sei, läßt aber auf eine relativ späte Ansetzung schließen.15 Debaene nun hat in dem 1516 erschienenen Volksbuch >Margarieta van Lymborch< Übernahmen in Motivik und Wortlaut aus dem >Jonkker Jan< und damit für diesen einen terminus ad quem festgestellt. 16 Die Publikation der Prosa schließlich wird durch die Tätigkeit des Druckers H. J . M u l ler auf die Zeit zwischen 1570 und 1617 eingegrenzt, nach Priebsch erfolgte sie »doch vielleicht erst u m 1590«, eine Angabe, die von Beckers übernommen wird. 17 9

Ausgabe (Anm. 1), S. 23.

10 2 11

V L (Anm. 7), Sp. 794.

Ausgabe (Anm. 1), S. 49f.

12

R e z . Priebsch (Anm. 5), Sp. 2177f.

13

Hartmut Beckers, Frühneuhochdeutsche Fassungen niederländischer Erzählliteratur im Umkreis des pfalzgräflichen Hofes zu Heidelberg u m 1450/80, in: Miscellanea Neerlandica (FS J . D e schamps), B d . 2, Leuven 1987, S. 237-249, hier S. 248. Den Hinweis auf diesen Beitrag verdanke ich Walter Haug.

14

Vgl. Priebsch, Ausgabe (Anm. 1), S. 29; Beckers, 2 V L (Anm. 7), Sp. 794; ders., Frühnhd. Fas-

15

Vgl. Priebsch, Ausgabe (Anm. 1), S. 8.

sungen (Anm. 13), S. 247. 16

Vgl. Debaene (Anm. 8), S. 94f. und S. 310f. Seine These einer Verfasseridentität braucht uns nicht zu beschäftigen.

" P r i e b s c h , Ausgabe (Anm. 1), S. 61; Beckers, 2 V L (Anm. 7), Sp. 794; ders., Frühnhd. Fassungen (Anm. 13), S. 247.

148

>Johann aus dem Baumgarten< und >Joncker Jan wt den vergiere
Johann< und im >Joncker Jan< vorkommenden Namen aufgestellt (mit Stellenangabe der Erstnennung) und anschließend danach gefragt werden, ob der eine oder andere unter ihnen etwas fiir die Datierung der Werke hergibt. >Johann
Joncker Jan
Joncker JanJohannJohann< skizziert Petra K e l l e r m a n n - H a a f , Frau und Politik im Mittelalter. Untersuchungen zur politischen R o l l e der Frau in den höfischen R o m a n e n des 12., 13. und 14. Jahrhunderts, G ö p p i n g e n 1 9 8 6 ( G A G 456), S. 2 3 5 - 2 3 7 .

149

Manfred Günter

Scholz

verwandter Motivik, dem frz. >Richars Ii Biaus< und dem nl. >Riddere metter Mouwen< begegnet der N a m e Ciarisse bzw. Ciarette.19 Hat der Schreiber die >korrekte< F o r m gegen den R e i m wieder eingesetzt? Sei es, daß dieser N a m e schon d e m Original angehörte und der Prosaautor ihn auf die Schwester des englischen Königs übertrug und für die Kaiserstochter einen neuen N a m e n erfand, oder sei es, daß bereits in der nl. Vorlage der N a m e Gloriande stand und der deutsche Dichter, da er die Schwester des K ö n i g s von England nicht benötigte, ihn in Clarie änderte - beide N a m e n lassen eine historische Anbindung nicht zu und können daher nicht als Datierungskriterium dienen. Kaiser S i g i s m u n d : »Unwillkürlich denkt man da zunächst an den deutschen K ö n i g und römischen Kaiser dieses N a m e n s , aber damit k ä m e man für das mnl. Original und dessen mhd. Bearbeitung bereits in das 2. und 3. Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts, wozu Komposition, Sprache und Versmaß selbst der erhaltenen Bearbeitung übel paßten.« 20 N i m m t man die Kaiser-Titulierung unserer Texte ernst, müßte man sogar ins 4. Jahrzehnt gehen, denn Sigismund wurde erst 1433 zum Kaiser gekrönt. 2 1 Heidenkämpfe gehören so sehr zum tradierten Motivarsenal, daß man die Rolle, die sie in den beiden Werken spielen, k a u m auf Sigismunds Auseinandersetzungen mit den Türken (1396 Nicopolis, 1427/28 Ungarn) zurückführen muß. Sigismund war ein bewunderter und beliebter Herrscher, was nicht zu dem negativen Kaiserbild in >Johann< und >Joncker Jan< stimmt (dazu s. u.). M a n müßte den Autoren völlige Unsensibilität im U m g a n g mit politischen Sachverhalten unterstellen oder eine größere zeitliche Distanz zum realen Kaiser Sigismund postulieren. Eine dermaßen späte Entstehung des Originals und seiner Bearbeitung im >Johann< ist aber wenig wahrscheinlich. Hinzu k o m m t , daß von den in den Texten b e g e g nenden N a m e n allein der des spanischen Königs (nur in der Prosa) eine gewisse Entsprechung in Sigismunds Zeit hätte, nämlich in K ö n i g Alfons V . von Aragon (1396—1458).22 Mit Priebsch wird Sigismund also »als ein bloßer Phantasiename zu betrachten sein«. 23 Wenn es stimmt, daß die Handschrift des >Johann< u m 1450 angefertigt worden ist, wäre womöglich die Einzelüberlieferung mit dadurch zu erklären, daß ein als schwach gezeichneter Kaiser Sigism u n d für das 15. Jahrhundert eher ein Rezeptionshindernis gewesen ist. Den Schlüssel dafür, unsere Texte an bestimmten politischen Konstellationen festmachen zu können, glaube ich im N a m e n von Johanns/Jans Vater gefunden " V g l . Priebsch, Ausgabe (Anm. 1), S. 21. 20

Ebd., S. 23.

21

Vgl. hierzu und zu Folgendem Heinrich Koller, Sigismund (1410-1437), in: Helmut B e u m a n n

22

Vgl. E. Säez, R . Manselli und W . R ü e g g , A . [Alfons] I. (V.), in: L e x . d . M A , B d . 1, 1980,

23

Priebsch, Ausgabe (Anm. 1), S. 23.

(Hg.), Kaisergestalten des Mittelalters, München 1984, S. 277-300. Sp. 401-403.

150

>Johann aus dem Baumgarten< und >Joncker Jan wt den vergiere
Partonopier und Meliur< heißt es v. 277, daß der Held grave zAngies und ze Bleis (im frz. Original Angiens und Blois) war. 2 4 D i e nl. Prosa — und sicher auch die Vorlage des >JohannJohann< standen. U n d daraus sollte man folgern dürfen, daß Entsprechendes für die übrigen N a m e n im >Joncker Jan< gilt. D e r deutsche Dichter m u ß t e Johanns adlige A b k u n f t glaubhaft machen, genauer: seine Verbindung mit einem Königshaus, u n d dafür genügten i h m die Fakten, daß Johanns Vater Graf R u p r e h t von Artois und seine Mutter eine Schwester des Königs von Frankreich war. Es ging i h m i m Gegensatz zu seiner Vorlage, in der die Gattung Individuairoman stärker mit zeithistorischen Einsprengseln versehen war, m e h r darum, die Geschichte eines Helden zu erzählen, Johanns aus dem Baumgarten. So konnte er auf die übrigen N a m e n verzichten, zumal ihm die realen Verhältnisse im N o r d w e s t e n Frankreichs räumlich wie zeitlich zu fern lagen. Wenn die Vermutung etwas für sich hat, daß die Ereignisse im Artois w ä h rend des zweiten bis vierten Jahrzehnts des 14. Jahrhunderts das Vorbild abgegeben haben f ü r die Darstellung in unseren Texten, 41 dann darf m a n die Entstehung des nl. Originals gegenüber der Vermutung Priebschs (»rund u m 1300«) u m einige Dekaden nach vorn rücken und als terminus post quem ca. 1335 ansetzen. Es sei darauf aufmerksam gemacht, daß in einem in picardischem Dialekt verfaßten Gedicht von ca. 1340, >Les Voeux du HeronJoncker Jan< 40 41

42

A. Leguai und G. Fournier, B o u r b o n , in: Lex.d.MA, Bd. 2, 1983, Sp. 501-504, hier Sp. 502. Im nachhinein bin ich Arne Holtorf fur seine im Tübinger Kolloquium gestellte Frage, ob der >Johann< nicht im Interesse eines französischen Grafengeschlechts abgefaßt w o r d e n sein könnte, sehr dankbar. Vgl. Bartlett Jere W h i t i n g , T h e Vows of the Heron, Speculum 20 (1945), S. 261-278.

154

>Johann aus dem Baumgarteru und >Joncker Jan wt den vergiere
Königstochter von Frankreichs Was die exakte Wiedergabe historischer Fakten anbelangt, finden sich übrigens auch dort kleine >SchönheitsfehlerstimmenKönigin von Frankreich^ wenngleich in anderer Weise, zu spüren sind)? Oder müssen wir den radikalen Sprung wagen und die beiden Versfassungen weit ins 15. J a h r hundert hinein verschieben, wie es aus anderen Gründen Beckers neuerdings für den >Johann< erwogen hat? Für die nl. Version scheint sich dies freilich zu verbieten, da Priebsch recht überzeugend dargelegt hat, daß der gereimte >Joncker Jan< eine Hauptquelle für den >Esmoreit< gewesen ist 44 und die Abele speien von der Literaturgeschichte in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert werden. 45 Für den >Johann< wäre bei einer Spätdatierung auch das Sigismund-Problem neu zu diskutieren, und man müßte sich den Fragen stellen, ob, aus welchen Gründen, in welchem R a u m , in welcher literarischen Situation eine anti-kaiserliche Intention denkbar wäre. Zuvor müßte, Beckers' Anregung folgend, 46 die Handschrift des >Johann aus dem Baumgarten< noch einmal intensiv auf sprachliche Datierungskriterien hin untersucht werden, eine Aufgabe, die ich nicht zu leisten vermag. U n d es wäre 43

Vgl. den Beitrag Frieder Schanzes in diesem Band.

44

Vgl. Robert Priebsch, Ein Beitrag zu den Quellen des Esmoreit,

Neophilologus 7 (1922),

S. 57-62. 45

Vgl. Gerard Knuvelder, Handboek tot de Geschiedenis der Nederlandse Letterkunde, Bd. 1,

46

Vgl. Beckers, Frühnhd. Fassungen (Anm. 13), S. 248.

's-Hertogenbosch 3 1964, S. 202.

155

Manfred

Günter

Scholz

zu überprüfen, inwieweit die in diesem Beitrag vorgebrachten Indizien für eine historische Anbindung der Texte sich untermauern und womöglich vermehren lassen.

III. Zur D a r s t e l l u n g s w e i s e und S t r u k t u r des >Johann< Wegen des Fehlens der Vorlage ist die Eigenleistung des deutschen Dichters nicht exakt auszumachen. Der >Johann< und die nl. Prosa unterscheiden sich nicht nur in bezug auf Detailzüge, sondern auch im Hinblick auf ganze Episoden. Daß der deutsche Autor die auf Politisches weisenden Momente reduziert hat, habe ich oben zu zeigen versucht. Auch mit didaktischen Elementen scheint er entsprechend verfahren zu sein: so heißt es gegenüber der ausführlichen Ritterlehre des Kaisers in der Prosa (VII, lOff.) im >Johann< nur lapidar: Ritterreht erzalte im der keiser klug, D a mide lant uns haben gnug. (v. 1083f.)

Insgesamt dürfte — so der Forschungskonsens — der deutsche Verfasser mit seiner Quelle freier umgegangen sein, als es die Bearbeiter mnl. Vorlagen sonst meist getan haben. Dennoch muß, wenn im folgenden von besonderen Leistungen des >JohannJohann aus dem Baumgarten< und >Joncker Jan wt den vergiere
Joncker Jan< V, 46ff.). A b e r die mere, die bevorstehen, sind in der Tat swere, seine prophetischen A h n u n g e n w e r d e n sich bald b e w a h r h e i t e n . Dieses interessante Textdetail steht in einer biblischen Tradition: Es handelt sich u m S y m p t o m e , die P r o p h e t e n eigen sind u n d sich zumal bei Daniel finden. 4 8 Als keiner der A n w e s e n d e n es über sich bringt, gegen den riesenhaften H e i d e n k ö n i g Fursin zu k ä m p f e n , bricht ein allgemeines W e h k l a g e n los; die M ä n n e r , die eigentlich g e f o r d e r t w a r e n , weinen (v. 6 7 9 f f ) , die Frauen beweinen den m a n g e l n d e n W a g e m u t der M ä n n e r (v. 685ff.). D o c h d a m i t nicht g e n u g : D i e Ehre der Christenheit liegt vollends darnieder, als der Heide d e m Kaiser die K r o n e v o m H a u p t reißt u n d i h m auf den Fuß setzt (v. 691ff.). 49 O b dieser E n t e h r u n g , die in der F o r d e r u n g Fursins auf Ü b e r g a b e der kaiserlichen Herrschaft m ü n d e t , weinten al zu male/Herzogen, graven, amirale (v. 701 f.). Clarie, die das Ganze lange g e n u g m i t angesehen hat, läßt sie alle schrien, weinen (v. 745) u n d begibt sich zu J o h a n n , den sie m i t ihren heißen Tränen weckt (v. 763ff.). Als er sie erblickt, f r a g t er mitfrolichen sinnen (v. 775) nach d e m G r u n d ihres Weinens. N a c h i h r e m Bericht (auch die Dislozierung der K r o n e e r w ä h n t sie, v. 803ff.) schickt J o h a n n sie in die V e r s a m m l u n g zurück. Sie k o m m t , w ä h r e n d der Kaiser, die K r o n e auf seinem Fuß, noch i m m e r weint, mit lachendem gruze daher, eine Diskrepanz, die den Kaiser aufs höchste verw u n d e r t (v. 853ff.). A u f g r u n d der M i t t e i l u n g seiner Tochter, daß der fundeling sich d e m K a m p f stellen wolle, w i r d der Kaiser freuden vol (ν. 867). D e n n o c h weinen, als Clarie ein zweites Mal, n u n z u s a m m e n mit J o h a n n , v o r die Versammelten tritt, noch i m m e r alle: Noch weinde babst und cardinale, Konige, bischove, herzogen, frien Sach man heimeliche schrien, Patriarchen, ritter, amirale Weinden dannoch alzumale, 48

Vgl. D n 7,28 et fades mea mutata est in me\ 8,18 collapsus sum\ 8,27 langui, et aegrotavi per dies; 10,8f. et non remansit in me fortitudo,

sed et species mea immutata est in me, et emarcui, nec habui

quidquam virium [. . .] iacebam consternatus super faciem meam. Vielleicht ist die E r w ä h n u n g Daniels in der L ö w e n g r u b e i m >Joncker Jan< (XII, 49f.) ein Indiz dafür, daß es sich hier u m eine b e w u ß t e biblische Anspielung handelt. — D e n Hinweis auf Daniel gaben m i r Teilnehmer des T ü b i n g e r K o l l o q u i u m s nach der Diskussion. 49

Priebsch, Ausgabe ( A n m . 1), A n m . zur Stelle, scheint Widersprüche zu späteren E r w ä h n u n g e n des Details zu sehen. Hier w i e d o r t d ü r f t e aber g e m e i n t sein, daß der H e i d e d e m Kaiser (nicht sich selbst) die K r o n e auf den Fuß setzt — äußerstes Zeichen der E n t e h r u n g !

157

Manfred Günter

Scholz

Jungfrauwen unde frauwen here Weinden uzer mazen sere. U n d do disse zwei lachende quamen, Vor ein wunder si ez namen. (v. 946—954)50

N a c h d e m letztlich feststeht, daß Johann den K a m p f gegen den Heiden aufnehmen wird, ist es nur konsequent, daß er die O r d n u n g restituiert, indem er d e m Kaiser die K r o n e wieder aufsetzt (v. 1019f.). Im >Joncker Jan< fehlt das K r o n e n - M o t i v ganz, und der Kontrast der Affekte ist nur sehr schwach ausgebildet. Alle schweigen mit gesenktem Haupt und sind seer bedruckt, als sich herausstellt, daß keiner zu kämpfen w a g t (V, 9 3 f f ) ; Gloriande, die zusammen mit J a n in die Versammlung zurückkehrt, findet ihren Vater met groote fantasiert [. . .] bevaen, sie selbst ist, da sie von Jans Bereitschaft weiß, blijde, und dieses Gefühl bemächtigt sich auch des Kaisers, als er von Jans Entschluß hört (VI, 47ff.). b) Der Gegensatz H u n g e r n — E s s e n : Schon anderthalb Jahre liegen die Heiden vor der Stadt, den R ö m e r n gehen die Vorräte aus. Hunger und Durst in R o m , so der Erzähler, seien größer gewesen, als er zu berichten gewillt sei (v. 1917ff.). Wenigstens soviel wolle er sagen — und er setzt gleich mit einem eindrucksvollen Kontrast ein —: a m Gründonnerstag, Als got mit sinen jungern az Und in bot daz gesegente maz, D o solten die kristen frolich sin; D o haden sie weder brot noch win. (ν. 1925—1928)

U n d a m Ostertag selbst scheint der zuletzt angesprochene Gegensatz noch einmal auf: Da sie nach ir herzen wal Mit luste wolten frolich sin: D o funden sie weder brot noch win, Noch kom, mel ader brot, Der hunger schuf vil manigen dot. (ν. 1998-2002)

Sehr eindrücklich wird dann bei der Schilderung des Ausritts des als Mönch verkleideten J o h a n n ins feindliche Lager der Kontrast des hungrigen Helden und der tafelnden Heidenkönige ausgemalt. Anschaulich wird beschrieben, wie 50

Vgl. dazu auch ebd., S. 26; problematisch ist demgegenüber Priebschs Behauptung ebd., S. 10, für die Freude v e r m ö g e der mhd. Autor keine starken Akzente zu setzen. - Die schon einmal (s. o. S. 155) zum Vergleich herangezogene >Königstochter von Frankreich< weist auch in der exzessiven Darstellung des Weinens und der Klage Parallelen zum >Johann< auf; vgl. auch dazu den Beitrag Frieder Schanzes im vorliegenden Band.

158

>Johann aus dem Baumgarterx

und >Joncker Jan wt den vergiere
Botschaft< hinauszögert, bis man ihn bewirtet hat, und wie er während der Mahlzeit seine Kutte mit Brot, Fleisch und anderen Köstlichkeiten füllt. Die Heiden können sich nur darüber w u n d e r n , daß einer so viel trinken und essen kann (v. 2029ff.). Im >Joncker Jan< fehlt der einleitende Vergleich mit dem Abendmahl, auch von Jans H u n g e r ist nicht die R e d e . Die Szene seiner Verproviantierung bei den Heiden aber ist ähnlich ausfuhrlich geschildert wie im >Johann< (XIII, 22ff.). Dagegen heißt es nach seiner R ü c k k e h r in die Stadt nur, daß er zijn Broodt ende Vleesch voort ghehaelt habe (XIII,62f.). Dieser Z u g nun erscheint im deutschen Text zu einer »hübschen und h u moristisch gefärbten Austeilungsszene« 51 ausgemalt. Clarie, die auch schon Tage nichts mehr zu sich g e n o m m e n hat, wird zuerst von Johann verpflegt: Vil edeliche beiz sie dratt,s2 aber sie langt dermaßen zu, daß Johann sie tadeln m u ß : sie hätte w o h l auch ihren meiden etwas davon abgeben können; ob ihrer allzumenschlichen A n t w o r t m u ß er lachen und gibt ihr noch ein Brot; das von ihr Versäumte holt er dann selbst nach (v. 2150ff.). Da k o m m t Lamelot mit einem A r g u m e n t daher, das längst vergessen schien. Bei seinem ersten Z u g gegen die Heiden hatte Johann Lamelots Bruder erschlagen (v. 309ff.). Dies wirft ihm Lamelot nun vor, o b w o h l er sich längst mit Johann versöhnt hatte (vgl. v. 1754ff.). Für die Erschlagung seines Bruders bietet ihm Johann Gold und Ländereien an, doch Lamelot ist dies zu wenig. Johann: Crist geseinl waz wolt ir dan? Lamelot: Gebent mir die helfte von eime brode,/So ist gebezzert wol der dode (v. 2173ff.). »Ein völliger Widerspruch«, meint Priebsch zu dieser Wiederaufnahme des Bruder-Motivs; mir scheint eher, daß der Dichter hier psychologisiert und Lamelots Verhalten funktional einsetzt. 53 D e r Verräter Gaveron, o b w o h l zu Tode hungrig, schämt sich, u m Brot zu bitten, aber - so der Erzähler und J o h a n n — er hätte auch keines b e k o m m e n (v. 2199ff.). Die restlichen zwölf Brote läßt Johann Clarie verteilen; es stellt sich heraus, daß jeweils vier Personen Brot Kume so groz als eins hunes ei (v. 2214) zur Verfugung steht. Da fällt Johanns Entschluß, noch einmal in größerem R a h m e n auf P r o viantsuche zu gehen. Nachdem diese erfolgreich verlaufen ist (nur knapp erwähnt im >Joncker JanJoncker Jan< auch dieser Gegensatz k a u m ausgeführt. In der Auseinandersetzung zwischen Jan u n d dem Riesen begegnet das K o n v e r sions-Motiv nur einmal im Ansatz, als der Riese Jan auffordert, Mahon u m Vergebung für die über ihn verbreiteten Verleumdungen zu bitten (VIII, 40f.). D e r Ratschlag des Verräters und die Widerrede des Helden haben im nl. Werk eine Entsprechung (XII, 32ff.). W o das M o t i v im >Johann< aber ein drittes Mal höchst reizvoll ausgespielt wird, fehlt es i m >Joncker Jan< ganz (vgl. X V ) . d) Der H e l d u n d seine >Partei< (Clarie u n d Johanns Vater) auf der einen u n d der K a i s e r auf der anderen Seite sind im >Johann< schärfer kontrastiert als in der nl. Prosa. Da f ü r dieses Verhältnis jedoch ein anderer Stilzug als dominant festzustellen ist, soll es erst in den anschließenden Passagen dieser Studie angesprochen werden.

54

Ebd., S. 16.

160

>Johann aus dem Baumgarten< und >Joncker Jan wt den vergiere
Die banier die ich bi uch vant, Die ist verwapent deme glich, Als sie fürte in Frankrich Ein hochgelobter edel man, Den wir lange vloren han. Lebte noch der helt mere, Ich wen er uwer vader wereJohann aus dem Baumgarten< und >Joncker Jan u>t den vergiere
Joncker Jan wt den vergiere
Johann aus dem Baumgarten< und >Joncker Jan wt den vergiere
Johann aus dem Baumgarten< und >Joncker Jan wt den vergiere
Johann aus dem Baumgarten< und >Joncker Jan wt den vergiere
Johann aus dem Baumgarten< und >Joncker Jan wt den vergiere
Joncker Jan wt den

vergiew

w o n d e n / e n d e w o r d e n alle drie in een schoon C a m e r gheleyt. D e Keyser q u a m se daghelijckx selue besoecken tot dat zy genesen w a r e n . D e schoone Gloriande quamse oock dagelijcx besoecken ende dat o m heer Jans wille/ende h a d d e n 50 menich Amoreuslijck w o o r t te gader h o o p e n d e w a n n e e r dat het oorlooch g h e daen waere/dat zy dan m e t malcanderen versaemen zouden nae de ordinantie der heyliger kercken. D e Sarasijnen sloeghen Tenten ende Pauwelioenen v o o r de Stadt/ende swoeren van daer niet te scheyden zy en h a d d e n de Stadt g h e wonnen.

D a t xij. Capittel. H o e de H e y d e n e n die Stadt bevochten ende h o e | sy veel schade leden van den H e y d e n e n [rede: Kerstenen] die seer | w t der Stadt schooten. D E Soudaen van Persen m e t alle zijn heeren/doen si een tijt v o o r de Stadt 5 geleghen h a d d e n o u e r d r o e g e n ouer een dat zy de Stadt b e s t o r m e n z o u d e n . Des anderen daechs d o e n den dach a e n c o m e n was/ende de wachter gheblasen h a d de/zoo stonden de Sarasijnen al bereedt o m aende Stadt te vallen/zy q u a m e n vast aen de grachten der steede o m die te v o l l e n / m e t g r o t e n gedruyse/ende de Kerstenen schoten seer w t e r Stadt alzoo datter veel d o o t bleuen. D e t w e e S o u 10 danen dreven de H e y d e n e n vast aen/ten lesten zoo w e r t de Soudaen van Perssen geschoten d o o r zijnen a r m . Ende de C o n i n e van M o m b r a n t was aen d a n der sijde vander stadt/daer h y g e w o r p e n w o r - [ B l . 12 r ]de m e t eenen Steen/alzoo dat h y v o o r d o o t in zijn Tente g h e d r a g h e n w o r d e D o e n de H e y d e n e n dit sagen zo weecken zy achterwaerts ende lieten t s t o r m e n staen. D e Keyser m e t de 15 heeren vander Stadt w a r e n seer blyde/de H e y d e n e n beclaechden de g r o o t e schade die sy geleden h a d d e n / w a n t daer veel heeren ghebleven w a r e n . D e Soudaen van E g y p t e n zeyde/zy en sullens niet tegen m ö g e n h o u d e n / w a n t zy en h e b b e n gheen victalie binnen/aldus zy m o e t e n h e m o p gheuen o f t hen seluen d o o t vechten. D o e n zeyde de A m m i r a e l van Palerne/dat is certeyn 20 waer/aldus laet ons g o e d e w a k e h o u d e n / d a t zy ons niet onversiens o p den hals en c o m e n / o f t dat hen geen victaelgie toe g h e v o e r t en w o r d e . Ter wijlen dat de Sarasijnen v o o r de Stadt laghen soo vielen de Kerstenen dickwils u y t ter Stadt ende schermutsten teghen de H e y d e n e n daer zy prijs behaelden/maer zy w a e ren zoo machtich niet dat zy de H e y d e n e n volle slach dorsten leveren/hier en 25 binnen begonste die van binnen ghebreck van victaelgie te lijden/doen ginck de Keyser m e t zijn h o o g h e leden te rade/hoe zijt best aen leggen souden ende/seyde: G h y heeren h o e sullen w i j t m a k e n / w a n t ons victalie is ten e y n d e / e n d e w y zijn zo vast v a n d e n Sarasijnen besloten dat ons niet toe c o m e n en mach/ten w a e r e d o o r de sonderlinghe gratie Gods. D o e n d e heeren dit h o o r d e n sweeghen 30 zy alteghader stille sonder G o u w e r o n ende zeyde: Wildy v o l g h e n m i j n raedt w y m o g h e n t w e l d o e n sonder schade. D e Keyser zeyde laten h o r e n / h y mach 193

Manfred Günter

Scholz

sulcx zijn w y sullens volghen. Gouweron zeyde: ouermits dat w y van niemant geen hulpe en verwachten/zo ist beter dat w y onse Wet laeten varen ende houden aen de Wet van Mahumet/dan sullen w y met Vreden mögen leuen want ist dat ons de Heydenen met crachte winnen zo sullen zy ons alle een schandelijcke doot doen steruen. Heere Jan dit hörende sprack ende seyde: Gouweron dat en sullen w y niet doen/wy en willen Gode niet verlaten/deeden w y dat zo waren w y sot. Doen sloech Gouweron hem voor zijnen mont/dat hem tbloet ter nuesen wtspranck/ende zeyde: ghy vondelinck een ander behoort voor u te spreken/ghy suit swijghen daer alle dese heeren zijn vergadert. Heer Jan soude hem gaerne weeder gheslaghen hebben/maer Gouwerons M a ghen hebbent belet/alzoo dat hijs niet doen en conde. Als de Keyser dat sach was hy heel ghestoort ende zeyde: Ay verrader ghy toont wel uwen aert/waerdy niet van zo hoge maghen ick soude ν noch heden by uwer kelen doen hanghen. Doen zeyde de Keyser tot Heer Jan: Mijn vrient nu gheeft ons raet wat ons beste zy ghedaen/uwen raedt willen w y volgen want ic begeer u te hebben tot mijnen rade/ende maket u Gouuernuer van deser Stadt. Heer Jan zeyde: Heer Keyser laedt ons alle ons betrouwen ende hope in Gode stellen hy sal ons ghebedt verhooren/want alzoo Daniel doen hy inden Put gheworpen was/bevrijt wert vande vreselijcke leeuwen/zo sal hy ons oock bevrijen van dese ongelovige Sarasijnen D a e r o m m e rade ick dat w y met berouw van onse sonden aenden Heere roepen/want al zijn deese Sarasijnen groot van ghetalle daerom en sullen wijse niet ontsien oft vreesen/want w y dienen Godt almachtich/die alle den hoop vernielen ende te niet doen mach met een luttel volckx/ghelijck w y tot veel plaetsen beschreuen vinden/daeromme sullen w y ons alle bereyden o m t'heylich Sacrament te ontfanghen/ende daer na sullen w y ons stellen o m den vyanden te wederstaen ende strijt te leveren ende metter hulpen Godts sullen wijse wt onsen lande verdrijven Dan sullen wy daer ghenoech vinden van dranck ende spijse. Doen de Heeren [Bl. 12v] dit hoorden seyden zy alle gemeenlijck dat sijt gaerne doen souden.

Dat xiij. Capittel. Hoe Heer Jan inder Sarasijnen leger tooch | als bode/ende versloech den Soudaen met noch | meer ander. D O e n den Vierden dach gepasseert was sprack Heer Jan totten Keyser ende zeyde/wy en hebben geen victalie meer inde stadt/daeromme heb ick voor m y genomen inde leger onbekent als bode te rijden om te sien wat zy daer maken/daeromme hout goede wachte/ick hoope corts met goede tijdinghe weder te keeren. De Keyser was daer mede te vreeden/maer seyde dat hy wel voor hem zien soude/want indien die heydenen ν kenden/zy souden ν eenen smadelijcken Doot doen sterven. Heer Jan ginc hem wapenen daer over dede hi 194

ιJohann

15

20

25

30

35

40

45

50

aus dem Baumgartew

und >Joncker Jan wt den vergiere
Johann aus dem Baumgartetu und »Joncker Jan u>t den vergiere
Johann aus dem Baumgarten< und >Joncker Jan wt den vergiere
freundlich sein, liebkosenJoncker Jan u>t den

vergieret

ste dochter v a n d e r werelt. D o e n de C o n i n c k dese w o o r d e n ghesproken h a d d e zo w a r e n der veel als de H e r t o g h e Gautier van Salabren ende meer ander Princen die dat selve volchden. M a e r n u w a r e n d e r o n d e r die de Keyser m e e r g h e h o o r s ghaf/ghelijckt ghemeenlijck in Heeren H o u e n is/die rieden den K e y ser anders ende zeyden ten w a e r e niet behoorlijck d a t m e n een vondelinc diem e n niet en wiste van w a t afcoemste h y w a r e soude geuen des Keysers d o c h ter. D e Keyser h a d d e h e m wel de macht hoochlijck te beghiften daer h y eenen schoonen staedt op leyden m o c h t e / h e e f t h y den Keyser vrientschap b e wesen/zoo moeste h y oock ghedachtich zijn/dat de Keyser h e m o p g h e v o e d t ende tot desen staet g h e b r o c h t ende verheven h e e f t / e n d e h e m de Ridderlijcke o o r d e g h e g h e u e n / d a e r o m m e en heeft h y den Keyser anders niet gedaen dan h y schuldich was te doen. Als de ander Heeren h o o r d e n dat de Keyser na dese meer luysterde/zoo h e b b e n zy g h e s w e g h e n ende zijn van daer gheghaen Als n u G o u w e r o n m e t zijn h o g e m a g h e n den keyser alleen h a d d e n / h e b b e n zy g h e zeydt aldus: Heer Keyser g e e f d y dese R i d d e r u dochter/zoo suldy oock u C r o o n verliesen/ende h y sal t h o f geheel in roeren stellen/wy siendt daghelijckx dat h y eenen g r o o t e n aenhange heeft ende veel vrienden m a e c k t / w a n t de g h e heele Stadt is h e m gonstlijcker dan zy u zijn/wanneer h y n u ν D o c h t e r h a d de/soude h y m e t zijn m e d e plegers veel te stouter zijn o m alle dingen nae zijnen sin te v o l b r e n g h e n / e n d e de Heeren m e t de g h e m e e n t e teghen u te v e r maecken/oock heeft h y daghelijckx m e t u D o c h t e r al heymelijck m e e r c o n versatien dant wel behoorlijck is. D a e r o m m e souden w y u w e r Mayesteyt raden o m een arger te schouwen dat g h y hen geeft eens edelmans dochter van desen Lande/ende gheeft daer m e d e zo veel dat h y daer een schoonen staet o p leyden m a c h / e n d e en wilt h y deese presentatie niet aenveerden/ende d a e r o m m e eenighe o p r o e r maecken/zo doet h e m heymelijc in een Kercker [Bl. 15 v ] w o r pen dat h y daer zijn Leven e y n d e dit is tseekerste dat g h y d o e n m o c h t / w i l d y anders m e t Vreden l e v e n / w a n t w y v o o r w a e r wel weeten. Indien w y [recte: hy] hier langher binnen u w e H o o v e blijft dat h y u w e dochter ter schänden b r e n ghen sal/hier m e e d e is de Keyser van den lieden ghescheyden o v e r p e y n s e n d e in h e m selven/alle de W o o r d e n die h y g h e h o o r t hadde. H e e r Jan siende den Keyser van verre c o m e n is h e m te g e m o e t gegaen/heeft h e m ghedaen de b e hoorlijcke reverentie ende zeyde: H e e r Keyser ick soude wel ootmoeedelijc [sie!] begeren tgene d a t m e n m y belooft heeft. D e Keyser zeyde: M i j n vriendt des en mach ic niet d o e n w a n t m i j n heeren en zijn daerinne niet te vreden. M a e r ick sal u eerlijcken versien m e t een schoone ende edele i o f v r o u w e / e n d e geuen u daer zoo veel m e d e / d a t g h y een schoonen staet suit m ö g e n o p h o u d e n . D o e n H e e r Jan dat h o o r d e w e r d t h y heel b e r o e r t van binnen ende zeyde: H e e r Keyser ick en begheere der J o n c v r o u w e n niet/ist dit dat g h y m y belooft h e b t / w a n n e e r t anders niet zijn en mach zo m o e t ick Patientie daer in h e b b e n / m a e r het is misselijck w a e r d t de s o m m i g h e noch ontgelden m o c h t e n die de

201

Manfred

Günter

Scholz

oorsake zijn/ende nu gheloue ick God dat ick niet rüsten en sal voor dat ick wete van wat geslachte dat ic gecomen ben. Hier mede is hy vanden Keyser 80 ghescheyden. Gouweron met zijn mede pleghers zijn byden Keyser ghecomen ende zeyden: Heer Keyser en hebben wijs u niet wel gheseydt/wanneer hy u Dochter hadde dat hy u dan soude meenen te reghieren/want hy is [recte: en oder Ausfall eines Satzteils

nach is] schaemt h e m n u niet h o o c h m o e d i g h e w o o r -

den in ν presentie te spreken. Daeromme zouden wy u Raeden om van hem 85 ontsleeghen te zijn/datmen hem heymelijck in een Kercker werpe dat het de gemeente niet en wiste want zy hem seer ghonstich zijn want dien hy langher in u hof blijft hy sal u dochter schoffieren oft wech leyden/want wy dagelijcx sien dat zy zo groten raet met malcanderen houden. De Keyser dit hoorende is hier inne niet wel te Vreden geweest/ende zeyde dat hy hem daer op beraden 90 soude. Alphonsus de Coninck van Spangien heeft alle dese woorden door een ander int Secreedt vernoomen ende wat zy den Keyser al wijs gemaeckt hadden/hy heeft Heer Jan by hem ontboden ende in presentie van den Hertooghe Gautier zoo heeft hy hem dese saken te kennen gegeuen/voordt zoo rieden zy hem beyde voor t'beste dat hy van daer reysen zoude/want die Verraeder 95 Gouweron met zijn mede pleghers wt waren om hem te doen dooden oft in een Kercker te doen worpen ende ouermits dat de keyser een out Man is zoo gheeft hy haer woorden haest gelooft/ende die Coninck zeyde voort ghelieft ν in Spaengien te reysen/ick sal u onderhouden oft ghy mijn broeder waert ende ghy suit u daer onthouden tot dat ghy siet hoe de fortuyne met u beyden noch loo loopen sal. Heer Jan danckte de Conine seer van zijn goede waerschouwinge/ende zijn goede ionste die hi hem presenteerde/hi is van hem beyden scheyden/en is gegaen daer hy Gloriande vant/dien hijt al te samen te kennen gaf al tgeene dat haer vader hem geantwoort hadde/ende wat hem de Coninck Alphonsus ende Gautier gheseyt hadde

Dat xvi. Capittel. Hoe heer Jan met groote droefheyt van Glo- j riande gescheyden is/ende is ten lesten gecomen | byden Coninck van Enghelant die hem by hem | onderhouden heeft. 5 ALS Gloriande al dese dingen hoorde werdt zy zoo bedruckt dat zy van rouwe bedoude/ende doen zy weder tot haer selven ghecomen was sprack zy ende zeyde: Ο Godt hoe mooghen dese verraders ende flatteerders deese boosheydt ende onduecht versiert heb-[Bl. 16 r ]ben/daer ghy mijnen Vader anders niet dan alle Duecht beweesen hebt/maer het is alsmen plach te segghen/haet ende nijt ίο en bestorven noyt. Voorwaer schoon lief sprack heer Jan ghy seght de waerheydt/maer nae dien dat het aldus met my ghestelt is/zoo wil ick oorlof aen ν nemen met alzo grooten Hert-rouwe als opt Ridder deede van zijnre Vrou202

jJohann aus dem Baumgarten' und >Joncker Jan wt den vergiere
Joncker Jan wt den

vergierei

Ridder met groote ghiften by hem int Landt houden zoude/maer dat was al om niet/want Heer Jan en begeerde daer int Lant niet te blijuen. De Coninck dede des Ruesen Lichaem buyten der Stadt voeren ende daer openbaerlijc verbernen. Doen tvolck daer omtrent vernamen dat de Ruese verwonnen was ende zy daer af verlost waren/doen was tgheheele Landt verblijt ende quamen alle te gader o m den Ridder te sien ende brochten hem groote gaven/ende riepen alle ghebenedijt moet hy zijn die ons dese sware plaghen ende diensbaerheyt vanden hals genomen heeft. Heer Jan heeft hen allen geboden dat zy haer lant weder souden comen bouwen ende de plaetse bewoonen/vanden gheroofden ghoede dat hy opt Casteel ghevonden heeft/ende dat den gevangen Cooplieden ontweldicht was heeft hy hen weederomme ghegheven/voort heeft hy den Dorpluyden oock mildelijcken w e d e r o m m e ghegeven tgheene dat zy verlooren hadden/ende gheholpen dat een yeghelijck zijn lant ende hoftstede weeder bewoonde/hy heeft daer sulcken schadt opt Casteel ghevonden dat een Lantschap waerdich was/de Huysluyden danckten hem seer ende presenteerden haeren dienst wanneer hijs van doen hadde. Heer Jan is opt Casteel xij. daghen stille gelegen o m alle dinck wel te ordineren. Daer na heeft hy t'Casteel bevolen te bewaeren een ghetrouw dienaer/tot dat hy ander tijdinghe vanden Conine vername/ende dat de Huysluyden des nachts/oock opt Casteel coomen waken/op avontueren öfter van des Ruesen Gheselschap noch yemandt ware diet weder in nemen mocht/wandt het vander gheleghentheyt der plaetsen seer sterck was. Daer na heeft hy den schat die daer noch ghebleeven was met hem ghenomen ende een deel opt Casteel gelaeten om t'selue daer meede te helpen onderhouden/ende zo is hy van daer met zijn gheselschap ghetrocken. Alle de plaetsen daer zy door passeerden is hy heerlijeken ontfanghen/want men door tgheheel Landt wist dat de Ruese verslaghen was van een vreemt Ridder die cortelinghe int Lant gecomen was. De Conine vernemende dat hy op wege was/is hem buyten Lonnen tegen gereden/doen hy by hem quam heeft hy hem in zijn armen ghenomen ende heeft hem zo groote eere bewesen dat heer Jan hem des schaemde/ende inder Stadt comende zo waren alle de Straten behanghen/daer was groote blijschap inder Stadt. Ende de C o nine is met Heer Jan ghereden al coutende tot dat zy int H o f quamen daer zy wel ontfanghen waren/doen zy af geseten waren nam de Coninck Heer Jan by hem ende moeste neffens hem zitten ter Tafelen/daer worde ghedient van alderhande gherechten gelijekt in sulcken heeren houen de ghewoonte is. Nae dat de Tafelen opghenomen waren is een yeghelijck in zijn rüste ghegaen. Des anderen daechs heeft heer Jan den Poortier van den Casteele by hem ghenomen ende isser meede voor den Coninck gecomen ende heeft gezeyt Heer Coninck dese bode is des Ruesen Poortier gheweest/ende dat door bedwanghe/den selven heb ick aen uwer ghenaden ghesonden o m te kennen te geuen/hoe ende in wat manieren den [Bl. 19r] Ruese verwonnen werdt/zoo is waerachtich dat

209

Manfred Günter

Scholz

zonder zijn hulpe en soude ickt n i m m e r m e e r ontcomen hebben/overmits den oploop die m y des Ruesen Volck deden/want hy alle de ghevangenen verlo135 ste/ende dede m y daer onderstant mede. D a e r o m begere ick van u w e r genaden ootmoedelijck dat ghy h e m voor zijnen arbeyt wilt gheuen den Ruesen Casteel met het landt daer toe behoorende/ende dat hy tselue van u te leen ontfanghe. D e Coninck hoorende dat het een eerlicke bede was heeftet hem gheconsenteert/alzo heeft hy tCasteel vanden Conine te leen ontfanghen/ende 140 na dat dit ghedaen was heeft hy met grooter danckbaerheydt aenden Coninck ende den R i d d e r oorlof ghenomen/ende is nae zijnen Casteele ghereyst.

Dat xix. Capittel. H o e de Conine met consent ende raet van zijn | heeren presenteerde zijn belüften te voldoen/ende | hoe Heer Jan badt voor zijn gheselle G u y d o de | welkke troude des Conincx suster ende wat daer | nae ghebuerde. 5 E E n weynich tijt daer nae zoo riep de Coninck zijnen grooten raet te samen. D o e n zy by malcanderen waren sprack de Coninck tot henlieden ende zeyde: Schoon Heeren ghy hebt ghesien t w o n d e r datter geschiet is in desen Lande/ende hoe dat dese j o n g h e R i d d e r op een bede die ick h e m consenteren zoude/ons Lant verlost heeft w t dat ghewelt van den vreeslijeke Ruese daer tgheheel lant 10 in roeren o m was ende ouermidts dat dese R i d d e r tot deser tijt toe niet begeert en heeft/zo soude ick gaerne weeten hoe ick hier inne Leevn zoude/want ick begheere mijn beloften te quijten. D o e n stont op de hertoghe van Suffock ende zeyde: Heer Coninck ick zoude raden datmen den R i d d e r hier o n t b o d e / o m te weten wat zijn meninghe oft begheerte is/want indien hy u Suster begheert 15 met het hertoochdom van Cloucestre/ghy m o g h e t h e m wel g o n n e n / w a n t hijt wel waerdich is/want indien hy hier binnen lants blijft u lant soude beschermt sijn zoo dat niemandt u oft u w e ondersaten zoude te cort dorven doen. Desen raet ghenoechde den Coninck seer wel ende door de wille des Conincx is de H e r t o g h e selve o m den R i d d e r gegaen ende heeft h e m inden R a e d t ghebrocht 20 daer coomende heeft hy den Coninck daer nae alle de Heeren reverentie bewesen. D e Coninck dede h e m sitten ende heeft hem aenghesproken aldus: Heer R i d d e r ic dancke u seer vanden dienst die ghy m y ende mijn Lant bewesen hebt/ende daer en heb ic u noch gheene weldaet voor bewesen. D a e r o m m e seght n u / w a t u bede is die ghy van m y begeren sult/ick sweere u hier voor alle 25 mijn heeren dat ickt volbrengen sal. Heer Jan is op gestaen/heeft den Coninck seer gedanckt ende zeyde: Heer Coninck tghene dat ick ghedaen hebbe/heb ick ghedaen tot profijt van den ghemeenen Lande/want w y gheloven alle Wed u w e n ende wesen ende de geene die daer verdruet w o r d e n behulpelijck te zijn ende te beschermen/ja zo heb ick anders niet ghedaen dan ick schuldich was van 30 doen/niet te min ick hebt aenghegaen op een bede die ick van uwer ghenaden

210

>Johann aus dem Baumgartew und >Joncker Jan wt den vergiere
Johann aus dem Baumgarten< und >Joncker Jan wt den vergiere
Johann aus dem Baumgarten< und >Joncker Jan wt den

vergierei

te/ende tooch daer mede binnen Parijs/om de Vyanden daer wederstandt te 15 doen/ende ooc Slachte leveren indient hem profijtelijck dochte te zijn. De Sarazijnen zijn seer diep int Lant ghecomen/verderuende al dat zy vonden/zy staecken al omme het Vier in/zoo dat het arm Lantvolck en wiste waer blijven een ieghelijck vluchte inde steden/daer hy seeker meende te zijn/ten lesten zijn zy zo verre gereyst/dat zy voor Parijs haer legher sloeghen om den Coninck 20 daer inne te besluyten. Des anderen daechs is des Soudaens Ruese na de Stadt ghegaen/ende als hy ter Poorten quam/zo riep hy aen de wachters/dat zy den Coninck souden doen comen ter mueren om teghen hem te spreken/de Wächters liepen om den Coninck ende zeyden hem dat voor der Poorten een Ruese stont die hem begheerde te spreken. De Coninck ginck derwaerdts om te 25 hooren zijn begheerte. Als de Conine ter Mueren quam zo sach hy den groten Ruese daer staen/ende hy vraechde wat zijn begheerte was/ende wat hy sochte. De Ruese zeyde: Ghy blöde Kerstenen onthoudt u hier al in muyten ghelijck de Vincken doen/ic come hier u eyschen | te Velde van des Soudaens Weghen van Barrabien/ende AfFrijcken oft wilt ghy u Lant bevrien so moet | ghy my 30 seynden een campioen om teghen my te campen isser een niet ghenoech zoo seynter my drie oft vier/[Bl. 26v] ick bens te vreeden/ende connen zy my verwinnen/zoo sal de Soudaen weder wt den Lande trecken/ende gae ick ee boven zo suldy den Soudaen u Crone ouergheven uwe Wedt afghaen/ende staen tot zijnder genaden. Daer mede suldy versoenen onse Vrienden ende 35 Ouders dit in Kerstenrijck verslagen zijn/want wy sullen niet ophouden/voor dat wy gheheel Kerstenrijck in onsen ghewelt hebben. Als de Conine dit hoorde zeyde hy: Ghy Heeren isser yemandt die den Camp derf vechten/ick sal hem geven mijn suster tot eenen Wijve/daer toe sal ick hem maecken Maerschalck van al mijn Lant. Doen sweghen alle die Heeren. Die Ruese sprack waer toe 40 swijcht ghy Catyvighe Kerstenen/gheeft my een cort antwoort. Doen Heer Jan sach datter niemant en sprack/is hy den Coninck te voete ghevallen ende zeyde. Heer Coninck ick sal den Camp vechten op een Beede die ick van u begheeren sal wanneer ick den Ruese verwonnen hebbe. De Coninck zeyde/al bady my om half mijn Rijck/indien ghy den Ruese mocht verwinnen ick salt u gheven. 45 De Ruese riep seer luyde ende zeyde Ghy onghevallige Kerstenen/en dorst ghy nu niet spreecken/gheeft my een cort antwoordt wat ghy doen oft laeten wilt/Heer Jan sprack ende zeyde: Ick aenvaerde u pandt/nae Camps recht ende segt my wanneer ghy campen wilt/ick sal u te velde coomen ghespaert my Godt. Daer op de Ruese antwoorde ende zeyde: Morghen ten eersten daghe 50 zoo maeckt u bereet om te campen/ende dan sal ick uwes verbeyden/hier buyten der mueren. Heer Jan sprack ick bens te vreeden/ende daer meede schiedt de Ruese van daer/track weder int heyr daer hy den Soudaen vant/dien hijt te kennen gaf/ende zeyde: Ick hoope aen Mahon/dat ick ν eer morghen de Son onder gaet/de Croon van Vranckrijck in uwen handen leueren sal/ende gae

227

Manfred Günter

Scholz

55 ick tonder zoo suldy tLandt ruymen. De Soudaen zeyde: Heer Ruese ghi behoeft wel voor u te sien wandt de Kerstenen zijn seer subtijl in haer dinghen. De Ruese antwoorde ende zeyde/Heer Soudaen ick en acht dat al niet/want zy zijn alreede zoo vervaert/dat zy thooft nauwelijck buyten der mueren steken en doruen. De Coninck van Arabien zeyde: Heer Soudaen ick en sorghe niet meer 60 dan datter niemandt wt comen en sal/daeromme moechdy u wel daer inne te Vreden stellen/met deser Talen gingen zy ter Tenten Bancketeren. De Coninck is met Heer Jan weeder te houe gekeert/ende danckte onsen Heer oodtmoedelijcken dat hy hem deesen Ridder tot zijnder hulpen ghestuerdt hadde/te houe coomende/zo heeft den Coninck heer Jan by hem ter Tafelen ghenoo65 men/hebben ghoede chiere ghemaeckt/daer na is een yegelijc te rüste gegaen. Des morgens vroech is heer Jan op ghestaen om Misse te hooren/ende heeft onsen heere ootmoedelijcken ghebeden/dat hy hem tegen den Ruese victorie wilde verleenen. Daer nae is hy weder te hove ghekeert/ende heeft hem ghereet ghemaeckt om den Ruese te bevechten. De Coninck met zijn heeren 70 hebben haeren Campioen gheselschap ghehouden totter poorten. Al daer een costelijck Bancket bereydt was van alderhande Specien diemen verdencken mochte/int leste heeft heer Jan oorlof ghenomen aenden Conine ende zijn heeren/ende begeerde dat hy al zijn volck inde Wapen houden soude op avontueren öfter eenich verraet schuylen mochte. De Coninck zeyde dat hijt 75 doen zoude. Aldus is hy buyten der poorten ghereden daer de Ruese was. Als hy by den Ruese quam zoo vraechde hy wat hy wilde/oft wat hy sochte ende waerom dat hy daer quam Heer Jan zeyde: Ick come hier om u te bevechten/ende den Camp te doen [Seitenkustode: dier] [Lücke von vermutlich 2 BL] [Kapitel

XXIX\

[Bl. 27r] liefden van hem eerlijck ende costelijck opgheseten waren om hem eere aen te doen/ende zy zijn zoo lange gereyst tot dat zy op een half dach vaert na by R o m e n quamen/daer hebben zy hem twee daghen gherust/ende Heer Jan heeft iiij. Heeren ghesonden aen den Hertoge om by den Keyser te 5 leyden ende zijn coemste te kennen geven. De Hertoghe is met dese Heeren voor den Keyser gegaen/ende heeft hem dit te kennen gegeven. Daer de Keyser op antwoorde hy is my wilcoom/ende my is leet dat ickt zoo lange tegen ghehouden hebbe want ick wil hem mijn Dochter geven met ghoeder herten. De Keyser beede de Heeren goede chiere aen. Des anderen daechs dede de 10 Keyser opsitten den Hertoge Gautier van Salabren met noch ander machtighe Heeren/om den Bruydegom tegen te rijden ende inder Stadt te convoieeren twelck zy met goeder herten ghedaen hebben ende reden zoo lange tot dat zy by Heer Jan quamen. Als Heer Jan vernam dat dese Heeren quamen om hem te gheleyden byden Keyser/zoo heeft hijse feestelijeken ontfangen ende heeft hem 228

>Johann aus dem Baumgarten< und >Joncker Jan wt den vergiere
Joncker Jan wt den vergiere
Die Königstochter von Frankreich Struktur, Überlieferung, Rezeption M i t einem buchgeschichtlichen Anhang zu den >KönigstochterHug Schaplen-Drucken und einem Faksimile der >KönigstochterKönigstochter v o n Frankreich^ eine Reimpaarerzählung v o n rund 8 2 5 0 Versen, 1 ist nach Angabe des Autors im Februar 1400 beendet worden: Als man schribt tusent vnd vierhundert jar / Vnd zwen monat, sag ich üch fürwar,

/ Da kam an

den tag dyß geschickt (v. 822Iff.). D e r Dichter, der sich mit zahlreichen R e g i e bemerkungen, mehrfachen Hinweisen auf sein B e m ü h e n u m Kürze 2 und einmal mit der traditionsreichen Behauptung ich kan nit der geschrifft (v. 4 2 5 1 ) gern auch persönlich zu W o r t meldet, nennt dabei wiederholt seinen N a m e n : ich Bühelere,

ich der Büheler (v. 1236, 3 7 4 6 ) . 3 Den Vornamen Hans kennen wir aus

seinem zweiten W e r k , einer R e i m v e r s i o n der Geschichte v o n den Sieben weisen Meistern, dem >DyocletianusDyocletianus< wurde, wie am Schluß des Textes

1

Die Textausgabe von J . F. L. Theodor Merzdorf, Des Büheler's Königstochter von Frankreich mit Erzählungen ähnlichen Inhalts verglichen und herausgegeben, Oldenburg 1867, zählt 8258 Verse, doch sind die letzten acht Verse jüngerer Zusatz. - Die Ausgabe hat schon zu ihrer Zeit keinen Beifall gefunden (vgl. die Besprechung von Joseph Strobl, Germania 12 [1867], S. 109-114 und die allerdings unberechtigten Vorwürfe von Seelig, s . u . Anm. 9), sie sollte, wenn nicht durch eine Neuausgabe ersetzt, so doch wenigstens durch ein Faksimile des ihr zugrundeliegenden Drucks von 1500 ergänzt werden. - Bei Zitaten aus der Merzdorfschen Ausgabe ist im folgenden die Interpunktion entsprechend den heutigen Gepflogenheiten geändert. Außerdem wird sz durch β wiedergegeben, wie es sich auch in Merzdorfs Vorlage findet. Sonstige Abweichungen sind markiert.

2

V . 619-621, 3746-3750, 6423-6428 u. ö.

3

Ein weiterer Beleg findet sich in dem unten erwähnten Handschriftenfragment in zwei Versen, die in der Textvorlage der Merzdorfschen Ausgabe durch andere ersetzt sind (v. 5992f., vgl. Bartsch [Anm. 16], S. 249).

4

Adelbert Keller (Hg.), Dyocletianus Leben von Hans von Bühel. Quedlinburg/Leipzig 1841 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 22); die vollständige Signatur hier v. 9437: Hans von Bülhel man mir giht.

233

Frieder

Schanze

mitgeteilt wird, im Jahre 1412 in Poppelsdorf bei Bonn am H o f des Kölner Erzbischofs Friedrich von Saarwerden abgefaßt, in dessen Diensten der Dichter stand. 5 Dieses Dienstverhältnis war bisher nicht urkundlich nachgewiesen, doch sind unlängst zwei archivalische Belege publiziert w o r d e n , die als Bestätigung gelten dürfen. 6 Danach hat Johannes Bokel der erzbischöflichen Kanzlei im Jahre 1413 zweimal den E m p f a n g von 65 Gulden quittiert, die auf Abschlag gezahlt w u r d e n (als Abschlagssumme werden im zweiten Beleg 125 Gulden genannt). Möglicherweise hat es sich dabei nicht u m eine regelmäßige Zahlung gehandelt, sondern u m eine Sonderzuwendung, vielleicht sogar u m das H o n o r a r f u r den im Jahr zuvor geschaffenen >DyocletianusKönigstochter< gedichtet hat, wissen wir leider nicht, es gibt jedoch Indizien, die es nahelegen, ähnlich wie später beim >Dyocletianus< an den Kölner H o f oder seinen U m k r e i s zu denken. 5

Dyocletianus, v. 9479ff.: Do man zalt dvsent vierhundert jar Vnd zwölff dar zu das ist war Do dicht ich Büheler sicherlich By zyten herrn Friderichs Von Sarwert

ertzbischoff

Zu Coin by dem in sinem hoff Was ich wenn ich sin diener was Zu Boppelstorff ich sasz Vnd macht dis vorgeschriben gedieht. 6

Andreas Unterforsthuber, Literarische Tradition und Zeitgeschichte. »Die Königstochter von Frankreich des Hans von Bühel als Propagandadichtung, Jahrb. d. Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 4 (1986/87), S. 103-116, hier S. 105f.

7

Dazu, ältere Arbeiten ergänzend und korrigierend, Katharina Büschgens, Hans von Bühel. N e u e Untersuchungen über Überlieferung, Reimgebrauch, Persönlichkeit, Diss. B o n n 1920, S. 7 - 1 2 . Von dieser Untersuchung wurde 1920 leider nur ein Resümee von 15 Seiten gedruckt; die maschinenschriftlichen Exemplare der vollständigen Arbeit, die sich in Berlin und Bonn befanden, sind nach Auskunft der Bibliotheken nicht mehr vorhanden.

8

Vgl. Büschgens (Anm. 7), S. 13-15, w o die einzelnen Belege zusammengestellt sind. Wichtig scheint mir vor allem der Hinweis S. 15, daß der Kölner Erzbischof und Dienstherr des Dichters am 8. 4. 1414 starb und der badische Büheler erst danach, am 30. 5. 1414, erstmals bezeugt ist, und daß die Hachenberger familiäre Verbindungen nach Köln hatten. -

Unterforsthuber

(Anm. 6) hat die Arbeit von Büschgens nicht zur Kenntnis g e n o m m e n und wiederholt S. 104f. ältere Irrtümer.

234

Hans von Bühel, >Die Königstochter von

Frankreich

Der Text der >Königstochter< ist nur in zwei Drucken vollständig überliefert, die in den Jahren 1500 und 1508 von dem Straßburger Drucker Johann Grüninger herausgebracht wurden. 9 Beide Ausgaben sind reich mit Illustrationen ausgestattet und stimmen darin wie auch im Text weitgehend überein. Die erste Ausgabe ist auf den 8. September 1500 datiert. Wenige Tage zuvor, am 4. September, war in derselben Druckerei der >Hug SchaplerHug Schapler< diesmal am 1. September, die >Königstochter< wieder am 8. September. Daß beide Werke somit zweimal gewissermaßen in einem Arbeitsgang gedruckt wurden, kann kein Zufall sein. Es kommt dazu, daß sie nicht nur rein äußerlich einander sehr ähnlich sind — beide haben das gleiche Format, es sind dieselben Typen und vielfach auch dieselben Illustrationen verwendet - , n son9

Nachweis der erhaltenen Exemplare beider Drucke in Anhang I. — Für das Jahr 1500 sind von Büschgens (Anm. 7), S. 6 und danach von U d o Gerdes, in: 2 V L Bd. 3, 1981, Sp. 443-449, hier Sp. 444, zwei verschiedene Ausgaben angesetzt worden. Von der angeblichen zweiten Ausgabe ist nach Büschgens lediglich ein Exemplar erhalten, das der Universitätsbibliothek Straßburg (A. 10). Im Gesamtkatalog der Wiegendrucke (GW), Nr. 5707 wird dieses Exemplar hingegen anstandslos zu den übrigen gestellt. Wie verhält es sich damit? Bereits 1888 hatte Fritz Seelig, Hans von Bühel, ein elsässischer Dichter, Straßburger Studien 3 (1888), S. 243—325, hier S. 263-276, dazu die Bemerkungen S. 246-251, das Straßburger Exemplar mit der Merzdorfschen Ausgabe kollationiert und dabei zahlreiche Differenzen festgestellt. Er kam zu der Annahme, Merzdorf habe entgegen seinen Aussagen die Ausgabe von 1500 (A) und 1508 (B) bzw. Abschriften von ihnen unwissentlich miteinander vertauscht und seinem Text die Ausgabe von 1508 zugrunde gelegt, diese aber irrtümlich als Α und die Ausgabe von 1500 als Β bezeichnet. Gegen diese Unterstellung hat Otto Behaghel, Zu Hans von Bühel, Germania 36 (1891), S. 241-246, hier S. 241, Merzdorf in Schutz genommen und festgestellt, daß seine Angaben über Β abgesehen von Fehlern weitgehend richtig sind, ohne daß er jedoch eine Erklärung für den verwirrenden Sachverhalt geben konnte. Meine eigenen Nachprüfungen haben ergeben, daß Seelig einem Irrtum anheimgefallen und Büschgens Annahme von zwei separaten Ausgaben im Jahr 1500 unzutreffend ist. Das Straßburger Exemplar besteht nämlich aus einer Mischung von Blättern der Ausgaben Α und Β (siehe Anhang I).

10

Hug Schapler, hg. von Heinz Kindermann, Volksbücher vom sterbenden Rittertum, Leipzig 1928 (Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen, Volks- und Schwankbücher 1), S. 23-114. Vgl. auch das Faksimile: Hug Schapler. Mit einem Nachwort von Marie-Luise Linn, Hildesheim/New York 1974 (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken A, 5).

11

Die Holzschnitte beider Drucke - es handelt sich, wie bei Grüninger häufig, überwiegend um Versatzstücke, die entweder eine rechte oder eine linke, selten eine obere und eine untere Bildhälfte vorstellen — sind faksimiliert, allerdings nicht vollständig, bei Albert Schramm, Der Bilderschmuck der Frühdrucke, Bd. 20, Leipzig 1939, Abb. 993-1020 (>KönigstochterHug Schapler«), Von den bei Schramm abgebildeten >KönigstochterHug Schapler< überein: Schramm,

Abb. 9 9 3 / 1 0 0 4 = 9 8 9

(jeweils nur die linke Hälfte), 994 = 973

(links),

994/999/1002=963 (rechts), 995/1006/1008/1010=992 (links), 9 9 5 = 9 8 7 (rechts), 998/1003=967 (links), 9 9 9 = 9 9 1 (links), 1000= 977 (links), 1 0 0 1 = 9 7 6 (rechts), 1002= 962 (links), 1004= 962

235

Frieder Schanze

d e m daß auch ungewöhnlich oft Exemplare von beiden aus demselben Erscheinungsjahr eine Überlieferungseinheit bilden. 12 U n d nicht zuletzt gibt es auch i m Inhalt der Werke auffällige Übereinstimmungen. Beide behandeln in romanartiger Weise Ereignisse der französischen Geschichte, u n d zwar Ereignisse von ähnlicher Art und von jeweils herausragender Bedeutung, nämlich entscheidende Wendepunkte in der Geschichte der französischen Herrscherdynastien. Im >Hug Schapler< geht es u m den Ü b e r g a n g der Herrschaft von den Karolingern auf die Kapetinger. H u g Schapler (d. i. H u g o Kapet), der Sohn eines Adligen und einer Metzgerstochter, erlangt durch Heirat mit der Tochter des letzten Karolingers, König Ludwigs, die Krone; die >Königstochter< handelt entsprechend v o m Ü b e r g a n g des Königtums von den Kapetingern auf eine Nebenlinie, das Haus Valois, und von dem daraus resultierenden Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich. Eine direkte Verknüpfung, durch welche die beiden Werke ganz unmittelbar aufeinander bezogen sind, ist zudem mit dem Problem der weiblichen Erbfolge gegeben, das bei der dynastischen Ablösung in beiden Fällen eine Rolle spielt u n d das sowohl im >Hug Schapler< als auch in der >Königstochter< ausdrücklich thematisiert wird. Im >Hug Schaplen k o m m t das Problem nicht nur innerhalb der Erzählung zur Sprache, 13 sondern es wird auch an markanter Stelle, am Schluß der ersten Vorrede, daraufhingewiesen: Jn dem was der kün Hug Schapler (von dem diß Buch sagt) an der Küngin Hoff kummen vnd dett ir so redlichen Bystant vnd hielt sich so ritterlich, daz er ein gewaltiger Künig in Franckrich ward, als ir her nach werdent hören. Aber es wurdent vil Lüt darvmb erschlagen. Vnd sitther so ist abgestelt worden, daz kein Dochter eins Künigs von Franckrich nitmer das Künigrich erben solt. Die hier begründete Abschaffung des weiblichen Erbfolgerechts aber ist es, die zur Ursache des Konflikts zwischen den Königreichen England u n d Frankreich wird, von dem die >Königstochter< berichtet. Diese inhaltliche Verk n ü p f u n g der beiden Werke u n d die äußeren Gemeinsamkeiten der Drucke u n d ihrer Überlieferung machen wahrscheinlich, daß ihre Kombination in beiden Erscheinungsjahren mit voller Absicht erfolgte. Es dürfte sich u m eine Spekulation des Druckers auf ein in Straßburg wie im ganzen Elsaß naheliegendes Interesse an der französischen Geschichte gehandelt haben, das zusätzlich auch durch eine in der ersten Vorrede des >Hug Schaplen angekündigte Aus-

(rechts), 1009=989 (rechts), 1011=977 (rechts), 1019=981 (links). - Ein vollständiges Verzeichnis der >KönigstochterDie Königstochter von

Frankreich

gäbe von >Loher und Mallen befriedigt werden sollte, die allerdings erst 1514 zustande kam. 1 4 Für das Vorhandensein eines solchen Interesses, das zugleich von politischen Gegenwartsproblemen bewegt war, darf als deutliches Indiz die mit historischen A r g u m e n t e n operierende Diskussion u m die Rechtmäßigkeit der französischen Ansprüche auf Straßburg u n d die linksrheinischen Gebiete des Reichs gelten, von der Jakob Wimpfelings >Germania< Zeugnis ablegt, die 1501 in Straßburg verfaßt und mit einer W i d m u n g an den Straßburger R a t veröffentlicht wurde. Wimpfeling beschließt seine Ausführungen im ersten Teil des Werks mit dem Hinweis auf den Bruch in der dynastischen Kontinuität des französischen Königtums und führt dazu ausgerechnet den >Hug Schapler< an (ich zitiere die vermutlich dem Straßburger R a t vorgelegte, jedoch nicht von Wimpfeling selbst stammende deutsche Übersetzung, die erst 1648 von M o scherosch aus gegebenem Anlaß z u m Druck befördert wurde): 1 5 Dann als das wore Gesieht Caroli vrsprung von den Tütschen gehaben/ als ist es ouch in Tütschen Landen bliben biß vff disen tag [. . .] Aber by den Frantzosen hat/ noch abgang des Künig Ludwigsj der Künig Lotharij Sun wasj das Gesieht des Großen Caroli 'nun langst vffgehört und abgangen/ vnd ist Franckrich kumen vff einen Houbtman/ genannt Hugo Capucius oder Zschappeler/ den das gemeyn Volck (im lateinischen Text: historiae populäres)/ eins Metzigers Sun gewesen sin/ sagen. W e n n so die historiae populäres v o m >Hug Schaplen bei Wimpfeling primär aus historischem Interesse und gerade wegen der Erbfolgeproblematik Beachtung gefunden haben, so wird damit die Perspektive deutlich, unter der auch die Rezeption der >Königstochter< zumindest bei einem Teil des zeitgenössischen Publikums erfolgte. Sie konnte, zumal in der Kombination mit dem >Hug SchaplerKönigstochter< ist auch in einem H a n d schriftenfragment des 15. Jahrhunderts erhalten. 16 Es handelt sich u m zwei Fo14

Paul Heitz/Fran^ois R i t t e r , Versuch einer Z u s a m m e n s t e l l u n g der deutschen Volksbücher, Straßb u r g 1924, N r . 282/283. Es handelt sich bei beiden N u m m e r n u m dieselbe Ausgabe, das E r scheinungsjahr 1513 bei N r . 282 ist falsch. - Die Anzeige im >Hug Schaplen lautet: wie er [d. h. Loher] starb, finden ir in siner Legend gar vß &, die ouch bald an den Tag kumpt

(Kindermann

[ A n m . 10], S. 25). 15

Emil v o n Borries, W i m p f e l i n g u n d M u r n e r i m K a m p f u m die ältere Geschichte des Elsasses. Ein Beitrag zur Charakteristik des deutschen F r ü h h u m a n i s m u s , Heidelberg 1926 (Sdiriften des wissenschaftlichen Instituts der Elsaß-Lothringer im R e i c h 8), hier S. 109/111.

16

Breslau,

Universitätsbibliothek,

cod.

R 3174.

Abdruck

und

Untersuchung:

A.

Bartsch,

Bruchstücke einer Handschrift der >Königstochter< Hans des Bühelers, G e r m a n i a 36 (1891), S. 246-257. Ein M i k r o f i l m des Fragments befindet sich in m e i n e m Besitz. — Eine Handschrift der >Königstochter< scheint auch i m Besitz der Pfalzgräfin Mechthild v o n R o t t e n b u r g gewesen zu sein, sie w i r d von Püterich v o n Reichertshausen in seinem >Ehrenbrief< unter d e m Titel von Engelandte die khunigin e r w ä h n t , vgl. T h e o d o r v o n Karajan, D e r Ehrenbrief Jacob Püterichs v o n Reicherzhausen, Z f d A 6 (1848), S. 31-59, hier Str. 99; dazu Fritz B e h r e n d / R u d o l f W o l k a n (Hgg.), D e r Ehrenbrief des Püterich v o n Reichtertshausen, W e i m a r 1920, S. 35.

237

Frieder

Schanze

lio-Doppelblätter mit insgesamt 216 Versen, die aber nicht lückenlos aufeinander folgen. Die Handschrift dürfte, wie die Drucke Grüningers, zahlreiche Illustrationen enthalten haben. Das läßt sich aus der Verteilung der Verse auf die Blätter errechnen, und es gibt weitere Indizien dafür.17 Wichtig ist das Fragment vor allem deswegen, weil es eine kritische Beurteilung des Grüningerschen Textes ermöglicht. Er erweist sich als Bearbeitung, die sich von dem älteren Text metrisch und stilistisch, besonders durch eine Fülle von Flickwörtern, unterscheidet.18

II. Bei der in der >Königstochter von Frankreich< erzählten Geschichte handelt es sich um eine merkwürdige Kombination von Fiktion und Historiographie. Eine fiktive Romanhandlung dient dazu, die historischen Ursachen eines aktuellen politischen Konflikts darzustellen. Es geht um die Auseinandersetzungen zwischen den Herrscherhäusern Englands und Frankreichs um die französische Krone im Hundertjährigen Krieg. Die Zielsetzung des Romans ist eine dediziert politische, der Autor bleibt nicht neutral, sondern er propagiert die Interessen einer bestimmten Partei: Er will davon überzeugen, daß die Ansprüche Englands auf den französischen Thron Berechtigung haben. Freilich

17

Bl. I, 1 enthält v. 3636-3688 = 56 Verse; Bl. I, 2: v. 3991-4045 = 55 Verse; Bl. II, 1: v. 5 9 8 2 6038 = 50 Verse; Bl. II, 2: v. 6341-6397 = 55 Verse. Zwischen Bl. I, 1 u n d I, 2 u n d zwischen Bl. II, 1 u n d II, 2 ist jeweils eine Lücke v o n 303 Versen. R e c h n e t m a n p r o Blatt 55 Verse, so sind das 5 1/2 Blätter b z w . 3 Doppelblätter, auf denen der einer Seite entsprechende Platz u n b e schrieben blieb. Die erhaltenen Doppelblätter w ä r e n d e m n a c h die Außenblätter v o n zwei Q u a ternionen. D e r erschlossene Freiraum v o n j e einer Seite in beiden Lagen k a n n n u r d a m i t erklärt w e r d e n , daß sich d o r t Illustrationen — zwei halbseitige oder m e h r e r e kleinere — befanden, die m i t den Innenblättern v e r l o r e n g e g a n g e n sind. V o m Vorhandensein einer Illustration zeugt eine rubrizierte Bildüberschrift (von Bartsch [ A n m . 16], d e m der Sachverhalt e n t g a n g e n ist, auf S. 248 als »Capitelüberschrift« bezeichnet) in der zweiten Lage a m unteren Ende v o n Bl. II, l v nach v. 6038: wie die königin vor die zwen

konige qwam & (bei Bartsch S. 256 Mitte). A n fast

genau derselben Stelle befindet sich eine Illustration auch in den G r ü n i n g e r - D r u c k e n , nämlich nach v. 6040 (vgl. M e r z d o r f [ A n m . 1], S. 202). D a m i t erklärt sich auch die Tatsache, daß Bl. II, 1" m i t n u r 23 Versen (gegen durchschnittlich 28 sonst) nicht vollständig gefüllt ist. Eine weitere Illustration läßt sich daraus erschließen, daß der Text v o n v. 3636 auf Bl. I, l r m i t einer Initiale beginnt. U n m i t t e l b a r davor, a m E n d e des der ersten Lage vorausgehenden Blattes, d ü r f t e sich demnach ebenfalls eine Illustration b e f u n d e n haben. In den G r ü n i n g e r - D r u c k e n gibt es dazu keine direkte Entsprechung, hier erscheint ein Bild etwas f r ü h e r v o r v. 3534 (Merzdorf, S. 139), das aber inhaltlich ebensogut nach v. 3635 stehen k ö n n t e . W i r d ü r f e n aus alledem jedenfalls schließen, daß die Handschrift, der die Breslauer F r a g m e n t e angehörten, ein F o l i o - C o d e x v o n r u n d 160 Blättern, reich illustriert w a r . 18

Vgl. dazu die A u s f u h r u n g e n v o n Bartsch ( A n m . 16), S. 248-252.

238

Hans von Bühel, >Die Königstochter von Frankreich

wird diese Tendenz erst im Schlußteil des R o m a n s wirksam, im weit u m f a n g reicheren Hauptteil ist davon nichts zu spüren. Von diesem Hauptteil soll zunächst ausschließlich die R e d e sein. Die H a n d l u n g beruht hier auf einem Erzählschema, das in zahlreichen Versionen literarisch u n d nichtliterarisch international weit verbreitet ist, dem T y pus v o m Mädchen ohne Hände. 1 9 Es gibt darüber eine umfangreiche Forschungsliteratur, in der vor allem die Frage nach dem U r s p r u n g des Typs kontrovers ist.20 Ich brauche hier darauf nicht näher einzugehen und begnüge mich damit, die ältesten literarischen Zeugnisse des Erzählstoffs anzuführen, die im 13. Jahrhundert ungefähr gleichzeitig, aber unabhängig voneinander in England, Frankreich und Deutschland auftauchen: 21 1. die >Vita Offae primi< (England, 1255/56, nach anderer Datierung bereits u m 1200); 2. >La belle H e lene de Constantinople< (Frankreich, 13. Jahrhundert); 2. >La manekine< des Philippe de R e m i (Frankreich u m 1270); 4. >Mai und Beaflor< (Bayern/Österreich u m 1270/80, nach der auf einer kroneke beruhenden Erzählung eines adligen Auftraggebers); 5. eine Episode in Jans Enikels >Weltchronik< (Wien u m 1280), die auch in einer selbständigen Prosaversion überliefert ist. Aus dem 14. und 15. Jahrhundert sind neben weiteren Zeugen aus Frankreich und England auch Belege aus Italien u n d Spanien bekannt. Des Bühelers >Königstochter< zeigt mit keiner einzigen dieser Versionen nähere Verwandtschaft. Das Handlungsschema des Erzähltypus v o m Mädchen ohne Hände läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: »Ein König verliebt sich nach dem Tod der Gattin in seine einzige Tochter u n d will sie heiraten. Da sie sich weigert, wird sie an den Händen verstümmelt und im Wald (auf dem Meer) ausgesetzt (oder sie entflieht). Trotz ihrer Verstümmelung wird sie die Gattin eines Königs. Als sie in seiner Abwesenheit zwei Söhne gebiert, meldet die ihr feindliche Schwiegermutter dem König, seine Frau habe eine Mißgestalt zur Welt gebracht, u n d schiebt, wie jener antwortet, man solle Mutter u n d Kind bis zu seiner Heimkehr bewahren, einen Befehl, beide zu töten, unter. Z u m zweiten Male verstoßen, erhält die Heldin (im Walde oder jenseits des Meeres) durch 19

Antti Aarne/Stith T h o m p s o n , T h e Types of the Folktale, 2. Auflage, Helsinki 1964 (FFC 184), N r . 706.

20

Auf die älteren Studien ist verwiesen u. a. bei J. Schick, Die Urquelle der OfTa-Konstanze-Sage, in: Britannica. (FS M a x Förster), Leipzig 1929, S. 31-56, hier S. 35f. mit A n m . 2 - 9 . Vgl. außerdem: J o h n Warren Knedler Jr., T h e Girl without Hands: A Comparative Study in Folklore and R o m a n c e , Diss. Harvard 1937 und zuletzt Helene Bernier, La Fille au mains coupees (Conte-type 706), Quebec 1971 (Les Archives de Folklore 12), dazu die Rezension von R o n a l d G r a m b o , Fabula 16 (1975), S. 131f.

21

Zusammenstellungen des Materials finden sich u. a. bei H e r m a n n Suchier (Hg.), CEuvres poetiques de Philippe de R e m i , Sire de Beaumanoir, T o m e I, Paris 1884, S. X X I I I - L X V und Johannes Bolte/Georg Polivka, A n m e r k u n g e n zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder G r i m m , Bd. 1, Leipzig 1913, S. 298-311.

239

Frieder

Schanze

ein Wunder ihre Hände wieder und wird von einem Einsiedler (Senator) aufgenommen. Schließlich entdeckt der K ö n i g den Betrug, straft seine Mutter und findet Gattin und Kinder wieder.« 22 Bei der erzählerischen Ausgestaltung des vorgegebenen Stoffes hat der B ü heler vor allem die Möglichkeiten genutzt, welche das Schema bereits von sich aus durch die Zweiphasigkeit der Handlung bot. Er hat im Zusammenhang damit dem R o m a n eine inhaltliche Ausrichtung gegeben, durch die die Thematik von Schuld und Buße ins Zentrum gerückt wird. Er erzählt die Geschichte folgendermaßen: Der König von Frankreich sucht nach dem Tod seiner Gemahlin, vom Kronrat dazu gedrängt, eine neue Frau, die aber an Schönheit und Adel der Verstorbenen in nichts nachstehen darf. Er kommt auf die Idee, die eigene Tochter zu ehelichen, diese hört heimlich davon, furchtet um ihre Ehre und flieht in einem Schiff. Nachdem sie ein Jahr lang unterwegs gewesen ist, gelangt sie nach England und findet als Viehmagd Unterkunft bei armen Bauern, denen sie ihre Herkunft verschweigt, so wie sie das auch gegenüber allen anderen Personen tut, mit denen sie in Zukunft zusammentrifft. Sie kommt nach einiger Zeit, beinahe gegen ihren Willen, in das Haus des Hofmarschalls und seiner Gemahlin in London, nachdem dieser ihr hoch und heilig versprochen hat, über ihre Ehre zu wachen. Beide halten später treu zu ihr. Der König von England bekommt die Fremde beim Marschall zu Gesicht, verliebt sich in sie, von ihrer Schönheit hingerissen, und nimmt sie schließlich gegen die Bedenken des Marschalls, und nachdem sie sich ihm mehrfach verweigert hat, zur Frau. Als sie schwanger geworden ist, muß der König überraschend in den Krieg gegen die eingefallenen Schotten und Iren ziehen. In seiner Abwesenheit gebiert sie einen Sohn, was der Marschall dem König in einem Brief mitteilt. Der Bote kehrt unterwegs bei der Mutter des Königs ein, und als diese die Nachricht von der Geburt des Kindes vernimmt, gerät sie in heillosen Zorn, bezeichnet die Königin als Dirne und schiebt dem Boten nachts einen gefälschten Brief unter, demzufolge es sich bei dem Kind um eine teuflische Mißgeburt, halb Mensch, halb Tier, handele. Der entsetzte König befiehlt in seinem Antwortbrief dem Marschall, gleichwohl fur Mutter und Kind gut zu sorgen, doch wieder vertauscht die Schwieger22

Bolte/Polivka (Anm. 21), S. 300f.; ähnlich Suchier (Anm. 21), S. X X I I I f . - In struktureller Hinsicht ließe sich diese Geschichte von der verfolgten Unschuld, die einmal durch ihren blutschänderischen Vater und ein andermal, nach Verehelichung und Mutterschaft, durch die Schwiegermutter in N o t gebracht und in die Fremde getrieben wird, als eine feminine Variante des Schemas der doppelten Brautwerbung interpretieren. Man könnte es analog dazu das Schema der wiederholten Gattenerlangung nennen, nicht zuletzt deswegen, weil das Motiv von den abgehauenen Händen in einer ganzen R e i h e von Varianten, u. a. auch in der >Königstochter von Frankreichs fehlt. Der Stoff weist eine ähnliche Struktur wie das Brautwerbungsschema auf, nur daß die Positionen anders besetzt und ihre Beziehungen umgepolt sind. Statt des aktiven Helden, der sich zweimal auf Brautfahrt begibt, haben wir eine passive Heldin, die nicht sucht, sondern zweimal gefunden wird; anstelle der freiwilligen Ausfahrten steht die doppelte Vertreibung oder Flucht; die Trennung der Brautleute durch den Vater der Braut ist ersetzt durch die Trennung der Ehegatten durch die Mutter des Ehemannes usw.

240

Hans von Bühel, >Die Königstochter von FrankreiA
Die Königstochter

von

Frankreicht

die Gestalt der Legende, genauer der Büßerlegende. Zieht man zum Beispiel den auf demselben Erzählstoff beruhenden R o m a n >Mai und Beaflon 2 3 zum Vergleich heran, so fällt das überdeutlich ins Auge. In dieser Fassung, die durchaus als höfischer M i n n e r o m a n erzählt ist, wird zwar die T h e m a t i k von Schuld und B u ß e nicht übergangen, sie ist aber deutlich in den Hintergrund gedrängt. D e r Büheler dagegen hat das Erbauliche ins Z e n t r u m gestellt, und die Minnethematik spielt bei ihm keine R o l l e . Das läßt sich exemplarisch am Expositionsmotiv der väterlichen unminne

zeigen. Des Bühelers K ö n i g von

Frankreich trägt sein Inzestvorhaben im Kronrat vor und unternimmt darüberhinaus gar nichts, (v. 191 ff.). D e r K ö n i g Teljon in >Mai und Beaflor< hingegen schreitet, v o m Satan geritten, ohne Ü b e r l e g u n g zur Tat und versucht, seine Tochter zu vergewaltigen, was diese, schon gewaltsam entkleidet, nur durch ein scheinbares Einverständnis gerade noch verhindern kann. 2 4 Entsprechend unterschiedlich fallen in beiden R o m a n e n die Begegnungen der Liebenden miteinander aus: in >Mai und Beaflor< eine Minneszene mit einträchtigem Liebesdialog und K u ß , später die detaillierte Schilderung des ehelichen Beilagers. 25 Nichts davon beim Büheler, hier wird nur i m m e r wieder von der Z u rückhaltung der Königstochter und ihren Weigerungen gegenüber dem W e r ben des Königs berichtet, nur ein einziges M a l ist andeutungsweise von G e genliebe die R e d e (1232f.): Einander vast lieb sie beide Hattent mit so grosse eren, doch dies w o h l nur, u m die gleich danach berichtete Empfängnis des Sohnes zu motivieren. Die D e m u t und F r ö m m i g k e i t der Heldin betont der Büheler von Anfang an, und ihre Schönheit, die so sehr im Kontrast steht zu den Erniedrigungen, welche sie auf sich n i m m t , beschreibt er als engelhafte Reinheit. Schon zu B e g i n n empfiehlt die sterbende Mutter dem Vater die Tochter mit den W o r ten, sie sei selig vndfrumme

(39). In ihrer Bedrängnis durch den Vater wendet sie

sich u m Hilfe flehend an Gott, der ihr denn auch beisteht ( 3 5 2 f f ) . D e m ü t i g verspricht sie Gott, niedrige Arbeiten wie hacken vnd ritten zu erledigen. D e n Bauersleuten, die sie aufnehmen, sagt sie zu, Tag und Nacht das Vieh zu hüten und niedere Dienste zu leisten (429ff.):

23

Mai und Beaflor. Eine Erzählung aus dem dreizehnten Jahrhundert, hg. v. A . J . Vollmes und Franz Pfeiffer, Leipzig 1848 (Dichtungen des deutschen Mittelalters 7). Dazu zuletzt Werner Fechter, in: 2 V L Bd. 5, 1985, Sp. 1 1 6 3 - 1 1 6 6 .

24

>Mai und Beaflor«, Sp. 20, 39ff. und besonders Sp. 22, 5ff.

25

Ebd. Sp. 63, 15ff. und Sp. 91, Iff.

243

Frieder

Schanze

Lassent mich auch nit lang schlaffen, Ir sollent mich auch vast straffen. Die schüsseln kann ich auch weschen. O b ich dann lyg bei der eschen Vnd ob ich schon nit bettes han, Da lygt auch nit vil not an. N u r eines erbittet sie als L o h n : v e r b o r g e n bei ihnen sein zu dürfen. Ihre E r scheinung hatte die B a u e r n zuerst geradezu erschreckt (403ff.): Was mag bedüten hie dyß bild? Ist es zam oder ist es wild? Ist dyß schön mensch dann gehüre? Es ist die schönste abentüre, Die ye menschen äugen gesach. Später schildert die Bäuerin d e m Marschall die F r e m d e so (671ff.): Ich gloub das zam oder wilde Nie gesahent schöner bilde, Dann dyse schöne junckfrow ist. Ich gloub, vnser herr Jhesu Christ Habe sie selber hergesant. Ja, sie geht sogar so weit, zu sagen: Ich gloub sie iy von hymel kummen (691). Auch d e m K ö n i g scheint sie e i n e m engel wol glych (876) zu sein. Ihre B e w ä h r u n g v o r d e m F l a m m e n t o d ist d e m Eingreifen Gottes zu v e r d a n k e n , der d e m Marschall den R e t t u n g s g e d a n k e n eingibt (2442ff.). G o t t ist es auch, der sie u n d ihren Sohn auf d e m wüsten Eiland v o r Schlangen u n d Greifen b e w a h r t (4297fF.). Das L e g e n d e n m o t i v v o m B ü ß e r l e b e n auf der einsamen Insel, w o es sechs J a h r e lang n u r Laub u n d Gras zu essen gibt, ist ein Hinweis auf das heiligmäßige Leben der Heldin, wie er deutlicher k a u m gegeben w e r d e n kann. D i e F r ö m m i g k e i t der K ö n i g i n , ihr Verlangen nach Messe u n d Beichte, treibt sie schließlich nach R o m . Ihr Leben d o r t i m Dienst des alten R ö m e r s besteht aus Arbeit u n d G e b e t (4542ff.): Die künigin vnderwand sich der schwin, küe, gense vnd auch der schaffe, Sie hette nie ruowe im schlaffe, Sie forchte alzyt versumen sich. N a c h d e m sie abends m i t i h r e m K i n d gebetet u n d Fürbitte f ü r ihren Vater u n d ihren G e m a h l geleistet hat, liegt sie allnächtlich bis Mitternacht i m Gebet. Ihr Dienstherr bescheinigt ihr g e g e n ü b e r d e m Papst (4653f.): Ich gloub das hübscher mensch nit sy Vnd auch nit heiliger daby.

244

Hans von Bühel, >Die Königstochter von

Frankreich

Selbst als ihr Sohn längst die Gunst des Papstes genießt, bleibt sie betend und büßend beim Vieh. Der Heilige Vater kann letztlich nicht umhin, sie gleichsam heilig zu sprechen (5746ff.): Sie gat v o n stall zu stalle Vnd thuot dem vyhe allenn rat. Des nachtes sie nit nyder gat, Vor mitternacht vint man sie knüwen Vor dem bett, sie hat riiwen M i t betten vnd mit weinen [. . .] All wiird vnd er w o n e t ir by, Ich gloube, das sie heilig sy!

Zuguterletzt vollendet die fromme Büßerin ihr Werk damit, daß auch sie ihren Beitrag zum großen Beichtfest am Papsthof leistet. So wie vor ihr die Könige von Frankreich und England erzählend öffentlich ihre Todsünden bekannt hatten, gibt nun sie Bericht von ihrem Leidensweg, denn eine Sünde hat sie nicht zu bekennen, und empfängt die Absolution. Dieses Beichtfest, dessen Schilderung vom Aufbruch der Könige bis zur Abreise rund 1700 Verse umfaßt, ist der Kulminationspunkt der Handlung, mit dem der Büheler die Bußkonzeption seines Romans krönt. Der rührend-erbauliche Eindruck, den die Lektüre dieser Erzählung vermittelt, wird verstärkt durch die häufige Erwähnung entsprechender Gefühlsäußerungen, von Trauer, Klagen und Weinen. Der Autor verzichtet auf keine Gelegenheit, seine Personen Tränen vergießen zu lassen: Der König von Frankreich trauert zwei Jahre lang Tag und Nacht um seine Gemahlin, die weinend verschieden war, und er jammert in täglicher Klage über seine Schandtat. Die Bauern weinen beim Abschied von der Königstochter. Diese und der König weinen herzzerreißend beim Aufbruch des Königs in den Krieg. Der König klagt und weint über den Brief des Marschalls, dieser klagt jämmerlich über den Brief des Königs, die Marschallin fällt gar in Ohnmacht, man muß ihr die Zähne mit dem Messer aufbrechen, nur damit sie aufs neue Tränen vergießen kann. Es weinen alle Räte des Königs, als sie die unheilvolle Kunde vernehmen, es weint die Königin selbst und fällt in Ohnmacht, da sie den Vorwurf vernimmt, sie sei aus dem döupelhuß gekommen. Die Marschallin verfällt aus Gram in Siechtum. Der heimkehrende König wird vom Marschall weinend empfangen, der König fällt ohnmächtig vom Pferd, ganz London zerfließt in Tränen. Der König kann sich mit Weinen und Klagen gar nicht genug tun, so daß es sogar dem Marschall zuviel wird und er schilt (4200ff.): . . . ich hab N i e gehört so einen gehertzten man So gar wyblich sich gethan.

245

Frieder

Schanze

Nement an üch ein mannesmuot, Nit thuond als(o), mein herre guot! Nit sol weinen ein ritterlich man, Man spottet sein zum letsten dran. N i c h t w e n i g e Tränen der R ü h r u n g w e r d e n schließlich auch in R o m vergossen. D e r Papst w e i n t mehrfach, weil i h m zwei K ö n i g e die Ehre geben, der K ö n i g v o n Frankreich legt w e i n e n d seine Beichte ab, desgleichen der K ö n i g v o n England, die Z u h ö r e r w e i n e n , u n d natürlich w e i n t m a n ü b e r das Schicksal der K ö n i g i n (6438ff.): Da viel über seine wangen Wasser dem künig von Franckrych Vsser seinen äugen minneclich Vnd auch dem küng von Engellant Vnd auch dem knaben alzuo hant Vnd auch dem marschalck getrüwe, Der burger hat auch grossen rüwe, Sie weinten alle dazuomal, Alle die da warent in dem sal. U n d w i e so alles in Tränen gebadet ist, k o m m t der Papst hinzu, m a n h ö r t die ganze Geschichte noch einmal, u n d noch einmal vergießt j e d e r m a n n Tränen, a m meisten aber der Papst. D u r c h eine r ü h r e n d erzählte Erbauungsgeschichte das G e m ü t seines Publik u m s zu b e w e g e n , das w a r offensichtlich die Absicht, die der Büheler m i t d e m ersten Teil seiner Erzählung verfolgte. Ellend mer (1235) oder clegliche mer (1553) k ü n d i g t er m e h r f a c h an, gegen Schluß, v o r d e m glücklichen Ende, d a n n auch fröliche mer (5991). In einer gewissermaßen p r o g r a m m a t i s c h e n B e m e r k u n g an entscheidender Stelle, der einzigen dieser Art, gibt er die R i c h t u n g an, in der er die G e m ü t e r b e w e g e n möchte: Er will Trauer in Freude v e r w a n d e l n . B e v o r der Bericht v o m g r o ß e n Beichtfest einsetzt, heißt es (4824if.): Hiemit ich aber hie erwint, Wann ich hab üch lang geseit Von iomer, ellent vnd hertzleit, Wie es der künigin gangen ist Vnd irem sune zuo aller frist, Was sie lydens hand erlitten. Auch wil ich üch hie bytten, Das ir mein rede hond verguot, Wan ich hon des willen vnd muot, Kund ich baß, ich tet auch baß. Doch sollent ir hie mercken das: Mag ich, ich mach üch freud wyder, Ee das ir gond schlaffen nyder.

246

Hans von Bühel, >Die Königstochter von FrankreiA
Die Königstochter von Frankreich

Warumb er auch Franckrych fiirt, Das auch daselbs her riirt. So sint ir auch dyß wol ermant, Das ein künig von Engellant Noch hüt dyß tags Franckrich anspricht Vnd wa er mag, das er das rieht, Wann sie meinent recht darzuo hon. Was veranlaßte den Büheler dazu, sich derart f u r das recht der Engländer zu engagieren u n d f ü r die Legitimität ihrer Ansprüche in einem deutschen R o m a n P r o p a g a n d a zu machen? Im Text des Werkes finden sich keinerlei Hinweise, die darüber A u s k u n f t geben k ö n n t e n ; anders als i m >Dyocletianus< ist hier w e d e r der Entstehungsort noch ein A u f t r a g g e b e r genannt, w o r a u s sich eventuell w e i tere Schlußfolgerungen ziehen ließen. Eine w i e m i r scheint ü b e r z e u g e n d e L ö sung dieses f u r die historische »Situierung« der >Königstochter< wichtigen P r o blems, über das sich die Forschung bisher k a u m ernsthaft G e d a n k e n gemacht hat, ist jetzt v o n U n t e r f o r s t h u b e r vorgeschlagen worden. 2 7 Er weist auf die politischen V e r b i n d u n g e n des K ö l n e r Erzbischofs Friedrich v o n Saarwerden, als Dienstherr des Büheler aus d e m >Dyocletianus< bekannt, mit den K ö n i g e n v o n England hin u n d f ü h r t die wirtschaftlichen Interessen der Stadt K ö l n i m H a n del mit England an. D e r Erzbischof hat offenbar w i e d e r h o l t versucht, englische K ö n i g e als K a n d i d a t e n f ü r den deutschen T h r o n durchzusetzen, er schloß 1397 mit R i c h a r d II. gegen eine Pensionszahlung einen militärischen Beistandsvertrag. »Die P a r t e i n a h m e f ü r die englischen Ansprüche, die sich in der >Königstochter< v o n Frankreichs zeigt, paßt d a m i t ausgezeichnet in die Kurkölnische Politik u m 1400.«28 W e n n das richtig ist, d a n n m u ß der Büheler bereits zu dieser Zeit im Dienst des Erzbischofs gestanden haben. Die >Königstochter< w ä r e somit »eine v o m Kölner H o f ausgehende Propagandadichtung.« 2 9 Es m u ß n u n noch genauer nach d e m Verhältnis g e f r a g t w e r d e n , in d e m die heterogenen Teile des R o m a n s zueinander stehen. Handelt es sich dabei u m eine b l o ß e A n e i n a n d e r r e i h u n g oder bestehen innere Beziehungen, die f ü r die Interpretation zu berücksichtigen sind? Wie k a m der A u t o r ü b e r h a u p t darauf, zur D u r c h f ü h r u n g seiner propagandistischen Absichten sich ausgerechnet eines Erzählstoffes zu bedienen, bei d e m es nicht u m M a c h t f r a g e n , sondern u m familiäre Konflikte geht? U m hierauf eine A n t w o r t zu finden, m u ß m a n einen Blick auf die historischen Tatsachen w e r f e n . Ursache des Krieges zwischen England u n d Frankreich, der 1339 offen ausbrach, w a r der U b e r g a n g des französischen K ö n i g t u m s nach d e m T o d des letzten Kapetingers i m J a h r e 1328 an das H a u s Valois. Die drei S ö h n e Philipps 27

Unterforsthuber (Antn. 6), S. 112-114.

28

Ebd., S. 114. Ebd., S. 116.

29

249

Frieder

Schanze

des Schönen waren nacheinander in den Jahren 1316, 1322 und 1328 ohne männliche Nachkommen verstorben, die weibliche Erbfolge aber war 1317 auf Beschluß der französischen Stände (in falscher Interpretation des Salischen Rechts) unterbunden worden. 1328 wurde daher Philipp VI., der Sohn Karls von Valois, des jüngeren Bruders Philipps des Schönen, zum König gekrönt. Die Rechtmäßigkeit dieser Erbfolge wurde von Edward III. von England angefochten. Dieser war der Sohn Edwards II. (f 1327) und der Isabella von Frankreich, einer Tochter Philipps des Schönen. Versucht man, die historischen Personen mit denen des Romans zu identifizieren, so ergibt sich folgendes: Die Königstochter von Frankreich hieße Isabella, ihr Gemahl wäre Edward II. von England, ihrer beider Sohn mit den Ansprüchen auf die französische Erbfolge Edward III., sein Großvater, der alte König von Frankreich, Philipp der Schöne, und dessen »illegitimer« Nachfolger Philipp VI. aus dem Hause Valois. Daß die drei Söhne Philipps des Schönen, die nach ihm die Herrschaft innehatten, übergangen sind, ist nur ein kleiner Schönheitsfehler, ebenso die Tatsache, daß Edward III. mehr als die zwei Söhne hatte, die ihm im R o m a n zugesprochen werden. Es zeigt sich, daß das Erzählschema mit seiner spezifischen Personenkonstellation ein passendes fiktionales Muster bot, an das die historisierende Weiterfuhrung der Erzählung im Schlußteil problemlos angeknüpft werden konnte. Trotz dieser relativ genauen Entsprechungen in der Personenkonstellation mußte der Autor freilich darauf verzichten, das Personal seines Romans mit den historischen Namen zu versehen. Denn damit wäre die fiktive R o m a n handlung dem Geltungsanspruch historischer Faktizität ausgesetzt worden, Philipp der Schöne hätte als Tochterschänder, Edward II. als Muttermörder und Edward III. als ein Nepot des Papstes dagestanden. Andererseits aber war der Autor genötigt, auf die Verwendung von Namen, auch und gerade fiktiver Namen, ganz zu verzichten, wenn er nicht den Schlußteil des Romans seines historischen Wahrheitsanspruches berauben wollte. Die Heterogenität der R o manteile, die Verknüpfung von Fiktion und Historie, war es, welche die für ein Erzählwerk vom Umfang der >Königstochter< ungewöhnliche Anonymität des Personals geradezu erzwang. 30 30

Ernst Scheunemann, »Mai und Beaflor« und Hans v. Bühels »Königstochter von Frankreich«. Eine vergleichende Untersuchung zur Darstellung im Hohen und Späten Mittelalter, Breslau 1934 (Deutschkundliche Arbeiten A, 2), S. 62f. erklärt die Anonymität unzureichend mit der typisierenden Darstellungsweise des Büheler. Unterforsthuber (Anm. 6), S. 115, der richtig auf den »Anhang« zur Erklärung hinweist, geht fehl, wenn er meint, die »rechtliche Basis für den Anspruch des englischen Königs« werde »aus dem Raum-Zeit-Kontinuum der Geschichte herausgenommen und in eine Art mythische Vorzeit gerückt.« Die unmittelbare genealogische Verknüpfung, die der Büheler vornimmt, spricht entschieden gegen eine solche Mythisierung. Im Hinblick auf die Herkunft des Erzählstoffs wäre die Anonymität der Personen nicht weiter auffällig, es gibt unter den vorhandenen Versionen dafür genügend Beispiele, sie ist es aber im Hinblick auf die literarische Gattung: in den Roman-Versionen des Stoffs trägt zumindest die Heldin immer einen Namen.

250

Hans von Bühel, >Die Königstochter von Frankreich

Ist so für die Wahl des Erzählstoffs durch den Autor eine relativ einfache Erklärung gefunden, so bleibt doch nach den Motiven fur seine eigentümliche Gestaltung des Stoffs zu suchen. Welche Gründe bewogen ihn dazu, die Gestalt der Heldin derart zu stilisieren, daß sie den Anschein der Heiligkeit erhielt? Im Stoff selbst lag dazu zwar die Möglichkeit bereit, aber es war nur eine M ö g lichkeit unter anderen. Mir scheint, daß dafür primär der Schlußteil des R o mans den Anlaß gegeben hat. Die Berechtigung der englischen Thronansprüche hing ausschließlich von der Geltung der weiblichen Erbfolge ab. Der französischen Prinzessin, die zur englischen Königin geworden war und deren Nachkommen die Erbansprüche erhoben, kam demnach in der proenglischen Argumentation eine zentrale Stellung zu, ihre Person war der Angelpunkt der Auseinandersetzung, wer ihre Würde steigerte, verstärkte die Kraft seiner Argumente. Mit dieser Absicht, so meine ich, hat der Büheler die religiös-erbaulichen Tendenzen in seiner Erzählung hervorgehoben. Die Königstochter war es nach seiner Darstellung, die durch ihre Frömmigkeit den Beistand Gottes erlangte, ihren von Gott erhörten Gebeten war es zu verdanken, daß die schuldbeladenen Könige mit Gott versöhnt wurden, sie war die eigentliche Ursache der dynastischen Harmonie zwischen England und Frankreich. Diese göttlich sanktionierte Harmonie aber ist von denen, die das Recht der weiblichen Erbfolge bestreiten und die Nachkommen der Königin ihres Erbes beraubt haben, mutwillig zerstört worden, ihr Handeln ist demnach nicht nur illegitim, es verstößt auch gegen den Willen Gottes. Wenn diese Überlegungen zutreffen, wenn die Konzeption des Romans tatsächlich auf den Schlußteil ausgerichtet und die Funktion des Hauptteils von daher wesentlich bestimmt ist, dann sind damit Zweifel an der Einheit des Werks, die sich aus der Heterogenität der Teile ergeben, gegenstandslos. Scheunemann hat im Schlußteil des Textes Abweichungen von der Technik des Hauptteils beobachtet: Das Interesse für die Helden trete zurück, die Feste würden ausfuhrlicher geschildert, die geographischen Vorstellungen stimmten nicht zu denen des Anfangs usw.31 Er bietet mehrere Erklärungsmöglichkeiten an:32 Der Schlußteil hat einen anderen Verfasser als der Anfangsteil, beide Teile haben denselben Verfasser und die »Chronik des 100-jährigen Krieges« wurde schon von der Vorlage geliefert oder — und für diese Lösung entscheidet er sich schließlich — der Schlußteil wurde als »Fortsetzung« nach einer größeren Pause geschrieben, »während welcher persönliche Erlebnisse, ein anderer Gesichtskreis, andere Lektüre und schließlich menschliche Weiterentwicklung« gewirkt hätten. Demgegenüber ist festzuhalten, daß sich nirgends eine Flickstelle bemerkbar macht und die Erzählung kontinuierlich aus der eigentlichen R o 31 32

Scheunemann (Anm. 30), S. 23-25. Ebd., S. 25-27.

251

Frieder Schanze

m a n h a n d l u n g in den Schlußteil ü b e r g e h t . Für die v o n S c h e u n e m a n n festgestellten, z u m Teil n u r m i n i m a l e n Unterschiede d ü r f t e allein die veränderte Stofflichkeit, der Austritt aus d e m tradierten Erzählmuster,

verantwortlich

sein. 33 D i e V e r k n ü p f u n g v o n Fiktionalität u n d historischer Realität, w i e sie der Büheler in seinem W e r k v o r g e n o m m e n hat, w a r vielleicht in romantechnischer Hinsicht kein besonders guter Einfall, d e n n sie m u ß t e zu D i v e r g e n z e n f u h r e n , es w a r aber ein beachtenswerter Versuch, d e m R o m a n auf der G r u n d l a g e eines traditionellen Erzählstoffes ein aktuelles Interesse zu verschaffen. D i e erzählerische R e c h t f e r t i g u n g politischer Machtansprüche diente so zugleich der »politischen« R e c h t f e r t i g u n g der R o m a n h a n d l u n g . H a t dies der Büheler selbständig vollbracht, oder hat er eine gegebene Vorlage entsprechend bearbeitet oder auch einfach n u r ü b e r n o m m e n ? Für den >Dyocletianus< hat er, w i e er selbst angibt, eine Prosavorlage benutzt, die i h m ein guot geselle aus d e m Lateinischen übersetzt hatte. 3 4 In der >Königstochter< schweigt er sich über mögliche Quellen aus, was selbstverständlich nicht b e deuten m u ß , daß er keine Vorlage gehabt hätte. I m m e r h i n ist die V e r b i n d u n g des Erzählstoffs m i t d e m H u n d e r t j ä h r i g e n Krieg nicht einmalig, es gibt d a f ü r zwei verstreute Belege aus Spanien u n d Italien, die freilich erst d e m 15. J a h r h u n d e r t angehören. 3 5 O b es sich hierbei u m R e f l e x e einer sonst spurlos verschwundenen g e m e i n s a m e n Quelle handelt, m a g dahingestellt sein.

33

Gegen Scheunemanns Fortsetzungs-Hypothese und fur die Auffassung, daß der Schlußteil von Anfang an eingeplant war und der Hauptteil b e w u ß t auf ihn hin erzählt wurde, spricht auch die Lokalisierung der R o m a n h a n d l u n g in Frankreich und England sowie, damit verbunden, die Besetzung der im Erzählschema vorgegebenen Akteure Vater, Tochter, Ehemann und Schwiegermutter mit den entsprechenden Personen der französischen und englischen Königsfamilie. D e n n das ist keineswegs so selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick aussieht. Eine vergleichbare Personenkonstellation - die Heldin ist die Tochter des Königs von Frankreich und wird Königin von England — gibt es anscheinend nur noch in einer einzigen anderen Version, einer Novelle aus dem >Pecorone< des Giovanni Fiorentino von ca. 1380 (Nr. X, 1, vgl. Suchier [Anm. 21], S. XLIf.); im einzelnen ist die Erzählung dort jedoch ganz anders angelegt. N a t ü r lich könnte es eine verlorene Fassung des Stoffes gegeben haben, in der die Konstellation der Bühelerschen Version bereits vorgegeben war. Das w ü r d e aber nur bedeuten, daß er ganz b e w u ß t eben diese Version a u f g e n o m m e n hätte, weil sie seinen Absichten in besonderer Weise entgegenkam.

34

>Dyocletianus< (Anm. 4), v. 9440-9449. Vgl. dazu Seelig (Anm. 9), S. 319-328 und 332-335. Vgl. Scheunemann (Anm. 30), S. 26f.

35

252

Hans von Bühel, >Die Königstochter von

Frankreich

IV. Die späte Wirkungsgeschichte der >Königstochter< beschränkt sich nicht, wie man in Ermangelung weiterer Zeugnisse annehmen mußte, auf die beiden Grüninger-Drucke, sondern sie reicht bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts. Der Coburger Apotheker, Drucker und Literat Cyriacus Schnauß (1512—1571), 36 der u. a. auch einen >Hertzog Ernst christlich verändert herausgab, 37 veröffentlichte 1548 unter dem Titel >Trostspiegel für die Elenden< eine durchgehend neu formulierte, freie Bearbeitung des Bühelerschen Werkes in Reimpaaren. Dieser aufschlußreiche Text war der Forschung bis jetzt nicht bekannt, er wird im Anhang nach dem einzigen nachweisbaren Exemplar reproduziert. 38 Das Werk soll dem Untertitel und der Vorrede zufolge zeigen, wie Got der Almechtig die seinen ein zeytlang

mit Väterlicher Ruten zuchtiget aber doch endtlich

wider alle vernunfftj vnd teuffels list genedigklich

errettet (Z. 40ff.). Es ist, der Hel-

din der Erzählung angemessen, einer Fürstin gewidmet, der Herzogin Katharina von Sachsen, Schnauß' Landesherrin. Sie war seit 1542 die Gemahlin Herzogjohann Emsts von Sachsen-Coburg (1521—1553), des jüngeren Bruders von 36

Über ihn Conrad Höfer, Beiträge zu einer Geschichte des Coburger Buchdrucks im 16. Jahrhundert, Coburg 1906, S. 7 - 2 6 ; Verzeichnis seiner Drucke S. 3 1 - 4 4 (ohne das >TrostbüchleinHerzog Ernst< nichts als den Ton gemeinsam hat, vgl. den Textabdruck in: Philipp Wackernagel (Hg.), Das deutsche Kirchenlied, Bd. 3, Leipzig 1870, S. 936-940; dazu John L. Flood, Nachträgliches zur Überlieferung des Herzog Ernst, ZfdA 98 (1969), S. 308-318, hier S. 315ff.

38

Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, S 252 b 8° Heimst. (4). Im Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des X V I . Jahrhunderts (VD 16)Trostspiegel< Trost zuzusprechen? D e m Buch ist ein ausdrücklicher Hinweis darauf nicht zu entnehmen, in der Vorrede heißt es nur: Dieweil sich aber dise Historia [. . .] mit eines gewaltigen Königs Dochter zugetragen! derhalben sie auch nicht vnbillich widerum einer hochadellichen frawen person zugeschriben werden mag (Z. 80ff.). Es scheint jedoch so, als sei darüber hinaus auf eine besondere Situation Bezug genommen. Tenor der Vorrede und des >Beschlusses< (Bl. 52—56) ist es, was schon auf dem Titelblatt hervorgehoben wird, Gottes rettende Gnade denjenigen zu verheißen, welche er mit Väterlicher Ruten zuchtiget, d. h. die in N o t sind; sie werden zu Geduld und Gottvertrauen ermahnt: Wer inß elendt kumpt on seine schuldt/ Liebt forcht vnd vertrauth got ingeduldtj Dem erzeygt got endtlich gnad vnd huldt (so in der Zueignung an den Leser B l . 3 V ). Das ist einerseits gewiß nichts anderes als eine allgemeingültige, jederzeit zutreffende geistliche Moral, die vorzubringen es eines besonderen Anlasses nicht bedarf. Berücksichtigt man aber das Erscheinungsjahr des Buches, 1548, so drängt es sich geradezu auf, in der politischen Situation und der Lage des herzoglichen Hauses den Grund für die Trostbedürftigkeit der Herzogin zu sehen: Kurfürst Johann Friedrich, der Schwager der Herzogin, befand sich seit seiner Niederlage im Schmalkaldischen Krieg 1547 als Gefangener im Gewahrsam Kaiser Karls V.; auch Herzog Johann Ernst hatte zu den Verlierern des Krieges gehört, und die ernestinischen Lande waren durch territoriale Einbußen schwer geschädigt - Gründe genug für Trost und Ermunterung. D e m steht freilich entgegen, daß die Widmungsvorrede auf Montag nach Trinitatis (28. Mai) 1546 datiert ist, einen Zeitpunkt, zu dem der Krieg noch nicht einmal begonnen hatte. Daß hier oder auch beim Erscheinungsjahr ein Druckfehler vorliegt, wird kaum anzunehmen sein, denn eine unterschiedliche Datierung von Vorrede und Druck ist nichts U n g e w ö h n liches. 40 Wenn Schnauß also sein Werk der Herzogin bereits 1546 widmete, so 39

Vgl. August Beck, A D B 14 (1881), S. 369 und Georg Mentz, Johann Friedrich der Grossmütige, Bd. 3, Jena 1908 (Beiträge zur neueren Geschichte Thüringens 1/3), S. 1 2 2 - 1 2 4 .

40

Das ist z . B . auch der Fall bei der > Auslegung des heiligen Vaterunsers durch M . J o a n n e m Langer von Bolckenheyn< (Höfer [Anm. 36], Nr. 8, dazu S. 20), die Schnauß »erstlich« 1549 herausbrachte, deren Vorrede aber auf 1543 datiert ist. Ursache mögen äußere Umstände oder die Produktionsweise der Schnaußschen Presse gewesen sein. - Für die >Auslegung des Vaterunsers< sind übrigens auf der Titel - und Schlußseite dieselben Kopf- und Fußleisten zur Ausschmückung verwendet wie im >Trostspiegel< (vgl. die Abbildung bei Höfer, S. 47), ja die Fußleiste unter dem Impressum scheint eigens fur den Druck des Langerschen Werkes angefertigt worden zu sein, denn die Monogramme auf der linken und rechten Seite sind zu entschlüsseln als »Cyriacus Schnauß« und »Magister lohann Langer«, was unzweifelhaft auch daraus hervorgeht, daß eine ähnliche Leiste auf dem >Epitaphium< für den 1548 verstorbenen Coburger

254

Hans von Bühel, >Die Königstochter von Frankreich

m a g das ohne speziellen Anlaß geschehen sein, oder ein solcher ließe sich erst bei genauerer Nachforschung in der Biographie der Herzogin finden. 1548 hingegen dürfte man das Werk und den verheißenen Trost tatsächlich primär auf die aktuelle Situation bezogen haben. N u n war es angebracht, die Herzogin sampt demgantzen loblichen Hauß zu Sachssenj dem aller höchsten zu befehlhen, wie es Schnauß am Schluß der Vorrede tut. Von daher lesen sich dann auch die zusammenfassenden B e m e r k u n g e n gegen Ende der (möglicherweise nachträglich hinzugefugten) Schlußrede — vorausgegangen ist eine Aufzählung von Beispielen dafür, wie Gott Freude in Leid und Leid wiederum in Freude wandelt (so v. 4ff.) - wie ein K o m m e n t a r zum Schicksal des gefangenen Kurfürsten Johann Friedrich (201 ff.): Deßgleichen/ wirt er noch erlosen D i e f r o m m e n Grechten/ vnd den bösen J a / mitten vntter jhren Feinden Er kan sie machn auch wol zu Freunden Das sie wider N a t u r vnd willen Dir guts müssen thun/ fein i m stillen Also das sies offt selbst nicht wissen Vnd der dich gern vor het geschmissen D e r m u ß dir/ wen j h m s hertz solt brechen Wie Esau d e m J a c o b / zu sprechen Gantz freundtlich/ j a nicht ein zornichs w o r t D a n Wie G o t wil/ also/ mussens fort D a r u m b / du werder vnd f r o m e r Christ Setz dein vertrawen zu aller frist Alleyn a u f f G o t / v n d a u f f keyn gewalt A u f F das er dich Ewigklich erhalt.

>Trostspigelfur die ElendenHistoria von eines Königs Dochter< sein. Die Erzählung des Büheler, deren politische Tendenz noch in der »historiographischen« Intention der Grüninger-Drucke durchschlug, wird somit umfunktioniert zum Exempel, die Heldin der Erzählung dient als Beispielfigur, an der veranschaulicht wird — ähnlich wie an jenen Gestalten, die Schnauß im >Beschluß< anführt —, auf welche Weise sich Gottes Gnadenwerk an den Leidenden vollzieht. D e m g e m ä ß hat Schnauß konsequent Superintendenten Langer (Höfer, Nr. 7, Abbildung auf dem Titelblatt) zu finden ist. - Zur Erklärung der vier Leisten sei noch (nach Höfer) folgendes angemerkt: Die Kopfleiste der Titelseite enthält links das sächsische Wappen, rechts die Löwen von Meißen, in der Mitte abgekürzt die Devise: Verbum Dei Manet in Etertiunr, die Fußleiste ist eine von Schnaußens Druckermarken, wohl mit seiner eigenen Devise und seinem Wappen. Die Kopfleiste der Schlußseite enthält links den Meißner Löwen, rechts einen Mohrenkopf, das Wappen von Coburg, die Fußleiste neben den erwähnten Monogrammen wieder Wappen und Devise in umlaufender Schrift.

255

Frieder

Schanze

darauf verzichtet, den historischen Schlußteil des Bühelerschen Werks in seine Nacherzählung einzubeziehen. Er reduziert damit seine Vorlage auf jenen abgeschlossenen Handlungszusammenhang, der das traditionelle Erzählschema repräsentiert, das so, gewissermaßen gegen die Variante des Büheler sein älteres Recht behauptend, in seiner Selbständigkeit restituiert wird. Wie wird die Geschichte von Schnauß erzählt? In der Vorrede läßt er sich darüber aus, wie er mit seiner Quelle — er benutzte einen alten Druck der >KönigstochterKönigstochter< wird mit K T , Schnaußens >Trostspiegel< m t T S bezeichnet.

41

Das geht aus d e m H i n w e i s hervor, daß dise Historia vor etlichen vilen jam im Truck außgangen sei (Vorrede, Z . 49f.).

42

Die ungerade Verszahl erklärt sich aus e i n e m D r e i r e i m auf Bl. 31 v (v. 1397-99). D r e i r e i m auch a m E n d e der Adresse an den Leser (Bl. 3V) u n d des >Beschlusses< (Bl. 56').

256

Hans von Bühel,

>Die Königstochter

von

Frankreicht

Einleitung und Inzestvorhaben des Königs v o n Frankreich (TS 1-132, K T 1-304) In der Eingangspartie wie auch später immer wieder fällt auf, wie stark im TS gegen die KT, deutliches Indiz der veränderten Konzeption, das Walten Gottes, schon allein durch seine häufige Nennung, betont wird: Der König von Frankreich ist mit allen Gottesgaben ausgestattet, er ist gottesfurchtig und Gott hat ihm deswegen eine schöne Frau und eine ebenso schöne Tochter gegeben, die gleichfalls gottesfurchtig ist; Gott ist es aber auch (und nicht wie in der KT der Tod), der ihm seine Gemahlin nimmt. Hinzugefugt ist im TS eine Schilderung der Tugend und Tüchtigkeit der Königstochter (TS 16fT.). Verzichtet ist hingegen auf die Sterbeszene (KT 19ff.); die Trauer des Königs, in der KT zwei Jahre während, wird nur kurz erwähnt (TS 36—38). Ausgelassen ist auch der Ortswechsel von Paris in eine Hafenstadt, von wo aus später die Flucht der Königstochter erfolgt (KT 65ff.). Die Episode des Inzestversuchs ist in verschiedenen Punkten abgeändert: Gleich nachdem die Räte des Königs (nicht, wie in der KT, die Großen des Landes) diesen zu erneuter Verehelichung aufgefordert haben, hat er die teuflische Eingebung, die eigene Tochter heiraten zu wollen (TS 39flf.); von der Bedingung, die künftige Gemahlin müsse der Verstorbenen gleich sein, und von der Suche nach einer so beschaffenen Frau (KT 131ff.) ist nicht die Rede. Daflir ist neu eingeführt ein zweimaliges Zusammentreffen der Räte mit der Königstochter; beim erstenmal lehnt diese das böse Ansinnen unter Hinweis auf Gottes Wort rundweg ab (TS 73ff.), beim zweitenmal läßt sie sich zum Schein darauf ein und macht sich, als Hausmagd verkleidet, zur Flucht bereit (TS 109ff.). Anders in der KT: Hier vernimmt die Königstochter heimlich vom Vorhaben des Vaters, wendet sich im Gebet an Gott und bereitet dann die Flucht vor (KT 257ff.). Flucht der Königstochter, Aufenthalt in der Fremde und Verehelichung mit dem König von England (TS 133-462, K T 305-1250) Auf ihrer Seereise — sie ist von kürzerer Dauer als in der KT, wo sie mehr als ein Jahr dauert (KT 341) - gelangt die Königstochter in eine wüste Gegend und erbaut dort eine Hütte. Auf den gerafften Bericht darüber folgt im TS sogleich, was über das Verhalten des Königs von Frankreich in den nächsten zwölf Jahren, die auf der Suche nach der Tochter vergehen, zu sagen bleibt (TS 147ff.); in der KT wird lediglich, dies aber ausführlich, sein Jammern und Wehklagen wiedergegeben (KT 475ff.). Zuvor jedoch war bereits die Begegnung der Königstochter mit den Bauern erzählt worden, zu denen sie sich gleich nach der Landung, angelockt durch Rauch auf dem Gebirge, hinbegeben hatte (KT 373ff). Im TS haust die Königstochter ein halbes Jahr allein in der Wildnis und wird dann von einem spazierengehenden Köhler (gelegentlich auch wieder als Bauer bezeichnet, TS 305, 309, 325) aufgefunden, der erschrickt, weil er an dieser Stelle noch nie einen Menschen gesehen hatte (TS 179ff.). Das Erschrecken der Bäuerin beim Anblick der Fremden in der KT dagegen rührt von deren übergroßer Schönheit her (KT 400ff). Dem Köhler erzählt die Königstochter, sie sei von ihrer Mutter zu Freunden gesandt, vom Sturm aber an Land getrieben worden und finde nicht mehr in ihre Heimat zurück (TS 202ff.). Dem Marschall berichtet sie später über ihre Herkunft, ihren

257

Frieder

Schanze

Vater kenne sie nicht, ihre Mutter aber sei Landfahrerin gewesen und habe um Brot gebettelt und es weiterverkauft (TS 623ff.). In der K T gibt sie vor, eines armen Mannes Tochter zu sein (KT 455), und mehr erfahren auch der Marschall und der König nicht über ihre Vergangenheit (KT 885f.). Die Beschäftigung der Königstochter bei ihrer »Herrschaft« besteht im T S von Anfang an darin, kostbare Handarbeiten anzufertigen, sogar die Gerätschaften dazu schreinert sie selbst; die Versorgung des Viehs bleibt ihr erspart, da der Köhler es im Vertrauen auf ihre Kunstfertigkeit verkauft (TS 25Iff, 291). In der K T dagegen muß sie neben den Handarbeiten — vom Schreinern ist nicht die Rede — auch die Arbeit einer Viehmagd verrichten (KT 536), da der Bauer sein Vieh hier nicht verkauft. Die fertige Ware wird in der K T von der Bäuerin alle Samstage nach London gebracht, verkauft und durch neues Material ersetzt (KT 544fF.). Im TS übernimmt der Köhler diese Aufgabe, gerät wegen der Kostbarkeit der Ware in Verdacht und wird vom Marschall ins Schloß gefuhrt, wo ihn der König sieht und ihm nachforschen läßt. Der Köhler wird zu Tisch geladen, betrunken gemacht und ausgehorcht, antwortet erst mit einer Lüge und läßt dann nach einem erneuten kräftigen Trunk die Wahrheit heraus (TS 277ff.). Nichts davon in der KT: Die Marschallin kauft hier eines Tages der Bäuerin etwas ab, der Marschall wird neugierig und verlangt die Händlerin zu sehen, die nach kurzem Zögern Auskunft gibt. Der Marschall begleitet sie nach Hause, trifft mit der Königstochter zusammen, überredet die sich Sträubende, mit ihm zu kommen, und nimmt sie in sein Haus auf (KT 560ff.). Im TS überläßt der trunkene Köhler seine Schutzbefohlene dem Marschall, sie wird im Wagen zur Marschallin gebracht und verpflichtet sich, aus Treue zum Köhler nicht länger als fur sechs Monate, die Hoffräulein in Handarbeiten zu unterrichten (TS 377ff). Diesen erteilt die Marschallin daraufhin eine Verhaltenslehre, die Schnauß deutlich mit Rücksicht auf die Adressatin seines Werkes formuliert hat (TS 431 ff.; man vergleiche auch 501ff). Im folgenden Handlungsabschnitt wird erzählt, wie der König von England um die Fremde, der er im Haus des Marschalls begegnet, wirbt und sie gegen den Rat des Marschalls heiratet (TS 463-677, K T 835-1250). Unterdrückt ist im TS das Motiv der KT, daß der König die Begehrte zunächst zur Buhle nehmen will (KT 895ff„ 1018ff.). Es wird im Gegenteil des Königs Wille zur Ehe so gesteigert, daß er von der Geliebten sagen kann, Gott habe sie ihm ins Herz gegeben (TS 569, 635), ja Das sie gwißlich sey die Rib mit fleyßl Die mir Got der Herr im Paradeyßf Auß meiner seytten hat gebrochen (TS 58Iff.). Früher als in der K T wird die Schwiegermutter eingeführt und ihr unheilvolles Tun angedeutet, erst vom Marschall (TS 593ff), dann von der Königstochter (TS 616). Schließlich werden die bösen Anschläge dieser anderen Jesabel — so wird sie wiederholt bezeichnet (zuerst TS 666) - direkt enthüllt, noch bevor sich Gelegenheit zu ihrer Ausführung ergibt (TS 653ff.); in der K T tritt sie erst im Zusammenhang mit ihrem Verbrechen in Erscheinung (KT 1584ff). Auszug des Königs in den Krieg, Geburt seines Sohnes, Intrige der Schwiegermutter und Flucht der Königin (TS 6 7 8 - 1 2 8 2 , K T 1 2 5 1 - 2 7 0 7 ) In diesem Abschnitt ist Schnauß der Vorlage im wesentlichen gefolgt, hat nur vereinfacht, Reden oder auch einzelne Szenen gekürzt oder ganz fortgelassen, so z. B . bei

258

Hans von Bühel, >Die Königstochter von

Frankreich

der Schilderung des Kriegsausbruches ( K T 1251ff.), die er in sieben Versen abmacht (TS 6 7 8 f f ) . Fortgelassen ist der Kriegsbericht K T 1457ff., desgleichen die U n t e r r e d u n g des Königs mit d e m Hofmeister, nachdem er den v o n seiner M u t t e r gefälschten Brief e m p f a n g e n hat ( K T 1795ff.). Es fehlt auch, abgesehen v o n einer hämischen B e m e r k u n g (TS 755f.), das verräterische Schelten u n d Fluchen der alten Königin beim ersten E m p fang des Boten (KT 1630ff.). 43 Eingefügt ist dagegen ein Gebet des Marschalls u m Hilfe f u r die Königin (TS 1147ff.), das sogleich eine Eingebung des Hl. Geistes zur Folge hat; in der K T k o m m t diese Eingebung Gottes unvermittelt ( K T 2442ff.). Ausfuhrlicher als in der K T sind zwei der Briefe wiedergegeben, der des Königs an den Marschall (TS 833ff., vgl. K T 1891fF.) und der der alten Königin, der mit j e n e m vertauscht w i r d (TS 921ff., vgl. K T 1979flf.). Gegen Ende des Abschnitts ist i m T S die R e i h e n f o l g e der Ereignisse abgeändert: Die Verbrennung des Kalbes anstelle der Königin erfolgt nach deren Flucht (TS 1245ff.), in der K T hingegen vorher ( K T 251 Iff.).

Rückkehr des Königs und Bestrafung der alten Königin (TS 1283—1441, KT 2708-4245) Belief sich Schnaußens Nacherzählung i m Vorhergehenden rein rechnerisch auf etwas weniger als die Hälfte des U m f a n g s der Vorlage, so hat er die kriminalistische M u t termordgeschichte, die beim Büheler auf über 1500 Versen die H a u p t h a n d l u n g zurückdrängt, radikal auf ein Zehntel gekürzt, v o r allem die Bestrafung der alten Königin nur kurz berichtet (TS 1392ff.). Die B e g e g n u n g zwischen d e m heimkehrenden K ö n i g und d e m Marschall hat er dadurch bereichert, daß er diesen zweimal ohnmächtig v o m Pferd fallen läßt (TS 1303ff), b e v o r dasselbe d e m K ö n i g zustößt ( K T 2789f.).

Schicksal der Königin und ihres Sohnes nach der Flucht (TS 1442—1535, KT 4246-4823) Auch in dieser Partie hat Schnauß die Vorlage stärker als sonst auf rund ein Siebentel gekürzt u n d erzählt n u r gerade das, was als Voraussetzung f ü r das Verständnis des Folgenden unbedingt erforderlich ist: Die Königin gelangt bettelnd nach R o m (zu der zeit ein heyige Stad, w i r d v o n d e m Protestanten Schnauß hinzugefugt, T S 1453) u n d tritt als M a g d in den Dienst eines reichen Bürgers; der Papst erblickt ihren Sohn in der Messe und n i m m t ihn, der v o n den Gebeten der M u t t e r begleitet wird, an seinen H o f , w o der E m p f a n g fürstlicher Gäste zu seinen A u f g a b e n gehört. Die f ü r die Konzeption der K T so wichtigen M o t i v e des d e m ü t i g e n Leidens und der F r ö m m i g k e i t der Königin sind nahezu ganz geopfert, vor allem die kurze, aber charakteristische Episode des sechsjährigen Aufenthalts auf einer wilden Insel, beendet durch das Verlangen nach der Messe (KT 4275ff.).

43

In diesem Z u s a m m e n h a n g fällt das W o r t döupelhuß tempelhauß entstellt ist (TS 805).

259

>Bordell< ( K T 1642), das bei Schnauß zu

Frieder

Schanze

Einreiten und Beichte der Könige in R o m , Wiederfinden und glückliche Heimkehr (TS 1536-2401, K T 4824-6699) Die Schlußpartie des Schnaußschen Werkes ist wieder breiter nacherzählt, in einem ähnlichen Verhältnis wie in den Anfangspartien und ebenfalls mit einigen Abweichungen. Eingreifend geändert wurde z. B. das Verhalten der Königin. In der K T ist es geprägt von einer heiligmäßigen Gewißheit unerschütterlichen Vertrauens in Gott, im TS dagegen von Unsicherheit und Furcht vor den Menschen. Als die Königin erfährt, daß ihr Vater, der König von Frankreich, nach R o m unterwegs ist, ängstigt sie sich, er wolle sie strafen (TS 161 Iff.) und seine Büttel könnten ihrer habhaft werden (TS 1681ff.). Die Befürchtung, ihr Vater und ihr Mann seien zu ihrem Verderben gekommen, äußert sie auch im Gebet (TS 1781ff., vgl. dagegen K T 5112f.). Z u m Papst zu gehen weigert sie sich aus Angst, dann womöglich verbrannt zu werden (TS 2191), und läßt sich nur durch die größere Angst vor dem päpstlichen Bann und der ewigen Verdammnis dazu bewegen (TS 2206ff). Während sie in der K T bei ihrem Erscheinen am Papsthof vom Marschall, von ihrem Vater und ihrem Mann sogleich erkannt und freudig begrüßt wird (KT 6006ff.), bleibt sie im TS zunächst unerkannt und versucht sich durch die Notlüge, sie sei Bettlerin und der Vater ihres Kindes ein vor dessen Geburt verstorbener armer Reitersmann gewesen, aus der Affäre zu ziehen (TS 2248ff). Da dies nichts fruchtet und der Papst weiter insistiert, läßt sie sich doch die Wahrheit erst entlocken, als der Papst die Sicherheit ihres Lebens gewährleistet und ihren Sohn unter seinen persönlichen Schutz genommen hat (TS 2278ff.). Nachdem sie dann unter Tränen und Geschrei die anwesenden Könige als ihre nächsten Verwandten benannt hat, fällt sie in Ohnmacht und kniet danach demütig vor dem Vater und dem Gatten nieder (TS 2316ff.), ohne sich aber wie in der KT der Beichte zu unterziehen (KT 6105ff). Das Wiederfinden der Getrennten erfolgt im TS wie in der K T bei einem Festmahl, das der Papst den beiden Königen gibt, doch findet dieses Fest im TS erst statt, nachdem die Könige vor dem Papst ihre Beichten abgelegt haben (TS 2082ff), während in der K T die Beichten selbst einen Teil des Festes bilden (KT 5305ff, Beichten 5395ff. und 5478ff). Es handelt sich demnach, wie auch ausdrücklich gesagt wird, um öffentliche Beichten (KT 5400, 5483), im TS dagegen um zwei nacheinander vorgenommene Privatbeichten (TS 1822ff., 1849ff.). Die Notwendigkeit der Beichte in R o m , Bedingung für die Zusammenfuhrung der Familienglieder, mußte der Protestant Schnauß eigens historisch begründen: In jener Zeit konnten große Sünden nicht vom einfachen Priester, sondern nur vom Papst vergeben werden (TS 1561ff.). In der K T wird die Schilderung des Festes nach der Beichte der Königin noch ein gutes Stück weitergeführt, bis die ganze Episode mit der Abreise der Gäste endet. Im TS folgt der Erkennungsszene lediglich die Einigung über die Zukunft des Königssohnes (TS2354ff.): Er soll zunächst beim Papst bleiben (in der KT6215ff. hatte dieser nur einen entsprechenden Wunsch geäußert), und zwar bis zu dessen Tod, danach beim König von Frankreich, um ihn zu beerben. Das weitere Geschehen, einschließlich der Herrschaft des jungen Königs über die beiden Königreiche Frankreich und England, wird in den Schlußversen nur noch summarisch angedeutet (TS 2379ff). In der K T dagegen leitet die Abreise (KT 6607ff.) zu einem weiteren Handlungsabschnitt über, der die Erzählung in eine neue Richtung fuhrt und sie schließlich in konkrete historische

260

Hans von Bühel, >Die Königstochter von

Frankreich

Zusammenhänge hineinstellt, durch die das Vorhergehende eine unvermutete Interpretation erfährt. D a r a u f hat Schnauß verzichtet und, gewissermaßen zum Ersatz, der Erzählung als M o r a l einen >Beschluß< angehängt, der die in der Handlung liegende Lehre expliziert und durch weitere Beispiele verdeutlicht.

Der Vergleich dürfte gezeigt haben, daß die Veränderungen, die Schnauß an seiner Quelle vorgenommen hat, zwar nicht durchweg, aber doch zum Teil und gerade in einigen wesentlichen Punkten im Dienst einer eigenen Konzeption stehen. In exemplarischer Weise wird das an der Gestalt der Heldin offenbar: Ihr hat Schnauß nicht nur die überirdische Schönheit, sondern auch die Aura der Heiligen, die ihr der Büheler verliehen hatte, vollständig genommen, er hat die Intensität ihrer Frömmigkeit und ihres Leidens reduziert und diese zugleich des Verdienstcharakters beraubt. Die Errettung der Königin aus N o t und Elend ist bei ihm nicht Folge ihres verdienstlichen, Gott gnädig stimmenden Büßerlebens, sondern allein Wirkung der Gnade Gottes. An diesem zentralen Punkt zeigt sich, wie sehr die Schnaußsche Neufassung der Bühelerschen >Königstochter< von protestantischen Vorstellungen geprägt ist. Es geht nicht darum, menschliche Bußleistungen vorzuführen, sondern beispielhaft das Gnadenhandeln Gottes aufzuweisen. Denn die Botschaft davon ist der Trost, den Schnauß mit seinem >Trostspiegel< spenden will. In einem auktorialen Einschub an exponierter Stelle, bevor sich das Schicksal der Königin wendet, sagt er (TS 2058ff.): N u n merck hie fleissig du f r o m m e r Christ Forth/ was nach Gottes R a t h geschehen ist G O T der H E R R / die hohe Mayestath Jst so hochgutig/ in seinem rath Das er sich entlich m u ß erbarmen Vber die elenden vnd armen Lest auch (wie Paulus spricht) j h m gnugen Versucht nyemant vber sein v e r m u g e n Vnd wer beharret in seiner zucht D e r kriegt vnd bringt/ hundertfeltig frucht Dan G O T erzeygt j h m endtlich sein huldt Bringt auch an tag/ sein grosse vnschuldt Wie er dann hie auch hat bewysen D a r u m b er ewig wirt geprysen.

Im >Beschluß< wird dann in gleichem Sinn die Erzählung ausdrücklich zum Exempel für Gottes Gnade deklariert (Z. Iff.): Schaw Mensch/ du Gottes Creatur Vnd bdenck gantz hertzlich diese Figur Wie G O T so wunderbarlich handelt Gar bait gros freud/ in leyd/ verwandelt

261

Frieder

Schanze

W i d r u m b auch/ des teuffels neit vnd tuck Verwandelt/ in freud vnd grosses gluck D r u m b / solt sich billich kein mensch Schemen A u ß diser gschicht/ mit fleiß zu nemen Exempel/ Gotlicher gut vnnd trew Dan/ sein Gnad ist alle m o r g e n new.

Schnauß hat damit den alten Erzählstoff in der Fassung, die ihm der Büheler gegeben hatte, einem neuen, den veränderten Zeitumständen entsprechenden Zweck dienstbar gemacht: der religiösen Erbauung in protestantischem Geist. Seine auch sprachlich und stilistisch44 in weitgehender Unabhängigkeit von der Vorlage geformte und trotz mancher Unbeholfenheit nicht ganz ungeschickte Bearbeitung darf deswegen den Status eines eigenen Werkes beanspruchen. Dieses hätte vielleicht größeren Erfolg haben können, wenn es zeitgemäß in Prosa und nicht nach dem Muster der Vorlage in Versen abgefaßt worden wäre und wenn sich seiner eine Oifizin angenommen hätte, die über bessere Produktions- und Distributionsmöglichkeiten verfügte als das unbedeutende Schnaußsche Unternehmen.

Anhang I Zur Überlieferung der >KönigstochterHug SchaplerKönigstochterHug SchaplerKönigstochterKönigstochter< aus demselben Erscheinungsjahr aufbewahrt wird. Die dabei nicht erfaßten Exemplare werden jeweils in der Vorbemerkung genannt. 44

Am meisten fällt in dieser Hinsicht ins Auge, daß Schnauß die intensive emotionale Einfärbung der Bühelerschen >Königstochter< durch den Ausdruck heftiger Gemütsbewegungen und Ströme von Tränen sehr weit zurückgenommen hat. Das ist sicher nicht allein als Folge seiner Kürzungsbemühungen zu verstehen, sondern es ist auch die Konsequenz einer anderen Einstellung zum Stoff und einer eher trockenen - man möchte sagen: protestantisch-nüchternen Erzählhaltung. 45 Allen genannten Bibliotheken habe ich für freundliche, zum Teil mehrfache Auskunft zu danken. Besonderer Dank gilt der Darmstädter Bibliothek für einen Leihfilm des Bandes B. 4.

262

Hans von Bühel,

>Die Königstochter

von

Frankreich

Die Zusammenstellung zeigt, daß in überraschend vielen Fällen eine Überlieferungsgemeinschaft von >Königstochter< und >Hug Schapler< gegeben ist: Von den 15 Exemplaren der >Königstochter< von 1500 (A. 1-14, dazu das in der Vorbemerkung zu Α erwähnte Exemplar) und 14 Exemplaren des >Hug Schapler< von 1500 (A. 1-4, 6—9, 11-14, dazu die beiden Exemplare, auf die am Schluß der Vorbemerkung zu Α hingewiesen ist) sind oder waren 9 zweifelsfrei zusammengebunden (A. 2, 4, 7-9, 12-14); ein Fall ist fraglich (A. 1). Von den 7 Exemplaren der >Königstochter< von 1508 (B. 1—7) und den 10 Exemplaren des >Hug Schapler< von 1508 (B. 1—7, dazu die in der Vorbemerkung genannten verlorenen Exemplare in Berlin, Kassel und Kopenhagen) sind oder waren 4 zusammengebunden (B. 1, 2, 5, 7); ein Fall ist wiederum unsicher (B. 3). Bei der Ausgabe von 1500 bilden also rund zwei Drittel, bei der Ausgabe von 1508 immer noch rund die Hälfte aller erhaltenen >KönigstochterHug Schaplen-Exemplare eine Einheit. Die schiere Häufigkeit des gemeinsamen Vorkommens der beiden Titel verbietet die Annahme, daß es sich um voneinander unabhängige, jeweils singuläre Zusammenstellungen handelt. Dies kann zwar für Einzelfälle nicht ausgeschlossen werden, so wie beispielsweise die >Königstochter< von 1500 mehrfach mit >Florio und Biancefora< kombiniert erscheint (A. 2, 4, 5), erklärt aber nicht die Gesamtheit der Fälle. Damit scheiden als Verursacher der Kombination sowohl die Einzelhändler (Buchführer) als auch Käufer und spätere Besitzer aus. Letztere hatten ohnehin, vor allem im 19. Jahrhundert, eher eine Neigung, Sammelbände aufzulösen als neu zusammenzufügen (A. 7, 8, 12, vielleicht auch Α. 1 und B. 3). Man wird daher bis zum Hersteller zurückgehen müssen, um eine adäquate Erklärung zu finden. Die beiden sowohl 1500 wie 1508 gleichzeitig gedruckten Bücher müssen von Grüninger nicht nur jeweils zum selben Zeitpunkt auf den Markt gebracht worden sein, sondern, wenn auch vielleicht nicht mit allen Exemplaren, gemeinsam, sozusagen als Paket. Und zweifellos ist bereits die Herstellung in dieser Absicht erfolgt. Daß dabei nicht allein drucktechnische Gründe (Auslastung der Presse, Benutzung derselben Holzstöcke für die Illustrationen) eine Rolle gespielt haben, ist oben gezeigt. Uber die Verbindung von >Königstochter< und >Hug Schapler< hinaus verdient auch der weitere Überlieferungskontext Beachtung. Denn die in den alten Sammelbänden beigebundenen Werke geben Aufschluß über den Verständnishorizont, innerhalb dessen die zeitgenössische Lektüre der beiden Texte bzw. der >Königstochter< allein erfolgte. Zwei charakteristische Rezeptionsinteressen werden erkennbar: Die Texte erscheinen einerseits mehrfach in Verbindung mit dem Prosaroman >Florio und Biancefora< (A. 2, 4, 5), d. h. sie werden primär als Erzählliteratur gelesen. Sie treten andererseits zusammen mit chronikalischen Texten auf, Lirers Schwäbischer Chronik< (A. 8), die freilich ihrerseits der fiktionalen Erzählliteratur nahesteht, und Etterlins >Eidgenössi263

Frieder Schanze

scher Chronik< (A. 14), wodurch der »historiographische« Gehalt in den Vordergrund rückt. Eine von spezifischen Interessen offenbar nicht geleitete R e zeption bezeugt daneben, gewissermaßen als Korrektiv, der Sammelband A. 9. N u r kurz sei abschließend noch hervorgehoben, daß die Form der Texte, das Nebeneinander v o n Vers (>KönigstochterHug Schapler< usw.), für den Drucker Grüninger ebenso wie für die Besitzer der Bücher, anders als für die heutige Forschung mit ihrer strikten Trennung zwischen Vers- und Prosaroman, 46 anscheinend ziemlich bedeutungslos war. Inhaltliche Zusammenhänge hatten in diesem Fall ein größeres Gewicht. Eine vergleichbare Kombination v o n Prosa- und Versdichtung bot auch die 1491 in Augsburg von Anton Sorg gedruckte Ausgabe des >Wilhelm von Österreich und des >Wilhelm v o n OrlensKönigstochterKönigstochterHug Schapler< bei Heitz/Ritter (Anm. 14), Nr. 240 (unvollständig). Zwei >Hug SchaplerKönigstochter< in einem Pappeinband des 19. Jahrhunderts aus Material des 17. Jahrhunderts. Vorbesitzer war Karl Ferdinand Nagler. Vgl. Ernst Voullieme, Die Inkunabeln der Königlichen Bibliothek und der anderen Berliner Sammlun46

Z u m Prosaroman vgl. den Forschungsbericht von Jan-Dirk Müller, Volksbuch/Prosaroman im 15./16. Jahrhundert - Perspektiven der Forschung, IASL 1. Sonderheft (1985), S. 1-128.

47

Hans-Joachim Koppitz, Z u r Überlieferung der Drucke des Prosaromans »Wilhelm v o n Österreich«, Gutenberg-Jahrb. 1963, S. 53-59, hier S. 54, 56. Vgl. auch R o l f Schwenk, Vorarbeiten zu einer Biographie des Niklas von Wyle und zu einer kritischen Ausgabe seiner ersten Translatze, Göppingen 1978 (GAG 227), S. 226, w o die Vermutung geäußert wird, das Buch habe an dritter Stelle Wyles Ubersetzung von Enea Silvios »Euryalus und Lucretia< enthalten; dagegen spricht freilich, daß dieser Titel im Gegensatz zu den beiden anderen zu Beginn des Buches nicht genannt ist.

264

Hans von Bühel,

>Die Königstochter

von

Frankreicht

gen, Leipzig 1906 (Zentralblatt f ü r Bibliothekswesen, Beiheft 30), N r . 2315. Die Staatsbibliothek besitzt, ebenfalls aus Naglers Besitz, auch den >Hug Schapler< v o n 1500 (4° Inc. 2314, Voullieme 2314). O b die beiden Bände v o n jeher voneinander getrennt waren oder durch Auflösung eines Sammelbandes verselbständigt w o r d e n sind, w i r d k a u m m e h r feststellbar sein. A. 2

Donaueschingen, Fürstlich Fürstenbergische Hofbibliothek: Inc. 313 Sammelband in einem Einband des 16. Jahrhunderts (Halbleder u n d Holzdeckel). a. (Inc. 208) Florio u n d Biancefora. Metz: Kaspar Hochfeder, 2. August 1500 ( G W 4471). b. (Inc. 428) H u g Schapler, 1500. c. (Inc. 313) Königstochter, 1500.

A. 3

Freiburg, Universitätsbibliothek: Ink. 4° Ε 4687 Die >Königstochter< in einem Einband des 19. Jahrhunderts, der demnächst durch einen neuen ersetzt wird. A m Schluß fehlen zwei Blätter. Vgl. Vera Sack, Die Inkunabeln der Universitätsbibliothek Freiburg i m Breisgau und anderer öffentlicher S a m m l u n g e n in Freiburg i m Breisgau u n d U m g e b u n g , 2 Teile u n d 1 R e gisterband, Wiesbaden 1985 (Kataloge der Universitätsbibliothek Freiburg i. B. 2, 1-3), N r . 861. — Die Bibliothek besitzt auch den >Hug Schaplen v o n 1500 (Ink. 4° Ε. 4947, ebenfalls defekt, vgl. Sack, N r . 1919), doch hat der Band eine andere Provenienz.

A. 4

Göttingen, Niedersächsische Staats- u n d Universitätsbibliothek: 4° Fab. R o m . III 1579 Inc. Ganzleinenband des 19. Jahrhunderts mit älteren Einbandresten auf Vorder- u n d Hinterdeckel, vermutlich v o m A n f a n g des 16. Jahrhunderts. Besitzeintrag auf dem Titelblatt v o n a: Liber Jeronimj holtzschuers quem comparauit anno dominj etcetera 99 14 nouembris denarij 84 (?). Erster Besitzer war also der N ü r n b e r g e r Patrizier u n d Ratsherr H i e r o n y m u s Holzschuher (1469-1529), bekannt durch Dürers Portrait v o n 1526. Der Band k a m 1771 aus der Bibliothek des N ü r n b e r g e r P o lyhistors Gottfried Thomasius (gest. 1746) nach Göttingen, vgl. H e l m u t Kind, Die Inkunabeln der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Gutenberg-Jahrb. 1982, S. 120-149, hier S. 131. a. Florio und Biancefora. Metz: Kaspar Hochfeder, 26. August 1499 ( G W 4470). Faksimile nach d e m Göttinger Exemplar: Florio und Biancefora. M i t einem N a c h w o r t v o n R e n a t e N o l l - W i e m a n n , H i l d e s h e i m / N e w York 1975 (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken A, 3). D e r Besitzeintrag ist hier ohne j e d e n Hinweis wegretuschiert. b. Königstochter, 1500. c. H u g Schapler, 1500.

265

Frieder

Α. 5

Schanze

Karlsruhe, Badische Landesbibliothek: Qb 766 Halblederband des 18. Jahrhunderts. a. Königstochter, 1500. Das Schlußblatt und sechs weitere Blätter fehlen. b. Florio und Biancefora. Metz: Kaspar Hochfeder, 2. August 1500 (GW 4471).

A. 6

London, The British Library: IB 1497 Die >Königstochter< in einem Einband von 1938. Das Titel- und Schlußblatt sowie 12 weitere Blätter fehlen. Vgl. Catalogue o f Books Printed in the XVth Century now in the British Museum, Part I, London 1908, S. 115. - Die Bibliothek besitzt unter der Signatur IB 1503 auch den >Hug Schapler< von 1500 in einem Einband des 20. Jahrhunderts; erworben 1913. Vgl. [Alfred F.Johnson und Victor Scholderer], Short-Title Catalogue o f Books Printed in the GermanSpeaking Countries and German Books Printed in Other Countries from 1455 to 1600 now in the British Museum, London 1962, S. 421.

A. 7

München, Bayerische Staatsbibliothek: 2° Ink. c. a. 3896 m Die >KönigstochterHug Schapler< von 1500 (2° Inc. c. a. 3896, der Pappeinband des 19. Jahrhunderts wird zur Zeit erneuert) wie folgt zusammengebunden: a. Hug Schapler, 1500. b. Königstochter, 1500.

A. 8

Oslo, Universitetsbiblioteket: Pal. 138 Das Osloer Exemplar der >KönigstochterHug Schapler< von 1500 zusammengebunden, der sich ebenfalls noch in Oslo befindet (Pal. 155, vgl. Amundsen, Nr. 155). Der bei Amundsen unter Nr. 155 erwähnte alte Einband, in den ein Uracher Ablaßbrief von 1483 eingeklebt war (jetzt unter der Signatur Pal. 185 aufbewahrt, vgl. Amundsen, Nr. 185), ist heute nicht mehr auffindbar. Beide Bände befanden sich zuvor in Göttingen und wurden als Doubletten abgegeben. Beigebunden war ihnen, wie im >Hug Schapler< vermerkt ist, ein Exemplar der Schwäbischen Chronik< des Thomas Lirer, das in Göttingen verblieben ist (Signatur 4° Hist. Württ. 225 Inc.). Der Sammelband stammte wie A. 4 aus der Bibliothek von Gottfried Thomasius. Die ursprüngliche Reihenfolge war: a. (Oslo) Hug Schapler, 1500. b. (Oslo) Königstochter, 1500. Die bei Amundsen irrtümlich als fehlend bezeichneten beiden Blätter sind vorhanden. c. (Göttingen) Thomas Lirer: Schwäbische Chronik. [Ulm: Konrad Dinckmut 1485]. Vgl. Klaus Graf, Exemplarische Geschichten, Thomas Lirers »Schwäbische Chronik« und die »Gmünder Kaiserchronik«, München 1987 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 7), S. 40, 44 (hier Nr. 6).

266

Hans von Bühel, >Die Königstochter von

A. 9

Frankreich

St. Gallen, Stiftsbibliothek: Inc. 847 Sammelband in einem Einband des 18. Jahrhunderts. Vgl. [Gustav Scherrer], Verzeichniss der Incunabeln der Stiftsbibliothek von St. Gallen, St. Gallen 1880, Nr. 1432, 1040, 811, 1297 und 847. a. (Inc. 1432) Der Ritter vom Turn. Basel: Michael Furter 1513. Der Schluß fehlt. (Heitz/Ritter [Anm. 14], Nr. 687). b. (Inc. 1040) Konrad von Megenberg: Buch der Natur. Augsburg: Johann Bämler 1481. Der Schluß fehlt. (Ludwig Hain, Repertorium bibliographicum, Stuttgart 1826-1838, Nr. 4043?). c. (Inc. 811) Johannes von Hildesheim: Historia trium regum, deutsch. [Straßburg: Heinrich Knoblochtzer ca. 1483]. A m Schluß fehlen 2 Blätter. (Hain 9401). d. (Inc. 1297) Hug Schapler, 1500. Anfang und Schluß fehlen. e. (Inc. 847) Königstochter, 1500. Am Schluß fehlen 7 Blätter.

A. 10 Straßburg, Bibliotheque Nationale et Universitaire: Κ 1009 Die >Königstochter< in einem Einband des 19. Jahrhunderts. Erworben 1884 aus dem Antiquariat Trübner in Straßburg. Vgl. Francois Ritter, Catalogue des incunables alsaciens de la Bibliotheque Nationale et Universitaire de Strasbourg, Strasbourg 1938 (Repertoire bibliographique des livres imprimes en Alsace aux XV e et X V P siecles 1), Nr. 120. Das Straßburger Exemplar hat in der Forschung einige Verwirrung gestiftet (s. o. Anm. 9), da es offenbar aus Blättern der Ausgaben von 1500 und 1508 zusammengesetzt ist. Ich habe das nicht durchgängig nachprüfen können, da mir nur von Β ein vollständiger Film zum Vergleich zur Verfugung stand, von Α dagegen nur Kopien einzelner Blätter aus den Exemplaren in Donaueschingen und St. Gallen und von dem Straßburger Exemplar lediglich Anfang und Schluß. Den Angaben von Seelig aber ist ebensowenig wie denen von Merzdorf blindlings zu trauen. Folgendes ließ sich durch Vergleiche ermitteln: Bl. 1, 2, 4, 5, 72 sind satzidentisch mit A, Bl. 7, 9, 70, 71 satzidentisch mit B. Da Bl. 2, 3, 6, 8, 10-12 nicht mit Β übereinstimmen, dürften sie zu Α gehören. Weiterhin gehören, soweit Seeligs Angaben an Kopien sowohl von Α als auch von Β nachgeprüft werden konnten, anscheinend zu Α Bl. 20, 21, 24, 34, 36, 40, 44, zu Β Bl. 13, 15, 16, 18, 25, 32, 35, 38, 43. Diese Feststellungen müssen hier genügen. Sie reichen aus, um sicherzustellen, daß das Straßburger Exemplar jedenfalls keine selbständige Ausgabe repräsentiert. Es ist wohl lediglich ein defektes Exemplar der Ausgabe Α durch Blätter aus Β komplettiert worden. A. 11 Wien, Österreichische Nationalbibliothek: Ink. 3. G. 42 Wiener Einband des späten 18. Jahrhunderts. Besitzeintrag auf dem Titelblatt von a: 1588 Hanß Feienberg LVS, dazu Ankerzeichen (dasselbe mit Buchstabenschnörkel unter dem Utelholzschnitt). Hans (= Johann II.) Fernberger von Egenberg (1556—1600) ist bekannt als Vorbesitzer der ursprünglich zusammengebundenen

267

Frieder Schanze M ü n c h e n e r Handschriften C g m 4 8 7 1 , 4 8 7 2 und 4 8 7 3 (vgl. Friedrich Panzer, Lohengrin-Studien,

Halle

1894,

S. 5f. und

Ganser, Den techst vbr des geleyemors

zuletzt

Wolkenstain,

Hans-Dieter

Mück/Hans

in: L y r i k des ausgehenden 14.

und 15. Jahrhunderts, hg. v o n Franz V . Spechtler, A m s t e r d a m 1 9 8 4 [ C h l o e 1], S. 1 1 5 - 1 4 8 , hier S. 119ff. und bes. S. 133), des W i e n e r C o d . 2 8 7 9

(Hermann

M e n h a r d t , Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der O s t e r reichischen Nationalbibliothek, B d . 1, B e r l i n 1960, S. 4 9 8 ) und der F e r n b e r g e r Dietrichsteinschen Handschrift des >Jiingeren Titurel< (Lotte Kurras, D i e M ü n chener Titurelhandschrift als S t a m m b u c h des J o h a n n Fernberger v o n E g e n b e r g , in: Codices manuscripti 12 [1986] S. 8 2 - 8 4 ) . a. H u g Schapler, 1500. b. Königstochter, 1500. Das Titelblatt fehlt. A . 12 Wolfenbüttel, H e r z o g August B i b l i o t h e k : 2 9 9 Hist. 2° a. b H e u t e separat in Pappbände des 19. Jahrhunderts gebunden, bildeten die f o l g e n den Titel ursprünglich eine Einheit. D e r B a n d w u r d e v o n H e r z o g August e r w o r ben und 1 6 3 6 / 3 7 in seinen K a t a l o g eingetragen. a. Königstochter, 1500. b. H u g Schapler, 1500. Vorlage der Faksimile-Ausgabe (s. A n m . 10). A . 13 W ü r z b u r g , Universitätsbibliothek: I. t. f. 3 4 2 Pappband des 19. Jahrhunderts aus d e m Besitz v o n Franz H o r n . Vgl. Ilona H u bay, Incvnabula der Universitätsbibliothek W ü r z b u r g , Wiesbaden 1966 (Inkunabelkataloge bayerischer B i b l i o t h e k e n 1), N r . 540 und 1145. a. K ö n i g s t o c h t e r , 1500. Das Schlußblatt und drei Blätter i m Innern fehlen. b. H u g Schapler, 1500. Das Titelblatt und ein B l a t t i m Innern fehlt. Das Fehlen des Schlußblattes v o n a und des Titelblattes v o n b k ö n n t e erklären, w a r u m die R e i h e n f o l g e der Titel hier anders ist als zumeist sonst: Vielleicht w u r d e die ursprüngliche A n o r d n u n g b + a v o m B u c h b i n d e r geändert, u m den Blattverlust zu kaschieren und durch U m t a u s c h den B a n d wieder m i t e i n e m Titelund e i n e m Schlußblatt zu versehen. A . 14 Zürich, Zentralbibliothek: 2 A p p . 102 S a m m e l b a n d in einem Einband des 17./18. Jahrhunderts (Pergament a u f Pappdeckel). D e r seit 1 8 9 4 i m Besitz der Stadtbibliothek Zürich befindliche B a n d ist stark benutzt, die einzelnen Teile sind defekt und z u m Teil handschriftlich ergänzt. a. P e t e r m a n n Etterlin: C h r o n i k der Eidgenossenschaft. Basel: Michael

Furter

1507. Unvollständig (Frank H i e r o n y m u s , Basler Buchillustration 1 5 0 0 - 1 5 4 5 , Basel 1984 [Publikationen der Universitätsbibliothek Basel 5], S. 29f. N r . 43). b. H u g Schapler, 1500. Es fehlen 8 Blätter. c. Königstochter, 1500. Es fehlen 3 7 Blätter.

268

Hans von Bühel, >Die Königstochter von

B.

Frankreich

Die Exemplare der Ausgaben von 1508 Exemplarnachweise flir die >KönigstochterHug Schapler< bei Heitz/Ritter (Anm. 14), Nr. 241. Hier sind zusätzlich zu den nachfolgend erwähnten Exemplaren solche in Berlin, Kassel, Kopenhagen und Wolfenbüttel genannt. In Wolfenbüttel ist jedoch laut Auskunft der Bibliothek keines nachgewiesen. Von den drei tatsächlich nachweisbaren Exemplaren zählen das Berliner (4° Yu 1446 R ) und das Kasseler (Fab. rom. fol. 11) zu den Kriegsverlusten, das Kopenhagener (18.-149) wird seit 1979 vermißt.

Β. 1

Darmstadt, Hessische Landes- und Hochschulbibliothek: 31 A 14 (früher Ε 3686) Lederband mit Stempelprägung, vielleicht noch 16. Jahrhundert. a. Hug Schapler, 1508. b. Königstochter, 1508.

B. 2

Dresden, Sächsische Landesbibliothek: Lit. Germ. rec. C 7, misc. 1 und 2 (Kriegsverlust) Die Bibliothek besaß bis 1945 unter diesen Signaturen den >Hug Schapler< und die >Königstochter< in den Ausgaben von 1508. Laut Mitteilung der Bibliotheksverwaltung waren beide Titel, den Signaturen nach zu urteilen, zusammengebunden. a. Hug Schapler, 1508. b. Königstochter, 1508.

B. 3

Gießen, Universitätsbibliothek: Ink. Ε 17930 Die >Königstochter< in einem Ledereinband des 19. oder 20. Jahrhunderts. Besitzeintrag des Bernburgischen Archivars und Bibliothekars Johann Ludwig Anton Rust von 1750 (vgl. A D B 30, [1890], S. 24f.). - In der Bibliothek befindet sich auch, mit Eintrag desselben Vorbesitzers und ähnlichem Einband, der >Hug Schapler< von 1508, beigebunden den >Translatzen< des Niklas von Wyle, Straßburg: Johann Prüß 1510 (Signatur: Ink. Ε 31428, 1.2). Ob die Bände ursprünglich zusammengehörten, ist nicht mehr festzustellen. - Vgl. Hermann Schüling, Die Postinkunabeln der Universitätsbibliothek Gießen, Gießen 1967 (Berichte und Arbeiten aus der Universitätsbibliothek Gießen 10), S. 214 und 232.

B. 4

London, The British Library: 11501.h.4 Die >Königstochter< in einem Einband des 19. Jahrhunderts, erworben 1846. Vgl. Johnson/Scholderer (wie A. 6), S. 382. - Der in der British Library vorhandene

269

Frieder Schanze >Hug Schapler< von 1508 wurde erst 1857 erworben; Einband des 20. Jahrhunderts (C. 39.h 15, Johnson/Scholderer, S. 421). B. 5

München, Bayerische Staatsbibliothek: Res. 2° P. o. gall. 23 h Einband des frühen 16. Jahrhunderts, Holzdeckel mit Schweinslederrücken, verziert mit Einzelstempeln in Blindprägung. Im Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des X V I . Jahrhunderts ( V D 16)Königstochter< in einem Einband des 19. Jahrhunderts, aus dem Besitz von Hans von Aufseß (Stempel auf dem ersten Blatt). D e m Exemplar fehlen das Titelblatt und die Schlußpartie ab B l . 53 sowie mehrere Blätter im Inneren. — Unter der Signatur 4° L. 1898 Postinc. besitzt das Germanische Nationalmuseum auch den >Hug Schapler< von 1508, ebenfalls aus von Aufseßschem Besitz und ebenfalls defekt, doch anders gebunden und in der Größe etwas abweichend. Daß die beiden Stücke einmal zusammengehörten, ist eher unwahrscheinlich.

B. 7

Schleusingen, Bibliothek des Naturhistorischen Museums Schloß Bertholdsburg (ehemals Gymnasialbibliothek): G 180 Einband aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Halbleder und Holzdeckel. Verzeichnet bei Hermann Wagner, Die alten Drucke der Gymnasialbibliothek, Programm des Hennebergischen Gymnasiums zu Schleusingen 1879 und 1883, Meiningen 1879-83, S. 19. a. Olivier und Artus; Valentin und Orso. Deutsch von Wilhelm Ziely. Basel: Adam Petri 1522 (Heitz/Ritter [Anm. 14], Nr. 695; das Schleusinger E x e m plar ist hier fälschlich zu Nr. 482 und 694 gestellt. Vgl. auch Hieronymus [unter A. 14a], S. 154 Nr. 186). b. Hug Schapler, 1508. c. Königstochter, 1508. d. Gart der Gesuntheit. Straßburg: Balthasar Beck 1529 (Francois Ritter, R e pertoire bibliographique des livres imprimes en Alsace au 16 e siecle de la Bibliotheque Nationale et Universitaire de Strasbourg, 4 Vols. Strasbourg 1934-1957, N r . 1205).

270

Anhang II >Trostspiegel fur die Elenden< — die >KönigstochterDie Königstochter

von

Frankreich

ssHssfs«iiiS^iSis-gf i - s i f l ο rDie Königstochter von

Frankreich

W

t

S

j

I * * • s t . :a e

i I i 5* _ £ T Z

|>teS -s 3 2 «

f

S 2 g S «•

•»atS S I Ί·

3

β 3 - f ε •§

· aΪ

ο t o u n

E

1 * I

ο T f L o 285

s Ξ £

ε

s

f g

2. J Die Königstochter von

J,

Ü §

•g

S i i är ot*



^Die Königstochter

von

Frankreicht

«k» j_ w Ε 5 £ s w c e βίί etν &5ε~^ »βw >*- 5, js s·SS '-s.'JÖ 1^ e Ρλ? s^τ^ £ fi eΕ αt 3 «Α tä^w. ^δ S c ^ t 1Λ S^ S g e ä-gf^f 5&δ Ξ «SS •g-S E ^ s g ^S^-ig^-ilrsSs g gl. 8,'as 1 * S«*ls-f e f ^ l e - s ε 3 dÄ »Ä^S ^vÄ-^^ ~ w ^ ^ S Ξ £ ώ C ? ^^ Ö Π -Ü -g Ü π ~ β S » S -fe . ü w ^ s es .a Ζΐ w ^ • S Q fοt l l ä ^ Q l ä v 2 «JS. Sss — s u s ^ g t s t: „ « y _ S "2 Os ^uo t ^ f s λ - c I g s ^ l - t ^ t i !irr β ^ ^§—.

Ο s § .V

(1* 5 « i; Die Königstochter von

305

Frankreich

Frieder

Schanze

f I | t i t IteTS f l b ι f §,t i Ή i ι Sf ι ^O C O L_L

Ο ^ Ό

ο ^ \o

306

Hans von Bühel, >Die Königstochter von

£ ~ &

w

Frankreich

JE » w

c

ν Gf

Ä

« ΐ

ii

ι Iii 11 Ii I Hl ι tip ff111 ο·)

ο



:>

307

ο

in sD

Frieder

308

Schanze

Hans von Bühel, >Die Königstochter von

Ct «1 c

Frankreich

«o» „ c c So^ I S g 2> t f » ^ s1 i'S.tf e^' e ^»o ^jpsc« ΡE c ^ w Ä. C C i" 8gi3*i' «äl» S e c •ε«*« He's SfJSSl

fS&if 309

ο T·f-. r

ο) rL-T^

Frieder

Schanze

#isiii||it|iifi iiiiiiitf B V » " . . fiS »-3 ÄCJf S f i ü ~ *r» Die Königstochter

323

von

Frankreich

Frieder

tSÄ lüS

Schanze

Φαηψ

324

Hans von Bühel, >Die Königstochter von

1 ä l » ^ Ρ »S s lReductorium morale< des Petrus Berchorius findet sich ein Beleg dafür, daß eine Geschichte mit dieser einfachen Schematik auch bezogen auf die Lusignans esistiert hat: »In mea patria pictavia fama est Castrum illud fortissimum de Lisiniaco per quendam militem cum fada conjuge fundatum fuisse et de fada ipsa multitudinem nobilium et magnetum originem duxisse et exinde reges Hierusalem et Cipri necnon comites Marchie et illo(s) de Pertiniaco originaliter procecisse [. . .] Fada tarnen visa nuda a marito mutata in serpentem fuisse dicitur.« Hinweis und Text bei Pierre Martin-Civat, La Melusine, ses origines, son nom, Poitiers 1969, S. 1. — Zitiert bei Claude Lecouteux, Zur Entstehung der Melusinensage, ZfdPh 98 (1979), S. 73-84, hier S. 80.

331

Anna

Mühlherr

böse, denn sie fuhrt dazu, daß Raymund den Totschlag verheimlicht.«19 - Melusine befiehlt Raimund nicht nur, die Tötung Ammrichs, einen Jagdunfall, zu verschweigen, sie trägt ihm überdies auf, sich ausgerechnet mit Berufung auf seine treuen Dienste gegenüber dem toten Herrn von dessen Sohn Bertram ein Stück Land zu erbitten, welches zum Stammsitz der Lusignans werden wird. Im Motiv der Landerwerbung mittels einer zerschnittenen Tierhaut 20 schwingt in diesem Zusammenhang das Moment des Illegitimen deutlich mit. 2. Der Tabubruch wird zunächst nicht geahndet. Erst die Nachricht von Geffroys Verbrennung des Klosters und der Mönche samt seines Bruders fuhrt die Peripetie herbei. - In der verzögerten Katastrophe sind die Geschichte Geffroys und das Motiv der gestörten Mahrtenehe eng verschachtelt. In Geffroys Untat wird die dunkle Seite des glanzvollen Aufstiegs der Lusignans hervorgekehrt. Geffroy figuriert für das Nebeneinander von Glanz und Verderben, Gut und Böse: Einerseits erscheint er als Kämpfer gegen das Böse par excellence, er wird als Überwinder von Ungeheuern typisiert, 21 andererseits ist er zu grauenvollen Verbrechen fähig. Dieser in ihm aufgespannte Gegensatz unterscheidet ihn von seinen Brüdern, welche bis auf Horribel, welcher ganz und gar böse ist, ausschließlich positiv in Erscheinung treten. Geffroys Doppelnatur korrespondiert der Melusines.22 Die mythische Schlangenfrau wird zum Sinnbild seiner geschichtlichen Wirklichkeit, und umgekehrt bricht in seiner Untat die verschwiegene Wahrheit des märchenhaften Aufstiegsglücks der Lusignans hervor, mit dem die reale Herrschaft dieser Familie begründet wird. Claude Lecouteux stellt den Doppelcharakter Melusines in einen mythologischen Zusammenhang: »La queue de serpent de Melusine a sans doute ete rapportee aux fees telles qu'elles se presentent dans les contes premelusiniens, afin de servir de preuve de leur caractere surnaturel et meme diabolique.«23 19

Walter Haug, Das Glück der Melusine. Vortrag gehalten im Chiemseer Kolloquium, a m 20. Juli 1984 [unveröffentlicht],

20

Vgl. Stith T h o m p s o n , Motiv-Index of Folk Literature, Kopenhagen 1955-1958, (Κ 185.1): deceptive land purchase, ox-hide measure. Im Unterschied zu seinen Brüdern ist er nicht an Herrschaftsgewinnung interessiert. Vgl. Couldrette, vv. 3489-3499; T h ü r i n g von Ringoltingen, S. 86, Z. 28-34.

21

22

Der Mönch Freimund und Horribel sind Personifikationen der gegensätzlichen, nebeneinanderstehenden Seiten der geschichtlichen Wirklichkeit des Adelsgeschlechts. Vgl. Roach (Anm. 3), S. 56f.: »Ces deux figures sont aussi l'incarnation de deux caracteristiques des Lusignan: fondateurs d'eglises et guerriers destructeurs« (S. 56).

23

Claude Lecouteux, Melusine et le Chevalier au Cygne, Paris 1982, S. 57, dort weiter: »Le serpent est le Symbole de Satan, et d'autres difformites ne sont pas tenues, au M o y e n Age, pour diaboliques.« Lecouteux, S. 30f. erwähnt in der G r u p p e der dämonisierenden >prämelusinischen< Erzählungen an erster Stelle Giraud de Barri, De Principium Instructione 111,27, »destine ä expliquer le caractere diabolique de Henri II, le fondateur de la dynastie des Plantagenets. Ce roi

332

Geschichte und Liebe im

Melusinemoman

Geffroy erfährt im Berg Avalon das Geheimnis seiner Mutter. Die Entdekkungsszene bildet den Höhepunkt der Geffroy-Geschichte, denn hier erfährt er die Wahrheit über sich selbst, und zwar »wie Perceval, Gawain und andere helden des artuskreises [. . .] erst gegen ende eines viele tausende von versen zählenden romans.« 24 Persine, die Mutter der Drillingsschwestern Melusine, Melior und Palestine, erklärt auf der Steinplatte eines von Geffroy entdeckten Grabmals folgendes: Ihr geliebter Gemahl König Heimas liegt hier begraben. Er schwor ihr bei der Heirat, sie nie im Kindbett zu besuchen, aber er brach diesen Eid. Deshalb entfloh sie mit ihren Töchtern in diesen Berg. Als sie fünfzehn waren, erzählte sie ihnen, welche Untreue Heimas an ihr beging. Da schlossen diese ihn in diesen Felsen ein, wo sich nun das Grab befindet. Als er starb, rächte sich Persine durch Flüche an ihren Töchtern, um sie für ihre Rache an Heimas zu bestrafen, da sie dessen Leid nicht ungesühnt lassen wollte. Das Geheimnis um Melusine wird aufgedeckt und bleibt dennoch eines. Die Herkunft Persines, ihrer Mutter, ist im dunkeln gelassen, wobei sie durch denselben Gegensatz zweier Wesensseiten gekennzeichnet ist, der Melusine und Geffroy eigen ist. Geffroy wird sich gewissermaßen seiner Identität als eines Rätsels inne. Der Aufstieg der Lusignans wird durch diese >Enthüllung< in einen Geschehenszusammenhang eingerückt, dessen >Sinn< verschlossen bleibt. Die am Ende des R o m a n s erzählten Episoden um Melusines Schwestern spielen über in die Erfahrungswirklichkeit des zeitgenössischen Publikums: Die Melior-Episode weist einen direkten Bezug zu einem das Lusignanhaus betreffenden historischen Ereignis auf: Der Dichter »met en scene un descendant de Guy, fils de Melusine. C o m m e ce chevalier insiste pour avoir Melior, celle-ci lui explique leurs liens de parente, le maudit, et predit que le dernier des Lusignan ä tenir le royaume d'Armenie en sera chasse et exile (vv. 6059—6135). Ainsi s'explique la decheance des Lusignan«, 25 die Vertreibung Leos VI. von

devint en 1150 due de Normandie, et par la mort de sa mere, comte d'Anjou et du Maine en 1151. Par son mariage avec Alienor, duchesse d'Aquitaine, divorcee de Louis VII, il avait obtenu la possession de presque toute la France meridionale et ainsi le Poitou et la Saintonge, terres d'election de la legende de Melusine. Surtout connu pour ses demeles avec Thomas Beckett [. . .], Henri II tenta de renverser tout le systeme des immunites du clerge. De lä ä voir dans de telles menees l'expression d'un caractere satanique, il n'y avait qu'un pas qui fut vite franchi« (S. 30). Lecouteux sieht im Unterschied zu Jacques Le Goff (Anm. 15) die Funktion des M e lusinenromans darin, daß das Scheitern der Adelsfamilie motiviert werden sollte (S. 43). — Melusines >Wesen< ist doppeldeutig und kann nicht auf einen der beiden Aspekte reduziert werden. Andere Auffassung bei Kurt R u h (Anm. 2), S. 17: »Melusine ist eine gute Fee«. Sicher bleibt unbestritten, daß Melusine »als Gattin und Mutter [. . .] tadelsfrei« ist (S. 23), aber die andere Seite an ihr sollte als Strukturmoment - sie ist Spiegel von Geoffroys geschichtlichem Wirken - nicht verkannt werden. 24

Hoffrichter (Anm. 1), S. 27.

25

Roach (Anm. 3), S. 57.

333

Anna

Mühlherr

Armenien durch die Sarazenen und das Ende der Lusignanherrschaft in diesem Königreich im Jahre 1375.26 Die andere Schwester Palestine muß in einem Berg in Aragonien den Schatz ihres Vaters Heimas hüten, bis einer seiner Nachkommen - also ein Lusignan — diesen an sich bringen und dann das Heilige Land erobern kann. Die Palestine-Episode >erklärt< das Scheitern der Kreuzzugsbemühungen der Lusignans, und auch dieses Thema scheint um dieselbe Zeit aktuell gewesen zu sein. »Damals war noch einmal die begeisterung [. . .] für die befreiung des heiligen landes von den heiden für kurze zeit aufgeflammt; und der träger und Vorkämpfer dieser bewegung war Peter I. von Lusignan, könig von Cypern (1360—1369).«27 Er durchzog das ganze Abendland, um zum Kreuzzug aufzurufen. Tausende folgten ihm. Am 10. Oktober 1365 nahm er Alexandrien im Sturm ein, nach zehn Tagen schon wurde es von den Sarazenen zurückerobert. 28 Wiederum suchte der zyprische König im Abendland nach Kreuzzugswilligen. Als er nach Kleinasien zurückkehrte, wurde er am 17. Januar 1369 ermordet. »Sein tragisches geschick [. . .] bestärkte das einmal entstandene interesse an den Lusignans . . . Noch in demselben jähre 1369 feiert einer der bedeutensten dichter seiner zeit, [. . .] Guillaume de Machaut [. . .] seine taten in der reimchronikartigen >Prise d' Alexandrien« 29 Das im literarischen Werk Erzählte motiviert auch hier eine realhistorische Situation: »Palestine gardait le tresor familial, qui aurait permis aux descendants d'Helinas d'acquerir la Terre Sainte. [. . .] Sur ce tresor d'Helinas semble peser une fatalite que l'empeche d'aider les Lusignan a conquerir Jerusalem.«30 Die Melior- und die Palestinegeschichte sind in Hinsicht ihrer direkten M o tivierungsleistung für zeitgenössische Realhistorie komplementär zur in geschichtliche Ferne entrückten Gründungslegende. Melusine wiederum ist im Unterschied zu ihren Schwestern, die in einer phantastischen Aventiurewelt beheimatet sind, >realiter< gegenwärtig »als >zuschauendes< Gespenst«31 wie als Symbolfigur dieser Geschichte und von Geschichte überhaupt, sofern sie mit ihrer Zwitternatur für das unbegreifliche Neben- und Ineinander von Gut und Böse, Glanz und Elend steht.

26

Hoffrichter (Anm. 1), S. 33f., datiert deshalb die von ihm postulierte gemeinsame Vorlage der beiden überlieferten französischen R o m a n e auf kurz nach 1375.

27

Hoffrichter (Anm. 11), S. 37.

28

Barbara Tuchman, A Distant Mirror. The Calamitious 14th Century, N e w York 1978, S. 543: »Wishing to make sure o f their immense booty, his followers insisted on sailing away with their gains, leaving Lusignan without enough forces to exploit his victory, or even hold it.«

29

Hoffrichter (Anm. 1), S. 37f.

30

Roach (Anm. 3), S. 62f.

31

Kuhn (Anm. 5), S. 155.

334

GesAichte und Liebe im

Melusinenromati

Geschichtliche Wirklichkeit scheint bestimmt durch das Walten eines Glück und Fatalität unauflösbar verbindenden Schicksals und, damit in eins gesetzt, durch einen undurchschaubaren und unaufbrechbaren Zusammenhang von Schuld und Strafe. Gleichzeitig hält der offene Schluß mit den »unbefriedigend-unabgeschlosssenen Geschickefn]« 32 der Melusineschwestern die Möglichkeit der Hoffnung auf ein Überwinden des >Fluches< bereit. Melior und Palestine sind prinzipiell erlösbar, und hierin liegt eine Zielbestimmung der Geschichte zum Positiven hin. Vor allem die Palestine-Episode muß in ihrer doppelten Funktion gesehen werden. Sie liefert einerseits eine fiktionale Begründung für ein realgeschichtliches Scheitern, andererseits wird mit den Mitteln der Fiktion ein höchst bedeutsamer Auftrag der Lusignandynastie evoziert. Realhistorisches wird zum Material eines Denkens über Geschichte in Erzählmodellen, welches die Balance hält zwischen der Auffassung von Geschichte als Prozeß des Scheiterns und Verfehlens einerseits und als zielbestimmt, sinnerfullt andererseits. 33 (2) Mit dem Mahrtenehemotiv wird nicht nur der Aufstieg der Lusignans und ihr geschichtliches Sein im Lichte einer irritierenden Ambivalenz gedeutet, der Geschichte der Begegnung des Gründerpaares und ihrer Ehe mit dem tragischen Ende k o m m t durchaus ein Eigengewicht zu. Die Ehe-Verbindung Melusines mit einem sterblichen Mann, der bereit ist, ihre Tabuseite unter allen Umständen zu akzeptieren, ist ihre einzige und einmalige Erlösungschance. Für R a i m u n d bedeutet die Begegnung mit ihr die Rettung aus einer verzweifelten Situation. Er, der Sohn eines armen Grafen, hat v o m reichen Onkel, der ihn wie ein eigenes Kind liebte, die Chance seines Lebens bekommen — und nun liegt dieser von Raimunds Hand getötet da. In dieser Situation begegnet ihm Melusine, durch sie gewinnt er wieder neuen Lebensmut. So ist also zunächst ihre Verbindung ein gegenseitiger Rettungsakt. In einer weiteren Hinsicht besteht ebenfalls eine Parität zwischen den beiden Liebespartnern: Nicht nur Melusine hat ihre >dunkle< Seite, R a i m u n d ist ihr durch sein Verschweigen des Totschlags gleichgestellt. Das in der Ehe verwirklichte »die ganze Personalität umfassendef ] Liebesglück« 34 ist an diese Voraussetzungen gebunden. Damit k o m m t der verzögerten Katastrophe, auf den ersten Blick einfach eine »Retardierung der Erzählhandlung« 35 und also ein Mittel der Spannungserzeugung, eine zentrale Funktion auf der Ebene des Inhalts zu: Das Eheglück 32 33

Müller (Anm. 9), S. 97. Als Hoffnungsträger für die sich an das Versprechen der Palestine-Aventiure anknüpfende Vision ließe sich das zyprische Lusignan-Königshaus (1191-1489) vermuten.

34

R u h (Anm. 2), S. 23.

35

Ulrike Kindl, >Melusine< - Feenmärchen oder historische Sage?, Annali della Facoltä di Lingue e Letterature Straniere di C a ' Foscari 23 (1984), S. 115-126, hier S. 119.

335

Anna

Mühlherr

bleibt auch nach Raimunds Übertreten des Sichtverbots so lange bestehen, wie er Melusines Geheimnis fur sich behält. Die Liebesgemeinschaft in der Ehe ist stärker als die Mechanik des Märchenmotivs. Melusine hat die Freiheit, ihrem Gemahl zu verzeihen — in der Hoffnung, er werde schweigen. 36 Solange R a i mund seine Partnerin annimmt und ihr die Doppelnatur nicht zum Vorwurf macht, kann sie bleiben. Raimunds Schuldzuweisung, Geffroys Untat sei durch ihr Wesen verursacht, zerstört den Lebensnerv der Ehe. Raimund ist taub für die weisen Worte seiner Gemahlin, die ihn anfleht, in Gottvertrauen das Geschehene hinzunehmen und das Leid mit ihr gemeinsam zu tragen. 37 Der Grund fur die Katastrophe liegt genau genommen darin, daß R a i m u n d die Ehepartnerin schuldig spricht, auf ihre Kosten eine billige Erklärung fur das Sinnwidrige und Unerklärliche sucht und sie deshalb verteufelt. Geschichts- und Liebesthematik verschränken sich in diesem Punkt: Die Geschichte der Lusignans zeigt das unauflösliche Miteinander von Gut und Böse, in dem sich alles Handeln vollzieht. Die Verbindung des Gründerpaares beruht auf diesen Prämissen, hält aber auch eine Möglichkeit bereit, >in der Welt< ein gelingendes Leben zu führen. R a i m u n d zerstört die Voraussetzungen dafür, eben weil er das Ineinander beider Seiten nicht hinzunehmen bereit ist. Die Art und Weise, wie R a i m u n d hier eine Erklärung für das Verbrechen seines Sohnes darin findet, daß er seine Frau dämonisiert, erinnert an Geffroys Vorwurf an die Mönche, sie hätten ihm den Bruder verzoubert.is Er läßt die Beteuerung Freimunds, er habe sich aus freien Stücken für den Ordensstand entschieden, nicht gelten, hält im Zorne die Mönchsgemeinschaft für abgrün36

Das Schweigegebot tritt also an die Stelle des Sichtverbotes. Vgl. dazu Kindl ( A n m . 3 5 ) , S. 119: »Tilburys namenlose Fee erläßt n u r ein Sicht-Verbot, w ä h r e n d Staufenbergs ebenso namenlose D a m e ein S c h w e i g e - G e b o t erstellt. Beides sind klassische Mysteriengesetze: das erstere w i r d der A u ß e n w e l t auferlegt, die sich d e m Geheimnis nicht uneingeweiht nähern d a r f [. . .], das zweite w i r d d e m Eingeweihten auferlegt, der bei strengster Strafe das Geheimnis nicht profanieren darf. [. . .] D e r spätmittelalterliche R o m a n scheint die Verbote geradezu zu mischen.« Kindl postuliert eine >alte< Bedeutungsschicht des Melusinenromans und sieht in den Geschichten der Schwestern Melusines »eine E n t w i c k l u n g verdeckt gebliebener Aspekte v o n Melusine selbst« (S. 1 2 3 ) . Die drei Schwestern seien Personifizierungen einer >Großen G ö t t i n c Melusine stehe für die Fruchtbarkeit, in Melior sei der J u n g f r a u - A s p e k t , in Palestine der Todes-Aspekt zu erkennen (S. 123f.).

- Dies ist weit hergeholt. G e g e n Kindls Versuch der R e k o n s t r u k t i o n eines kultur-

geschichtlich älteren Sinnzusammenhangs, der i m spätmittelalterlichen M e l u s i n e n r o m a n

ver-

deckt oder nicht m e h r verstanden w o r d e n sei, läßt sich jedenfalls einwenden, daß der R o m a n w o h l erst im 14. J a h r h u n d e r t e n t w o r f e n w u r d e und das E r z ä h l m o t i v der gestörten Mahrtenehe, das D r e i - S c h w e s t e r n - M o t i v , das Sperberschloß und der v o n U n g e h e u e r n b e w a c h t e Schatz z u m allgemein verfugbaren M o t i v r e p e r t o i r e dieser Zeit gehören. 37

C o u l d r e t t e , v v . 3 8 4 4 - 3 8 6 6 ; T h . v . R i n g o l t i n g e n , S. 9 1 , Z . 1 7 - 3 2 . Vgl. v o n ErtzdorfF ( A n m . 4), S. 4 5 3 : »Die Katastrophe hätte v e r m i e d e n w e r d e n k ö n n e n : das M u s t e r bietet Melusines T r o s t rede.«

38

T h . v . R i n g o l t i n g e n , S. 8 7 , Z . 2 0 ; vgl. C o u l d r e t t e v . 3 5 2 6 .

336

Geschichte und Liebe im

Melusinenroman

dig böse und zieht seine schrecklichen Konsequenzen daraus. Die inhumane Negation des Menschlichen im Anderen ist dasjenige, was an beiden zentralen Handlungspunkten die Schuld der Protagonisten ausmacht. Das von Geffroy angerichtete Fanal und das Verspielen der Erlösungschance Melusines treffen sich in diesem Punkt. Dies scheint eine wesentliche Diskussionsschicht des Textes. Das Problem einer menschlich lebbaren Wirklichkeits- und Weltgestaltung wird im fiktionalen Entwurf familiengeschichtlicher Konstellationen auf ein tragisches Ende hin verdichtet. 39 Die Projektion des Bösen auf den Anderen erscheint im Melusinenroman als eine elementare und zutiefst inhumane Zerstörungskraft, gegen die vernünftiges Zureden nichts ausrichtet und doch das einzige bleibt, was dagegengesetzt werden kann.

39

Kurt R u h ( A n m . 2) hat in der uneingeschränkten Bejahung der Erlösungsberechtigung des nicht-adamischen Wesens eine »humane Perspektive der Erzählung« ausgemacht (S. 22). Diese v o n R u h via Paracelsus naturphilosophisch begründete >humane< Haltung g e g e n ü b e r Elementargeistern ist j e d o c h , w i e mir scheint, nur ein bestimmter Aspekt einer viel grundsätzlicher angelegten ethischen Problem-Diskussion, welche sich allererst i m Zusammenspiel v o n G e schichts- und Liebesthematik ergibt und auch v o n daher verstanden werden m u ß .

337

WALTER H A U G

Über die Schwierigkeiten des Erzählens in >nachklassischer< Zeit

Im 12. Jahrhundert tritt in der Erzählliteratur bekanntlich ein neues sinnkonstituierendes Muster auf: das Muster des arthurischen Romans. 1 Chretien de Troyes hat es mit seinem Erstling, dem >ErecRingRuodliebLand, von welchem niemand wiederkehrte Die Bedingung für eine Erfüllung dieses Weges in der visionären Idealität des Zielpunkts, im arthurischen Fest, besteht darin, daß der Held ohne bleibenden Schaden durch seine aventiure hindurchgeht. Dies ist nur möglich, wenn er im wesentlichen bloße Funktion der Handlung ist, also nicht als eine der Zeitlichkeit unterworfene Person dargestellt wird: es darf keine Widersprüche geben zwischen Innen und Außen, d. h., das Äußere muß dem Inneren entsprechen, es darf sich nichts für den Helden Irreversibles ereignen, es darf keine unheilbaren inneren oder äußeren Verwundungen geben, j a selbst eine Erinnerung, die das Negative bewahren könnte, ist nicht zugelassen. Oder anders gesagt: Das Negative und das Positive und der Widerspruch zwischen beidem sind nach außen projiziert, in die Struktur übersetzt. Der Widerspruch faltet sich aus, indem der Held über die negativen und positiven Stationen der epischen Handlung geführt wird. Kennzeichnend ist im weiteren ein doppelter Kursus. Zweimal wird ein aventiuren-Weg angestoßen; einmal erfolgt der Anstoß von außen: ein Vertreter der Gegenwelt provoziert die höfische Welt, das zweitemal k o m m t der Anstoß gewissermaßen von innen, d. h., das Negative ragt über den Augenblickscharakter der Idealität ins höfische Fest hinein. Denn um nicht als Dauerstatus mißverstanden zu werden, muß sie sich auch selbst narrativ aus der Balance bringen. Die Vermittlung des Sinns, der in diesem Modell steckt, kann nur über die Einsicht in das strukturelle Konzept erfolgen. Der Sinn teilt sich dem Hörer oder Leser in dem Maße mit, in dem er das Konstrukt durchschaut. Der R e zipient wird also die prototypische Bewegung des Helden im vorgegebenen Handlungsmuster mitgehen und dabei erfahren, in welcher Weise Sinn als Idealität denkbar und realisierbar ist, eben als Vision aus einem Prozeß heraus, der von dieser Idealität in ihre Negation hinein und durch sie hindurchfuhrt. Das stellt selbstverständlich hohe Ansprüche an die intellektuellen Fähigkeiten des Publikums, und wenn es die hiermit gebotene Lösung versteht, erfordert es Energie und Mut, sie zu akzeptieren, denn es ist alles andere als bequem, Sinn prinzipiell als Übergang zu denken. Zugleich impliziert dies ein neues Verhältnis zur Literatur: sie muß als genuines Medium von Erfahrung begriffen werden. Dabei setzt sowohl die freie Konstruktion der Handlung im Sinne des Modells als auch die Form der R e zeption ein gewisses Bewußtsein von Fiktionalität voraus. Es mag dieses Fiktionalitätsbewußtsein nicht mit dem identisch sein, was wir heute darunter verstehen, doch wird man eine deutliche Ablösung von einer faktizitätsbezogenen Literaturtradition, wie sie in den heilsgeschichtlichen, legendarischen, exemplarischen und heroischen Typen vorliegt, schwerlich leugnen können.

340

Über die Schwierigkeiten

des Erzählens

in >nachklassischer
ParzivalErec< vorgelegt hat, mehrfach abgewandelt, indem er die Bedingungen für die Möglichkeiten narrativer Sinnkonstitution von Mal zu Mal verschärfte. Im >Lancelot< hat dieses Experimentieren wohl seinen äußersten Punkt erreicht. Im >Perceval< hat Chretien schließlich, wenn die Schlüsse, die man aus dem unvollendet gebliebenen R o m a n ziehen kann, nicht trügen, sein eigenes strukturelles Konzept überstiegen. 3 In welcher Weise geht die Entwicklung des Romans nach Chretien weiter? Wie wirkt sich die Herausforderung, die es darstellt, aus? Über welche U m formungsprozesse wird schließlich der neuzeitliche Typus erreicht? Die >nachklassische< Romanliteratur läßt sich theoretisch unter vier Hauptaspekten betrachten, die jedoch praktisch nicht sauber auseinanderzuhalten sind. Die nachfolgende Ausgliederung der Zeugnisse nach typischen Entwicklungstendenzen ist also mit entsprechenden Vorbehalten aufzunehmen, d. h., sie ist angesichts der Komplexität der Verschränkungen immer wieder nur darstellungstechnisch zu rechtfertigen. Überschneidungen sind nicht nur unvermeidlich, sondern sie können und sollen gerade auch das Ineinanderlaufen der Perspektiven zum Bewußtsein bringen. Es sind folgende vier Aspekte, mit denen bei der Betrachtung der Entwicklung des großepischen Erzählens nach Chretien zu rechnen ist: I. Die Entproblematisierung des Chretienschen Modells. Hierbei werden die genannten Schwierigkeiten dadurch gelöst, daß man den hohen Anspruch an das Verständnis und das Mitgehen der Rezipienten zurücknimmt. 3

Vgl. Walter Haug, Hat Wolfram von Eschenbach Chretiens >Conte du graal< kongenial ergänzt?, in: Werner Verbeke [u. a.] (Hgg.), Arturus Rex, Vol. 2: Acta Conventus Lovaniensis 1987 (Mediaevalia Lovaniensia, Series 1, Studia 17), Leuven [im Druck].

341

Walter Haug

II. Ein dezidiertes Provozieren des Modells in Form von Abwandlungen, die es in der Weise unterlaufen und aufbrechen, daß sie einzelne seiner Prämissen in Frage stellen. III. Der Rückgriff auf die älteren Sinnbildungsmuster, insbesondere dort, w o man wesentliche Bedingungen des Chretienschen Modells preisgegeben hat. Es kommt sowohl zu Kombinationen wie zu Gegenentwürfen. IV. Die schrittweise Abwendung von objektiven strukturellen Konzepten zugunsten einer Neubegründung des Erzählens von der Subjektivität der Figuren her - jener Paradigmenwechsel, der zum neuzeitlichen R o m a n führt. So hebt sich denn auf der einen Seite das arthurische Modell von den älteren Formen der narrativen Sinnkonstitution ab, wobei es aber in der weiteren Entwicklung in immer wieder neuer Weise in Interaktion mit ihnen tritt, während es sich in seiner Weiterentwicklung gleichzeitig an seinen eigenen Bedingungen abarbeitet. A u f der andern Seite trägt dieses Modell aber schon den Keim zu jener grundsätzlichen Umorientierung in sich, die das neuzeitlichsubjektorientierte Erzählen begründen wird. Es ergibt sich somit insgesamt ein höchst komplexes Bild durch ein Zusammenspiel zwischen verschiedenen literarischen Schichten, und dies von unterschiedlichen Impulsen aus. Ein zureichendes Gesamtbild wäre nur dann zu gewinnen, wenn es gelänge, für jedes einzelne Werk genau den Schnittpunkt der literarhistorischen Koordinaten zu bestimmen, dem es seine Eigenart verdankt. Hier kann lediglich eine erste Skizze mit Beispielen für die einzelnen Positionen geboten werden. 4 4

Ich entwickle diese Skizze auf der Grundlage von mehreren Vorstudien, auf die ich fur ausfuhrlichere Informationen zu verweisen genötigt bin. Zugleich vermag der Vergleich mit diesen Vorstudien aber auch deutlich zu machen, in welchem Maße inzwischen mein methodischer Zugriff differenzierter und das historische Bild komplexer geworden sind. Ich verdanke dies nicht zuletzt den Diskussionen bei der ersten Tagung des Reisensburger Gesprächskreises, die durch diesen Band dokumentiert wird. Es sind vor allem folgende ältere Arbeiten einschlägig: Paradigmatische Poesie. Der spätere deutsche Artusroman auf dem Weg zu einer machklassischem Ästhetik, in: Walter Haug, Strukturen als Schlüssel zur Welt, Tübingen 1989, S. 651-671; Das Bildprogramm im Sommerhaus von Runkelstein, ebd., S. 687-708; Der Teufel und das Böse (Anm. 1), S. 78ff.; Literaturtheorie (Anm. 1), S. 222fF.; Klassikerkataloge und Kanonisierungseffekte. Am Beispiel des mittelalterlich-hochhöfischen Literaturkanons, in: Aleida u. Jan Assmann (Hgg.), Kanon und Zensur, München 1987 (Archäologie der literarischen Kommunikation 2), S. 259—270; Francesco Petrarca — Nicolaus Cusanus — Thüring von Ringoltingen. Drei Probestücke zu einer Geschichte der Individualität im 14./15. Jahrhundert, in: Manfred Frank u. Anselm Haverkamp (Hgg.), Individualität, München 1988 (Poetik und Hermeneutik 13), S. 291-324; Literatur und Leben (Anm. 1), S. 23ff.; Wandlungen des Fiktionalitätsbewußtseins (Anm. 1); Von der Idealität des höfischen Festes (Anm. 1), S. 155ff. Folgende Grundrisse neueren Datums habe ich mit Gewinn konsultiert: Kurt R u h , Epische Literatur des deutschen Spätmittelalters, in: Willi Erzgräber (Hg.), Europäisches Spätmittelalter, Wiesbaden 1978 (Klaus von See [Hg.], Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 8), S. 117-188; Joachim Heinzle, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, Bd. 2. Vom hohen zum späten Mittelalter. Teil 2: Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/30-1280/90), Königstein 1984, S. 135ff.; Ursula Liebertz-Grün (Hg.), Aus der Mündlich-

342

Über die Schwierigkeiten

des Erzählens in >nachklassischer< Zeit

I. Die Entproblematisierung des Chretienschen Erzählmodells Es ist eine offene Streitfrage, in welchem Maße die Romanentwicklung nach Chretien in der Perspektive seines Modells zu interpretieren ist. Das Fortwirken älterer narrativer Muster, Einflüsse von andern Gattungen oder Typen her - man denke insbesondere an historische R o m a n e oder auch an die neue Kleinepik - oder auch die Existenz einfacherer Modelle mit arthurischer T h e matik neben Chretien, all dies muß davor warnen, den Blick zu strikt auf Chretien und seine Wirkung zu richten. Dabei ist jedoch zu beachten, daß man sich in Deutschland sehr viel entschiedener an Chretiens Modell orientierte als in Frankreich. Dies dürfte daran liegen, daß die neue französische Literatur nur in Auswahl deutsche Bearbeiter gefunden hat. Durch Hartmanns Versionen des >Erec< und des >Yvain< wurde hier das Chretiensche Strukturmuster in seiner klassischen Form zum Leitmodell. Demgegenüber gibt es nur wenige andere Einbürgerungsversuche, und diese sind durchwegs von eingeschränkter W i r kung gewesen: Der Florisroman k o m m t zunächst nicht über den niederrheinischen Literaturraum hinaus, Ulrichs >Lanzelet< hat eine nur geringe Ausstrahlung — die Überlieferung ist schmal, und im 13. Jahrhundert scheint ihn nur R u d o l f von Ems zu kennen. Das einzige Werk, das dem Chretienschen Typus Konkurrenz gemacht hat, war Wirnts >WigaloisErec< und der >Iwein< waren somit zunächst für den neuen höfischen R o m a n in Deutschland traditionsprägend. Der >Tristan< schließlich steht insofern für sich, als er nicht typusbildend wirkte. 5 So k o m m t es, daß die deutsche Tradition des höfischen R o m a n s sich in sehr viel höherem Maße als Auseinandersetzung mit dem Chretienschen Modell darstellt als die französische. Ich hebe deshalb zunächst die Grundzüge dieser Auseinandersetzung heraus. Die produktive Rezeption des arthurischen R o m a n s ist in hohem Maße dadurch gekennzeichnet, daß sie das Chretiensche Modell entproblematisiert. Es geschieht dies in der Weise, daß man das eigentlich Provozierende, nämlich die These, daß Sinn nur als immer neuer Durchgang durch seine Bedrohung erfahrbar und realisierbar ist, unterläuft. Man erreicht dies, indem man das dynamische Verhältnis zwischen der höfischen Idealität und dem Gegenweg durch die aventiuren-^Welt hindurch in eine statische Opposition verwandelt. Konkret bedeutet dies, daß das Negative nun nicht mehr als innere Krise in die keit in die Schriftlichkeit: Höfische und andere Literatur, Reinbek 1988 (Horst Albert Glaser [Hg.], Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, Bd. 1), hier vor allem die übergreifenden Beiträge von Horst Brunner, Klaus Grubmüller und Alfred Ebenbauer. Wichtige Einzelstudien bietet ferner: Friedrich Wolfzettel (Hg.), Artusrittertum im späten Mittelalter. Ethos und Ideologie, Gießen 1984 (Beiträge zur deutschen Philologie 57). 5

Vgl. u. S. 348 mit Anm. 10.

343

Walter Haug

höfische Idealität hineinspielt. Diese innere Krise, die den Augenblickscharakter des idealen Status z u m Ausdruck brachte, wird zugunsten bloß äußerer P r o vokationen preisgegeben, so daß die Welt des Hofes und die Welt der aventiure einander ohne innere Problematik gegenüberstehen. Das heißt zugleich, daß der Held unangefochten zum Vertreter der Idealität wird: er geht durch keine Gefährdung mehr hindurch, die sein Verhältnis zur Idealität mit beträfe und damit die dynamische Beziehung zwischen Artuswelt und aventiure narrativ umsetzte. W e n n er mehrfach auszieht, dann deshalb, weil es zu neuen B e d r o hungen durch die Gegenwelt k o m m t . W e n n der krisenlose Held jedoch auf diese Weise die arthurische Idealität verkörpert, dann wird die Opposition zwischen idealer höfischer Welt und Gegenwelt im G r u n d e entbehrlich, und so kann man denn den nächsten Schritt tun u n d den Helden sowohl dem H o f wie der Gegenwelt entgegensetzen. Das kann so weit gehen, daß der H o f Teil der dem Helden entgegenstehenden Welt wird, also unter negativem Vorzeichen erscheint. Jedenfalls aber wird der H o f frei fiir eigene Aktivitäten u n d ebenso sein Repräsentant, König Artus. Klaus Grubmüllers Studie zu diesem T h e m a zeigt, welche Ansätze der Chretiensche R o m a n für diese Entwicklung geboten hat — in diesem Band, S. 1—20 —, w e n n gleich ich, solange das Chretiensche Modell in Geltung ist, die Schwäche des Königs in erster Linie als Ausdruck der Instabilität des idealen Status verstehen möchte. Doch ist dies zweifellos ein Punkt, an dem die U m f o r m u n g ansetzen konnte. Der krisenlose Held gegenüber der aventiuren-Welt und in einem Verhältnis z u m Hof, das schwanken kann zwischen idealer Repräsentanz und kritischer Opposition: das ist die Konstellation des entproblematisierten Chretienschen Modells, wie wir es etwa im >WigaloisDaniel< oder in der >Crone< vor uns haben. Dieses u m seine Virulenz gebrachte Modell läßt sich nun zwar variieren, aber nicht eigentlich entwickeln, denn es enthält keine Problematik mehr, die zu strukturellen Experimenten herausfordern würde. Die Variation besitzt ihre dichterischen Möglichkeiten vielmehr allein in der Zuspitzung des Gegensatzes zwischen dem idealen Helden u n d der negativen Welt, der er entgegentritt. Denn damit diese Opposition zwischen der Verkörperung des Absolut-Guten und der Sphäre des Absolut-Bösen nicht an narrativem Reiz verliert, sieht man sich gezwungen, sie i m m e r weiter zu steigern. Die Gegenwelt wird zunehmend fantastischer, während der Held, u m mit ihr fertig zu werden, ins Ubermenschliche wachsen m u ß . O b von gewaltiger Stärke oder von unerhörter Klugheit, in j e d e m Fall tritt er in makelloser Perfektion den Ausgeburten einer dämonischen Imagination gegenüber. Hier feiert die neu gewonnene fiktionale Freiheit nun makabre Triumphe; sie wird, indem sie die Gegenwelt sich in ganzer teuflisch-grotesker Grausigkeit entfalten läßt, eine Freiheit zum Negativen.

344

Über die Schwierigkeiten

des Erzählens

in >nachklassischer
GarelRing< und, von europäischem R a n g , der >Don Quixotenachklassischer< Zeit

Rezipienten wirklich zu erreichen und zu ergreifen vermag. Wenn man nicht mehr den Nachvollzug verlangt — und schon dieses Verlangen erwies sich j a keineswegs als unproblematisch - , sondern über die Plausibilität des E x e m plarischen wirken will, so öffnet sich die Kluft zwischen Lehre und narrativem Effekt. Man beginnt sich Gedanken zu machen über die Wirkungsmöglichkeiten der Poesie. Die Zweifel beginnen mit R u d o l f von Ems, und sie finden sich radikalisiert bei Konrad von Würzburg wieder. Im >Wilhelm von Osterreich< erreichen sie insofern einen Höhepunkt, als hier — worauf Gisela Vollmann-Profe oben, S. 133, aufmerksam macht — sogar die Frage gestellt wird, ob nicht die Bösen aus den R o m a n e n Böses lernen könnten. Die Hypertrophie des Negativ-Fantastischen erfährt so seine Spiegelung in der Reflexion über negative Rezeptionsmöglichkeiten.

II. D i e P r o v o k a t i o n der Prämissen des C h r e t i e n s c h e n E r z ä h l m o d e l l s Die Entproblematisierung des arthurischen Modells war nicht die einzige Antwort, die man auf Chretiens kühnes Konzept gegeben hat. Statt seine Virulenz zu entschärfen, konnte man auch gegen seine Prämissen opponieren, und man hat dies in vielfältiger Weise getan. Man stellte also — narrativ - die Frage, inwieweit Chretiens Modell noch tragfähig sein konnte, wenn man teilweise von den Bedingungen abging, auf denen es beruhte, von jenen Bedingungen, die es ermöglichten, daß der arthurische Held letztlich doch unbeeinträchtigt seinen aventiuren-Weg durchzustehen vermochte, oder anders gesagt: die ihn zu einer bloßen Funktion der Handlung machten. Erträgt es das Modell, daß man dem Helden personale Züge zugesteht? Was geschieht, wenn Zufall, Zeitlichkeit, Körperlichkeit, Innerlichkeit, Entwicklung, und d. h. letztlich: Individualität Berücksichtigung finden? Ist eine Erfahrung von Sinn auf der Basis des Chretienschen Romankonzepts noch denkbar, wenn man den Zufall für unintegrierbar erklärt, wenn man dem Helden physische oder psychische Schwächen oder auch nur Unsicherheit zubilligt, wenn man die durch das Modell garantierte Korrespondenz zwischen Innen und Außen in Frage stellt, wenn man den Bezug des Helden zur Gesellschaft nicht vorgibt, sondern dieses Verhältnis sich entwickeln läßt, oder wenn sich in der Welt, der der Held begegnet, die Ereignisse nicht mehr nach der Logik des narrativen Schemas, sondern nach einer ihnen selbst zugehörigen Gesetzlichkeit verketten? All dies sind Möglichkeiten, Faktoren in der Erzählhandlung zuzulassen, die durch Chretiens Strukturmuster im Prinzip ausgeklammert waren, die nun aber in der Diskussion um seine Geltung ihr Recht forderten. Die Experimente mit solchen Brechungen des Musters stellen die im Vergleich zur Verflachung des Schemas erregenderen Formen der Auseinandersetzung mit der arthurischen Tradition dar.

347

Walter

Haug

Schon derjenige höfische R o m a n , in dem man die früheste Herausforderung des Chretienschen Modells sehen muß, der >TristanTristan< ist also von Anfang an eine radikale Gegenmöglichkeit zum arthurischen Modell präsent, eine Negation des Chretienschen Konzepts, die mit unnachgiebiger Konsequenz auf ein entsprechend kontrastives, tragisches Ende zielt. Aber der >Tristan< wird auffälligerweise nur sehr bedingt produktiv. Es bildet sich kein Typus. W o er nachwirkt, erscheint sein Konzept entschärft — so: programmatisch in Rudolfs von Ems >Willehalm von Orlens< - ,oder es bleibt im Episodischen stecken — es sei etwa an Konrads >Herzmaere< oder an den Liebestod im >Wilhelm von Österreich< erinnert; zu letzterem: Gisela Vollmann-Profe, oben S. 123. Für die Gattungsgesetzlichkeiten überaus aufschlußreich ist der in sich widersprüchliche Versuch des Pleiers, einen Artusroman als Liebesroman zu konzipieren; dazu die Interpretation von Christoph Cormeau in diesem Band, S. 39-53. 1 0 Der >Tristan< steht also als Sonderfall für sich. Im folgenden geht es hingegen um grundsätzliche, immer wieder aktuelle Möglichkeiten, das Chretiensche Modell aufzubrechen. 10

D i e Fortsetzer des Torsos, den Gottfried hinterlassen hat, sind ihrer A u f g a b e nicht gewachsen, sie bleiben weit unter seinem N i v e a u ; vgl. die Charakterisierung bei K u r t R u h

( A n m . 4),

S. 119. Z u r N a c h w i r k u n g in K o n t r a f a k t u r e n und episodischen F o r m e n siehe: W a l t e r H a u g , R u d o l f s >Willehalm< und Gottfrieds >Tristannachklassischer< Zeit

Der klassische arthurische Held kann versagen, ja er m u ß dies insofern, als er bei seinem Abstieg in die Gegenwelt an die äußerste Grenze der Gefährdung gefuhrt werden soll. Doch von diesem Durchgang durch die eigene Schwäche und O h n m a c h t , von dieser Erfahrung des Ausgeliefertseins an das Negative, bleibt am Ende nichts zurück. Die Erinnerung daran spielt keine Rolle. Der Durchgang durch die Gegenwelt ist zwar die Bedingung für die Erneuerung des höfischen Festes, aber in seinem utopischen Status ist die Gegenwelt aufgehoben, d. h., das Negative wirkt nur noch indirekt in seinem Augenblickscharakter nach. M a n kann dieses Konzept nun dadurch aus den Angeln heben, daß man dem Helden nicht nur ein funktional-punktuelles Erinnern zubilligt, sondern eine durchgängige Innerlichkeit, in der die Erfahrungen des aventiuren-Weges sich niederschlagen u n d damit das persönliche Bewußtsein prägen. Ein solches Erinnern als durchgängige Innerlichkeit ist dann auch durch den glücklichen Ausgang des Geschehens nicht mehr auszulöschen. Das Versagen wird damit zu einem Problem neuer Art: es m u ß nun innerlich bewältigt werden. Der Paradefall einer Provokation des Chretienschen Modells unter dem Aspekt der personalen Erinnerung ist der mittelenglische Artusroman >Sir Gawain and the Green KnightSir Gawain< keinen zweiten Kursus, der es aufheben könnte. Die geniale N e u e r u n g dieses späten Artusromans besteht in dieser Verwandlung der Begegnung mit d e m N e g a tiven zu einer Erfahrung, die als Erinnerung weiterwirkt u n d damit jede u t o pische Lösung unterläuft. 1 1 Die Rückseite der Fähigkeit zur Erinnerung ist die Möglichkeit zu vergessen. Wenn Iwein Laudine bzw. den Termin zur R ü c k k e h r zu ihr >vergißtReinfried von Braunschweig< — vgl. die Präsentation durch Derk O h l e n r o t h in diesem Band, S. 67—96. Der erste Teil des R o m a n s ist ein hohes Lied der triuwe. Sie wird von Reinfried und der dänischen Königstochter b e w u ß t als personale B i n d u n g 11

A u s f u h r l i c h e r dargestellt in: W a n d l u n g e n des F i k t i o n a l i t ä t s b e w u ß t s e i n s ( A n m . 1), S. 14ff.

349

Walter

Haug

durch alle Gefährdungen hindurch festgehalten. Der zweite Teil jedoch bringt eine Orientfahrt des Helden, auf der er in den Sog einer dämonischen Erotik gerät, die ihn seine Frau vergessen läßt. Es geht für ihn dann darum, aus dieser Welt wieder loszukommen und den Heimweg zu finden. Nun haben zwar schon bestimmte Formen des nachklassischen Artusromans eine dämonische Gegenwelt entwickelt, die nicht selten erotisch-gewaltsame Züge zeigt, doch kann dies für den Helden, solange das Chretiensche Modell wenigstens formal festgehalten wird, keine innere Gefährdung mit sich bringen. Erst wenn dem Dämonischen ein Held mit einer bewußten personalen Identität gegenübertritt, vermag die ins Fantastisch-Teuflische gesteigerte Gegenwelt verführerisch zu wirken und ihn auch innerlich in Gefahr zu bringen. Dies ist die Wende, durch die der >Reinfried< radikal aus der Tradition des klassischen Romantypus ausbricht. 12 Während im >Sir Gawain< und im >Reinfried< durch eine Eröffnung der Innerlichkeit über Erinnern und Vergessen die Identität des Helden thematisch wird, kann die Berücksichtigung psychophysischer Aspekte dazu führen, daß die Figuren zwar ebenfalls einen seelischen Innenraum gewinnen, dabei aber kaum in der Lage sind, ein Identitätsbewußtsein zu entwickeln. Dieser neue Typus des Romanhelden ist seinen Affekten ausgeliefert, er reagiert spontan auf das, was von außen auf ihn zukommt, er wird von Angst oder Lust, von Verzweiflung oder Uberschwang ergriffen, ohne daß ihm die Möglichkeit gegeben wäre, sich seine Erfahrungen anzuverwandeln. Das Musterbeispiel für diesen Vorstoß in eine affektive Innerlichkeit ist K o n rads von Würzburg >Partonopier und Meliurnachklassischer
Amor u n d Psyche< - , aber es ist ganz in die A k t i o n e n b e s t i m m t e r Figuren hineingelegt: es ist Meliur, die nächtliche Besucherin, die mit ihren Künsten P a r t o n o p i e r zu sich in ihr Land dirigiert. Die Z e r s t ö r u n g der Beziehung erfolgt d a n n ebenfalls durch Intrigen v o n außen, u n d das Wiederfinden ist erneut d e m Willen einer dritten Person, Meliurs Schwester Irekel, übertragen. A n die Stelle der idealtypischen Figuren, die über ein vorgegebenes H a n d l u n g s m u s t e r g e f ü h r t w e r d e n , tritt bei K o n r a d also der psychisch labile Held, d e m g e g e n ü b e r allein die P l a n u n g e n anderer Figuren d a f ü r sorgen, daß es zu einer gezielten H a n d l u n g k o m m t . 1 3 W ä h r e n d im >Partonopier< die P l a n u n g e n der S e k u n d ä r f i g u r e n aber doch d a f ü r sorgen, daß das traditionelle M u s t e r nochmals funktioniert, greift K o n rad dann Stoffe auf, bei denen das Geschehen nach Gesetzlichkeiten abläuft, die die Figuren aus eigener K r a f t n u r noch bedingt bewältigen k ö n n e n , so daß es sich fragt, o b i h m noch ein Sinn a b z u g e w i n n e n ist. D e r >Engelhart< handelt v o n zwei Freunden, v o n denen der eine durch eine unbedachte Liebesbeziehung in tödliche Gefahr gerät, w ä h r e n d der andere v o m Aussatz befallen w i r d . Hier wie d o r t erscheint die Situation aussichtslos, aber in j e d e m Fall rettet der Freund den Freund durch eine triuwe-Tat, die alle g e w o h n t e n Maßstäbe z u rückläßt. In einer Welt, in der m a n d e m U n b e r e c h e n b a r e n ausgeliefert ist, hilft n u r noch die u n g e w ö h n l i c h e moralische Tat. D o c h dafür, daß die triuwe letztlich den Sieg d a v o n t r ä g t , braucht m a n doch G o t t als Garanten, d. h., der >Engelhart< rekurriert auf ein legendarisches Schema. W o sich dies, wie i m T r o j a r o m a n , ausschließt, bleibt nichts, als die U n a b w e n d b a r k e i t des geschichtlichen Verhängnisses nachzuzeichnen. Alle Versuche, aus der V e r k e t t u n g des Unheils auszubrechen, sind hier z u m Scheitern verurteilt. M a n k a n n z w a r noch e r k e n nen, daß traditionelle S t r u k t u r m u s t e r wenigstens ansetzen, aber die böse M e chanik v o n Tat u n d Gegentat ist so machtvoll u n d die h a n d e l n d e n Figuren sind ihr so w e i t g e h e n d ausgeliefert, daß das Geschehen n u r m e h r seine eigene Sinnlosigkeit demonstrieren kann. Die Geschichte zehrt als Bereich des u n e n t r i n n baren Verhängnisses jedes fiktional-sinnkonstituierende M u s t e r a u f 1 4 Vor K o n r a d hat schon R u d o l f v o n Ems eine konsequente Lösung f u r das problematisch g e w o r d e n e Verhältnis v o n Innen u n d A u ß e n , v o n T u g e n d u n d Erfolg, v o n M o r a l u n d Glück vorgeschlagen: in seinem >Guten Gerhart< zeigt er einen Helden, dessen W e g sich an das klassische Schema des doppelten 13 14

Vgl. Der Teufel und das Böse (Anm. 1), S. 78f. Dazu die grundlegende Studie von Christoph Cormeau, Quellenkompendium oder Erzählkonzept? Eine Skizze zu Konrads von Würzburg >TrojanerkriegQuesteProsalancelot< das ganze Interesse auf die Möglichkeit der Selbsterlösung der Helden. Während die arthurische Ritterschaft auf den Untergang zutreibt, lösen sich einzelne Figuren mehr oder weniger erfolgreich aus der Weltverblendung heraus, um einen rein persönlichen Heilsweg zu gehen. Die Voraussetzung dafür ist eine neue R ü c k bindung des R o m a n s in ein religiöses Konzept, wobei jedoch nun die traditionelle objektiv-heilsgeschichtliche Einbettung zum R a h m e n für die subjektive Erlösungssuche wird. 17 So fuhrt denn, wenn man das klassische Modell mit seinem Prinzip der Korrelation zwischen äußerer Handlung und innerem Verdienst in Frage stellt, der Weg einerseits zu einer unabhängigen Innerlichkeit, in der der Sinn bald durch eine psychisch-affektive Irrationalität gefährdet und bald in der selbstgenügsamen moralischen Tat gerettet wird, während anderseits der Weg in eine Welt hineinführt, die zwar mehr oder weniger historisch wahr sein will, in deren Zufälligem und Verhängnisvollem man aber kaum mehr einen Sinn zu

15

Vgl. Walter Haug, Struktur und Geschichte, in: Walter Haug, Strukturen als Schlüssel zur Welt, Tübingen 1989, S. 254f.; Literaturtheorie (Anm. 1), S. 279ff.

16

Zu solchen punktuellen Großtaten siehe: Literaturtheorie (Anm. 1), S. 339ff. (S. 341, 3. Zeile v.

17

Vgl. La Queste del Saint Graal, hg. v. Albert Pauphilet, Paris 1965 (Les Classiques Franfais du

u., ein Versehen: es muß >Paris< statt >Appatris< heißen). Moyen Age 33), S. Xff.; Hans F r o m m , Lancelot und die Einsiedler, in: Klaus Grubmüller, R u t h Schmidt-Wiegand u. Klaus Speckenbach (Hgg.), Geistliche Denkformen in der Literatur des Mittelalters, München 1984 ( M M S 51), S. 1 9 8 - 2 0 9 , wieder in: Hans F r o m m , Arbeiten zur deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 2 1 9 - 2 3 4 , hier S. 223.

352

Über die Schwierigkeiten

finden

vermag.

Doch

die

des Erzählens

in machklassischer
Reinfried von Braunschweig< bedenkenlos kombiniert, d. h., der Orient wird hier zum O r t des Real-Fantastischen. Vgl. die Beiträge von Burghart Wachinger und Derk Ohlenroth in diesem Band, S. 9 7 - 1 1 5 bzw. S. 6 7 - 9 6 . Die bei der Auflösung des Chretienschen Modells freigesetzte Imagination überwuchert jene Wirklichkeit, zu der man mit dieser Auflösung zurückkehren wollte. Eine Sondermöglichkeit der Rückbindung des Fiktionalen an das Faktische stellt der Schlüsselroman dar. In seiner mittelalterlichen Form, die freilich nicht dem strengen Begriff genügt, gewinnt das Fiktionale eine teils mehr historische und teils mehr exemplarische zweite Sinnebene, indem das Geschehen auf konkrete geschichtliche Konstellationen hin transparent gemacht wird. Das Paradebeispiel ist der >Wilhelm von Wenden«, in dem der Held und seine Frau das böhmische Herrscherpaar spiegeln und verklären. 18 In der Nähe dieses Verfahrens stehen Anknüpfungen durch genealogische Konstruktionen, meist mit dem Zweck einer Legitimierung von Herrschaft, so wohl die >Melusine< in ihrer ursprünglichen Form. In anderer, sehr merkwürdiger Weise stellt Hans von Bühel die historische Transparenz in seiner >Königstochter von Frankreich« her. Angesetzt, aber gleich wieder aufgelöst wird die geschichtliche Wirklichkeit der Hauptfiguren im >Wilhelm von Osterreich«. Besonders intrikat ist die Verbindung von Fiktion und Historie im >Johann aus dem Baumgarten«. Die Beiträge zu diesem Band von Anna Mühlherr, Frieder Schanze und Manfred G. Scholz gehen u. a. auf diese Frage einer möglichen geschichtlichen R ü c k bindung in den genannten drei Werken ein; oben S. 329fF., 236fF., 150ff. 19

18

Vgl. Literaturtheorie (Anm. 1), S. 331ff. Zu der dort genannten Literatur ist nun hinzuzufügen: Hans-Joachim

Behr, Literatur als Machtlegitimation.

Studien zur Funktion der deutsch-

sprachigen Dichtung am böhmischen Königshof im 13. Jahrhundert, München 1989 (Forschungen zur Geschichte der Älteren deutschen Literatur 9), S. 175ff. 19

Mehr denn j e verstehen sich hier die angeführten Fälle beispielhaft. Unter den zahlreichen einschlägigen Zeugnissen seien immerhin noch der >Lohengrin< und der >Lorengel< erwähnt, da diese R o m a n e in besonderer Weise schillernde politische Transparenz zu besitzen scheinen: Man faßt konkrete historische Konstellationen, die Aktualität signalisieren, aber das Fiktionale überspielt sie dann doch immer wieder. Vgl. dazu die die historischen Bezüge immer wieder sehr forcierenden Studien von Heinz Thomas, Der Lohengrin, eine politische Dichtung aus der Zeit Ludwigs des Bayern, Rheinische Vierteljahrsbl. 37 (1973), S. 1 5 2 - 1 9 0 ; Brabant-Hennegau und Thüringen. Zur Entschlüsselung und Datierung des Lohengrin, P B B 108 (1986), S. 4 0 - 6 4 ; Maximilian als Schwanritter. Zur Deutung und zur Datierung des >LorengelGregorius< wurde versucht, das Legendenschema an das arthurische Strukturmuster anzulehnen. Das mußte selbstverständlich eine Problematisierung der simplen Legendenmechanik mit sich bringen: die Erfahrung der Gnade wurde nun über einen Prozeß dargestellt, der den Helden bis an die Grenze der Verzweiflung in die Gnadenlosigkeit hineinführte. 22 Wolfram hat diese Thematik in seinem >Parzival< aufgegriffen und sie mit äußerster Konsequenz bis zur kritischen Grenze narrativ durchgespielt. 23 Mit der Auflösung des arthurischen Strukturmusters kehrt man zu den einfacheren Legendenschemata zurück — man denke an die relativ anspruchslosen Legenden Konrads von Würzburg —, ja geradezu zu Reduktionsformen, so Konrads >EngelhartTrennung und Wiederfinden< arbeitet. Sie geht auf den hellenistischen R o m a n zurück und wird dann im Mittelalter mehr oder weniger christlich-legendarisch überformt. Die Tradition überkreuzt sich überdies mit verwandten Kurzerzählungen, die aus dem Orient kommen und wohl letztlich auf buddhistischen Jätakas beruhen: der Eustachius-Placidas-Typus. 24 Für den Westen am wichtigsten wird der >Apollonius von Tyrus< - vgl. den Beitrag von Burghart Wachinger in diesem Band, S. 97—115. Im >Wilhelm von Wenden< erreicht das Thema in Deutschland erstmals die Stufe des großen volkssprachlichen Romans. Dieses Schema von Providenz und Zufall kann hier deshalb besonderes Interesse beanspruchen, weil es im Typenspektrum eine eigentümliche Kontrastposition zum arthurischen R o m a n einnimmt. Zwar führt es wie das Chretiensche Modell seine Helden über eine Stationenfolge, die ihnen zudiktiert wird, wobei zugleich providentiell dafür gesorgt ist, daß die Handlung ein positives Ende findet. Aber anders als beim arthurischen Muster steht das, was den 22 23 24

Literaturtheorie (Anm. 1), S. 131ff. Dazu: Walter Haug, Parzival ohne Illusionen, DVjs 64 (1990) [im Druck]. Antti Aame/Stith T h o m p s o n , T h e types of the folktale. A classification and bibliography, Helsinki 1961 (FFC 184), N o 938.

355

Walter Haug

Helden zufällt, nicht bedeutungsvoll für eine je spezifische Position in einem durchstrukturierten Gesamtprozeß, sondern das Zufällige bedeutet hier nur sich selbst. U n d dieses Zufällige kann, ja muß bis zum Exzeß ausgespielt werden, geht es doch darum, daß es am Ende providentiell überwunden wird, was um so augenfälliger zu werden vermag, je unkalkulierbar wilder die Verwirrungen sich darstellen. Es ist bei diesem Typus kein Erfahrungsprozeß im arthurischen Sinne möglich, an seiner Stelle steht hier die Bewährung im Dulden und Ausharren. Die Providenz, die das Ziel garantiert, ist nicht weiter hinterfragbar. Bei diesem Erzählschema wird also wiederum eine Restriktion thematisch, die für das Chretiensche Modell unabdingbar war: während das Zufällige im Artusroman nicht wirklich blind sein durfte, sondern strukturell gebunden bleiben mußte, hat bei dem hier in Frage stehenden Erzähltyp das einzelne Zufällige keinen Sinn, es geht vielmehr gerade um das Durchhalten in der Sinnlosigkeit, ein Durchhalten, das dann auf nicht weiter einsichtbare Weise alles letztlich sinnvoll macht, indem es zum glücklichen Ende führt. Statt mit einem sinntragenden Strukturmuster wird mit einer schicksalhaft-göttlichen Instanz gearbeitet: sie garantiert die Belohnung für das Ausharren. Die Nähe zum legendarischen Typus ist unverkennbar; sie wird um so deutlicher, je weniger das Erzählen an den turbulenten Wechselfällen des Geschehens sein Genügen und Vergnügen findet und je mehr man die göttliche Fügung in den Vordergrund stellt.

4. Das märchenhaft-magische Muster Auch dieses Muster wird von einer Art Providenz getragen, aber sie wird hier sowenig thematisch wie beim vorausgehenden Schema die Zufälligkeit des Zufälligen. Anderseits vermag sich hier der Zufall aber nicht exzessiv zu entfalten, sondern er bleibt in der Regel in eine nicht weiter problematisierte oder reflektierte innere Logik des Geschehens eingebunden. Eine Entwicklungsmöglichkeit ergibt sich hingegen daraus, daß die märchenhafte Mechanik bis zu einem gewissen Grad in die magischen Fähigkeiten bestimmter Figuren gelegt werden kann. Der literarisch wichtigste Typus beruht auf der Formel von der Verbindung eines menschlichen Helden mit einer übernatürlichen Partnerin, wobei die Beziehung unter einer Art Tabu steht, das gebrochen wird, was dann zu einem zweiten Handlungsteil weiterführen kann, in dem die verlorene Geliebte wiedergewonnen wird (Typus »Amor und PsycheYvain< dezidiert aufgegriffen und dabei den märchenhaften Tabubruch zur arthurischen Krise umgedeutet. Bei der Auflösung des Chretienschen Modells war es 356

Über die Schwierigkeiten des Erzählens in >nachklassischer< Zeit

leicht möglich, die märchenhafte Mechanik zu restituieren, d. h., die Krise konnte wieder äußerlich aufgefaßt werden, also erneut als bloßer Tabubruch erscheinen. Doch eröffneten sich dabei zugleich neue Motivationsmöglichkeiten. Im >Partonopier< findet sich das Sehtabu aus der Tradition des Amor und Psyche-Märchens, aber merkwürdigerweise funktioniert es nicht mehr mechanisch. So wäre der Hof, dem die Beziehung zwischen Meliur und dem Helden durch den Tabubruch offenbar geworden ist, bereit, dem Paar zu verzeihen, doch nun ist es Meliur, die Partonopier erzürnt von sich stößt. Die Tabumechanik wird also von einer psychologischen Motivation abgelöst. 25 Eine Reihe anderer Literarisierungen des Schemas fallen stärker auf die Märchenmechanik zurück, wobei jedoch auf andere Weise neue Komplexitäten erreicht werden können. Ein aufschlußreiches Beispiel bietet der in diesem Band, S. 136—145, von Paul Sappler behandelte >Friedrich von SchwabenAmor und PsycheKönigstochter von Frankreich — dazu die Analyse von Frieder Schanze in diesem Band, S. 233-270. 6. Das exemplarisch-moralische Muster Strenggenommen geht es hierbei um eine Sinnvermittlung über einen in sich plausiblen beispielhaften Fall. Ein solches Muster ist fur den R o m a n nur bedingt verwendbar, denn es ist im Grunde an die Kleinform gebunden, da Komplexität die Überzeugungskraft des Exemplarischen mindert. 26 Wenn romanhaftes Erzählen beispielhaft wird, löst es sich zwangsläufig in Episoden auf. Es gibt Tendenzen in dieser Richtung. Vom >EngelhartKönigin Sibille< zu tun. 27 Auf der andern Seite kann alles Erzählen dann in einem weiteren Sinn beispielhaft verstanden werden, wenn es weder wie im klassischen Artusroman auf einen Nachvollzug und damit auf Problembewußtsein zielt noch im Vergnügen an der Darstellung und am Dargestellten aufgeht. So ist denn allen nicht-arthurischen Erzählmustern generell eine Rezeptionsweise zuzuordnen, bei der der Aspekt der Vorbildlichkeit im Vordergrund steht. Aber, wie gesagt, 26

Diesen Fragen w i d m e t sich Fortuna vitrea Bd. 2.

27

Die R o m a n e der Königin Sibille. In drei Prosafassungen des 14. und 15. Jahrhunderts, hg. v. H e r r m a n n Ήεπιβηη, Waldkirch 1977. - Es handelt sich u m eine Variante des Erzähltyps der unschuldig verfolgten Frau. Die H a n d l u n g zerfällt hier i m m e r wieder in Einzelepisoden, die ζ. T . exempelhaften Charakter besitzen: so die Episode mit dem treuen H u n d , der z u m Z w e i k a m p f gegen den M ö r d e r seines H e r r n antritt, die U n t e r n e h m u n g e n des Helfers Warakir, insbesondere seine R ü c k k e h r zur eigenen Familie, und der Schlußakt, in dem die Königin sich Karl unterwirft. Der Sinn des R o m a n s liegt in h o h e m Maße in diesen beispielhaften Einzelszenen. D e m g e g e n ü b e r fuhrt die Auflösung des Handlungsmusters hier aber auch zu burlesken Intermezzi, die ganz in ihrem erzählerischen Selbstzweck aufgehen.

358

Über die Schwierigkeiten des Erzählens in >nachklassischer< Zeit

es handelt sich hierbei nicht eigentlich um ein Erzählmuster, sondern um ein übergeordnetes Sinnverständnis, das quer liegt zu den verschiedenen, das Geschehen lenkenden Schemata. Explizit erscheint diese Funktionsbestimmung seit alters und immer wieder unter dem Etikett der Lehrhaftigkeit der Dichtung.

7. Das allegorische Sinngebungsmuster Einerseits ist im R o m a n immer wieder mit allegorischen oder teilallegorischen Einzelstücken gearbeitet worden; das bekannteste Beispiel ist die Auslegung der Minnegrotte in Gottfrieds >TristanAnticlaudianus< des Alan, der >Architrenius< des Johannes von Hauvilla u. a. Beide Verfahrensweisen wirken in >nachklassischer< Zeit weiter. So hebt etwa die Einhornjagd im > Wilhelm von Österreich< den Liebestod Wilhelms und Aglyes auf eine allegorische Ebene und macht ihn damit zu einem M y sterium, das ihm seine brüskierende Zufälligkeit zu nehmen vermag - so: Gisela Vollmann-Profe in diesem Band, S. 131. Im >ProsalancelotQuestereale< Episoden nachträglich immer wieder allegorisch interpretiert, wobei sich ihre >Realität< gegenüber dem allegorischen Sinn verflüchtigen kann. 28 Eine äußerste Möglichkeit zeigt sich schließlich in der allegoretischen Reduktion großepischer Stoffe, so der >Apollonius< in den >Gesta Romanorum* - dazu Brigitte Weiske in diesem Band, S. 116—122. Der allegorische R o m a n auf der andern Seite erscheint im späteren Mittelalter in einer neuen Form: insbesondere als Minneallegorie in vielfältiger Abwandlung. Das Paradebeispiel von europäischer Bedeutung ist det >Roman de la RosePartonopierSir Gawain< und im >Reinfried< zum Romanthema geworden. 3. Ist der Sinn nicht mehr durch ein Handlungsmuster gewährleistet, ist es vielmehr den Personen aufgetragen, ihn zu suchen und zu realisieren, so impliziert dies, daß eine Entscheidungsmöglichkeit gegenüber unterschiedlichen Wegen gegeben sein muß. Anders gesagt: der inneren Entscheidungsfreiheit der Personen muß eine komplexe Welt entsprechen; die narrative Handlung tendiert nun zu Mehrschichtigkeit und Mehrsträngigkeit. Dies kann auch über eine Kombination von traditionellen Mustern erreicht werden. Die Prosa32

Nicht berücksichtigt sind neue narrative Typen, die schon von ihrem Ansatz her subjektiv ausgerichtet sind: der neue allegorische R o m a n , die Anfänge der Autobiographie usw. Vgl. Zink (Anm. 30).

361

Walter Haug

lancelot-Kompilation z. B. arbeitet mit einem derartigen kombinatorischen Verfahren. Die Vielzahl möglicher Wege wird hier übrigens durch eine Vielzahl von Helden zur Anschauung gebracht, die >Queste< bietet geradezu eine Typologie von Figuren, die unter verschiedenen Voraussetzungen verschieden weit auf dem Heils weg vorankommen. 4. Die Kombination von narrativen Modellen kann darauf hinzielen, die Fragwürdigkeit sinnstiftender Muster aufzudecken: man setzt sie gegeneinander, um zu zeigen, daß weder das eine noch das andere zu greifen vermag. Im >Partonopier< wird das arthurische Modell auf das Schema des Amor und Psyche-Märchens gebracht. Aber der französische Hof, von dem der Held auszieht, verkörpert nicht mehr die arthurische Idealität; das Jagdabenteuer fuhrt Partonopier nicht mehr stellvertretend fur die Gesellschaft in eine Gegenwelt hinein, und der Tabubruch bedeutet keine innere Provokation im Sinne der arthurischen Krise. Auf der andern Seite aber wird auch die Mechanik des Märchenschemas zurückgelassen. In die dadurch entstehenden strukturellen Lücken werden subjektive Reaktionen und Strategien eingesetzt. In besonders aufschlußreicher Weise zeigt Johanns von Würzburg >Wilhelm von Österreichs wie die strukturelle Kombinatorik und die neue Subjektivität des Helden sich bedingen können: die Verfügbarkeit über die verschiedensten Schemata und damit die Freiheit ihnen gegenüber erlauben die subjektive Öffnung. Siehe dazu Gisela Vollmann-Profe, oben S. 131ff. In der >Melusine< verbindet sich das Amor und Psyche-Märchen mit einer Dynastiegründungssage, so daß es bis zu einem gewissen Grad historisiert wird. Die Verbindung wird in der Weise hergestellt, daß die Thematik, die diese Gründungssage einbringt, nämlich die Erfahrung, daß durch Zufall und Glück der Aufbruch zu etwas Neuem möglich ist, im Rahmen des Märchenschemas problematisiert wird. Die Ambivalenz des Neuen, die Verflochtenheit von Gut und Böse bei jedem glückhaften Aufstieg — hier ins Bild gebracht durch den verschwiegenen Totschlag zu Beginn —, erscheint in der Zwiespältigkeit der Partnerin. Dem Märchenschema gemäß steht die Beziehung unter einem Tabu, aber auch hier greift die Mechanik nicht mehr, sondern Melusine sieht zunächst über den Tabubruch hinweg. Erst als R a y m o n d ihr öffentlich das Böse, das ihr Sohn Geffroy getan hat, vorhält, kommt er zur Wirkung. Das Tabubruchmotiv gewinnt damit einen neuen, auf das neue Thema bezogenen Sinn: Melusine hätte aus ihrer Zwiespältigkeit erlöst werden können, wenn sich R a y mond zu dieser Zwiespältigkeit, d. h. zum Ineinander von Gut und Böse in seinem Glück, in seinem Leben, in seiner Du-Beziehung bekannt und nicht das Negative von sich auf den Andern, die Partnerin, geschoben hätte. — Diese Überlegungen stützen sich auf den Beitrag von Anna Mühlherr in diesem Band, siehe insbes. S. 335ff.33 33

Vgl. auch: Francesco Petrarca [. . .] (Anm. 4), S. 316ff.

362

Über die Schwierigkeiten

des Erzählens in >nachklassischer< Zeit

Die besondere Beziehung von Melusine u n d R a y m o n d beruht im übrigen auf einer eigentümlichen Vorgeschichte, die den Tabubruch unter dem Aspekt des neuen Themas familiengeschichtlich >mythologisiertMelusine< thematisiert und problematisiert die Wende zu einem Heldentypus, der jene Idealtypik zurückläßt, die durch die funktionale Einbindung in eine Struktur gefordert war. Wenn es im neuen R o m a n schließlich u m E n t w ü r f e von Lebenswegen geht, die aus individuellen Anlagen resultieren, so bedeutet dies, daß m a n gemischte Charaktere anzusetzen hat. Diese w i e d e r u m korrespondieren einer sich vieldeutig gebenden Welt. Der Weg des Helden erscheint dann als Versuch, in der Auseinandersetzung mit ihr, ja in der U m gestaltung der äußeren Wirklichkeit wie des eigenen Ichs Sinn zu konstituieren. Diese Wende zum gemischten Charakter setzt schon mit Wolframs >Parzival< ein. Parzival ist in programmatischer A b h e b u n g v o m traditionellen Heldentypus der Mensch, der, wie es im Prolog heißt, zugleich an H i m m e l u n d Hölle teilhat. U n d so demonstriert denn der R o m a n auch, daß die Problematik, in die Parzival hineingeführt wird, über das Schema des doppelten Kursus nicht zu bewältigen ist. Die A n t w o r t auf das Problem liegt auch hier schon im Bekenntnis z u m U n v e r m ö g e n , den Zwiespalt aus eigener Kraft aufzulösen. 34

Als Paradefall kann die Diskussion u m Glück und maze in Rudolfs von Ems Alexanderroman gelten; siehe Literaturtheorie (Anm. 1), S. 290ff.

363

Walter

Haug

In unterschiedlicher Weise wird es von nun an immer wieder um diese Anerkennung der eigenen Schwäche gehen, um die Einsicht in die Unvermeidbarkeit der Schuld, in die Notwendigkeit, mit dem Negativen zu leben und die Ambivalenz des Glücks in Korrespondenz zur innermenschlichen Verquickung von Gut und Böse zu sehen. Die Linie fuhrt von Wolframs >Parzival< und >Willehalm< bis zum >Fortunatusnachklassischer< Zeit

d. h. Ensembles, in denen das Zusammen- und Gegenspiel der einzelnen Werke Muster bildet, durch die die Möglichkeiten und Grenzen der weiteren Entwicklung abgesteckt erscheinen. Jeder Vorstoß in literarisches Neuland bringt das System in Bewegung, d. h., das Individuelle entfaltet sich, wenngleich es nicht in diesen Gegebenheiten aufgeht, im Rahmen historisch entstandener und tradierter Formen. Ungeachtet vielfältiger Abhängigkeiten vom außerliterarischen Bereich, bildet die Literatur hierbei ein System eigener Art, so daß Anstöße von außen, wenn sie sich literarisch niederschlagen, immer durch das System gebrochen werden. Die Eigengesetzlichkeit des Systems ist im übrigen um so mächtiger, je bewußter seine Autonomie ein Element seiner spezifischen historischen Ausprägung ist. In unserem konkreten Fall: mit der Entdeckung der Fiktionalität im hohen Mittelalter ist ein Status erreicht, in dem die Autonomie des Literarischen als wesentliches Element in das System eingegangen ist, um von nun an mit zur Debatte zu stehen. Die historische Logik literarischer und geistiger Systeme überhaupt ist somit niemals als bloße Funktion übergreifender Zusammenhänge zu fassen, sondern sie erschließt sich immer nur im Blick auf die systemeigenen Gesetzlichkeiten und Rahmenbedingungen. Was immer an systemexternen Anstößen zu berücksichtigen ist, die Geschichte der Literatur gewinnt ihre Gestalt dadurch, daß innerhalb ihres Systems und mit Hilfe seiner Gegebenheiten Spannungen ausgetragen werden, wobei in gleicher Weise mit Desintegrationen wie mit neuen Strukturierungen gerechnet werden muß. Von der historischen Logik her kann deshalb das Mißlingen so aufschlußreich sein wie die in sich geschlossene Neukonzeption, kann der Abweg genauso seine Wahrheit in sich tragen wie der, von der Systemgeschichte her gesehen, erfolgreiche Durchbruch in die Zukunft. Die Impulse, die die literaturhistorische Entwicklung vorantreiben, resultieren aus der K o m petenz des menschlichen Geistes, die Systeme, in denen er sich bewegt, zugleich in ihren Gesetzlichkeiten zu durchschauen und sie zu verändern, ja sie zu übersteigen. Die spezifische Logik der Geschichte des Geistes beruht wesentlich auf dieser Kompetenz zur Selbstreflexion; sie ist deshalb eine Logik der Brechungen, eine Logik des je und je Individuellen im Spiel mit und gegen die allgemeinen systematischen Bedingungen. Erst wenn man diesen Weg durchschritten hat, erhält das Individuelle sein nicht überzeitliches, sondern konkret-historisches Recht. Daß eine solche Skizze, wie ich sie hier geboten habe, gerade dies nicht zureichend deutlich zu machen vermag, wird dem kritischen Leser schwerlich entgehen. Sie mag sich jedoch im Blick auf die vorausgehenden Einzelstudien rechtfertigen, die gerade in ihrer Disparatheit dazu angetan sind, beispielhaft das allzu Schematische wieder zu differenzieren und dem Widerstrebenden und Querstehenden den ihm gebührenden Platz zu bewahren. Nicht zuletzt deshalb fühle ich mich den Freunden, Kollegen und Kolleginnen, die an diesem Band mitgearbeitet haben, so sehr zu Dank verpflichtet. 365

Corrigenda zu Fortuna vitrea Band 1

Seite VIII, Beitragstitel Walter Haug es muß heißen „Erzählens" statt „Erzählers"