Situationen des Erzählens: Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter 3110174677, 9783110174670

Von der großartigen Kultur des Erzählens im Mittelalter zeugen noch heute die höfischen Romane. Wenig aber weiß man von

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Situationen des Erzählens: Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter
 3110174677, 9783110174670

Table of contents :
Vorwort v
LUDGER LIEB und STEPHAN MÜLLER, Einleitung 1
SITUATIONEN
DIETER KARTSCHOKE, Erzählen im Alltag – Erzählen als Ritual – Erzählen als Literatur 21
LUDGER LIEB, Essen und Erzählen: Zum Verhältnis zweier höfischer Interaktionsformen 41
ALEXANDER LASCH und BÉATRICE LIEBIG, "schoene rede sunder zil": Erzählen beim Reiten in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters 69
STEPHAN MÜLLER, Datenträger: Zur Morphologie und Funktion der Botenrede in der deutschen Literatur des Mittelalters am Beispiel von "Nibelungenlied" und "Klage" 89
FUNKTIONEN
HAIKO WANDHOFF, "Künec, vernemt von mir!": Zur Problematik des ehrenhaften Erzählens von der eigenen Person im Artusroman 123
MICHAEL WALTENBERGER, Imaginative Präsenz und Geschlechterdifferenz: Überlegungen zu Chrétien und Marie de France 143
SILVIA SCHMITZ, "War umbe ich die rede han ir hauen": Erzählen im "König Rother" 167
MICHAEL SCHILLING, Potenziertes Erzählen: Zur narrativen Poetik und zu den Textfunktionen von Glossator und Erzähler im "Reynke de vos" 191
PERFORMANZ
FRANZISKA WENZEL, Schwierige Performanz: Ein Versuch über die pragmatischen Bedingungen literarischer Kommunikation im "Willehalm von Orlens" des Rudolf von Ems 219
HARALD HAFERLAND, Der auswendige Vortrag: Überlegungen zur Mündlichkeit des "Nibelungenliedes" 245
Verzeichnis der Abkürzungen 283
Autor-, Werk- und Stellenregister 285

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Situationen des Erzählens

Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Herausgegeben von

Ernst Osterkamp und Werner Röcke

20 (254)

W G DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York

2002

Situationen des Erzählens Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter

Herausgegeben von

Ludger Lieb und Stephan Müller

W G DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002

Gefördert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 537 der Technischen Universität Dresden. Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — ClP-Einheitsaufnahme Situationen des Erzählens : Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter / hrsg. von Ludger Lieb und Stephan Müller. — Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte ; 20 = (254)) ISBN 3-11-017467-7

ISSN 0946-9419 © Copyright 2002 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Vorwort Die Beiträge dieses Sammelbandes entstanden anläßlich des dritten Dresdner Arbeitsgesprächs zur Institutionalität der deutschen Literatur des Mittelalters. Es wurde veranstaltet vom Teilprojekt D (Leitung: Peter Strohschneider) des Sonderforschungsbereichs 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit" und fand am 22. und 23. Oktober 1999 an der Technischen Universität Dresden und auf Schloß Weesenstein statt. Für die fruchtbaren und angenehmen gemeinsamen Tage, für Diskussionen, für Kritik und Zuspruch danken wir den Beiträgern dieses Bandes sowie allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung, Hartmut Bleumer, Helmut Brall, Patricia Glöß, Jens Haustein, Beate Kellner, Thomas Neukirchen, Burghart Wachinger und Hans-Joachim Ziegeler. Zu danken haben wir auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Dresden — besonders Christine Stridde und Ullrich Bruchhold —, die uns sowohl bei der Durchführung der Tagung wie bei der Drucklegung des Bandes unterstützten. Ganz besonders gilt unser Dank Peter Strohschneider, der nicht nur die institutionellen Bedingungen für die Tagung schuf, sondern durch sein Interesse, seinen Rat und seine konstruktive Kritik das Erscheinen des Bandes überhaupt ermöglichte. Sehr verbunden sind wir nicht zuletzt auch dem Sprecher des Sonderforschungsbereichs, Gert Melville; seinem Engagement hat unser Projekt viel zu verdanken. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danken wir schließlich für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Dresden, am Frühlingsanfang 2002

Die Herausgeber

Inhalt Einleitung

1

Situationen DIETER KARTSCHOKE

Erzählen im Alltag - Erzählen als Ritual - Erzählen als Literatur

21

LUDGER LIEB

Essen und Erzählen. Zum Verhältnis zweier höfischer Interaktionsformen

41

ALEXANDER LASCH u n d BÉATRICE LIEBIG

schcene rede sunder Erzählen beim Reiten in der deutschen Literatur des Mittelalters

69

STEPHAN MÜLLER

Datenträger. Zur Morphologie und Funktion der Botenrede in der deutschen Literatur des Mittelalters am Beispiel von ,Nibelungenlied' und ,Klage'

89

Funktionen HAIKO WANDHOFF

Künec, vernemt von mir! Zur Problematik des ehrenhaften Erzählens von der eigenen Person im Artusroman

123

MICHAEL WALTENBERGER

Imaginative Präsenz und Geschlechterdifferenz. Überlegungen zu Chrétien und Marie de France

143

SILVIA SCHMITZ

War umbe ich die rede han ir hauen. Erzählen im ,König Rother'

167

MICHAEL SCHILLING

Potenziertes Erzählen. Zur narrativen Poetik und zu den Textfunktionen von Glossator und Erzähler im .Reynke de vos'

191

Vili

Inhalt

Performanz FRANZISKA WENZEL

Schwierige Performanz. Ein Versuch über die pragmatischen Bedingungen literarischer Kommunikation im ,Willehalm von Orlens' des Rudolf von Ems

219

HARALD HAFERLAND

Der auswendige Vortrag. Überlegungen zur Mündlichkeit des .Nibelungenliedes'

245

Verzeichnis der Abkürzungen

283

Autor-, Werk- und Stellenregister

285

Einleitung Was erzählen mittelalterliche Romane und Epen vom Erzählen? Welches Wissen über die narrative Praxis, über die Pragmatik und Performanz des Erzählens, läßt sich hieraus rekonstruieren? Ist es möglich, die situativen Bedingungen textintern dargestellter Erzählakte so zu beschreiben, daß Umrisse einer mittelalterlichen Erzählkultur erkennbar werden? Welche Unterschiede werden zwischen konversationellem und literarischem Erzählen gemacht und was läßt sich daraus schließen? Können den ,Erzählungen über Erzählungen' Funktionen zugewiesen werden wie die Modellierung des Rezipientenverhaltens oder die Diskussion kultureller Habitusformen? Schließlich: Inwiefern läßt sich — z. B. von den Selbstbeschreibungen der Texte oder von ihrer spezifischen Formiertheit — auf Rahmenbedingungen und performative Verfahrensweisen literarischen Erzählens schließen? Die zehn Beiträge dieses Bandes versuchen Antwort zu geben auf solche Fragen. Sie tun dies in der Form von Fallstudien zu einzelnen Texten oder Textgruppen, die überwiegend der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts zuzurechnen sind. Sie tun dies nicht, um konkrete historische Aussagen zu treffen — etwa zu den kontingenten Umständen einer ^Aufführung', eines Vortrage —, sondern um die allgemeinen pragmatischen Komponenten des Erzählprozesses in den Blick zu nehmen, den Spuren narrativer Praxis in den Texten nachzugehen und dieserart das kulturelle Wissen vom Erzählen und seinen Situationen zu konturieren, das für die mittelalterliche höfische Kultur konstitutiv gewesen sein könnte. Der erste Teil dieser Einleitung entfaltet das in den oben aufgeführten Fragen angedeutete Problemfeld und ordnet die Fragestellung in die gegenwärtige Forschungssituation ein. Im zweiten Teil werden die einzelnen Beiträge vorgestellt, ihr systematischer Zusammenhang erläutert und Perspektiven für weitere Forschungen aufgezeigt.

I. Das Mittelalter war ein Zeitalter der Sichtbarkeiten.1 Kulturelle Ordnung entstand in Interaktionsprozessen zwischen physisch Anwesenden: ,„BetrofVgl. grundsätzlich Peter Czerwinski: Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter. Exempel einer Ge-

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Ludger Lieb und Stephan Müller

fenheit', Situativität und Präsenz [waren] wichtige Prinzipien des politischgesellschaftlichen Lebens im Hoch- und Spätmittelalter."2 Noch ohne die abstrakten und funktional ausdifferenzierten Ordnungsgefüge moderner Institutionen waren daher im Mittelalter symbolische Kommunikationsformen3 im Raum wechselseitiger Wahrnehmung, also je situativ gebundene Kommunikationsformen das wichtigste Medium gesellschaftlicher Konsensproduktion und Sinnstiftung.4 .Rituelle', .zeremonielle' Handlungen waren von großer Bedeutung, weil sie Verbindlichkeiten garantierten, die auf andere Weise kaum zu garantieren waren, und weil sie die für jede gesellschaftliche Ordnung konstitutive Erwartungssicherheit gegenüber den Handlungen des Anderen herstellen konnten — ob nun als letzer Schritt, der diplomatisch vorverhandelte Sachverhalte öffentlich und damit für alle Beteiligten verbindlich vollzieht, wie Althoff meint,5 oder, wie Jan-Dirk Müller einwendet, als Modus der Sinnstiftung, in dem „Form und Inhalt [...] unauflösbar miteinander verknüpft" sind.6 Geht man von dieser hier nur grob skizzierten Funktionsweise vormoderner Gesellschaften aus, dürfte der Ansatz plausibel sein, Phänomene der Verstetigung kultureller Ordnungsmuster, die Durchsetzung ihrer Geltung und die dauerhafte Behauptung derselben, kurz: ihre Institutionalisierung zu analysieren.7 Eine eigene Rolle bei solchen Institutionalisierungsprozessen

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schichte der Wahrnehmung II. München 1993; Harald Haferland: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200. München 1988 (Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 10); Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995; Haiko Wandhoff: Der epische Blick. Eine mediengeschichtliche Studie zur höfischen Literatur. Berlin 1996 (Philologische Studien und Quellen 141). Bernd Thum: Öffentlichkeit und Kommunikation im Mittelalter. Zur Herstellung von Öffentlichkeit im Bezugsfeld elementarer Kommunikationsformen im 13. Jahrhundert. In: Horst Wenzel / Hedda Ragotzky (Hgg.): Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen. Tübingen 1990, S. 65-87, hier S. 70. Gerd Althoff: Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation für das Verständnis des Mittelalters. In: Frühmittelalterliche Studien 31 (1997), S. 370-389. Vgl. zusammenfassend jetzt Barbara Stollberg-Ritinger: Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Zeitschrift für Historische Forschung 27 (2000), S. 389-405. Gerd Althoff: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1997. Jan-Dirk Müller: Rezension zu Althoff (Anm. 5). In: PBB 122 (2000), S. 140-144, hier S. 144. Der hier zugrundegelegte Ansatz ist weiter ausformuliert bei Peter Strohschneider: Institutionalität. Zum Verhältnis von literarischer Kommunikation und sozialer Interaktion in mittelalterlicher Literatur. Eine Einleitung. In: Beate Kellner / Ludger Lieb / Peter Strohschneider (Hgg.): Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Frankfurt/M. u. a. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 1-26. Zur Theorie und Methode kul tu wissenschaftlicher Institutionalisierungsforschung vgl.

Einleitung

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scheint seit dem 12. Jahrhundert die volkssprachlich-höfische Literatur gespielt zu haben. Doch war diese im Mittelalter noch kaum gegenüber anderen höfischen Kommunikations- und Interaktionsformen ausdifferenziert — wenn auch einzelne Geniestreiche höfischer Erzählkunst den Status einer autonomen Kunst vorausahnen lassen. Vielmehr scheint Literatur noch weitgehend in andere Interaktionen am Hof eingebunden und mit diesen in Wechselwirkung zu stehen. Wenn also die Fürstenhöfe des späten 12. Jahrhunderts, d. h. jene sozialen Kontexte, in denen aller Wahrscheinlichkeit nach die ,klassischen' höfischen Erzähltexte entstanden oder für die sie doch gedacht waren, wenn also diese Höfe fragile, sich erst etablierende Sozialgefuge waren, dann spricht einiges dafür, dies auch für den Hof als Ort literarischer Produktion und Rezeption anzunehmen. Man darf somit wohl damit rechnen, daß die höfische Literatur in zweifacher institutioneller Relation zu ihrer höfischen Umwelt stand: Sofern sie auch eine Form höfischer Interaktion darstellt, war sie einerseits selber zu institutionalisieren; es mußten Bedingungen geschaffen werden, die eine Produktion und Rezeption von Literatur — das heißt konkret: komplexe und/oder lange Texte mit erheblichen Aufmerksamkeitsanforderungen — überhaupt erlaubten; eine Einschätzung, die sich übrigens auch mit Formen literarischer Selbstbeobachtungen deckt.8 Andererseits konnte sie ihrerseits

Karl-Siegbert Rehberg: Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen (TAIM). In: Gerhard Göhler (Hg.): Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie. Baden-Baden 1994, S. 47—84; Karl-Siegbert Rehberg: Die .Öffentlichkeit' der Institutionen. Grundbegriffliche Überlegungen im Rahmen der Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen. In: Gerhard Göhler (Hg.): Macht der Öffentlichkeit - Öffentlichkeit der Macht. Baden-Baden 1995, S. 181-211; Karl-Siegbert Rehberg: Die stabilisierende ,Fiktionalität' von Präsenz und Dauer. Institutionelle Analyse und historische Forschung. In: Reinhard Blanker / Bernhard Jussen (Hgg.): Institution und Ereignis. Uber historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens. Göttingen 1998 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts fur Geschichte 138), S. 381—407; Karl-Siegbert Rehberg: Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien — Eine Einführung in systematischer Absicht. In: Gert Melville (Hg.): Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart. Köln — Weimar — Wien 2001, S. 3-49, und Gert Melville: Institutionen als geschichtswissenschaftliches Thema. Eine Einführung. In: ders. (Hg.): Institutionen und Geschichte. Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde. Köln - Weimar - Wien 1992 (Norm und Struktur 1), S. 1 - 2 4 . Man denke nur an Schweigegebote, vertextete Publikumsanreden von oft drohendem, zumindest aber Aufmerksamkeit heischendem Gestus; vgl. u. a. Franziska Wenzel in diesem Band, S. 219-243. Aber es fehlt auch nicht an expliziten Äußerungen zur Problematik poetischer Kommunikation am Hof, wie etwa in Walthers sog. ,Thüringer Hofschelte'; dazu Peter Strohschneider: Fürst und Sänger. Zur Institutionalisierung höfischer Kunst, anläßlich von Walthers Thüringer Sangspruch 9,V [L. 20,4]. In: Ernst Hellgardt / Stephan Müller / Peter Strohschneider (Hgg.): Literatur und Macht im mittelalterlichen Thüringen. Köln - Weimar - Wien 2002, S. 85-107.

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Ludger Lieb und Stephan Müller

institutionalisierende Funktionen übernehmen, etwa indem sie soziale Rollen und adäquates Rollenverhalten spielerisch vorführte und so deren Geltung und Akzeptanz verstärkte oder indem sie im Sinne einer ,funktionalen Performativität' „Diskurse, Praktiken oder soziale Zusammenhänge zu konstituieren, zu verändern und sich in sie einzuschreiben" vermochte. 9 Die Institutionalisierung der höfischen Literatur läßt sich einerseits von textinternen Strategien aus beobachten, wenn man ζ. B. literarische Eigengeschichten, spezifische narrative Konstellationstypen oder Wiederholungsformen wie Erzählschemata und Topoi in den Blick nimmt. 10 Im vorliegenden Band richtet sich der Fokus der Untersuchungen dagegen eher auf die Einbettung narrativer Kommunikation in die sozialen Kontexte des Hofes, also auf Phänomene der Etablierung von Rollen, Funktionen und Situationsarrangements, die das Gelingen literarischer Kommunikation wahrscheinlich machen konnten und eine Verläßlichkeit und Wiederholbarkeit solcher Kommunikation garantierten. A n den Forschungszusammenhang, in dem die symbolischen Handlungen des Mittelalters diskutiert werden, läßt sich dies in zweifacher Perspektive anschließen: Erstens sind literarische Texte in ihrer Symbolhaftigkeit als Bestandteil jener Interaktion am Hof interpretierbar, die Vgl. Hans-Jürgen Bachorski / Werner Röcke / Hans Rudolf Velten / Frank Wittchow: Performativität und Lachkultur in Mittelalter und früher Neuzeit. In: Paragrana 10 (2001) Heft 1, S. 157-190, hier S. 173. Einen solchen Ansatz verfolgen einige der im Dresdner SFB „Institutionalität und Geschichtlichkeit" entstandenen Aufsätze, z. B.: Beate Kellner: Autorität und Gedächtnis. Strategien der Legitimierung volkssprachlichen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Gottfrieds von Straßburg „Tristan". In: Jürgen Fohrmann / Ingrid Kasten / Eva Neuland (Hgg.): Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentages 1997. Bd. 2. Bielefeld 1999, S. 484-508; Beate Kellner: Eigengeschichte und literarischer Kanon. Zu einigen Formen der Selbstbeschreibung in der volkssprachlichdeutschen Literatur des Mittelalters. In: Kellner / Lieb / Strohschneider (Anm. 7), S. 153— 182; Ludger Lieb: Der Jahreszeitentopos im ,frühen' deutschen Minnesang. Eine Studie zur Macht des Topos und zur Institutionalisierung der höfischen Literatur. In: Thomas Schirren / Gert Ueding (Hgg.): Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium. Tübingen 2000 (Rhetorik-Forschungen 13), S. 121-142; Ludger Lieb: Eine Poetik der Wiederholung. Regeln und Funktionen der Minnerede. In: Ursula Peters (Hg.): Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. Stuttgart - Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 506—528; Stephan Müller: Oswalds Rabe. Zur institutionellen Geschichte eines Heiligenattributs und Herrschaftszeichens. In: Melville: Institutionalität und Symbolisierung (Anm. 7), S. 451-475; Stephan Müller: Iring im Exil. Über einen Konstellationstyp der Heldensagentradition im ,Nibelungenlied', in der ,Nibelungenklage' und im ,Biterolf und Dietleib'. In: Hellgardt / Müller / Strohschneider (Anm. 8); Peter Strohschneider: Einfache Regeln - komplexe Strukturen. Ein strukturanalytisches Experiment zum .Nibelungenlied'. In: Wolfgang Harms / Jan-Dirk Müller (Hgg.): Mediävistische Komparatistik. FS Franz Josef Worstbrock. Stuttgart - Leipzig 1997, S. 43-75. Vgl. zum Komplex der literarischen Wiederholung als institutioneller Mechanismus auch Peter Strohschneider: Situationen des Textes. Okkasionelle Bemerkungen zur ,New Philology'. In: ZfdPh 116 (1997), Sonderheft, S. 62-86, bes. S. 80-85.

Einleitung

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als kaum zu überschätzendes Instrument kultureller Selbstverständigung wie auch der institutionellen Verfestigung höfischer Normen zu beschreiben war. Zweitens geschieht das, soweit wir vermuten können, u. a. auch in Form der öffentlichen Inszenierung der Texte, so daß prima vista die literarische Erzählkultur im Mittelalter nicht nur vom Inhalt aus gesehen werden darf, sondern gerade auch in ihren Vollzügen eine öffentliche höfische Interaktionsform ist. Ein Reflex solch pragmatischer Relevanz des Erzählens ist vielleicht die viel zitierte Sitte am Artushof, nicht zu essen, bevor nicht eine Geschichte erzählt wurde.11 Eine Perspektive, die nach der Institutionalisierung des Erzählens am Hof fragt, kann die Augen öffnen dafür, daß solche Kommunikation recht voraussetzungsreich ist:12 Sie fordert von den Rezipienten die Unterordnung unter die Stimme des Erzählers und unter die Zeitansprüche des Erzählens, sie bedarf kollektiver Aufmerksamkeit und ist als kodexgestützter Betrieb eine teure Sache, die in den Händen von Spezialisten lag.13 Vortrag und Vorlesen sind bezüglich ihrer kommunikationshistorischen Bedingungen aufwendige Akte, von denen man vermuten darf, daß sie in den Texten Spuren hinterlassen haben. Solche Spuren wären etwa textinterne, oft beiläufige Informationen über die Art und Weise des Erzählens oder Elemente des Wissens über Modalitäten des Vortrags und des Vorlesens, die sich explizit z. B. in Prologen erhalten haben, die aber auch implizit in der ,Formiertheit' der Texte sowie in der Gestaltung textinterner Erzählsituationen sedimentiert sind. Insofern die Beiträge dieses Sammelbandes Spuren narrativer Praxis in den Texten verfolgen, treffen sie sich mit der Forschungstradition zum Minnesang als ^Aufführungsform'.14 Hier wie dort wird versucht, von der angenommenen .Aufführung' der Texte auf ihren poetologischen Status und ihre Funktionalität zurückzuschließen. Die Problematik dieses in der Minnesangforschung viel diskutierten Ansatzes stellt sich auch für die Erforschung einer Performanz des Erzählens. Denn obwohl die Inszenierung von Gesang 11

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Vgl. dazu in diesem Band die Beiträge von Kartschoke (S. 21 und 32), Lieb (S. 66f.) und Wandhoff (S. 130f.). Vgl. Johannes Schwitalla: Erzählen als die gemeinsame Versicherung sozialer Identität. In: Wolfgang Raíble (Hg.): Zwischen Festtag und Alltag. Zehn Beiträge zum Thema .Mündlichkeit und Schriftlichkeit'. Tübingen 1 9 8 8 (ScriptOralia 6), S. 1 1 1 - 1 3 2 , bes. S. 114. Vgl. die Zusammenstellung bei Kartschoke, in diesem Band; vgl. auch Elisabeth Gülich: Ansätze zu einer kommunikationsorientierten Erzähltextanalyse (am Beispiel mündlicher und schriftlicher Erzähltexte). In: Wolfgang Haubrichs (Hg.): Erzählforschung 1. Theorien, Modelle und Methoden der Narrativik. Mit einer Auswahlbibliographie zur Erzählforschung. Göttingen 1976 (LiLi Beihefte 4), S. 2 2 4 - 2 5 6 , hier S. 228. Vgl. grundlegend den Sammelband: Jan-Dirk Müller (Hg.): .Aufführung' und .Schrift' in Mittelalter und früher Neuzeit. Stuttgart — Weimar 1996 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 17).

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Ludger Lieb und Stephan Müller

deutlicher einen (para-)rituellen kommunikativen Gestus am Hof darstellt als das Erzählen von Geschichten, ist auch für den höfischen Sang festzuhalten, daß konkrete Aussagen über die situationalen Umstände einer Aufführung nur selten zu finden sind und daß man sich mit der Auswertung der Reflexe der Aufführungssituation auf methodisch fragilem Terrain bewegt.15 Nur selten werfen die Reflexe der Aufführungssituation interpretatorisches Kapital ab.16 Man wird also auch bei der Spurensuche im Bereich der Performanz des Erzählens sehr behutsam sein müssen. Dabei stehen die hier vorgelegten Studien nicht isoliert, sondern fügen sich in Reihe von Ansätzen, die in jüngster Zeit die Performanz des Erzählens von ganz verschiedenen Perspektiven aus zu fassen versuchen. So haben neuere Forschungen zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit17 die Konstituenten mittelalterlicher Performanzsituationen herausgearbeitet, etwa ihre Traditionalität und Kommunalität, und hoben hervor, daß ein unliterarisiertes Publikum in der Performanz die Autorität eines Textes von der Autorität des Vorlesers nicht zu unterscheiden vermochte, der Text gewissermaßen „in der unhinterfragbaren Performanz versunken" war.18 Auch in der Auseinandersetzung mit der als performative turn der Kulturwissenschaften etikettierten Hervorhebung von

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Vgl. Peter Strohschneider: Auffiihrungssituation: Zur Kritik eines Zentralbegriffs kommunikationsanalytischer Minnesangforschung. In: Johannes Janota (Hg.): Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis. Tübingen 1993 (Vorträge des Augsburger Germanistentages 1991 Bd. 3), S. 56-71; Peter Strohschneider: ,nu sehent, wie der singet!' Vom Hervortreten des Sängers im Minnesang. In: Müller (Anm. 14), S. 7-30; Jan-Dirk Müller: Aufführung — Autor — Werk. Zu einigen blinden Stellen gegenwärtiger Diskussion. In: Nigel F. Palmer / Hans-Jochen Schiewer (Hgg.): Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9 —11. Oktober 1997. Tübingen 1999, S. 149-166; Albrecht Hausmann: Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität. Tübingen - Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 40), S. 130-138 u. ö.

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Ein Beispiel etwa jüngst Jan-Dirk Müller: Performativer Selbstwiderspruch. Zu einer Redefigur bei Reinmar. In: PBB 121 (1999), S. 379-405. Vgl. Ursula Schaefer: Vokalität. Altenglische Dichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Tübingen 1992 (ScriptOralia 39). Franz H. Bäuml: Autorität und Performanz. Gesehene Leser, gehörte Bilder, geschriebener Text. In: Christine Ehler / Ursula Schaefer (Hgg.): Verschriftung und Verschriftlichung. Aspekte des Medienwechsels in verschiedenen Kulturen und Epochen. Tübingen 1998 (ScriptOralia 94), S. 248-273, das Zitat S. 262. - Eine Poetik der Performativität, die Elemente eines Epos mit den Bedingungen und Möglichkeiten einer Performanzsituation zu korrelieren vermag, entwickelte jüngst Volker Mertens: Inszenierte Mündlichkeit und szenisches Erzählen. Überlegungen zu einer performativen Poetik des Nibelungenliedes. In: Danielle Buschinger / Jean-François Candoni (Hgg): Les Nibelungen. Actes du Colloque du Centre d'Etudes Médiévales de l'Université de Picardie-Jules Vernes, Amiens (12 et 13 Janvier 2001). Amiens 2001 (Médiévales 12), S. 85-98.

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Einleitung

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Inszenierung, Theatralität und Medialität19 haben sich fruchtbare Konzeptualisierungen der mittelalterlichen Performativität (und ihrer Alterität) ergeben. Als besondere Herausforderung erscheint hier die Relation von Performanz und Textualität. So werden etwa die performativen Strategien des schriftliterarischen Textes herausgearbeitet, die den Rezipienten als .Zuschauer' konstituieren und seine Partizipation am Erzählten ermöglichen;20 an den besonders performanz-orientierten Texten der frühneuzeitlichen .Lachkultur' werden andererseits die Reinszenierungen vorgängiger Performanzen untersucht;21 stärker auf textinterne Aspekte zielt die Analyse der Konstitution von Emotionen qua Performanz.22 Die Mehrzahl der in diesem Band versammelten Beiträge nimmt intradiegetisch gestaltete Erzählsituationen (Metadiegesen)23 in den Blick und testet 19

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Vgl. z. B. Erika Fischer-Lichte: Auf dem Wege zu einer performativen Kultur. In: Paragrana 7 (1998) Heft 1, S. 13-29; Sybille Krämer / Marco Stahlhut: Das „Performative" als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie. In: Paragrana 10 (2001) Heft 1, S. 35-64. Horst Wenzel / Christina Lechtermann: Repräsentation und Kinästhetik. In: Paragrana 10 (2001) Heft 1,S. 191-213. Bachorski / Röcke / Velten / Wittchow (Anm. 9). Jutta Eming / Ingrid Kasten / Elke Koch / Andrea Sieber: Emotionalität und Performativität in narrativen Texten des Mittelalters. In: Paragrana 10 (2001) Heft 1, S. 215-233. Zur Begrifflichkeit vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. Mit einem Vorwort hg. von Jürgen Vogt. München 1994, bes. S. 151—188 sowie S. 249-256; Matías Martinez / Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 1999. Da die Terminologie Genettes im vorliegenden Band öfter verwendet wird, seien einige wichtige Begriffe kurz erläutert: Diegese: die .erzählte Welt'; — intradiegetisch: alles, was in der Diegese ist; — extradiegetisck. alles, was außerhalb der Diegese ist; — Metadiegese. die innerhalb einer Diegese von einem intradiegetischen Erzähler erzählte Erzählung (.Figurenerzählung'); — heterodiegetischer Erzähler: der Erzähler kommt als Figur in der Erzählung nicht vor; — homodiegetischer Erzähler: der Erzähler kommt in der Erzählung zwar vor, aber nicht als Hauptfigur; — autodiegetischer Erzähler: der Erzähler ist mit der Hauptperson seiner Erzählung identisch. Folgende Beispiele mögen die Referenz der Termini verdeutlichen: — Alle höfischen Romane haben einen ex/radiegetischen und Aí/íradiegetischen Erzähler; — der Erzähler in Ulrichs von Liechtenstein ,Frauendienst' ist dagegen ein «tfradiegetischer und a«/odiegetischer Erzähler; — Hagen, als er im .Nibelungenlied' von Jungsiegfrieds Heldentaten erzählt, ist ein /«/radiegetischer und Aeterodiegetischer Erzähler; — Eneas, als er zu Beginn des ,Eneasromans' Dido vom Untergang Trojas erzählt, ist ein /«/radiegetischer und ¿owodicgetischer Erzähler; - Kalogrenant, als er zu Beginn des ,Iwein' das Brunnenabenteuer erzählt, ist ein /«/radiegetischer und a»/odiegetischer Erzähler. Nicht zu verwechseln ist Diegese mit Text oder extradiegetisch mit textextem. Der extradiegetische Erzähler z. B. ist durchaus textimmanent, er steht lediglich außerhalb der erzählten Welt. Was aber außerhalb des Erzähltextes, in der Situation des Erzählens, in seiner Performanz passiert, liegt nicht mehr im Fokus der Genetteschen Narratologie. Daher ist die Applikation dieser Terminologie auf Phänomene der Pragmatik und Performanz des Erzählens nicht unproblematisch. Für den außerhalb des Textes stehenden Erzähler und Rezipienten z. B. gibt es dort keinen Begriff. Eines solchen bedarf es auch nicht, weil zumindest in der Moderne diese pragmatische Seite weitgehend kontingent ist; etwas zugespitzt gesagt: Jeder

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Ludger Lieb und Stephan Müller

deren Analysewert für eine Rekonstruktion der Pragmatik und Performanz des Erzählens. Damit reagieren sie auf ein Desiderat der Erzählforschung, die bisher vorrangig ein narratologisches Interesse an „Erzählungen in Erzählungen" hatte.24 Selten standen die Anlässe des Erzählens — wie in Burghart Wachingers Untersuchung zum convivium fabulosurrP — oder Erzählrituale26 im Zentrum von Untersuchungen. Dabei soll nicht geleugnet werden, daß das kulturwissenschaftliche Interesse an der Pragmatik und Performanz des literarischen Erzählens sich mit einem fundamentalen Problem konfrontiert sieht, das darin besteht, daß die Texte des Mittelalters dieses Interesse nicht teilen. Über den Vortrag literarischer Erzählungen am laikalen Fürstenhof schweigen sie sich förmlich aus, und auch die pragmatischen Rahmenbedingungen des konversationellen Erzählens lassen sie häufig im Dunkeln. Konkretes läßt sich also kaum in Erfahrung bringen. Auch muß man für die Passagen, in denen dann doch vom Erzählen erzählt wird, mit erheblicher Idealisierung und Stilisierung der Situationsdarstellungen rechnen. An all dem ändert sich auch nichts, wenn man die bisherige, durchaus intensive Forschung etwa zur Frage nach der ,Portionierung' der Epen im Vortrag27 oder zu den Spielleuten28 berücksich-

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kann überall und zu jeder Zeit Erzählungen lesen und ist dann gewissermaßen sein eigener Erzähler. Das aber gilt fürs Mittelalter gerade nicht. In diesem Band wird daher behelfsweise gelegentlich vom textexternen Erzähler u. ä. gesprochen. Hinzuweisen ist hier auf den Sammelband: Harald Haferland / Michael Mecklenburg (Hgg.): Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), in dem neben den im Vordergrund stehenden narratologischen Fragestellungen auch gelegentlich Aspekte der Erzählpragmatik diskutiert wurden. Vgl. dazu die Rezensionen von Ludger Lieb. In: Fabula 39 (1998), S. 345-348 und Stephan Müller. In: PBB 121 (1999), S. 305—311. — Auch in der Forschung zu Metadiegesen neuzeitlicher Erzähltexte werden die textexternen pragmatischen Funktionen nur gelegentlich anvisiert, so z. B. bei Rosmarie und Hans Zeller: Erzähltes Erzählen. Funktionen der Erzählhaltungen in C. F. Meyers Rahmennovellen. In: Wolfgang Haubrichs (Hg.): Erzählforschung 2. Theorien, Modelle und Methoden der Narrativik. Mit einem Nachtrag zur Auswahlbibliographie in Erzählforschung 1. Göttingen 1977 (LiLi Beihefte 6), S. 98-113. Burghart Wachinger: Convivium fabulosum. Erzählen bei Tisch im 15. und 16. Jahrhundert, besonders in der ,Mensa philosophica' und bei Erasmus und Luther. In: Walter Haug / Burghart Wachinger (Hgg.): Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 8), S. 256-286. Peter Strohschneider: Zeit Tod Erzählen. Ansichten der ,Teutschen Winter=Nächte' Johann Beers vor der Tradition des Novellare. In: Wolfgang Harms / Jean-Marie Valentin (Hgg.): Mittelalterliche Denk- und Schreibmodelle in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit. Amsterdam - Adanta/GA 1993 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 16), S. 269-300. Vgl. z. B. Karl H. Bertau / Rudolf Stephan: Zum sanglichen Vortrag mittelhochdeutscher strophischer Epen [zuerst 1956/57]. In: Heinz Rupp (Hg.): Nibelungenlied und Kudrun. Darmstadt 1976 (WdF 54), S. 70-83; Karl H. Bertau: Epenrezitation im deutschen Mittelalter. In: Etudes germaniques 20 (1965), S. 1-17; G. Karhof: Der Abschnitt als Vortragsform in Handschriften frühmittelhochdeutscher Dichtungen. Diss. Münster 1967; und jetzt

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tigt. Schließlich: auch wenn wir das gesammelte Wissen, das etwa in Joachim Bumkes Darstellung der .Höfischen Kultur'29 zusammengetragen ist, um einige Quellen erweitern könnten, änderte das nichts am Befund: Die Darstellung literarischen Vortrags ist letztlich dezent und läßt eine Aufmerksamkeit für die genauen Modalitäten vermissen.30 Immerhin ist es aber doch möglich, die Belegreihen etwa von stereotyp auftauchenden Erzählsituationen31 im Rückgriff auf Beobachtungen der modernen Kommunikationssoziologie zu analysieren; es würde dann etwa sichtbar, daß wiederholte Reaktionen auf vergleichbare kommunikative Probleme „kommunikative Gattungen"32 generieren, deren Rollen33 und komplexe Interaktionsformen34 sich als stabile Kommunikationsmuster beschreiben lassen. Diese sich wiederholenden, kontextbezogenen Muster könnte man .Situationstypen' nennen, die gerade in einer durch mündliche Kommunikationsformen bestimmten Gesellschaft wie dem Mittelalter besonders domi-

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in Verbindung mit einem Versuch, die Vortragssituation facettenreich aus den Textelementen zu rekonstruieren: Robert Luff: Nu Vernemet alle besunder. / ich sage iu michel wunder. Dichter, Publikum und Konturen der Vortragssituation im Herzog Ernst B. In: Euphorion 95 (2001), S. 305-340. Walter Salmen: Der Spielmann im Mittelalter. Innsbruck 1983 (Innsbrucker Beiträge zu Musikwissenschaft 8); Wolfgang Härtung: Die Spielleute. Eine Randgruppe in der Gesellschaft des Mittelalters. Wiesbaden 1982 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beiheft 72); Margit Bachfischer: Musikanten, Gaukler und Vaganten. Spielmannskunst im Mittelalter. Augsburg 1998. Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München 1986, Bd. 2, S. 721-725. Allerdings sind explizite Aussagen über die Regeln für poetische Situationen - zumal in sozialen Ordnungen, die sich erst institutionalisieren - auch schon deshalb kaum zu erwarten, weil soziale Situationsregeln gewöhnlich erst dann fixiert werden, wenn sie bereits kollektiv angewendet wurden. Metakommunikative Verhaltensvorschriften werden ex post formuliert; vgl. dazu Hans-Georg Soeffner: Handlung - Szene - Inszenierung. Zur Problematik des „Rahmen"-Konzeptes bei der Analyse von Interaktionsprozessen. In: Werner Kallmeyer (Hg.): Kommunikationstypologie. Handlungsmuster, Textsorten, Situationstypen. Jahrbuch 1985 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf 1986 (Sprache der Gegenwart 67), S. 73-91. ,Erzählsituation' ist hier nicht im Sinne von Stanzel verwendet; vielmehr ist für diesen Band ein kommunikationsorientiertes Verständnis zugrundegelegt, wie es etwa Gülich (Anm. 13), entwickelt hat: Der Begriff,Erzählsituation' diene „zur Bezeichnung einer Kommunikationssituation, in der erzählt wird" (ebd., S. 226). Zum Begriff genauer Thomas Luckmann: Kommunikative Gattungen im kommunikativen „Haushalt" einer Gesellschaft. In: Gisela Smolka-Koerdt u. a. (Hgg.): Der Ursprung von Literatur. Medien, Rollen, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und 1650. München 1988, S. 279-288. Z. B. Reinhold Schmitt: Die Schwellensteher. Sprachliche Präsenz und sozialer Austausch in einem Kiosk. Tübingen 1992 (Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache Mannheim 68). Z. B. Angela Keppler: Tischgespräche. Uber Formen kommunikativer Vergemeinschaftung am Beispiel der Konversation in Familien. Frankfurt/M. 1994.

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nant sind.35 Um das Spektrum dieser ,Situationstypen' nur anzudeuten, sei gesagt, daß zwar besonders Formen rechtserheblicher Rede — etwa Botenberichte36 oder Erzählungen im Rahmen von Ratsszenen — durch auffällig stabile Verlaufs formen und Situationsrahmungen gekennzeichnet sind, daß aber auch Formen höfischer Konversation, die teils explizit nur dem Zeitvertreib dienen sollen, einem rekonstruierbaren Regelwerk gehorchen können.37 Es kann hier nicht um die Frage gehen, wie es denn mit der Erzählkultur des Mittelalters ,eigentlich gewesen' sei. Es geht vielmehr um die Beobachtung von Formen kultureller Selbstbeobachtung, also um Beobachtungen zweiter Ordnung. Die tatsächlichen Kommunikationsakte sind vergangen, sie sind nicht mehr zugänglich: Eine Literatursoziologie im herkömmlichen Sinne kann es für das Mittelalter nicht geben. Aussagen läßt sich nur etwas darüber, wie Formen öffentlicher Kommunikation im Modus der Selbstbeschreibung inszeniert werden, — wie sich die Texte des Mittelalters die Pragmatik dieser Kommunikation vorstellen, - wie man also über Kommunikation kommuniziert und also wohl auch sinnvoll kommunizieren konnte. So sehr diese Selbstbeschreibung auch etwas von den tatsächlichen Gegebenheiten mitteilt, so sehr handelt es sich auch um intentionale Beschreibungsprozesse, deren Faktizität zumindest vom funktionalen Anliegen des Textes infiziert, wenn nicht völlig dominiert ist.38 Und doch: im Rahmen der Institutionalisierung des Interaktionssystems ,Hof sind Beobachtungen zweiter Ordnung von einer gewissen Verbindlichkeit — gerade, wenn ihre Referenz auf die Wirklichkeit nicht in einem gefestigten sozialen Subsystem ,Literatur' von Relevanzerwartungen dispensiert ist.39 Die Untersuchungen zur narrativen Praxis, zur Pragmatik und Performanz des Erzählens, stehen also in der eingangs skizzierten Forschungstradition um die >Art und Weise' öffentlichen, symbolischen Handelns. Aussagen über höfische Verhaltensmuster beschreiben Formen kultureller Sinnstiftung, und das gilt nicht nur für jene Texte der Wissenschaft, die diesen Zusam3d

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Das Konzept der Kommunikativen Gattungen ist nicht zur Beschreibung historischer Kommunikationsakte angelegt, so daß es für die kommunikationssoziologischen Besonderheiten des Mittelalters nur bedingt greift. Dazu Stephan Müller in diesem Band. Vgl. etwa die Beschreibungen von Alexander Lasch und Beatrice Liebig zum Erzählen beim Reiten und von Ludger Lieb zum Erzählen beim Essen, in diesem Band. Dazu Kartschoke in diesem Band. Hans Ulrich Gumbrecht: Erzählen im Alltag — Erzählen in der Literatur. In: Konrad Ehlich (Hg.): Erzählen im Alltag. Frankfurt/M. 1980, S. 4 0 3 - 4 1 7 , sieht im Relevanzverlust der Wirklichkeitsreferenz ein Wesensmerkmal fiktionaler Rede. Wenn Erzählen im höfischen Kontext stets als sozial relevanter Kommunikationsakt zu sehen ist, kann man also fragen, ob zumal die frühen Produkte höfischer Erzählkultur überhaupt ,fikuonaT in einem modernen Sinne sein können. Unter den beschriebenen kommunikationshistorischen Prämissen ist wohl eine Neufassung des Fiktionalitätsbegriffs notwendig.

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menhang thematisieren, sondern auch für die Texte des Mittelalters selbst, deren Sinnentwürfe nicht selten funktional auf die Darstellung solcher Muster zurückgreifen, wenn sie etwa von öffentlichen Erzählprozessen und deren situativen Bedingtheiten erzählen. Die Trennung von ficta und facta greift da zu kurz. Vielmehr geht es bei der Suche nach typischen Erzählsituationen darum, einen Aspekt der Institutionalisierung der höfischen Kultur zu beschreiben; erst in zweiter Linie kann es um die Frage gehen, wie sich der Status von Literatur von jenem anderer Interaktionsformen historisch konkret abzuheben beginnt und wie dieser Prozeß bei der literarhistorischen Analyse mittelalterlicher Texte mit einzurechnen sein könnte.

II. Die Beiträge dieses Sammelbandes sind nicht chronologisch geordnet, weil viele Beiträge mehrere Texte behandeln und die meisten der behandelten Texte in eine nicht genauer zu datierende Zeit „um 1200" gehören.40 Wir haben deshalb die in vielen Beiträgen deutlich werdende systematische Fragestellung auch zum Ordnungsprinzip erhoben und die zehn Beiträge entsprechend in drei thematische Abteilungen sortiert, deren Titel „Situationen", „Funktionen" und „Performanz" jeweils eine dominante Fragerichtung markieren.41

1. Situationen Die erste Gruppe von Beiträgen analysiert Metadiegesen in höfischen Erzähltexten des 12. und 13. Jahrhunderts unter der gemeinsamen Fragestellung, was man hinsichtlich einer Pragmatik des Erzählens aus den textimmanent geschilderten situativen Rahmenbedingungen intradiegetischer Erzählakte folgern kann. Der erste Beitrag hat einen grundsätzlichen und einleitenden Charakter, insofern Dieter Kartschoke sowohl einschlägiges In den engeren thematischen Kontext dieses Bandes gehören auch folgende, andernorts erschienene Aufsätze: Ludger Lieb: Erzählen am Hof. Was man aus einigen Metadiegesen in Wolframs von Eschenbach Parava! lernen kann. In: Hellgardt / Müller / Strohschneider (Anm. 8), S. 1 0 9 - 1 2 5 ; Franziska Wenzel: Keie und Kalogrenant. Zur kommunikativen Logik höfischen Erzählens in Hartmanns Iwein. In: Kellner / Lieb / Strohschneider (Anm. 7), S. 8 9 - 1 0 9 . Die vielfältigen Konvergenzen der Beiträge kann diese Einleitung nur grob andeuten. Über das Autor-, Werk- und Stellenregister am Ende des Bandes (S. 285—290) lassen sich weitere Berührungspunkte der einzelnen Analysen durch Verweise auf die behandelten Textpassagen leicht auffinden.

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Material ausbreitet als auch einen Horizont des Erreichbaren absteckt. Als Ausgangspunkt formuliert er prinzipielle Merkmale, Funktionen und situative Bedingungen des Erzählens, die gewissermaßen eine Folie für die daran anschließenden Überlegungen bilden. Kartschoke versucht die Frage nach dem, was wir überhaupt über eine textexterne Pragmatik des Erzählens aus den Texten selbst erfahren können, exemplarisch zu beantworten, indem er drei Klassiker unter den .Erzählungen in Erzählungen' genauer analysiert: die Erzählung Kalogrenants zu Beginn des ,Iwein' Hartmanns von Aue (S. 27— 30), die Erzählung des Eneas zu Beginn des ,Eneasromans' Heinrichs von Veldeke (S. 30f.) und die Erzählung Gerhards im .Guten Gerhard' Rudolfs von Ems (S. 31 f.). Die Antwort ist, wenn nicht negativ, so doch skeptisch: Offenbar haben die höfischen Romane an intradiegetischen Erzählungen und deren Situationen nur dann Interesse, wenn diese Metadiegesen nicht als Alltagserzählungen zu klassifizieren, sondern gerade durch Außeralltäglichkeit charakterisiert sind. Dadurch aber verlieren sie an Aussagekraft für die .normale' narrative Praxis. Entsprechend sind die situativen Bedingungen des .alltäglichen' epischen Vortrags nicht erwähnenswert — das Beispiel ist hier die Stelle aus dem Meier Helmbrecht, an der ganz beiläufig vom Vortrag des ,[Herzog] Ernst' berichtet wird (S. 32). Auch denkbare Erzählrituale wie das Reihumerzählen oder das abentmärlm sind offenbar kaum des Erzählens wert; wo man doch von ihnen erfährt, wie von der merkwürdigen Sitte des König Artus, nicht zu essen, bevor eine âventiure am Hof vernommen wurde, bleiben sie sichtlich Fiktion (ebd.). Kartschoke weist nach dieser Bestandsaufnahme auf zwei wichtige und ertragreichere Ansätze hin: erstens auf die Prologtopoi, die als Reflexe einer ritualisierten Pragmatik des erzählerischen Vortrags verstanden werden können (S. 35), sowie zweitens auf die mediale Umbruchsituation von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, die für die Pragmatik des Erzählens weitreichende Konsequenzen hat. Bei zunehmender Dominanz der Schriftlichkeit entstehen Texte, die „sich einer festgelegten Pragmatik entziehen" (S. 36); der verstärkte Einsatz der Schrift führt zu einer Entritualisierung des Erzählens (S. 39). In den folgenden drei Beiträgen geht es weniger um die Frage, ob direkte Folgerungen aus den Situationen der Metadiegesen für eine spezifische Pragmatik des literarischen Erzählens an den Höfen des 12. und 13. Jahrhunderts möglich sind, als vielmehr um eine detaillierte Sichtung des immens breiten Materialfundus, den eine Recherche nach intradiegetischen Beschreibungen von Erzählsituationen in der höfischen Epik dieses Zeitraums zu Tage gefördert hat. Ziel dieser Untersuchungen ist die Profilierung eines reflexiven oder auch nur stereotypen Wissens um die situativen Bedingungen des Erzählens, also eines in den Texten sich niederschlagenden Wissens um die narrative Praxis. Man wird von einem solchen Profil keine direkten Rückschlüsse auf die Pragmatik des literarischen, genauer: des epischen oder

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romanhaften Erzählens ziehen dürfen. Wohl aber ist auf diesem Weg einiges — wenn auch nicht immer Überraschendes — über die Selbstverständlichkeiten mittelalterlicher Erzählkulturen zu erfahren. Und daß sich das literarische Erzählen mit diesen Selbstverständlichkeiten in welcher Weise auch immer in Korrelation setzen, daran anschließen, es ignorieren oder dagegen opponieren mußte, das zumindest scheint gewiß und für ein Nachdenken über die Pragmatik und Performanz der höfischen Literatur von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Drei Situationstypen - die Mahlzeit, das Reiten und der Botenbericht werden in den Beiträgen von Ludger Lieb, von Alexander Lasch und Béatrice Liebig sowie von Stephan Müller vorgestellt und anhand exemplarischer Textinterpretationen auf ihre historisch-anthropologischen und kommunikationssoziologischen Implikationen hin befragt. Insofern die gemeinsame Mahlzeit eine wichtige Funktion in der Konstitution höfischer Gemeinschaftlichkeit spielt und gerade in den vielfach erzählten Ankunftsszenen fremder oder besonderer Gäste symbolische Wirkung entfaltet, kommt die Verbindung von Essen und Erzählen häufig in den höfischen Epen und Romanen vor. Im Beitrag von Ludger Lieb wird diese Verbindung näher analysiert, und es zeigt sich, daß es zum selbstverständlichen Wissen gehörte und auch historisch-anthropologisch erklärt werden kann, daß das Erzählen während des gemeinsamen, festlichen Essens eher zu vermeiden ist. Andererseits kann die Vergemeinschaftung bei Tisch, insbesondere bei .alltäglichen' Mahlzeiten im kleineren Kreise durchaus auch selbst die pragmatischen Rahmenbedingungen schaffen, die dem konversationellen Erzählen günstig waren. Um die symbolisch-instrumentellen Leistungen des gemeinsamen Essens nicht zu stören — und konversationelles Erzählen neigt (zumal in nicht völlig austarierten Beziehungsgeflechten) zur Störung gesellschaftlicher Ordnung —, .verlegte' man offenbar das Erzählen gerne in die Zeit nach dem Essen. Dieser Zeitraum läßt sich als Zwischenraum beschreiben, der weniger von zeremonieller Ordnung und symbolischer Funktion determiniert war und so eine Keimzelle für Interaktionen wie das Erzählen bilden konnte. Die arthurische costume, nicht zu essen, bevor nicht eine âventiure am Hof vernommen wurde, nimmt ihre Plausibilität genau aus der Verkehrung dieser Abfolge: Während .normalerweise' das Essen die Gemeinschaft symbolisch festigt und somit eine Bedingung der nachfolgenden Interaktionen ist, wird hier das Erzählen aufgewertet zu einer Bedingung der Vergemeinschaftung im gemeinsamen Mahl. Das Erzählen beim Reiten, das Alexander Lasch und Béatrice Liebig näher beleuchten, ist weniger von institutionellen und symbolischen Ordnungsarrangements geprägt. Vielmehr wird hier deutlich, wie in bestimmten alltäglichen Situationen auch das Erzählen wie von selbst sich einstellt. Während die Texte in ihren meist recht beiläufigen Erwähnungen solcher Erzählakte

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ein Wissen um die Selbstverständlichkeit dieser Verbindung von Erzählen und Reiten transportieren, nutzen sie diese Verbindung gelegentlich auch, um komplexere Korrelationen zu thematisieren: etwa als Tristan mit der Jagdgesellschaft sich dem Hof König Markes nähert und zugleich sich durch eine weitere Herkunftsgeschichte, die er beim Reiten zum besten gibt, an seine eigene Identität .annähert'; oder als Nereja im ,Wigalois' ihrem jugendlichen Helfer beim Reiten die âventiure erzählt, die er gleich zu bestehen haben wird, und darüber hinaus den Mißbrauch des Geschichtenerzählens thematisiert. Auch Stephan Müller untersucht in seinem Beitrag sowohl die Formalität' einer Redesituation als auch die Instrumentalisierung dieser Normalität für spezifische narrative Interessen. Sein Thema ist die Botenerzählung und ihre pragmatische Einbettung in das Arrangement des Boteninstituts. Aus einer Fülle von Textzeugnissen versucht Müller einerseits die institutionellen Regeln zu abstrahieren, die offenbar als selbstverständliches Wissen das Auftreten des Boten und seine Botenerzählung regulierten, andererseits ist zu zeigen, daß es in der konkreten Ausgestaltung der Beziehungsverhältnisse von Absender, Bote und Empfänger eine große Variationsbreite gab; dies übrigens auch im Hinblick auf die Rolle der Schrift beim Verfassen und Überbringen einer Botschaft. Anscheinend ist das Boteninstitut noch nicht so institutionalisiert und professionalisiert, daß es transpersonal funktionierte und mit erwartbar großer Wahrscheinlichkeit zu gelingender Kommunikation führte. Wie sehr Boten bei der Pragmatik ihrer Erzählungen flexibel zu sein hatten, zeigt Müller am Beispiel der Boten Rüdeger, Werbel und Swämmel. Gerade die in der ,Klage' erzählte ,Boten-Odyssee' Swämmels, der in vielen (pragmatischen) Variationen von der Katastrophe des Nibelungenuntergangs zu erzählen hat, ist ein Ausgangspunkt für die abschließende Reflexion über die Verschränkung der Rollen von Bote und Spielmann. So ist einerseits zu zeigen, daß der Spielmann sich mit seinem Vortrag immer neu „im Kontext der gesellschaftlichen Interaktionsformen [...] behaupten" und sich seine .literarische' Rede daher stets „situationskonform etablieren muß" (S. 119), wogegen die Ordnungsarrangements der Botenerzählung geradezu stark institutionalisiert wirken. Andererseits scheinen doch die Nähe von Spielmanns- und Boten-Erzählungen und vor allem die Analogien in der pragmatischen Situationsgestaltung darauf zu verweisen, daß man vielfach mit Interferenzen zwischen diesen Interaktionsformen zu rechnen hat.

2. Funktionen In der zweiten Sektion sind vier Aufsätze versammelt, die überwiegend aus einer textintern-narratologischen Perspektive die Funktionen erzählten Erzählens untersuchen und dabei verschiedene Akzente der Pragmatik des

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Erzählens in den Blick rücken: von textinternen Interaktionsprogrammen, impliziten Bezügen auf die Situation der Rezeption bis hin zur narrativen Integration von Erzähler- und Kommentatorrollen. Haiko Wandhoff analysiert — wie die Aufsätze der ersten Sektion — Metadiegesen im höfischen Roman, doch geht es ihm nicht um die Situationen des Erzählens, sondern um Status und Funktion des Erzählens im Kontext höfischer Ehre. Er konturiert drei,Entwicklungsstadien' der Relation von Ehre und Erzählen: 1. Im Artusroman Chrétiens und Hartmanns nehmen Erzählungen von der eigenen Person (Metadiegesen mit autodiegetischem Erzähler) eine hervorragende Position ein. Sie fungieren als Handlungsauslöser (S. 129). In der rechten Weise des Erzählens (von sich, aber ohne sich zu rühmen) reproduziert sich aristokratische Ehre. — 2. In späteren Artusromanen werden die Interaktionsprogramme Hartmanns gleichsam institutionalisiert, sie verfestigen sich zu explizierbaren Regeln. Sie indizieren damit nicht zuletzt die Möglichkeit, daß die höfische Ehre untergehen kann. Besonders deutlich wird dies wiederum in der costume des Königs Artus, nicht zu essen, bevor nicht eine (herausfordernde) âventiure vernommen wird: Um die Ehre in wiederholter Bewährung auf Dauer stellen zu können, ist der Artushof auf die stets wiederholte Störung angewiesen. Diese wird normalerweise über eine Erzählung vermittelt. Es deutet sich aber an, daß sie auch ausbleiben kann. — 3. Bereits im ,Parzival', vor allem aber im ,Prosalancelot' mutieren die ehrrelevanten und handlungsauslösenden Erzählungen zu quasi historiographischen Berichten, die im Auftrag des Herrschers (König Artus) gegeben werden. Wandhoffs Modellierung der spezifischen (intradiegetischen) Relation von Ehre und Erzählen im frühen Artusroman läßt sich wohl auch auf die Pragmatik der neuen höfischen Erzählliteratur selbst beziehen. Die Behauptung, daß das Erzählen und die Regeln des Erzählens etwas mit höfischer Ehre zu tun haben, zielt auf eine Geltung des Erzählens innerhalb der höfischen Gesellschaft. Das ist genau das, was die neue Erzählliteratur im Prozeß ihrer schrittweisen Institutionalisierung braucht: Geltungsfonds, an denen sie partizipieren kann. Es ließe sich mithin weiter fragen, ob etwa Hartmann von Aue in seinen Artusromanen eine Relevanz des Erzählens für die aristokratische Ehre modelliert und so seinem eigenen Erzählen (das zwar kein homodiegetisches ist, aber immerhin eines, das einen .individuellen' Erzähler hat und diesen auch nennt) eine Dignität verleiht, die seine Akzeptanz erhöht. Auch in den Beiträgen von Waltenberger, Schmitz und Schilling geht es um die Funktion der Metadiegesen, nun aber direkt im Hinblick auf die Relation zum extradiegetischen und textexternen Erzähler bzw. Rezipienten. Michael Waltenberger zielt auf die Ereignishaftigkeit mittelalterlicher Texte, auf die Effekte, die sich aus der Umsetzung der textimmanenten semantischen Strukturen in die externe Pragmatik des Vortrags ergeben (haben könnten). Sein Fokus ist die Geschlechterdifferenz, deren Korrelation in

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Semantik und Pragmatik er herausarbeitet. Im ,Erec' Chrétiens de Troyes konturiert Waltenberger eine Differenz zwischen einem intradiegetisch weiblichen (Emde) und einem extradiegetisch (und textextern) männlichen Erzähler sowie den modellhaften Aufbau verschiedener .Sichten' in den Metadiegesen der Joie-de-la-Cour-Episode. Daraus leitet er die These ab, daß die höfische Erzählliteratur den Anspruch anmelde, durch ein besonderes szenisches Arrangement komplementärer .Sichten', das sich in der Aufführungssituation realisiert, in die soziale Gemeinschaft des Publikums einzugreifen (S. 152). Während Chrétien für diese Perspektiven noch eine synthetische Zusammenschau anbiete, gehe Marie de France in ihren Lais noch einen Schritt weiter, indem sie in einer analytischen Bewegung die repräsentativen Funktionalisierungen ,hinter-gehe' und so die individuelle und geschlechtsspezifische ,Sicht' des Rezipienten, also die Pragmatik als Bedingung aller Sinnkonstitution erkennbar werden lasse (S. 161). Nicht nur die situativen Bedingungen der Metadiegesen als Reflexe eines Wissens um die narrative Praxis werden hier herausgearbeitet, sondern auch die spezifischen ,Sichten' der intradiegetischen Erzähler in ihrer Korrelation zur textexternen Pragmatik der höfischen Erzählliteratur. In narrativen Texten überlagern und beeinflussen „die Intensitäten der mimetisch evozierten imaginativen Präsenz zumindest potentiell die lebensweltliche .Gegenwärtigkeit' der Kommunikationssituation" (S. 145). Noch etwas weiter abstrahiert von situationaler Gebundenheit erscheint die Pragmatik des Erzählens in den Beiträgen von Schmitz und Schilling. Ihre eher rezeptionstheoretischen Ansätze ergänzen die Ergebnisse der anderen Beiträge um spezifische Funktionen von erzähltem Erzählen, die sie exemplarisch herausarbeiten. Um einen Einfluß der Erzählstrategien auf die Rezeptionssituation geht es in dem Beitrag von Silvia Schmitz zum .König Rother'. Schmitz kann plausibel machen, daß die kaum ausgebildete Figur des extradiegetischen Erzählers im .Rother' kein Resultat mangelnder dichterischer Fähigkeit darstellt, sondern einer gewissermaßen didaktischen Intention entspricht. Denn vereinzelt zeige der Erzähler, daß er sehr wohl fähig wäre, das Profil einer Erzählerfigur zu schärfen. Anhand einiger Metadiegesen (u. a. die Erzählungen der byzantinischen Königin sowie eines recken, der zu Beginn des zweiten Aufenthalts Rothers in Konstantinopel von den dortigen Ereignissen berichtet) führe der extradiegetische Erzähler jedoch vor, wie er gerade nicht erzählen will, nämlich so, daß er „Bedeutung unmittelbar erzeugt und dabei das Sinnpotential der narratio zu beschränken gezwungen ist" (S. 187). In dieser Weigerung des Erzählers stecke die Didaxe, denn der Rezipient werde auf diese Weise gezwungen, in einen von ihm selbst gesteuerten Sinnbildungsprozeß einzutreten. Was Waltenberger für Chrétien und Marie de France konstatiert, findet in gewisser Weise hier im .Rother' ein Pendant. Vielleicht ließe sich weiter fragen, ob in Frankreich wie in Deutschland die Institutionalisierung der neuen

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volkssprachigen Literatur in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts u. a. auch über die Durchsetzung eines neuen pragmatischen Anspruchs läuft, der den Rezipienten aus der überkommenen kollektiven Rezeption von Heldensagen o. ä. löst und die Relevanz der individuellen Sichtweise für ein Verstehen der neuen Literatur stark macht. Auch wenn solche Prozesse nicht singulär und nicht abschließbar sind — denn Literatur muß ihre Rezipienten stets und wiederholt neu formen —, so sind sie vielleicht doch besonders charakteristisch für mediale wie poetologische Umbruchsituationen. Dies könnte jedenfalls der Beitrag über den ,Reynke de Vos' von Michael Schilling zeigen, der im ausgehenden 15. Jahrhundert ein durchaus ähnliches Phänomen aufdeckt. Selbstverständlich ist die literarische Situation, in die hinein dieses Tierepos geschrieben ist, eine ganz andere: Die Erzählerrolle ist als literarische Möglichkeit voll etabliert und entfaltet, hier sogar noch erweitert um die Figur eines Glossators, der in der Rolle eines geistlichen Kommentators auftritt. Doch ebenso wie Schmitz und Waltenberger für die frühe höfische Literatur eine Rezeptionslenkung bzw. eine Gestaltung der pragmatischen Rezeptionssituation konstatieren, stellt Schilling eine funktionale Relation zwischen textinternen und textexternen Rezeptionssituationen fest: Der Autor des ,Reynke de Vos' demonstriert seinen Lesern insbesondere mittels der Fabeln und Lügengeschichten, die der Fuchs erzählt und hinterhältig auslegt, „Funktionen, Chancen und Gefahren des Erzählens" (S. 199). Über solcherart Warnung des Rezipienten hinaus sieht Schilling in dem Vexierspiel von intradiegetischen Erzählern (Fuchs, Äffin etc.) und extradiegetischen Instanzen (Erzählerfigur, Glossator) auch eine Akzeptanzstrategie: Der Leser, der an herkömmliche moralischdidaktische Literatur gewöhnt ist, kann durch das institutionalisierte Modell des Glossierens für eine Erzählung gewonnen werden, die des Lesers Souveränität und Aufmerksamkeit fordert und seine ^Autonomie' provoziert (S. 215f.).

3. Performanz Performanz literarischer Erzählungen: dies ist der gemeinsame Fragehorizont der diesen Band beschließenden zwei Aufsätze. Um sich der — stets fragwürdig und unerreichbar bleibenden — Performanz literarischen Erzählens im Mittelalter zu nähern, wählen sie zwei Zugangsweisen, die nicht die Metadiegesen fokussieren, sondern die spezifische Formiertheit eines Textes bzw. die Aussagen des extradiegetischen Erzählers über externe Performanzbedingungen. Franziska Wenzel wählt einen Text — den ,Willehalm von Orlens' Rudolfs von Ems —, in dessen fünf,Prologen' ungewöhnlich häufig die Performanz-

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situation des Textes thematisiert wird. Eine detaillierte Analyse dieser Passagen kann zeigen, welche Chancen und Funktionen der Verfasser dem Erzählen seiner Geschichte zutraut, welche Probleme und Störungen er erwartet und welche Regeln und Bedingungen er daher für sinnvoll erachtet. Sicher bleiben auch diese Passagen, die ζ. T. sehr anschaulich und konkret die Situation des Erzählens modellieren, eben Modelle, deren Verhältnis zur historisch konkreten Situation nicht überprüfbar ist. Doch ist es gerade der Inszenierungsgestus des Textes, in dem Rudolf vielfältig die Modalitäten einer Performanz des Erzählens verhandelt: die Belastung des Erzählers durch unwillige Zuhörer; die verschiedenen Strategien der Sicherung von literarischer Rede, die hier und jetzt ebenso gelingen soll, wie dort und damals und schließlich auch in der Zukunft; das Publikum als Instanz, die die Aktualisierung des Erzählens fordert und kontrolliert; spezifische Auftragsverhältnisse, die auch eine zukünftige Rezeption garantieren; und nicht zuletzt — was vor allem in der Reflexion über das drohende Scheitern der Kommunikation zu tage tritt — die sich wiederholende und bedrohende Konkurrenz literarischer Rede mit anderen Interaktionsformen (S. 238f.). Anders als die anderen Beiträge dieses Bandes leitet Harald Haferland seine These zur primären Performanz des .Nibelungenliedes' weder von Metadiegesen noch von metanarrativen Akten ab, sondern von einer spezifischen Verfaßtheit des Textes sowie von historischen Zeugnissen. Seine Hauptthese richtet sich gegen einen Forschungskonsens, der die Stereotypie und Formelhaftigkeit des .Nibelungenliedes' als eine literarische Strategie versteht, Mündlichkeit in der Schriftlichkeit nachzuahmen. Für Haferland ist die Stereotypie dagegen eine Strategie, Mündlichkeit zu ermöglichen: Bindungsfaktoren (Rhythmus, Reim, Vers und Versverbindung) sind mnemonische Bedingungen der Reproduktion von Texten (S. 250); je größer ihre Zahl, desto leichter ist das zu gewährleisten, was Haferland für das .Nibelungenlied' als primäre Performanzform annimmt: den auswendigen Vortrag. Weil man die von Albert B. Lord beschriebene „composition in performance" (Stegreifdichtung) als die dominante Form mündlicher Dichtung überbewertete, war für die Forschung — so Haferlands Argument — ein komplex strukturierter und metrisch komplizierter Text wie das .Nibelungenlied' nur als Buchepos und seine Performanz nur als eine des Vorlesens denkbar.

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DIETER KARTSCHOKE

Erzählen im Alltag - Erzählen als Ritual Erzählen als Literatur Tu autem Domine miserere nobis·. Ist dieser Lektionenschluß des .Rolandsliedes' ein Indiz für dessen Rezitation an der Tafel des Weifenhofes in Analogie zur Tischlektüre geistlicher Gemeinschaften?1 Im fortgeschrittenen Alter soll Heinrich der Löwe sich nächtelang Chroniken haben vortragen lassen.2 Jeder weiß, daß König Artus sich niemals inmitten seiner Ritterrunde zum Essen niederzulassen pflegt, ehe nicht ^uvor eine Aventiure geschehen und berichtet worden ist.3 Aber Kalogrenant erzählt von seinem mißglückten Brunnenabenteuer erst nach dem Pfingstmahl.4 Auch Königin Dido hat den gestrandeten Eneas am Abend nach dem Essen aufgefordert, vom Fall Trojas zu erzählen.5 Man erzählt sich beim Reiten6 und läßt sich beim Ausruhen vorle-

Friedrich Ohly: Zum Dichtungsschluß Tu autem, domine, miserm nobis. In: DVjs 47 (1973), S. 26— 68, hier S. 27. Annales Stederburgenses. Hg. von G. H. Pertz. Hannover 1859 (MGH, Scriptores 16), S. 230: [...] antiqua scripta cronicorum colligipraecepit et conscribi et coram recitari, et in hac occupatione saepe totam noctem duxit insomnem. Eine immer noch nützliche Belegsammlung findet man in: Parzival von Wolfram von Eschenbach. Neu bearbeitet von Wilhelm Hertz. Sechste Auflage. Mit einem Nachwort von Gustav Rosenhagen. Stuttgart — Berlin 1918, S. 512f. Anm. 125. — Weniger ergiebig und insgesamt problematisch ist der neuere Aufsatz von Xenja von Ertzdorff: König Artus' site: „nehein riter vor im az des tages swenn aventiure vergaz daz si sînen hof vermeit." (Parz. 309,6ff.). In: Rüdiger Krohn / Jürgen Kühnel / Joachim Kuolt (Hgg.): Ist zwivel herzen nâchgebûr. FS Günther Schweikle. Stuttgart 1989 (Helfant Studien S 5), S. 193-201. Vgl. unten S. 32. Hartmann von Aue: Iwein. Text der siebenten Ausgabe von G. F. Benecke, K. Lachmann und L. Wolff. Übersetzung und Anmerkungen von Thomas Cramer. Dritte, durchgesehene Auflage. Berlin - New York 1981, v. 62ff. Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1986 u. ö., v. 899: Do da% e^en was getan [...]. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hg. von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1993 u. ö., v. 1750ff.: Genelün trûreclîchen reit, | dadivas den beiden vile leit. \ si huoben kur^wíle. \ si sageten irfavelle. \ si sageten ein ander underwegen \ manige seltsaene rede.

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sen.7 Aus festlichen Anlässen treten bei Hofe fabelieraerfi und Vorleser9 auf. Auch Damen lesen vor, junge Adlige oder die Königin Ginover selbst. Man widmet sich dieser Tätigkeit im Freien oder in geschlossenen Räumen, im Baumgarten und im Zelt oder im Palas und in der Kemenate.10 Es ist frustrierend, auf die wenigen, immer gleichen, widersprüchlichen Nachrichten zurückgreifen zu müssen, wenn man wissen möchte, welchen Platz denn wohl die volks sprachige Literatur im hochmittelalterlichen Lebensvollzug des laikalen Adels eingenommen habe. Niemand kann die Frage beantworten, wie literarisches Leben sich in der Regel vollzogen habe. Niemand weiß, wie historisch bezeugte und literarisch stilisierte Erzählsituationen zu deuten seien und ob sie über den Einzelfall hinaus verallgemeinert werden dürfen. Jedes Mosaiksteinchen ist registriert, vielfach in Augenschein genommen und sorgsam hin und her gewendet worden, alle Fragen sind gestellt, alle Zweifel erwogen und alle Vermutungen geäußert. Ein hoffnungsloses Unterfangen also, sich erneut zu Wort zu melden, ohne neues Material präsentieren zu können. Und müßig, allgemeine Überlegungen anzustellen, die nur bestätigen, was jeder schon weiß, oder zum wiederholten Male zu konstatieren, was alles eben nicht in Erfahrung zu bringen sei. Exemplarisch für die ausweglos erscheinende Situation ist die als opinio communis geltende These, Literatur habe im Rahmen höfischer Feste eine bedeutende Rolle gespielt und lasse sich zu einem Teil vielleicht sogar aus der adligen Festkultur herleiten. Alles, was man dazu verantwortlich sagen kann, hat Joachim Bumke in dem konzisen Satz zusammengefaßt: „Am besten bezeugt ist der Vortrag epischer Werke auf den großen Hoffesten." 11 Das ist unbestreitbar so und doch eine riskante Auskunft angesichts der, absolut genommen, äußerst schmalen Belegbasis. Einer Basis, deren Tragfähigkeit zudem der vorsichtigen Prüfung bedarf, da die Belege überwiegend aus narrativen Kontexten unsicheren Fiktionalisierungsgrades stammen. Außerdem sind die einschlägigen Formulierungen so lakonisch, daß ihnen nur selten mehr zu entnehmen ist als das Faktum des Erzählens. Genauso bleibt auch die Form solchen festlichen Zeitvertreibs fast völlig im Dunkeln. Was und vor allem wie wird erzählt? Die Spannbreite denkbarer Möglichkeiten reicht von Improvisationen über orale Traditionsdichtung bis zu schriftgestützter Vortragsdichtung und schriftgebundenen (Vor)Lesetex7 8

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Hartmann von Aue: Iwein (Anm. 4), v. 6435ff. Heinrich von dem Türlln: Diu Crône. Hg. von Gottlob Heinrich Friedrich Scholl. Stuttgart 1852, v. 22111 ff.·. Fabel unde maere | Die fabelieraere | befunden sä hant sagen. Wernher der Gartenaere: Helmbrecht. Hg. von Friedrich Panzer / Kurt Ruh. 8. Aufl. Tübingen 1968 (ATB 11), v. 956f.: sôgie dar einer unde las \ von einem, der hie^ Ernest. Diese und weitere Belege bei Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München 1986 u. ö., S. 721-725. Ebd., S. 722.

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ten. Improvisiertes Erzählen, auswendiges Rezitieren und Vorlesen geschriebener Texte sind aber sicher nicht klar zu trennende Vortragstechniken, sondern mediale Übergangs formen, deren — nur historisch-idealtypisch zu denkende - Abfolge ins Selberlesen des allein noch dafür konzipierten Textes mündet. Auch über die Art der Vortragsweise geben die narrativen Texte keine eindeutige Auskunft. Formulierungen mit singen, sagen, sprechen, reden, lesen etc. scheinen Unterschiede zu markieren und bleiben bei genauerem Hinsehen immer noch interpretierbar.12 Die Sachlage ist zum Verzweifeln.

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Wenn man sich dennoch darauf einläßt, nach neuen Wegen zu suchen, wenn man den vorliegenden Anregungen folgt, sich dem erzählten Erzählen zuzuwenden, sich umzusehen nach „pragmatischen Erzählsituationen in der höfischen Literatur", Ausschau zu halten nach „poetisch-literarischen Erzählungen" und „,alltäglichen' Narrationen" in Gestalt von Figurenreden, die Aufschluß geben könnten über identische oder differente „kommunikative Ordnungen von Erzählsituationen",13 dann wird man gut daran tun, um der weiteren Verständigung willen zunächst eine Reihe von sachlichen, methodischen und terminologischen Vorklärungen vorzunehmen. Ich frage deshalb im folgenden zunächst ganz allgemein, wie sich ,Erzählen im Alltag' vollzieht, welche Formen von A^ußeralltäglichkeit' des Erzählens denkbar sind und welcher Platz der Literatur (im medial unspezifischen Sinne vorstilisierter Texte) im kommunikativen Vollzug zuzuweisen ist. Die anthropologischen und kommunikationsspezifischen Funktionsbestimmungen14 sind nur zum Teil für die folgenden Überlegungen von Bedeutung, aber sie können darüber hinaus vielleicht helfen, Kategorien für die weitere Arbeit zu gewinnen. 1. Erzählen ist ein Akt des Erinnerns und eine Form des Gedenkens. Erzählend wird Wissen und Erfahrung kommuniziert, konserviert und tradiert. Durch Erzählen wird Sinn gestiftet in Auswahl, Ordnung und Verknüpfung Dennis H. Green: Medieval Listening and Reading. The primary reception of German literature 8 0 0 - 1 3 0 0 . Cambridge 1994. Ich zitiere aus dem der Tagungseinladung beigefügten Exposé. Ich nenne hier nur einige wenige Arbeiten, die mich bei der Formulierung unmittelbar geleitet haben: Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W . Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser. II, 2. Frankfurt/M. 1977, S. 4 3 8 - 4 6 5 ; Konrad Ehlich (Hg.): Erzählen im Alltag. Frankfurt/M. 1980; Eberhard Lämmert (Hg.): Erzählforschung. Ein Symposion. Stuttgart 1982 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 4); Helmut Brackert / Jörn Stückrath (Hgg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 1992.

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der, für sich genommen, sinnfreien Erscheinungen des jeweiligen Lebenszusammenhangs. Durch Erzählen wird nicht zuletzt Gemeinschaft begründet und Identität hergestellt. 2. Jeden Erzähler umgibt die Aura einer besonderen Kompetenz, sei es des tieferen Wissens, der weitläufigen Erfahrung oder der überlegenen Fertigkeit. Wer erzählt, muß etwas wissen, muß etwas zu erzählen haben und muß erzählen können. Und er braucht ein Gegenüber, dem er erzählt und das diese Aura garantiert und bestätigt durch die Bereitschaft zuzuhören. Erzählkompetenz und narrative Praxis begründen spezifische Erzählkulturen, die geprägt sind durch verfügbare Muster der narrativen Welt- und Selbstdeutung. 3. Erzählen als Kommunikation vollzieht sich in der Regel mündlich. Die face to face-Situation bleibt über den Prozeß der Verschriftlichung hinaus imaginativ erhalten und ist vielfach der ,literarischen' Narration noch eingeschrieben. Erzählen bedarf deshalb immer des vorausgesetzten oder jeweils erneut herbeizuführenden Einverständnisses zwischen dem in Aktion tretenden Erzähler und dem anwesenden Publikum. Der Erzähler muß grundsätzlich autorisiert sein oder situativ autorisiert werden. Spontaner Anlaß oder regelmäßig wiederkehrende Gelegenheit zu erzählen sind demnach Sache individueller oder gemeinschaftlicher Vereinbarung im Sinne konversationeller Improvisation, rituellen Vollzugs oder institutioneller Voraussetzung. 4. Erzählen als Sprechgestus und Sprachhandlung ist monologisch. Insofern aber immer ein Adressat (Publikum) körperlich anwesend sein muß oder zumindest als anwesend gedacht wird, ist die Erzählsituation potentiell dialogisch. Die latente Dialogizität des Erzählens wird unterschiedlich realisiert. Sie kann integraler Teil der Erzählsituation (im Alltag) sein, insofern Unterbrechungen durch die Hörer in Form von Einwürfen, Fragen oder Einsprüchen zugelassen sind und vom Erzähler aufgenommen werden können durch die darauf antwortende Abwehr oder durch narrative Richtungsänderung. Die latente Dialogizität kann im ritualisierten oralen wie im literarisch verfestigten Erzählen völlig ausgeblendet bleiben15 oder aber in selbstreferentiellen Erzählformen durch die ausformulierte Anrede imaginierter Hörer oder Leser durch den Erzähler (oder des Erzählers durch die Hörer) auch zu besonders artifizieller Geltung gebracht werden. 5. Erzählen braucht Zeit. Man könnte mit Grund behaupten, daß sich Erzählen vom resümierenden Bericht hinsichtlich der Zeitdimension unter13

Franziska Wenzel, der ich fiir kritische Nachfragen und Verbesserungsvorschläge zu danken habe, vermutet, daß ritualisiertes Erzählen vor der Schrift noch gar keine Dialogizität zulasse, sondern erst nach dem Heraustreten des Erzählers aus der Erzählgemeinschaft durch die Schrift denkbar sei. Das gilt m. E. nur, wenn man einen historisch ursprünglich (also etwa kultisch) gedachten Ritualbegriff voraussetzt und alle jüngeren, entsprechend geordneten Handlungssequenzen als ,pararituell' versteht.

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scheidet. Berichten gewinnt durch Kürze, Erzählen durch Ausführlichkeit und Dauer. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß in bestimmten Situationen die größere Ausführlichkeit eines Berichts angemessen ist und daß bestimmte Erzählkonventionen (Exempel, Anekdote, Witz) prägnante Kürze erfordern. Grundsätzlich aber gilt, daß Erzählen Zeit erfordert, die dem Erzähler jeweils zugestanden werden muß. 6. Eine alltägliche Erzählhandlung kann jederzeit einsetzen. Die Erzählung um ihrer selbst willen dagegen bedarf der vorbereitenden, Platz und Zeit schaffenden Inszenierung. Solche Inszenierungsformen können in Rituale über- oder aus ihnen hervorgehen. Erzählen kann aber auch zu einer festen Institution werden, zu deren Regelmechanismus eine festgelegte (wenn auch in sich variable) Pragmatik gehört.

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Alltag, Ritual, Institution - diese Begrifflichkeit bedürfte der ausfuhrlichen Reflexion. Ich dispensiere mich hier davon und gebe nur einige ganz vorläufige, in methodologischer Hinsicht völlig unzureichende Hinweise auf meinen Wortgebrauch:16 1. ^Alltag'17 bezeichnet im folgenden alle Formen des unmittelbaren, d. h. scheinbar ungeregelten, spontan praktizierten Lebensvollzugs. Insofern es freilich eine von Konstanten und Stereotypen freie Lebenspraxis (Interaktion und Kommunikation) überhaupt nicht gibt, kann und soll das Wort Alltag lediglich die Indifferenz allen Gewohnheiten, Regeln, Geboten, Vorschriften und Normen gegenüber zum Ausdruck bringen. 2. .Rituale'18 sind symbolisch geordnete Handlungen, die entweder der Alltagswelt verhaftet bleiben und sie strukturieren (in Form sog. Alltagsrituale) oder aus ihr hinausstreben (im festlichen Vollzug) und dann eine eigene Sphäre von Außeralltäglichkeit19 begründen. In Rituale ist der einzelne kollektiv eingebunden. Durch die freiwillige Teilhabe an regelhaft ablaufenden Vorgängen wird ein Ritual konstituiert und immer erneut bestätigt. Jede 16

17

Ich verzichte auf eine größere Sammlung einschlägiger Literaturangaben, um nicht den falschen Eindruck intensiver theoretischer Vorstudien zu erwecken. Für bibliographische Hinweise danke ich Harald Haferland. Hans-Georg Soeffner: Auslegung des Alltags — Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik. Frankfurt/M. 1989; ders.: Die Ordnung der Rituale. Auslegung des Alltags 2. Frankfurt/M. 1992.

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Soeffner: Auslegung des Alltags (Anm. 17), S. 1 5 8 - 1 8 4 ; ders.: Die Ordnung der Rituale (Anm. 17); zuletzt: Roy A. Rappaport: Ritual and Religion in the Making of Humanity. Cambridge 1999.

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Zur Begriffsbildung vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der Verstehenden Soziologie. Studienausgabe. Hg. von Johannes Winckelmann. Köln — Berlin 1964.

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Verweigerung stellt nicht nur den aktuellen Vollzug, sondern das Ritual überhaupt in Frage. 3. ..Institutionen'20 verstehe ich hier ganz schlicht als gesellschaftlich vereinbarte oder erzwungene Regelmechanismen, denen der Einzelne als Einzelner unterworfen ist und an denen er sein alltagspraktisches Verhalten auszurichten hat. Institutionen gelten und funktionieren unabhängig vom Verhalten des Einzelnen — sofern er nicht selbst Teil der Institution oder (etwa als Herrscher) diese selbst ist.

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Erzählen im Alltag, Erzählen als Ritual, Erzählen als Institution sind historisch, kulturell und medial unterschiedlich realisierte Kommunikationsformen. Die fundamentale Oralität des Erzählens läßt keine verifizierbaren Aussagen über empirisch nicht mehr zugängliche historische Erscheinungsformen zu. Das gilt vor allem für das Erzählen im Alltag. Beobachtungen und Analysen gegenwärtiger Alltagskommunikation sind dafür kein ausreichender Ersatz, denn deren Ergebnisse lassen sich nur sehr bedingt in andere Kulturen übertragen. Das zeigt ein Blick in die einschlägige linguistische Forschung. Die Untersuchung von Alltagserzählungen geht entweder vom einzelnen Fall aus, der immer individuell geprägt ist, oder von pragmatischen Standardsituationen, die nicht nur historisch eigentümlich, sondern auch institutionell geprägt und nicht wirklich alltäglich sind: Erzählen vor Gericht, Erzählen bei der Sozialberatung, in der Klinik, bei der Gruppentherapie, im psychoanalytischen Erstinterview, Erzählen im Unterricht.21 Die Beschreibung und Analyse solcher Fälle sind meinem Eindruck nach wenig ergiebig und für sich genommen auch nicht historisch zu verallgemeinern. Gerade der Mediävist findet hier keine Hilfe. Wenn er nach Spuren von Alltagskommunikation im Mittelalter Ausschau hält, teilt er mit solchen Versuchen aber zumindest die Hoffnung, daß über die Ordnung von kommunikativen Standardsituationen etwas über die Ordnung der jeweiligen narrativen Rede in Erfahrung zu bringen sei. Ob in der Konsequenz literarische Narrationen mit solchen Ordnungen in ein aufschlußreiches Verhältnis zu setzen seien, ist die große Frage. Das Gleiche gilt für Erzählrituale, die am Rande des Alltags angesiedelt sind oder ihn im festlichen Vollzug überschreiten. Da es kein darüber direkte Auskunft gebendes Quellenmaterial gibt, ist zu fragen, ob erzählte Erzählsi-

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Johann August Schülein: Theorie der Institutionen. Eine dogmengeschichtliche und konzeptionelle Analyse. Opladen 1987. Vgl. Ehlich (Anm. 14).

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tuationen in literarisch überformten Texten Rückschlüsse auf solche Erzählrituale erlauben und ob diese nicht möglicherweise gerade auch diese Texte selbst mit einschließen können. Durch die Institutionalisierung von Literatur werden eigene Pragmatiken ihres Gebrauchs hervorgebracht worden sein, und nichts ist wahrscheinlicher, als daß solche Pragmatiken sich zunächst an traditionelle Kommunikationsformen anschlossen und vielleicht auch auf längere Dauer von ihnen geprägt blieben. Ich will im Folgenden an einigen sehr bekannten Textbeispielen zu zeigen versuchen, ob und welche Aufschlüsse sich aus ihnen gewinnen lassen. Damit ziele ich nicht schon auf Ergebnisse, sondern will nur andeuten, wie ich mir die Richtung einer weiter ausgreifenden Arbeit vorstellen könnte, welche Fragen ich (unter anderm) stellen würde und, unvermeidlich auch, wo ich die Grenzen all solcher Bemühungen sehe.

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Es geht also um die narrative Figurenrede, um die Kommunikation durch Erzählung, um deren Gelegenheiten und Anlässe, um erzählte Erzählakte und um erzählte Erzählungen und deren Einbettung in übergeordnete epische Zusammenhänge. Der höfische Roman, speziell der Aventiureroman, scheint dafür ein lohnendes Untersuchungsfeld zu sein, weil er sich als Form der Erzählung selbst thematisiert.22 Die Suche nach Aventiuren und die Bewährung in ihnen kommen zu ihrem Ende immer erst in deren Erzählung. Allerdings kann in der Regel nicht der Handelnde auch der sich erinnernde Erzähler sein, denn er darf sich nicht selbst seiner Taten rühmen, sondern muß die verdiente Ehre durch Erzählungen anderer — des unterlegenen Gegners, eines Augenzeugen, eines beauftragten Boten — zugeteilt bekommen. Anders verhält es sich bei einer mißlungenen Aventiure. Sie kann auch vom Protagonisten erzählt werden, sei es, daß er durch den, der ihn besiegt hat, dazu verpflichtet wurde, sei es, um Hilfe zu finden oder Racheaktionen auszulösen. Das passiert im Eingang des ,Iwein'.23 Die Erzählung des Kalogrenant ist gerade auch hinsichtlich ihrer Pragmatik hochinteressant. Sie erfolgt im Rahmen des arthurischen Pfingstfestes. Nach dem Festmahl findet die übliche Kurzweil statt: Unterhaltungen mit den Damen, Lustwandeln, Peter Kern: Der Roman und seine Rezeption als Gegenstand des Romans. Beobachtungen zum Eingangsteil von Hartmanns Iwein. In: Wirkendes Wort 23 (1973), S. 246—252. Das Folgende wurde vorgetragen und geschrieben noch ohne Kenntnis des Aufsatzes von Franziska Wenzel: Keie und Kalogrenant. Zur kommunikativen Logik höfischen Erzählens in Hartmanns Iwein. In: Beate Kellner / Ludger Lieb / Peter Strohschneider (Hgg.): Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Frankftirt/M. u. a. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 89-109.

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Tanzen, Wettspiele, Musik und Erzählungen von Kampf und Liebe. Dies alles in offenbar beliebiger Wahl und Abfolge. Jedenfalls ist auch in den ausfuhrlicheren Festdarstellungen24 nie von einem festgelegten Zeremoniell die Rede. König und Königin haben sich in eine Kemenate zurückgezogen. Kalogrenant beginnt seine Erzählung in zufällig versammelter Runde vor Dodines, Gawein, Segremors, Iwein und Keie draußen an der Mauer. Seine Stimme ist in der Burg zu hören. Ginover wacht auf und gesellt sich hinzu. Es kommt zum Streit mit Keie. Erst nach dessen Schlichtung und auf nachdrückliche Aufforderung durch die Königin nimmt Kalogrenant seine Erzählung wieder auf, genauer gesagt, er beginnt sie von neuem. Das ist trotz des Festanlasses zunächst eine — im Sinne der Definition — eher alltägliche, auf jeden Fall aber kolloquiale Erzählsituation. Deshalb wird die narrative Alltagsrede nicht wiedergegeben oder indirekt nacherzählt, wie das in einer Literatur, für die der Alltag noch keinerlei Interesse hat, nicht anders zu erwarten ist. Mit dem Hinzutreten der Königin allerdings entsteht eine neue Situation, deren Außeralltäglichkeit auch das Erzählinteresse stimuliert. Nun erst wird die Erzählung Kalogrenants auch erzählt. Darauf werde ich gleich noch einmal zurückkommen, überspringe hier den nächsten Erzählschritt und greife vor. Als Kalogrenant geendet hat, erwacht der König und wird seinerseits von seiner Gemahlin ins Bild gesetzt: diu künegin saget im her wider Kâlogrenandes swaere und älliu disi» maere. (v. 890-892)

Auch Ginover erzählt offensichtlich [älliu disiu maere), allerdings kann man sich ihre Erzählung als verkürzte Wiedergabe des Gehörten vorstellen. Dieser Kommunikationsakt ist, anders als die Erzählung des Kalogrenant, nun wieder alltäglich. Denn die Königin erzählt nicht um des Erzählens willen, was Kalogrenant, mit welcher sekundären Absicht auch immer, getan hat. Sie antwortet auf eine Frage, sie gibt Bescheid, mag sie im einzelnen auch wörtlich wiederholen, was sie gehört hat. (Die dem modernen Leser naheliegende Frage, ob sie es mit einer anderen Stimme, mit neuen Akzentsetzungen entsprechend ihrem eigenen Verständnis und damit aus ihrer — personalen — Perspektive tut, wäre völlig unangemessen. Perspektivisches Erzählen liegt, trotz mancher gegenteiligen Behauptung, noch außerhalb der poetischen Möglichkeiten des Mittelalters.25)

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Bumke (Anm. 10), S. 2 7 6 - 3 1 7 ; Barbara Haupt: Das Fest in der Dichtung. Untersuchungen zur historischen Semantik eines literarischen Motivs in der mittelhochdeutschen Epik. Düsseldorf 1 9 8 9 (Studia humaniora 14). Allenfalls lassen sich symbolische Vorformen und Andeutungen narrativer Perspektivierung ganz allgemein in der Rätselhaftigkeit von Aventiurebegegnungen der fahrenden Ritter oder konkret in Parzivals erstem Besuch auf Munsalvaesche etc. nachweisen.

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Erzählte Erzählungen haben in der mittelalterlichen Literatur den gleichen ästhetischen Status wie der sie einbettende narrative Kontext. Das kann man gerade an der zitierten Stelle gut nachvollziehen. Kalogrenants Erzählung ist so hoch stilisiert wie der sie inkorporierende Versroman. Sie setzt nach der Intervention durch die Königin (bei Chrétien wie bei Hartmann) mit einem förmlichen Prolog ein: 'Swa% ir gebietet, daζ ist getan. sít ir michs niht weit erlàn, so vernemet mit guotem site unde mietet mich dà mite: ich sag tu deste gerner ml, ob man^ rehte merken wil. man vertiuset michel sagen, man enwelle\ merken unde dagen. maneger biutet diu oren dar: ern nemes ouch mit dem herben war, sone wirt im niht wan der dô^ und ist der schade al%egrô%: wan si verliesent beide ir arbeit, der dà hoeret und der dà seit. ir mufft mir deste gerner dagen: ichn wil iu Meine lüge sagen. ' (v. 243-258)

Das sind die bekannten Prologtopoi — Erzählen auf Befehl, Bitte um Ruhe und Aufmerksamkeit, Hinweis auf das rechte Verständnis, Wahrheitsbeteuerung —, die hier ganz konkrete, pragmatische Relevanz haben. Aus eben diesem Grund fällt die obligate Selbstnennung des Autor-Erzählers natürlich aus, denn er ist ja anwesend, spricht selbst und ist für die Hörer sichtbar — auch für die zunächst nur lauschende Königin, nachdem sie sich dem kleinen Publikum zugesellt hat. Auch Alltagserzählungen müssen — wie formlos auch immer — angekündigt, motiviert und gegebenfalls gerechtfertigt werden, und sie haben einen kenntlichen Abschluß, wie ausführlich er auch immer sein mag.26 Die Erzählung Kalogrenants endet bei Chrétien mit lediglich zwei Schlußversen,27 bei Hartmann dagegen mit einem förmlichen Epilog: Ich htm einem tiren glich getân, diu maere der ich laster hân, da%_ ich diu niht kan verdagen: ichn Woldes ouch ê nie gesagen. waere mir iht ba^geschehen,

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Rainer Rath: Erzählfunktionen und Erzählankündigungen in Alltagsdialogen. In: Lämmert (Anm. 14), S. 33-50. Chrestien de Troyes: Yvain. Übersetzt und eingeleitet von Ilse Nolting-Hauff. Münchcn 1962 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben), v. 579f.: Si vos ai conti come Jos \ Ce qu'onques mes conter ne vos (,So habe ich Euch auch wie ein Tor erzählt, was ich niemals zu erzählen gedachte").

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des hórtent ir mich ouch nûjehen. si iuwer deheinem geschehen ba% ob er nû welle, der sage ouch da%. ' (v. 795-802) Die beiden letzten Verse könnte man als Aufforderung zu geselligem Reihumerzählen verstehen. Aber dazu kommt es nicht. Dafür kann es zwei Gründe geben. Entweder wollte sich keiner der Anwesenden einer erfolgreich bestandenen Aventiure rühmen, so wie auch Kalogrenant im Falle größeren Glücks geschwiegen hätte (ichn Woldes ouch ê nie gesagen [...]), oder weil ein solches Reihumerzählen nicht die Regel war. Wenigstens deutet auch andernorts nichts auf die Existenz einer derartigen Konvention und eines entsprechenden Rituals im Verlauf höfischer Feste. Im vorliegenden Fall gibt es nur einen, dem ba^geschehen wird, und das ist Iwein. Nur darum geht es.

***

Das Muster, vielleicht auch das direkte Vorbild solcher Einbettung einer Figurenerzählung in den narrativen Kontext findet sich im ,Eneasroman'. Dido fordert ihren Gast auf, vom Fall Trojas zu erzählen. Eneas fühlt sich schmerzlich bewegt durch die Erinnerung, geht aber auf die Bitte der Königin ein und beginnt mit der Beteuerung der Wahrheit seiner Erzählung, da er selbst ja Augen- und Ohrenzeuge gewesen sei (v. 912—918). Hier sind diese Versicherungen jedoch Teil des vorangehenden, wenn auch nicht wörtlich ausgeführten, sondern in indirekter Rede wiedergegebenen Dialogs. Die Erzählung setzt dagegen abrupt ein mit den Worten Ich bin es alles vilgewis [...] (v. 919). Und sie endet ebenso lakonisch, aber deutlich mit der resümierenden Schlußwendung: So also bin ich hergekommen, alse ir wole habet vernomen (v. 1229£). Solch konversationelles Erzählen kann aus jedem Alltagsdialog herauswachsen.28 Es ist häufig bloß phatisch29 — wie die Erzählung des Eneas (trotz ihres sensationellen und damit alles andere als alltäglichen Inhalts) für Dido, die sich zwar durchaus offen zeigt für die Informationen, letztlich aber nur an der Person des Erzählers interessiert ist und an seiner Präsenz. Diese Präsenz ist garantiert, solange er erzählt: Des wunderde sich frou Dido, da? man Troten also Uta Quasthoff: Erzählen in Gesprächen. Linguistische Untersuchungen zu Strukturen und Funktionen am Beispiel einer Kommunikationsform des Alltags. Tübingen 1980 (Kommunikation und Institution 1); Elisabeth Gülich: Konventionelle Muster und kommunikative Funktionen von Alltagserzählungen. In: Ehlich (Anm. 14), S. 335—384. Ich übernehme diesen Begriff und diese Einschätzung von Rainer Rath (Anm. 26), S. 37 (mit Verweisen auf Bronislaw Malinowski und Dell Hymes).

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gewan unde gebrach, sine rächte, iva^ her sprach, watt da\ her eht spräche, siforhte da% ir gebräche der stade und der mie. sine hieben niht îlen: ir tete vile ba%¡ da%_ si bi ime saζ unde si wider in sprach [...] (ν. 1231-1241).

In der Regel aber verfolgt der Erzähler einen bestimmten Zweck. Er will informieren, eine Meinung bilden oder eine Handlung auslösen. Er versucht, Einverständnis zu erreichen, Parteilichkeit herzustellen und Unterstützung zu bekommen. So Eneas in dieser Szene. Und der Erfolg gibt ihm recht, wenn er auch nicht wissen kann, daß der Zauber von Frau Venus die Voraussetzungen dafür geschaffen hat. In dem Maße, in dem das Erzählen zum Selbstzweck wird, strebt der Akt des Erzählens über den Alltag hinaus. Erzählen um des Erzählens willen schafft sich seine eigene Zeit und seinen eigenen Raum. Man findet sich zusammen, man schottet sich nach außen ab, man verpflichtet sich zu schweigender Aufmerksamkeit und man delegiert das Wort an den Erzähler. Auch das läßt sich an erzählten Erzählungen beobachten, sofern sie ausführlich genug inszeniert sind. Exemplarisch dafür ist ,Der gute Gerhard' des Rudolf von Ems,30 eine frühe Rahmenerzählung und die erste Ich-Erzählung der deutschen Literatur im eigentlichen Sinn.31 Die Erzählung des Kölner Kaufmanns Gerhard vor König Otto ist ein in vieler Hinsicht aufschlußreiches Gegenstück zur Erzählung des Kalogrenant. Auch hier geht es um den prekären Vorgang des Erzählens in eigener Sache. Die Außerordentlichkeit der Erzählung des vorbildlichen Kaufmanns von sich selbst bedarf einer umständlichen Begründung. Sie ist deshalb in einen längeren Dialog eingebettet, in dem der Kaufmann immer neue Ausflüchte macht, um sich der Aufforderung und dem Befehl des Kaisers zu entziehen und diesen schon dadurch beschämt. Und sie findet unter höchst ungewöhnlichen Umständen statt. Es gibt keinen Festanlaß, aber den feierlichen Rahmen der versammelten Bürgerschaft von Köln. Freilich wird die Erzählung gerade nicht in ihn hineingestellt. Sie findet ganz und gar nicht öffentlich statt und kann deshalb auch keine weiteren Hörer anziehen über den einen hinaus, an den allein sie gerichtet ist. Man 30

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Rudolf von Ems: Der guote Gêrhart. Hg. von John A. Asher. Dritte, durchges. Aufl. Tübingen 1989 (ATB 56). Natürlich sind auch die Erzählungen des Eneas (wenigstens in Teilen) und vor allem des Kalogrenant Ich-Erzählungen, aber sie haben noch keinen selbständigen Status, sind noch nicht herauslösbar aus dem epischen Kontext, der seinerseits noch nicht als Erzählrahmen fungiert.

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zieht sich in eine Kemenate zurück, verriegelt die Tür und schließt sich so von der Welt ab. Für diese kleinste denkbare Erzählgemeinschaft bleibt die Zeit stehen, für die davon ausgeschlossene Öffentlichkeit dagegen geht sie weiter. Die versammelten Bürger von Köln werden sich über das lange Ausbleiben des Kaisers wundern und ihre Ungeduld nicht verbergen (v. 6741— 6745).

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Die drei hier in den Blick genommenen Erzählszenen haben gemeinsam, daß sie die unterschiedlich begründete Außerordentlichkeit der jeweiligen Erzählung durch deren außeralltägliche Situierung hervortreten lassen: das karthagische Festmahl, das arthurische Pfingstfest, die Kölner Bürgerversammlung. Es ist die Besonderheit und Unalltäglichkeit, die das narrative Interesse begründet und die ausführliche Erzählung der Erzählung rechtfertigt: Der Fürst Eneas bezeugt eine weltgeschichtliche Katastrophe durch die Erzählung seiner persönlichen Niederlage, der Ritter Kalogrenant entehrt sich durch die Erzählung seiner gescheiterten Aventiure, der Kaufmann Gerhard demütigt sich vor Gott durch die erzwungene Erzählung seiner guten Taten. Können also erzählte Erzählsituationen in der höfischen Literatur für die Pragmatik höfischen Erzählens aufschlußreich sein? Doch wohl nur bedingt. Am ehesten taugen dafür die Umstände der Kalogrenanterzählung, die in ihrer Konfliktträchtigkeit einen besonderen Fall darstellt. Was die Regel ist, kommt nicht ausführlicher zur Sprache, kann aber mit lakonischen Hinweisen durchaus gemeint sein. Wer hat auf dem vom alten Helmbrecht erinnerten Hoffest von (Herzog) Ernest vorgelesen? Woher kam der Vorleser und wie fand er sein Publikum? Hat ihm die ganze Hofgesellschaft zugehört oder nur ein kleiner Kreis von Interessierten? Wer gehörte zu diesem Kreis, wer verweigerte sich ihm und wer wurde ausgeschlossen? Den Autor hat das nicht interessiert. Es war, wie es immer ist, und darüber gab es weiter nichts zu erzählen. Auch Erzählrituale, von denen wir wissen oder doch zu wissen glauben, ziehen nur dann die Aufmerksamkeit auf sich, wenn ihnen etwas Besonderes und damit Bedeutsames eigen ist. Die Gewohnheit von König Artus, sich erst dann zum Essen zu setzen, wenn von einer neuen Aventiure berichtet worden ist, stellt die Fiktion eines solchen Erzählrituals dar. Ein Erzählritual allerdings, das nie auserzählt wird, weil es nur als ethische Behauptung und eben nicht als aktueller Vollzug von Interesse ist. Hochritualisiert war bekanntermaßen die Tischlektüre in geistlichen Gemeinschaften. Aber wann ist je von ihr die Rede? Es ist denkbar, daß solch geistig-geistliche Speisung auch als Vorbild für entsprechende Tafelfreuden

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durch den Vortrag weltlich-volks sprachiger Literatur an den Adelshöfen genommen wurde. Aber nie kommt ein solches Ritual zweifelsfrei zur Sprache. Wahrscheinlich sind Rezitationen und Lektionen auch als Abendunterhaltung. Aber wie wenige sichere Belege haben wir! Außer dem bekannten àbentmaerlîn in der Einleitung zur Schwankerzählung ,Das Häslein'32 aus der Mitte des 14. Jahrhunderts gibt es nur Wolframs undeutliche Formulierung im Prolog zum ,Willehalm':33 swer werdekeit wil minnen, der lat dise âventiure in sînem hûse viure (v. 5,4—6). Das läßt an lange Winterabende denken — aber natürlich brennt gerade dann der Kamin auch schon am Nachmittag.

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Bleibt noch die Frage, ob die primäre Pragmatik nicht vielleicht verdeckte Spuren im Wortlaut erzählter Erzählungen der hier allein befragten höfischen Romane hinterlassen hat? Ich komme noch einmal auf das Beispiel der Kalogrenanterzählung zurück. An ihr kann man zumindest den Unterschied von konversationellem und ritualisiertem Erzählen beobachten. Noch einmal also die Situation: Pfingstfest, Festmahl, gesellige Kurzweil nach jedermanns Belieben, die sechs beieinander sitzenden Ritter. Kalogrenant beginnt ohne Ein- und Uberleitung eine Geschichte zu erzählen von größer stner swaere \ und von deheiner sîner vrümekheit (v. 94f.), wie es zum gleichen Zeitpunkt auch andere Festteilnehmer in anderen Runden tun könnten. Er ist noch nicht weit gekommen, da wacht die Königin auf: dô er noch lüt^el hete geseit, I dô erwachte diu künegin (v. 96f.). Sie tritt in die Runde. Begrüßung, Streit, Zurechtweisung Keies und die wiederholte Aufforderung an Kalogrenant, seine unterbrochene Erzählung wieder aufzunehmen. Mit der Bitte der Königin ist eine neue Situation entstanden: Kalogrenant erzählt ,bei Hofe'. Er setzt völlig neu ein — mit einer nun explizit höfisch-literarisch stilisierten Erzählung. Kalogrenants Erzählung hat zwei Anfänge: einen alltäglichkonversationellen, der nicht wörtlich zitiert wird, und einen festlichrepräsentativen in Analogie zum literarischen Prolog. Das heißt, die veränderte Pragmatik erfordert einen neuen Text.

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Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hg., übersetzt und kommentiert von Klaus Grubmüller. Frankfurt/M. 1996 (Bibliothek des Mittelalters 23), S. 590-617, v. 7. Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar. Hg. von Joachim Heinzle. Frankfurt/M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 9).

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Ein Vergleich mit den beiden anderen erzählten Erzählungen aber zeigt, daß man den narrativen Einzelfall nicht umstandslos verallgemeinern kann. Auf den ersten Blick scheinen die Erzählsituationen ganz ähnlich zu sein. Erzählt wird jeweils ,bei Hofe', insofern im einen Fall die karthagische Herrscherin Dido und im andern Kaiser Otto die Zuhörer sind. Aber Eneas wendet sich offensichtlich allein an die Herrscherin von Karthago und der Kaufmann Gerhard erklärtermaßen nur an den Kaiser Otto. Davon ist ausdrücklich die Rede. Dido und Eneas haben sich von der Gesellschaft der Trojaner zurückgezogen: Do da\ e^en was getan, do was da manich Troiän wolgemút unde fió. nu was die fiouwe Dîdô und der hère Enêas aldâ in Heb was ensamentgesehen an ein stai. (ν. 899—905)

Genauso entzieht sich Kaiser Otto den Augen der Öffentlichkeit. Der Kaufmann Gerhard muß ihm in die ,Privatheit'34 einer abgeschlossenen Kemenate folgen: do ge er mit dem keiser dan in eine kemenâten. als sì dar in geträten, der keiser dà die tür beslôζ mit einem rigel, der was gró^· An ein gestüele er sitzen gie. den koufman er des niht erlie, er muoste ·φο im sitzen dran.

(v. 8 7 2 - 8 7 9 )

In beiden Fällen wird also die höfische Öffentlichkeit ausgeschlossen, weniger deutlich im Falle der Erzählung des Eneas, ausdrücklich und programmatisch im Falle der Erzählung des Kaufmanns Gerhard. Erklärt das die unterschiedlichen Erzähleingänge? Die Geschichte vom Fall Trojas wird eingeleitet mit prologartigen Versen, die durchaus vergleichbar sind mit der höfisch-literarischen Stilisierung der Erzählung des Kalogrenant. Auch Eneas macht von einer Reihe von Prologtopoi Gebrauch: Reden (sc. Schreiben) auf Befehl, Wahrheitsbeteuerung und Quellenberufung. her sprach 'ir habet begunnen einer rede, diu mir wê tût. sint üch aber dunketgût, ich bin sin, fiouwe, ml gereit, dtich ä sage die wârheit, wände ich si wolgesagen kan, so da% üch des nieman Die gesuchte Heimlichkeit ist hier in der Tat schon privat zu nennen, da der Kaiser nicht in seiner repräsentativen Rolle, sondern als heilsbedürftiges Individuum handelt.

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ba^ berihten enmach, wände ich% horde unde sach. ' (v. 910-918) Ganz anders die Erzählung des guten Gerhard, die umstandslos einsetzt mit den Versen: 'hem, e^Juoge sich also: dà der vater min verdarp und in der werdekeit erstarp [...]' (v. 1130-1132). Allerdings ist zu bedenken, daß der umfängliche Dialog zwischen Kaiser und Kaufmann gleichsam als Prolog zur Erzählung fungiert, zu der der AutorErzähler mit dem höchst ungewöhnlichen Hinweis auf den Wechsel der narrativen Instanz überleitet: Sit ist komen ûf da% day er ey selbe sagen ml, sô lânt der rede mich gedagen. layen wir in selben sagen der rehten wârheit urhap hie, wâ von er den namen vie dayer der giote wart genant. (v. 1119-1125) Auf diese Weise setzt sich — gegen den ersten Eindruck — das Muster höfisch-literarischen Erzählens auch hier letztlich wieder durch. So kann man zum wiederholten Male nur den Schluß ziehen, daß erzählte Erzählsituationen und der Wordaut erzählter Erzählungen keine eindeutigen Antworten auf die Typik mittelalterlicher Erzählpragmatik bereithalten.

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Erzählen bedarf der einverständigen Gemeinschaft der Zuhörer mit dem Erzähler. Die nötige Vereinbarung der Umstände des Erzählvorgangs kann sich in Ritualen verfestigen, deren Vollzug ausagiert oder symbolisch verkürzt wird. Man kann die Prologtopoi literarischen Erzählens zu einem guten Teil als Reflexe einer ritualisierten Erzählpragmatik verstehen. Das Angebot oder die Aufforderung zu erzählen, der selbstbewußte Anspruch des Erzählers hinsichtlich seiner Kompetenz und der Wahrheit seiner Geschichte, die Bitte um Ruhe, der Rat aufmerksam zu sein — das sind Stereotypen, die als Vereinbarungsrituale auch dem oralen Erzählen vorangehen können, auch wenn wir über deren tatsächlichen Gebrauch keine Aussagen machen können. Im literarischen Erzählen sind sie in den Schrifttext eingegangen. Hier behaupten sie ihren Platz, solange die ursprüngliche Erzählsituation körperlicher Präsenz noch Praxis oder zumindest lebendige Erinnerung ist. Solange solche Rituale in Geltung sind, wird der Wordaut der Erzählung wenig über sie zu erkennen geben. Umstandslos einsetzende Heldengedichte

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scheinen in besonderem Maße einem derart rituell geprägten Gebrauch zubestimmt gewesen zu sein und auch nach ihrer Literarisierung noch immer in ihn zurückzustreben. Dieser rituelle Gebrauch war geprägt durch das gemeinsame Vorwissen, durch den dieses Wissen wiederholenden Vortrag eines kompetenten Rhapsoden vor einer durch die identische Erwartung zum Kollektiv (der sogenannten Erzählgemeinschaft) verschmolzenen Hörerschaft. Erst wenn das Erzählen zum Gegenstand der Erzählung wird — und das geschieht bekanntlich schon im ,Beowulf - , erfährt man vielleicht etwas über dessen Umstände. Bekanntermaßen ritualisiert war der Umgang mit Literatur in geistlichen Gemeinschaften. Aber die geistlichen Erzählgedichte (Bibelepik, Legenden) literarisieren mit wenigen Ausnahmen35 die Pragmatik ihres Gebrauchs in rhetorisch zunehmend ausziselierten Eingängen und Schlüssen mit Dichtergebet, Aufforderung zu gemeinsamer Fürbitte, Lektionenschluß etc. Das hat seinen Grund ganz sicher darin, daß es sich um Literatur handelt, um Texte also, die von vornherein für die Schrift konzipiert und damit potentiell unabhängig von den Umständen ihrer Rezeption sind. Man kann sie vorlesen und hören oder selber lesen.36 Das Gleiche müssen wir wohl auch für die höfische Literatur nicht geistlichen Interesses annehmen. Auch wenn sie überwiegend noch vorgetragen worden sein sollte und erst nur von wenigen (wenn überhaupt) selbst gelesen wurde,37 ist sie für die Schrift konzipiert und Literatur auch in dem Sinne, daß die Texte sich von ihren Autoren ablösen, sich einer festgelegten Pragmatik entziehen und frei verfügbar werden.38 Am schönsten ist das Bewußtsein dieses Übergangs im ,Erec'39 Hartmanns von Aue dokumentiert. Die vielzitierte Sattelbeschreibung (v. 7462ff.) nimmt eine Vortragssituation vorweg (ein Hörer mischt sich ein und wird vom Erzähler seiner Inkompetenz überführt), die sich noch immer so abspielen konnte und doch schon Imagination ist.40 35

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A m auffalligsten in dieser Hinsicht ist der altsächsische ,Heliand', und man kann sich darüber streiten, warum der Prolog fehlt. Über den wohl grundsätzlich anzunehmenden „intermediate mode of reception" mittelalterlicher Literatur vgl. Green (Anm. 12). Ich dokumentiere hier nicht die Debatte, die durch Manfred Günter Scholz: Hören und Lesen. Studien zur primären Rezeption der Literatur im 12. und 13. Jahrhundert. Wiesbaden 1980 ausgelöst und von D. H. Green (Anm. 12) beendet wurde. Jan-Dirk Müller (Hg.): ^Aufführung' und ,Schrift' in Mittelalter und früher Neuzeit. Stuttg a r t - W e i m a r 1 9 9 6 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 17). Hartmann von Aue: Erec. Hg. von Albert Leitzmann / Ludwig W o l f f / Christoph Cormeau / Kurt Gärtner. 6. Aufl. Tübingen 1985 (ATB 39). Dazu u. a. Franz Josef Worstbrock: Dilatatio materiae. Zur Poetik des ,Erec' Hartmanns von Aue. In: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1 - 3 0 ; Ingrid Strasser: Fiktion und ihre Vermittlung in Hartmanns ,Erec'-Roman. In: Volker Mertens / Friedrich Wolfzettel

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Die größte Schwierigkeit ist also zu entscheiden, wo und wann die in den Texten aufgehobene primäre Pragmatik zur literarischen Konvention geworden ist. Denn der Wiedergebrauch einer schriftfixierten Narration kann unter durchaus anderen Umständen als denjenigen erfolgen, denen sie ursprünglich zugedacht war.41 Heldengedichte sind auf Dauer sicher nicht nur aufgezeichnet worden, damit der Vortragende sie memorieren kann, sondern auch um sie vorlesen zu lassen und schließlich um sie selber zu lesen. Das kann in jeweils ganz anderem Rahmen, unter gänzlich divergenten Umständen und auch mit völlig veränderten Erwartungen geschehen. Im gedruckten Buch ist die Erinnerung an die ursprüngliche Erzählpragmatik schließlich abgedrängt in die sog. Paratexte, wie sie Gerard Genette42 genannt hat: in den Umschlag mit dem Klappentext, das Vorsatzblatt mit dem Namen des Verfassers, den Titel und in die Angaben zu Erscheinungsort und -jähr, in Widmung und Vorwort etc. All das dient zur Vorverständigung zwischen Autor und Leser, analog der Vereinbarung zwischen dem körperlich präsenten Erzähler mit seinen Zuhörern in alltäglichen oder rituellen Erzählsituationen.

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Die Institutionalisierung der volkssprachigen Literatur an weltlichen Adelshöfen im 12. und 13. Jahrhundert hat auf Dauer sicher zu veränderten Formen des Umgangs mit dem Erzählen geführt. Man kann sich vorstellen, daß die höfische Erzähldichtung zunächst in die gewohnten Erzählrituale eintrat und entsprechend zelebriert wurde. Der Vorleser nahm die Stelle des Erzählers ein, und die Hörer verhielten sich nicht anders, als sie es gewohnt waren. Aber die rituelle Erzählgemeinschaft wurde aufgebrochen durch den neuartigen Anspruch der höfischen Dichtung. Ihr zuzuhören (oder sie zu lesen) war nicht bloß passiver Nachvollzug des immer schon Bekannten, kein beiläufiger Zeitvertreib und müheloses Vergnügen, sondern erforderte erhöhte Aufmerksamkeit und aktive Verstehensbereitschaft. Es war arebeit im Sinne der oben zitierten Verse Hartmanns von Aue, eine Mühe, der sich jeder Hörer als einzelner für sich zu unterziehen hatte.

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(Hgg.): Fiktionalität im Artusroman. Dritte Tagung der deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft in Berlin vom 13.-15.2.1992. Tübingen 1993, S. 6 3 - 8 3 . In anderem Zusammenhang, aber in diesem Sinne spricht Peter Strohschneider von der Stilisierung literarischer Texte als „Wiedergebrauchsrede"; vgl. Peter Strohschneider: Situationen des Textes. Okkasionelle Bemerkungen zur ,New Philology'. In: ZfdPh 1 1 6 (1997), Sonderheft, S. 6 2 - 8 6 , hier S. 85. Gérard Genette: Paratexte. Frankfurt/M. - New York 1989.

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D e r höfische Dichter war nicht m e h r Sachwalter einer kollektiven Erinnerung und eines gemeinsamen Weltwissens. U n d er entfernte sich durch das Medium der Schrift z u n e h m e n d von seinem Publikum, das er zwar n o c h als Hörergemeinschaft apostrophiert, d e m er aber nicht unbedingt m e h r körperlich konfrontiert war. Es ist symptomatisch, daß die Sammelapostrophe seit H a r t m a n n v o n Aue immer häufiger zur Anrede des einzelnen Hörers verengt wird. I m einzelnen Hörer ist der einsame Leser präfiguriert. Kaiser O t t o im .Guten Gerhard' ist eine Symbolfigur für diesen Übergang. D i e Stimme des unsichtbar werdenden Erzählers geht in den K ö r p e r des Buchs ein. U n d so spricht das Buch: 43 Wer hat mich guoter ûfgetan? si iemen der mich kan beidiu lesen und verstên, der solgenâde an mir begên [.. ,]44 (v. 1-4). W o aber das Buch spricht, ist letztlich nur einer angesprochen, der einzelne Leser, der verstehen soll und sich nicht mit dem bloßen H ö r e n begnügen kann u n d darf. D a s eben meint Hartmann, w e n n er umgekehrt sein eigenes Buch durch den Mund Kalogrenants sagen läßt: maneger biutet diu òren dar ern nemes ouch mit dem herben war, sone wirt im niht wan der do% und ist der schade alyegrò£ (ν. 251—254). Nicht bloß mit den Ohren, sondern mit d e m Herzen hat Kaiser O t t o d e m K a u f m a n n Gerhard zugehört: do er der maere wart ermant, diu guottât erbarmet in. ouch nam er in stnen sin wie sines mundes rüemlich dòn verworhte an gote sinen lôn. des maeres gró%_ erbermekeit und diu manliche süe^e breit an des koufmannes triuwe erweind in [...] (v. 6636—6644). D e r einsame H ö r e r vollzieht das ihm abverlangte Verständnis wie der einsam e Leser für sich und nicht im Austausch mit dem n o c h immer anwesenden Erzähler. Kaiser O t t o hätte die Geschichte des guten Gerhard auch lesen können, w e n n er dazu in der Lage gewesen wäre. Erzähler und Buch werden austauschbar, so wie H ö r e r und Leser schon austauschbar sind.

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Wirnt von Gravenberc: Wigalois, der Ritter mit dem Rade. Hg. von J. M. N. Kapteyn. Bonn 1926 (Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde 9). Vgl. Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995, S. 220f.

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Mit dem Einsatz der Schrift wird eine Entritualisierung des Erzählens in Gang gesetzt - so lange auch traditionelle Erzählrituale noch in Kraft geblieben sein mögen. Ein geschriebener Text steht immer und jederzeit zur Verfügung, ein Erzähler nicht. Wer nicht lesen kann oder nicht lesen will, bedarf eines rituellen, institutionellen oder spontanen Angebots, um Zuhörer werden zu können. Wer dagegen lesefähig ist, kann immer und jederzeit zum Leser werden. Und genau hier mögen die Gründe für die unterschiedlichen und kaum systematisierbaren Auskünfte über die Pragmatik des Erzählens im Rahmen höfischer Geselligkeit liegen. Institutionelle wie mediale Veränderungen aber können erneut Rituale generieren, indem sie alte Rituale in neue, sich rituell verfestigende Handlungsstereotypen transformieren.45 Im Falle des gedruckten Buches sind das ,Privatrituale', ein der Definition widersprechender, aber vielleicht nicht ganz falscher Begriff, wenn man darunter verkürzte Handlungssequenzen versteht, die eine durch die Präsenz der Körper definierte ursprüngliche Vortragssituation ersetzen und gerade dadurch symbolisch wiederherstellen. Der einsame Leser schafft sich selbst den Anlaß. Er nimmt sich die nötige Zeit. Er schließt sich von der Außenwelt ab, sei es durch räumliche Separierung, sei es durch die mentale Konzentration auf das Buch. Paratexte wecken seine Erwartungen, ganz zu schweigen von der — im Wortsinne geschmäcklerischen — Hinwendung zu einem auch materialiter neuen Buch und seiner sinnlich erfahrbaren Präsenz. Die Aura des Erzählers ist eingegangen in die Aura des Buches. Damit ist eine ihrerseits historisch gewordene Einstellung beschrieben, deren individuelle Fortgeltung nicht davon ablenken kann, daß die elektronischen Medien längst einen neuen Schub der Entritualisierung ausgelöst haben, den zu beschreiben hier nicht mehr der Ort ist.

Reiches Material und weiterfuhrende bibliographische Angaben bei Erich Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. Stuttgart 1987 (Sprache und Geschichte 12).

LUDGER LIEB

Essen und Erzählen Zum Verhältnis zweier höfischer Interaktionsformen I.

Wer etwas wissen will über vormoderne Kulturen des Erzählens und sich hierbei besonders für die Pragmatik narrativer Interaktionen und ihre Institutionalisierung interessiert, wer daher ein Zeugnis sucht, das eine Idee von solcher Erzählkultur vermittelt, der wird vielleicht als erstes zu Giovanni Boccaccios ,Decameron' greifen.1 Hier findet er die grandiose Imagination eines perfekten Ordnungsarrangements, dessen Zentrum die Erzählakte jener zehn jungen Leute bilden, welche sich vor den Schrecken der Pest aufs Land geflüchtet haben und dort 14 Tage gemeinsam verbringen.2 Für welche Aspekte auch immer eine institutionelle Analyse den Blick schärft,3 Boccaccio präsentiert sie uns auf dem Tablett: Unmittelbar seit ihrer Ankunft auf dem Land leben die zehn Erzählerinnen und Erzähler in einer ,Eigenzeit', ihr Tagesablauf ist neben den Mahlzeiten und dem Schlafen durch genau wiederholte Phasen des Lustwandeins, des Tanzens und Singens und besonders Giovanni Boccaccio: Decameron. A cura di Vittore Branca. Sesta edizione riveduta e corretta, aggiornata nelle bibliografie al 1991. Turin 1991. Vgl. zu diesem Ordnungsarrangement und zur therapeutischen Funktion des Erzählens jetzt Burghart Wachinger: Erzählen für die Gesundheit. Diätetik und Literatur im Mittelalter. Vorgetragen am 25. November 2000. Heidelberg 2001 (Schriften der Philosophischhistorischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 23), S. 30f., sowie die Ausführungen von Kurt Flasch in: Giovanni Boccaccio: Poesie nach der Pest. Der Anfang des Decameron. Italienisch-deutsch. Neu übersetzt und erklärt von Kurt Flasch. Mainz 1992 (Excerpta classica 10), bes. S. 105-114. Ich verweise hier nur auf die zwei neuesten Aufsätze, die den theoretischen Ansatz des Dresdner Sonderforschungsbereichs erläutern: Karl-Siegbert Rehberg: Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien - Eine Einführung in systematischer Absicht. In: Gert Melville (Hg.): Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart. Köln — Weimar — Wien 2001, S. 3—49; Peter Strohschneider: Institutionalität. Zum Verhältnis von literarischer Kommunikation und sozialer Interaktion in mittelalterlicher Literatur. Eine Einleitung. In: Beate Kellner / Ludger Lieb / Peter Strohschneider (Hgg.): Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Frankfurt/M. u. a. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 1-26.

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durch die Zeit des Geschichtenerzählens am Nachmittag und frühen Abend definiert; eine der wenigen Koppelungen mit nicht immanent konstituierten Zeitordnungen besteht darin, daß an Freitagen und Samstagen diese Abläufe ausgesetzt werden, um den heilsgeschichtlichen Ereignissen zu gedenken (II conci., 5; S. 316 u. ö.). — Ebenso plakativ zeigt sich der institutionelle Mechanismus einer Konstitution von ,Eigenräumen': Die verschiedenen Aufenthaltsorte werden als Paradiese markiert, sie sind nach außen abgegrenzt und bieten im Inneren wieder eine ganze Fülle von schönen Orten, die die zehn jungen Leute sich durch ihre spezifischen Tätigkeiten anverwandeln müssen. So konstituieren sie immer wieder einen einzelnen locus amoenus als Ort des Erzählens (z. B. VI conci., 18f.; S. 777: la Valle delle Donne). Wie notwendig diese Konstruktion von Eigenräumen für das Gelingen der Erzählgemeinschaft ist und wie sie gegen Bedrohungen von außen geschützt werden muß, hält Boccaccio im Bewußtsein, indem er erwähnt, daß die Gruppe weitere potentielle Teilnehmer furchtet und flieht (II conci., 7; S. 316f.) oder daß die eigene Dienerschaft die Abgeschlossenheit der Erzählgemeinschaft zu stören vermag (VI intr., 4ff.; S. 714ff.). — Ein weiterer institutioneller Mechanismus ist die innere Organisation der Gruppe. Um deren Egalität für die Dauer von 14 Tagen zu gewährleisten, d. h. um (Rang-) Streitigkeiten von vornherein zu unterbinden, braucht die Gruppe eine ,Königin' bzw. einen ,König', also eine Autorität mit Verfügungsgewalt. Diese Regulierungsfunktion wird dann im übrigen gerade dort ausgespielt, wo sich die prekäre Grundfrage des geselligen Erzählens stellt, also bei der Zuweisung der Erzählerrolle an ein Mitglied der Gemeinschaft: wer erzählt und wer hört zu? Doch entsteht durch die Einführung des Königsamtes das Problem, Gleichheit durch Ungleichheit, Egalität durch Hierarchie garantieren zu wollen. Dieses Paradox wird aufgelöst durch die Einrichtung (,Instituierung