Politisches Denken. Jahrbuch 2018 [1 ed.] 9783428559398, 9783428159390

Dieser 28. Band des Jahrbuchs für Politisches Denken zeigt die Vielseitigkeit des interdisziplinären Ansatzes an, dem da

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Politisches Denken. Jahrbuch 2018 [1 ed.]
 9783428559398, 9783428159390

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JAHRBUCH

POLITISCHES DENKEN 2018

Band 28

Herausgegeben von H.-C. Kraus, F.-L. Kroll, P. Nitschke, E. Odzuck, M. Schwarz Harald Kleinschmidt: Die Verhinderung des Staatstods. Thomas Hobbes, Revolutionen der Staatsform und der Sicherheitsbegriff  Michael Kühnlein: Die Rückeroberung des Vorpolitischen aus den ‚teuflischen‘ Anfängen des Republikanismus. Überlegungen im Anschluss an Kant und Habermas  Ursula Ludz: Hannah Arendts Denkwege 1951 bis 1955  Mario Wintersteiger: Schönheit, Kunst und Macht  Sandra Fluhrer: Das Theater und die Körper des Politischen  Tilo Schabert: Die Politik der Körper  Karl-Heinz Nusser: Menschenwürde aus dem Geist des Naturrechts oder aus dem des normativen Individualismus? Menschenrechte, Individualismus und Selbstbestimmung  Walter Reese-Schäfer: Toleranz und Inzivilität  Reinhard Mehring: Vittorio Hösle und Volker Meinel über die Lage vor den Corona-Zeiten

Duncker & Humblot

JAHRBUCH POLITISCHES DENKEN 2018

Band 28

In Verbindung mit dem Vorstand der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens als Geschäftsführenden Herausgebern: Prof. Dr. Hans-Christof Kraus Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll Prof. Dr. Peter Nitschke Dr. Eva Odzuck Dr. Martin Schwarz Redaktion: Prof. Dr. Peter Nitschke Dr. Martin Schwarz Wissenschaft von der Politik Fakultät II: Natur- & Sozialwissenschaften Universität Vechta Driverstr. 22, D-49377 Vechta E-Mail: [email protected] E-Mail: [email protected]

Wissenschaftlicher Beirat: Reinhard Brandt (Marburg), John Dunn (Cambridge), Dieter Henrich (München), Otfried Höffe (Tübingen), Hasso Hofmann (Berlin), Hermann Lübbe (Zürich), J. G. A. Pocock (Hopkins University), Quentin Skinner (Cambridge), Michael Stolleis (Frankfurt)

Das „Jahrbuch Politisches Denken“ (JPD) erscheint seit 1991 in Zusammenarbeit mit der „Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens“ (DGEPD). Den Zielen der Gesellschaft entsprechend fördert das Jahrbuch die fächerübergreifende, wissenschaftliche Forschung, die das politische Denken international und in seiner ganzen Breite zum Gegenstand hat, sowie den Austausch zwischen politischem Denken und praktischer Politik. Zur Publikation eingereichte Texte durchlaufen ein Begutachtungsverfahren. Typoskripte sind anonymisiert und in zweifacher Ausfertigung als Ausdruck sowie in elektronischer Form (in einem üblichen Datei-Format) bei der Redaktion einzureichen. Hinweise zur Formatierung sind zugänglich unter www.dgepd.de. Verlage senden Rezensionsexemplare ihrer Publikationen bitte an die Redaktion. Für unverlangt bei der Redaktion eingereichte Exemplare bestehen keine Besprechungszusage und kein Anspruch auf Rücksendung.

Jahrbuch Politisches Denken 2018 Band 28 Herausgegeben von Hans-Christof Kraus, Frank-Lothar Kroll, Peter Nitschke, Eva Odzuck, Martin Schwarz

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH Printed in Germany ISBN 978-3-428-15939-0 (Print) ISBN 978-3-428-55939-8 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Aufsätze Die Verhinderung des Staatstods. Thomas Hobbes, Revolutionen der Staatsform und der Sicherheitsbegriff Von Harald Kleinschmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Rückeroberung des Vorpolitischen aus den ,teuflischen‘ Anfängen des Republikanismus: Überlegungen im Anschluss an Kant und Habermas Von Michael Kühnlein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hannah Arendts Denkwege 1951 bis 1955. Ein Memorandum anlässlich der Veröffentlichung des Bandes „The Modern Challenge to Tradition“ im Rahmen der kritischen Hannah-Arendt-Gesamtausgabe Von Ursula Ludz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

Schönheit, Kunst und Macht. Politischer ,Ästhetizismus‘ aus ,ästhetisch-politologischer‘ Sicht Von Mario Wintersteiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Das Theater und die Körper des Politischen. Zum Problem der Repräsentation bei Heiner Müller und Thomas Hobbes Von Sandra Fluhrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Die Politik der Körper Von Tilo Schabert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Menschenwürde aus dem Geist des Naturrechts oder aus dem des normativen Individualismus? Menschenrechte, Individualismus und Selbstbestimmung Von Karl-Heinz Nusser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Toleranz und Inzivilität Von Walter Reese-Schäfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

II. Rezensionsessays Eine philosophische Novelle – Reinhard Mehrings „Landwehrkanal“ Von Hans-Christof Kraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

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Inhaltsverzeichnis

Vittorio Hösle und Florian Meinel über die Lage vor den Corona-Zeiten Von Reinhard Mehring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 III. Rezensionen Max Weber: Gesamtausgabe, Abteilung I: Schriften und Reden, Bd. 12: Verstehende Soziologie und Werturteilsfreiheit. Schriften und Reden 1908 – 1917, hrsg. v. Johannes Weiß in Zusammenarbeit mit Sabine Frommer. J. C. B. Mohr – Paul Siebeck, Tübingen 2018, XVI, 648 S. Von Hans-Christof Kraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Max Weber: Gesamtausgabe, Abteilung II/11: Briefe. Nachträge und Gesamtregister, hrsg. v. Rita Aldenhoff-Hübinger und Edith Hanke. J. C. B. Mohr – Paul Siebeck, Tübingen 2019, XXVI, 706 S. Von Hans-Christof Kraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Philipp Batthyány: Existentielle Freiheit und politische Freiheit. Die Freiheitsideen von Karl Jaspers und Friedrich August von Hayek im Vergleich. Duncker & Humblot, Berlin 2019, 436 S. Von Alexander Gantschow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Gerald Posselt/Tatjana Schönwälder-Kuntze/Sergej Seitz (Hrsg.): Judith Butlers Philosophie des Politischen. Kritische Lektüre. Mit zwei Beiträgen von Judith Butler. transcript: Edition Moderne Postmoderne, Bielefeld 2018, 332 S. Von Anna Orlikowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Alois Riklin: Engagierte Politikwissenschaft: Ausgewählte Schriften. Stämpfli Verlag AG, Bern 2018, 598 S. Von Daniel Brühlmeier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Michael Kühnlein: konservativ ?! Miniaturen aus Kultur, Politik und Wissenschaft. Duncker & Humblot, Berlin 2019, 495 S. Von Martin Schwarz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Alexander Grau: Politischer Kitsch. Eine deutsche Spezialität. Claudius-Verlag: München 2019, 127 S. Von Karsten Berr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

Editorial Die Ausgabe 2018 erscheint als 28. Band des Jahrbuchs Politisches Denken zu ungewohnter Zeit und in einem weltweit ungewohnten Szenario. Nach den langwierigen krankheitsbedingten Verzögerungen in der Erlanger Redaktion konnte dank des umsichtigen Engagements von Eva Odzuck im vergangenen Jahr zumindest die Jahrbuchsausgabe für 2017 nachholend realisiert werden. Mit der Übernahme der Redaktionstätigkeiten von Erlangen nach Vechta hat sich der neue Vorstand zum Ziel gesetzt, die verlorene Zeit bei den Jahrbüchern so schnell es geht wieder aufzuholen. Daher wurden für den vorliegenden Band einige Beiträge berücksichtigt, die auf der Tagung der Gesellschaft in Tutzing Ende 2018 zum Thema Menschen/Körper/ Rechte präsentiert worden sind. Dies betrifft die Beiträge von Sandra Fluhrer, Thilo Schabert und Karl-Heinz Nusser. Auch wenn die Zeit für die Erstellung dieser Jahrbuchsausgabe denkbar knapp war, konnten noch einige neuere Beiträge jenseits dieser Tagung gewonnen werden oder haben sich glücklicherweise angeboten. So hat beispielsweise Walter Reese-Schäfer seinen gelungenen Vortrag anlässlich einer Tagung zur Toleranzfrage an der Akademie in Stapelfeld für die vorliegende Ausgabe des Jahrbuchs zur Verfügung gestellt. In der Summe kommen wir damit im 28. Band des Jahrbuchs in etwa auf das Volumen der vorhergehenden Bände. Wenn Sie diese Ausgabe in den Händen halten, ist derweil der Folgeband, also das Jahrbuch für 2019, schon in der weiteren redaktionellen Bearbeitung. Voraussichtlich wird Band 29 dann auch noch im gleichen Jahr erscheinen können. Das alles ist nur möglich, weil sich Martin Schwarz als neuer Sekretär der Gesellschaft sofort mit großem Elan in die Redaktionsarbeit am Jahrbuch begeben hat, hierbei mit vielen hilfreichen Tipps von Eva Odzuck unterstützt. Aus diesem Grunde hat der neue Vorstand auch beschlossen, die Kollegin aus Erlangen mit in die Herausgeberschaft für das Jahrbuch offiziell aufzunehmen. Die redaktionellen Abschlussarbeiten an diesem Jahrbuch sind schon begleitet gewesen von den Auswirkungen der Pandemie, haben aber darauf erfreulicherweise für das kommunikative Prozedere keinen Einfluss gehabt. Wir hoffen, dass dies auch im weiteren Verlauf des Jahres so bleiben wird und wünschen natürlich allen Leserinnen und Lesern eine stabile Gesundheit für die Reflexion zum Politischen Denken. Vechta, den 3. April 2020

Peter Nitschke

I. Aufsätze

Die Verhinderung des Staatstods Thomas Hobbes, Revolutionen der Staatsform und der Sicherheitsbegriff Von Harald Kleinschmidt Abstract The following note examines Hobbes’s use of the metaphor of the death of the state as a „Mortall God“, for which he drew on a tradition going back to the late antique Corpus Hermeticum. Modifying his source, he constructed an argument according to which the state was stable on principle but could cease to exist by divine intervention, external aggression or in consequence of imperfect institutionalisation. Hobbes then elaborated on various „diseases“ that might jeopardise the stability of the state, whose sovereignty, he opined, could not be lost even in case of death. However, Hobbes’s concerns about state stability were shared only by a few other seventeenth- and eighteenth-century theorists, Helmstedt polyhistor Hermann Conring among them. Nevertheless, Hobbes’s metaphor of state death turned popular from the turn of the nineteenth century and has since then been placed in a biologistic intellectual environment in which state succession was becoming a legally regulated process. Reading Hobbes from the point of the biologistic view that states will come and go, thus, imposes nineteenth- and twentieth-century notions upon a seventeenth-century text rooted in mechanicist perceptions.

I. Einleitung Im Anschluss an seine Erläuterung zu den Bedingungen und Verfahren der Entstehung des Staats formulierte Thomas Hobbes in Kapitel 17 des Leviathan seinen bekannten, scheinbar paradoxen Doppelsatz über den sterblichen Gott: „This done, the Multitude so united in one Person, is called a Common-wealth, in latine Civitas. This is the Generation of that Mortall God to which wee owe under that Immortal God our peace and defence.“1 Dieser Doppelsatz ist mitunter wörtlich gelesen worden als Beschreibung eines Vorgangs, durch den der Staat als zugleich göttliche und sterbliche Institution entstehe.2 Nach dieser Lesung soll Hobbes die These ver1 Thomas Hobbes, Leviathan. Or The Matter, Forme and Power of a Common-Wealth Ecclesiastical and Civil [London 1651], hrsg. von Richard Tuck. Cambridge 1991, Kap. 17: 87 (der Orig.-Ausg.), 120 (der Ausg. von Tuck). 2 Annabel S. Brett, Changes of State. Nature and the Limits of the City in Early Modern Natural Law. Princeton 2011: 139 – 141. Maximilian Jaede, Nature and Artifice in Hobbes’s International Political Thought, in: Hobbes Studies 28 (2015): 18 – 34, hier: 23 – 26. Michel Malherbe, Hobbes et la mort du Léviathan. Opinion, sédition et dissolution, in: Hobbes Studies 9 (1996): 11 – 20. Quentin Robert Duthrie Skinner, Hobbes and Republican Liberty.

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Harald Kleinschmidt

treten haben, dass der Staat instabil sei, durch menschliche Tätigkeit rechtmäßig ebenso geschaffen wie zerstört werden könne. Diese Lesung wird gestützt auf eine Passage in Kapitel 29, in der Hobbes die Bedingungen der Schwächung und Auflösung des Staats behandelte und dabei feststellte, dass alles Menschenwerk endlich und der Beendigung durch den Willen des unsterblichen Schöpfergottes anheim gestellt sei.3 Danach konnte der Staatstod jedoch nicht die von innen hervorgerufene Zerstörung eines bestehenden Staats bezeichnen, sondern musste, wenn er denn stattfand, aus externen Faktoren resultieren.4 Die wörtliche Lesung stößt indes auf die überlieferungsgeschichtliche Schwierigkeit, dass Hobbes die Rede vom „Mortall God“ nicht erfand, sondern sich einer in Großbritannien gängigen5 Phrase aus dem spätantiken griechisch-lateinischen Corpus Hermeticum bediente, einem der nach der Bibel im 16. und 17. Jahrhundert meist gelesenen religiösen Texte, der bis in das 18. Jahrhundert als vorchristlich galt.6 Für Hobbes als Theologen war dieses Zitat keineswegs unproblematisch, mussten doch alle, scheinbar paganen Angleichungen weltlich, durch Vertrag unter Menschen, begründeter Herrschaftsinstitutionen und deren Träger an den unsterblichen Schöpfergott mindestens nahe bei Blasphemie liegen und zumal für den Legitimisten, der Hobbes war,7 schwer denkbar sein. Den Text des Corpus HermeCambridge 2008: 200 – 202. Eckart Conze, Geschichte der Sicherheit. Göttingen 2018: 24, behauptete gar, Hobbes’ Leviathan stelle „einen weltlichen Gott“ dar. 3 Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1), Kap. 29: 167 (der Orig.-Ausg.), 221 (der Ausg. von Tuck): „Though nothing can be immortall, which mortals make, yet if men had the use of reason they pretend to, their Common-wealths might be secured, at least, from perishing by internall diseases. For by nature of their Institution, they are designed to live, as long as Mankind or as the Laws of Nature or as Justice it selfe, which gives them life. Therefore, when they come to be dissolved, not by externall violence but intestine disorder, the fault is not in men, as they are the Matter; but as they are the Makers and orderers of them.“ 4 Jonathan Gil Harris, Foreign Bodies and the Body Politic. Discourses of Social Pathology in Early Modern England (Cambridge Studies in Renaissance Literature and Culture; 25). Cambridge 1998, der, S. 142, darauf verweist, dass Hobbes, trotz seiner, „internall diseases“ erwähnenden Sprache, nur auf exogene Faktoren der „Krankheiten“ achtete. 5 Horst Bredekamp, Thomas Hobbes visuelle Strategien. Der Leviathan: Urbild des modernen Staates. Werkillustrationen und Portraits. Berlin 1999: 61 – 70 [2. Aufl. Berlin 2003; 3. Aufl. Berlin 2006; 4. Aufl. Berlin 2012; englische Teilfassung u. d. T.: Thomas Hobbes’s Visual Strategies, in: Patricia Springborg (Hrsg.), The Cambridge Companion to Hobbes’s Leviathan. Cambridge 2007: 29 – 60, hier: 33 – 35; französische Fassung. Paris 2003]; dort: 65, Hinweis auf die Hs. London: British Library, Harleian Ms. 2232 (1622 – 1624), fol. 73: „A Kinge is a mortall god on earth onto whom the living god hath lent his owne name for greater honour.“ 6 Peter Burke, History, Myth and Fiction. Doubts and Debates, in: José Rabasa, Masayuki Sato, Edoardo Tortarolo und Daniel Woolf (Hrsg.), The Oxford History of Historical Writing, Bd. 3. Oxford 2012: 261 – 281, hier: 269. Anthony Grafton, Defenders of Texts. Princeton 1990: 145 – 161. Frances Amelia Yates, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition. London 1964 [weitere Ausg. London 1969; 1971; 1991; 1994; hrsg. von J. B. Trapp. London und New York 2002: 13, 18]. 7 Thomas Hobbes, Examinatio et emendatio mathematicae hodierne, in: ders., Opera philosophica quae Latine scripsit, hrsg. von William Molesworth, Bd. 4. London 1843 [Nach-

Die Verhinderung des Staatstods

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ticum,8 das er in der Ausgabe durch den Humanisten Francesco Patrizi9 benutzt haben könnte,10 wandelte er daher ab und ersetzte die dort zu lesende Bestimmung Gottes als unsterblichen Menschen (he¹m !hamat¹m %mhqypom) durch die Bezeichnung „Immortal God“, als wolle er nicht in Widerspruch mit der christlichen Trinitätslehre geraten.11 Erst in dieser modifizierten Fassung war das Corpus für Hobbes benutzbar. Die Bezeichnung menschengemachter Herrschaft tragender Institutionen als sterblicher Gott reflektierte, in der wörtlichen Lesung, zudem das genaue Gegenteil des Begriffs des Gottesgnadentums als der aus Gottes Willen folgenden Herrschaft über die Menschen.12

druck. Aalen 1961], Dial. VI: 226: „Nam Aristoteles, quem sequitur naturam nihil aliud esse praeter motum; motum esse dicat, non negat quin causam habeat in externo. Ab hoc principio orsus, causas qualitatum, sensiblium et phaenomenyn naturalium fere illi, quibus principium hoc videtur falsum, facere nunquam poterunt.“ Ders., Leviahan (wie Anm. 1), Kap. 31: 187 (der Orig.-Ausg.), 246 – 247 (der Ausg. von Tuck): „The Right of Nature, whereby God reigneth over men and punisheth those that break his Lawes, is to derived, not from his Creating them, as if he require obedience, as of Gratitude for his benefits: but from his Irresistable Power. I have formerly shewn how the Soveraign Right ariseth from Pact: To shew how the same Right may arise from Nature requires no more but to shew in what case it is never taken away. Seeing all men by Nature had Right to All things, they had Right every one to reigne over all the rest. But because this Right could not be obtained by force, it concerned the safety of every one, laying by that Right, to set up men (with Soveraign Authority) by common consent, to rule and defend them: whereas if there had been any man of Power Irresistable: there had been no reason, why he should not by that Power have ruled and defended both himselfe and them, according to his own discretion. To those therefore whose Power is irresistable, the dominion of all men adhaereth naturally by their excellence of Power and consequently it is from that Power that the Kingdome over men and the Right of Afflicting men at his pleasure belongeth Naturally to God Almightly; not as Creator and Gracious but as Omnipotent.“ 8 Corpus Hermenticum, hrsg. von A. D. Nock und A.-J. Festugière, Bd. 1. Paris 1945, Kap. X, Clavis: 124 – 125, 126. 9 Francesco Patrizi, Hermetis Trismegisti libelli integri XX et fragmenta Asclepii eivs discipvli libelli III, in: ders., Nova de universis philosophia. Ferrara 1591, getr. Fol., Kap. IV, fol. 12r : „Homo uero etiam in coelum ascendit, et illud metitur. Et nouit, quae nam eius sunt sublimia, et quae infera. Et Omnia alia exacte discit. Et quod omnium maius est, neque terram relinquens, sursum fit. Tanta est eius magnitude naturae. Ideo audendum dicere. Hominem quidem terrenum esse Deum mortalem. Coelestem autem deum, immortalem hominem.“; Kap. XI, fol. 23v : „Ista vero mens in hominibus quidem Deus est. Ideo quidem hominum, diuini sunt. Et ipsorum humanitas proxima est Deitati. Etenim bonus daemon, Deos quidem dixit homines immortales. Homines vero deos mortales. In brutis vero, Mens est natura.“ 10 Bredekamp, Strategien (wie Anm. 5): 69 – 70, mit Hinweis auf Arrigo Pacci, Una „Biblioteca ideale“ di Thomas Hobbes. Il Ms E2 dell’Archivio di Chatsworth, in: Acme 21 (1968): 5 – 42, hier Nr. 734. 11 Gianni Paganini, Hobbes’s „Mortal God“ and Renaissance Hermeticism, in: Hobbes Studies 23 (2010): 7 – 28, hier: 9, 15 – 16. 12 Karl Schmitz, Ursprung und Geschichte der Devotionsformeln bis zu ihrer Aufnahme in die fränkische Königsurkunde (Kirchenrechtliche Abhandlungen. 81). Stuttgart 1913 [Nachdruck. Amsterdam 1965].

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Harald Kleinschmidt

Der wörtlichen Lesung der Passage steht jedoch eine metaphorische Lesung gegenüber, mit der sich Dietmar Herz als einer der wenigen ausführlich auseinandergesetzt hat.13 Auch sie nimmt ihren Ausgang von der syntaktischen wie logischen Gegenüberstellung des Staats als „Mortall God“ mit dem Schöpfergott, postuliert jedoch nicht, dass der Staat als sterblicher Gott allein wegen seiner Eigenschaft der Sterblichkeit instabil sein müsse. Demnach muss der Schöpfergott im Sinn der christlichen Trinitätslehre unsterblich sein, der Staat hingegen kann sterblich sein, denn er könnte bei unvollkommener Institutionalisierung und unvernünftigem oder gar sündigem Handeln der Menschen zwar zerstört werden,14 unter regulären Bedingungen und bei rechtmäßigem Handeln jedoch nur durch den Ratschluss des Schöpfergottes enden. Nach Hobbes verdanken die Menschen ihren Frieden und ihre Sicherheit dem Willen des unsterblichen Schöpfergottes und der Staat als vertragliche Vereinigung kann nicht zugleich gewollt und nicht gewollt werden.15 „Gott“ war der Staat also im Sinn der für ihn als Teil der gottgewollten Weltordnung angestrebten Vollkommenheit, „sterblich“, also unvollkommen, da die Menschen gegen den Willen des Schöpfergottes zu handeln im Stande waren. Da Hobbes, wie schon Engelbert von Admont16 und Justus Lipsius,17 den 13 Dietmar Herz, Bürgerkrieg und politische Ordnung in Leviathan und Behemoth. Zum Kapitel 29 des Leviathan, in: Wolfgang Kersting (Hrsg.), Thomas Hobbes. Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates (Klassiker Auslegen; 5). Berlin 1996: 259 – 282. 14 Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1), Kap. 29: 167 (der Orig.-Ausg.), 221 – 222 (der Ausg. von Tuck): „Amongst the Infirmities therefore of a Common-wealth, I will reckon in the first place those that arise from an Imperfect Institution and resemble the diseases of a naturall body, which proceed from a Defectuous Procreation.“ 15 Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1), Kap. 14: 64 – 65 (der Orig.-Ausg.), 91 – 92 (der Ausg. von Tuck): „And therefore, as long as this naturall Right of every man to every thing endureth, there can be no security to any man, (how strong or wise soever he be), of living out the time which Nature ordinarily alloweth men to live. And consequently, it is a precept or general rule of Reason, That every man ought to endeavour Peace, as farre as he has hope of obtaining it; and when he cannot obtain it, that he may seek and use all helps and advantages of Warre. The first branch of which Rule containeth the first and Fundamentall Law of Nature, which is to seek Peace and follow it. The Second, the summe of the Right of Nature, which is, By all means we can, to defend our selves. From this Fundamentall Law of Nature, by which men are commanded to endeavour Peace, is derived this second Law; That a man be willing, which others are so too, as farre-forth as for Peace and defence of himselfe he shall think it necessary, to lay down his right to all things and be contended with so much liberty against other men, as he would allow other men against himselfe.“ Dazu siehe: Wolfgang Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung. Hamburg 2002: 258. Klaus.-M. Kodalle, „Natur“ im Naturrechtsdenken von Thomas Hobbes, in: Hobbes Studies 6 (1993): 3 – 28, hier: 6 – 7 [zuerst in: Rüdiger Bubner, Burkhard Gladigow und Walter Fritz Haug (Hrsg.), Die Trennung von Natur und Geist. München 1990]. Karl Schuhmann, Thomas Hobbes und Francesco Patrizi, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 68 (1986): 253 – 279, hier: 262. Paganini, Hobbes (wie Anm. 11): 24, 26. 16 Engelbert, Abt von Admont, De ortu et fine Romani imperii, hrsg. von Melchior Goldast von Heimingsfeld, Politica imperialia. Frankfurt 1614: 753 – 773 [Erstdruck in: Liber admodum ingeniosus ac plane philosophicus de ortu et fine Romani Imperii, hrsg. von Kaspar

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Staat aus dem nach Sicherheit strebenden voluntaristischen Handeln der Menschen ableitete,18 wäre es unvernünftig, den Staat als alleinigen vom Schöpfergott gewollten Bereitsteller von Sicherheit zu zerstören. Die metaphorische Lesung scheint den Absichten Hobbes’ eher gerecht zu werden, bewegten sich doch Hobbes und seine jüngeren zeitgenössischen Theoretiker wie der Helmstedter Polyhistor Hermann Conring19 mit ihrer Einordnung des Staats in das Ensemble der gottgewollt geordneten und stabilen Welt ganz im Einklang mit der mechanizistischen Systemtheorie des 17. Jahrhunderts, in deren Rahmen er auch das Corpus Hermeticum gelesen zu haben scheint. Denn für Hobbes’ Modellierung des Staats nach der Maschine im Prolog zum Leviathan20 findet sich die wahrscheinBrischius. Basel 1553]. Marga von Treek, Die Reichsidee bei Engelbert von Admont und bei Aeneas Silvius Piccolomini. Diss. Phil., masch. Köln 1946: 26 – 46. 17 Justus Lipsius, De constancia libri duo. Antwerpen 1584 [englische Fassung, hrsg. von John Stradling. London 1595; Neuausg. der englischen Fassung, hrsg. von Rudolf Kirk und Clayton Morris Hall. New Brunswick 1939; Nachdruck der Ausg. von Stradling, hrsg. von John Sellars. Exeter 2006]; S. 95 – 96 (der Ausg. von Kirk). 18 Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1), Kap. 30: 176 (der Orig.-Ausg.), 231 (der Ausg. von Tuck): „The Office of the Soveraign (be it a Monarch or an Assembly,) consisteth in the end, for which he was trusted with the Soveraign Power, namely the procuration of the safety of the people, to which he is obliged by the Law of Nature and to render an account thereof to God, the Author of that Law and to none but him. But by Safety here is not meant a bare Preservation but also all other Contentments of life, which every man by lawfull Industry without danger or hurt to the Common-wealth shall acquire to himself.“ 19 Conring sah jedoch gegen Hobbes in mehreren, offenbar von ihm geschriebenen, Dissertationen die Stabilität der Staaten durch das Bewegung stimulierende unmoralische menschliche Handeln gefährdet und setzte diese Gefährdung gegen „übernatürliche“, aus Intervention der Gottheit folgende, sowie „natürliche“, von der physischen Umwelt ausgehende, Gründe der „Bewegung von Staaten“, schloss damit den Staatstod aus seiner Staatslehre aus. Siehe: Hermann Conring [praes.] und Christian Wilhelm Engelbrecht [resp.], Dissertatio de mutationibus rerumpublicarum. Helmstedt 1685 [wieder abgedruckt in: Conring, Opera, Bd. 3: Varia scripta politica, hrsg. von Johann Wilhelm Goebel. Braunschweig 1730: 1034 – 1046, hier: 1035 – 1037]. Ders. [praes.] und Ernst von Wartensleben [resp.], Dissertatio de morbis ac mutationibus rerumpublicarum. Helmstedt 1690 [wieder abgedruckt in: ebd.: 1046 – 1056, hier: 1048 – 1049]. Ders. [praes.] und Friedrich Lenten [resp.], Dissertatio de morbis ac mutationibus oligarcharvm earvmqve remediis. Helmstedt 1661 [wieder abgedruckt in: ebd.: 1057 – 1066]. Ders. [praes.] und Christian Dieterich [resp.], Dissertatio de vitu et mutationibus regnorum. Helmstedt 1658 [wieder abgedruckt in: ebd.: 1066 – 1081, hier: 1077: „omnium mutationum causam triplicem: supernaturalem, naturalem et moralem“]. Conring griff darin eine Argumentationstradition auf, die schon bei Botero nachweisbar ist: Giovanni Botero, Della ragion di stato. Venedig 1589, Buch I, Kap. 4: 4 – 5. Ebenso: Johann Angelus von Werdenhagen, Introductio universalis in omnes respublicas sive politica generalis. Amsterdam 1632, Buch II, Kap. 27: 286 – 287. Marchamont Nedham, The Case of the Commonwealth of England Stated. London 1650 [Neudruck, hrsg. von Philip A. Knachel. Charlottesville 1969: 7 – 14]. Gemeinsam ist diesen Autoren auch die Tendenz, Beipiele für den Staatstod vorwiegend aus der Antike anzuführen oder, wie Werdenhagen, jüngere Begebenheiten in Spanien oder dem Osmanischen Reich als Folge sündigen menschlichen Handelns während des Turmbaus von Babel auszugeben. 20 Hobbes, Leviathan (wie Anm, 1), Prologue: 1 (der Orig.-Ausg.), 9 – 10 (der Ausg. von Tuck). Zur Systemtheorie siehe unter vielen: Bartholomaeus Keckermann, Systema discipli-

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liche Vorlage in dem lateinisch überlieferten Teil des Corpus, in dem von Menschen geschaffene bewegliche gottgleiche Statuen Sicherheit gegen allerlei Bedrohungen gewährleisten.21 Hobbes übertrug dieses Bild in die Metapher der Maschinen-Automaten, die er als Modell des scheinbar nicht veränderbaren Staats ausgab.22 nae politicae, in: ders., Systema systematum, Bd. 2. Hanau 1613: 890 – 1075 [zuerst. Hanau 1608; Mikrofiche-Ausg. München 1992]; 890 = 1 der Originalausg.]. Dazu siehe: Klaus Maurice und Otto Mayr, Die Welt als Uhr. München 1980 [englische Fassung. New York 1980]. Otto Mayr, Uhrwerk und Waage. Autorität, Freiheit und technische Systeme in der frühen Neuzeit. München 1986 [englische Fassung. Baltimore und London 1986]. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, in: Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960): 7 – 142. Friedrich Kambartel, „System“ und „Begründung“ als wissenschaftliche und philosophische Ordnungsbegriffe bei und vor Kant, in: Jürgen Blühdorn und Joachim Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft. Frankfurt 1969: 100 – 112. Ahlrich Meyer, Mechanische und organische Metaphorik politischer Philosophie, in: Archiv für Begriffsgeschichte 13 (1969): S. 147 – 163. Manfred Riedel, System, Struktur, in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6. Stuttgart 1990: 285 – 322. Otto Ritschl, System und systematische Methode in der Geschichte des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs und der philosophischen Methodologie. Bonn 1906, insbes.: 58. Bernd Roeck, Reichssystem und Reichsherkommen. Die Diskussion über die Staatlichkeit des Reiches in der politischen Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz. 112 = Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reichs. 4). Stuttgart 1984: 30 – 31, 34. Alois von der Stein, Der Systembegriff in seiner geschichtlichen Entwicklung, in: Alwin Diemer (Hrsg.), System und Klassifikation in Wissenschaft und Dokumentation. Meisenheim 1968: 3 – 9. Christian Strub, System und Systemkritik in der Neuzeit, in: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, neue Aufl., Bd. 10. Basel 1998, Sp. 825 – 856. Die These Tucks, Hobbes habe den Mechanizismus von Descartes entlehnt, ist in dieser überspitzten Nennung des letzteren als einzige Quelle für ersteren nicht haltbar; siehe: Richard Tuck, Hobbes and Descartes, in: Graham A. J. Rogers (Hrsg.), Pespectives on Hobbes. Oxford 1988: 11 – 41, hier: 16. Hingegen klinkte sich Hobbes in den weit verbreiteten zeitgenössischen Gebrauch der Maschinenmetapher ein. 21 Corpus Hermeticum (wie Anm. 8), Bd. 2: 325 – 328, bes.: 325 – 326: „deorum genus omnium confessione manifestum est de mundissima parte naturae esse prognatum signaque eorum sola quasi capita pro omnibus esse. species uero deorum quas conformat humanitas, ex utraque natura conformatae sunt; ex diuina, quas est purior multoque diuinior, et ex ea, quae intra homines est, id est ex materia, qua fuerint fabricatae, et non solum capitibus solis, sed membris omnibus totoque corpore figurantur. Ita humanitas semper memor naturae et originis suae in illa diuinitatis imitatione perseuerat, ut, sicuti part ac dominus, ut sui similes essent, deos fecit aeternos, ita humanitas deos suos ex sui uultus similitudine figuraret. Statuas dicis, o Trismegiste? Statuas, o Asclepi. uidesne, quatenus tu ipse diffidas? statuas animatas sensu et spiritu plenas tantaque facientes et talia, statuas futurorum praescias eaque sorte, uate, somniis multisque aliis rebus praedicentes, inbellicitates hominibus facientes atque curantes, tristitiam laetitiamque pro meritis, aut ignoras, o Asclepi, quod Aegyptus imago sit caeli aut, quod est uerius, translatio aut descensio omnium, quae gubernantur atque exercentur in caelo? Et si dicendum est uerius, terra nostra mundi totius est templum.“ 22 Bredekamp, Strategien (wie Anm 5): 62. Bredekamp bemerkte mit Recht, dass Hobbes sich mit seiner Variation des Corpus Hermeticum gegen die Auffassung des Descartes stellte, dem zufolge die künstlich geschaffenen Maschinen nicht menschenähnlich, da nicht mit Sprache ausgestattet seien; so: René Descartes, Discours de la méthode, Partie V (Philosophische Bibliothek. 624). Hamburg 2011: 96 – 100, bes.: 100: „que la nôtre [âme] est d’une nature entièrement indépendante du corps et par conséquent, qu’elle n’est point sujette à

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Im Folgenden möchte ich nachweisen, dass diese lectio difficilior vorzuziehen ist gegenüber der wörtlichen Lesung von Hobbes’ Doppelsatz über den Staat als sterblichen Gott. Dazu bespreche ich zunächst Hobbes’ Lehre von der Veränderbarkeit der Staatsformen, gehe dann ein auf dessen Begriff der Sicherheit als zentrales Element der Legitimitätstheorie und bestimme im letzten Schritt Hobbes’ Begriff des Staatstods. II. Hobbes und die Revolutionen der Staatsformen In der Zusammenfassung seiner unter dem metaphorischen Titel „Behemoth“ veröffentlichten Beschreibung des inneren militärischen Konflikts in England bis zum Ende der 1640er-Jahre erläuterte Hobbes Folgendes zur Veränderbarkeit der Staatsformen: „I have seen in this Revolution a circular motion of the Sovereign Power through two Usurpers, from the late King to this his Son; for […] it moved from King Charles the First to the Long Parliament, from thence to the Rump, from the Rump to Oliver Cromwell, and then back again from Richard Cromwell to the Rump, thence to the Long Parliament and thence to King Charles the Second, wherelong it may remain.“23 Hobbes gab die Reihe dieser Begebenheiten aus als zyklische Abfolge von Formen des fortbestehenden englischen Staats, für die die aristotelische Lehre vom Kreislauf der Staatsformen Pate gestanden haben mag.24 Diese Abfolge bezeichnete Hobbes mit dem Wort „Revolution“, mit dem seit Kopernikus rekurrierende Begebenheiten in zyklischen Abläufen beschrieben wurden.25 mourir avec lui; puis, d’autant qu’on ne voit point d’autres causes qui la détruisent, on est naturellement porté à juger de là qu’elle est immortelle.“ Bredekamp beschrieb die Anwendung der Maschinenmetapher durch Hobbes als „organisch“ und verkannte damit die strukturellen Unterschiede zwischen der Auffassung des Systems als Aggregat im Mechanizismus des 17. und der Wahrnehmung des Systems nach dem Modell des lebenden Körpers im Biologismus des 19. Jahrhunderts. Siehe zu ersterem oben, Anm. 20, zu letzterem unten, Anm. 82. 23 Thomas Hobbes, Behemoth. London 1662: 338 [weitere Ausg. London 1679; London 1688; hrsg. von Ferdinand Tönnies. London 1889, Zitat hier: 204]. Dazu siehe: Eugen Rosenstock-Huessy, Revolution als politischer Begriff in der Neuzeit, in: Festgabe der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Fakultät in Breslau für Paul Heilborn zum 70. Geburtstag, 6. Februar 1931 (Abhandlungen der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. Geisteswissenschaftliche Reihe. 5). Breslau 1931: 83 – 124, hier: 90 – 92. 24 Horst Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die „Politica“ des Henning Arnisaeus (ca. 1575 – 1636) (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 55). Wiesbaden 1970, bes.: 227 – 232. 25 Nikolaus Kopernikus, De revolutionibus [orbium coelestium] libri sex, hrsg. von Heribert Maria Nobis und Bernhard Sticker (Kopernikus, Gesamtausgabe. Bd. 2). Hildesheim 1984 [Erstdruck. Nürnberg 1543]. Antoine Furetière, Dictionnaire universel, Bd. 2. Den Haag 1727, s. p., s. v. Révolution: „mouvement des astres accompli … on dit dans le même sense La révolution des siècles.“ Art. Révolution, in: Jean Le Rond d’Alembert und Denis Diderot (Hrsg.), Encyclopédie. Ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 14. Paris 1765, s. v. [Nachdruck. Stuttgart 1967]. Zu dieser Bedeutung des Worts Revolution siehe: Reinhart Koselleck, Christian Meier, Jörg Fisch und Neithard Bulst, Revolution, in:

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Solche Revolutionen als wichtige binnenstaatliche Begebenheiten konnten als göttliche Strafe für sündiges menschliches Handeln gelten und sogar für Oliver Cromwell aus göttlichem Willen folgen.26 Auch John Locke gebrauchte das Wort in dieser Bedeutung.27 Die ältesten Pamphlete, die das Geschehen der „Glorious Revolution“ von 1689 kommentierten, bestimmten die Ersetzung einer herrscherlichen Dynastie durch eine andere als regelkonformen, ja rechtmäßigen binnenstaatlichen Vorgang.28 Noch David Hume zählte die „revolutions of public affairs“ zu den „moral causes … which are fitted to work on the mind as motives or reasons and which render a peculiar set of manners habitual to us.“29 Tiefgreifende Veränderungen oder gar den Untergang von Staaten hingegen assoziierten nicht nur Edward Gibbon, sondern viele Theoretiker und Universalhistoriografen mit der in der alttestamentlichen Prophetie Daniels gründenden Lehre von der Abfolge der Weltreiche und verorteten dementsprechend den Untergang von Staaten in der ferneren Vergangenheit.30 Hobbes befand sich also in guter Gesellschaft mit Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5. Stuttgart 1984: 653 – 788, hier: 714 – 717. 26 Hermann Doverin, Wohlgegründete Propheceyung genannt Das Hanengeschrey. Von gewissen Zeichen und Vorbotten, wann ein Reich, Standt und Statt verändert werden oder gar zu Grund gehen sollte. Straßburg 1623 [auch angehängt an: ders., Trium secretorum politicorum. Straßburg 1623]. Ebenso: Paul Matthias Wehner, Metamorphoses rerum publicarum. Das ist: Von Untergang, Veränderung, Auffnehmung, Verwandlung und Perioden der Regimenten und Gemeinden in politischem Zustand. Gießen 1610: 13 – 29 [weitere Ausg. Frankfurt 1626; Neudruck, hrsg. von Philipp Ludwig Authaeus. Frankfurt 1665]. Oliver Cromwell, [Address to Parliament, 22 January 1654, aus Anlass der Auflösung des Parlaments, die unwirksam blieb], in: ders., The Writings and Speeches, Bd. 3: The Protectorate, hrsg. von Wilbur Cortez Abbott. London 1945: 579 – 593, hier: 592 [Nachdrucke. New York 1970; Oxford 1988; auch in: ders., The Letters and Speeches, hrsg. von Sophia Crawford Lomas und Thomas Carlyle, Bd. 2. London 1904: 402 – 432. Ders., Speeches, hrsg. von Charles Lewis Stainer. London 1901: 173 – 206]. 27 John Locke, Two Treatises of Government [London 1689], hrsg. von Peter Laslett, 2. Aufl. Cambridge 1967 [zuerst. Cambridge 1960]; Second Treatise, Kap. XIX, § 223 : 432. 28 Guillaume de Lamberty, Mémoires de la dernière Révolution d’Angleterre. Den Haag 1702. Richard Steele, Crisis. Or a Discourse Representing, from the Most Authentic Records, the Just Causes of the Late Happy Revolution. London 1714. Seit dem unter dem Eindruck der Geschehnisse gedruckten Pamphlet The History of the Late Revolution in England. London 1689: 1, ist der Gebrauch des Worts „Revolution“ für den Dynastiewechsel topisch geworden. Siehe: Encyclopédie (wie Anm. 25), s. v. Révolution. Arthur Young, Political Arithmetick. Containing Observations on the Present State of Great Britain and the Principles of Her Policy in the Encouragement of Agriculture. London 1774: 69 – 70 [weitere Ausg. London 1779; französische Fassung. Den Haag 1775; deutsche Fassung. Königsberg 1777; 1789; Nachdruck der Originalausg., hrsg. von Thomas Pownall. New York 1967; Mikrofilmausg. (The Eighteenth Century, Reel 6078. Nr. 02). Woodbridge, CT 1986]. 29 David Hume, Of National Characters, in: ders., Essays Moral, Political and Literary, hrsg. von Thomas Hill Green und Thomas Hodge Grose, Bd. 1. London 1882: 244 – 258, hier: 244 [Nachdruck. Aalen 1964]. 30 Nedham, Case (wie Anm. 19): 7 – 14. Conring, Dissertatio, 1685 (wie Anm. 19): 1037 u. ö. Conring, Dissertatio 1658 (wie Anm. 19): 1072. Giambattista Vico, Principij di una scienca nuova, 3. Aufl. Neapel 1744 [Nachdruck. Tokyo 1989], s. p.: „Tavola”. Johann Christoph

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seiner These, dass Revolutionen der Staatsformen den Bestand des betroffenen Staats nicht berührten, sondern lediglich wichtige Begebenheiten des binnenstaatlichen politischen Geschehens markierten. Hobbes’ Revolutionsbegriff setzte somit die Stabilität des Staats voraus: Nur innerhalb des fortbestehenden Staats konnte es Hobbes zufolge Revolutionen geben, nur solche Begebenheiten konnten zudem Revolutionen sein, die zum ursprünglichen Zustand des Staats zurückführten, mithin letztlich keine grundlegenden Veränderungen hervorriefen. Der zyklische, auf statische Ordnungen bezogene Revolutionsbegriff des 16., 17. und frühen 18. Jahrhunderts stand gegen den seit der Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommenden Begriff des schnellen, lineraren, unwiderruflichen Wandels der dynamisch perzipierten Welt.31

Gatterer, Vom historischen Plan und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen, in: ders. (Hrsg.), Allgemeine historische Bibliothek, Bd. 1. Halle 1767: 15 – 89, hier: 42 – 43, 67 [auch in: Horst Walter Blanke und Dirk Fleischer (Hrsg.), Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie, Bd. 1: Die theoretische Begründung der Geschichte als Fachwissenschaft (Fundamenta historica. Bd. 1). Stuttgart 1990: 621 – 662], August Ludwig von Schlözer, Vorstellung seiner Universalhistorie, Bd. 1. Göttingen und Gotha 1772: 52, 59 [Nachdruck, hrsg. von Horst Walter Blanke (Beiträge zur Geschichtskultur. 4). Hagen 1990; teilediert in: Blanke (wie oben): 663 – 688]. 31 Zum Gebrauch des Worts Revolution und zum Revolutionsbegriff bis in die 1780er Jahre siehe: Karl-Heinz Bender, Revolutionen. Die Entstehung des politischen Revolutionsbegriffs in Frankreich zwischen Mittelalter und Aufklärung. München 1977: 149 – 183. Ders., Der politische Revolutionsbegriff in Frankreich zwischen Mittelalter und Glorreicher Revolution, in: Helmut Reinalter (Hrsg.), Revolution und Gesellschaft. Zur Entwicklung des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs (Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit. 1). Innsbruck 1980: 35 – 52. Jean-Marie Goulemot, Le mot „révolution“ et la formation du concept de révolution politique, in: Annales historiques de la Révolution Française 39 (1967): 417 – 444, bes.: 423. Karl Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. Weimar 1955: 187 – 209 [2. Aufl. Frankfurt, 1969; 3. Aufl. Hamburg 1992]. Christopher Hill, The Word „Revolution“, in: ders., A Nation of Change and Novelty. London 1990: 82 – 101. Koselleck, Revolution (wie Anm. 25): 653 – 788, hier: 653, 714 – 717, 721 – 725. Ders., Historische Kriterien des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt 1979: 67 – 86. Ulrich Niggemann, „Revolution“. Zur Karriere eines Begriffs in Großbritannien. 1688 – 1714, in: Historische Zeitschrift 304 (2017): 631 – 654. Ders., Revolutionserinnerung in der Frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London; 79). Berlin und Boston 2017: 9 – 10. Rolf Reichardt, Die Revolution – ein „magischer Spiegel“ historisch-politischer Begriffsbildung in französisch-deutschen Übersetzungen, in: Hans-Jürgen Lüsebrink und Reichardt (Hrsg.), Kulturtransfer im Epochenumbruch Frankreich–Deutschland. 1770 – 1815, Bd. 2 (DeutschFranzösische Kulturbibliothek; 9). Leipzig 1997: 883 – 999, bes.: 891, 896 – 898, 977. Ders., Revolution, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 11. Stuttgart und Weimar 2010: 152 – 175. Rosenstock-Huessy, Revolution (wie Anm. 23): 83 – 124. Hans Georg Wassmann, Revolutionstheorien. München 1978: 24 – 26.

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III. Die Legitimitätstheorie und der Sicherheitsbegriff Mit der Rezeption der aristotelischen politischen Philosophie im Abendland seit dem 14. Jahrhundert begannen Theoretiker die bereits seit dem 12. Jahrhundert üblichen städtischen Gründungsverträge als Modell der Gestaltung der Beziehungen zwischen Herrschern und Beherrschten auch für ländliche Territorien sowie größere Herrschaftsgebiete zu verwenden. Für die Theoretiker wurden diese Beziehungen zum Problem, seitdem die Städte faktisch als Schwurgemeinschaften aus menschlichem Willen bestanden.32 Denn seither bestand keine Möglichkeit mehr, die Entstehung politischer Gemeinschaften ausschließlich aus dem Ratschluss des Schöpfergottes abzuleiten. Wenn aber de facto Menschen politische Gemeinschaften aus eigenem Willen errichten konnten, konnte dieser Wille nicht allein auf die Errichtung von Städten begrenzt werden, sondern musste allgemeine Gültigkeit für alle Sorten politischer Gemeinschaften erhalten. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts bemühte sich der gelehrte Abt Engelbert von Admont in der Steiermark, die an das Imperium Romanum anknüpfende Theorie der gottgewollten Herrschaft mit dem aristotelischen Postulat zu vereinbaren, dass Menschen aus natürlichem Bestreben politische Gemeinschaften als Institutionen von Herrschaft errichten würden. Er griff dafür auf das Argument zurück, dass der Schöpfergott den Menschen die Möglichkeit gegeben habe, eigene politische Gemeinschaften als Herrschaftsinstitutionen mit Hilfe eines Vertrags (pactum) zu errichten. In solchen hypothetischen Verträgen seien die Bedingungen festgelegt, unter denen die Beherrschten dem Willen der von ihnen beauftragten Herrscher folgen müssten.

32 [Freiburger Stadtrecht], in: Friedrich Keutgen (Hrsg.), Ausgewählte Urkunden zur deutschen Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1: Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte. Berlin 1901: 117 – 125 [Nachdruck dieser Ausg. Aalen 1965; zuerst hrsg. von Aloys Schulte, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins. N. F., Bd. 1 (1886): 193 – 199]. Dazu siehe: Ulrich Meier, Konsens und Kontrolle. Der Zusammenhang von Bürgerrecht und politischer Partizipation im spätmittelalterlichen Florenz, in: Klaus Schreiner und Meier (Hrsg.), Stadtregiment und Bürgerfreiheit. Handlungsspielräume in deutschen und italienischen Städten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (Bürgertum. 7.). Göttingen 1994: 167 – 173. Ders., Mensch und Bürger. Die Stadt im Denken spätmittelalterlicher Theologen, Philosophen und Juristen. München 1994: 116 – 126. Ders. und Klaus Schreiner, Regimen civitatis. Zum Spannungsverhältnis von Freiheit und Ordnung in alteuropäischen Stadtgesellschaften, in: Schreiner, Stadtregiment (wie oben): 9 – 34. Otto Gerhard Oexle, Gilde und Kommune. Über die Entstehung von Einung und Gemeinde als Grundformen des Zusammenlebens in Europa; und Klaus Schreiner, Teilhabe, Konsens und Autonomie. Leitbegriffe kommunaler Ordnung in der politischen Theorie des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, beide in: Peter Blickle (Hrsg.), Theorien kommunaler Ordnung in Europa (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 36). München 1996: 75 – 98, 35 – 61. Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Paul-Joachim Heinig, Sigrid Jahns, Rainer-Christoph Schwinges und Sabine Wefers (Hrsg.), Reich, Region und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw. Berlin 2000: 53 – 87.

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Die Hauptbedingung, unter der Engelbert zufolge die Menschen einen solchen Vertrag zu schließen bereit gewesen sein konnten, sei ihr Bedürfnis nach Sicherheit.33 Entgegen der älteren Ableitung der Notwendigkeit von Herrschaft aus dem Mythos vom Sündenfall sowie auch gegen die seit dem frühen 13. Jahrhundert bestehende Praxis von Vereinbarungen zwischen Herrschern und landständischem Adel zur Sicherung der Privilegien der letzteren folgte Engelbert dem Modell der konsensgestützten Stadtherrschaft und bestimmte mit seiner Herrschaftsvertragslehre die Sicherheit bereitstellende und Schutz gewährende Herrschaft als einzige Form legitimer, durch menschliches Handeln errichteter, Herrschaft.34 Da Herrschaft häufig auf Bevölkerungsgruppen bezogen war, die in einem mehr oder weniger deutlich abgegrenzten Raum lebten, setzte die Herrschaftsvertragslehre ein Bild von der Welt voraus, das eine Vielzahl partikularistisch nebeneinander bestehender politischer Gemeinschaften als gegeben zeichnete. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts konzipierte Justus Lipsius in den Niederlanden seine politische Theorie. Vor dem Hintergrund des damaligen Aufstands der Niederländer gegen spanische Herrschaft war es angemessen, dass er für diese Theorie auf die Herrschaftsvertragslehre rekurrierte. Denn anders als in den meisten Gegenden Europas lag dort zu der Zeit, als Lipsius seine theoretischen Werke veröffentlichte, ein veritabler, eine consociatio begründender Herrschaftsvertrag in der Form einer Urkunde vor. Diese war von den niederländischen Ständen im Jahr 1579 zu Utrecht unterzeichnet worden und hatte die Form eines Einungsvertrags zwischen den Räten niederländischer Städte und den aristokratischen Herrschaftsträgern unter dem gemeinsamen Ziel der Befreiung von der spanischen Herrschaft. Für einen solchen Einungsvertrag gaben die Verfassungen der Städte die beste Vorlage ab und stellten dadurch die empirische Basis für die politische Theorie bereit, die Lipsius formulierte.35 33 Engelbert, De ortu (wie Anm. 16): 755. Ebenso mit Nützlichkeitserwägungen argumentierte: John Fortescue, De laudibus legum Angliae (1468/71), hrsg. von Stanley Bertram Chrimes. Oxford 1885: 24 – 33 [Nachdruck (Cambridge Studies in English Legal History. 12). Cambridge 1949]. 34 Zur theologischen Begründung von Herrschaft siehe: Wolfgang Stürner, Peccatum und Potestas. Der Sündenfall und die Entstehung der herrscherlichen Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters. 11). Sigmaringen 1987. Ein Beispiel für Vereinbarungen zwischen Herrscher und Landständen bieten die Konstitutionen von Melfi Friedrichs II. vom September 1231, Prooemium, hrsg. von Wolfgang Stürner, Die Konstitutionen Friedrichs II. für das Königreich Sizilien (Monumenta Germaniae Historica, Constitutiones et acta publica imperatorum et regum. Bd. 2, Supplementum). Hannover 1996: 147. Zu den Konstitutionen siehe: Arno Buschmann, Mainzer Landfriede und Konstitutionen von Melfi, in: ders., Franz-Ludwig Knemeyer, Gerhard Otte und Werner Schubert (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Gmür zum 70. Geburtstag. Bielefeld 1983: 369 – 82. 35 Abdruck in: Ernst Heinrich Kossman[n] und Albert Fredrik Mellink (Hrsg.), Texts Concerning the Revolt of the Netherlands. Cambridge 1974: 165 – 173. Copie eens sendtbriefs der Ridderschap, Edelen ende Steden van Holland. Dordrecht 1573, S. A III. Discours contenant le vray entendement de la Pacification de Gand. s. l. 1579: 23. Jacques van Wesenbeke, De beschryvinge van den geschiedenissen in den Religion saken treghedragen in den Nederlanden. s. l. 1567: 39. Ders., De bewijsinghe van de ontschult van mijn here Philips baenheere van Montmorency, graaf van Hoorne. s. l. 1568. Hugo Grotius vertrat, wohl am Ende des

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Mit Hilfe der Herrschaftsvertragslehre gelang es Lipsius, die Gewährung der Sicherheit der einzelnen Personen als Rechtspflicht legitimer Herrschaft zu begründen und zugleich den Pluralismus der antagonistischen, konkurrierenden, aber doch dem Gesetz unterworfenen Reiche, Staaten, Territorien und Städte mit dem Postulat der in allgemeinen moralischen Normen gründenden Einheit der Menschheit zu vereinbaren. Zudem bot Lipsius eine Begründung dafür, dass er die Sicherheit der öffentlichen Sphäre als Bedingung der Sicherheit der privaten Sphäre darstellte. Der Grund, den er anführte, bestand in der Notwendigkeit, dass in einer Gemeinschaft die Sicherheit der privaten Sphäre nicht allein durch die Angehörigen der Gemeinschaft zu erreichen sei, sondern es einer den Einzelnen übergeordneten Institution als Bereitsteller bedürfe. Zudem betonte er wie Engelbert von Admont den Voluntarismus, mit dem die Menschen den Herrschaftsvertrag geschlossen und ihre natürliche Freiheit teilweise aufgegeben hätten. Obschon Lipsius sich nicht die gesamte Phraseologie der Herrschaftsvertragslehre36 zueigen machte, die wenig später Juan de Mariana,37 Francisco Suarez,38 Richard Hooker39 und Johannes Althusius40 gebrauchten, war doch der Voluntarismus der Kern seines Begriffs der consociatio, den im besonderen Johannes Althusius von ihm übernahm. Für Althusius war der in der consociatio bestehende Schutz „die leersten Jahrzehnts des 17. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der Waffenstillstandsverhandlungen zwischen den Aufständischen und dem spanischen König, die Rechtsauffassung, dass der Aufstand der Niederländer als Akt der Bewahrung der Souveränität rechtens sei. Grotius nahm jedoch, anders als älteren Ideologen des Aufstands, nicht Bezug auf ein gewissermaßen naturrechtliches Widerstandsrecht, sondern postulierte, dass der spanische König ohne Rechtstitel von den niederländischen Ständen Steuern erhoben habe. Der Widerstand gegen diesen, in Grotius’ Sicht, illegitimen Eingriff in die Souveränitätsrechte der niederländischen Stände war daher auch mit militärischen Mitteln nicht nur möglich, sondern sogar geboten. Nach Grotius erlangten die niederländischen Stände die Souveränität demnach nicht erst durch den Aufstand, sondern besaßen diese bereits aus altem Recht. Siehe: Hugo Grotius, Commentarius in Theses XI. An Early Treatise on Sovereignty, the Just War and the Legitimacy of the Dutch Revolt, hrsg. von Peter Borscheid. Bern 1994: 282. 36 Zu Bezugnahmen auf die Herrschaftsvertragslehre im früheren 16. Jahrhundert siehe: Francisco de Vitoria, Relectio de potestate civili [1528], in: ders., Relectiones morales. Köln 1696: 5. Marius Salamonius, De principatu libri septem. Rom 1544: 38. 37 Juan de Mariana, De rege et regis institutione libri III, Buch I, Kap. 1. Toledo 1599: 21 – 22 [Nachdruck. Aalen 1969]. 38 Francisco Suarez, De legibus (III 1 – 16): de civili potestate, Buch III, Teil ii, Kap. 4 – 6, hrsg. von Luciano Pereña Vicente und Vidal Abril (Corpus Hispanorum de Pace. 15). Madrid 1975: 24 – 27. 39 Richard Hooker, Of the Lawes of Ecclesiasticall Politie. Eyght Bookes. London 1594: 70 – 73 [Nachdruck. Amsterdam und New York 1971]. 40 Johannes Althusius [praes.] und Hugo Pelletarius [resp.], Disputatio politica de regno recte instituendo et administrando. Herborn 1602, Thesen 6 – 56. Althusius, Politica methodice digesta, Buch 1, Kap. 2; Buch I, Kap. 7; Buch IX, Kap. 12; Buch XIX, Kap. 12, 3. Aufl. Herborn 1614 [zuerst. Herborn 1603; neu hrsg. von Carl Joachim Friedrich. Cambridge 1932; Nachdruck der Originalausg. Aalen 1981; Nachdruck von Friedrichs Ausg. New York 1979]; Ausg. von Friedrich: 15, 16, 90, 161.

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gitime Verteidigung gegen Verletzungen und Gewalt“ und sollte von den Herrschern den Beherrschten erbracht werden. Althusius schloss ausdrücklich den Schutz der körperlichen Unversehrtheit, die Garantie der Bewegungsfreiheit und der öffentlichen Ruhe, das Führen nur von gerechten Kriegen und die Bereitstellung aller notwendigen Güter in seinen Begriff des Schutzes ein. Er bestand auch darauf, dass Herrscher als Bereitsteller von Sicherheit agieren sollten, worunter er „die Bewahrung von Gerechtigkeit, Frieden, Ruhe und Disziplin“ unter den Beherrschten subsumierte, während er den gerechten Krieg als Mittel zur Bewahrung von Stabilität in den Beziehungen zwischen Herrschern zuließ. In Althusius’ Sprache galt Schutz als Begriff für die Bewahrung der Integrität der Privatpersonen, wohingegen Sicherheit auf die öffentliche Sphäre bezogen war. Dementsprechend vertraten auch andere Autoren seit der Zeit um 1600 die These, dass Kriege öffentlich zu führen und nur legitime Souveräne zur Kriegführung berechtigt seien.41 Hobbes ging mit seiner Formulierung des Herrschaftsvertrags als „Covenant“ hinter Althusius und Lipsius auf Engelbert von Admont zurück, setzte also das Bestehen einer zur Herrschaftslegitimation befähigten und bereiten Gruppe voraus. Der Staat als „bürgerliche Gesellschaft“ (Civill Society = Gesellschaft von Bürgern)42 konnte grundsätzlich jederzeit aus dem Naturzustand durch menschliches Vertragshandeln entstehen; die Vorstellung mithin, dass dieser Vorgang, wo er stattgefunden habe, vor langer Zeit habe geschehen müssen, ist weder für Hobbes noch für andere frühe Theoretiker des Herrschaftsvertrags belegt.43 Den Naturzustand hat Hobbes mithin 41

Althusius, Politica (wie Anm. 40), Buch XVI, Kap. 4 – 9; 13, Buch XXXI, Kap. 1, Ausg. von Friedrich: 119 – 121, 291. Christoph Besold, Discursus politici, Nr. 5: De reipublicae formarum inter sese comparatione, Kap. I. Straßburg 1624: 239. Hugo Grotius, De iure praedae commentarius, Buch I, Kap. 12 [1604], hrsg. von Hendrik Gerard Hamaker. Den Haag 1868: 237 [Nachdruck. Dobbs Ferry 1964; Mikrofiche-Ausg. (The Grotius Collection. International Law on Microfiche GRI-112). Leiden 1995]. Frei Serafim Freitas, De iusto imperio Lusitanorum Asiatico, Kap. 11. Valladolid 1625 [Nachdruck, hrsg. von Miguel Pinto de Meneses, Bd. 2. Lissabon 1983: 134]. 42 Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1), Kap. 16: 81 (der Originalausg.), 112 (der Ausg. von Tuck); Kap. 29: 168 (der Originalausg.), 223 (der Ausg. von Tuck). Ebenso: Gottfried Achenwall, Abriß der neuesten Staatswissenschaft der vornehmsten Europäischen Reiche und Republicken. Zum Gebrauch in seinen Academischen Vorlesungen, § 3. Göttingen 1749: 2 – 3. Julius August Remer, Lehrbuch der Staatskunde der vornehmsten europäischen Staaten, § 1. Braunschweig 1786: 1. Joseph Mader, Ueber Begriff und Lehrart der Statistik. Prag 1793: 7. 43 Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1), Kap. 13: 63 (der Originalausg.), 89 (der Ausg. von Tuck), zum angeblich fortbestehenden Naturzustand der Native Americans. Ebenso: Dudley Digges, The Unlawfulnesse of Subjects Taking up Armes against Their Soveraigne. Oxford 1643: 6 [weitere Ausg. London 1647; 1662; 1664; 1679]. Nichts dazu in: David Boucher und P. Kelly (Hrsg.), The Social Contract from Hobbes to Rawls. London 1994. Michael Joseph Oakeshott, Introduction to Leviathan, in: ders., Hobbes on Civil Association. Oxford 1975: 1 – 74 [zuerst. Oxford 1946; weitere Ausg. Berkeley 1975; wieder abgedruckt in: John Dunn und Ian Harris (Hrsg.), Hobbes, Bd. 1 (Great Political Thinkers. 8, 1). Cheltenham und Lyme 1997: 167 – 240]. Dazu siehe: Philip Manow, „We Are the Barbarians“. Thomas Hobbes, the American Savage and the Debate about British Antiquity, in: Kay Junge und Kirill Postou-

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nicht präteritalisiert, sondern als im Bild der Maschine geordnetes System ebenso überzeitlich bestimmt wie die Naturrechte.44 Mit dem Gewinn von Sicherheit setzte Hobbes das hauptsächliche Motiv für das Eingehen des Herrschaftsvertrags und beschrieb dementsprechend die Fähigkeit zur effektiven Sicherheitsbereitstellung als Kernpflicht, die der Herrschaftsvertrag den Herrschaftsträgern auferlegt haben sollte. Die Gültigkeit des Vertrags sollte daran gebunden sein, dass die Sicherheitsempfänger die Fähigkeit der Herrschaftsträger zur Sicherheitsbereitstellung wahrnehmen können.45 Diese Verpflichtung der Herrschaftsträger auf Sicherheitsbereitstellung, die er in seinem Doppelsatz zum sterblichen Gott ausdrücklich von dem aus dem Willen des Schöpfergotts fließenden allgemeinen Friedensgebot ableitete, sollte sowohl binnenstaatlich als auch für die zwischenstaatlichen Beziehungen gelten, wozu Hobbes auch in anderen Schriften Stellung bezog.46 Folglich standen Kriege „dem Naturrecht tenko (Hrsg.), Asymmetrical Concepts after Reinhart Koselleck. Bielefeld 2011: 141 – 164, hier: 146 – 147. 44 Siehe dazu Kapitel 14 und 15 über die „natural laws“: Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1): 64 – 65 (der Orig.-Ausg.), 91 (der Ausg. von Tuck); 71 – 78 (der Orig.-Ausg.), 100 – 109 (der Ausg. von Tuck); darunter das überzeitliche Naturrecht des freien Geleits: 78 (der Orig.Ausg.), 108 (der Ausg. von Tuck). Dazu siehe: Harald Kleinschmidt, Die Präteritalisierung des Naturzustands in: Michael Gehler, Peter Müller und Peter Nitschke (Hrsg.), EuropaRäume. Von der Antike bis zur Gegenwart (Historische Europa-Studien; 26). Hildesheim, Zürich und New York 2016: 197 – 219. 45 Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1), Kap. 17: 87 (der Orig.-Ausg.), 120 (der Ausg. von Tuck). Dazu siehe: Annabel S. Brett, Protection as a Political Concept in Engish Political Thought. 1603 – 51, in: Lauren A. Benton, Adam Clulow und Bain Attwood (Hrsg.), Protection and Empire, Cambridge 2017: 93 – 113. Tom Soreff, Hobbes, Public Safety and Political Economy, in: Raia Prokhovnik und Gabriella Slomp (Hrsg.), International Political Theory after Hobbes. Basingstoke und New York 2011: 42 – 55, hier: 44. Noel Malcolm, The Title Page of Leviathan. Seen in a Curious Perspective, in: ders., Aspects of Hobbes. Oxford 2002: 200 – 233 [zuerst in: The Seventeenth Century 13 (1998): 124 – 155]; Malcolm, S. 228, liest aus der Originalfassung des Titelblatts [heute: London: British Library, Ms. Egerton 1910, fol. 1r], die in den Druck nicht übernommen wurde, Gesichter, die voller Angst dreinschauen, und interpretiert diesen Ausdruck als Schaudern vor der Macht des Souveräns. Dabei könnte die Darstellung auch als gegenteiliger Ausdruck der Angst vor erfahrenen oder befürchteten Unsicherheit gemeint gewesen sein. Angesichts der Polyvalenz des Bildes sind ausschließende Interpretationen nicht am Platz. 46 Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1), Kap. 30: 180 (der Orig.-Ausg.), 237 (der Ausg. von Tuck). Ders., De cive. The English Version Entitled in the First Edition Philosophicall Rudiments Concerning Government and Society, hrsg. von Howard Warrender. Oxford 1983: 157, 170 – 171 [London 1651 erste, nicht autorisierte englische Fassung, London 1647; französische Fassung, Paris 1649; auch in: ders., The English Works of Thomas Hobbes, hrsg. von William Molesworth, Bd. 2. London 1841 [Nachdruck Aalen 1966]. Ders., De Corpore politico. Or the Elements of Law, Moral and Politic, Teil I, Kap. 6, Nr. 8. London 1650, neu hrsg. von William Molesworth, The English Works of Thomas Hobbes, Bd. 4. London 1840: 122 [Nachdruck der Ausg. von Molesworth. London 1997]. Zur Diskussion siehe: David Armitage, Hobbes and the Foundations of Modern International Thought, in: Annabel S. Brett und James Tully (Hrsg.), Rethinking the Foundations of Modern Political Thought. Cambridge 2006: 219 – 235. Ders., Founda-

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entgegen, dessen Summe im Schließen von Frieden besteht“.47 Samuel Pufendorf sowie Naturrechtslehrer des 18. Jahrhunderts teilten diese Meinung und bestanden darauf, dass Staaten Institutionen zur Bereitstellung von Sicherheit seien und dass Herrscher die internationalen Beziehungen in guter Ordnung auch ohne menschliche Satzungen und in einem unveränderbaren systemischen Rahmen von Normen gestalten sollten, die dem Naturrecht zu entnehmen seien.48 Gleichwohl zog Hobbes aus tions of Modern International Thought. Cambridge 2013: 59 – 131, bes. 70. Deborah Baumgold, Hobbes’ Political Theory. Cambridge 1988: 134 [Nachdruck. Cambridge 1990]. David Boucher, The Limits of Ethics in International Relations. Oxford 2011: 69 – 100: „Natural Law, the Law of Nations and the Transition to Natural Rights“. Ders., Hobbes and the Subjection of International Relations to Law and Morality, in: Raia Prokhovnik und Gabriella Slomp (Hrsg.), International Political Theory after Hobbes. Basingstoke 2011: 81 – 101. Ders., Hobbes’s Contribution to International Theory, in: History of European Ideas 31 (2015): 29 – 48. Kinch Hoekstra, The De Facto Turn in Hobbes’ Political Philosophy, in: Tom Sorell und Luc Foiseau (Hrsg.), Leviathan after 350 Years. Oxford 2004: 33 – 73. Harald Kleinschmidt, The Nemesis of Power. London 2000: 116 – 117. Joshua Mitchell, Between False Universalism and Radical Particularism. Thoughts on Thomas Hobbes and International Relations, in: William Bain (Hrsg.), Medieval Foundations of International Relations. London 2017: 84 – 101 [weitere Ausg. Abingdon, Oxon und New York 2017]. Peter Schröder, Völkerrecht und Souveränität bei Thomas Hobbes, in: Martin Peters und Peter Schröder (Hrsg.), Souveränitätskonzeptionen. Beiträge zur Analyse politischer Ordnungsvorstellungen im 17. bis zum 20. Jahrhundert (Beiträge zur politischen Wissenschaft; 119). Berlin 2000: 41 – 57. Ders., Hobbes. Leipzig 2012: 96 – 107. Quentin Robert Duthrie Skinner, Conquest and Consent. Thomas Hobbes and the Engagement Controversy, in: ders., Visions of Politics, Bd. 3. Cambridge 2002: 287 – 307. Richard Tuck, Grotius, Carneades and Hobbes, in: Grotiana, N. S. 4 (1983): 43 – 62. Michael C. Williams, Hobbes’s Theory of International Relations. A Reconsideration, in: International Organization 50 (1996): 213 – 236. Ders., The Realist Tradition and the Limits of International Relations (Cambridge Studies in International Relations. 100). Cambridge 2005: 19 – 51. Peter Zagorin, Hobbes without Grotius, in: History of Political Thought 21 (2000): 16 – 40. 47 Hobbes, De corpore politico (wie Anm. 46), Teil I, Kap. 2, Nr 2: 87. 48 Samuel von Pufendorf [praes.] und Herman Fleming [resp.], De statu hominum naturali, § 6, in: ders. (Hrsg.), Dissertationes academicae selectiores. Frankfurt 1678: 497 – 538 [andere Ausg. Lund 1675: 597; Nachdrucke, hrsg. von Michael Seidler, Samuel Pufendorf’s On the Natural State of Men. The 1678 Latin Edition and English Translation (Studies in the History of Philosophy; 13). Lewiston, NY 1990; hrsg. von Anna Lisa Schino. Lecce 2009]. Pufendorf, De jure naturae et gentium libri octo, Buch VII, Kap. 5, §§ 17 – 18. Amsterdam 1688 [Nachdruck. Oxford und London 1934: 714 – 715; auch hrsg. von Frank Böhling (Pufendorf, Gesammelte Werke. Bd. 4). Berlin 1998: 690 – 693]. Nicolaus Hieronymus Gundling, Jus naturae et gentium, 2. Aufl. Halle 1728: 40 [1. Aufl. Halle 1715; 3. Aufl. Halle 1736]. Christian Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts (Wolff, Gesammelte Schriften. Abt. 1, Bd. 19). Halle 1754, § 84 [Nachdruck. Hildesheim 1980]. Gottfried Achenwall, Ius naturae in usum auditorum, 5. Aufl. Göttingen 1763: 63 – 64 [zuerst. Göttingen 1755]. Dies gegen: Camilla Boisen und David Boucher, Hobbes and the Subjection of International Relations to Law and Morality, in: Raia Prokhovnik und Gabriella Slomp (Hrsg.), International Political Theory after Hobbes. Basingstoke und New York 2011: 81 – 101, die, S. 89, das Bestehen eines grundsätzlichen Unterschieds zwischen den internationalen Theorien Hobbes’ einerseits und der Juristen des späteren 17. sowie des 18. Jahrhunderts behaupten.

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der mechanizistischen Wahrnehmung der Welt Schlussfolgerungen von einer Radikalität, die die Kritik seiner Zeitgenossen auf sich zog.49 Denn, wie schon Leibniz bemerkte50 und wie im Folgenden ausgeführt werden wird, ordnete Hobbes im Kon49 Pufendorf, De statu (wie Anm. 48), passim. In Großbritannien besonders deutlich durch: Edward Hyde, Earl of Clarendon, A Brief View and Survey of the Dangerous and Pernicious Errors to Church and State in Mr Hobbes’s Book Entitled Leviathan. Oxford 1676: 48: Hobbes behaupte über Staaten, „he hath found out principles by industrious meditation, to make their constitution everlasting. And truly he hath some reason to be confident of his Principles, if tho they cannot be proved by reason, he be sure they are principles from authority of Scripture, as he professes them to be and which must be examin’d in its course. In the meantime he may be thought to be too indulgent to his Sovereign Governor, and very neer to contradict himself, that after he hath made the keeping and observation of promises to be a part of the Law of Nature, which is unalterable and eternal, and so the ground and foundation of that obedience which the subject must render, how tyrannically so ever exacted, yet all Covenants entred into by the Sovereign to be void and that to imagine that he is or can be bound to perform any promise or covenant, proceeds only from want of understanding. And it would be worth his plains to consider, whether the assigning such a power to his Governor or the abolishing hom from all Covenants and promises, be a rational way to establish such a Peace as is the end of Government; and since he confesses the justest Government may be overthrown by force, it ought prudently to be considered, what is like to prevent that force as well as what the subjet is bound to consent to; and whether the people may not be very naturally dispos’d to use that force against him that declares himself to be absolv’d from all Oaths, Covenants and Promises and whether any obligation of Reason of justice can establish the Government in him, who found it upon so unrighteous a determination.“ [Nachdruck (Early Responses to Hobbes. 6). London 1996]. Sowie: John Bramhall, A Defence of True Liberty from Antecedent and Extrinsecall Necessity [1655], Nachdruck hrsg. von Graham Alan John Rogers (Early Responses to Hobbes. 1). London 1996. John Eachard, Mr Hobb’s State of Nature Considered [1672], Nachdruck (Early Responses to Hobbes. 5). London 1996. Im 18. Jahrhundert noch: Giovanni Francesco Finetti, De principiis juris naturae et gentium adversus Hobbesium. Venedig 1764 [weitere Ausg. Venedig 1777; Neapel 1780]. Dazu siehe: Jean Hampton, Hobbes and the Social Contract Tradition. Cambridge 1986: 135. Christopher Scott McClure, Hobbes and the Artifice of Eternity. Cambridge 2016: 87 – 118. 50 Gottfried Wilhelm Leibniz, Méditations sur la notion commune de la justice, Teildruck in deutscher Fassung, in: ders., Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, hrsg. von Ernst Cassirer, Bd. 2. Hamburg 1966: 506 – 516 [Vollständiger Druck des Originaltexts in: Georg Mollat (Hrsg.), Mittheilungen aus Leibnizens ungedruckten Schriften, Neubearb. der 2. Aufl. Leipzig 1893; Erstausg. der 2. Aufl. Kassel 1887: 44 – 77; 1. Aufl. u. d. T.: Rechtsphilosphisches aus Leibnizens ungedruckten Schriften. Leipzig 1885]; Ausg. von Cassirer: 506 – 507; Ausg. von Mollat: 46 – 47: zu Platon und den von diesem erfundenen, die uneingeschränkte Gewalt der Herrschaftsträger befürwortenden, Thrasymachos mit Bezug auf Hobbes: „Un philosophe anglois celèbre, nommé Hobbes, qui s’est signalé par ses paradoxes, a voulu soutenir Presque le même chose que Thrasymaque.“ (S. 47)]. Leibniz, Gedanken über die Schrift des Herrn Hobbes von der Freiheit, in: ders., Theodicee. Das ist: Versuch von der Güte Gottes, Freiheit des Menschen und vom Ursprunge des Bösen. Hannover und Leipzig 1763: 713 – 730, hier: 714 – 715: „Man muß gestehen, daß die Meynung des Herrn Hobbes etwas fremdes und wunderliches in sich hat, das sich keineswegs vertheidigen läßt. Er behauptet, die Lehre von der Gottheit hienge einzig und allein von der Vorschrift des Landesfürsten ab; und Gott sey so wenig die Ursache der guten als der bösen Thaten der Creaturen. Er setzet, daß alles dasjenige gerecht sey, was Gott thut; weil niemand über ihm ist, der ihn strafen und zwingen könne.“

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text seiner Explikation des Staatstods die Sorge um die Stabilität der Staaten den naturrechtlich gegebenen Rechten der Beherrschten als Vertragspartner der Herrschaftsträger voran. IV. Der Begriff des Staatstods im Leviathan Kapitel 29 des Leviathan über „Things that Weaken or tend to the Dissolution of a Common-wealth“ leitete Hobbes ein mit der Bestätigung, dass für die Menschen, hätten sie nur die von ihnen beanspruchte Vernünft, der Bestand des Staats zumindest gegen „internall diseases“ gesichert sein könnte: „For by nature of their Institution, they are designed to live, as long as Man-kind or as the Laws of Nature or as Justice it selfe, which gives them life.“ Deswegen könne, wie schon gesagt, ein Staat, wenn er nicht durch „externall violence“ zerstört werde, nur dann durch „intestine disorder“ enden, wenn seine menschlichen Schöpfer schlechte Arbeit geleistet oder keine hinreichende Ordnung bewahrt hätten.51 Mit anderen Worten: Hobbes identifizierte zwei Typen politischer „Krankheiten“, die den Staat schwächen oder zerstören könnten: Strukturfehler einerseits und die mangelnde Bereitschaft oder Fähigkeit zur Bewahrung der Stabilität andererseits. Diese „Krankheiten“ gab Hobbes als empirische Gegebenheiten aus. Die Krankheitsmetaphorik hielt er im längsten Teil des Kapitels 29 durch, der die „Schwächung“ des Staats betrifft. Lediglich in dem das Kapitel abschließenden Absatz, der der „Auflösung“ eines Staats gewidmet ist, fehlt die Krankheitsmetapher. Zumeist verwandte Hobbes die Metapher unspezifiziert; lediglich in drei Passagen benannte er je eine bestimmte „Krankheit“. So bezeichnete er die unvollkommene Errichtung („Imperfect Institution“) des Staats, die dem Geburtsfehler des „Body Naturall“ entspreche. Diese „Krankheit“ liege in erster Linie vor, wenn im Staat die die Herrschaft tragende Person sich mit weniger Macht zufrieden gebe, als für die Bewahrung des Friedens und die Verteidigung des Staats erforderlich sei. Dafür verwies Hobbes neban anderen auf Wilhelm Rufus und Johann Ohneland als Beispiele aus der englischen sowie auf die Gracchen als Beispiel aus der römischen Geschichte.52 Rebellion galt ihm als Folge einer Störung wie „Hydrophobia or fear of Water“ und die Konkurrenz geistlicher und weltlicher Macht im „Body Politique“ setzte er mit „Epilepsie“ im „Body Naturall“ gleich.53 51 Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1): 167 (der Originalausg.), 221 (der Ausg. von Tuck). Ebenso in: ders., De cive (wie Anm. 46), (Ausg. von Warrender): 145 – 156, 185 – 194. Ders., Corpore politico (wie Anm. 46): 200 – 212. 52 Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1): 167 – 168 (der Originalausg.), 222 – 223 (der Ausg. von Tuck). 53 Ebd.: 171 – 172 (der Originalausg.), 226 – 227 (der Ausg. von Tuck). Möglicherweise war Hobbes beeinflusst durch den Luther-Anhänger Thomas Starkey, England in the Reign of King Henry the Eighth. A Dialogue between Cardinal Pole and Thomas Lupset, Lecturer in Rhetoric at Oxford, hrsg. von Joseph Meadows Cowper (Early English Text Society. Extra Series 12). London 1871: 14, 34, 45 – 47, der eine medizinische Terminologie zur Beschreibung von Staatskrisen eingesetzt und „sedycyon“ als Gefahr für den Staat bezeichnet hatte;

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Insgesamt listete Hobbes fünf unspezifische, nicht mit einer physischen Störung des Körpers verglichene „Krankheiten“ auf: zuerst bestimmte er sezessionistische Lehren („seditious doctrines“) als „Krankheit“, insbesondere die Theorie, dass jede Privatperson uneingeschränkt über Gut und Böse urteilen könne; diese Lehre führe dazu, dass alle Untertanen nach eigenem Willen über die Gültigkeit von Gesetzen befinden zu dürfen glaubten.54 Die zweite „Krankheit“ sei die irrige Doktrin, derzufolge „Faith and Sanctity“ nicht durch Studium und Vernunft erworben würden, sondern durch „supernaturall Inspiration“; denn dann könne jeder Christ ein Prophet sein.55 Die dritte „Krankheit“ beeinträchtige den Staat in der Gestalt der Theorie, dass die Herrschaft tragende souveräne Person den Gesetzen des Staats („Civill Laws“) unterworfen sein müsse. Diese Theorie sei unzutreffend, da die souveräne Person nur dem Naturrecht als göttlichem Recht gehorchen müsse; wer demnach fordere, dass die souveräne Person den Gesetzen des Staats unterworfen sein müsse, verlange einen Richter mit Strafbefugnis über die souveräne Person; in diesem Fall aber sei der Richter souverän, nicht die Herrschaft tragende Person. Die Institutionalisierung eines souveränen Richters führe jedoch zu einer endlosen Einrichtung immer neuer höherer Richterämter, was in Unordnung und Auflösung des Staats enden müsse.56 Die vierte „Krankheit“ sei gegeben mit der Meinung, dass alle Privatleute „absolute Propriety“ an allen Dingen hätten und übergeordnete Rechte der souveränen Person ausgeschlossen seien. Zwar hätten alle Untertanen absolute Eigentumsrechte gegen alle anderen Untertanen, jedoch seien diese Rechte von der souveränen Person gesetzt und durch sie geschützt. Werde diese Abhängigkeit nicht anerkannt, habe die souveräne Person keine Möglichkeit, die Eigentumsrechte der Untertanen zu verteidigen, und der Staat falle auseinander.57 Schließlich folgt als fünfte „Krankheit“ die nach Hobbes irrige Lehre von der Teilbarkeit der Souveränität.58 diese entstehe, wenn „vertue“ nicht belohnt werde (S. 183). Starkey war Anhänger der von Hobbes bekämpften Theorie der Mischverfassung. Zum Kontext der „Sozialpathologie“ im zeitgenössischen Großbritannien: George Sebastian Rousseau, Nervous Acts. Essays on Literature, Culture and Sensibility. London und New York 2004. Harris, Bodies (wie Anm. 4): 142 – 143. Summarisch auch: Jaede, Nature (wie Anm. 2): 24. Quentin Robert Duthrie Skinner, Freiheit und Pflicht, Thomas Hobbes’ politische Theorie (Frankfurter Adorno Vorlesungen. 2005). Frankfurt 2008: 92 – 93. 54 Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1): 168 – 169 (der Originalausg.), 223 (der Ausg. von Tuck). 55 Ebd.: 169 (der Originalausg.), 223 (der Ausg. von Tuck). 56 Ebd.: 169 (der Originalausg.), 224 (der Ausg. von Tuck). 57 Ebd.: 169 – 170 (der Originalausg.), 224 (der Ausg. von Tuck). 58 Ebd.: 170 – 173 (der Originalausg.), 225 – 228 (der Ausg. von Tuck). In seinem Spätwerk schwächte Hobbes, A Dialogue between a Philosopher and a Student of the Common Laws of England [zuerst anonym erschienen. London 1681], in: ders. The English Works, Bd. 6, hrsg. von William Molesworth. London 1840: 1 – 160 [wieder hrsg. von Joseph Cropsey. Chicago und London 1971], seine Opposition gegen die Theorie der Teilbarkeit der Souveränität ab: S. 23: Lawyer: „King is sole legislator but with this restriction that if he will not consult with the Lords of Parliament and hear the complaints and informations of the Commons […], he sinneth against God – though he cannot be compelled to any thing by

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Die Liste der in Betracht gezogenen „Krankheiten“ eines Staats führt heterogene Kontexte zusammen. Die am Machtbegriff orientierte, auf unzureichenden Machtgebrauch bezogene und als Geburtsfehler ausgegebene Gefahr ergab sich aus der von Isidor von Sevilla autoritativ zusammengefassten59 und dann durch das Mittelalter weitergereichten60 Tradition der Bestimmung derjenigen Herrschaft als legitim, die im Recht, also nicht im Herkommen, gegründet sei und unter dieser Voraussetzung auch in vollem Umfang ausgeübt werden müsse. Diese Tradition setzte sich seit dem 8. Jahrhundert um in die Lehre vom rex inutilis, der abzusetzen sei, wenn er die Herrscherpflichten nicht wahrnehme, und ist seit dem 12. Jahrhundert in der Regel zur Rechtfertigung von Herrscherabsetzungen angeführt worden.61 Hobbes jedoch nutzte diese Tradition gerade nicht zur Rechtfertigung des Widerstands gegen einen rex inutilis, sondern zur Begründung der herrscherlichen Pflicht, dass die durch den Herrschaftsvertrag legitime Herrschaftsmacht auch in vollem Umfang ausgeübt werden müsse. Seine Explikation dieser „Krankheit“ kann vor dem Hintergrund des „Englischen Bürgerkriegs“ gelesen werden als indirekte Kritik an der Herrschaftspraxis Karls I. von Großbritannien. Die erste nicht mit einer physischen Störung des Körpers gleichgesetzte Gefahr bringt das Problem der Gewissensfreiheit zur Sprache62 und greift damit ein Kernthema nicht nur der protestantischen,63 sondern schon der aquinatischen Mo-

his subjects by arms and force. Philosopher: We are agreed upon that already.“ Dazu siehe: Christine Chwaszcza, The Seat of Sovereignty. Hobbes on the Artificial Person of the Commonwealth or State, in: Hobbes Studies 25 (2012): 123 – 142. Simone Goyard-Fabre, La souveraineté de Bodin à Hobbes, in: Hobbes Studies 4 (1991): 3 – 25, hier: 24. Larry May, Hobbes against the Jurists, Sovereignty and Artificial Reason, in: Hobbes Studies 25 (2012): 223 – 232. 59 Isidor, Erzbischof von Sevilla, Etymologiarvm sive originvm libri XX, Buch IX, Kap. 3, hrsg. von Wallace Martin Lindsay. Oxford 1911, s. p. 60 Hrabanus Maurus, Erzbischof von Mainz, De universo libri viginti duo, Kap. XVI/ 3, in: Jacques-Paul Migne (Hrsg.), Patrologiae cursus completus. Series Latina, Bd. 111, Sp. 9 – 614, hier: 446. Sedulius Scottus, Liber de rectoribus Christianis, hrsg. von Siegmund Hellmann, Sedulius Scottus. München 1906: 1 – 91, hier: 63. Bischof Cathwulf, [Ermahnung an Karl I., König der Franken, 774 x 775], in: Monumenta Germaniae Historica Epistolae, Bd. 4, hrsg. von Ernst Dümmler. Berlin 1895: 501 – 505, hier: 504. Engelbert, De ortu (wie Anm. 16), Kap. XI: 760. 61 Claudia Garnier, Die Legitimierung von Gewalt durch die hoch- und spätmittelalterliche Friedensbewegung, in: Frühmittelalterliche Studien 42 (2008): 229 – 251. Helen Lacey, Protection and Immunity in Later Medieval England, in: Thomas Benedict Lambert und David Rollason (Hrsg.), Peace and Protection in the Middle Ages (Durham Medieval and Renaissance Monographs and Essays, 1). Toronto 2009: 78 – 98. Edward Peters, The Shadow King. Rex inutilis in Medieval Law and Literature. 751 – 1327. New Haven 1970. Ernst Schubert, Königsabsetzung im Mittelalter (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philol.-Hist. Kl., 3. F., Bd. 267). Göttingen 2005: 99 – 114. 62 Dazu siehe: Tobias Blanke, Das Böse in der politischen Theorie. Bielefeld 2006: 119 – 134. 63 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube, § 14, Bd. 1 Berlin 1835: 76 – 99.

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raltheologie auf.64 Da Hobbes die absolut gesetzte Gewissensfreiheit als Gefahr für den Bestand des Staats bestimmte, lässt sich seine Aussage auffassen als offene Kritik an den Grundlagen des Protestantismus, insbesondere der fundamentalistischen Dissidenten in Großbritannien. Die zweite dieser Gefahren leitete Hobbes wiederum aus theologischer Dogmatik ab, hier dem Streit um den Offenbarungscharakter der Heiligen Schrift. In diesem Streit übernahm er zwar unzweideutig die offenbarungskritische Position des Protestantismus,65 verkehrte sie jedoch in eine Kampfansage gegen prophetische und freikirchliche Bewegungen mit angeblich gefährlichen Folgen für den Bestand des Staats. Die dritte wie auch die fünfte Gefahr ergab sich direkt aus der Rezeption der Theorie Bodins von der rechtlichen Gleichheit der Souveräne und der Unteilbarkeit der Souveränität.66 Dabei leitete Hobbes jedoch die Unvereinbarkeit der Unterstellung eines Souveräns unter binnenstaatliches Recht mit dem Souveränitätsanspruch nicht wie Bodin aus der Unmöglichkeit einer Hierarchie souveräner Herrschaftsträger ab, sondern juridifizierte die Bodin’sche Argumentation, indem er hypothetisch, nur zum Zweck des Arguments, die Bewertung der Rechtmäßigkeit souveränen herrscherlichen Handelns nicht einem anderen Herrschaftsträger übertrug, sondern einem mit Vollzugsgewalt ausgestatteten Richter zuwies, diese Hypothese zur logischen Absurdität erklärte und schließlich die Forderung nach einem über dem Souverän stehenden Richteramt als Gefahr für den Bestand des Staats brandmarkte. Auch diese Argumentation kann als Anspielung auf Begebenheiten des „Englischen Bürgerkriegs“ gelesen werden. Hobbes’ Überlegungen zur fünften Gefahr setzten diese Argumentationslinie fort, indem sie die Forderung nach Teilung der Souveränität direkt mit Rebellion verbanden. Dabei mag er sich auf die 1650 gedruckte Schrift des vom Leveller zum Monarchisten konvertierten Marchamont Nedham bezogen haben. Nedham gab mit dieser Schrift seinen Einstand als Monarchist und vertrat die These, eine Regierung, die nur von einem Teil der Beherrschten ins Amt gebracht worden sei, sei genau so legitim wie eine, die von der Gesamtheit der Beherrschten getragen werde. Er vertrat jedoch unter

64 Thomas von Aquin, Quaestio disputata de veritate, in: ders., Sancti Thomae Aquinatis Opera omnia, Bd. 3, hrsg. von Roberto Busa, SJ. Stuttgart 1980: 1 – 186, hier: 109, quaestio 17, articulus 4: „Quarto quaeritur utrum conscientia erronea liget“; ad 4. Dazu siehe: William J. Hoye, Die Wahrheit des Irrtums. Das Gewissen als Individualitätsprinzip in der Ethik des Thomas von Aquin, in: Jan A. Aertsen und Andreas Speer (Hrsg.), Individuum, und Individualität im Mittelalter (Misceallanea mediaevalia. 24). Berlin und New York 1996: 419 – 435, hier: 421, 424. 65 Theodor Joseph Heberling, Vergleichende Darstellung des Protestantismus. Mainz 1837: 68. 66 Jean Bodin, Les six livres de la République, Buch I, Kap. 7 [Paris, 1576]. Neudruck, hrsg. von Christiane Frémont, Marie-Dominique Couzinet und Alain Rochais. Paris 1986: 151 – 157.

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Berufung auf Grotius die Theorie der geteilten Souveränität, indem er Herrscher und Beherrschte gleichermaßen als Träger von Souveränität bestimmte.67 Hobbes unterbrach seine Argumentationslinie durch die vierte Gefahr, die er dem Kontext der Theorie des sogenannten „Besitzindividualismus“68 entnahm. Dieser baute seinerseits auf der aus dem römischen Recht stammenden begrifflichen Unterscheidung zwischen imperium als privatrechtlichem und dominium als öffentlichrechtlichem Eigentum auf.69 Hobbes wies diese Unterscheidung, sofern sie die Forderung nach Autonomie des imperium gegenüber dem dominium einschließe, als Gefährdung der Sicherheit des Staats zurück und grenzte damit die eigentumsschutzrechtlichen Komponenten der Herrschaftsvertragslehre ein. Die Darstellung der vierten „Krankheit“ kann ebenfalls gedeutet werden als Kritik an den Positionen der Dissidenten zur Zeit des „Englischen Bürgerkriegs“. Der Überblick ergibt, dass Hobbes seine fünf „Krankheiten“ nicht aus einer in sich geschlossenen Theorie ableitete, sondern zumeist aus den Begebenheiten des „Englischen Bürgerkriegs“ abstrahierte und mit einem in sich widersprüchlichen Verschnitt aus Moraltheologie, Souveränitätstheorie und Herrschaftsvertragslehre anreicherte. Hobbes’ „Krankheiten“ waren also keine sich aus einer bestimmten Theorie, etwa der Herrschaftsvertragslehre, ergebenden Eigenschaften des Staats, sondern kontingente Störungen des Betriebs der Staatsmaschine, hervorgerufen durch vorgeblich unvorhersehbares unvernünftiges, ja sündiges menschliches Handeln wie etwa Rebellion, nicht jedoch durch irgendwie regelkonforme Abläufe in der Maschine. So fehlen in Hobbes’ Liste gerade diejenigen Faktoren, die als reguläre Vorgänge die Stabilität von Staaten beeinträchtigen konnten, mithin allfällige Arrangements zwischen Herrscherdynastien70 wie die durch die Sukzession der Stuarts herbeigeführte Vereinigung der Kronen Englands und Schottlands im Jahr 1603 oder Föderation von Staaten wie, besonders dramatisch, die durch Wahl zustande gekommene Verbindung von Böhmen und der Pfalz im Jahr 1618, Vorgänge also, die zu Hobbes’ Lebenszeit abliefen. Indem Hobbes gerade derlei, nach den politischen und Rechtstheorien des 17. Jahrhunderts legitime Vorgänge aus seinem Katalog der angeblich staatsgefährdenden „Krankheiten“ verbannte, reduzierte er die Gefahren für den Bestand des Staats auf außergewöhnli67 Nedham, Case (wie Anm. 30): 34 – 40: „That a Government Erected by a Prevailing Part of the People Is Valid De Jure as if it Had the Ratifying Consent of the Whole.“ Dazu siehe: Deborah Baumgold, Hobbes, in: David Boucher und Paul Kelly (Hrsg.), Political Thinkers. From Socrates to the Present. Oxford 2003: 163 – 180, hier: 178. Skinner, Hobbes (wie Anm. 2): 204 – 205. 68 Crawford Brough Macpherson, The Political Theory of Possessive Individualism. Oxford 1962 [weitere Ausg. Oxford 1964; 1967; 1969; 1970; 1972; 1979; 1988; 1990; deutsche Fassung. Frankfurt 1973; 1980; 1990]. Brett, Protection (wie Anm. 45): 105 – 107. 69 Andreas Knichen, De jure territorii. Wittenberg 1622 [erweiterte Ausg., hrsg. von Christian Krembergk. Frankfurt 1658; weitere Ausg., hrsg. von Christian Krembergk. Frankfurt 1688]. 70 So schon: Desiderius Erasmus, Institutio principis Christiani, in: ders., Opera Omnia, Bd. 4, Teil 1, hrsg. von Otto Herding. Amsterdam 1974: 187.

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che Begebenheiten. Zum Schutz des Staats vor diesen Gefahren legitimierte er tiefe Eingriffe in die naturrechtlich geschützten Freiheiten der Beherrschten. Hobbes’ Staats-„Krankheiten“ dienten somit als Folie zur Rechtfertigung von Unterdrückung vorgeblich zur Sicherung des Bestands der Staaten. Offenbar positionierte Hobbes die fünfte nicht mit physischen Störungen des Körpers verglichene „Krankheit“ an das Ende seiner Liste, da er an die Erläuterung dieser Gefahr zwei Digressionen anfügen wollte.71 Diese betrafen Rebellion und Tyrannenmord einerseits, den Widerstreit geistlicher und weltlicher Gewalten andererseits. Die Neigung zur Rebellion führte Hobbes auf die fehlgeleitete Lektüre von Darstellungen zur griechisch-römischen Geschichte zurück. In diesen Darstellungen sei jede Rebellion gerechtfertigt worden mit dem vorgeschobenen Argument, dass der bekämpfte Herrscher ein Tyrann sei. Rebellion sei eben wie eine Folge von „Hydrophobie“, die durch den Biss tollwütiger Hunde übertragen werde und zu starkem Durst bei gleichzeitiger Angst vor Wasser führe. Den Widerstreit geistlicher und weltlicher Gewalten als „Epilepsie“ rufe der Mangel an hierarchischer Ordnung zwischen beiden Gewalten hervor; denn der Vorrang einer der beiden Gewalten über die andere sei die vorgegebene Regel. Die Nichtbeachtung dieser Regel führe zu einem „unnaturall spirit“ oder Wind im Kopf des „Body Politique“, der die Nervenwurzeln schädige und auf diese Weise „gewaltsame und außergewöhnliche Zuckungen“ (violent and irregular motions) hervorrufe.72 Der Einsatz der medizinischen Terminologie zur Beschreibung dieser Typen politischer Vorgänge ist derart grotesk, dass das satirisch Übertriebene dieser Passagen unübersehbar wird und eine ironische Distanzierung zu dem Gebrauch der Krankheitsmetapher bewirkt. Den von ihm selbst beschriebenen Bestrebungen zur inneren Destabilisierung des Staats begegnete Hobbes also mit Spott. Gegen den vermeintlichen Mangel an Vernunft als Grund dieser angeblich staatsgefährdenden Handlungen stand für ihn kein rationales Argument, sondern nur die Stärke staatlicher Macht. Kapitel 29 schließt mit einer kurz gehaltenen Darlegung der Gefährdung des Bestands des Staats durch Aggression.73 Im Fall des Siegs eines von außen kommenden Aggressors, ebenso wie im Fall des Siegs der inneren Gegner der Herrschaft, werde der Staat „aufgelöst“ (dissolved) mit der Konsequenz der Rückkehr in den Naturzustand und der „Freiheit“ (liberty) eines Jeden, sich selbst zu schützen. Da der Souverän die „Seele“ (Soule) des Staats sei, in diesem residiere und diesem Leben gebe, bestehe, wie Hobbes im Sinn der Souveränitätstheorie behauptete, keine Regierung mehr, wenn der Souverän „aushauche“ (expiring). Dann sei der Staat wie ein Leichnam, den die Seele verlassen habe. Die Seele selbst sei jedoch „unsterblich“ (Immor71 Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1): 170 – 173 (der Originalausg.), 225 – 228 (der Ausg. von Tuck). 72 Ebd.: 171 (der Originalausg.), 226 (der Ausg. von Tuck); 172 (der Originalausg.), 227 (der Ausg. von Tuck). 73 Ebd.: 174 (der Originalausg.), 230 – 231 (der Ausg. von Tuck). Dazu bemerkte Malherbe, Hobbes (wie Anm. 2): 19, bereits treffend: „Hobbes est fort bref sur la dissolution du corps politique.“

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tall), denn „the Right of a Soveraign Monarch cannot be extinguished by the act of another“.74 Staatstod führte also nicht zum rechtmäßigen Ende der Souveränität, wohl aber zur Beschädigung der Einheit der Herrschaft und des Staatsgebiets. Hobbes reduzierte folglich den Staatstod auf die Pragmatik der Zerstörung von Institutionen ohne Auswirkung auf das Recht zwischen den Staaten. Ein stärkeres Bekenntnis zum apriorischen Postulat der Stabilität des souveränen Staats im mechanizistisch modellierten Staatensystem ist kaum denkbar. In seiner „Rückschau“ (Review) am Ende des Leviathan75 fügte Hobbes dem Kapitel 29 einen Nachgedanken an und stellte dabei fest, dass Defekte der Staatsstruktur den wesentlichen Vorwand für Aggressionen seitens der Eroberer abgäben, diesen nämlich zur Rechtfertigung ihres Tuns dienten. Hobbes bestimmte jedoch nicht nur innere Defekte der Staatsstruktur als Hauptgrund für externe Aggressionen gegen einen Staat, sondern auch umgekehrt externe Aggression als Ursache für die dauerhafte Schwächung der Legitimität der Herrschaft der Eroberer über einen eroberten Staat. So habe Wilhelm der Eroberer ein Erbe der Unrechtmäßigkeit von Herrschaft hinterlassen und seine Nachkommen und Nachfolger seien gezwungen gewesen, sein aggressives Tun gegen alle Evidenz als gute Tat auszugeben. Da unter diesen Voraussetzungen keine vertragliche Beziehung zwischen Eroberten und Erboberer zustande kommen könne, seien die Eroberer eigentlich gezwungen, statt ihres eigenen Tuns Rebellion gegen sie und ihre Nachfolger zu rechtfertigen. Mit diesem Schluss, so Hobbes mit Selbstlob, habe er „one of the most effectuall seeds“ für den Staatstod identifiziert, um diesen verhindern zu können.76 Denn die Eroberer müssten sich nicht nur des künftigen Gehorsams der Eroberten versichern, sondern ebenso seien die Nachfolger genötigt, retrospektiv die Anerkennung des Tuns ihrer Vorgänger durch die Eroberten zu erzwingen; und auf diesem Weg könne jedoch keine legitime Herschaft entstehen. Schlimmer noch sei, dass kaum ein Staat in der Welt bestehe, der mit gutem Gewissen zu rechtfertigen sei. Denn die meisten Staaten verdankten ihre Entstehung Gewaltakten.

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Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1): 174 (der Originalausg.), 230 (der Ausg. von Tuck). Hobbes widerspricht an dieser Stelle partiell seiner Aussage in Kap. 21: 114 (der Originausg.), 153 (der Ausg. von Tuck), die „Soveraignty“ sei zwar „immortall“, könne aber durch Aggression von außen und durch Unwissen der natürlichen Sterblichkeit zum Opfer fallen; in diesem Fall erlösche die Gehorsamspflicht der Untertanen, da sie keine Sicherheit mehr empfangen könnten. Dieses Arguent zuvor schon bei: Charles Loyseau, Traité des seigneuries. Paris 1608, Kap. II, Rz 4 – 7: 25. Dazu siehe: Skinner, Conquest (wie Anm. 46): 305 – 306, der nach Kap. 29 des Leviathan die Unterwerfung unter den Souverän als Gegenleistung für Sicherheitsbereitstellung bestimmt und schließt, ohne Sicherheitsbereitstellung werde der Staat aufgelöst; Skinner zieht diesen Schluss jedoch, obwohl am Ende von Kap. 29 das Erlöschen der Sicherheitsbereitstellung nach Eroberung durch Gewaltanwendung von außen zustandekam, nicht aus Widerstand von innen. 75 Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1): 389 – 396 (der Originalausg.), 483 – 491 (der Ausg. von Tuck). 76 Ebd.: 392 (der Originalausg.), 486 (der Ausg. von Tuck).

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Diese skeptische, die zuvor explizierte Herrschaftsvertragslehre radikal in Frage stellende Schlussfolgerung verschärfte Hobbes noch durch den Zusatz, dass im Grunde Hass auf Tyrannen zugleich Hass auf den Staat als Ganzen sei. Obwohl die Rechtfertigung des Tuns der Eroberer ebenso gefordert sei wie das Bedauern über das Schicksal der Eroberten, könne keine dieser beiden Tätigkeiten Pflichten der Eroberten begründen.77 Trotz aller dieser Bedenken hielt Hobbes jedoch das seiner politischen Theorie zugrundeliegende aristotelische Postulat des Willens zur Gemeinschaft für zwingend. Denn das binnenstaatliche Recht der Souveräne wie auch die Pflichten und Freiheiten der Beherrschten seien in den naturgegebenen Neigungen der Menschen und dem Naturrecht verankert. Anders gesagt: im Interesse der Sicherung des Bestands des Staats und der Bereitstellung von Sicherheit sollten sich sogar die Eroberten mit ihrem Schicksal abfinden und dem Eroberer Gehorsam leisten.78 Hobbes ordnete somit im Leviathan die Sicherung des Bestands des Staats den Rechten der Beherrschten voran, und zwar auch dann, wenn Herrschaft in einem Staat durch Ausübung von Gewalt zustande gekommen war. Ein zentrales Ziel von Hobbes’ politischer Theorie war folglich die Verhinderung des Staatstods. Das Wort „State“ als Neologismus des 16. Jahrhunderts verwandte Hobbes zwar selten im Gegensatz zu der etablierten Bezeichnung „Common-wealth“. Gleichwohl dürfte er sich wie seine Zeitgenossen der Konnotation des Stabilen bewusst gewesen sein, die dem lateinischen Etymon status und volkssprachlichen Ableitungen wie „estate“ und „Stand“ anhaftete.79 77

Ebd. Ebd.: 394, 391 (der Originalausg.), 489, 485 (der Ausg. von Tuck). 79 Ebenso: Johannes Urbach, Tractatus de statu Fratrum Ordinis Teutonicorum, hrsg. von Stanislaus Franciszek Belch, Paulus Vladimiri and His Doctrine Concerning International Law, Bd. 2. Den Haag 1965: 1116 – 1180. Lazarus von Schwendi, Diskurs und Bedenken über den jetzigen Stand und Wesen des heutigen Reiches, unseres lieben Vaterlands [1570]. Hs. Wien, Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Kriegsakten 26; Berichte aus dem Reich 6d; hrsg. von Maximilian Lanzinner, Die Denkschrift des Lazarus von Schwendi zur Reichspolitik, in: Johannes Kunisch (Hrsg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 3). Berlin 1987: 154 – 185. Justus Sinolt genannt von Schütz, Exercitatio II: De divisione Imperii Romani, ratione regiminis et in specie de summi capitis, imperatoris, constitutione seu electione, in: ders., Collegium publicum de statu rei Romanae, hrsg. von Carl Scharschmid. Frankfurt 1683: 69 – 138 [zuerst. Marburg 1641; weitere Ausg. Frankfurt 1682]. Samuel von Pufendorf [= Severinus de Monzambano Veronensis], De statu Imperii Germanici ad Laelium Fratrem, Kap. II, § 2. Genf 1667; hrsg. von Fritz Salomon (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit. Bd. 3, Heft 4). Weimar 1910: 49. Christian Gastel, De statu publico Europae novissimo tractatus. Nürnberg 1675. Ludolf Hugo, De statu regionum Germaniae liber unus. Gießen 1689. Dazu siehe: Quentin Robert Duthrie Skinner, The State, in: Terence Ball, James Farr und Russell L. Hanson (Hrsg.), Political Innovation and Conceptual Change. Cambridge 1989: 90 – 131. Paul-Ludwig Weinacht, Staat (Beiträge zur Politischen Wissenschaft. 2). Berlin 1968. Gert Melville und Hans Vorländer (Hrsg.), Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen. Köln 2002. 78

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Mit seinem reaktionären Eintreten für den Vorrang der Stabilität der Staaten als Maschinen in der gottgewollt geordneten Welt schränkte Hobbes die Herrschaftsvertragslehre auf den Rang einer bloßen Theorie ein, die auf die empirischen Regelfälle der Errichtung von Herrschaft gerade keine Anwendung gefunden habe. Zwar hängte er wie seine Zeitgenossen die politische Theorie im Horizont des Mechanizismus auf, blieb aber fast allein mit seinen Warnungen vor den den Staat angeblich gefährdenden „Krankheiten“.80 Denn bis an das Ende des 18. Jahrhunderts trieben kaum einen Theoretiker Sorgen um den Staatstod und dessen angeblich kurz- wie langfristig gefährlichen Folgen um. Als gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Metapher vom Staatstod im Kontext von vollzogenen oder erwarteten Staatensukzessionsprozessen wieder in Gebrauch geriet,81 stand sie in völlig anderen Kontexten als 80 Ähnlich argumentierte Filmer, auch wenn er Hobbes‘ Kontraktualismus ablehnte; denn er gab vor, nicht nachvollziehen zu können, warum Beherrschte einen Herrschaftsvertrag schließen wollen sollten; siehe: Robert Filmer, Patriarcha. The Naturall Power of Kinges defended against the Unnatural Liberty of the People [London 1680], in: ders., Patriarcha and Other Writings, hrsg. von Johann P. Sommerville. Cambridge 1991: 1 – 68. Ders., Observations Concerning the Originall Government, in: ders., Patriarcha and Other Political Works, hrsg. von Peter Laslett. Oxford 1949: 239. Ders., Observations upon Grotius, ebd.: 261 – 274. Dazu siehe: Dreitzel, Aristotelismus (wie Anm. 24): 227 – 232, 355 – 360. M. M. Goldsmith, Hobbes’s ,Mortall God‘. Is There a Fallacy in Hobbes’s Theory of Sovereignty?, in: History of Political Thought 1 (1980): 33 – 50 [wieder abgedruckt in: Christopher W. Morris (Hrsg.), The Social Contract Theorists. Lanham, MD 1989: 23 – 39, hier: 25]. Melville, Geltungsgeschichten (wie Anm. 80). 81 Der Theologe und Philologe Friedrich Carl Fulda, Die Völker, in: Der Geschichtsforscher 3 (1776): 33 – 125, hier: 65, erwartete, dass eine „Nation stirbt, so bald sie eins mit einer andern wird.“ Der Landshuter Statistiker Butte beschrieb „jedes gewaltsame Mittel, eine Nation ihrer Muttersprache zu berauben“, als „eine ganz eigene Art von Nationalmord“ und setzte den Eroberungskrieg mit einem „Attentat“ gleich, dem der eroberte Staat zum Opfer falle: Wilhelm Butte, Ideen über das politische Gleichgewicht von Europa mit besonderer Rücksicht auf die jetzigen Zeitverhältnisse. Leipzig 1814: 52, 37 – 38. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Teilband I: Die Vernunft in der Geschichte [1830], hrsg. von Johannes Hoffmeister, 5. Aufl. Berlin 1955: 69: „So sterben Individuen, so sterben Völker eines natürlichen Todes; wenn letztere auch fortdauern, so ist es eine interessenlose, unlebendige Existenz, die ohne das Bedürfnis ihrer Institutionen ist, eben weil das Bedürfnis befriedigt ist, – eine politische Nullität und Langeweile.“; 73: „Der Tod eines Volksgeistes ist Übergang ins Leben, und zwar nicht so wie in der Natur, wo der Tod des einen ein anderes leichtes ins Dasein ruft. Sondern der Weltgeist schreitet aus niedern Bestimmungen zu höheren Prinzipien, Begriffen seiner selbst, zu entwickelteren Darstellungen seiner Idee vor.“ Der Tübinger Staatswissenschaftler Giovanni Battista [Johann Baptist] Fallati hielt „das Aufblühen und Welken der Nationen“ für einen selbstverständlichen Vorgang und setzte den „Wechsel der Volksindividuen in der Erscheinung für die Bildung der Völkergesellschaft“ mit dem „Leben und Tod einzelner Menschen für den Staat“ gleich; siehe: Fallati, Die Genesis der Völkergesellschaft, in: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft 1 (1844) : 160 – 189, 260 – 328, 538 – 608, hier: 601 – 602. Der Jurist Otto von Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände. Rede bei Antritt des Rektorats am 15. Oktober 1902. Leipzig 1902: 31, bestimmte Staaten als einen Typ „gesellschaftlicher Lebewesen“ und glaubte: „Auch Geburt und Tod der gesellschaftlichen Lebewesen sind für das Recht zugleich Rechtsvorgänge.“ Danach in der Sicht der damals so genannten Geopolitik: Richard Henning, Geopolitik. Die Lehre vom Staat als Lebewesen. Wiesbaden 1928: 10 – 44: „Die Staaten als

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in Hobbes’ Werk. Anders als in Hobbes’ nach dem Modell der Maschine konstruiertem Staatensystem hat seit der Wende zum 19. Jahrhundert das dem Modell des lebenden Körpers nachempfundene biologistische internationale System den Rahmen abgegeben für die Bildung von Theorien des Staats und der internationalen Beziehungen.82 Bedeutete nach dem mechanizistisch modellierten System die Zerstörung eines Staats eine Gefahr für den Bestand des Staatensystems als Ganzes, figurierte innerhalb des biologistisch modellierten Systems Staatensukzession, mithin die Abfolge von „Tod“ bestehender und „Geburt“ neuer Staaten als systemkonformer, rechtlich geregelter Wandlungsvorgang, der nicht zwangsläufig als Gefährdung der Systemstrukturen galt.83 Als solcher Vorgang konnte Staatensukzession den Opportunitätserwägungen systemrelevanter staatlicher Akteure unterworfen sein.84 In Abwandlung einer Formel Immanuel Wallersteins auf das 19. Jahrhundert lässt sich feststellen, dass das System selbst in seiner Wandelbarkeit als metastabil galt, wenngleich nicht auf unbegrenzte Dauer angelegt.85 Ein besonderes, Lebewesen“; 10 – 13: „Geburt, Lebensfunktion und Tod der Staaten“. Später in der Theorie der Internationalen Beziehungen: Tanisha M. Fazal, State Death. The Politics and Geography of Conquest, Occupation and Annexation. Princeton 2007: 17: „state death“ = „exit from the international system […] state death could also be defined in a number of other ways […] has referred to internal state collapse or failure, a regime change, conquest or division.“ 82 So früh: Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die Staatswissenschaft im Lichte unserer Zeit, 2. Aufl., Bd. 1. Leipzig 1827 [zuerst. Leipzig 1824]: 346 – 347, 363 – 364. Dazu siehe: Francis William Coker, Organismic Theories of the State. New York 1910. Albert Theodor van Krieken, Über die sogenannten organischen Staatstheorien. Leipzig 1873. Meyer Howard Abrams, Coleridge’s Mechanical Fancy and Organic Imagination, in: ders., The Mirror and the Lamp. New York 1976: 167 – 177. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als Organismus, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Frankfurt 1991: 263 – 272. Helmut Coing, Bemerkungen zur Verwendung des Organismusbegriffs in der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts in Deutschland, in: Gunter Mann (Hrsg.), Biologismus im 19. Jahrhundert (Studien zur Medizingeschichte des 19. Jahrhunderts; 5). Stuttgart 1973: 147 – 157. Thomas Ellwein, Die Fiktion der Staatsperson, in: ders. und Joachim Jens Hesse (Hrsg.), Staatswissenschaften. Vergessene Disziplin oder neue Herausforderung? Baden-Baden 1990: 99 – 110. Karl M. Figlio, The Metaphor of Organization, in: History of Science 14 (1976): 17 – 53. Erich Kaufmann, Über den Begriff des Organismus in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts, in: ders., Rechtsidee und Recht. Göttingen 1960: 46 – 66. Henry John McCloskey, The State as an Organism, as a Person and as an End in Itself, in: Philosophical Review 72 (1963): 306 – 326. Gunter Mann, Medizinischbiologische Ideen und Modelle in der Gesellschaftslehre des 19. Jahrhunderts, in: Medizinhistorisches Journal 4 (1969): 1 – 23. Judith E. Schlanger, Les métaphores de l’organisme. Paris 1971. Hans Erich Troje, Wissenschaftlichkeit und System in der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts, in: Jürgen Blühdorn und Joachim Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft. Frankfurt 1969: 63 – 88. James Weinstein, The Corporate Ideal in the Liberal State. 1900 – 1918. Boston 1968. 83 Max Huber, Die Staatensuccession. Leipzig 1898: 8, 18. Walter Schönborn, Staatensukzession (Handbuch des Völkerrechts. Abt. 3, Bd. 2). Berlin 1913: 3 – 4, 6. 84 Morton A. Kaplan, The International System, in: ders., System and Process in International Politics. New York 1957: 21 – 53 [Nachdruck. Huntington, NY 1975]. Kenneth Neal Waltz, The Stability of a Bipolar World, in: Daedalus 93 (1964): 881 – 909. 85 Immanuel Maurice Wallerstein, Introduction. Scholarship and Reality, in: ders. (Hrsg.), The Modern World-System in the Longue Durée. Boulder 2004: 1 – 3, hier: 1.

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systemtheoretisch formuliertes Bedürfnis zur Verhinderung von Staatstod bestand unter den Voraussetzungen der biologistischen europäisch-nordamerikanischen Theorie des Staats und der internationalen Beziehungen nicht. Hingegen konnte Verwunderung darüber entstehen, dass angeblich „schwache“ Staaten fortbestanden, obwohl sie in der Perspektive der Theoretiker der Zerstörung anheimgestellt schienen.86Anders in der politischen Praxis in anderen Teilen der Welt. Während ihres Guerillakriegs gegen die indonesische Regierung (1976 – 2005) drangen im August 1999 neun Aktivisten der die Restitution der Unabhängigkeit des vorkolonialen Sultanats Aceh fordernden Widerstandsgruppe Gerakan Aceh Merdeka (GAM; Bewegung zur Befreiung von Aceh) in die niederländische Botschaft in Jakarta ein und verlangten, dass die niederländische Regierung ihre Kriegserklärung gegen Aceh aus dem Jahr 1873 offiziell zurücknehme. Zur Begründung brachten sie vor, die Zurücknahme bestätige die fortdauernde Souveränität des Sultanats, das 1904 in den niederländischen kolonialen Herrschaftsverband und 1948 in die als unabhängig anerkannte postkoloniale Republik Indonesien gezwungen worden war. Mit der formellen Bestätigung ihres Anspruchs auf fortdauernde Souveränität des Sultanats wollten die Aktivisten den politischen Druck auf die indonesische Regierung erhöhen. Die niederländische Regierung ließ die Botschaft durch die indonesische Polizei räumen. Die Aktion bestätigt, dass die Aktivisten – vermutlich ohne Kenntnis des Leviathan – genauso argumentierten wie Hobbes: denn sie postulierten, dass die Souveränität eines Staats nicht erloschen sei, selbst wenn dieser durch Aggression von außen zerstört worden sei, sondern auch ohne Bindung an Institutionen fortbestehe.87

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Philip G. Roeder, Where Nation-States Come From. Institutional Change in the Age of Nationalism. Princeton 2007: 3 – 41 [Nachdruck. Princeton 2011]. Robert H. Jackson und Carl G. Rosberg, Why Africa’s Weak States Persist. The Empirical and the Juridical in Statehood, in: World Politics 35 (1982): 1 – 24 [wieder abgedruckt in: John A. Hall (Hrsg.), The State. Critical Concepts, Bd. 2. London und New York 1994: 267 – 286]. Robert I. Rotberg (Hrsg.), When States Fail. Causes and Consequences. Princeton und Oxford 2004. 87 Actie Atjeers bij ambassade, in: Trouw (5. August 1999). A. Jansen, Aceh kan prima overweg met Nederland, in: Reformatorisch Dagblad (5. August 1999). Martine Julia van Ittersum, Empire by Treaty? The Role of Written Documents in European Overseas Expansion, in: Adam Clulow und Tristan Mostert (Hrsg.), The Dutch and English East India Companies. Diplomacy, Trade and Violence in Early Modern Asia. Amsterdam 2018: 153 – 178, hier: 153 – 154. Edward Aspinall, Islam and Nation. Separatist Rebellion in Aceh, Indonesia. Stanford 2009: 151 – 192. Hamid Awaludin, Peace in Aceh. Notes on the Peace Process between the Republic of Indonesia and the Aceh Freedom Movement (GAM) in Helsinki. Jakarta 2009. Kirsten E. Schulze, The Free Aceh Movement (GAM). Anatomy of a Separatist Organization (Policy Studies, 2). Washington 2004.

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Harald Kleinschmidt

V. Zusammenfassung In der neueren Hobbes-Forschung wird mit guten Gründen die These vertreten, dass Hobbes zentrale Komponenten seiner Theorie des Herrschaftsvertrags auf Sicherheit im umfassenden Sinn dieses Begriffs gründete. Die Analyse von Hobbes’ Überlegungen zum Staatstod kann diese These modifizieren. Indem er den Herrschaftsträgern im Staat als „bürgerliche Gesellschaft“ die Bereitstellung von Sicherheit als Hauptaufgabe zuwies, setzte Hobbes im Sinn des Mechanizismus des 17. und 18. Jahrhunderts die Stabilität des Staats sozusagen als Wert an sich, den er gegen die scheinbar bestandsgefährdenden Unzulänglichkeiten der empirisch vorhandenen, den Vorgaben der Theorie nicht gerecht werdenden Staatsstrukturen und menschlichen Handlungen hervorhob. Aus diesen Gefährdungen leitete er die Priorität der Bewahrung der Stabilität des Staats vor den Sicherheitsbedürfnissen der Beherrschten ab. Denn, so Hobbes’ Fazit, der Staatstod komme der Rückkehr in den Naturzustand gleich, in dem die Beherrschten keine Sicherheitsbereitstellung erwarten könnten. Den Staat betrachtete er sowohl als Menschenwerk wie auch als Bestandteil der gottgewollt geordneten Welt. Gefährdungen der Stabilität des Staats kleidete Hobbes in Kategorien des Irregulären und Unvollkommenen. Die Welt-Maschine erschien ihm hierarchisch geordnet, durchzogen von Ungerechtigkeit und geprägt von Pflichten für die Beherrschten, die die weitestgehenden Einschränkungen ihrer naturgegebenen Freiheitsrechte zum Zweck der vermeintlichen Bewahrung der Fähigkeit der Herrschaftsträger zur Sicherheitsbereitstellung hinzunehmen hätten. Dem Theoriepostulat des freiwilligen Eingehens eines Herrschaftsvertrags schien der empirische Befund der Häufigkeit der Gewaltanwendung in Prozessen der Herrschaftsbildung zu widersprechen. Gleichwohl gab Hobbes dem Theoriepostulat den Vorrang. Denn es fördere keineswegs „disturbances of Public Tranquillity“ und solle daher an Universitäten gelehrt werden als Mittel gegen die giftige Gehässigkeit („Venime“) „of Heathen Politicians“ und gegen „Incantations of Deceiving Spirits“.88 Die Kraft der Vernunft, hoffte er, werde Menschen dazu bringen, sich trotz aller Ungerechtigkeiten in die gottgewollte Hierarchie einzufügen zur Bewahrung der Stabilität des Staats und zur Erhaltung der Fähigkeit der Herrschaftsträger zur Sicherheitsbereitstellung. Angst vor dem Staatstod machte Hobbes zum reaktionären Theoretiker, der Gewaltmaßnahmen zum Zweck der Errichtung und des Erhalts von Herrschaft einfach als empirische Gegebenheiten hinzunehmen bereit war. Hobbes’ Begriff des Staatstods war auf das engste eingebunden in seine Konzeption einer auf Untertanenschaft beruhenden, als unwandelbar ausgegebenen, nur dem Ratschluss des unsterblichen Schöpfergotts unterworfenen, Welt-Maschine. Diese mechanizistische Systemwahrnehmung ist mit dem seit dem 19. Jahrhundert wahrgenommenen biologistisch modellierten internationalen System grundsätzlich unvereinbar. Nicht nur können einzelne Hobbes’sche Theoreme nicht aus ihrem 88

Hobbes, Leviathan (wie Anm. 1): 395 (der Orig.-Ausg.), 491 (der Ausg. von Tuck).

Die Verhinderung des Staatstods

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textlichen und sachlichen Zusammenhang isoliert werden, wie bereits Skinner bemerkte,89 sondern Hobbes’ politische Theorie insgesamt öffnet sich gravierenden Missverständnissen, wenn sie mit dem Instrumentarium des biologistischen Systemmodells wie ein Reservoir für Argumente des sogenannten Realismus des 19. und 20. Jahrhunderts zu deren scheinbarer Bestätigung missbraucht wird.90

89

Quentin Robert Duthrie Skinner, Regarding Method (Ders., Visions of Politics. Bd. 1). Cambridge 2002. 90 So beispielsweise: Hedley Bull, The Anarchical Society. London 1977: 39 [2. Aufl., hrsg. von Stanley Hoffmann. Basingstoke und New York 1995; 3. Aufl., hrsg. von Andrew Hurrell. Basingstoke und New York 2002]. Ders., Hobbes and International Anarchy, in: Social Research 48 (1981): 717 – 738 [wieder abgedruckt in: John Dunn und Ian Harris (Hrsg.), Hobbes, Bd. 2 (Great Political Thinkers. Bd. 8, Teil 2). Cheltenham und Lyme 1997: 338 – 359]. Noel Malcolm, Hobbes’s Theory of International Relations, in: ders., Aspects of Hobbes. Oxford 2002: 432 – 456, hier: 435. Glen Newey, Leviathan and Liberal Moralism in International Theory, in: Raia Prokhovnik und Gabriella Slomp (Hrsg.), International Political Theory after Hobbes. Basingstoke und New York 2011: 56 – 77, hier: 67. Williams, Tradition (wie Anm. 46). Ders., The Hobbesian Theory of International Relations. Three Traditions, in: Beate Jahn (Hrsg.), Classical Theory and International Relations (Cambridge Studies in International Relations. 103). Cambridge 2006: 253 – 276 [weitere Ausg. Cambridge 2009].

Die Rückeroberung des Vorpolitischen aus den ,teuflischen‘ Anfängen des Republikanismus: Überlegungen im Anschluss an Kant und Habermas Von Michael Kühnlein Abstract In this article I deal with the place of the prepolitical in modern democracy theory. In so doing, I propose that the stance of critical distance towards this term is unwarranted; it is far more the case that reflection on the prepolitical belongs to the freedom-grounding expression modes of political reason itself. By contrast, less ethically involved models of justification, such as those of Kant and Habermas, fail to consider this expressivism of reason – with the result that they repeatedly become entangled in the dialectic of the prepolitical.

Vorbemerkungen Das Vorpolitische ist das mysterium tremendum der politischen Philosophie schlechthin.1 Allein schon dessen bloße Erwähnung provoziert erbitterte Kritik, wird hier doch unisono eine identitäre, antidemokratische Agenda des Politischen vermutet, welche die zivilen Freiheiten des liberalen Rechtsstaats substanziell schädigen könnte. Und diese Befürchtungen scheinen auf den ersten Blick auch nicht unbegründet zu sein, vor allem, wenn man bedenkt, dass das metaphysische Suggestivrepertoire dieses Begriffs gerade im letzten Jahrhundert von den existenzialistisch gefärbten politischen Theologien der Weimarer Republik mobilisiert und gegen das angebliche Neutralisierungsregime des politischen Liberalismus ins Feld geführt worden ist (hier von unseliger Wucht: Carl Schmitt2). Insofern ist die verhaltene Reaktion auf ,vorpolitische‘ Verstehens- und Aneignungsstrategien der modernen Demokratietheorie – gerade, wenn sie dann noch wie heute im Zusammenhang einer „Wiederkehr der Religion“3 zu stehen scheinen – durchaus nachvollziehbar.4 1

Einen umfassenden Überblick über den gegenwärtigen Stand der Debatte findet sich bei: Michael Kühnlein (Hrsg.), Das Politische und das Vorpolitische. Über die Wertgrundlagen der Demokratie, Baden-Baden 2014. 2 Vgl. dazu: Michael Kühnlein, „Politische Theologie im Paradigmenwechsel. Zur politischen Legitimitätsanalytik von Carl Schmitt und Michael Walzer“, in: ders. (Hrsg.), Exodus, Exilpolitik und Revolution. Zur Politischen Theologie Michael Walzers, Tübingen 2017: 197 – 220. 3 Zu dieser inzwischen sehr bekannten Formulierung: Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der ,Kampf der Kulturen‘, München 2000; Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004;

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Michael Kühnlein

Moderne Vernunfttheoretiker wie Habermas halten sich deshalb mit der Problematik des Vorpolitischen nicht lange auf. Ihnen missfällt allein schon die PräfixStruktur eines solchen Denkens, das das Bild einer zeitlosen, außerhalb von jeglichen Zuschreibungen stehenden sittlich-sakralen Substanz heraufbeschwört, deren legitime Geltungskraft, wie es scheint, nur in Formen von nationalen oder religiösen Gemeinschaftsvollzügen zum Ausdruck gebracht, aber eben nicht mehr länger argumentativ eingeholt werden kann: Der Gedanke der Repräsentation scheint im Vorpolitischen auf den Bereich des existenziell Präsenten einzuschrumpfen. Auch deshalb plädiert Habermas für eine angemessene Versprachlichung des Vorpolitischen, um mit dem – aus seiner Sicht – obskurantistischen Spuk einer ,Weimarer Stimmungslage‘ endgültig Schluss zu machen.5 Aus seiner Sicht kann nämlich Legitimität in einem demokratischen Rechtsstaat nur noch jenen Sinn verbürgen, der sich methodisch aus der Vernünftigkeit der Verfahren selbst ergibt: Mit dieser prozeduralistischen Rückbindung von Legitimität an Legalität erübrigt sich für Habermas schlichtweg jeder Hinweis auf ein normatives Geltungsvakuum, dass durch irgendeine Identität oder „Sittlichkeit ausgefüllt werden müsste“.6 Die gleichursprüngliche Verschränkung von Recht und Moral, von „Faktizität und Geltung“,7 lässt jede Wertejudikatur überflüssig erscheinen. Jenseits demokratischer Verfahren, so das deliberative Vernunftcredo, lauert nur noch politische Theologie auf Beute.8 Doch auch mit der verfahrensrationalen Einhegung überpositiver Wertbestände sind die zivilgesellschaftlichen Probleme nicht gelöst, die die Problematik des Vorpolitischen aufwirft. Darüber darf die Erledigungsrhetorik von Habermas nicht hinwegtäuschen. Und er selbst gibt sich diesem Anschein auch nicht hin, denn er nimmt in einer eigentümlichen Doppelrolle die Frage nach den „vorpolitischen Grundlagen des Rechtsstaats“ am gleichen Ort wieder auf – so als ob der Zeitdiagnostiker dem Rechtsphilosophen hier zugleich warnend in den Arm fallen müsste: Denn insbesondere in „motivationaler Hinsicht“ bleiben für Habermas eminente Zweifel bestehen:

eine frühe Prognose findet sich bereits bei José Casanova, „The Politics of the Religious Revival“, in: Telos 59 (1984): 3 – 33. 4 Vgl. diesbezüglich: Dietrich Schotte, „Halb blinde Aufklärung? Die Diskussion um die vorpolitischen Grundlagen des Politischen in der Aufklärung“, in: Albrecht Beutel, Martha Nooke (Hrsg.), Religion und Aufklärung, Tübingen 2016: 115 – 132. 5 Jürgen Habermas, „Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats?“, in: ders., Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg/ Br. 2005: 15 – 37; hier: 28. 6 Ebd.: 20. 7 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Beiträge zur Demokratietheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 1992; vgl. dazu auch die instruktiven Beiträge in dem Sammelband von Peter Koller, Christian Hiebaum (Hrsg.), Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung, Berlin 2016. 8 Jürgen Habermas, „,Das Politische‘ – Der vernünftige Sinn eines zweifelhaften Erbstücks der Politischen Theologie“, in: Eduardo Mendieta, Jonathan VanAntwerpen (Hrsg.), Religion und Öffentlichkeit, Berlin 2012: 28 – 52.

Überlegungen im Anschluss an Kant und Habermas

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„Die normativen Bestandsvoraussetzungen des demokratischen Verfassungsstaates sind nämlich in Ansehung der Rolle von Staatsbürgern, die sich als Autoren des Rechts verstehen, anspruchsvoller als im Hinblick auf die Rolle von Gesellschaftsbürgern, die Adressaten des Rechts sind. Von den Rechtsadressaten wird nur erwartet, dass sie bei der Wahrnehmung ihrer subjektiven Freiheiten (und Ansprüche) die gesetzlichen Grenzen nicht überschreiten. Andes als mit dem Gehorsam gegenüber zwingenden Freiheitsgesetzen verhält es sich mit den Motivationen und Einstellungen, die von Staatsbürgern in der Rolle demokratischer Mitgesetzgeber erwartet werden. Diese sollen ihre Kommunikations- und Teilnahmerechte aktiv, und zwar nicht nur im wohlverstandenen Eigeninteresse, sondern auch gemeinwohlorientiert wahrnehmen.“9

Staatsbürgerliche Partizipation verlangt also nach einer demokratischen Identität, die, will sie als politische gelten, sich eben nicht nur ausschließlich über fundamentale Rechtsprinzipien wie Demokratie, Gleichheit und Menschenrechte definieren lässt; vielmehr ist politische Identität immer auch eingebettet in ein ziviles Ethos aus historischen, religiösen und kulturellen Traditionen bzw. „Lebensformen“,10 welche unsere Identifikation mit dem demokratischen Rechtsstaat zum Ausdruck bringen: „Deshalb sind politische Tugenden, auch wenn sie nur in kleiner Münze ,erhoben‘ werden, für den Bestand einer Demokratie wesentlich. Sie sind Sache der Sozialisation und der Eingewöhnung in die Praktiken und Denkweisen einer freiheitlichen politischen Kultur. Der Staatsbürgerstatus ist gewissermaßen in eine Zivilgesellschaft eingebettet, die aus spontanen, wenn Sie wollen ,vorpolitischen‘ (Hervorhebung MK) Quellen lebt.“11

Auf diesen rechtsstaatlich überschießenden, wertrationalen „Legitimitätsglauben“ (Max Weber12) kommt es also an, ohne den eine lebendige demokratische Kultur nicht floriert. Liberalismus und Ethos, Freiheit und Identität sind somit zwei Seiten einer Medaille – und übertragen auf das Modell eines demokratischen 9

Habermas, „Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?“, 22. In einer etwas forscheren Formulierung spricht Habermas einmal von „entgegenkommenden Lebensformen“, auf die die Vernunft bei der Umsetzung ihrer postmetaphysischen Erkenntnisse angewiesen bleibe; vgl. Jürgen Habermas, „Treffen Hegels Einwände auch auf die Diskursethik zu?“, in: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991: 9 – 30; hier: 29. 11 Ebd.: 23. – Eine eigenständige Behandlung des Vorpolitischen lässt Martin Breul in seinem Aufsatz über „Demokratische Identität zwischen politischer Legitimität und den vorpolitischen Grundlagen des Staates“ (in: Saskia Wendel (Hrsg.), Was ist und wie entsteht demokratische Identität?, Göttingen 2014: 33 – 48) leider vermissen: Er skizziert so etwas wie eine prästabilierte Harmonie zwischen deliberativer Demokratie und ethischer Motivation, die er im Begriff der Disposition zusammenfasst. Darunter versteht Breul wiederum die Bereitschaft zur aktiven demokratischen Partizipation unter Bedingungen ethischer Verschiedenheit. Wie diese Disposition aber selbst zu Stande kommen soll, politisch, moralisch oder ethisch, lässt Breul offen. 12 „Tatsächlich findet die Orientierung des Handelns an einer Ordnung naturgemäß bei den Beteiligten aus sehr verschiedenen Motiven statt. Aber der Umstand, daß neben den anderen Motiven die Ordnung mindestens einen Teil der Handelnden auch als vorbildlich und verbindlich und also geltendsollend vorschwebt, steigert naturgemäß die Chance, daß das Handeln an ihr orientiert wird.“ Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie [1922], besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen 51972: 16. 10

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Verfassungsstaates bedeutet das, dass der kognitive Gehalt moralischer Grundrechte auf die Vermittlung durch eine starke politische Identität angewiesen bleibt. In der Tradition des Zivilrepublikanismus – deren eindrucksvolle Ahnengalerie immerhin von Aristoteles über Tocqueville bis hin zu Hannah Arendt reicht – sind deshalb Werte wie Vertrauen und Solidarität immer wieder als unverzichtbarer Mehrwert einer humanistischen Theorie des Politischen angesehen worden. Und auch für Habermas ist die Frage ganz und gar nicht trivial, ob unter rechtsstaatlichen Bedingungen der Verfahrenslegalität ein moralisch-praktischer Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit möglich ist. Denn er selbst weiß nur zu genau, dass staatsbürgerliche Solidarität den Bürgern nur „angesonnen“ werden dürfe: „Das verlangt einen kostspieligeren Motivationsaufwand, der legal nicht erzwungen werden kann. Beispielsweise wäre eine Rechtspflicht zur Wahlbeteiligung im demokratischen Rechtsstaat ebenso ein Fremdkörper wie verordnete Solidarität.“13

Damit das Volk souverän bleibt, muss es also in einer Volkssouveränität seine politische Identität selbst ausbilden. Denn anders als im vorrevolutionären Europa geht es hier um ein Volk, das sich einen Willen zuschreibt, sich berät und an den gemeinschaftlich gefundenen politischen Lösungen teilhat. Aus diesem personalen Charakter der Demokratie – die ideengeschichtlich auf die volonté générale Rousseaus zurückgeht – ergeben sich nun Legitimationsfragen, die zu stellen in vormodernen Staatsformen unüblich waren: Während in den Konstellationen des Ancien Régime das Volk eine amorphe „Menge“ von bloßen Untertanen darstellte (so etwa bei Hobbes), die im Moment des Vertragsschlusses sich politisch im Körper des Leviathans wieder zerstreute, geht es in den Demokratien der Gegenwart vor allem um den Staat als politischen Selbstausdruck seiner Bürger. ,Legitim‘ ist ein Staat erst dann, wenn sich seine Bürger als freie Subjekte mit ihm gemein machen, d. h. sich mit ihm identifizieren können. Der Staat kann ihre Freiheit paradoxerweise nur schützen, insofern er zugleich weiß, dass er nicht der letzte Wolf, sondern der erste Bürger ist. Mit anderen Worten: Freie Gesellschaften erfordern ein Höchstmaß an Engagement, Solidarität und gegenseitiges Vertrauen. Sie müssen für sich selbst bestimmen, was für die Ausbildung ihrer politischen Identität wichtig ist. Sie bilden keine autoritären Strukturen ab. Und das setzt wiederum eine Art performativen Gemeinsinn voraus, der in den zivilgesellschaftlichen Willensbildungsprozessen und politischen Verfahren immer wieder mitgedacht werden muss.14 Das ist nun genau der Punkt, an dem Habermas seine Beschäftigung mit Böckenförde wieder aufnimmt.15 Denn die Reflexion auf den sozio-moralischen Mehrwert 13

Habermas, „Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?“, 22 f. Zu diesen Überlegungen vgl. auch Charles Taylor, „Für eine grundlegende Neubestimmung des Säkularismus“, in: Mendieta/Antwerpen (Hrsg.), Religion und Öffentlichkeit, 53 – 88; insbes. 65 – 70. 15 Vgl. dazu auch: Jean-Francois Kervégan, „Unsittliche Sittlichkeit? Überlegungen zum Böckenförde-Theorem und seine kritische Übernahme bei Habermas und Honneth“, in: Pirmin Stekeler-Weithofer, Benno Zabel (Hrsg.), Philosophie der Republik, Tübingen 2018: 367 – 385; hier: 369 – 374. 14

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des Liberalismus ist in der Demokratietheorie als „Böckenförde-Paradox“ längst zu einem bleibenden Topos geworden: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“16 Inzwischen ist die Legende dieses Satzes selbst schon legendär – wohl auch, weil der katholische Staatsrechtler Böckenförde mit dieser Formulierung ein zeitlos bestechendes Bild für das Freiheitsrisiko des modernen Liberalismus gefunden hat. Im Unterschied etwa zum leviathanesken Kontraktualismus, der Legitimität mit Macht und Autorität legiert,17 versteht Böckenförde unter politischer Säkularisierung die Herausbildung eines liberalen Rechtsstaats, dessen Souveränität nicht ohne Verletzbarkeit zu denken ist. Denn damit dieser die individuellen Freiheitsspielräume seiner Bürger schützen kann, muss er zugleich darauf verzichten, das Worumwillen ihrer individuellen, sozialen und politischen Existenz selbst zu bestimmen. Das macht ihn zwar krisenanfällig, doch gehört es eben zur Souveränität des demokratischen Rechtstaats dazu, dass er die Herausbildung eines ihn tragenden und stützenden Wertekonsenses den Kräften der Zivilgesellschaft anvertraut. Böckenförde macht damit klar, dass die rechtstaatliche Ordnung ethisch-motivational stets aus ,zweiter‘ Hand lebt, weil die immanenten Erhaltungsbedingungen ihrer Freiheit- und Rechtskultur nur außerhalb der politischen Ordnung selbst erzeugt werden können. Jeder Versuch, die aus der sittlichen Rationalität unserer Lebenswelt erwachsenen Mentalitäten und gemeinsinnorientierten Einstellungen institutionell erzwingen und so die vorgängigen Ethos-Bestände der Gesellschaft auf Dauer stellen zu wollen, würde die unverfügbaren Freiheitsgrundlagen des Rechtsstaats ,jakobinistisch‘ verkehren. Daher muss dieser tatsächlich auf Macht verzichten, um die Macht seiner Bürger symbolisch repräsentieren zu können: „Das ist das große Wagnis, der er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwangs und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.18

16 Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ [1967], in: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1991: 92 – 114; hier: 113. – Einen guten Überblick über den rechtsphilosophischen Denkweg Böckenfördes bietet der Sammelband von Reinhard Mehring und Martin Otto (Hrsg.), Voraussetzungen und Garantien des Staates. Ernst-Wolfgang Böckenfördes Staatsverständnis, Baden-Baden 2014; 17 Vgl. dazu Michael Kühnlein, „Desäkularisierung und vorpolitische Legitimitätsanalytik: Zur ,Wiederkehr der Religion‘ bei Thomas Hobbes“, in: ders. (Hrsg.), Das Politische und das Vorpolitische. Über die Wertgrundlagen der Demokratie, Baden-Baden 2014: 559 – 587; hier: 575 ff. 18 Böckenförde, „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, 112 f.

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Mit der Überlegung, dass die Erhaltungsvoraussetzungen des liberalen Rechtsstaats außerhalb seiner Einflusssphäre zu suchen sind, hat Böckenförde der Problematik des Vorpolitischen eine zeitlos aktuelle Gestalt gegeben. Denn im Medium vorpolitischer Theoriebildung visibilisiert sich nach Böckenförde erst jene „Entzweiung“, „aus der sich die staatliche Freiheit konstituiert“.19 Würde diese Dialektik der Nicht-Identität in die Positivität gesetzten Rechts zurückgenommen werden, wäre die dadurch erzielte Freiheit allenfalls eine äußerliche. Sie wäre nur ein identitäres Abbild jener Macht, in die sich politische Souveränität dann verkehrte, wenn eine Ordnung sich ausschließlich über Zwang definierte. Somit findet der Rechtsstaat an der konkreten Sittlichkeit der Lebenswelt seine ethische Grenze, die er nur um den Preis seiner Totalmachung überschreiten kann. Es ist also gerade die Anerkennung der Abwesenheit des letzten Grundes, die aus der politischen Souveränität erst eine demokratische Praktik macht. Diese konstitutive Leerstelle im modernen Verfassungsstaat lässt sich nach Böckenförde nicht mehr beliebig füllen – weder kann Legitimität staatsideologisch verordnet, durch eine aristotelische Polis-Tradition wiederbelebt oder mittels eines objektiven Wertesystems festgeschrieben werden.20 Das Vorpolitische zeigt sich somit bei Böckenförde erst dort, wo zwischen Rechtsstaat und Zivilgesellschaft eine konstitutive Differenz bestehen bleibt.21 Denn die Gewährleistung der individuellen Freiheit vermag sich selbst nicht anzuleiten, ohne „ein einigendes Band, das dieser Freiheit vorausliegt“.22 Das macht diese Reflexionsfigur schließlich auch für Habermas in seiner Rechtsphilosophie anschlussfähig, wie sein Hinweis auf die Nötigkeit eines solidarischen Staatsbürgertums beweist. Gleichwohl zieht er aber der Problematik des Vorpolitischen enge Grenzen, weil aus seiner Sicht eben nicht der Eindruck erweckt werden dürfe, als ob „eine vollständig positivierte Verfassungsordnung für die kognitive Absicherung ihrer Geltungsgrundlagen die Religion oder irgendeine andere ,haltende Macht‘ nötig“23 habe: Vielmehr ist es so, „dass sich Rechtsordnungen selbstbezüglich aus demokratisch erzeugten Rechtsverfahren allein legitimieren“ lassen.24 Ein Fundus an vorpolitisch-religiösen Einstellungen, eingespielten Ethos-Formen oder eines spezifisch national getrimmten Gemeinsinns ist hierfür nicht nötig. Mit anderen Worten: Das Vorpolitische ist hier nicht mehr, wie bei Böckenförde, eine Art Grenzbegriff der politischen Bescheidung, der die Verletzbarkeit des politischen Körpers symbolisiert, sondern umgekehrt ein politisch selbst erzeugter Mehrwert, der aus den demokratischen Praktiken direkt entspringt und von dort aus seine sozio-kultu19

Ebd.: 113. Ebd. 21 Vgl. in Bezug auf Böckenförde: Tine Stein, „Vorpolitische Grundlagen des liberalen Rechtsstaats – oder: Braucht der Staat Religion?“, in: Katharina Ebner, Tosein Kraneis u. a. (Hrsg.), Staat und Religion. Neue Anfragen ein eine vermeintlich eingespielte Beziehung, Tübingen 2014: 25 – 43. 22 Böckenförde, „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, 111. 23 Habermas, „Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?“, 20. 24 Ebd. 20

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relle Dynamik in die Gesellschaften hinein entfaltet.25 In dieser Hinsicht bleibt für Habermas im modernen Verfassungsstaat „kein Herrschaftssubjekt“ mehr übrig, das nun „durch eine ebenso substantielle Volkssouveränität ausgefüllt werden müsste“.26 Vielmehr muss sich alles Substanzielle sprachlich verflüssigen lassen. Mit dieser prozeduralen Umdeutung der transzendental-hermeneutischen Geltungskraft des Vorpolitischen in eine diskursiv reproduzierbare Wertequelle bleibt für Habermas der intrinsische Zusammenhang zwischen Rechtsstaat und Demokratie gewahrt: „Der demokratisch verfasste Rechtsstaat gewährleistet ja nicht nur negative Freiheiten für die um ihr eigenes Wohl besorgten Gesellschaftsbürger. Mit der Entbindung kommunikativer Freiheiten mobilisiert er auch die Teilnahme des Staatsbürgers am öffentlichen Streit über Themen, die alle gemeinsam betreffen. Das vermisste ,einigende Band‘ ist der demokratische Prozess selbst.“27

Habermas’ Bemühung, die Problematik des Vorpolitischen klein zu halten,28 entspringt indes selbst ein Stück weit aus der unkritischen Übernahme eines sich nachmetaphysisch aufspreizenden politischen Republikanismus. Denn ein rechtsphilosophisches Projekt, das sich in diesen säkularen Traditionszusammenhängen bewegt, um zu den normativen Geltungsgrundlagen eines demokratischen Verfassungsstaates vorstoßen zu wollen, muss schon analytisch die tugendethische Pointe des Vorpolitischen verfehlen. Ein Blick auf den von Habermas ins Spiel gebrachten „Kantischen Republikanismus“29 vermag hier Klarheit zu verschaffen. I. Der ,teuflische‘ Republikanismus Kants Fasst man den bisherigen Stand der Dinge zusammen, so kann man sagen, dass die Frage nach den sozio-moralischen Erhaltungsbedingungen der liberalen Demokratie sowohl Habermas als auch Böckenförde politisch umtreibt. Beide stimmen darin überein, dass zwischen individueller Freiheit und demokratischer Herrschaft ein bürgerlich-

25 „Das Beispiel einer selbstkritischen […] ,Gedächtnispolitik‘ zeigt, wie sich verfassungspatriotische Bindungen im Medium der Politik selbst bilden und erneuern können. Entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis heißt ,Verfassungspatriotismus‘, dass sich Bürger die Prinzipien der Verfassung nicht allein in ihrem abstrakten Gehalt, sondern konkret aus dem geschichtlichen Kontext ihrer jeweils eigenen Geschichte zu eigen machen.“ Ebd.: 23 f. 26 Ebd.: 20. 27 Ebd.: 23 f. 28 „Im Weiteren gehe ich davon aus, dass die Verfassung des liberalen Staates ihren Legitimationsbedarf selbstgenügsam also aus den kognitiven Beständen eines von religiösen und metaphysischen Überlieferungen unabhängigen Argumentationshaushaltes bestreiten kann.“ Ebd.: 22. 29 Jürgen Habermas, „ ,Vernünftig‘ versus ,wahr‘ – oder die Moral der Weltbilder“, in: Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a. M. 1996: 95 – 127; hier: 126.

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motivationaler Überhang besteht.30 Solidarität entsteht, in den Worten von Habermas, erst dann, „wenn die Gerechtigkeitsprinzipien in das dichtere Geflecht kultureller Wertorientierungen Eingang finden“.31 Doch in der Frage, wie sich eine politische Identität unter republikanischen Zivilbedingungen erhalten und verstetigen lässt, gehen beide Denker unterschiedliche Wege. Für Böckenförde scheint der liberale Staat auf tugendethischen Freiheitsvoraussetzungen aufzuruhen, die außerhalb seiner selbst gebildet werden müssen, um den normativen Austausch zwischen freiheitsverbürgenden Institutionen und demokratischen Einstellungen in Schwung zu halten. Habermas indes favorisiert eine ethisch bescheidenere Lösung der Identitätsbildung: Er hält den Mehrwert einer freiheitlich-politischen Kultur für prozedural erzeugbar. Die Legitimität einer Rechtsordnung soll sich hier quasi von selbst einstellen können; sie ist nicht mehr substanzialistisch den Diskursen vorgelagert, sondern wird nunmehr über demokratische Rechtsverfahren gesteuert. Jenseits rechtlicher Konstituierungsprozesse gibt es deshalb für Habermas auch keine nennenswerte politische Gewalt mehr. Mit dieser prozeduralistischen Umdeutung des Zusammenhangs von Freiheit und Herrschaft, von privater und politischer Autonomie formuliert Habermas eine Alternative zum tugendethischen Zivilrepublikanismus, wie er seit Aristoteles, Rousseau, Hegel oder Arendt gelehrt wird. Die Republikfähigkeit des Bürgers, d. h. seine demokratische Zuverlässigkeit, soll auch dort möglich sein, wo sie durch konstituierende Verfahren der Rechtssetzung selbst erzeugt wird.32 Damit stellt Habermas seine tugendkritischen Überlegungen selbst in einen Traditionszusammenhang, der bis auf Kants „Volk-von-Teufeln-Republikanismus“ zurückreicht. Zwar ist Habermas weit davon entfernt, eine solche Ordnung als moralisch bzw. intrinsisch vorzugswürdig anzusehen;33 doch gerade ihre nüchterne Funktionalität macht sie in seinen Augen praktikabel für eine societas imperfecta. Kant und Habermas wehren sich nämlich gleichermaßen gegen eine ethisch-substanzialistische Vereinnahmung der Freiheit in einem Kontext, wo es rechtlich-politisch nur auf die Unabhängigkeit von der Willkür anderer und nicht auf die eigene Tugendhaftigkeit anzukommen scheint.34 So verwirft Kant in diesem Zusammenhang deutlich die Vorstellung einer durch institutionelle Mittel des Rechtsstaats herbeizuführenden Ethisierung des Politischen; nicht Tugend, sondern Interesse35 liegt nach Kant dem Prozess der Republikanisierung voraus: 30 Ich betone dies so ausdrücklich, weil es einflussreiche liberalistische Theorien gibt, die Demokratie und Tugend vollständig voneinander entkoppeln; vgl. dazu Isaiah Berlin, „Zwei Freiheitsbegriffe“, in: Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt a. M. 1995: 197 – 256; hier: 210. 31 Habermas, „Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?“, 25. 32 Vgl. zu diesem Punkt: Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechtsund demokratietheoretische Studien im Anschluß an Kant, Frankfurt a. M. 1991: 176 – 190. 33 Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 1996: 119 f. 34 Vgl. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Werkausgabe Bd. VIII, Frankfurt a. M. 1977: 345; Jürgen Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 31989: 565 ff. 35 Dazu klärend: Herfried Münkler, „Politische Tugend. Bedarf die Demokratie einer soziomoralischen Grundlegung?“, in: ders., (Hrsg.), Die Chancen der Freiheit – Grundprobleme

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„In einem […] politisch gemeinen Wesen befinden sich alle politischen Bürger, als solche doch in einem ethischen Naturzustande, und sind berechtigt, auch darin zu bleiben; denn daß jenes seine Bürger zwingen sollte, in ein ethisches gemeines Wesen zu treten, wäre ein Widerspruch (in adiecto); weil das letztere schon in seinem Begriffe die Zwangsfreiheit bei sich führt.“36

Republikfähigkeit impliziert also nach Kant kein ethisch gemeines Wesen, sondern für die politische Disposition reicht eine partikulare Gesinnung völlig aus. Nicht der Engel, sondern der neigungssüchtige Trittbrettfahrer bildet die Keimzelle republikanischer Ordnungspolitik. Denn sie muss auch für endliche Wesen zu organisieren sein – ein geradezu ,teuflischer‘ Auftrag für die Etablierung einer guten Staatsverfassung, wie Kant an prominenter Stelle meint: „Nun ist die republikanische Verfassung die einzige, welche dem Recht der Menschen vollkommen angemessen, aber auch die schwerste zu stiften, vielmehr noch zu erhalten ist, dermaßen, daß viele behaupten, es müsse ein Staat von Engeln sein, weil Menschen mit ihren selbstsüchtigen Neigungen einer Verfassung von so sublimer Form nicht fähig wären. Aber nun kommt die Natur dem verehrten, aber zur Praxis ohnmächtigen allgemeinen, in der Vernunft gegründeten Willen, und zwar gerade durch jene selbstsüchtige Neigungen, zu Hülfe, so, daß es nur auf eine gute Organisation des Staats ankommt (die allerdings im Vermögen der Menschen ist), jener ihre Kräfte so gegen einander zu richten, daß eine die anderen in ihrer zerstörerischen Wirkung aufhält, oder diese aufhebt: so daß der Erfolg für die Vernunft so ausfällt, als wenn beide gar nicht da wären, und so der Mensch, wenn gleich nicht ein moralisch-guter Mensch, dennoch ein guter Bürger zu sein gezwungen wird. Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar und lautet so: ,Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber in Geheim sich davon auszunehmen genötigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, also ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten.‘ Ein solches Problem muß auflöslich sein.“37

der Demokratie, München 1992: 36 f.; vgl. ferner: Wolfgang Kersting, „Freiheit und Tugend“, in: Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend. Abhandlungen zur praktischen Philosophie der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1997: 436 – 458. 36 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Werkausgabe Bd. VIII: 754. 37 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Werkausgabe Bd, XI: 191 – 259; hier: 223 f.; vgl. die dazu einschlägige Literatur: Hendrik Klinge, Die moralische Stufenleiter. Kant über Teufel, Menschen, Engel und Gott, Berlin u. a. 2018: 173 – 177; Peter Niesen, „Volk-von-Teufeln-Republikanismus. Zur Frage nach den moralischen Ressourcen der liberalen Demokratie“, in: Lutz Wingert, Klaus Günther (Hrsg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit, Frankfurt a. M. 2001: 568 – 604; Hauke Brunkhorst, „Die Kontingenz des Staates“, in: Wolfgang Kersting (Hrsg.), Gerechtigkeit als Tausch? Auseinandersetzungen mit der politischen Philosophie Otfried Höffes, Frankfurt a. M. 1997: 225 – 242; Bernd Ludwig, „Will die Natur unwiderstehlich die Republik?“, in: Kant-Studien 88 (1997): 218 – 228; und schließlich: Otfried Höffe, Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln, Stuttgart 1988: 56 – 78.

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Anders etwa als es der Zivilrepublikanismus vorsieht, reicht also eine ,teuflische‘ Gesinnung – und das meint hier die vollständige Ersetzung tugendethischer Motive durch interessengeleitete Einstellungen – für eine bürgerlich-aktive Praxis aus. Selbst ein Mensch in Teufelsgestalt würde den Staat republikanisch organisieren wollen und wäre hinreichend motiviert, den Friedenszustand zu erhalten, allein schon um Leben und Eigentum zu sichern. Kant kehrt damit die Bedingungsvektoren des Tugendrepublikanismus staatspragmatisch um: Nicht gemeinwohlorientierte Identitätspolitiken sichern den Freiheitsbestand der Staatserrichtung, sondern umgekehrt wird erst durch deren republikanische Organisation jener Rahmen gesetzt, unter denen „die gute moralische Bildung eines Volkes“ vorankommen kann.38 Erst die Republik, dann die moralische Bildung! Eine Umkehrung dieser Kausalität hält Kant indes für fatal: „Weh dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte! Denn er würde dadurch nicht allein gerade das Gegenteil der ethischen bewirken, sondern auch seine politische untergraben und unsicher machen.“39 II. Wenn der Gemeinsinn verloren geht Habermas’ verfahrensrechtlicher Republikanismus ist also insofern kantianisch zu nennen, als dass er mit Kant die ethischen Zurückhaltungsprämissen des Politischen teilt.40 Doch selbst wenn man das anfängliche ,Teufelskalkül‘ des Republikanismus akzeptiert, so ist damit noch nicht in gleicher Weise über die Frage der Erhaltungsbedingungen der damit einhergehenden Freiheit entschieden.41 Teuflische Gesinnung und republikanischer Geist mögen eine Anfangskonkordanz besitzen, doch die analytischen Bedingungen über die Möglichkeit der Staatserrichtung sagen nichts über die sittlichen Bedingungen der Freiheitsreproduktion aus.42 Zwischen der Freiheit des Staates und der Freiheit seiner Bürger klafft eine nicht nur me38

Kant, Zum ewigen Frieden, 224. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 754. 40 Vgl. Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats?“, 26, wo es paradigmatisch heißt, dass „die säkulare Natur des demokratischen Verfassungsstaates keine dem politischen System innewohnende, also interne Schwäche“ aufweise. 41 Vgl. dazu die Arbeiten von Axel Honneth, Das Recht der Freiheit, Frankfurt a. M. 2011; ders., „Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie, in: Das Andere der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2000: 11 – 69. 42 Dazu hat Max Weber bereits entscheidende Einsichten formuliert: „Tatsächlich findet die Orientierung des Handelns an einer Ordnung naturgemäß bei den Beteiligten aus sehr verschiedenen Motiven statt. Aber der Umstand, daß neben den anderen Motiven die Ordnung mindestens einem Teil der Handelnden auch als vorbildlich und verbindlich und also geltendsollend vorschwebt, steigert naturgemäß die Chance, daß das Handeln an ihr orientiert wird. […] Eine aus zweckrationalen Motiven innegehaltene Ordnung ist im allgemeinen weit labiler als die lediglich kraft Sitte, infolge der Eingelebtheit eines Verhaltens, erfolgende Orientierung an dieser, die von allen häufigste Art der inneren Haltung. Aber sie noch ungleich labiler als eine mit Prestige und Vorbildlichkeit und Verbindlichkeit, wir wollen sagen: der ,Legitimität‘ auftretende.“ (In: Wirtschaft und Gesellschaft, 16.) 39

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taphorische Lücke, die auf Dauer nicht pragmatisch, sondern allenfalls durch normative Selbstorganisation, also zivilgesellschaftlich, überwunden werden kann. Diese Kraft zur bürgerlichen Selbstverpflichtung kann eine ,Trittbrettfahrer-Mentalität‘ allein nicht verlässlich bereitstellen. Aus Sicht der konservativen politischen Theorie ist also die Umwandlung der ,teuflischen‘ Gesinnung in „handlungsleitende Orientierungen“43 das normativ erklärungsbedürftige Schlüsselphänomen eines, wenn man so will, ,charismatischen‘ Republikanismus. Seine sozio-moralische Grundverankerung zeigt sich nämlich nicht am Anfang des fiktiven Staatserrichtungsspiels, sondern nur im existenziellen Momentum krisenhafter Bedrohungslagen: „Woraus lebt der Staat, worin findet er die ihn tragende, homogenitätsverbürgende Kraft und die inneren Regulierungskräfte der Freiheit, deren er bedarf, nachdem die Bindungskraft aus der Religion für ihn nicht mehr existentiell ist und sein kann? […] Lässt sich Sittlichkeit innerweltlich, säkular begründen und erhalten, kann sich der Staat auf eine ,natürliche Moral‘ erbauen? Wenn nicht, kann er – unabhängig von dem allen – aus der Erfüllung der eudämonistischen Lebenserwartung seiner Bürger leben? […] Wieweit können staatlich geeinte Völker allein aus der Gewährleistung der Freiheit des einzelnen leben ohne ein einigendes Band, das dieser Freiheit vorausliegt?“44

Das sind Fragen, die auch Habermas nicht unberührt lassen. Doch die rechtsphilosophische Umstellung von Legitimität auf Legalität zwingt ihn in der Folge dazu, bei diesen Problemen ein demokratietheoretisches ,Outsourcing‘ zu betreiben. Für die (offensichtlichen) motivationalen Schwächen des demokratischen Verfassungsstaates will Habermas nämlich viel eher „externe Gründe“ verantwortlich machen: „Eine entgleisende Modernisierung der Gesellschaft im ganzen könnte sehr wohl das demokratische Band mürbe machen und die Art von Solidarität aufzehren, auf die der demokratische Staat, ohne sie rechtlich erzwingen zu können, angewiesen ist. Dann würde genau jene Konstellation eintreten, die Böckenförde im Auge hat: die Verwandlung der Bürger wohlhabender und friedlicher liberaler Gesellschaften in vereinzelte, selbstinteressiert handelnde Monaden, die ihre subjektiven Rechte nur noch wie Waffen gegeneinander richten. Evidenzen für ein solches Abbröckeln der staatsbürgerlichen Solidarität zeigen sich im größeren Zusammenhang einer politisch unbeherrschten Dynamik von Weltwirtschaft und Weltgesellschaft.“45 43

Zu dieser Formulierung vgl. Münkler, „Politische Tugend“, 29. Böckenförde, „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, 112. – Böckenfördes Verteidigung des Homogenitätsbegriffs ist zweifellos Quelle zahlreicher Missverständnisse gewesen. Ich kann das hier aus Platzgründen nicht weiter ausführen, doch der Ordnung halber sei der einfache Hinweis erlaubt, dass Böckenförde von Homogenität nicht im Sinne einer „gesteigerten Identität“ spricht, wie das etwa bei Carl Schmitt zu verorten wäre (vgl. Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus [21926], Berlin 1996: 16), sondern er meint hier so etwas wie eine „relative Homogenität“ im Sinne von Hermann Heller, also einen „sozial-psychologischen Zustand, in welchem die stets vorhandenen Gegensätze und Interessenkämpfe gebunden erscheinen durch ein Wir-Bewußtsein und -gefühl, durch einen sich aktualisierenden Gemeinschaftswillen“. Vgl. Hermann Heller, „Politische Demokratie und soziale Homogenität“ [1928], in: Gesammelte Schriften Band 2: Recht, Staat, Macht, Tübingen 1992: 428. 45 Habermas, „Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats?“, 26. 44

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Die prozedurale Umstellung von Legitimität auf Legalität bedingt also bei Habermas eine politisch motivierte Verdrängung des Vorpolitischen nach außen: Es sind jetzt vor allem außerpolitische Zentripetalkräfte einer globalisierten Ökonomie und Politik, die sich desintegrierend auf das politische Kernsystem des Republikanismus auswirken.46 Die konsequente Prozeduralisierung des Ethischen auf der einen Seite und die gleichzeitige Anerkennung der externen Störanfälligkeit des republikanischen Systems auf der anderen Seite führt somit bei Habermas in wenigstens zwei Hinsichten zu einer sprachlich-semantisch auffälligen Umbuchung des Begriffs des Vorpolitischen: Die Legitimitätsfrage wird jetzt auf das Bedeutungsfeld des ,Post-Säkularen‘ übertragen, das seine sozio-moralische Grundverankerung nicht aus einer identitären metaphysischen Vorgängigkeit des bonum commune, sondern aus der Gleichzeitigkeit seiner diskursiven Übersetzbarkeit schöpft; damit ist bei Habermas die Hoffnung auf eine Urbanisierung der säkularen Vernunft verbunden, die sie weniger anfällig für ökonomisch-administrative Entgleitungsmanifestationen machen soll.47 Diesbezüglich sieht Habermas den „unverfänglichen Sinn“48 des Vorpolitischen also in gegenseitigen Lernprozessen angesiedelt, die diskursiv verfasst sind und sich aus der autoritären Umklammerung eines identitären Denkens emanzipatorisch lösen. Doch selbst mit dieser Umbuchung bleibt Habermas der Ordnungsagenda des Vorpolitischen zumindest negatorisch weiterhin verpflichtet. III. Schlussfolgerungen Was kann man nun aus Habermas’ Kritik am Vorpolitischen und dessen Umbuchung auf eine post-säkulare Problemkonstellation für die politische Moderne selbst lernen? Zunächst einmal kann objektiv festgehalten werden, dass die Überlegungen zum Vorpolitischen nicht per se obskurantistischen Quellen der Affekthegung entspringen müssen;49 vielmehr haben sie einen festen Ort in der Demokratietheorie, 46

Vgl. ebd.: 27. In diesem Sinne betont auch das Post-Säkulare – wie das Vorpolitische – das konservative Momentum, „mit allen kulturellen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern speisen“. Ebd.: 32 f. Vgl. dazu aus religionsphilosophischer Sicht: Michael Kühnlein, „Zwischen Vernunftreligion und Existenztheologie: Zum postsäkularen Denken von Jürgen Habermas“, in: Theologie und Philosophie 84 (2009): 524 – 546. 48 Habermas, „Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats?“, 32. 49 Vgl. exemplarisch: Herfried Münkler, „Einleitung: Was sind vorpolitische Grundlagen politischer Ordnung?“, in: ders. (Hrsg.), Bürgertugend und Bürgerreligion. Debatten über die vorpolitischen Grundlagen politischer Ordnung, Baden-Baden 1996: 7 – 11; dazu: Jens Hacke, „Bürgertugend und sozio-moralische Potentiale in der Politik. Überlegungen zu Herfried Münklers ,republikanischem Liberalismus‘“, in: Harald Bluhm, Karsten Fischer u. a. (Hrsg.), Ideenpolitik. Geschichtliche Konstellationen und gegenwärtige Konflikte, Berlin 2011: 587 – 605; schließlich: Andreas Reckwitz, „Die Politik der Moderne aus kulturtheoretischer Perspektive: Vorpolitische Sinnhorizonte des Politischen, symbolische Antagonismen und das Regime der Gouvernementalität“, in: Birgit Schwelling (Hrsg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien – Methoden – Forschungsperspektiven, Wiesbaden 2004: 33 – 56. 47

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wie ein Blick in die Ideengeschichte lehrt: Versuche nämlich, das Vorpolitische kontraktualistisch domestizieren zu wollen, endeten häufig in einen Totalverlust der Freiheit: Denn entweder wurde das politisch verfügbare Gut so weit auf das individuelle Interesse am Selbsterhalt heruntergekürzt, dass jede vor-politisch sich einspielende Beziehung zu Macht und Souveränität zu einer akzidentellen Privatangelegenheit wurde (Hobbes); oder aber das Vorpolitische radikalisierte sich unter Bedingungen einer Tugendrepublik zu einem permanenten Öffentlichkeitsmandat der Volonté générale – allerdings mit der misslichen Konsequenz, dass dann Freiheit von einer ins Gemeinwohl prolongierten Selbstaufgabe nicht mehr sinnvoll zu unterscheiden war (Rousseau). Externalisierungs- und Internalisierungsstrategien bringen also im Umgang mit dem Vorpolitischen selbst nur souveränitätstheoretische Absolutismen hervor, die in ihren identitären Manifestationen keine Freiheit innerhalb des Leviathans und keine Freiheit außerhalb einer Tugendrepublik erkennen lassen. Die Frage nach deren sittlichen Bestandserhalt bleibt somit der Herrschafts- und Ordnungsagenda bis in die Gegenwart hinein reflexiv verbunden.50 Mit diesen Überlegungen möchte ich den Ort des Vorpolitischen in der politischen Theorie annäherungsweise wie folgt bestimmen: Erstens: Das Vorpolitische ist Sinn, nicht Grund der politischen Ordnung. Zweitens: Als Sinn ist es narrativ verfasst. Drittens: Ohne diesen Sinn schrumpfte politische Ordnung auf eine bloße Technik der Mehrheitsbeschaffung und der Mehrheitsbehauptung zusammen.51 Oder anders ausgedrückt: Das Vorpolitische ist ein Grenzbegriff der politischen Philosophie, das Genese und Geltung, Reichweite und Grenze seines politisch-demokratischen Ausdruckshandelns immer wieder neu bestimmen muss. Die zahlreichen Begriffsgeschichten von Webers Theologie der protestantischen Ökonomie über Troeltschs Theologie der Soziallehren bis hin zu Schmitts Politischer Theologie zeugen in diesem Zusammenhang von der Dynamik vorpolitischer Fragestellungen für die Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften. Das Vorpolitische reklamiert also in der politischen Philosophie einen Stellenwert, der mit der Bedeutung des Dings an sich bzw. mit der des Höchsten Guts in Kants theoretischer und praktischer Philosophie vergleichbar ist.

50 Für moderne Demokratien ergibt sich daraus ein fortwährendes Paradox insofern, als dass „sie in der eigenen Wahrnehmung zwar auf Autonomie und Selbstgesetzgebung beruhen, zu ihrer Begründung und Stabilisierung indes auf Voraussetzungen, Vorstellungen und Ressourcen zurückgreifen, über die sie nicht oder nur bedingt verfügen“. Hans Vorländer, „Demokratie und Transzendenz. Politische Ordnungen zwischen Autonomiebehauptung und Unverfügbarkeitspraktiken“, in: ders. (Hrsg.), Demokratie und Transzendenz. Die Begründung politischer Ordnungen, Bielefeld 2013: 11 – 37; hier: 17. 51 Oder wie es bei Schmitt mit autoritärem Gestus heißt: „Kein politisches System kann mit bloßer Technik oder Machtbehauptung auch nur eine Generation überdauern. Zum Politischen gehört die Idee, weil es keine Politik gibt ohne Autorität und keine Autorität ohne ein Ethos der Überzeugung.“ (Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form [1923], München 21925: 23.

Hannah Arendts Denkwege 1951 bis 1955 Ein Memorandum anlässlich der Veröffentlichung des Bandes „The Modern Challenge to Tradition“ im Rahmen der kritischen Hannah-Arendt-Gesamtausgabe Von Ursula Ludz Abstract This memorandum was inspired by „The Modern Challenge to Tradition: Fragmente eines Buchs,“ i. e., volume 6 of Hannah Arendt, „Complete Works: Critical Edition.“ It proposes to remember the interim phase in Arendt’s intellectual biography between „The Origins of Totalitarianism“ (1951) and „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955). Considering this phase, it argues, Arendt’s publications and posthumous manuscripts from June 1952 to September 1954 collected in the complete-works volume can be read in a way which differs from the one its editors suggest and announce by its title and subtitle. My argument is based on an interpretation of pertinent letters by Arendt as well as a careful reading of documents from her papers. As a result, three trains of thought marking Arendt’s intellectual biography during that interim phase are identified: her endeavor to conceive a political theory of plurality; her attempts to come to terms with the methodological problems of understanding; her evaluation of the history of political thought concerning forms of government.

I. Einleitung Als erster Band der kritischen Hannah-Arendt-Gesamtausgabe ist Band 6 erschienen. Er versammelt unselbständige Veröffentlichungen und vor allem nachgelassene Manuskripte der Autorin aus der Zeit von Juni 1952 bis September 1954, welche die Herausgeber einem nicht verwirklichten Buchprojekt unter dem Titel „The Modern Challenge to Tradition“ zuordnen.1 Der Titel ist in Arendts nachgelassenen Papieren als Untertitel auf einem Manuskript verbürgt, das sie handschriftlich mit der Bemerkung „Preliminary – Palenville 53“ versehen hat; der Obertitel dort lautet: „Karl Marx and the Tradition of Western Political Thought“. Bei diesem nachgelassenen Manuskript also handelt es sich um eine „preliminary“ Niederschrift zu den Gauss Lectures2, zu denen Hannah Arendt mit Brief vom 29. April 1952 an die Princeton 1

Siehe im Literaturverzeichnis Arendt, 2018. Hannah Arendt, LOC Papers: Speeches and Writings File, 1923 – 1975, n.d. / Essays and lectures: „Karl Marx and the Tradition of Western Political Thought“, lectures, Christian Gauss Seminar in Criticism, Princeton University, Princeton, N.J. / First drafts, 1953 (2 of 4 2

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University eingeladen worden war und für die sie, vermutlich erst ein Jahr später in einem Telefongespräch, den genauen Titel festgelegt hatte.3 Auf einem Brief (17. September 1952) von E. B. O. Borgerhoff, der auch die Einladung im Auftrag der Christian Gauss Seminars in Criticism versandt hatte, steht handschriftlich der Titel „Karl Marx and the tradition of political thought“, mit dem Datum May 13, 19534 versehen.5 Soweit bekannt, hielt sich Hannah Arendt mit ihrem Mann, Heinrich Blücher, von Mitte Juli bis Mitte August 1953 in dem in den Catskill Mountains im Staat New York gelegenen Urlaubsort Palenville auf.6 Auf ihn verweist die Inschrift auf dem Manuskript. Von Palenville kehrten die Blüchers nach New York zurück, und gleich anschließend besuchte Arendt alleine Mary McCarthy und ihren damaligen Mann Bowden Broadwater in deren Haus in Wellfleet (Massachusetts).7 Den Titel „The Modern Challenge to Tradition“ erwähnt Arendt für ihre aktuelle Arbeit in einem Brief an Gershom Scholem. Der Brief trägt das Datum 16. August 1953 und die Ortsangabe New York, wohingegen die Herausgeber mitteilen, er sei in Palenville geschrieben worden.8 Unabhängig davon aber ist natürlich ein direkter Zusammenhang mit dem Fragment „Preliminary – Palenville 53“ gegeben. Doch muss gleichzeitig festgestellt werden, dass „The Modern Challenge to Tradition“ als Titel oder Untertitel in keinem der anderen überlieferten Fragmente wieder auftritt, nur noch in einem weiteren privaten Brief von Arendt, ebenfalls unter dem

folders), image 1; Arendt, 2018: 264 und 711 f. Im Einzelnen zu den Gauss Lectures siehe unten Abschnitt III, 2. 3 In ihrer ersten Antwort auf die Einladung (21. Mai 1952) hatte Arendt den voraussichtlichen Titel noch recht allgemein umschrieben: „[…] it will be in connection with my book on totalitarian elements in Marxism.“ 4 Das Datum stimmt mit dem eines Briefes an Karl Jaspers überein, in dem Arendt ihm mitteilt, dass sie in Princeton „über Marx in der Tradition der politischen Philosophie“ sprechen werde (Arendt/Jaspers, 1985: 252). Die Themenstellung „Karl Marx“ allerdings stand schon früher fest, siehe Arendt über „the Marx analysis itself“ im Brief an Henry Allen Moe, Guggenheim Foundation, 29. Januar 1953. Näheres zu diesem Brief, dem Guggenheim-Antrag und -Verlängerungsantrag im dritten Abschnit dieses Memos. – Wann Arendt oder Dritte den Zusatz „Western“ in den Titel eingefügt haben, lässt sich aufgrund der überlieferten Dokumente nicht sagen. Fest steht nur, dass das Fragment „Preliminary – Palenville 53“ (vom Juli/August 1953) ihn bereits enthält. 5 Briefe in den Arendt Papers der Library of Congress, vermutlich unter: Universities and Colleges, 1947 – 1975, n.d. / Princeton University, Princeton, N.J. / Miscellany / 1952 – 1954, was nicht überprüft werden konnte, da „no images display offsite“; hier zitiert nach Kopien und Notizen d. Verf. bei Besuchen in der Manuscript Division der Library of Congress. 6 Arendt, 2018: 712: „from at least 13 July, 1953, until August 16“. 7 Genauere Daten sind nicht bekannt. Doch ein an Blücher am 19. August in Wellfleet geschriebener Brief ist erhalten (Arendt/Blücher, 1996: 327 f.). 8 Arendt/Scholem, 2010: 385. In Arendt, 2018: 712, heißt es, der Brief sei „toward the end of her [Arendt’s] residence“ in Palenville geschrieben.

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Datum 16. August 19539. So ist davon auszugehen, dass es sich wohl eher um eine vorläufige Titelwahl handelt. In der Tat waren Arendts Denkwege in dieser Zeit sehr viel komplexer, als dies durch „The Modern Challenge to Tradition“ mit dem Fokus auf „ein“ Buch angezeigt wird. Um diese These zu erläutern, empfiehlt es sich m. E., nicht nur den Zeitraum Juni 1952 bis September 1954 in Betracht zu ziehen, sondern einen etwas längeren zu berücksichtigen – nämlich die Zeit nach Beendigung und Veröffentlichung von „The Origins of Totalitarianism“ im Herbst 1950 beziehungsweise Februar 1951 bis zum Abschluss der Arbeiten an der deutschen Ausgabe „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ im Jahre 1955. Dazu werden im folgenden Abschnitt dieses Memos briefliche Mitteilungen von Arendt zum eigenen Schaffen unter Berücksichtigung biografischer Daten ausgewertet. In einem dritten Abschnitt sollen die wichtigsten Dokumente aus dieser Zeit, die bei den Hannah Arendt Papers in der Library of Congress aufbewahrt sind, besprochen und schließlich im vierten Abschnitt Arendts Denkwege in dem genannten Zeitraum in Umrissen dargestellt werden. II. Arendts briefliche Mitteilungen zum eigenen Schaffen „Zum ersten Mal seit 1933 werde ich nur [wissenschaftlich] arbeiten“, schreibt Hannah Arendt im August 1952 an Kurt Blumenfeld, nachdem sie mit einem Antrag für eine „The Origins of Totalitarianism“ fortsetzende Studie unter dem Arbeitstitel „The totalitarian elements in Marxism“ ein einjähriges Guggenheim-Stipendium „gewonnen“ hatte.10 Sie fährt fort: „Habe viel vor. Habe gedacht, dass nach den Origins ich nie mehr was zustande bringen werde. Dies aber stimmt nicht.“ 11 Seit Mai 1941 in den USA, hatte Arendt ab 1944 feste Anstellungen, zunächst bei der Conference on Jewish Relations innegehabt, anschließend, 1946 – 1948, als Lektorin beim Schocken Verlag und ab 1949 als Geschäftsführerin der Jewish Cultural Reconstruction (JCR).12 Letztere Tätigkeit hat sie erst 1952 beendet. Die Reise nach Europa am 21. März 1952 unternahm sie noch im Auftrag der JCR, mit Verhandlungen in Paris, Zürich, London, Heidelberg und Mainz,13 außerdem in München;14 die 9

HA an Niouta Ghosh, Arendt, LOC Papers: General Correspondence / Ghosh, Niouta – 1949 – 69, image 16. 10 HA an Kurt Blumenfeld, 6. August 1952, Arendt/Blumenfeld, 1995: 62. 11 Noch im Mai 1952 hatte Arendt an Blücher geschrieben: „Ich werde überhaupt in meinem ganzen Leben nichts Rechtes mehr zustande bringen“ (Arendt/Blücher, 1996: 263). Vgl. dazu Anne Weil in der Antwort (8. Juni 1951) auf eine Bemerkung von Hannah Arendt: „Dass Du übrigens nach Erscheinen des Buches das Gefühl gehabt hast, nun sterben oder Taxichauffeur werden zu können, kann ich glänzend verstehen“ (Arendt/Freundinnen, 2018: 128). 12 Zu ihrer Tätigkeit für die JCR und deren Vorgängerorganisation, die sie 1949/50 und 1952 nach Europa führte, siehe den Arendt-Scholem-Briefwechsel sowie Gallas, 2013: besonders 239 – 243. 13 Siehe den Kommentar in Arendt/Scholem, 2010: 369.

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wissenschaftliche Arbeit war sozusagen Nebentätigkeit. An Salo Baron, ihren Chef bei der JCR, schreibt sie (24. April 1952): „Paris is simply wonderful. I work in the libraries and at the Centre de la Documentation Juive. […] I am very glad I had this opportunity. I’ll have to correct and to add quite a few things when my book [The Origins of Totalitarianism] comes out in German or in a second edition.“15

Offensichtlich ließen ihr die JCR-Tätigkeiten viel Freiraum und Zeit für die eigenen Arbeiten in Bibliotheken, für Vorträge und private Besuche, so bei Jaspers in Basel. An Scholem berichtet sie: „Ich schwimme froehlich in der Welt herum […].“16 Ferner hatte sie Zeit für einen Besuch in Lugano, um sich um den BrochNachlass zu kümmern.17 Doch den „job“ hat sie offenbar nach wie vor als ihr Leben beherrschend empfunden. Erst im Februar 1953 meldet sie an Kurt Blumenfeld: „Zum ersten Mal ganz frei in der Arbeit.“18 Vorausgegangen war zudem, im Sommer/Herbst 1952, die Ernennung von Heinrich Blücher zum (Visiting) Professor am Bard College in Annandale-on-Hudson (NY State).19 Die entsprechende Nachricht, die Arendts Sorgen um die Finanzierung des ehelichen Haushalts gemindert haben dürfte, erreichte sie in St. Moritz, wohin Gertrud und Karl Jaspers sie zu einem gemeinsamen Urlaub eingeladen hatten. Dort auch scheinen sich Konturen für die eigene künftige Arbeit herausgebildet zu haben: „Ich werde in den nächsten zwei bis drei Jahren rasend zu tun haben, freue mich aber darauf mit der Hoffnung, nicht in den Beruf zurückzumüssen. Das ist ja doch das Entscheidende. Aus meinen Montesquieu-Geschichten sind noch, wie mir scheint, ein paar recht hübsche Dinge herausgekommen, die auch weiterführen könnten. Wird Stups ja dann entscheiden. Ach Liebster, Nietzsche hat gesagt – wie Jaspers gerade berichtete –, Wahrheit gibt es nur zu zweien. Ich allein jedenfalls könnte es nie.“20 14

368 f. 15

Siehe ihren Brief an Scholem vom 16. Mai 1952 aus der Stadt, Arendt/Scholem, 2010:

Zitiert nach Arendt/Scholem, 2010: 370. Brief aus Basel, 5. April 1952, Arendt/Scholem, 2010: 364. 17 Arendt/Scholem, 2010: 369. 18 Arendt/Blumenfeld, 1995: 74. 19 Arendt/Blücher, 1996: 313 ff. – Über die Details der Ernennung unterrichtet die Website des Bard College unter „Blücher Archive“ wie folgt: „Heinrich Blücher came to Bard College as a visiting professor in 1952. He was not hired by the faculty, but rather directly by James Case, who was at that time President of the College. He developed the Common Course at the college and became its director as well as the primary lecturer for the First Year section of the course, which took as its subject the history of philosophy. His First Year lectures were given in Sottery Hall, which stands just behind the administrative offices in Ludlow. Over the course of the next seventeen years he taught at Bard […].“ 20 Arendt an Blücher, 1. August 1952, Arendt/Blücher, 1996: 321. Zu „Montesquieu-Geschichten“ siehe Arendt, 2002: Heft VI/22 (Nov. 1951), S. 145; VII/3 (Dez. 1951), S. 151 ff.; VIII/7 (Febr. 1952), S. 184 f. – und nach 1952: XIV/25 (April 1953), S. 338; XX/9 (Mai 1954), S. 482 f.; XXI/58 (Juli 1955), S. 545; ferner die entsprechenden Passagen in „Ideologie und Terror“ (siehe die folgende FN) sowie bis 1955 die LOC-Manuskripte „Karl Marx and the 16

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Am 17. August 1952 kehrt Hannah Arendt von ihrem zweiten Europabesuch nach New York zurück. Den Essay „Ideologie und Terror“ hatte sie vorher „ganz ordentlich für die Jaspers-Festschrift fertiggemacht“.21 Auf ihrer Agenda nach der Rückkehr stand die Vorbereitung auf die von C. J. Friedrich organisierte Konferenz über „Totalitarianism.“22 Außerdem wusste sie, dass sie die Gauss Lectures auszuarbeiten hatte.23 An Karl Jaspers schreibt sie (29. Dezember 1952): „Ich habe mich sehr in Arbeit vergraben, bin sehr zufrieden, daß ich in absehbarer Zeit nicht in einen job muß.“24 Weitere Hinweise auf das damalige Arbeitsprogramm sind dem Antrag auf Verlängerung ihres Stipendiums zu entnehmen, den Arendt am 29. Januar 1953 an Henry Allen Moe von der John Simon Guggenheim Memorial Foundation schickte.25 Im Brief an Moe berichtet sie zusammenfassend über ihre Lektüren während der ersten Monate des Stipendiums und wandelt das ursprüngliche Forschungsthema „The totalitarian elements in Marxism“ insofern ab, als sie ihr Vorhaben nun eine „study of the totalitarian elements“ nicht nur „in Marxism“, sondern „in Marx and Marxism“ nennt.26 Die Arbeiten im Rahmen des Guggenheim-Projekts werden überlagert durch selbst gewählte Aufträge, die u. a. auch aktualitätsbedingt sind. In einem langen Brief an Karl Jaspers (13. Mai 1953)27 schildert Arendt die politische Gegenwart in den USA unter der Herrschaft der „Congressional Investigation Committees“ Tradition of Western Political Thought“, lectures, Christian Gauss Seminar …, second draft, part III, pp. 31 – 35; dito second draft, part IV, pp. 1 – 10; ferner „The Great Tradition and the Nature of Totalitarianism“ (siehe unten FN 29); nach 1955: „Einleitung: Der Sinn von Politik“, Fragment 3d in Arendt, 1993: 127 f., sowie ibid.: 163 ff. (Kapitel „Pluralität in den Staatsformen“). Wieweit Heinrich Blücher an diesen Texten beteiligt war, ist bisher nicht erforscht. Vgl. aber als einen ersten Ansatz Lederman, 2017. 21 Arendt an Blücher, 18. Juli 1952, Arendt/Blücher, 1996: 310. Vgl. auch HA an Kurt Blumenfeld, 6. August 1952: „Ich schicke Dir demnächst, d. h. in ein paar Monaten einen Essay über Ideologie und Terror (den doppelten Zwang), den ich für die Jaspersfestschrift aus einer größeren, ein bißchen philosophischen Abhandlung herausgeschnitten habe und aus dem Du sehen wirst, daß ich mit einem Bein bei Montesquieu gelandet bin und das andere wieder fest in meinen guten alten Augustin plaziert habe.“ (Arendt/Blumenfeld, 1995: 62.). Die „größere, ein bisschen philosophische Abhandlung“ ist wohl das im Rahmen des Guggenheim-Projektes geplante Buch gewesen, siehe dazu unten im Abschnitt III. – „Ideologie und Terror“ (Arendt, 2016: Titel Nr. 113); „Ideology and Terror“ (Arendt, 2016: Titel Nr. 114); Arendt, 2018: 26 – 88. 22 Die Konferenz fand vom 6. bis 8. März 1953 in Boston statt; Veröffentlichung mit Redebeiträgen von Arendt siehe Arendt, 2016: Titel Nr. 121 (kein Abdruck in Arendt, 2018). Siehe auch Arendt an Jaspers, 25. Januar 1952, Arendt/Jaspers, 1985: 212. 23 Deren genaues Thema „Karl Marx and the Tradition of Political Thought“ allerdings hat sie dann wahrscheinlich erst im Mai 1953 festgelegt. Siehe dazu oben, auch FN 3 und FN 4. 24 Arendt/Jaspers, 1985: 242. 25 Einzelheiten unten in Abschnitt III. 26 HA an H. A. Moe, 29. Januar 1953: „I feel today, after more than one year of intense work, the inadequacy of my original statement.“ 27 Arendt/Jaspers, 1985: 245 – 253.

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und berichtet über die eigene Auseinandersetzung mit den Ex-Kommunisten28, erwähnt die Princeton Lectures (s. oben) und bemerkt weiterhin: „Ich habe im Frühjahr auch ein bißchen an der New School gelesen, und es hat mir Spaß gemacht. Über Staatsformen.29 […] Ich habe gerade einen kleinen Essay über die Schwierigkeiten des ,Verstehens‘30 geschrieben.“ Darüber hinaus beteiligt sie sich an der von Henry Kissinger organisierten Summer School Conference an der Harvard University (20. bis 27. Juli 1953) zum Thema „Is the Struggle Between the Free World and Communism Basically Religious?“ Hierfür arbeitet sie ein Papier über „Religion and Politics“ aus.31 Was das Schreiben grundsätzlich angeht, so hatte sie Kurt Blumenfeld schon im Februar 1953 wissen lassen: „Ich schreibe langsam und so vorsichtig, daß ich mich selbst nicht wiedererkenne. Irgendwann kommt halt jeder zur Vernunft. Man muß nur abwarten können. Die Freude an der Arbeit braucht man, denn es sieht hier immer finsterer aus.“32 Nachdem die Verlängerung des Guggenheim-Stipendiums abgelehnt worden war (20. April 1953), hat Arendt offenbar das Projekt „The totalitarian elements in [Marx and] Marxism“ ad acta gelegt, doch ihre Studien zu Marx fortgesetzt, wobei sich ihr Marx-Bild veränderte.33 Wichtiger im vorliegenden Zusammenhang jedoch ist die Tatsache, dass sich ihr Gesamtanliegen ausweitete. An Blumenfeld, 16. November 1953: „Ich hatte vor, eine kleine Studie über Marx zu schreiben, aber, aber – Sobald man Marx anfaßt, merkt man, daß man gar nichts machen kann, ohne sich um die gesamte Tradition der politischen Philosophie zu kümmern.“34 Arendt also macht es sich 28 Sie findet ihren Niederschlag in der Veröffentlichung „The Ex-Communists“ bzw. „Gestern waren sie noch Kommunisten“, Arendt, 2016: Titel Nr. 111, 112 (kein Abdruck der Titel in Arendt, 2018). 29 Vom 18. März bis 22. April unter dem Generalthema: „The Great Tradition and the Nature of Totalitarianism“. Erhalten ist ein 13seitiges Typoskript und eine einzelne Seite (LOC: Speeches and Writings File / Essays and lectures: „The Great Tradition and the Nature of Totalitarianism,” lecture, New School for Social Research, New York, N.Y. 1953), auf der Einzelseite (LOC, image 1) sind die Themen der „6 lectures“ kurz aufgeführt; Arendt, 2018: 116 – 132. 30 Der Essay „Understanding and Politics“ erschien im Juli-August-Heft der Zeitschrift „Partisan Review“; abgedruckt in Arendt, 2018: 174 – 187. 31 Arendt, 2016: Titel 115; Arendt, 2018: 223 – 241. 32 Arendt/Blumenfeld, 1995: 74 f. – Vgl. dazu HA an G. Scholem, 26. Juli 1951: „Ihrer Kritik [an „The Origins of Totalitarianism“] ueber die Auslassung des Sozialismus stimme ich zu. Ich hatte meine Gruende dafuer – naemlich einerseits nicht in das Horn der graesslichst bekehrten Marxisten zu stossen und andererseits mit meiner Meinung noch ein bisschen hinter dem Berg zu halten“ (Arendt/Scholem, 2010: 348). 33 HA an Karl Jaspers, 13. Mai 1953: „Je mehr ich Marx lese, je mehr sehe ich, dass Sie recht hatten: Er ist weder an Freiheit noch an Gerechtigkeit interessiert. (Und ein Patentekel.)“ (Arendt/Jaspers, 1985: 252). Dieser Momentaufnahme steht die Bedeutung entgegen, die Marx’ Denken später in Arendts Werk „The Human Condition“/„Vita activa“ erhalten wird. 34 Arendt/Blumenfeld, 1995: 94. Vgl. dazu HA an Henry Allen Moe, 29. Januar 1953 (Verlängerungsantrag an die Guggenheim Foundation, siehe unten Abschnitt III, 1): „Marx, in

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zur Aufgabe, nicht mehr nur die totalitären Elemente in Marx und/oder dem Marxismus aufzuspüren, sondern die „gesamte Tradition der politischen Philosophie“ auf den Prüfstand zu stellen. Ein Gedanke wird erkennbar, den sie „unausgegoren“ gleich nach Erscheinen der „Origins“ in einem Brief an Jaspers geäußert hatte: „Nun habe ich den Verdacht, daß die Philosophie an dieser Bescherung [des nationalsozialistischen Totalitarismus, U.L.] nicht ganz unschuldig ist. Nicht natürlich in dem Sinne, daß Hitler etwas mit Plato zu tun hätte. […] Aber wohl in dem Sinne, daß diese abendländische Philosophie nie einen reinen Begriff des Politischen gehabt hat und auch nicht haben konnte, weil sie notgedrungen von dem Menschen sprach und die Tatsache der Pluralität nebenbei behandelte.“35

Zurück in das Jahr 1953: Die „kleine Studie über Marx“ also ist nicht verwirklicht worden. Doch Arendt schreibt weiter in dem zitierten Brief an Blumenfeld: „Augenblicklich bemühe ich mich immer noch, die Sache abzukürzen, wenigstens im äußeren Sinn. Ich will unter gar keinen Umständen wieder ein dickes Buch schreiben.“36 Diese Mitteilung – geschrieben nur wenige Tage nach Beendigung der Gauss Lectures am 12. November – könnte darauf hinweisen, dass Arendt bereits während der einmal wöchentlich stattfindenden Vorlesungen in Princeton eine Veröffentlichung im Sinn hatte. Mit anderen Worten: Die unter „second draft“ von der Library of Congress digitalisierten fünf Manuskriptteile und das „Preface“ der Karl-MarxVorlesung entsprächen nicht dem vorgetragenen Text, sondern wären bereits Überarbeitungen der (nicht mehr vorhandenen) Redemanuskripte.37 Diese These wird dadurch erhärtet, dass Arendt Gershom Scholem die Veröffentlichung „Tradition and the Modern Age“ (195438) mit der Bemerkung übersendet: „Es ist der Anfang einer Vorlesungsreihe, die ich im Herbst vorigen Jahres in Princeton hielt.“39 Was Arendts Pläne für die anderen Teile der Vorlesung waren, ob „Tradition and the Modern Age“ als Vorabdruck aus einer geplanten Buchveröffentlichung anzusehen ist, gemäß dem Muster, dem sie in früheren Jahren mit vielen Kapiteln der „Origins“ gefolgt war – my opinion, cannot be adequately treated without taking into account the great tradition of political and philosophical thought in which he himself still stood.“ 35 HA an Karl Jaspers, 4. März 1951, Arendt/Jaspers, 1985: 203. Vgl. unten Abschnitt IV, 1: „Eine politische Wissenschaft der menschichen Pluralität“. 36 Arendt/Blumenfeld, 1995: 95. „Bücherschreiben“, so heißt es in dem Brief zuvor, „ist für mich, mich freiwillig ins Gefängnis begeben. Was man so freiwillig nennt!“ 37 Möglicherweise unter Einbeziehung einzelner Seiten aus der (ansonsten vernichteten) Vortragsfassung, was die vielen Umnumerieungen der Seiten, die eingeklebten und handschriftlichen Zusätze und Verbesserungen erklären würde, die in den nachgelassenen Manuskripten zu finden sind. – Die Gesamtausgabe-Herausgeber veröffentlichen alles, was zu den Gauss Lectures gehört, als „draft“-Fassungen, siehe Arendt, 2018: 245 – 436. 38 Arendt, 2016: Titel Nr. 120; abgedruckt in Arendt, 2018: 484 – 503. 39 Arendt an Scholem, 8. Juli 1954, Arendt/Scholem, 2010: 391. – Ein Vergleich des LOCManuskripts „Karl Marx…“, second draft, part I, mit der gedruckten Fassung in „Partisan Review“ ergibt eine so gut wie vollständige Übereinstimmung, ja das Manuskript enthält Korrekturzeichen, die in der Veröffentlichung berücksichtigt wurden. Doch vor Drucklegung hat offenbar ein „editor“ Arendts Englisch verbessert.

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darüber geben die nachgelassenen Papiere keine Auskunft. Doch eine Stelle im Brief an Jaspers vom 15. November 1953 mag ein wenig weiterführen: „Die Princeton Vorlesungen waren wohl, was man so einen Erfolg nennt. Ich habe versucht darzustellen, was in der politischen Sphäre eigentlich alles vor sich geht, und inwiefern die traditionellen Begriffsbestimmungen, die ich am Modell der Staatsformen erläuterte, nicht ausreichen. Alles sehr vorläufig, aber ich bin doch ein bißchen vorangekommen.“40

Das klingt nicht nach einem konkreten Buchvorhaben. Das Jahr 1954 beginnt dann auch schwerpunktmäßig mit „einer anderen Vortragsserie für Notre Dame University […], die unerwartet von Anfang Mai auf Anfang März vorverlegt werden mußte. Thema: Philosophie und Politik“.41 Im gedanklichen Rahmen dieser Vorlesung entsteht anschließend ein Vortrag („Concern with Politics in Recent European Philosophical Thought“42), den Arendt für die Jahrestagung der American Political Science Association im September vorbereitete und den sie nutzt, um dem Fachpublikum erstmals ihre Vorstellungen über eine neue, eigene politische Philosophie/ Wissenschaft vorzustellen.43 Zu jener Zeit hatte das „dicke Buch“, das Arendt glaubte, hinter sich gelassen zu haben, immerhin fast fünfhundert Seiten stark in der ersten amerikanischen Ausgabe, erneut ihre volle Aufmerksamkeit beansprucht. An Karl Jaspers schreibt sie (9. Mai 1954): „Ich bin bei der Übersetzung meines Buches und gerade ein wenig ratlos, weil ich plötzlich von der Europäischen Verlagsanstalt das Angebot bekam, das ganze Buch, und nicht nur eine gekürzte Ausgabe, wie Rentsch [der ursprünglich interessierte Verleger] sie wollte, zu veröffentlichen. Nun muß ich mich rasch entscheiden. Es ist in jedem Falle eine ziemliche Arbeit und ärgerlich, weil sie mich jetzt mehr unterbricht als es vor einigen Jahren der Fall gewesen wäre.“44

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Arendt/Jaspers, 1985: 266. Ebd.: 275. Vgl. auch HA an Alfred Kazin, 26. Januar 1954: „I accepted lectures in Notre Dame on Philosophy and Politics and am pretty busy (but happy).“ (Arendt/Kazin, 2005: 134.) 42 Zu Arendts Lebzeiten unveröffentlicht. Manuskripte bei den LOC Arendt Papers, genaue Angaben unten in Abschnitt III. Veröffentlichung: Arendt, 2016: Titel Nr. 294; Arendt, 2018: 560 – 592. 43 Im „Denktagebuch“ hatten sich entsprechende Überlegungen bereits im Januar 1953 angekündigt, siehe den Eintrag: „Experimental Notebook of a Political Scientist“ (Arendt, 2002: Heft XIII/2, S. 295 ff.). Zum APSA-Papier auch Arendt/Jaspers, 1985: 279. In einem der von den Gesamtausgabe-Herausgebern unter „Gauss Material Part II“ veröffentlichten Manuskripte – dem nach meiner Einschätzung nicht zuzuordnenden (siehe FN 64) „Summary“ – findet sich ein bemerkenswerter, ungewöhnlich persönlich gehaltener Hinweis auf den eigenen theoretischen Ansatz. Gegen „psychologism“ und „spiritualism“ macht HA als „my advantage“ geltend: „Not the darkness of the human heart but on the contrary a field where everything appears in full day light, through speech and action and events, and which we have in common because we inhabit it together“ (Arendt, 2018: 419). 44 Arendt/Jaspers, 1985: 276; vgl. auch 279 f. 41

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Wie gravierend die „Unterbrechung“ gewesen ist, kann in etwa einer Notiz im „Denktagebuch“ ebenfalls vom Mai 1954 entnommen werden. Dort skizziert sie ein „Buch“, das drei „Essays“ umfassen soll – unter den Stichwörtern: (1) Staatsformen; (2) Arbeiten; (3) Philosophie und Politik45 – ein Buch, das anzeigt, dass und wie sich ihre Gedankenwelt über das Guggenheim-Projekt und die Marx-Vorlesung hinaus weiterentwickelt hatte und in dem sich die späteren Essaysammlungen „Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart“ (1957) und „Between Past and Future“ (1961) sowie das Buch „The Human Condition“/„Vita activa“ (1958/1960) ankündigen, ferner die nur in Fragmenten hinterlassene „Einführung in die Politik“46. Erst einmal jedoch entscheidet sich Hannah Arendt für die deutsche Ausgabe des Totalitarismusbuches. In den kommenden Monaten wird sie die von der Europäischen Verlagsanstalt in Auftrag gebenene Rohübersetzung umschreiben47 und eine generelle Überarbeitung vornehmen – nicht nur auf dem aktuellen Stand ihrer theoretischen und methodischen Erkenntnisse, sondern auch unter Einbeziehung u. a. solcher neuen Materialien, die sie später bei ihrem Aufenthalt in Kalifornien in der Bibliothek der Hoover Institution einsehen kann. Das Buch bekommt einen veränderten Titel, den die Autorin in einem neuen „Vorwort (Juni 1955)“ gegenüber dem ursprünglichen amerikanischen als angemessener begründet: Anstatt „The Origins“ heißt es „Elemente und Ursprünge“, an der Stelle von „of Totalitarianism“ steht „der totalen Herrschaft“. Außerdem ersetzt Arendt die ehemalige „Conclusion“ durch den überarbeiteten Essay „Ideologie und Terror“ aus dem Jahr 1953 und fügt den Untertitel „Eine neue Staatsform“ hinzu. Damit versieht sie das Buch nachträglich mit einem in gewissem Sinne theoretischen Abschluss. Die „totalitarian elements in Marxism“ bleiben zwar ein Defizit, wie nicht zuletzt die späteren Vorwörter zu den einzelnen Teilen, die Arendt 1967 schreibt, deutlich machen; aber „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ und die 1958 überarbeitete, im Titel unveränderte Ausgabe von „The Origins of Totalitarianism“ (second, enlarged edition) erhalten ihre Statur als das Werk nicht nur einer Historikerin, sondern einer politischen Theoretikerin. Als solche war Hannah Arendt vom Political Science Department der University of California at Berkeley für das Spring Term 1955 eingeladen worden und hatte dort drei Kurse abgehalten: „History of Political Theory“, „Contemporary Is-

45 Arendt, 2002: Heft XX/9, S. 482 f. Erläuterungen im Sinne dieses Buchprojektes auch im Brief an Martin Heidegger vom 8. Mai 1954 (Arendt/Heidegger, 2002: 145 f.). – Es sei darauf hingewiesen, dass sich diese DTB-Notiz im hier beschriebenen Zusammenhang anders darstellt als im „Nachwort“ der Gesamtausgabe-Herausgeber, siehe Arendt, 2018: 831 f. 46 Postum veröffentlicht unter dem Titel Hannah Arendt, „Was ist Politik?“ (Arendt, 1993). 47 Am 17. Januar 1955 teilt Arendt dem sie bei der EVA betreuenden Lektor Hans Riepl mit: „Ich habe buchstäblich nicht einen Satz der Rohübersetzung verwenden können. Es wäre eine Irreführung des Publikums, wenn man sagte, das Buch sei ,übersetzt‘. Leider, leider ist es neu geschrieben.“ Zitiert nach meinen Notizen aus LOC Arendt Papers: Special Correspondence, Series B, Publishers, 1945 – 1975 / Europaeische Verlagsanstalt, 1954 – 71 („No images display offsite“).

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sues and Political Theory“, „European Political Theory“.48 Das ca. achthundert Seiten umfassende Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ erscheint später im Jahr, im November 1955, in der Europäischen Verlagsanstalt. III. Die wichtigsten Dokumente aus dem Nachlass Im Vorangehenden sind die wichtigsten Dokumente der Hannah Arendt Papers in der Library of Congress, die in unserem Zusammenhang von Interesse sind, bereits genannt worden. Sie sollen im Folgenden genauer analysiert werden. Es handelt sich um (1) den Antrag und Verlängerungsantrag an die Guggenheim-Stiftung, (2) die Gauss Lectures und (3) die Vorlesung „Philosophy and Politics“ sowie (4) den APSA-Vortrag „Concern with Politics in Recent European Philosophical Thought“. Die Analyse geschieht mit Blick auf die in Abschnitt IV unterschiedenen Arendtschen Denkwege in den Jahren 1951 bis 1955 – den einen Hauptweg und verschiedene Nebenwege. 1. Guggenheim-Antrag und -Verlängerungsantrag49 Den Antrag an die Guggenheim-Stiftung, dessen Datierung wir nicht kennen, hat Arendt vermutlich an der Jahreswende 1951/2 eingereicht, er wurde am 9. April 1952 genehmigt. In ihm geht es um die Aufarbeitung der am eigenen Buch erkannten historischen und philosophischen Defizite mit Studien zu Marx, dem Marxismus-Sozialismus und dem Kommunismus unter dem Arbeitstitel „Totalitarian Elements in Marxism“. Erstaunlich ist, wie präzise Arendt darin den Marx-Teil des Projektes (= Part I) beschreibt. Für Teil II sieht sie „an historical analysis of Marxism and Socialism […] – 1870 – 1917“ vor, für Teil III die Beschäftigung mit Lenin, Stalin, dem Kommunismus und Bolschewismus. Dieses Mammutprogramm glaubt sie, in eineinhalb bis zwei Jahren in eine Buchform bringen zu können. Doch im Zuge der Recherchen muss ihr klar geworden sein, dass sie sich zuviel vorgenommen hatte. Bereits in ihrem Verlängerungsantrag, übermittelt in dem im Folgenden zu besprechenden Brief an Henry Allen Moe vom 29. Januar 1953, distanziert sie sich von dem, was sie im ursprünglichen Antrag dargelegt hatte: „I feel today, after more than one year of intense work, the inadequacy of the original statement.“ Das Projekt „Totalitarian Elements in Marxism“ wird in seiner projektierten Form nicht weiterverfolgt.

48 Unter den Papieren zum erstgenannten Kurs ist eine dreiseitige maschinenschriftliche „Conclusion“ erhalten, in der Arendt mit Hilfe der Metaphern „desert“ („Wüste“) und „oases“ („Oasen“) die Gedanken, welche ihre politische Theorie bestimmen, zusammenfasst. Siehe „Epilogue“, in: Arendt, 2005: 201 – 204; ferner Arendt, 1993: 180 – 187. 49 Alle in diesem Abschnitt besprochenen Dokumente bei den LOC Arendt Papers unter: Organizations, 1943 – 1976, n.d. / John Simon Guggenheim Memorial Foundation, 1952 – 1975, n.d. („No images display offsite“). In Arendt, 2018, werden die entsprechenden Dokumente zwar im „Kommentar“ berücksichtigt, aber bedauerlicherweise nicht abgedruckt.

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Im Verlängerungsantrag entwirft Arendt ein neues Bild des Projektes mit teilweise genauen, teilweise recht unklaren Konturen: Chapter I: „I explain […] the particular difficulties of understanding which the rise of the totalitarian systems has brought with it.“ Dieser methodologische Denkweg wird unten in Abschnitt III als erster Nebenweg behandelt. Chapter II: „I go on to a preliminary examination of the Great Tradition in order to find the precise point on which it broke. I show this in a first analysis of Marx in the second chapter.“ Dieses Kapitel ist vermutlich eine Vorform des 1954 erschienenen Essays „Tradition and the Modern Age“50, die dem Antrag beigelegen hat, aber nicht erhalten ist. Das projektierte Kapitel verweist auf den unten vorgestellten Hauptweg. Chapter III: „Law and Power“ – „I then go […] to an examination of the two conceptual pillars of all traditional definitions of forms of government. This chapter ends with an analysis of Montesquieu, who provides me with the instruments of distinguishing totalitarianism from all – even the tyrannical – governments of the past.“ Diese Hinweise sind m. E. im Sinne eines Nebenweges unter dem Stichwort „Staatsformenlehre“ zu verstehen. Chapter IV: „Ideology and Terror“ – Zu diesem Kapitel übersendet Arendt zwei Fassungen: eine englische vermutlich in Manuskriptform (aber nicht erhaltene), von der sie schreibt, dass sie in Kürze (Juli 1953) in der „Review of Politics“ erscheinen wird,51 und eine deutsche, die für die Festschrift von Karl Jaspers52 (Februar 1953) vorgesehen ist. Eine genaue inhaltliche Beschreibung fehlt, das Schreiben an Moe enthält nur die folgende Mitteilung: „The last section of this [i. e., the German version „Ideologie und Terror“] on Solitude and Loneliness will be enlarged and both versions [i. e., the English („Ideology and Terror“) and the German] combined in order to be incorporated into the book.“ Auch dieses Chapter IV scheint mir auf den hier unterschiedenen zweiten Nebenweg zu verweisen. Im Verlauf des Moe-Briefes bezeichnet Arendt die Kapitel I bis IV als „opening chapters“, spricht dann aber von sechs, anstelle von vier, „opening chapters“, wobei es sich um einen Flüchtigkeitsfehler53 handeln könnte. Vier oder sechs „opening chapters“: Offenbar beschreibt Hannah Arendt hiermit so etwas wie den ersten Teil des geplanten Buches, dem sie als „the Marx analysis itself“ einen zweiten zur Seite stellen will. Bei letzterem handelt es sich ausdrücklich um die sechs Vorlesungen, die sie für ihre Gauss Lectures im Herbst 1953 vorzubereiten gedenkt. 50

Arendt, 2016: Titel Nr. 120 (= Arendt, 2018: 484 – 503), siehe auch den oben (FN 39) zitierten Brief an G. Scholem. 51 „Ideology and Terror: A Novel Form of Government“, Arendt, 2016: Titel Nr. 114 (= Arendt, 2018: 68 – 88). 52 Arendt, 2016: Titel Nr. 113 (= Arendt, 2018: 26 – 51); siehe dazu auch oben FN 21. 53 Bei den Guggenheim-Dokumenten von Arendts Hand ist in Rechnung zu stellen, dass sie lediglich Durchschläge oder Entwurfsfassungen sein könnten. Wie die tatsächlich an die Stiftung gesandten Anträge aussahen, ist nicht bekannt. Siehe dazu auch die Mitteilungen der Herausgeber in Arendt, 2018: 660 und dort FN 6.

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So wenig präzise der Verlängerungsantrag gehalten ist (weshalb die Ablehnung durch die Stiftung nicht sonderlich erstaunt), eines lässt sich m. E. aus ihm ohne weiteres entnehmen: Im Vergleich zum ursprünglichen Antrag hat sich die Fragestellung verschoben. Arendt ist nunmehr vorrangig an den „totalitarian elements in Marx“ interessiert, ja wandelt den Arbeitstitel an einer Briefstelle sogar ab in „a study of the totalitarian elements in Marx and Marxism“. Damit nicht genug. Am Ende des Briefes schreibt sie: „These opening chapters […] will contain an examination of the most important political concepts of the past together with a confrontation of what happened to them within the totalitarian systems.“ Bereits der Brief an Moe gibt also zu erkennen, dass ihr eine Kritik der „gesamten Tradition der politischen Philosophie“ (siehe oben im Brief an Blumenfeld, 16. November 1953) vorschwebt – ein Anliegen, das durch den Titel „The Modern Challenge to Tradition“ abgedeckt gewesen sein könnte. Wenig später jedoch rücken Bemühungen um eine eigene politische Theorie der Pluralität und Vorstellungen über eine neue politische Wissenschaft in den Vordergrund. Erste konkrete Schritte in Richtung des damit angedeuteten denkerischen Wegs sind in den Gauss Lectures zu erkennen. 2. Die Gauss (Princeton) Lectures54 Ein Manuskript des tatsächlich von Hannah Arendt im Rahmen der Christian Gauss Seminars im Oktober/November 1953 vorgetragenen Textes ist, wie bereits erwähnt, nicht erhalten.55 Die Annahme, dass die in der Library of Congress als „second draft“ aufbewahrten Teile eine Bearbeitung der Vorlesungsfassung darstellen, die im Hinblick auf eine Buchveröffentlichung erfolgte, konnte im Abschnitt II begründet werden.56 Deren große Linien seien im Folgenden vorgestellt. 54

LOC Arendt Papers unter: Essays and lectures / „Karl Marx and the Tradition of Western Political Thought,“ lectures Christian Gauss Seminar in Criticism, Princeton University, Princeton, N.J. Unter diesem Rubrum sind insgeamt 11 Einzelmanuskripte erfasst, die im Internet einsehbar sind, vier davon als „First drafts“, die übrigen als „Second drafts“. Im Folgenden werden die verschiedenen Teile des „Second draft“ zugrundegelegt. Die kritische Gesamtausgabe (Arendt, 2018) erfasst die Gauss Lectures in anderer Ordnung im Kapitel II („The Modern Challenge to Tradition [July – December 1953]“), 243 – 436, und Kapitel III („Eine Art Buch – A Book That Can’t Be Written [January – September 1954]“), 463 – 503. Die im Folgenden beschriebenen Teile („parts“) sind hier weitgehend nicht mehr erkennbar. Siehe auch unten Abschnitt V. 55 Arendt hielt, soweit aus ihrer Korrepondenz mit der Princeton University ersichtlich, insgesamt sechs Vorträge in wöchentlichem Abstand vom 8. Oktober bis 12. November 1953, zu denen sie jeweils von New York anreiste. 56 Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass Lotte Köhler gesprächsweise berichtete, die Mitarbeiter der Library of Congress hätten sich bei ihrer Katalogisierung des Arendt-Nachlasses ursprünglich an eine Ordnung gehalten, die Arendt mithilfe einer Sekretärin (Ingrid Scheib-Rothbart) ihren „files“ gegeben hätte. Was unter „Karl Marx and the Tradition of Western Political Thought“ (second draft) im Internet abgerufen werden kann, entspräche demnach dem Manuskript, das Arendt als Gauss Lecture aufbewahrt hatte. – Der in der Library of Congress katalogisierte „first draft“ hat von Arendt die handschriftliche Angabe „Preliminary

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Im „Preface“ (p. 05) steht der Plan. Es werden 6 Teile unterschieden, denen jeweils Manuskriptteile zugeordnet werden können. Diese Manuskriptteile sind in sich fortlaufend nummeriert. Doch nur zwei (Part I und Part IV) beginnen mit Seite 1; Part II beginnt mit Seite 9,57 und an ihn schließt sich Part III mit Seite 21 an; Part V folgt mit der Seite 15 auf Part IV.58 Der Beginn des jeweiligen Teils ist durch eine römische Ziffer, maschinenschriftlich oder handschriftlich, in der Mitte einer Seite gekennzeichnet. Mit Sicherheit sind die Teile nicht in einem Arbeitsgang niedergeschrieben worden. Darauf verweisen die vielen Streichungen, Einfügungen, Umstellungen im Text und die Umnummerierungen der Seiten. Doch sind die erhaltenen Stücke in sich fortlaufend; es gibt keine Stellen, an denen der Text abbricht. „My procedure will be as follows“, schreibt Hannah Arendt im „Preface“: „I shall begin in the first lecture with the three great challenges to tradition in the 19th century, Kierkegaard, Marx and Nietzsche in order to see Marx’s turning point operation (what he called turning Hegel upside down) in its proper perspective.“ Part I (pp. 1 – 22) also handelt von den drei großen Herausforderern der Tradition. Er entspricht der Veröffentlichung „Tradition and the Modern Age“ (1954),59 beziehungsweise der späteren deutschen Fassung „Tradition und die Neuzeit“ in dem Essayband „Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart“ (1957). Zu Teil II heißt es: „I shall then proceed to show in three examples that our tradition of political thought never comprehended all actual political experiences of Western mankind. I shall use the pre-polis experience of Greece and its sense of action, the Roman experience of foundation which lay the ground for our concept of tradition, and the early Christian experience of forgiving.“ In Part II (pp. 9 – 20) also geht es darum, den defizitären Zustand in der Tradition des politischen Denkens (Arendt schreibt: „the defectiveness of our tradition“) beziehungsweise verloren gegangene politische Erfahrungen aufzuarbeiten. Das geschieht anhand von drei stichwortartig genannten „Beispielen“: „Handeln“ im griechischen Denken der VorPolis-Zeit, „Gründen“ im römischen und „Vergeben“ im christlichen Denken. Für Part III (pp. 21 – 48) sieht das „Preface“ folgerichtig vor: „After these three examples for the defectiveness of our tradition, which could be multiplied, I shall try to show in one outstanding example its [the tradition’s] transforming and conceptualizing power in the traditional definition of governments.“ Am Beispiel der Staatsformenlehre soll gezeigt werden, wie sich über Jahrhunderte bis hin zu Montesquieu eine umgeformte Tradition ausgewirkt hat, nämlich die Bestimmung der Staatsfor-

– Palenville 53“ erhalten, er ist vermutlich im Juli/August 1953 niedergeschrieben, aber anschließend verworfen worden, siehe dazu auch oben in den Abschnitten I und II. 57 Dies könnte darauf hinweisen, dass die ursprüngliche Fassung von Part I acht Seiten umfasste, die bei der Überarbeitung für die Zeitschrift „Partisan Review“ auf 22 Seiten erweitert wurden. 58 Zu Part VI siehe weiter unten. 59 Darauf konnte im zweiten Abschnitt des Memos bereits hingewiesen werden.

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men, nicht im Sinne eines Zusammenlebens von plural begriffenen Menschen, sondern im Rahmen von Herrschaft („rule“) und Macht („power“) und Gesetz („law“). Anschließend an „these two aspects of tradition, its defectiveness and its transformative power with respect to actual experiences“ wird Part IV (pp. 1 – 14) mit der Beobachtung („observation“) eingeführt, „that in all those experiences [dealt with in parts II and III] the experience of action is somehow eliminated. This gives rise to question the attitude of the philosophers towards politics and to examine the political experience which in the beginning gave rise to this attitude.“ In diesen Reflexionen über das Handeln als „the lost treasure“, die Verformung von archein zu prattein kündigt sich ein Denkweg an, der zu dieser Zeit eher noch als Nebenweg anzusehen ist. Er wird bald darauf – mit den Walgreen Lectures und „The Human Condition“ – bestimmend und mit dem weiter unten in diesem Memo beschriebenen Hauptweg zusammengeführt werden. Das Thema „Philosophy and Politics“ wird Arendt lebenslang beschäftigen. Im Zusammenhang mit den Gedanken über das Handeln ist dann auch Part V (pp. 15 – 33) konzipiert: „This will bring me back to one of my fundamental problems, the problem of labor seen in the light of the tradition and in the light of conditions prevailing after the industrial revolution.“ Gleichzeitig schlägt Arendt einen Bogen zurück zu Part I, in dem die Bedeutung von Marx als demjenigen herausgestellt wird, der die Tradition im 19. Jahrhundert „vollendet“. „Die abendländische Tradition politischen Denkens“, wird es später zu Beginn des Essaybändchens „Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart“ heißen, „hat einen klar datierbaren Anfang, sie beginnt mit den Lehren Platos und Aristoteles’. Ich glaube, sie hat in den Theorien von Karl Marx ein ebenso definitives Ende gefunden.“60 „This finally“, so die Ankündigung von Part VI im „Preface“, „leads into a reexamination of the fundamental activities of man seen from the viewpoint of his living-together and sharing a common world with his fellowmen.“ Ein entsprechender Part VI allerdings ist in den „folders“ zu den Gauss-Vorlesungen der Library of Congress nicht vorhanden. Stattdessen gibt es einen Manuskriptteil, dem eine römische Sechs vorangestellt ist, unter: Speeches and Writings file / „Philosophy and Politics: The Problem of Action …“, lecture / 1954 (4 of 4 folders).61 Bei diesem Manuskriptteil (pp. 1 – 16) könnte es sich sehr wohl um eine Überarbeitung der Vortragsfassung der letzten Vorlesung der Gauss-Veranstaltungen handeln. Zur Begründung sei angeführt: Ihre Beschäftigung mit der Staaatsformenlehre, die sich mehr und mehr mit Reflexionen über den Begriff des Handelns koppelt, führt Arendt zu der Beobachtung: „This materialism, the conviction that all action is basically motivated 60

Hannah Arendt, „Tradition und die Neuzeit“, in: Arendt, 1957: 9 – 45, 9. Im Folgenden zitiert als „Manuskriptteil VI“. – Die Herausgeber von Arendt, 2018, ordnen dieses Manuskript dem „Gauss Material Part II“ zu, siehe S. 423 – 436, verbinden es allerdings im Kommentar (S. 762 f.) mit einem „Summary“ (siehe FN 64), dessen Zugehörigkeit zu den Gauss Lectures m. E. nicht gegeben ist. 61

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by material needs, has remained a continuous feature of traditional political thought up to and including Marx.“ (Part V, pp. 27 f.) Auf diesen Gedanken bezieht sich Arendt zu Beginn des Manuskriptteils VI. Dort heißt es: „From this materialism, inherent in our political tradition since Aristotle, from the relegation of politics to the strictly material sphere of life and the resigned acceptance that politics is as necessary for the good life as the fulfillment of the needs of the human body is necessary for life itself, we now turn to the corresponding idealism, that is to the concomitant notion that the living together of man must be ruled by those ideas whose shining reality the philosopher perceives outside the cave of human affairs.“62

Wenn die hier vorgenommene Zuordnung des Manuskriptteils VI stimmt, dann hätte Hannah Arendt die Gauss Lectures mit den folgenden (wohlgemerkt: möglicherweise nicht wörtlich so vorgetragenen) Gedanken geendet: „It is no accident that when Marx had concretely to define what human nature was he could fall back only upon the animal laborans, upon man’s metabolism with nature and on his natural needs. Paradoxically, one may say that it lies in the condition of man not to have any nature. His nature is either that natural part of his biological life which he shares with animal life or it is defined as some supra-natural goal to which all human life must strive but which man, because of some defect in his nature, can never fully attain. Such definitions, whether they insist on the „natural“ or on the „supranatural“, can only proceed from man in his singularity with the result that single men then are related to the defined human nature in the same way as the multitude of concrete things is related to the One-ness of Plato’s idea. Taken in its philosophical / 16 / implications, Marx’s socialized mankind, unlike Plato’s Republic whose ideocracy was meant to conceal and justify the rule of the philosopher, would be a real ideocracy in which some idea of the nature of man would rule mercilessly over all men. The conflict between politics and philosophy, or between men who live and act together in the condition of plurality and man who thinks in solitude and is shocked by the miracle of being in his singularity, would [be] resolved in a socialized mankind in the sense that men would neither act, nor think nor speak (except for the purposes of communication) nor work in the sense of making themselves at home in the world into which each of us is born as a stranger; they would only function in accordance with their nature. Under such conditions of a universalized functionalism, we would indeed be so much at home in this world that we would no longer have to make ourselves at home in it. We would have become part and parcel of the natural universe. In this case, if we may once more recall Augustine, who said that man was created that a beginning be made – initium ut esset homo creatus est – we would have eliminated in ourselves the faculty and the urge to begin, to be beginners and to establish on the earth and surrounded by the universe a specifically human world into which new men, beginners, constantly are born. The „metabolism with nature“ which is inherent in the human condition ends with death; the body politic and the human artifice which we erect on the earth on the contrary, always begins anew, because it is ultimately related to the fact of natality, as opposed to mortality, to the fact that we are born into the world, that with each of us the world in a sense begins anew. Socialized mankind and socialized man might indeed be the end of humanity and the end of man, because it would have organized men in such a way that it would no longer matter that new men

62

Manuskriptteil VI, S. 1.

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Ursula Ludz are born into it; they would not be „beginnings“ but only the most recent specimens of an old species –“.63

Hiermit ist zugleich der Abschluss der Arendtschen Marx-Analyse angezeigt. Es wird erkennbar, dass sich gedanklich die Koordinaten verschoben haben – hin zu einem Denkweg, der mit den Begriffen „Philosophie“ und „Politik“ benannt wird. So verwundert es nicht, dass Arendt „Philosophy and Politics“ als Thema für ihre bald nach den Gauss Lectures an der University of Notre Dame gehaltenen Vorlesungen wählt. 3. „Philosophy and Politics“ Das Committee on International Relations an der University of Notre Dame hatte Hannah Arendt im Januar 1954 zu einer Vorlesungsreihe eingeladen, die ursprünglich im Mai 1954 stattfinden sollte, dann aber auf Anfang März vorverlegt wurde (insgesamt drei Veranstaltungen am 3. und 4. März). Titel der Reihe war „Philosophy and Politics: The Problem of Action and Thought After the French Revolution“.64 Behandelt wird das „problem of action and thought“ am Anfang der Tradition der politischen Philosophie im antiken Griechenland (Teil I) und in der Epoche des christlichen Mittelalters bis hin zu Hegel, Tocqueville und Marx (Teil II); beides geschieht unter Berücksichtigung der Erfahrungen sowohl der Französischen Revolution wie der Kriege und Revolutionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Teil III geht es in der Fokussierung auf Prozeß und Verurteilung des Sokrates um „the birth of political philosophy“, d. h., methodologisch gesehen, um die „Ursprungsbestimmung“ der politischen Philosophie als „Wesensbestimmung“65. Am Ende der Vorlesungsreihe, wie schon am Anfang, rückt Tocqueville in den Vordergrund. Es sind zwei Sätze aus Tocquevilles Democracy in America, an denen sich Arendt ausrichtet: „A new science of politics is needed for a new world“ und „As the past has 63 Manuskriptteil VI, S. 15 f.; Hervorhebungen U.L.; vgl. Arendt, 2018 (unter „Gauss Material Part II. Drafts“): 435 f. 64 Unter diesem Titel wird das Vorlesungsmanuskript bei den Hannah Arendt Papers in der Library of Congress im „Speeches and Writings File“ aufbewahrt (4 Aktenmappen). Es handelt sich in „folders“ 1 und 2 um ein von 1 bis 55 durchnummeriertes maschinenschriftliches Manuskript mit vielen eingefügten Unterseiten und handschriftlichen Verbesserungen (= Arendt, 2018: 504 – 559). „Folder“ 3 enthält eine unkorrigierte Kopie; „folder“ 4 einen Text „Summary“, der m. E. dieser Vorlesung (und auch den Gauss Lectures) nicht zuzuordnen ist, sowie den oben bei den Gauss Lectures berücksichtigten „Manuskriptteil VI“. In dem 55seitigen Ms. sind drei Teile markiert, die grosso modo den drei Veranstaltungen entsprochen haben dürften: auf Seite 1 eine römische Eins in Maschinenschrift, auf Seite 16 eine römische Zwei in Handschrift und eine römische Drei (ebenfalls handschriftlich) auf Seite 32. Im Falle dieser Vorlesung erfolgte die endgültige Themenbestimmung in Briefen zwischen Arendt und dem Vertreter des veranstaltenden Committee, M. A. Fitzsimons; LOC Arendt Papers unter: Special Correspondence, Series C / Universities and Colleges, 1949 – 75, n.d. / University of Notre Dame („No images display offsite“). 65 Siehe Hannah Arendt, „Über den Imperialismus“, in: Arendt, 1976: 12 – 45, 26.

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ceased to throw its light upon the future, the mind of man wanders in obscurity“.66 Sie erlauben es ihr, die Vorlesungsreihe abschließend, festzustellen: „[…] the problem of philosophy and politics, or the necessity for a new political philosophy from which could come a new science of politics is once more on the agenda.“ (p. 54) Dieser Hinweis dient zugleich der eigenen Positionierung; in Umrissen wird die eigene politische Philosophie/Theorie entworfen: „Philosophy, political philosophy like all its other branches, will never be able to deny its origin in thaumadzein, in the wonder at that what is as it is. If philosophers, despite their necessary estrangement from the everyday life of human affairs, were ever to arrive at a true political philosophy, they would have to make the plurality of men, out of which the whole field of human affairs in its grandeur and misery arises, the object of their thaumadzein. Biblically speaking, they would have to accept – as they accept in speechless wonder the miracle of the universe, of man and of being – the miracle that God did not create Man, but ,male and female created He them‘. They would have to accept in something more than resignation about human weakness the fact that ,it is not good for man to be alone. ‘“67

4. „Concern with Politics in Recent European Philosophical Thought“ Für die Jahrestagung 1954 der American Political Science Association (APSA) war Hannah Arendt zu einem Vortrag eingeladen worden – „was dumm gewesen wäre abzulehnen“.68 Sie nutzt die Gelegenheit, um sich unter dem o.g. Titel als Politikwissenschaftlerin („we political scientists“) vorzustellen und für eine „new political philosophy“ beziehungsweise „authentic political philosophy“ zu plädieren. „Crucial for a new political philosophy will be an inquiry into the political significance of thought, that is, into the meaningfulness and the condition of thinking for a being that never exists in the singular and whose essential plurality is far from explored when an I-Thou relationship is added to the traditional understanding of human nature. […] Like all other branches of philosophy, it [an authetic political philosophy, U.L.] can spring only from an original act of thaumadzein whose wondering and hence questioning impulse must now (i. e., contrary to the teaching of the ancients) directly grasp the realm of human affairs and human deeds. To be sure, for the performance of this act the philosophers, with their

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Siehe Arendt, 2002: Heft XIX/27, S. 465, und die Anmerkungen 1 und 2 auf S. 1047 f. Arendt, Manuskript „Philosophy and Politics“, S. 55 (= Arendt, 2018: 558 f.). 68 Arendt an Jaspers, 9. Mai 1954, Arendt/Jaspers, 1985: 276. – Den Vortrag hat Arendt schriftlich ausgearbeitet. In ihren LOC Papers gibt es im „Speeches and Writings File“ ein engzeilig maschinenschriftliches Manuskript von 14 Seiten (mit den Nummern 02348 – 023261 versehen), bei dem es sich um die den Veranstaltern vorab eingereichte Fassung handeln könnte, die Arendt beim Vortrag benutzte. Außerdem existieren drei weitere eineinhalbzeilig geschriebene Manuskripte, z. T. mit vielen maschinen- und handschriftlichen Verbesserungen, eine auch mit Kommentaren nicht von Arendts, sondern vermutlich von Mary McCarthys Hand. Jerome Kohn hat in seiner Sammlung „Essays in Understanding, 1930 – 1954“ (siehe Arendt, 1994: 428 – 447), eine Fassung veröffentlicht („primarily based on what appears to be the last draft, incorporating additions and corrections“), aus der im Folgenden zitiert wird. 67

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Ursula Ludz vested interest in being undisturbed and their professional experience with solitude, are not well equipped. But who else is likely to succeed if they should fail us?“69

Was hier als Ansinnen an die Philosophen formuliert wird, dürfte ziemlich genau die Position umreißen, die Hannah Arendt seinerzeit für sich im Rahmen der amerikanischen Politikwissenschaft in Anspruch nimmt. Möglicherweise wollte sie sich nicht zu sehr exponieren; denn wie heißt es (im Februar 1953) im oben zitierten Brief an Kurt Blumenfeld? „Ich schreibe langsam und […] vorsichtig.“ IV. Der Haupt-Denkweg, zwei Nebenwege Die Jahre 1951 bis 1955 im Schaffen von Hannah Arendt standen weitgehend im Zeichen ihres Buches „The Origins of Totalitarianism“. Wie gezeigt wurde, hatte Arendt gleich nach Erscheinen des Buches für sich Defizite ausgemacht, andere, über die hier nicht berichtet werden konnte, wurden ihr durch Kritiken der verschiedensten Art zugetragen. Auch hatte sie immer wieder in selbst gewählten und ihr angebotenen Vorträgen und Vorlesungen ihre Auffassungen dargestellt und begründet. Gleichzeitig ist sie in den eigenen Denkanstrengungen „ein bißchen vorangekommen“ (siehe oben im Brief an Jaspers, 15. November 1953). In der Rückschau lässt sich m. E. für diese Zeit ein Haupt-Denkweg erkennen sowie verschiedene Nebenwege. Sie seien zusammenfassend kurz beschrieben. 1 Eine politische Wissenschaft der menschlichen Pluralität Mit der Suche nach totalitären Elementen, die in The Origins of Totalitarianism unberücksichtigt geblieben waren, hatte sich Hannah Arendt an der Jahreswende 1952/53 auf den Hauptweg zu einer eigenen, nicht-totalitären, sondern pluralitätsorientierten politischen Philosophie/Theorie begeben.70 Hierauf verweist auch die Eintragung „Experimental Notebook of a Political Scientist“, die sie im Januar 1953 in ihrem „Denktagebuch“ vornimmt. Dort hält sie u. a. fest: „The establishment of political science demands a philosophy for which men exist only in the plural. Its field is human plurality.“71 „Human plurality“ – das ist der Gedanke, den Arendt in Erkenntnis der Unzulänglichkeit der Tradition in die Debatten der Politikwissenschaftler und Philosophen wirft. Als Theoretikerin der Pluralität wird sie in die Geschichte des politischen Denkens eingehen. Dies hat als erste Margaret Canovan, nah an Arendts 69 Arendt, „Concern with Politics …“, 445 f. Die zitierte Passage, bis auf kleine editorische Verbesserungen, in Arendt LOC Papers: Speeches and Writings File / Essays and lectures: „Concern with Politics in Recent European Political Thought,“ lecture 1954 / Folder 2 (of 2), image 14; vgl. Arendt, 2018: 590 f. 70 Die Debatte, ob Hannah Arendt eine politische „Philosophin“ oder politische „Theoretikerin“ ist (die sie selbst 1964 durch eine entsprechende Aussage im Gaus-Interview angeheizt hatte), ist in unserem Zusammenhang unerheblich. Deshalb wird davon abgesehen, darauf einzugehen und eine Entscheidung zu treffen. 71 Arendt, 2002: Heft XIII/2 (Januar 1953), S. 295. Unterstreichung im Original.

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veröffentlichtem Werk und den in der Library of Congress aufbewahrten unveröffentlichten Manuskripten argumentierend, überzeugend herausgearbeitet. In der „Conclusion“ zu ihrem Buch „Hannah Arendt: A Reinterpretation of Her Political Thought“ kann sie zusammenfassen: „Lecturing in 1955 on the history of political thought [at the University of California], she [Arendt] remarked that each of the key political thinkers of the past ,has thrown one word into our world, has augmented it by this one word, because he responded rightly and thoughtfully to certain decisively new experiences of his time‘. After following her thought trains we must, I think, concede that in the course of her own response to the experiences of her time, Arendt also ,augmented‘ the world by one word: the word ,plurality‘.“72

Der Gedankenweg unter dem Stichwort „plurality“ ist, wie anhand der in Abschnitt III besprochenen Dokumente gezeigt werden konnte, nicht geradlinig gewesen. Standen am Anfang Marxismus, Leninismus und Bolschewismus im Vordergrund der Orientierung, so war bald schon nur noch Karl Marx derjenige, mit dem sich Arendt auseinandersetzte. Diese Auseinandersetzung bei gleichzeitiger Lektüre vor allem der Werke von Platon führte zur kritischen Infragestellung der „gesamten“ abendländischen philosophischen Tradition, die schließlich in der Gegenüberstellung von „Philosophie“ und „Politik“ abgehandelt wurde. Doch den Hintergrundgedanken zu all den Fragen in diesen Zusammenhängen hat Arendt früh festgehalten. Bereits im August 1950 vertraut sie dem „Denktagebuch“ als Diktum an: „Politik beruht auf der Tatsache der Pluralität der Menschen“, womit sie ihre Frontstellung gegen Philosophie und Theologie der abendländischen Tradition, die „sich immer mit dem Menschen beschäftigen“, zum Ausdruck bringt.73 Auf diesem Hauptweg des Denkens ist Hannah Arendt auch nach den hier thematisierten Jahren ihres Schaffens weitergegangen und hat dabei, wie schon zuvor, mannigfache Nebenwege beschritten. Um im Bild zu bleiben: immer wieder hat es Zwischenaufenthalte gegeben, die durch Veröffentlichungen markiert werden können. Doch die Markierung „Ziel“ hat Arendt nie erreicht, ja vieles spricht dafür, dass sie sie nicht hat erreichen wollen. Ihre Erkenntnisse hat sie nicht systematisiert oder gar kanonisiert beziehungsweise deren Kanonisierung zugelassen. Schulbildend hat sie nie wirken wollen. Doch konsequent hat sie sich bis Ende der 1950er Jahre an den „fragwürdigen Traditionsbeständen im politischen Denken der Gegenwart“ abgearbeitet.74 (NB: Parallel lief – als „trains of thought which had lain dormant at the back of my mind“ – die Beschäftigung mit der Vita activa und dem Begriff

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Canovan, 1992: 280 f. Arendt, 2002: Heft I/21 („Was ist Politik?“), S. 15; Hervorhebung im Original. Vgl. auch Heft II/30 (Januar 1951), S. 53 f.: „Der Mensch, die Menschen“. Siehe ferner den oben zitierten Brief an Karl Jaspers, 4. März 1951. 74 Im gleichnamigen deutschen Buch (1957) sowie den Essays in „Between Past and Future“ (1961, 1968). 73

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des Handelns.75) Gegen Ende ihres Lebens schließlich hat sie sich zu dieser grundsätzlichen Ausrichtung ihres Denkens auch öffentlich bekannt: „I have clearly joined the ranks of those who for some time now have been attempting to dismantle metaphysics, and philosophy with all its categories, as we have known them from their beginning in Greece until today.“76

2. Reflexionen zur Methode Von diesem Hauptweg sei für den Zeitraum 1951 bis 1955 ein erster Nebenweg unterschieden. In der Aufarbeitung des ihr am Totalitarismusbuch von Kritikern angelasteten und selbst erkannten methodischen Defizits hat sich Hannah Arendt allgemein mit der „Methode in den Geschichtswissenschaften“ befasst sowie sich den spezifischen Schwierigkeiten des historischen Verstehens zugewandt.77 Diesen Denkweg dokumentieren der 1953 in der „Partisan Review“ veröffentlichte Essay „Understanding and Politics“78 sowie zwei nachgelassene Manuskripte, die vermutlich in seinem Vorfeld entstanden sind: „On the Nature of Totalitarianism: An Essay in Understanding“ (38 Seiten) im Bestand der Library of Congress zusammen mit einem weiteren undatierten und unvollständigen Manuskript ohne Titel (S. 1 bis 23).79 In beiden letztgenannten Manuskripten verfolgt Arendt die Verstehensproblematik vor allem in Hinsicht auf „the nature of totalitarianism“.80 Von diesen Reflexionen sind jene zu unterscheiden, die, wie Arendt im Denktagebuch formuliert, der „Ereignis- und Elementen-Theorie“ gelten, welche sie als Gegenkonzept zur Kausalitätstheorie entwirft. Das Ergebnis dieser Überlegungen wird Arendt veranlassen, 75 Diese Fokussierung ihres Denkens hat Arendt mit einer gewissen Verspätung 1960 auf dem APSA-Jahrestreffen in ihrem Referat über „Action and the ,Pursuit of Happiness‘“ publik gemacht (Arendt, 1962, das Zitat dort auf S. 1). – „The Human Condition“ war schon 1958 erschienen. 76 Arendt, 1978: vol. I, 212. 77 Zur „Methode in den Geschichtswissenschaften“ gibt es drei zeitnahe Eintragungen im „Denktagebuch“: Arendt, 2002: Heft IV/8 (Mai 1951), S. 89; Heft IV/23 (Juni 1951), S. 96 f.; Heft V/5 (Juni 1951), S. 105. Zum „Verstehen“ siehe oben im Guggenheim-Verlängerungsantrag, chapter I. 78 Arendt, 2016: Titel Nr. 117; abgedruckt in Arendt, 2018: 174 – 187. Der ursprüngliche Titel lautete wahrscheinlich „The Difficulties of Understanding“, siehe das im Durchschlag erhaltene Manuskript: LOC, Speeches and Writings File, 1923 – 1975, n.d. / Essays and lectures: „The Difficulties of Understanding“, essay – 1953; abgedruckt in Arendt, 2018: 159 – 173. 79 Beide in Arendt LOC Papers: Speeches and Writings File, 1923 – 1975, n.d. / Essays and lectures: „On the Nature of Totalitarianism: An Essay in Understanding“. Abdruck des erstgenannten in Arendt, 2018: 133 – 158. Das zweite unbetitelte Typoskript (LOC images 42 – 68) wird von den Gesamtausgabe-Herausgebern dem Titel „Ideology and Terror“ zugeordnet: Arendt, 2018: 52 – 67, 603. 80 Zusätzlich ist hinsichtlich der Verstehensproblematik Arendts „Reply“ auf Eric Voegelins Kritik an „The Origins of Totalitarianism“ zu berücksichtigen, Arendt, 2016: Titel Nr. 116, erschienen im Januar 1953 (kein Abdruck in Arendt, 2028).

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die deutsche Fassung ihres Totalitarismusbuches unter dem Titel „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ zu veröffentlichen und diese Entscheidung im Vorwort von 1955 wie folgt zu begründen: „Die Ursprünge liegen in dem Niedergang und Zerfall des Nationalstaates und dem anarchischen Aufstieg der modernen Massengesellschaft; die Elemente, die in diesem Zerfallsprozeß frei werden, sind ihrerseits in den ersten beiden Teilen [des Buches] in ihre historischen Ursprünge zurückverfolgt und in dem dritten Teil in ihrer totalitären Kristallisationsform analysiert.“81

Der methodische Denkweg kann damit als abgeschlossen angesehen werden. 3. Die Staatsformenlehre Unter dem Gesichtspunkt der Pluralität stellt sich als wichtigste Frage: Wie leben die Menschen zusammen? Als grundlegend hierfür bestimmt Arendt das Reden und das Handeln. Grundlegend aber ist weiterhin, dass das politische Zusammenleben sich in einem abgegrenzten Raum abspielt – eine Annahme, die die Lehre von den Staats- oder Herrschaftsformen und mit ihr das Werk „De l’Esprit des lois“ von Montesquieu in den Fokus rückt. Arendts entsprechende Ausführungen in veröffentlichten Werken und unveröffentlichten Manuskripten können einem zweiten Nebenweg ihres Denkens zwischen 1951 und 1955 zugeordnet werden. Aus ihren Studien zu Montesquieu, den sie als „the last political thinker to concern himself seriously with the problem of forms of government“ vorstellt,82 entwickelt Arendt ihre Bestimmung des Totalitarismus als „neue Staatsform“.83 Dabei richtet sich ihr Blick auf die Defizite der traditionellen Staatsformenlehre als Lehre vom Herrschen und Beherrschtwerden, in der Pluralität ausgeklammert sei. Hinsichtlich des Totalitarismus bringt Arendt diesen Denkweg zu einem Abschluss in dem Kapitel „Ideologie und Terrror: Eine neue Staatsform“, das sie an den Schluss von „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ und später von „The Origins of Totalitarianism“ stellt.84 Die Frage dagegen, wie es mit der Pluralität in der Lehre von den Staatsformen steht, wird sie weiter beschäftigen,85 ohne dass sie ihre entsprechenden Gedanken je in systematischer Form zur Veröffentlichung gebracht hätte.

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„Vorwort“ in: Arendt, 1986: 13 – 14, 14. Arendt, 1989: 202. Siehe auch oben FN 20. 83 Siehe dazu oben im Guggenheim-Verlängerungsantrag chapters III und IV; Gauss Lectures, part III; Arendt, „Ideologie und Terror“/„Ideology and Terror“ (oben FN 21). 84 Hierzu oben Abschnitt II. 85 So etwa hat sie für ihre nicht fertiggestellte „Einführung in die Politik“ ein Kapitel „Pluralität in den Staatsformen“ vorgesehen, siehe Dokument 1 (= LOC, Speeches and Writings File, 1923 – 1975, n.d., Essays and lectures, „Einführung in die Politik“, lecture – n.d. [folder 7 of 7]), in Arendt, 1993: 191 – 197, 196. 82

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V. Schluss Zu Beginn konnte darauf aufmerksam gemacht werden, dass der von den Gesamtausgabe-Herausgebern gewählte Titel „The Modern Challenge to Tradition“ nur einmal und an untergeordneter Stelle in Arendts hinterlassenen Manuskripten vorkommt und kurz darauf durch lediglich zwei an demselben Tag geschriebene Briefe verbürgt ist. Seine Aussagekraft also ist, von Arendt her gesehen, zeitlich und inhaltlich begrenzt. Dass die Herausgeber ihn dennoch für ihre Edition ausgewählt und ihr Augenmerk auf „ein“ von ihnen so betiteltes Buch gerichtet haben, zeigt an, dass sie eine eigene Agenda verfolgen. Dieser Eindruck eines eher von außen kommenden und nicht Arendt-immanenten Vorgehens verstärkt sich, wenn man das Inhaltsverzeichnis des Bandes hinzuzieht. Arendts Veröffentlichungen und Manuskripte aus der Zeit 1952 bis 1954, soweit sie erhalten sind, sind in drei Kapiteln angeordnet: „The Great Tradition (June 1952-July 1953)“, „The Modern Challenge to Tradition (July-December 1953)“, „Eine Art Buch – A book that can’t be written (January-September 1954)“. Unter dem Titel des zweiten Kapitels, der zum Gesamttitel des Bandes erhoben wurde, sind die meisten Manuskripte aus dem Bestand „Gauss Lectures“ versammelt. Jedoch folgen die Herausgeber dabei nicht der Ordnung, in der sie in der Library of Congress aufbewahrt werden – und wie sie, soweit wir wissen, in Arendts Wohnung hinterlassen wurden. Vielmehr haben sie sie neu geordnet. Ihre Ordnung erfolgte auf der Grundlage material-philologischer Kriterien („by the material features“) der Manuskripte, besonders der Zuweisung zu der jeweils benutzten Schreibmaschine.86 So gibt es nun vier Kategorien von „drafts“, davon drei mit dem KarlMarx-Titel und ein „Palenville Fragment Draft“ genannter Entwurf, der nicht identisch ist mit dem von Arendt als „Preliminary – Palenville 53“ gekennzeichneten Konvolut.87 In der vierten Kategorie werden unterschieden: ein „First New York Fragment“ und ein „Second New York Fragment“ sowie „Gauss Material Part I“ und „Part II“, wobei „Tradition and the Modern Age“ (die Veröffentlichung, die Arendt an Scholem als „Anfang“ der Vorlesungsreihe verschickte88) und ein „draft“ ausgegliedert und dem dritten Kapitel („Eine Art Buch …“) zugeordnet sind. Durch diese neue Präsentation der Manuskripte wird es m. E. dem Leser erschwert, Hannah Arendts Denkwege in der infrage kommenden Zeit zu erkennen und zu verfolgen.89 86

Arendt, 2018: 702 ff. Dabei wird eine Reiseschreibmaschine (auch „Palenville typewriter“) von einer Schreibmaschine (auch „New York typewriter“) unterschieden und, soweit ersichtlich, nicht bedacht, dass Arendt auch in New York die Reiseschreibmaschine benutzt haben könnte. 87 Jenes wird vielmehr mit im Kommentar S. 711 ff. begründeten Veränderungen, als dritte Kategorie der „drafts“, unter Titel und Untertitel seines maschinenschriftlichen Originals „Karl Marx and the Tradition of Western Political Thought. The Modern Challenge to Tradition“ auf S. 264 ff. abgedruckt. 88 Siehe oben Abschnitt II und FN 38 und 39. 89 Hinzu kommt die Schwierigkeit, die neue Textanordnung mit der überlieferten, welche auch vielen Arbeiten der bisherigen Arendt-Sekundärliteratur und Teilveröffentlichungen von

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Wahrnehmungen und Überlegungen dieser Art sind es gewesen, die dazu führten, dieses Memorandum zu verfassen. Wie „The Modern Challenge to Tradition“ soll es den Blick auf Arendts damalige Denkwege lenken, ihn aber gleichzeitig weiten und inhaltlich fokussieren. Hinsichtlich des wichtigsten Manuskriptkonvoluts aus dieser Zeit, der Gauss Lectures, stützt es sich im dritten Abschnitt grosso modo auf dieselben Manuskripte wie der Gesamtausgabe-Band. Es wird jedoch die Ordnung, wie sie in den LOC Papers überliefert ist, zugrunde gelegt, weil mit ihr – entgegen der Meinung der Herausgeber – ein in sich abgeschlossenes Konvolut überliefert ist. Der Blick wird insofern geweitet, als eine größere Zeitspanne – die Zeit von der Beendigung der „Origins“ (1951) bis zur Veröffentlichung der „Elemente und Ursprünge“ (1955) – Berücksichtigung findet; er wird anders fokussiert, indem die reichlich vorhandenen werkgeschichtlichen Äußerungen der Autorin sowie im Nachlass überlieferte Dokumente und die Texte in ihren inhaltlichen Bezügen zu Arendts damaligen Denkwegen ausgewertet werden. Als Ergebnis sei festgehalten, dass Arendts Denkwege in dem berücksichtigten Zeitraum präziser bestimmt werden können als unter dem Titel „The Modern Challenge to Tradition“ erkennbar und in dem Band der Gesamtausgabe mitgeteilt. Deutlich wird, dass das Bemühen um eine Neubestimmung der Politischen Wissenschaft im Sinne einer politischen Theorie der menschlichen Pluralität, welche den Erfahrungen mit totalitären Herrschaftssystemen des 20. Jahrhunderts und entsprechenden Verstehensanstrengungen geschuldet ist, den Hauptdenkweg bezeichnet. Dabei spielen, methodologisch gesehen, Arendts Auseinandersetzung mit der Verstehensproblematik und ihre Überlegungen im Sinne einer „Ereignis- und Elemententheorie“ eine nicht zu übersehende Rolle sowie, sozusagen als Anwendung der eigenen Erkenntnisse in einem spezifischen Bereich der Politischen Wissenschaft, die Beschäftigung mit der überlieferten Staatsformenlehre und in deren Rahmen die Herausarbeitung einer durch Ideologie und Terror bestimmten „neuen Staatsform“.90 Allgemeiner formuliert: Die im Gesamtausgabe-Band veröffentlichten Texte bezeugen Arendts unermüdliche Anstregung eines thaumadzein, das, ständig suchend und übend, sich bemüht herauszufinden, wie es dazu kam, dass „die Hintertreppen-Tradition die Pfade vorzeichnen konnte“ – ein Bemühen, das nicht Selbstzweck war; denn „es wird keinen Ausweg geben, bevor wir nicht wissen, warum aus der grossen Tradition keine Wege gebahnt werden konnten“.91 In dem Essay, den Arendt 1955 ans Ende der deutschen Ausgabe ihres Totalitarismusbuches, „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, stellte, finden ihre Mühen einen gewissen Abschluss. Man könnJerome Kohn (in: Arendt, 2005) zugrunde liegt, in Beziehung zu setzen; denn die Herausgeber haben zwar bei der Reproduktion der Manuskripte die Seitenzahlen in den Arendtschen Originalen am Rand in eckigen Klammern dokumentiert, es aber nicht für nötig gehalten, ihrem Band eine Konkordanz beizugeben. 90 Weiteren Bereichen wird sich Arendt in den Folgejahren zuwenden, siehe vor allem ihre Veröffentlichungen „Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart“ (1957) und „Between Past and Future“ (1961, 1968). 91 Arendt, 2002: Heft III/22, S. 69.

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te auch, die Perspektive wechselnd, sagen: Auf dem Weg zu „The Human Condition“/„Vita activa“ hat sie Ballast abgeworfen. So unpräzise der Titel „The Modern Challenge to Tradition“ hinsichtlich der konkreten Denkwege von Hannah Arendt in den Jahren 1951 bis 1955 ist, so allgemein zutreffend andererseits bleibt das darin zum Ausdruck kommende Anliegen für das Gesamtwerk. In letzerem Sinne konnte Hannah Arendt oben zitiert werden: „I have clearly joined the ranks of those who for some time now have been attempting to dismantle metaphysics, and philosophy with all its categories, as we have known them from their beginning in Greece until today.“92 Doch fällt es schwer sich vorzustellen, dass ein Buchprojekt mit entsprechender Themenstellung im von den Herausgebern berücksichtigten Zeitraum bestanden hat.93 Insofern mag „The Modern Challenge to Tradition“, wie es in einem Unterkapitel des Bandes heißt, tatsächlich „a book that can’t be written“ gewesen sein. Allerdings scheint es wenig hilfreich, die aus den frühen 1950er Jahren stammenden Schriften Hannah Arendts und zeitgleichen nachgelassenen Manuskripte als „Fragmente“ dieses Buches vorzustellen. Denn was ist damit ausgesagt? Abgesehen davon, dass die Herausgeber entgegen ihrer erklärten Absicht94 eine klare interpretatorische Vorgabe liefern, wird eine Sicht auf die konkreten Arendtschen Denkwege eher behindert als gefördert. Dem stellt sich dies Memorandum entgegen. Es will daran erinnern, dass in den im Band 6 der Gesamtausgabe veröffentlichten Schriften und Manuskripten Denkwege sichtbar werden, die über Hannah Arendts intellektuelle Biografie in den Jahren 1951 bis 1955 Auskunft geben – Auskünfte, die näher an den Arendtschen Texten liegen als die Aussagen,welche der Vorschlag von einem Buch mit dem Titel „The Modern Challenge to Tradition“ bereithält.95

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Siehe Fußnote 76. Dieser Einschätzung könnte zusätzliche Plausibilität dadurch zukommen, dass sich bei genauer Analyse des LOC-Manuskriptteils „Preliminary – Palenville 53“ (= Arendt, 2018: 264 ff., siehe oben FN 87) herausstellen könnte, er sei als ganzer von Arendt verworfen worden – eine Vermutung, die sich bereits dann einstellt, wenn man die LOC-Manuskripte der Gauss Lectures unter „Second Drafts“ (siehe FN 54) mit diesem Manuskriptteil inhaltlich auch nur oberflächlich vergleicht. 94 „Die Ausgabe will Lektüren ermöglichen und nicht vorgeben“, heißt es in den editorischen Prinzipien zu „The Modern Challenge to Tradition“, Arendt, 2018: 596. 95 Der Eindruck des Rezensenten Dieter Thomä, dass mit diesem Band Arendts „Scheitern“ dokumentiert wird, mag angesichts der Präsentation der Dokumente im GesamtausgabeBand gerechtfertigt sein (Thomä, 2018). Er kann jedoch, wenn man die im Memorandum vorgestellten Zusammenhänge berücksichtigt, schwerlich bestätigt werden. Bei Arendts geistiger Entwicklung zwischen „The Origins of Totalitarianism“ und „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ handelt es sich um eine Zwischenphase, die aber für die Autorin insofern produktiv war, als sie sie auf den Weg zu den Werken „The Human Condition“ und „On Revolution“ weiterführte. 93

Hannah Arendts Denkwege 1951 bis 1955

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Literatur Arendt, Hannah (1957), Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart: Vier Essays. Aus dem Englischen übertragen von Lotte Beradt, Frankfurt a. M: Europäische Verlagsanstalt, o. J. [1957]. – (1962), Action and the Pursuit of Happiness. In: Dempf, Alois/Arendt, Hannah/Engel-Janosi, Friedrich (Hrsg.), Politische Ordnung und menschliche Existenz: Festschrift für Eric Voegelin zum 60. Geburtstag. München: Beck Verlag, 1962, 1 – 16. – (1976), Die verborgene Tradition. Acht Essays. Frankfurt a. M: Suhrkamp. – (1978), The Life of the Mind. New York/London: Harcourt Brace Jovanovich (A Harvest/ HBJ Book). – (1986), Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [1955]. Ungekürzte Ausgabe. München: Piper (Serie Piper, 645). – (1989), The Human Condition [1958]. paperback edition. Chicago: University of Chicago Press. – (1993), Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass. Hrsg. von Ursula Ludz. München/Zürich: Piper Verlag. – (1994), Essays in Understanding, 1930 – 1954. Ed. by Jerome Kohn. New York etc.: Harcourt Brace. – (2002), Denktagebuch, 1950 bis 1973. Hrsg. von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann, in Zusammenarbeit mit dem Hannah-Arendt-Institut Dresden, 2 (durchnummerierte) Bände. München/Zürich: Piper Verlag. – (2005), The Promise of Politics. Ed. and with an introduction by Jerome Kohn. New York: Schocken Books. – (2016), Bibliographie: Zusammenstellung aller deutsch- und englischsprachigen Veröffentlichungen [Titel Nr. 1 bis 331]. In: dies. „Ich will verstehen: Selbstauskünfte zu Leben und Werk“. Hrsg. von Ursula Ludz, 7. Aufl., München/Zürich: Piper Verlag (Taschenbuch, 4591), 2016, 257 – 331. – (2018), The Modern Challenge to Tradition: Fragmente eines Buches. Hrsg. von Barbara Hahn und James McFarland unter Mitarbeit von Ingo Kieslich und Ingeborg Nordmann, Göttingen: Wallstein Verlag, 2018 (= Hannah Arendt, „Kritische Gesamtausgabe. Druck und Digital“. Hrsg. von Barbara Hahn, Hermann Kappelhoff, Patchen Markell, Ingeborg Nordmann und Thomas Wild, Bd. 6). [Die Digitalausgabe ist angekündigt, aber noch nicht erschienen.] Arendt, Hannah; Blücher, Heinrich (1996), Briefe 1936 bis 1968. Hrsg. und mit einer Einführung von Lotte Köhler. München/Zürich: Piper Verlag. Arendt, Hannah; Blumenfeld, Kurt (1995), ,… in keinem Besitz verwurzelt‘: Die Korrespondenz. Hrsg. von Ingeborg Nordmann und Iris Pilling, Hamburg: Rotbuch Verlag. Arendt, Hannah; Freundinnen (2018), „Wie ich einmal ohne dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen“. Briefwechsel mit den Freundinnen Charlotte Beradt, Rose Feitelson, Hilde Fränkel, Anne Weil und Helen Wolff. Hrsg. von Ingeborg Nordmann und Ursula Ludz, München: Piper Verlag. Arendt, Hannah; Heidegger, Martin (2002), Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, aus den Nachlässen hrsg. von Ursula Ludz, 3., durchges. und erw. Aufl. Frankfurt a. M: Vittorio Klostermann.

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Arendt, Hannah; Jaspers, Karl (1985), Briefwechsel 1925 – 1969. Hrsg. von Lotte Köhler und Hans Saner. München/Zürich: R. Piper. Arendt, Hannah; Kazin, Alfred (2005), The Correspondence between Hannah Arendt and Alfred Kazin. Hrsg. von Helgard Mahrdt. In: Samtiden (Oslo), Nr. 1, February 2005, 120 – 141. Arendt, Hannah; Scholem, Gershom (2010), Der Briefwechsel. Hrsg. von Marie Luise Knott unter Mitarbeit von David Heredia. Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag. Canovan, Margaret (1992), Hannah Arendt: A Reinterpretation of Her Political Thought. Cambridge etc.: Cambridge University Press. Gallas, Elisabeth (2013), Das Leichenhaus der Bücher: Kulturrestitution und jüdisches Geschichtsdenken nach 1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, Band 19). Lederman, Shmuel (2017), Arendt and Blücher: Reflections on Philosophy, Politics, and Democracy. In: Arendt Studies, Vol. 1, 2017, 87 – 110. Thomä, Dieter (2018), Im Clinch mit einem gewieften Saboteur. Der erste Band der neuen Gesamtausgabe Hannah Arendts liegt nun endlich vor … In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 13. Oktober 2018. *Die Abkürzung „LOC“ steht für The Library of Congress, Washington, DC, USA. Hannah Arendts dort aufbewahrter Nachlass („The Papers of Hannah Arendt“) ist im Internet abrufbar: http://memory.loc.gov/ammem/arendt.html/arendthome.html

Schönheit, Kunst und Macht Politischer ,Ästhetizismus‘ aus ,ästhetisch-politologischer‘ Sicht Von Mario Wintersteiger Abstract This contribution deals with ,Aesthetic Political Theory‘ (D. A. von Vacano) – a perspective neglected by the mainstream of political science. ,Aesthetic conservatism‘ (J. Andres/W. Braungart) and an ,aestheticising‘ form of socialism, which could be found in the circle surrounding the Pre-Raphaelites, will serve as case studies. A framework for hermeneutic examination is developed in the line of the ,dark authors of the bourgeoisie‘ (M. Horkheimer/T. W. Adorno) and the topoi of empirical and psychological aesthetics. The key concepts of aesthetic political theory enable us to grasp the phenomenon of political ,aestheticism‘, its public staging and its political ,style‘, which is marked by its elitist attitudes, its cult of beauty (linked with cultural criticism and a criticism of capitalism) and the utopia of a ,state of artists‘ (U. Raulff).

I. Annäherung – Impulse zu Kunst, Ästhetik und Politikwissenschaft „Ein System, in welchem die Venus von Milo nur ein Götzenbild ist, ist ein falsches oder doch teilweise falsches System“,1 urteilte einst Ernest Renan, offenkundig erfüllt von Furcht vor einem „Verfall der Kunst“ im Schatten ,bilderstürmerischer‘ Ideale.2 Als Impuls für eine ,kunstpolitologische‘3 Abhandlung ist die Sentenz des französischen Gelehrten gewiss mehrschichtig. Auf ihre religionsphilosophischen Untertöne wollen wir hier nicht eingehen, da es nicht darum gehen soll, eine ,politisch-metaphysische‘ Theorie zu entwerfen.4 Als kulturkritisch gefärbte Klage verweist sie uns jedoch auf Phänomene, die es zu untersuchen gilt, nämlich den enthusiastischen „Bilderdienst“ (Gert Mattenklott),5 also einen unverblümten Schönheitskult,6 und das regelrechte Primat der Kunst, wie es uns im sogenannten „Ästhetizismus“ begegnet.7 Zu bedenken – und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht – ist auch der 1

Renan, o. J. (ca. 1894): 301. Vgl. ebd. 3 Zu den Konturen einer „Kunstpolitologie“ vgl. Beyme, 1998: 7 – 37. 4 Über (politikwissenschaftliche) Theorie und Metaphysik vgl. Ottmann, 2005: 16 – 20. 5 Mattenklott, 1970. 6 Vgl. insbes. die Argumentationsstruktur bei Renan, o. J. (ca. 1894): 301. 7 Zum Schönheits- und Kunstverständnis des „Ästhetizismus“ vgl. Wuthenow, 1978: bes. 123 ff. 2

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in zitiertem Bonmot zurückgewiesene Gegenpol: der bilderfeindliche Geist, der bekanntlich ursprünglich aus religiöser Quelle stammt und sich erst gegen heidnische, später auch gegen katholische Kultpraktiken wandte.8 Das so entstandene, spannungsgeladene Feld ist nicht bloß Bühne für „rituelles Theater“ (Camille Paglia),9 sondern auch – wie die Geschichte lehrt – (potentiell) politische Arena. Ein Kunstwerk kann – so zeigt etwa Horst Bredekamp am Beispiel der vorneuzeitlichen „Bilderkämpfe“ – durchaus zum „Medium sozialer Konflikte“ werden.10 Damit aber wird es zu einem Gegenstand, der – trotz der Grenzlinien zur Kunsthistoriographie11 – die Aufmerksamkeit der Politikwissenschaft verdient. Freilich trifft wohl noch immer zu, was Klaus von Beyme über eine geschichtsbewusste „Kunstpolitologie“ gesagt hat, nämlich, dass sie wenig etabliert ist und lediglich von der ideenhistorisch interessierten „Randgruppe“ innerhalb der Disziplin ernsthaft betrieben wird.12 In diesem Zusammenhang verdient zudem einige Beachtung, wie vergleichsweise langsam und misstrauisch die politologische Gemeinschaft (im deutschsprachigen Raum) die Denkanstöße des „cultural turn“ aufgelesen und fruchtbar gemacht hat.13 Nun mag es dafür auch verständliche Gründe geben,14 doch stellt sich – frei nach unserem einleitenden Zitat – die Frage, ob es nicht auch noch so etwas wie einen akademischen „Ikonoklasmus“ gibt, der sich insbesondere gegen die Auswirkungen des „iconic turn“ stemmt.15 Diese methodisch-,ikonoklastische‘ Haltung, die vor den (kulturellen) Formen und Bildern zurückschreckt,16 dürfte allerdings die Zeichen der Zeit eindeutig gegen sich haben.17 Es scheint sich nämlich so zu verhalten, dass – wie Wolfgang Welsch es einmal formuliert hat – ,zeitgemäßes‘ Denken heute fast unweigerlich „ästhetisches Denken“ bedeuten muss.18 Analog zu Renan, der es für (zumindest teilweise) „falsch“ hielt, die „Venus von Milo“ zum bloßen „Götzenbild“ herabzuwürdigen,19 könnten wir also sagen: Eine Politologie, die quasi-,ikonoklastisch‘ auf dem ,kulturellen Auge‘ blind wäre,20 wäre ein (wenigstens teilweise) verfehltes System.

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Zu Kultästhetik und religiöser Bilderfeindschaft vgl. Paglia, 1992: bes. 48 – 52. Paglia, 1993: 109. 10 Vgl. Bredekamp, 1975. 11 Zum (leider wenig innigen) Verhältnis von Politikwissenschaft und Kunstgeschichte vgl. Beyme, 1998: 7 ff. 12 Vgl. ebd.: 7. 13 Vgl. für diesen Befund Schwelling, 2004: 11. 14 Vgl. darüber ansatzweise ebd. 15 Vgl. dazu etwa das (kunstwissenschaftliche) Plädoyer von Sauerländer, 32005. 16 Zu diesen Charakteristika des „iconoclasm“ vgl. Maffesoli, 1996: 9 f. 17 Für diese Einschätzung vgl. auch ebd.: 10. 18 Vgl. Welsch, 20036 : 42. 19 Vgl. Renan, o. J. (ca. 1894): 301. 20 Zur Bedeutung der „kulturalistischen“ Zugänge für eine abgeklärte Politologie vgl. Reckwitz, 2004: 33 – 38. 9

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II. Politische Theorie und politischer ,Ästhetizismus‘ Trotz der mittlerweile erfolgten Rezeption des „cultural turn“ wird in jüngerer Zeit mitunter bemängelt,21 dass der politikwissenschaftliche „mainstream“ es nach wie vor (oder aber wieder) häufig verabsäumt,22 Politik und Ästhetik in ihrer wechselseitigen Durchdringung zu thematisieren und sie auch theoretisch fassbar zu machen.23 Wie bereits angedeutet, ist dies angesichts der – schon seit längerem vernehmbaren – Befunde über die zunehmende ,Kraft der Bilder‘24 beziehungsweise über die Ästhetik als „Schlüsselkategorie unserer Zeit“ (Welsch) bedenklich und beklagenswert.25 Zwar gibt es in der Politikwissenschaft inzwischen eine bemerkenswerte Anzahl aufschlussreicher ,Kulturansätze‘,26 eine vollwertige „Kunstpolitologie“ samt entsprechender politischer Theorie scheint jedoch nach wie vor ein Desideratum zu sein.27 Es ist hier freilich nicht der Ort, eine solche auch nur ansatzweise zu entwerfen. Der bescheidene Beitrag, den wir an dieser Stelle leisten können, ist lediglich jener, eine mitunter vernachlässigte ,ästhetische‘ Perspektive (in inhaltlicher wie methodologischer Hinsicht) aufzugreifen und die moderne „Ästhetisierung der Politik“ (Walter Benjamin) politiktheoretisch-ideengeschichtlich zu thematisieren.28 In seinem Buch The Art of Power, dem wir diesbezüglich wichtige Anregungen verdanken, hat Diego A. von Vacano vorgeschlagen, sich auf den ,ästhetischen‘ Charakter politischer Theorie zurückzubesinnen, auf den die griechischen Wörter „theoria“ und „theoros“ verweisen, mit denen man konkrete visuelle ,Beobachtungen‘ benannte.29 Sein Plädoyer, sich ,ästhetisch-politiktheoretischer‘ Analyseinstrumente zu bedienen, läuft auf das Projekt hinaus, Politik wie eine ,Kunst‘ zu beleuchten30 und sie durch Anleihen aus der Kunsttheorie beziehungsweise der (philosophischen) Ästhetik zu erklären.31 Das Spektrum, das Vacano dabei im Auge hat, umfasst nicht bloß die Themenkomplexe ,Kunst‘ und ,Schönheit‘, sondern – getreu dem griechischen Verb „aisthesthai“ – den sinnlichen Zugang an sich und die damit verbundenen Empfindungen.32 Als Früchte dieses Zugangs verspricht er sich nicht weniger, als in ,machiavellistisch-nietzscheanischer‘ Tradition zu den politischen Realitäten vorzustoßen,33 die politische ,Kunst‘ quasi „l’art pour l’art“ zu erforschen34 und schließlich 21

Für einen guten Überblick dazu vgl. Schwelling, 2004. Über diesen „mainstream“ vgl. Reckwitz, 2004: 33 – 36. 23 Vgl. bes. Vacano, 2007: 140. 24 Vgl. z. B. Hofmann, 1999: 7 f. 25 Welsch, 1993. 26 Vgl. darüber Reckwitz, 2004: bes. 36 ff. 27 Zur Lage der „Kunstpolitologie“ vgl. Beyme, 1998: 7 ff. 28 Benjamin, 1977: 44. 29 Vgl. Vacano, 2007: 140. 30 Vgl. ebd.: 139 ff. 31 Vgl. ebd.: 5 u. 141. 32 Vgl. ebd.: 143. 33 Vgl. ebd.: 1 f. 22

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das politische ,Schauspiel‘ mit seinen machtvollen Symbolen, emotionalen Ritualen und theatralischen Bildern zu verstehen.35 Wir werden auf diese ,ästhetisch-politologischen‘ Verfahren noch näher eingehen, wenn es gilt, das untersuchte Phänomen methodisch in den Griff zu bekommen, doch kommen wir – lege artis – zunächst noch zum theoretischen Umriss unseres Gegenstandes,36 des politischen ,Ästhetentums‘. Worum genau handelt es sich nun dabei? Die Frage nach dem Wesen des „Ästhetizismus“ beantwortet Ralph-Rainer Wuthenow in seinem Buch Muse, Maske, Meduse: Es handelt sich demnach um eine individualistische Haltung, die sich durch eine quasi-,sakrale‘ „Glorifizierung der Kunst“ sowie durch einen „Schönheitskult“ auszeichnet, der das Schöne an die Spitze jeder Wertehierarchie stellt.37 Ideenhistorisch gedeutet wird dieses Phänomen dabei als moderne „Reaktion“ auf die gewandelte Rolle der Künste sowie auf manche als ,unästhetisch‘ empfundene Seiten der technisch-industriellen Welt.38 Wann aber wird ein derartiges Normensystem zur politischen Gesinnung? Wohl allerspätestens dann, wenn sich aus ihr die Utopie eines „Künstlerstaats“ herauskristallisiert, wie sie Ulrich Raulff beschrieben hat – also der Entwurf einer elitären Gesellschaft, in der die Macht um der „schönen Politik“ willen in ,Künstlerhände‘ gelegt wird.39 Wenn sich dieser ,Ästhetizismus‘ so umreißen lässt, wo wäre er dann in einem politischen Koordinatensystem zu verorten? Walter Benjamin hat in seiner Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit bekanntlich von der „Ästhetisierung der Politik“ als einer genuin faschistischen Taktik gesprochen.40 Wie die Kritik nicht müde wird zu betonen, ist diese ,ästhetische‘ politische Praxis allerdings keineswegs auf die Faschismen beschränkt,41 da die Fronten diesbezüglich weit weniger klar verlaufen als von Benjamin behauptet. Das wird schon an jenen – von uns nachher thematisierten – Ästheten deutlich, die sich im Umfeld der Präraffaeliten und des englischen „Fin de siècle“ bewegten,42 bei denen es sich nicht um Faschisten avant la lettre handelte, sondern um ,Liberalkonservative‘ (wie Dante Gabriel Rossetti)43 oder um erklärte (wenn auch unorthodoxe) Sozialisten (wie William Morris und Oscar Wilde).44 Gerade der Fall des zuletzt genannten irischen 34

Vgl. ebd.: 154. Vgl. ebd.: 185 – 195. 36 Über das Verhältnis von Theorie, Gegenstand und Methode vgl. Voegelin, 2004: 21 ff. 37 Vgl. Wuthenow, 1987: 11 ff. 38 Vgl. ebd.: 12 ff. 39 Vgl. Raulff, 2006: bes. 9 ff. 40 Vgl. Benjamin, 1977: 44. 41 Zur Kritik an Benjamin sowie zur Auseinandersetzung mit der spezifisch faschistischen Ästhetik vgl. Vacano, 2007: 186 ff. 42 Vgl. darüber Mennemeier, 1988: 179 – 193. 43 Vgl. dazu Bentley, 1979. 44 Vgl. diesbezüglich Morris, 1992: bes. 133 – 144; Wilde, 1904: 7 – 98. 35

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Schriftstellers zeigt überdeutlich, dass ein „ästhetischer Konservatismus“ (Jan Andres/Wolfgang Braungart),45 der politisch nicht per se eindeutig positionierbar ist,46 durchaus eine recht ,anarchische‘ Form annehmen kann.47 Friedmar Apel deutet dazu an, dass wohl manche Elemente einer solch individualistischen ,Lebenskunst‘, die einst als „subversiv“ galten, mittlerweile ihren Weg in die breitere Gesellschaft gefunden haben.48 Der eigenwillig ,anarchische‘ Stil, in dem wir den Ausdruck eines freiheitsliebenden „Dandysmus“ erkennen können,49 lässt sich aber – wie Günter Erbe demonstriert – auch heute noch als Typus nachweisen – freilich in einer oft etwas trivialisierten Form,50 die sich politisch ,postmodern-populistisch‘ äußern kann.51 Weshalb konzentrieren wir uns trotz dieser aktuellen Bezüge auf ein eher unorthodoxes, zeitlich weit zurückliegendes Phänomen wie den politischen ,Ästhetizismus‘ im Gefolge der Präraffaeliten? Der Grund ist der, dass hier – wie die Historiographie zeigt – die „ästhetische Opposition“ kulturkritischer Künstler „in ihr eigentlich radikales Stadium getreten“ ist,52 wodurch wir die „Gegenmacht der Kunst“53 (Beyme) in großer Klarheit und – wegen des zeitlichen und räumlichen Abstands – auch sine ira et studio analysieren können. Wenn es nun darum geht, einige Problemfelder der ,ästhetisch-politologischen‘ Forschung zu skizzieren, schöpfen wir unser Anschauungsmaterial daher bewusst aus jener ideenhistorischen Quelle. III. ,Ästhetisch-politiktheoretische‘ Leitbegriffe Es ist nun an der Zeit, zu verdeutlichen, wie ein ,ästhetisch-politologisches‘ Analyseraster überhaupt aussehen könnte. Wie erwähnt, knüpft Vacano in The Art of Power an Machiavelli und Nietzsche an,54 zwei der eigentümlich faszinierenden „dunklen Schriftsteller des Bürgertums“ (Max Horkheimer/Theodor W. Adorno).55 Was er aus ihnen zu gewinnen trachtet, ist eine ,ästhetische‘, also sinnliche Perspektive auf politische Phänomene, die mit einer gewissen empirischen Nüchternheit, zugleich aber auch mit einiger Kunstsinnigkeit betrachtet werden sollen.56 Als Grund45

Andres/Braungart, 2007: 9. Vgl. zu dieser Charakterisierung ebd. 47 Vgl. dazu Apel, 2007: bes. 205 – 208 (konkret zu Wilde). 48 Vgl. ebd.: 213. 49 Vgl. darüber Wintersteiger, 2012: 90 f. 50 Vgl. Erbe, 2004: 31 ff. 51 Vgl. ebd.: 35. 52 Vgl. Mennemeier, 1988: 179 f. 53 Beyme, 1998: 145. 54 Vgl. Vacano, 2007: 1 f. u. passim. 55 Horkheimer/Adorno, 172008: 126 (für den konkret zitierten Begriff). Für die Zuordnung der Autoren vgl. ebd.: 97 u. 126 f. 56 Vgl. Vacano, 2007: 1 ff. 46

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axiom dient dabei die Annahme, dass Politik – gleich welcher Art – stets eine ,ästhetische‘ Dimension besitzt.57 Wie wird nun versucht, diese in den Fokus zu bekommen? Vacano schlägt vor, analog zu den „rational choice“-Ansätzen in der Politikwissenschaft die analytischen Schlüsselkonzepte ,von außen‘ zu ,importieren‘, im Falle der „aesthetic political theory“ aber nicht aus der Ökonomie, sondern eben aus der Kunsttheorie beziehungsweise aus der Ästhetik (als einem Teilbereich der Philosophie).58 Das kategoriale Rahmenwerk ergibt sich dann durch die gezielte Anleihe dreier theoretischer Leitbegriffe der Ästhetik („representation“, „emotion“, „form“), mit denen die politische Nachahmung, die repräsentativen Darstellungen, Ausdrucksformen und Ordnungen ins Blickfeld geraten.59 Wir werden diese ,ästhetisch-politischen‘ Themenfelder nun näher skizzieren und die drei Linien einzeln weiterverfolgen, um – zumindest streiflichtartig – einen konkreten qualitativ-hermeneutischen Zugriff auf einige Erscheinungsformen des politischen ,Ästhetizismus‘ zu ermöglichen.60 IV. Präraffaelitische ,Repräsentation‘ des Mittelalters, der Arbeit und der Weiblichkeit Der erste Faden, den wir hier aufnehmen wollen, betrifft den Komplex der ,Repräsentation‘, der für Vacano mehrere Facetten besitzt: Zunächst erwähnt er die politische Praxis bzw. ,Kunst‘ des ,Nachahmens‘ („imitation“), die sich an großen, bewährten Vorbildern der Vergangenheit (Personen oder Staaten) orientiert und gerade deshalb Bewunderung erweckt.61 Danach umfasst der Problemkreis die ,blendende‘ Wirkung („deception“) politischer Ästhetik, sprich den kunstvoll erzeugten ,Schein‘.62 Damit verbunden ist schließlich die eigentliche Repräsentationsfrage, die für Vacano um das öffentliche ,Erscheinen‘ („appearance“) kreist, also etwa um den Prozess, bisher Verborgenes auf einer politischen ,Bühne‘ erst sichtbar zu machen.63 Für alle drei genannten Teilaspekte lassen sich aufschlussreiche Beispiele bei den englischen Präraffaeliten finden. Wer deren Gründungsgeschichte nachliest, erfährt Folgendes: Im ,Revolutionsjahr‘ 1848 entstand die „Pre-Raphaelite Brotherhood“ als Gemeinschaft idealistischer junger Künstler, die sich zusammenschlossen, um die etablierte Kunst herauszufordern und der viktorianischen Gesellschaft gegenüber

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Vgl. ebd.: 185 f. Vgl. ebd.: 141. 59 Vgl. ebd.: 145. 60 Zur Theorie- und Methodenfrage im Zusammenhang mit Kultur und Kunst vgl. z. B. Reckwitz, 2004: bes. 36 ff. sowie Gadamer, 1993: bes. 1 – 8. 61 Vgl. Vacano, 2007: 145 ff. 62 Vgl. ebd.: 147 f. 63 Vgl. ebd.: 148 f. 58

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ein Zeichen zu setzen.64 Als charakteristisch für sie gelten die Begeisterung für die italienische Kunst vor Raffael, die romantische Hinwendung zur Natur und die nostalgische Zuneigung zum Mittelalter, das als verklärtes Vorbild der (damaligen) Gegenwart gegenübergestellt wurde.65 Schon solch ein erster, noch eher oberflächlicher Blick auf die ,Präraffaeliten-Bruderschaft‘ und ihre – von manchen als „Archäoavantgarde“66 beschriebene – Ausrichtung lässt eine Fülle von ,Repräsentationen‘ (in erwähntem Sinne) erkennen. Am offensichtlichsten ist dies in ihrer stilistischen Anlehnung an historische und mythologische Persönlichkeiten, Formen und Gebräuche – etwa in ihrer Selbstdarstellung als ,Tafelrunde‘ nach dem Beispiel der Ritter der Artussage67 oder allgemeiner in ihrer Orientierung an der Kunst des Mittelalters und der Frührenaissance.68 So wie all dies manchen ästhetischen Bedürfnissen einer industrialisierten Zeit entgegengekommen sein mag,69 so waren die Präraffaeliten doch auch ein Stein des Anstoßes. Aus der Kunsthistoriographie nämlich wissen wir, dass ihre Bilder mitunter als äußerst ,skandalös‘ empfunden wurden, etwa, wenn ein religiöses Motiv der damaligen Öffentlichkeit als ,blasphemisch‘ galt,70 oder, wenn ein milde erotisch aufgeladenes Werk als bereits zu ,frivol‘ angesehen wurde.71 Schon auf der Ebene der rein künstlerischen ,Imitationen‘ lässt sich also jenes schillernde Phänomen erkennen, bei dem sich – wie Gert Schiff gut verdeutlicht – rückwärtsgewandte „Zeitflucht“ mit rebellischer „Zeitkritik“ verbindet.72 Damit sind wir der politischen Dimension dieser „Religion der Schönheit“ (Umberto Eco) bereits auf der Spur.73 Sie äußert sich zunächst latent in den gesellschaftlichen Werten, die sich die ,Präraffaeliten-Bruderschaft‘ – inspiriert vom schönen ,Schein‘ ihrer Vorbilder – auf die Fahnen geheftet hatte: Denn zu ihrer Selbststilisierung als ritterlicher Kreis gehörte – wie bei Alicia Faxon nachzulesen – ein ethischer Kanon nach dem Muster eng kooperierender, mittelalterlicher Gemeinschaften.74 Hierin liegt auch der Schlüssel für die kulturkritische, potentiell politische Tönung ihres ,Ästhetizismus‘. Man geht einhellig davon aus, dass das Umfeld der Präraffaeliten seine diesbezüglich wichtigsten Anregungen dem Sozialkritiker John Ruskin verdankt, einem Bewunderer Venedigs und prononcierten Gegner kapitalistischer Industrie, dem die Ablösung des alten Handwerks durch die moderne Arbeit als ,ästhe-

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Vgl. Gaunt, 1943: 9 ff. u. 15; Simonis, 2013: 145 ff. Vgl. Gaunt, 1943: 10 – 14. 66 Gerenok, 2014: 128. 67 Vgl. darüber Faxon, 1992. 68 Vgl. dazu z. B. ebd.: bes. 53 ff.; Simonis, 2013: 148 – 151. 69 Vgl. darüber Faxon, 1992: 54 f. 70 Vgl. dazu Schiff, 1970: 168 sowie Barringer, 1998: 37 – 40. 71 Vgl. Barringer, 1998: 10 f. 72 Vgl. Schiff, 1970. 73 Eco, 32009b: 328 – 359. 74 Vgl. Faxon, 1992: 55 f.

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tisches‘ Unglück galt.75 Vor dieser Folie, einer romantischen ,Repräsentation‘ des mittelalterlichen Kultur- und Sozialgefüges,76 einer symbolischen Verknüpfung von Gotik und Freiheit,77 ist nun auch der – wie erwähnt – nonkonformistische Gestus in der Kunst der Präraffaeliten zu verstehen. Darf und sollte man diese nun auch politisch lesen? Die revolutionären politischen Ambitionen eines William Morris wurden innerhalb der ,Bruderschaft‘ immerhin nicht unbedingt geteilt, teilweise sogar entschieden abgelehnt.78 Trotzdem heißt es sogar von Dante Gabriel Rossetti, er habe politisch gedacht – zumindest in allen die Künste beeinflussenden Belangen.79 Es erscheint daher insgesamt legitim, im Sinne einer „politischen Ikonologie“ (Beyme) die Werke des Künstlerkreises auf (mehr oder weniger subtile) politische Implikationen hin abzuklopfen.80 Als das gesellschaftspolitisch interessanteste Gemälde jener Schule hat wohl Work von Ford Madox Brown zu gelten,81 weshalb näher darauf einzugehen ist, auch wenn wir hierbei (selektiv) den ausgetretenen kunstwissenschaftlichen Pfaden folgen müssen: Im Mittelpunkt des überaus detailreichen Bildes steht eine Gruppe gestählter, angestrengter Straßenarbeiter, um die herum weitere Figuren angeordnet sind, etwa zwei gebildete Männer im Gespräch, einige Frauen, darüber hinaus Straßenkinder und Hunde sowie eine aristokratische Reitgesellschaft, die von all dem nur wenig Notiz nimmt.82 Das Gemälde zeichnet – wie Tim Barringer schreibt – ein Bild der viktorianischen Gesellschaftsordnung mit ihren sozialen Schichten und Geschlechterrollen, es preist Leistung, Arbeit und die Körper der Arbeitenden, blendet aber bezeichnenderweise die moderne Industrie und Technik samt ihren Arbeitsbedingungen vollständig aus.83 Die Interpreten sind sich jedoch darin einig, dass das Werk der Aristokratie, die als untätig dargestellt wird, satirisch zu Leibe rückt und ihr gegenüber die Arbeitenden und deren Tugenden heldenhaft verklärt.84 Man mag dies als „art engagé“85 (Schiff) ansehen oder aber als romantischen „Kitsch“ auffassen,86 für den politischen Gehalt gibt es jedenfalls einige Anhaltspunkte – insbesondere natürlich die beiden Sozialkritiker, deren einer als Thomas 75 Vgl. darüber die folgenden Quellen: Barringer, 1998: 51 f.; Metken, 1974: 137 f.; Schiff, 1970: 170 f. 76 Vgl. dazu u. a. Schiff, 1970: 170. 77 Vgl. darüber Barringer, 1998: 51 f. Zur Gotik als Freiheitssymbol vgl. auch Wintersteiger, 2012: 77 f. u. 84. 78 Zu den politischen Differenzen vgl. Gaunt, 1943, 20 f., 217 ff. u. 221. 79 Vgl. Bentley, 1979: 160. 80 Vgl. über eine solche Beyme, 1998: 9 – 18. 81 Vgl. zu dieser Einschätzung Schiff, 1970: 171 f. Diesbezüglich aufschlussreich auch Barringer, 1998: 98 – 107. 82 Diese Beschreibung und Interpretation orientiert sich an ebd. sowie Schiff, 1970: 171 f. 83 Vgl. Barringer, 1998: 100 – 105. 84 Vgl. ebd.: 100 ff. u. Schiff, 1970: 171 f. 85 Schiff, 1970: 172. 86 Über politisch relevanten „Kitsch“ vgl. Edelman, 1995: 29 – 33.

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Carlyle zu identifizieren ist.87 Was in dem vielschichtigen Gemälde ,repräsentiert‘ wird, lässt sich deshalb wie folgt zusammenfassen: Es zeichnet erstens – im Stil der „idealisierenden Historienmalerei“88 (Schiff) – einen verklärten Berufsstand, es symbolisiert damit zweitens gesellschaftliche Werte, es vermittelt drittens den ,Schein‘ einer Arbeitswelt, die mit den damaligen Realitäten kaum übereinstimmt,89 aber es ,repräsentiert‘ viertens auch einige kritische Beobachtungen, die durchaus politischer Natur sind, auch wenn die unmittelbare Wirkung dieser ,Repräsentationen‘ gering gewesen sein dürfte.90 Zwar erfüllen die Frauengestalten in Browns Werk, das wir soeben besprochen haben, keine allzu prominenten Aufgaben,91 ansonsten jedoch spielt die schöne Weiblichkeit in der Ästhetik der Präraffaeliten eine, wenn nicht die herausragende Rolle,92 insbesondere bei Dante Gabriel Rossetti, dessen künstlerisches Schaffen weitestgehend um seine geliebte Muse kreiste.93 Verweilen wir kurz bei diesen ,Repräsentationen‘ des Weiblichen! Bedingt durch ihre alten ritterlichen Ideale (in Kunst wie Privatleben) ist – wie Faxon schreibt – eine gewisse Vorliebe der ,Bruderschaft‘ für verbotene Romanzen mit ,rettungsbedürftigen‘ Schönheiten nicht zu verleugnen.94 Trotzdem – und trotz häufiger Anklänge an die traditionelle Rollenteilung95 – begegnen uns in den Kunstwerken der Präraffaeliten oftmals auch ,überlegene‘ Frauen, deren unerklärliche Macht sich gerade aus ihrer weiblichen Schönheit speist. Das zeigt etwa Camille Paglia in ihrem Opus Die Masken der Sexualität, wo auch die von Rossetti und Edward Burne-Jones gemalten, ,spätromantisch-dekadenten‘ Damen typisiert werden – als geheimnisvolle Königinnen, als verführerische Göttinnen und als unwiderstehliche Naturgewalten.96 Wenn es über die Frau der präraffaelitischen Kunst heißt, sie sei „Heilige und Hure“ zugleich,97 so trifft dieses Bonmot wohl den Nagel auf den Kopf und hilft zudem zu erklären, weshalb besagte Werke dazumal als so ,anstößig‘ wahrgenommen wurden.98 Das jedoch führt uns wieder zur ,ästhetisch-politologischen‘ Betrachtung der Bilder zurück. Da es eine stete Versuchung der „politischen Kunstanalyse“ (Beyme) ist,99 Werke diesbezüglich überzuinterpretieren,100 ist hier ausdrücklich Vorsicht ge87

Vgl. hierzu Barringer, 1998: 100 f. sowie Schiff, 1970: 172. Schiff, 1970: 172. 89 Vgl. darüber Barringer, 1998: 106 f. 90 Zu dieser Einschätzung vgl. Schiff, 1970: 172. 91 Vgl. dazu Barringer, 1998: 102 ff. 92 Über diesen Stellenwert vgl. Coelsch-Foisner, 2005: bes. 39 f. 93 Über dieses Leitmotiv bei Rossetti vgl. Paglia, 1992: 600 ff. 94 Vgl. Faxon, 1992: 56 f. 95 Vgl. dazu Barringer, 1998: 89 – 94. 96 Vgl. Paglia, 1992: 599 – 609. 97 Vgl. Coelsch-Foisner, 2005: 40. 98 Über diese Vorwürfe vgl. z. B. ebd.: 45. 99 Beyme, 1998: 18. 88

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boten. Gut beraten wird man damit gerade bei Rossetti sein, der als ,liberalkonservativer‘ Pessimist in politicis sehr zurückhaltend war.101 Trotzdem können wir behutsam versuchen, die Bildvorstellungen der Kunst zumindest als mögliche Vorboten einer sich verändernden Geisteshaltung zu lesen.102 Wenden wir uns dazu einer der von Rossetti gemalten Frauengestalten zu, nämlich The Lady Lilith, die von Paglia in den Masken der Sexualität thematisiert wird103 und die diesbezüglich recht aufschlussreich ist: Das Gemälde zeigt Lilith, die aufbegehrende Gefährtin Adams, als übermüdete, melancholische Frau mit sinnlichen Lippen, die in einem fließenden Kleid vor einem Tisch sitzt.104 Worin liegt nun ihre besondere Symbolträchtigkeit? Für Paglia liegt sie darin, dass die gemalte Frau sich in ihrem ganzen Erscheinungsbild „gegen die viktorianische Konvention“ stellt:105 „Ihr offenes Haar und ihr ungeordnetes mittelalterliches Gewand fließen in lyrischer Freiheit.“106 Wie sich ideengeschichtlich zeigen lässt, kann die Symbolik der Freiheit vielerlei Gesichter haben,107 so dass nichts dagegen spricht, ihr auch bestimmte ,Repräsentationen‘ weiblicher Ästhetik zuzurechnen. Die Präraffaeliten jedenfalls haben in ihrem Kunstschaffen weibliche Geschöpfe nicht nur als begehrte „Kultobjekte“108 (Paglia) stilisiert, sondern sie auch als eigenständige sexuelle Wesen sichtbar gemacht – und damit die Moralvorstellungen ihrer Zeit mitunter herausgefordert.109 Der „ästhetische Mystizismus“ (Eco) birgt hier also eine feinsinnige ,Repräsentation‘,110 mittels der – überraschend ähnlich zu den Wissenschaften, aber doch anders, da mit künstlerischen Mitteln – versucht wird, Realitäten zu ,verstehen‘111 und gesellschaftliche Anliegen wie die Freiheit zu thematisieren.112 Über Rossetti ist gesagt worden, er könne – im Gegensatz zu anderen Präraffaeliten – schon als „Décadent“ angesehen werden,113 also als jemand, der äußerste Kultiviertheit aufweist, ohne dabei jedoch besonders ,humanitär‘ gesinnt zu sein.114 Das Freiheitsgefühl, das Ros100

Zu dieser Gefahr vgl. ebd.: 10 u. 18 ff. Über Rossettis politische Verortung vgl. Bentley, 1979. 102 Für wichtige sozialwissenschaftliche Überlegungen dazu vgl. Nisbet, 1976: 13 ff. 103 Vgl. Paglia, 1992: 600 ff. 104 Die Bildbeschreibung und Interpretation folgt den Angaben von Paglia, 1992: 600 ff. 105 Vgl. ebd.: 600. 106 Ebd.: 600. 107 Für einige (architektonische) Beispiele dafür vgl. Wintersteiger, 2012: 84 f. 108 Paglia, 1992: 603. 109 Vgl. dazu Barringer, 1998: 10 f. u. 42 f. 110 Eco, 32009b: 351. 111 Zum Verhältnis von Wissenschaften und Künsten in ihrem ,verstehenden‘ Zugang zur Realität vgl. Nisbet, 1976: 6 ff. u. 34 ff. 112 Über dieses ,große Thema‘ in Soziologie und Kunst vgl. ebd.: 37 – 40. 113 Vgl. Paglia, 1992: 599. 114 Für diese Bestimmung des Begriffes „Dekadenz“ vgl. Paglia, 1992: 643. Es sei zudem angemerkt, dass ,dekadent‘-erotischer Stil und konservative Haltung im Großbritannien des späten 19. Jahrhunderts nicht zwangsläufig Gegensätze bildeten. Vgl. dazu Murray, 2015. 101

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setti bei seinen ,Repräsentationen‘ der Weiblichkeit vor Augen hat, ist darüber hinaus auch nicht vergleichbar mit jenem des modernen Feminismus, dem ein derartiger Schönheitskult wohl eher suspekt wäre.115 Es mag folglich erhellend wirken, zu differenzieren zwischen einer feministischen Freiheit (von gesellschaftlichen Zwängen) und einer femininen Freiheit (zur Schönheit und damit auch zur Macht der Schönheit).116 Letztere ist es wohl, die uns symbolisiert in den Werken Rossettis begegnet, der – wie man uns versichert – ganz im Bann einer ,spätromantisch-orientalischen‘ „Venus“ stand.117 Gemälde dieser Art mögen nicht (primär) politisch sein, doch kreisen sie um Themen, deren nähere Kenntnis uns für die ,ästhetisch-politologische‘ Arbeit als wesentlich erscheint. Das gilt insbesondere für ein Phänomen, das bei Rossetti und Burne-Jones verfeinert ,repräsentiert‘ wird,118 nämlich für den Komplex, der auch bei Paglia so nachdrücklich betont wird: die Verflechtung von Natur, Identität, Erotik und Macht sowie die Gefühle,119 die man mittels visueller ,Kunstgriffe‘ zu entfachen vermag.120

V. ,Emotionalität‘ des ästhetischen Kultes, der Kulturkritik und der Rebellion Mit der psychologischen Dimension politischer Ästhetik nehmen wir den zweiten Faden auf, der von Vacano gesponnen wird: Für ihn besteht die – wie auch immer geartete – ,Kunst‘ in der Fähigkeit, einer Gefühlslage („emotion“) Ausdruck zu verleihen oder aber im Publikum eine bestimmte Empfindung erst hervorzurufen.121 Wiederum aus der machiavellistischen Denktradition entnimmt er die Einsicht, dass die Kenntnis der menschlichen Psyche die wichtigste Grundlage auch für die (politische) ,Kunst‘ der erfolgreichen Machtausübung darstellt, da politisches Auftreten ohne überzeugende Rhetorik und ohne Emotionalisierung zur Wirkungslosigkeit verdammt scheint.122 Welche Stimmungen und Gefühlsäußerungen aber haben als politisch besonders relevant zu gelten? Für Vacano sind es einerseits – ganz nietzscheanisch – das „Ressentiment“, die Kühnheit heilsamer Illusionen und die entwaffnende Komik, andererseits – ganz machiavellistisch – Liebe und Furcht.123 Gerade das letztere Begriffspaar bringt uns auf die Spur einer anderen, nunmehr ästhetischen Unterscheidung, nämlich der des „Schönen“ und des „Erhabenen“, wie sie von der empirisch-psychologischen Ästhetik ausgearbeitet wurde, insbesondere von Edmund Burke, der sogleich die gesellschaftlichen Implikationen dieser Topoi 115

Über die Grundzüge der „feministischen Ästhetik“ vgl. Paglia, 1993: 288 ff. Für Ansätze in diese Richtung vgl. ebd.: 261 f., 269 f. u. 288 ff. 117 Vgl. Paglia, 1992: 603 ff. 118 Vgl. dazu ebd.: bes. 601 – 609. 119 Vgl. darüber ebd.: bes. 11 ff. 120 Vgl. dazu ebd.: bes. 52 ff. 121 Vgl. Vacano, 2007: 149 f. 122 Vgl. ebd.: 150. 123 Vgl. ebd.: 150 f. 116

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mitbedachte.124 Aus Sicht der heutigen Psychologie ist sein frühes Konzept zwar zu grob gestrickt, aber eine beachtliche erfahrungswissenschaftliche Pionierleistung mit aktualisierbaren Impulsen.125 Zieht man seine Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen zu Rate, so gewinnt man als Fundament eine Theorie menschlicher Leidenschaften, die einerseits – wie die Liebe – auf (soziale) Freude und Genuss gerichtet sind, andererseits – wie die Furcht – auf (individualistische) Sorge um „Selbsterhaltung“.126 Wie Christian G. Allesch schreibt, besteht Burkes psychologisch relevantes Verdienst nun vor allem darin, die erwähnten Triebstrukturen als Grundlagen der ästhetischen „Bedürfnisse des Betrachters“ gelesen zu haben.127 Für Burke, der die irrationale Seite der Wahrnehmung betont,128 liegt das Wesen der Schönheit (beispielsweise der weiblichen) darin, auf sinnliche Weise Anziehung und Wohlwollen zu bewirken.129 Die ,Erhabenheit‘ (etwa die eines Naturschauspiels) dagegen, die für ihn emotional noch mächtiger erschüttert, ist dadurch gekennzeichnet, dass sie die potentielle Gefahr beziehungsweise das Grauen als ästhetisch reizvoll erscheinen lässt und zu wohligen Schauern der Bewunderung führt.130 Es dürfte klar sein, warum diese beiden Facetten des „ästhetischen Wohlgefallens“ (Eco) politologische Aufmerksamkeit verdienen.131 Immerhin hatte schon Burke selbst etwa den Einsatz erhabener „Dunkelheit“ als „Kunstgriff“ von Sakralarchitektur und politischer Herrschaft benannt,132 was freilich dazu eingeladen hat, ihn als einen politischen ,Ästhetisierer‘ zu deuten, dem Schönheit als Grundlage der Gesellschaft und Erhabenheit als Garant der Werte galten.133 Können uns diese Topoi nun dabei helfen, eine politische Psychologie des ,Ästhetizismus‘ zu skizzieren? Was ihm, der als „visionärer Idealismus“ (Paglia) auftritt,134 die Schönheit bedeutet, dürfte auf der Hand liegen. Von selten klarer Aussagekraft ist diesbezüglich aber der Stellenwert, den der antike Mythos von Pygmalion in der Kunst des Präraffaeliten Burne-Jones spielt, der einen ganzen Zyklus über den sagenhaften Bildhauer geschaffen hat, der sich in sein eigenes Werk verliebte – eine schöne weibliche Statue, der schließlich von Venus Leben eingehaucht werden sollte.135 Die 124

Vgl. darüber Allesch, 1987: 148 – 151. Vgl. ebd.: 150 f. 126 Vgl. Burke, 21989: 72 ff. Vgl. zusammenfassend auch Allesch, 1987: 149. 127 Vgl. Allesch, 1987: 149 ff. 128 Vgl. dazu ebd.: 149. 129 Vgl. Burke, 21989: bes. 76 f., 86 f. u. 127 f. Zur disziplingeschichtlichen Einordnung dieser Schönheitskonzeption vgl. Allesch, 1987: 148 ff. 130 Vgl. Burke, 21989: bes. 72 f., 86 f. u. 91. Zu diesem Beitrag zu einer Theorie des Tragischen vgl. Allesch, 1987: 149 f. 131 Eco, 32009a, 281. 132 Vgl. Burke, 21989: 93 f. 133 Für diese Lesart vgl. Eagleton, 1989: bes. 55 – 58. 134 Paglia, 1992: 628. 135 Vgl. darüber De Girolami Cheney, 2004: 203. 125

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Kehrseite dieses Kunst- und Schönheitskultes, der insgesamt eine recht elitäre Angelegenheit darstellt,136 besteht in einem ,Ressentiment‘ gegenüber der Hässlichkeit: Wie Karl Heinz Bohrer in seinem Buch Die Ästhetik des Schreckens gut aufzeigt, speist sich der sozial- und kulturkritische Zug bei den „Ästheten“ und Dandys weitestgehend aus deren Eindruck, die kapitalistische Welt der industrialisierten Moderne habe ein ,hässlicheres‘ Gesicht als die idealisierte Vergangenheit.137 Diese Wahrnehmung lässt sich ästhetisch-psychologisch recht gut erklären, ist es doch – wie Allesch schreibt – so, dass beispielsweise konkreten „Bauern- und Grünmärkten“ eine „positive Ästhetik“ attestiert wird, während dem abstrakten, anonymen Markt der Moderne, dem das Antlitz des menschlichen Gegenübers fehlt, tendenziell eine „negative Ästhetik“ zugeschrieben wird.138 Ähnlich gelagert ist der (für die Präraffaeliten bedeutsame) Gegensatz zwischen der Produktionsweise der „Werkstatt oder Dombauhütte“ und jener der Fabrik.139 Das wirft auch klärendes Licht auf die politischen Aktivitäten im Umkreis dieser Künstler, insbesondere auf die – unorthodoxe, weil ökonomisch konservative und ,ästhetisierende‘ – Spielart des Sozialismus, wie sie von Morris vertreten wurde.140 In aller Klarheit zeigt sich bei ihm, dass die Wurzel jener Politik tatsächlich in einem primär ästhetischen Begehr lag, weiß man doch beispielsweise, dass sein gesellschaftliches Engagement in einer Vereinigung begann, die sich der Bewahrung schöner alter Bauwerke verschrieben hatte, und dass sein Kampf gegen die ,Hässlichkeit‘ mit seinem Kunstverständnis zusammenhing.141 Von ästhetischen (und mitunter mythologischen) Zügen bestimmt war jedoch nicht nur seine politische Positionierung; auch in seinen anderen Rollen, etwa als früher Ökologe und Pionier des Fantasy-Genres, findet sich eine Handschrift, die mitgeprägt ist durch seine Liebe zur Schönheit des Nordens und seiner Überlieferungen.142 Wie steht es nun um die ,Erhabenheit‘ in der Ästhetik der Präraffaeliten? Der theoretische Ansatz von Burke verbindet ,erhabene‘ Gefühle mit gefahrvoller oder ehrfurchtgebietender „Natur“, insbesondere mit Düsternis,143 indirekt aber auch mit dem Kummer der Einsamkeit.144 Unter diesen Gesichtspunkten interessant erscheint das Gemälde Kühler Oktober von John Everett Millais: Es zeigt eine menschenleere, schwermütig stimmende, kalte Herbstlandschaft – ein Gewässer, Gräser, Laub sowie einen dunklen Gebirgszug in Hintergrund.145 Wie Barringer – auch im Ver136

Vgl. dazu Paglia, 1992: 627 ff. Vgl. Bohrer, 1978: 43 ff. 138 Vgl. Allesch, 2005, 259 – 263. 139 Vgl. dazu Simonis, 2013: 155. 140 Vgl. über diese Bohrer, 1978: 47 – 52. 141 Vgl. dazu Gaunt, 1943: 221 ff.; ähnlich Seyferth, 2014: 232 f. u. 245. 142 Vgl. Felce, 2018: 1. 143 Vgl. Burke, 21989: 91 – 94. 144 Vgl. ebd.: 77 f. in Verbindung mit 86 f. 145 Zur Beschreibung und Interpretation vgl. Barringer, 1998: 83.

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gleich zu früheren Landschaftsbildern der Präraffaeliten – verdeutlicht, zeichnet sich dieses Werk dadurch aus, dass in ihm alle Spuren modernen Stadtlebens fehlen, so als habe ein „melancholischer Rückzug in eine mythische, einsame Wildnis“ stattgefunden.146 Will man dies vor dem skizzierten Hintergrund politisch oder (besser und bescheidener) weltanschaulich deuten, so ließe sich hier von einem „Waldgang“147 (Ernst Jünger) sprechen, also von einem im Zeichen der individuellen Freiheit unternommenen symbolischen Schritt.148 Der so eingeschlagene Weg entspricht auch weitgehend der politischen Attitüde des ,Ästhetikkultes‘, wie sie Umberto Eco beschrieben hat, nämlich dem bewussten Einspruch der Kunstschaffenden gegen die kühlen Zwänge einer städtisch-industriellen Massengesellschaft, die nicht bereit ist, der Ästhetik eine Vorrangstellung einzuräumen.149 Der legendären Gestalt des keltischen Zauberers Merlin, den man ebenfalls als „Waldgänger“ (im ganz wörtlichen Sinn) bezeichnet hat,150 begegnet man in einem Gemälde von Edward Burne-Jones mit dem Titel The Beguiling of Merlin: Es zeigt den Magier, wie er von Vivien, einer Frau mit medusengleichem Schlangenhaar, bei einem Baum verhext wird.151 Die Darstellung des „Mythos“, in dem Merlin einer jungen Schönheit begegnet, die ihn mit wahrlich mächtigem Charme an sich und ihren Wald bindet,152 erscheint uns aufschlussreich, was die präraffaelitischen ,Repräsentationen‘ und ,Emotionen‘ angeht: Erneut begegnen wir einer Leidenschaft für sagenumwobene Motive des Mittelalters und der Antike, die selbstredend auch von Burne-Jones geteilt wurde.153 Auch trifft man wiederum auf eine Frau, der eine letztendlich sinnlich begründete Form von Macht zukommt.154 Merlin aber ,repräsentiert‘ schließlich eine Art ,graue Eminenz‘ hinter dem Königsthron, einen Mann, der durchaus wichtige Funktionen am Hof erfüllt, sich aber immer wieder – und später endgültig – in die Natur zurückzieht.155 Doch noch ein anderer Aspekt ist hochinteressant: Wie die Historiographie zeigt, wurde der legendäre Merlin einst häufig als eine „Maske“ für politische „Zeitkritik und Zukunftswünsche“ verwendet, das heißt, ihm wurden etwa im Mittelalter Prophezeiungen zugeschrieben, in denen sich in Wahrheit jedoch der politische Unmut des Volkes verdeckt artikulierte.156 Nun ist hier nicht der Ort für allzu kühne Spekulationen, zumal man sich stets darüber klar 146

Vgl. ebd. Vgl. Jünger, 112001. 148 Zu diesem „Waldgang“ im ,postmodernen‘ Kontext vgl. Wintersteiger, 2012: 92. 149 Vgl. Eco, 32009b: 329 f. 150 Über Merlin als „Waldgänger“ vgl. Kaltenbrunner, o. J. (1983): 85 f. 151 Zur Beschreibung und Interpretation des Bildes vgl. De Girolami Cheney, 2004: 222 f. u. Barringer, 1998:162 f. 152 Ausführlicher zu diesem „Mythos“ vgl. Kaltenbrunner, o. J. (1983): 85 f. 153 Über seine Präferenzen vgl. De Girolami Cheney, 2004: 203 u. passim. 154 Vgl. dazu auch die Interpretation in Barringer, 1998: 163. 155 Ausführlicher zu diesen Aspekten der Gestalt Merlins vgl. Kaltenbrunner, o. J. (1983): bes. 75, 79 u. 85 f. 156 Vgl. Heinrich Zimmer zit. n. ebd.: 76, wo keine näheren Quellenangaben erfolgen. 147

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sein muss, dass – wie Murray Edelman eindringlich betont – die Kausalzusammenhänge zwischen Kunst und Politik überaus vielschichtig sind.157 Doch selbst wenn wir Kunstwerke bloß als diskursives ,Ideenreservoir‘ ansehen,158 so bleibt die besprochene Szene um Merlin, den freien „Waldgänger“, welcher der Schönheit erliegt und sich daher zurückzieht,159 wohl doch so etwas wie ein Spiegel der präraffaelitischen Gefühls- und Gedankenwelt – ein Symbol auch für die von Schiff geschilderte „Zeitkritik“ und „Zeitflucht“.160 Bemerkenswert ist diesbezüglich noch, wie stark das Werk von Burne-Jones einst wegen seiner ,Sinnlichkeit‘ polarisierte,161 weshalb Bohrer wohl richtig liegt, wenn er die Kunst der Präraffaeliten als einen „Stil der Beunruhigung“162 bezeichnet. Ihm zufolge ist es nämlich das Charakteristikum dieses „Ästhetizismus“, idyllischen Motiven mittels innovativer Technik eine besondere ,Psychologie‘ zu verleihen und so – auch bei politischer Zurückhaltung – gegen die dominante Ideologie, die für den „Verfall des Schönen“ verantwortlich gemacht wird, zu rebellieren und ihr eine Art ,Utopie‘ entgegenzusetzen.163

VI. Revolutionär-ästhetische ,Formgebung‘ und individualistischer ,Politikstil‘ Der zuletzt zumindest anklingende „Traum vom ästhetischen Staat“164 (Raulff) wirft nun freilich wieder die Frage nach den explizit politischen Äußerungen des ,Ästhetizismus‘ auf. Dies ist auch der Punkt, an dem sich der Kreis unserer Darstellung schließt und wir zum letzten der drei von Vacano benannten ,ästhetisch-politiktheoretischen‘ Zentralbegriffe kommen können, nämlich jenem der Gestaltung („form“).165 Auch hier überträgt er die künstlerische Kategorie auf das politische Handeln, indem er (wieder mit Machiavelli) argumentiert, dass die Politik versucht, der Gesellschaft eine dauerhafte ,Form‘, sprich eine Ordnung, zu verleihen.166 Zudem betont er (hierin auch nietzscheanisch) die Bedeutung der spezifischen Ausdrucksform („style“) jener Personen, die an einem großen gesellschaftlichen Wandel, zugleich jedoch an ihren jeweils eigenen unverwechselbaren Persönlichkeit arbeiten.167 Greifen wir zunächst den ersteren Aspekt auf, so geraten die sozialen Zielsetzungen im Vor- und Umfeld der ,Präraffaeliten-Bruderschaft‘ ins Blickfeld: So liest man etwa bei Schiff über Ruskin, der – wie erwähnt – den Künstlerkreis beeinflusst hat, 157

Vgl. Edelman, 1995: 2 f. Über diese Rolle von Kunst vgl. ebd.: 5 f. 159 Vgl. zu dieser Deutung Kaltenbrunner o. J. (1983): 85 f. 160 Vgl. Schiff, 1970. 161 Über die Reaktionen auf das Werk vgl. Barringer, 1998: 163. 162 Bohrer, 1978: 53. 163 Vgl. ebd.: 53 – 56. 164 Raulff, 2006. 165 Vgl. Vacano, 2007: 151 f. 166 Vgl. ebd.: 151. 167 Vgl. ebd.: 151 f.

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dass er – ganz ,ästhetizistisch‘ motiviert – die materielle Lage des Volkes in erster Linie bessern wollte, um damit die Grundlagen für eine weitere Verbreitung von schöngeistiger Kunstsinnigkeit zu schaffen.168 Auf welche Weise man sich nun dem Idealbild einer Ästhetik „für alle“169 aber annähern sollte (beziehungsweise überhaupt könnte), war durchaus umstritten: Das präraffaelitische Meinungsspektrum reichte diesbezüglich von (pessimistisch getönten) Sympathien für ,liberale‘, menschenfreundliche Reform-Monarchen170 bis hin zur sozialistischen Revolutionsforderung.171 Gerade letztere bedürfte aber besonderer qualitativ-hermeneutischer Aufmerksamkeit, weist der darin ausgedrückte ,Sozialismus‘ doch eine recht ungewöhnliche Form auf: William Morris, der nach eigenem Bekunden wenig mit der marxistischen Ökonomie anzufangen wusste172 und von dem man auch sagt, dass er Schwierigkeiten mit gleichgesinnten Politikern hatte,173 strebte – wie Günter Metken verdeutlicht – nicht den gängigen „Staatssozialismus“ an, sondern war vielmehr beseelt von der utopischen Vorstellung einer freien, ökologisch gesunden Gemeinschaft von ,Ästheten‘, von der Vision einer harmonischen „Gartenstadt“ voller künstlerisch tätiger Menschen.174 Dass Morris seine politische Utopie in Formen kleidet, die an englische Gartengestaltung und die Architektur des Mittelalters denken lassen,175 ist aufschlussreich. In seinem Buch The Pre-Raphaelite Dream spricht William Gaunt diesbezüglich von einem hochspezifischen „Pre-Raphaelite Socialism“, der seine Inspiration aus der gotischen Kunst, dem mittelalterlichen Arbeitsethos und der sagenhaften Gemeinschaft der ,Tafelrunde‘ gewinnt176 und der folglich eine rückwärtsgewandte Revolution anstrebt, für welche die kunsthandwerklichen Tätigkeiten von Morris und Burne-Jones nur der Ausgangspunkt sein sollten.177 Mit den Formen eines „Künstler-Sozialismus“178 (Metken) experimentierte auch Oscar Wilde, der in vielem ein Geistesverwandter der Präraffaeliten war179 und zudem als einer der „high priests“ des „Aesthetic Movement“ gilt.180 Seine Schrift Der Sozialismus und die Seele des Menschen verleiht der Konzeption allerdings 168 Vgl. Schiff, 1970: 170 f. Zur Beurteilung der ,sozialen Frage‘ aus Sicht des „Ästhetizismus“ vgl. auch Bohrer, 1978: 55 f. 169 Über diese „sozialästhetische Utopie“ vgl. Metken, 1974: 120. 170 Zu dieser Position Rossettis vgl. Bentley, 1979: 178. 171 Vgl. darüber Gaunt, 1943: 217 – 229. 172 Vgl. Morris, 1992: 136. 173 Vgl. darüber Metken, 1974: 142. 174 Vgl. ebd.: 142 ff. Dass sich Morris damit von den autoritären Utopisten abgrenzt, ist gerade in jüngerer Zeit häufiger thematisiert worden, Vgl. z. B. Davidson, 2019: bes. 89 f.; Seyferth, 2014. 175 Vgl. hierzu Seyferth, 2014: 232. 176 Vgl. Gaunt, 1943: 224 – 227. 177 Vgl. ebd.: 20. 178 Metken, 1974: 141. 179 Vgl. darüber Bohrer, 1978: bes. 22 ff. u. 56 ff. sowie Apel, 2007: 206. 180 So die Charakterisierung in Spencer, 1972: 7.

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eine derart individualistische und elitäre Tönung,181 dass man Apels Einschätzung teilen muss, es handle sich hier weniger um herkömmlichen „Sozialismus“ als vielmehr um eine konservative Spielart von „Anarchie“.182 Vor dem Hintergrund der Wilde’schen Bewunderung für herausragende Persönlichkeiten183 und seiner Gleichsetzung von „Kunst“ und „Individualismus“184 wird dies erklärbar. Wie Paglia schreibt, ist die „Schönheit“ an sich ,exklusiv‘ und ,privilegiert‘, wodurch es nahe zu liegen scheint, dass ein „Ästhet“ auch die entsprechende Option ergreift185 und wie Wilde als „spätromantischer Elitedenker“ auftritt.186 Was aber bedeutet das für die politische ,Form‘ und – als zweiten Aspekt – für den persönlichen ,Stil‘? Der irische Schriftsteller verwirft, wie man liest, sämtliche autoritären und ,nivellierenden‘ Herrschaftsformen187 und sucht stattdessen nach einem System, das Schönheit und die freie Kultivierung des Selbst ermöglichen soll.188 Damit aber wird nicht nur die (individuelle) Verleihung ästhetischer ,Form‘ quasi zum politischen Höchstwert geadelt,189 es wird auch erneut ein symbolischer „Waldgang“190 (Jünger) vollzogen, mittels dem eine ungeheure Freiheit (zurück)erobert werden soll.191 Wie Bohrer aufzeigt, liegt damit auf der Hand, dass Wildes einzelgängerische, ja „subversive“ Haltung und sein elitäres Selbstverständnis dem Stil eines zynischen Polit-Dandys entsprechen, der erzkonservative und „anarchistische“ Positionen miteinander verschmilzt – und all dies allein im Dienste der Ästhetik zu tun scheint.192 VII. Schlussbemerkungen – ,Ästhetizismus‘ und Politikwissenschaft Die politische Utopie des – wie auch immer gearteten – „Künstlerstaats“ (Raulff),193 die der präraffaelitischen ,Bruderschaft‘ vorschwebte,194 ist freilich niemals Realität geworden. Wie wir sehen, blieb die von Morris ersehnte Revolution 181

Vgl. Wilde, 1904: bes. 9 f. u. 13 f. Vgl. Apel, 2007: 205 ff. Zu den Berührungspunkten zwischen frankophilen ,Dekadenz‘Literaten (wie Wilde) und bestimmten antipuritanisch-konservativ ausgerichteten Zirkeln vgl. Murray, 2015. 183 Vgl. dazu Wilde, 1904: 9 f. u. 14. 184 Vgl. ebd.: 48. 185 Vgl. Paglia, 1992: 627 ff. 186 Vgl. ebd.: 624. 187 Vgl. Wilde, 1904: 38 ff. u. 79 – 83. 188 Vgl. ebd.: bes. 13 ff. u. 22. 189 Über Wildes Position zur „Form“ vgl. Paglia, 1992: 643. 190 Jünger, 112001. 191 Zur Verbindung von „Waldgang“ und „Anarchismus“ vgl. Wintersteiger, 2012: 92 sowie die dort angeführten Quellen. 192 Vgl. Bohrer, 1978: 31 – 41. Zu diesem – ebenso romantischen wie postmodernen – Phänomen vgl. Wintersteiger, 2012: 90 ff. u. die dortigen Anmerkungen. 193 Raulff, 2006: 9. 194 Vgl. dazu Gaunt, 1943: bes. 224 f. 182

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aus.195 Auch das – etwa von Metken geschilderte – präraffaelitische Projekt, geschmackvolle „Kunst für alle“ zu forcieren, blieb trotz bemerkenswerter Erfolge hinter den kühnen Hoffnungen zurück und konnte nicht über einen elitären Kreis hinaus durchdringen.196 Die Wirkung des ,Ästhetizismus‘ darf dennoch nicht unterschätzt werden, sie erweist sich als beträchtlich – etwa in Jugendstil und frühem „Bauhaus“,197 aber auch in der politischen Repräsentationskunst198 und der ,postmodernen‘ Wahlkampfinszenierung.199 Darin liegt auch die ungebrochene politikwissenschaftliche Aktualität des untersuchten Phänomens, das etwa mit Wilde zweifelsfrei einen „Meister der Massenmedien“ (Paglia) hervorgebracht hat.200 Wenn – wie manche es ausdrücken – Politik eine ,dramatische‘ Gestalt voller künstlerisch erzeugter Bilder und ,Erzählungen‘ besitzt,201 dann müssen wir Kunst verstärkt ,lesen‘ – und zwar nicht nur als „Ausdruck der Gesellschaft, in der sie auftritt“ (Morris),202 sondern auch in ihrer Rolle als Quelle politischer Ideen.203 Wie uns empirische Befunde zu ästhetischen Belangen fraglos zeigen, hängen geschmackliche Präferenzen und Werthaltungen äußerst eng voneinander ab.204 Der politische ,Ästhetizismus‘, wie wir ihn soeben skizziert haben, ist nur jenes Phänomen, wo sich dies am deutlichsten manifestiert. Sein Antlitz zeigt uns kristallklar, dass wir nicht umhinkommen, zu erforschen, wie stark Politik und Ästhetik, Schönheit, Kunst und Macht miteinander verwoben sind.

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Über Morris’ politisches Scheitern vgl. ebd.: 20. Vgl. Metken, 1974: 139 – 142. 197 Für den Hinweis vgl. ebd.: 137 f. 198 Vgl. darüber Bohrer, 1978: 51 ff. 199 Vgl. dazu (am Beispiel des politischen „Dandys“) Erbe, 2004: 35. 200 Paglia, 1992: 624. 201 Vgl. zu dieser Einschätzung z. B. Edelman, 1995: bes. 1 – 5. 202 Morris, 1992: 204. 203 Vgl. über diese Rolle Edelman, 1995: 2 ff. 204 Vgl. dazu Flaig/Meyer/Ueltzhöffer, 1993, 88 – 92.

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Das Theater und die Körper des Politischen Zum Problem der Repräsentation bei Heiner Müller und Thomas Hobbes Von Sandra Fluhrer Abstract Political representation has its source in concrete human bodies. In political debates as well as in political practices bodies tend to be forgotten. The medium of theatre shares the form of double corporality with political representation. Yet, theatre, especially in the 20th century, possesses techniques for exhibiting the tension between natural and representative bodies rather than attempting to hide it. This article confronts constellations of (proto-) political representation in the theatre of German dramatist Heiner Müller with the theory of representation Thomas Hobbes expresses in his “Leviathan”. The aim is to unfold the ambivalent role of the body in forms of political representation.

I. Vorbemerkung Im Januar 1993 reagiert der Dramatiker Heiner Müller (1929 – 1995) mit einer Presseerklärung auf den Vorwurf, der DDR-Staatssicherheit als Inoffizieller Mitarbeiter gedient zu haben. Am Ende der Rechtfertigung heißt es: „Daß ich gelegentlich vergessen habe, daß ich nicht nur mit Menschen rede, sondern mit einem Apparat, kann ich nicht ausschließen. 1975, unter einer Brücke in San Diego, las mir eine alte Indianerin aus der Hand, daß ich im Umgang mit Maschinen zur Leichtfertigkeit neige. Ich hätte auf sie hören sollen.“1 Das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine – als Chiffre für das Problem der Repräsentation im Konstrukt der Volkssouveränität – trieb Müller sein ganzes Schaffen hinweg um. An keiner Stelle seines Werks erwähnt der Vielleser Müller explizit Thomas Hobbes, der im „Leviathan“ (1651) einen Vorschlag ausfaltet, wie dieses Verhältnis für die Neuzeit zu denken ist.2 Zweifellos hallt aber Hobbes’ Denken in Müllers Texten nach. Beide eint ein Interesse an politischer Anthropologie, beide setzen in ihrem Denken des Politischen beim menschlichen Körper und dessen Empfindungs- und Erfahrungsfähigkeit an. Wenn auch vor unterschiedlichen Hintergründen und mit unterschiedlichen Stoßrichtungen sind Hobbes und Müller Vertreter eines epistemologischen Materialismus, der für seine Vermittlung gleichwohl auf 1

Müller, 1994b: 176. Hobbes, 1996. Ich zitiere aus dieser Ausgabe im Folgenden in Klammern im Haupttext mit dem Kürzel ,Lev.‘ und der Seitenangabe. 2

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Modelle angewiesen bleibt. Für beide sind Bildlichkeit und Theatralität Verfahren, um den Modellen Wirksamkeit zu verschaffen. Müllers Texte sind politisch weniger im Sinne einer ,engagierten Literatur‘ als im Sinne einer politisierten Ästhetik.3 „[D]ie Politik steckt in der Form, sonst wozu die Anstrengung der Kunst“, formulierte Müller selbst.4 Die theatrale ist für Müller die wichtigste ästhetische Form. Sie umfasst den dramatischen Text und die Bühnensituation gleichermaßen und weist zugleich über die gängigen Gattungsgrenzen des Dramatischen wie medial-architektonischen Grenzen des Theaters hinaus. Theater zeigt sich bei Müller als grundlegende philosophisch-künstlerische Arbeitsform. Auch seine erzählende Prosa, seine Lyrik und seine späten poetologisch-politischen Interviews sind am Theater orientiert. Müller, der nach eigenem Bekunden „schwer demokratisch denken [kann] nach 40 Jahren Diktatur“5, findet im Theater sein Parlament. Jenseits moralischer Vorzensur können sich hier verschiedene Stimmen aussprechen, können Haltungen kollidieren. „Auf der Bühne hat jeder Recht“6, lautet Müllers Diktum. Es geht ihm darum, Reibungen über die theatrale Situation körperlicher Ko-Präsenz gerade auch physisch erfahrbar zu machen. „Körper und ihr Konflikt mit Ideen werden auf die Bühne geworfen“, lautet eine Kurzformel Müllers für das Theater: „Solang es Ideen gibt, gibt es Wunden, Ideen bringen den Körpern Wunden bei.“7 Insofern ließe sich Müllers Dramatik auch als dem Körper verbundene Denkform des Politischen betrachten. Umgekehrt wird für Thomas Hobbes vom „Theaterdispositiv“ als „Denkmodell“ gesprochen.8 Nicht nur gründet sein Repräsentationsdenken auf einer Schauspiellehre, sein ganzer theoretischer Entwurf lässt sich als „Staatstheatralik“9 beschreiben. Wie Helmar Schramm gezeigt hat, liegt Hobbes’ Staatsphilosophie „ein kompliziertes Verhältnis von Geometrie und Mimesis [zugrunde]“: Einige Stellen im „Leviathan“ suggerieren, dass eine Art geometrisch ausgerichtete Bühnenkunst „der Lenkung und Leitung des Staates“ als „Herrschaftsinstrument [zuarbeiten]“ sollte.10 Der hohe Abstraktionsgrad der Theaterbezüge bei Hobbes spiegelt die soziale Abwesenheit lebendiger Theaterpraxis; die englischen Theater sind zu der Zeit, als Hobbes den „Leviathan“ schreibt, geschlossen. Als Leitbild mag Hobbes ein formalistisches Erziehungstheater zur Stärkung von Regimetreue, Angepasstheit und Moral vorgeschwebt haben, wie es der ihm befreundete Dichter William Davenant entwarf, wie3 Konzepte ,politischer Literatur‘ haben in den Literaturwissenschaften gegenwärtig wieder Konjunktur, werden aber häufig wenig systematisch gebraucht. Eine Strukturierung aktueller Debatten liefert Ivana Perica, 2018. 4 Müller, 1996: 23. 5 Müller, 1994a: 79. 6 Kluge/Müller, 1996: 24 7 Müller, 1986a: 97. 8 Schramm, 1996: 209. 9 Windisch, 1997: 162. Vgl. auch Pye, 1984 u. Tänzler, 2005. 10 Schramm, 1996: 196 und 205.

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derum durch Hobbes’ Theorie der Leidenschaften beeinflusst. James Jacob und Timothy Raylor haben die wechselseitige Anregung in einem Aufsatz mit dem Titel „Opera and obedience“ beschrieben: „Davenant realised that Hobbes’s theory of the passions, in the hands of an agent of the sovereign, released a new potential for the moral instruction of the common people through the arts of theatre. Forged together, Hobbist doctrines and Davenant’s ,representations‘ furnished the pedagogical means for guaranteeing obedience and patriotism, conducing to ,mutual quiet‘ and the natural glory […].“11

In jedem Fall impliziert das Theater als Bezugspunkt ein genuines Interesse Hobbes’ an der Wirkung seiner politischen Philosophie. Es liegt daher nahe, seine Texte auch unter ästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten. Mein Beitrag konfrontiert vor diesem Hintergrund Dramen und Theaterpoetik Heiner Müllers mit Hobbes’ Darstellung politischer Repräsentation als Begründung staatlicher Souveränität. Im Zentrum steht die Auseinandersetzung mit der ambivalenten Rolle des Körpers in Hobbes’ Modell wie in Formen politischer Repräsentation überhaupt.

II. Bildliche und natürliche Körper in Hobbes’ Repräsentationslehre Die Repräsentationslehre ist der Kern von Hobbes’ Entwurf staatlicher Souveränität. Sie zeigt sich als anhaltend auslegungsbedürftig und wurde zuletzt aus unterschiedlichen Richtungen neu kommentiert. Im Zentrum der Relektüren steht stets das schwer greifbare ,magische Dreieck‘ aus sich zur ,Einheit der Vielheit‘ verbundenen Menschen, Staat und Souverän; keines der drei Elemente existiert in Hobbes’ Modell ohne die anderen beiden und doch ist ihre Unterscheidung grundlegend für Hobbes’ Theorie der Staatlichkeit.12 So heißt es an einer zentralen Stelle im XVI. Kapitel: „Eine Vielzahl von Menschen wird zu einer Person, wenn sie durch einen Menschen oder eine Person vertreten wird, wofern es mit der besonderen Zustimmung jedes einzelnen dieser Vielzahl geschieht. Denn es ist die Einheit des Stellvertreters, nicht die Einheit der Vertretenen, die die Person zu einer macht. Und es ist der Stellvertreter, der die Person verkörpert, und zwar nur eine Person; und Einheit kann man bei einer Vielzahl nicht anders auffassen.“ (Lev.: 138)

Wie kann die repräsentationale Souveränität als bloßes Konstrukt gegen die am Naturzustand illustrierte Kraft der Physis ankommen, ohne allein auf das Schwert zu bauen (dessen Bedeutung Hobbes bekanntlich nicht unterschlägt, vgl. Lev.: 141)? Was an Hobbes’ Modell ,magisch‘ ist, ließe sich auch als konstitutive Lücke beschreiben, die Hobbes ästhetisch und theologisch überformt. Reinhard Brandt, Horst Bredekamp und Martin Windisch haben in den 1980er und 1990er Jahren auf die Bedeutung des Frontispizes des „Leviathans“ in dieser Hinsicht hingewie11 12

Jacob/Raylor, 1991: 222. Vgl. Skinner, 2017a.

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sen.13 Der Kupferstich, den der französische Künstler Abraham Bosse in enger Abstimmung mit Hobbes hergestellt haben soll, diente Hobbes als Materialist und Rhetorik-Kritiker zur Versinnlichung seiner Theorie. Hobbes dachte alle Wahrnehmungsprozesse als taktil, als Druckmomente (vgl. Lev.: 9). In seiner Konkretheit sollte das Bild die Theorie mit einem wirkmächtigen Körper ausstatten. Bredekamp schreibt: „Damit Verträge und Gesetze zu kontrollierten Handlungen werden, müssen sich Worte in Körper verwandeln, und diesen Vermittlungsschritt leistet das Bild des Leviathan. Ohne visuelle Repräsentation kann der Leviathan zwar gegründet, aber nicht dauerhaft am Leben erhalten werden. Er ist kein Zusatz zur Schrift, sondern das Medium zur Überwindung ihrer Schwäche.“14

Quentin Skinner hat die Bildlektüren jüngst um theologische Zusammenhänge ergänzt.15 Er sieht weniger einen ästhetisch-materialistischen als einen theologischen Grund für den Einsatz des Bildes. Er betont die Bedeutung der geometrischen Form des Dreiecks für den Bildaufbau und bringt sie über den Vergleich mit zeitgenössischen religiösen Darstellungen mit der christlichen Trinitätslehre in Verbindung. Die vermeintlich aporetische Struktur des Dreiecks von Menschenmenge, Staat und Souverän löse sich im Identitätsgedanken der Heiligen Dreifaltigkeit auf, der zufolge Gott, Christus und der Heilige Geist eins sind.16 Eine lang anhaltende „Körpervergessenheit“ der Hobbes-Forschung legt nahe,17 dass Hobbes’ Versuch, den Verlust des Physischen zugunsten des Abstrakten in seiner Theorie der Souveränität durch eine Körper-Kunst, respektive durch Theologie, auszugleichen, einiger Erfolg beschieden war. Zuletzt wird indes zunehmend nach Rolle und Ort des natürlichen Körpers im „Leviathan“ gefragt. Systematisch zeigt Eva Odzuck Hobbes’ Vertragstheorie als körperbasiert. Odzuck betont, dass es der Körper der Menschen mit seinen Leidenschaften ist, der in Hobbes’ materialistisch-mechanistisch und anthropologisch fundierter Theorie zur Autorisierung eines Souveräns führt und dass es die Angst vor einem Rückfall in die Körperanarchie des Naturzustands ist, die den Staat trägt. Nach dem Vertragsabschluss wird es indes dunkel um den Körper: Was im Raum des Staates unter Körpern und unter körperlicher Unversehrtheit zu verstehen ist, bleibt eine Leerstelle. Odzuck beschreibt sie als ,biopolitische Aporie‘.18 Auch das Frontispiz gibt Anstoß, nach Spuren des natürlichen Körpers der einzelnen Menschen innerhalb von Hobbes’ Modell staatlicher Souveränität zu suchen. So hat Philip Manow von Reinhard Brandts zeichnerischer Rekonstruktion des Unter13

Brandt, 2012; Bredekamp, 2012; Windisch, 1997. Bredekamp, 2012: 131. 15 Skinner, 2017b. 16 Vgl. Skinner, 2017b: 91. 17 Odzuck, 2016: 19. 18 Odzuck, 2016: 137 – 143. 14

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leibs des Riesen her den Status des Privaten, Intimen und Geschlechterdifferenziellen in Hobbes’ Theorie lesbar gemacht: „Das natürliche Leben des Bürgers hat […], wie uns der homo magnus ohne (sichtbaren) Unterleib mitteilt, neben der religiös-moralischen eine private, intime Seite, die staatlich befriedet wird. Der künstliche Staatskörper setzt den natürlichen Staatsbürgerkörper frei, setzt ihn außerhalb des politischen Herrschaftsraums.“19

In der Repräsentation des Souveräns bleibt demnach eine Spur des Naturzustands, die den Souverän zu einer „Figur der Anomiereminiszenz“ macht.20 Manow erinnert an eine Formulierung in Giorgio Agambens „Homo sacer“ (1995), in der dieser die Souveränität als „Einverleibung des Naturzustandes der Gesellschaft“ und als „Schwelle der Ununterschiedenheit zwischen Natur und Kultur, zwischen Gewalt und Gesetz“ beschreibt.21 In seiner 2013 in Tübingen gehaltenen Rede „Leviathans Rätsel“ zeigt Agamben dies nochmals mit etwas anderer Pointierung. Im Aufbau des Frontispizes irritieren ihn der Standort des Leviathans außerhalb der Stadt und die Abwesenheit der Menschen.22 Den Grund vermutet Agamben im ,magischen Dreieck‘: der „paradoxen Trennung von Bürgern und Menschen“ und der gleichermaßen paradoxen Identifizierung von Menschen und Souverän: „Das Volk – der ,Staatskörper‘ – existiert nur augenblicklich in dem Moment, in dem es ,einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen zur Vertretung seiner Person ernenn[t]‘, aber dieser Moment fällt mit seinem Verschwinden in eine aufgelöste Menge zusammen. Der ,Staatskörper‘ ist ein unmögliches Konzept, das nur in der Spannung zwischen dem Volk und dem Souverän lebt: es ist daher immer in einem Prozess der Desintegration in der Konstituierung des Souveräns. Der Souverän auf der anderen Seite ist nur eine ,künstliche Person‘, deren Einheit so etwas wie eine optische Täuschung ist.“23

Die Menge der Menschen existiert vor der Schaffung des Souveräns, wird in ihr zum Volk, das im Souverän verschwindet, aber zugleich erneut als aufgelöste Menge existiert. „Das Volk“, schreibt Agamben, „wandert in die Person des Souveräns und herrscht deshalb in der Stadt, ohne darin wohnen zu können. Die Menge hat keine

19

Manow, 2011: 45; vgl. auch Manow, 2012. Manow, 2011: 93. 21 Agamben, 2002: 46. Vgl. Manow, 2011: 93. 22 Agamben, 2014: 21. Vgl. auch Agamben, 2016. 23 Agamben, 2014: 27 und 29. Agamben bezieht sich hier im Zusammenhang der fragmentarischen Gestaltung des Frontispizes auf die Bedeutung des Perspektivglases, mit dem sich aus vielen Einzelbildern ein Bildsubstrat erzeugen lässt. Hobbes ging es darum, die innerhalb der Gemeinschaft zirkulierenden Kräfte aufzufächern und damit der gefährlichen Vergrößerungswirkung individueller Affekte eine größere, kollektive Einheit entgegenzusetzen. Vgl. Bredekamp, 2012: 90. 20

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politische Bedeutung. Sie ist das unpolitische Moment, auf dessen Ausschluss die Stadt gegründet ist.“24 Spuren der aufgelösten Menge lassen sich indes in den kaum sichtbaren Wachen und Schnabelmaskenträgern auf dem Bild ausmachen, wie Francesca Falk in einer eindrucksvollen Studie ausgeführt hat, an die auch Agamben anknüpft.25 Die Pestärzte, so Falk, „lenken den Blick auf die Gewaltsamkeit der Grenzziehung, die nötig war, um die souveräne Ganzheit und Abgeschlossenheit des Staatskörpers herzustellen“;26 sie „erinnern an Selektionen und Exklusionen und sie bringen den Zusammenhang von Seuche, Sanität und Souveränität ins Bild“.27 Untersuchungen zur Pestpolitik der Zeit bringen Falk zu dem Schluss, dass auf dem Frontispiz „eine beginnende Biopolitik 1651 wortwörtlich ins ,Bild‘ des Politischen rückt“.28 Grundsätzlich eignet dem „Leviathan“ demnach in Text und Bild eine unordentliche Verschaltung von natürlichen und künstlichen Körpern, von menschlicher Physis und Körpermetapher, von phänomenalem und zeichenhaftem Körper – sei sie nun wirkungsästhetisch, theologisch oder biopolitisch motiviert. Und nicht nur das Frontispiz, auch Hobbes’ bilderreicher Schreibstil spricht seiner strengen Metaphernkritik (vgl. Lev.: 27 f., 38 f.) Hohn. Schon auf der ersten Seite schreibt Hobbes von der „Souveränität“ als „künstliche Seele“, die „dem ganzen Körper Leben und Bewegung verleiht“, von Richtern und Beamten als „künstliche Gelenke“ und davon, dass „Eintracht Gesundheit; Aufruhr Krankheit und Bürgerkrieg Tod sind“ (Lev.: 5). Später, im XXIX. Kapitel, heißt es als Warnung vor einer ,gemischten Regierung‘ bzw. einer Gewaltenteilung: „Ich weiß nicht, mit welcher Krankheit des natürlichen menschlichen Körpers ich diese Regelwidrigkeit eines Gemeinwesens genau vergleichen kann. Aber ich habe einen Mann gesehen, dem ein anderer Mann aus der Seite wuchs, mit eigenem Kopf, eigenen Armen, eigener Brust und eigenem Magen: wäre ihm aus der anderen Seite noch ein Mann gewachsen, dann stimmte der Vergleich genau.“ (Lev.: 280 f.)

In einer pestgeplagten Zeit deutet sich über den ,Realitätseffekt‘ (Roland Barthes) der Schnabelmaskenträger auf dem Frontispiz an, dass sich Körpermetaphern, die immer auch medizinische Metaphern sind, im Raum des Politischen in konkrete medizinische Fälle verwandeln können, in Eingriffe und Ausschlüsse. Hobbes’ bildliches Denken scheint antiken und mittelalterlichen Vorstellungen verhaftet; in Verbindung mit dem streng rationalen, quasi geometrischen Anspruch seines Staatsdenkens entwickelt dieses Bilddenken eine unheimliche Dimension. 24

Agamben, 2014: 33. Falk, 2012 u. 2011. 26 Falk, 2012: 240 f. 27 Falk, 2012: 229. 28 Falk, 2012: 235. Ein ähnliches Fazit zu Hobbes’ Körperdenken zieht Lauren B. Wilcox: „In setting up the figure of the sovereign state as a body politic, Hobbes naturalizes the boundaries of the political community in the boundaries of the human body.“ Wilcox, 2015: 19. Vgl. zum Verhältnis von Körpermetaphorik und Biopolitik grundlegend: Lüdemann, 2004. 25

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Statt es deshalb für gegenwärtige Debatten zu verwerfen, schlage ich vor, es im Sinne Heiner Müllers als Material zu verstehen, das sich mit dem Erfahrungsmedium Theater bearbeiten lässt. Das Feld des Politischen bleibt auch in der Gegenwart eines, in dem sich Affekt und Ratio, konkrete Körper und Abstraktionen, Wahrnehmung, Rede und Bild unordentlich kreuzen. Die Konsequenzen solcher Überlagerungen werden nur am individuellen Menschenkörper offenbar. Das Theater ist das einzige Medium, das den Menschen als Menschen zum Material nimmt: „Ein Mensch verkörpert einen anderen. Nirgends sonst wird uns das gezeigt“, heißt es in Helmuth Plessners „Anthropologie des Schauspielers“ (1948): „Dichtung und bildende Kunst verkörpern ,auf Umwegen‘ und ,im Abstand‘, in Wort, Farbe und Form, nicht in Menschen selbst.“29 Da die Körper dabei in der Regel nicht zu Schaden kommen, dient das Theater als Experimentierfeld auch für Grenzerfahrungen. Bereits Ernst Kantorowicz’ Shakespeare-Studien haben gezeigt, dass das Theater durch seine vielschichtige Körper-Arbeit die Spannungen zwischen verschiedenen Körperdimensionen – zwischen body politic und body natural – wirkmächtig zum Ausdruck bringen kann.30 Das Problem des Körpers in Formen politischer Repräsentation lässt sich an zwei Stücken Heiner Müllers illustrieren, die sich besonders nah an hobbesianischen Konstellationen bewegen: „Philoktet“ (1965) und „Der Horatier“ (1968). Die beiden Antike-Dramen, die Müller selbst als Teil einer „Versuchsreihe“ bezeichnete, mit der er sich an Bertolt Brechts Lehrstücktheorie abarbeitete, haben einen modellhaften Zuschnitt.31 Anhand von mythologischen Konstellationen wird das Verhältnis von Individuum und Kollektiv in Zusammenhängen politischer Repräsentation am Körper des Individuums durchexerziert. Von Hobbes her gesehen, überträgt Müller in seinen Stücken die organologische Metaphorik auf den individuellen Menschenkörper zurück. Was im emblematischen Bild nur als Spur wahrnehmbar ist, rückt auf der Bühne ins Zentrum. III. „Als noch der Mensch des Menschen Todfeind war“: Heiner Müllers „Philoktet“ (1965) und das Ausgesetztsein32 Die Pestärzte auf dem Frontispiz zum „Leviathan“ erinnern an die Gefahr, die für den Staatskörper vom individuellen menschlichen Körper ausgeht, an die Präsenz der Anomie des Naturzustands innerhalb des Raums des Staates. Im gedanklichen Horizont von Hobbes’ Schrift bietet sich als Alternative zum Befall des ganzen Staats29

Plessner, 1982: 146 Vgl. Kantorowicz, 1990. 31 Müller, 2001: 259. Das dritte Stück in der Reihe ist das Revolutionsdrama Mauser (1970), das wiederum Motive aus Michail Scholochows Romantetralogie Der stille Don (1928 – 1940) zur Grundlage hat. 32 Einige wenige Formulierungen, Textzitate und Thesen aus diesem Abschnitt entstammen einer früheren Publikation von mir, mit anderer inhaltlicher Stoßrichtung (Fluhrer, 2019). 30

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körpers nur der Ausschluss des einzelnen kranken Körpers. Von einer solchen Isolation handelt „Philoktet“.33 In seinem 1965 erschienenen Stück bearbeitet Heiner Müller die auch von Aischylos’, Sophokles und Euripides dramatisierte Episode aus dem Zusammenhang des Trojanischen Kriegs.34 Die Fassung des Sophokles, die als einzige vollständig überliefert ist, legt nahe, dass Erfahrungen eines Zusammenhangs von Krieg und Pest im 5. vorchristlichen Jahrhundert mit dem Stoff in Resonanz traten.35 Auf dem Weg nach Troja, so die mythologische Vorgeschichte, wird der Krieger Philoktet beim Opfer auf der Insel Chryse von einer Schlange gebissen. Da seine Schmerzensschreie die Opferzeremonie stören und die Wunde bestialisch stinkt, setzt Odysseus Philoktet auf der kargen, nur von Geiern bewohnten Insel Lemnos aus. Zu Beginn des Stücks geht der Krieg zehn Jahre; das Ende wird herbeigesehnt. Ein Seher rät, Philoktet zu holen. Der Ausgesetzte hatte einst Herakles Sterbehilfe geleistet und wurde mit dessen unfehlbarem Bogen belohnt, der in Troja gebraucht wird. So fahren Odysseus und Neoptolemos, der Sohn Achills, nach Lemnos. Neoptolemos dient als Lockvogel und Mittler. Philoktet hasst Odysseus, Neoptolemos kennt er nicht. Doch Neoptolemos lügt ungern und schlecht und auch er hasst Odysseus, der ihn um die Waffen seines Vaters gebracht hat. Philoktets Schmerzensschreie – die Wunde heilt nicht – drohen Neoptolemos’ Mitgefühl zu erregen und das Lügen zusätzlich zu erschweren. Bei Sophokles löst am Ende Herakles als deus ex machina die verfahrene Situation: Philoktet fährt zur Rettung des Griechenheers mit nach Troja; des Fußes soll sich dort Asklepios annehmen. Müller reduziert die Handlung auf die beschriebene Dreieckskonstellation. Der Schlangenbiss, bei Sophokles göttlich veranlasst, ist bei ihm ein Arbeitsunfall: Philoktet wird gebissen, als er eine Schlange vom Opfertisch entfernt, um das Ritual zu ermöglichen – ein Dienst an der Gemeinschaft. „Der Weg nach Troja, unsrer, war dein Fuß“ (Phil.: 320), sagt Müllers Odysseus. Auch den Schluss variiert Müller. Bei ihm tötet Neoptolemos Philoktet im Affekt und Odysseus weiß, die Leiche dienstbar zu machen: Troer seien nach Lemnos gekommen, um Philoktet auf ihre Seite zu ziehen. Dass er den Griechen eisern treu geblieben sei, habe er mit dem Leben bezahlt. In seiner 1968 entstandenen poetologischen Notiz „Drei Punkte zu ,Philoktet‘“ schreibt Müller: „Die Handlung ist Modell, nicht Historie.“36 Später formuliert er zu den drei Figuren: „Das sind drei Haltungen zur Geschichte, zur Politik: Odysseus ist der Pragmatiker, Neoptolemos der Unschuldige. Er tötet, weil er unschuldig ist. Philoktet ist jenseits von Geschichte, weil er das Opfer der Politik ist.“37 33 Müller, 2000. Ich zitiere aus dem Stück im Folgenden in Klammern im Haupttext mit dem Kürzel ,Phil.‘. 34 Müller hat sich mehrfach mit dem Stoff beschäftigt. 1950 schreibt er ein PhiloktetGedicht, zwischen 1958 und 1964 arbeitet er am Drama, 1979 verfasst er nochmals einen Entwurf für ein Ballett. 35 Storch, 2006: 127. 36 Müller, 2005: 158. 37 Müller, 1986a: 96.

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Müllers Stück beginnt in der Tradition Brechts mit einem Prolog, gesprochen in klappernden Knittelversen vom Darsteller des Philoktet als Clown: „Darsteller des Philoktet, in Clownmaske. Damen und Herren, aus der heutigen Zeit Führt unser Spiel in die Vergangenheit Als noch der Mensch des Menschen Todfeind war Das Schlachten gewöhnlich, das Leben eine Gefahr. Und daß wirs gleich gestehn: es ist fatal Was wir hier zeigen, hat keine Moral Fürs Leben können Sie bei uns nichts lernen. Wer passen will, der kann sich jetzt entfernen. Saaltüren fliegen auf. Sie sind gewarnt. Saaltüren zu. Der Clown demaskiert sich: sein Kopf ist ein Totenkopf. Sie haben nichts zu lachen Bei dem, was wir jetzt miteinander machen.“ (Phil.: 291)

Die „Vergangenheit“, in der das Stück spielen soll, bleibt unbestimmt. PhiloktetMythos und Trojanischen Krieg trägt Müller in die eigene Zeitleiste ein, indem er ein Verhältnis zwischen „heutiger Zeit“ und „Vergangenheit“ herstellt. In der Tradition des Lehrstücks steht so die Möglichkeit für Wandel, für Veränderung im Raum. Näher bestimmt wird die Vergangenheit über die Verse „Als noch der Mensch des Menschen Todfeind war / Das Schlachten gewöhnlich, das Leben eine Gefahr.“ Sie erinnern an Hobbes’ Beschreibung des Naturzustands, für die der englische Bürgerkrieg prägend war. Der Clown, den die Antike nicht kennt, gehört ebenfalls in die frühe Neuzeit, etwa ins Shakespeare-Theater; die Verbindung von Clown und Totenkopf erinnert an Hamlets Yorick. Der Knittelvers indes entstammt der deutschen Fastnachtspieltradition und erfährt in Goethes Faust und auch noch in Hugo von Hofmannsthals Jedermann ein prominentes Nachleben. Nach dem Prolog ist das Stück im Blankvers gehalten, dem Versmaß Shakespeares, das Lessing in die deutschsprachige Dichtung überführt hat. Die historischen Bezüge fügen sich zu einem bunten Narrenkleid. Es symbolisiert die Unzeit des Mythos, der sich immer wieder neu an historische Konstellationen heften kann, weil dessen Erfahrungssubstrat offenbar noch nicht genug an Aktualität eingebüßt hat.38 Der vorstaatliche Stoffzusammenhang, die Unmöglichkeit einer klaren historischen Zuschreibung und der Hinweis auf eine Zeit dauernder Todesgefahr legen nahe, dass sich die Handlung innerhalb einer Art Naturzustand abspielt. Zugleich existiert durch Militär und Religion ein Zusammenhang sozialer Verregelung im 38

In einem 1985 geführten Interview sagt Müller zu seiner anhaltenden Faszination mit antiken Mythen: „Schlimmerweise stimmen die immer noch allgemein. Weil – wie heißt das so schön – die condition humaine sich in den letzten Jahrhunderten ganz wenig verändert hat. Die Entwicklung des Menschen als Gegenstand der Anthropologie ist absolut minimal. Deswegen stimmen diese Modelle immer noch.“ Müller, 1986b: 149.

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Hintergrund der Handlung, von dem sich das Geschehen auf Lemnos nicht zeitlich, sondern räumlich abhebt. Philoktets Insel wird zur Außenstelle des Kriegs; ob Regeln und Rituale, die vor Troja, in Ithaka oder Mykene gelten, auch auf Lemnos Wirkkraft besitzen, steht zur Debatte. Der Bühnenraum dupliziert den leeren Ort der Ausnahme. Im Theater ist zunächst nichts gesetzt; erst Rede und Körperhandlung schaffen Realitäten. Insofern eignet dem „Philoktet“-Drama eine metatheatrale Dimension. Nicht nur verhandelt das Stück Grundfragen des Politischen; es wiederholt auch eine Grundkonstellation des Theaters. Auf Lemnos, respektive im Theater, stößt politische Wirklichkeit auf Leere und muss dabei ihre Geltung verteidigen. Als Odysseus in Müllers Stück an wirtlichere Gegenden als Lemnos erinnert und die Zerstörung der griechischen Städte in Aussicht stellt, wenn Philoktet nicht einlenkt, erwidert dieser: „Hör wie das Schweigen deine Rede bricht. Ich weiß von Städten nichts, ist eine Stadt hier? Und so viel sind sie mir. Auch glaub ich keine. Gebild aus Worten und Wohnung für Träume Falle, von blinden Augen ausgestellt In leere Luft, Gewächs aus faulen Köpfen Wo sich die Lüge mit der Lüge paart Sie sind nicht, Lüge euer Grünzeug auch Kahl ist mein Erdkreis und so will ich euren Ein Etwas, zwischen nichts und nichts gespannt.“ (Phil.: 321)

Die Annehmlichkeiten der Zivilisation sind nur für den handlungsleitend, der ihr angehört. Für Philoktet, ausgesetzt und schmerzgeplagt, dreht sich das Leben um die hobbesianische Alternative, das Fleisch der Geier in sich zu begraben oder selbst im Magen eines Geiers sein Grab zu finden. In einem rasenden Monolog zwingt er Odysseus, sich sein Leben vorzustellen: „Lern deine Arbeit jetzt im Dienst der Feldherrn Auf Steinen ausgesetzt mit faulem Fuß Der dich im Taumel umtreibt auf dem Stein Dreifüßig fliehend den stinkenden vierten Den nicht fliehbaren, fliehend dein Gebrüll Das nicht fliehbare, lauter durch die Flucht Und lauter, stopfst du dir die Ohren, in dir Besoffen ganz vom eigenen Gestank Aas unter Geiern, schrumpfend in die Geier Kotplatz für Geier, Kot von Geiern bald Kriech um die Wette mit der eignen Fäulnis Die deinen Fuß schon eingeholt hat und Dich einholt bald, den Kriechenden, kriech schneller. Hast du schrein gelernt? Auf Lemnos ist die Schule. Kannst du Geier fressen? Auf Lemnos wird gelehrt. Friß deine Ernte, Baum, Gras, schmeck dein Grün Eh ich dich aus dir reiß mit deinen Wurzeln.

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Schießt einen Geier, wirft ihn dem Odysseus vor. Dein Geier. Lern von mir, was du gelehrt hast. Friß, deinesgleichen fraß er vor dir, bald Dich frißt er, mäste dich mit deinem Grab Dein Grab zu mästen nach dir. Graut dir schon Vor deiner Arbeit, Freund?“ (Phil.: 322 f.)

An einer Stelle im VIII. Kapitel des „Leviathan“ zu Gemütsbewegungen, die sich negativ auf die Gemeinschaft auswirken können, warnt Hobbes über eine Anekdote aus der Antike vor der ansteckenden Kraft des Theaters: „Einst gab es in Abdera, einer griechischen Stadt, an einem außergewöhnlich heißen Tag einen großen Menschenauflauf bei der Aufführung der Tragödie Andromeda, worauf eine große Menge Zuschauer in Fieber verfielen und als Begleiterscheinung der Hitze und der Tragödie zusammen nichts taten als Jamben mit den Namen Perseus und Andromeda deklamieren, was zusammen mit dem Fieber durch das Herannahen des Winters kuriert wurde. Und man glaubte, dieser Wahnsinn sei aus der durch die Tragödie bewirkten Gemütsbewegung entstanden.“ (Lev.: 63)39

Die sturzbachartigen jambischen Verse von Müllers Philoktet, eine Herausforderung für jeden Schauspieler, entwickeln mit ihren Alliterationen und etymologischen Figuren, in denen sich ein Partizip in ein Adjektiv, zurück ins Partizip, wieder zum Adjektiv und schließlich in ein Nomen verwandelt („Dreifüßig fliehend den stinkenden vierten / Den nicht fliehbaren, fliehend dein Gebrüll / Das nicht fliehbare, lauter durch die Flucht“), eine Zudringlichkeit, angesichts derer die Angst vor den entgrenzenden Kräften theatraler Mimesis, wie sie vor Hobbes bereits Platon formulierte, verstehbar wird. Philoktets Rede bewegt sich auf den Zungenbrecher zu, auf den Sinnverlust, der durch lautliche Nähe droht, durch den Zugewinn an Poetizität, den Eigensinn des Literarischen, jenseits des logos. Der Horizont dieses Sprechens liegt im Schrei, im Gebrüll, das bei Müller genau einmal aus Philoktets Kehle kommt („Brüllt.“ heißt es in einer Regiebemerkung – Phil.: 306). Aber der Moment der Andeutung einer Auflösung des sinnhaften Zusammenhangs, der Moment, in dem die Verbindung von Vers und Ratio sich in eine Verbindung von Vers und Körper verwandelt, wirkt vielleicht noch stärker. Mehr als der Inhalt der Verse ist es die ästhetische Gestalt, die von Philoktets Leiden kündet. Philoktets Wut und Verzweiflung speisen sich aus der Ausweglosigkeit seiner Situation. Als er auch noch seinen Bogen verliert, bleiben ihm nur das Einlenken, die Rückkehr in den Kriegsdienst, das Vergessen des langen Leidens und die Selbstverleugnung („Lauf, Einbein, in den Schlamm, der alles heilt / Die alte Wunde mit der neuen Kränkung / Den Stinkenden mit dem Gestank der Schlacht.“ – Phil.: 313) oder die Fortsetzung des Inseldaseins zwischen Wundschmerz und Geierjagd. Es

39 Christopher Pye hat gezeigt, dass die Stelle sich in Analogie zu Hobbes’ Beschreibung dämonologischer Regierungen lesen lässt, bei der Affekte unkontrolliert zu Repräsentationen werden. Vgl. Pye, 1984: 92 f.

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entstehen Phantasien der Bezugslosigkeit, der radikalen Unabhängigkeit. Philoktet wünscht sich, Waffe zu werden, mit dem Akt des Tötens identisch zu sein: „Könnt ich mich umbaun selber zum Geschoß Das tötet, und Gefühl hat für sein Tun. […] Der mich gebaut hat hat mich halb gebaut Die vielwerfende Hand hat keine Kraft Zu schleudern einen Pfeilschuß weit mich selber Der Fuß, der Völker austritt in Gemeinschaft Kann ohne Grund nicht gehen, was mich nicht braucht Das Außen und das Eingeweid der Erde Sehr brauch ich das und bin nicht ohne alles.“ (Phil.: 312)

Als alles verloren ist, sehnt er sich wenigstens die Dysfunktionalisierung seines Körpers herbei: „Gebt mir ein Schwert, ein Beil, ein Eisen. Haut mir Die Beine ab mit einem Eisen, daß die Nicht gegen meinen Willen mit euch gehen Reißt mir den Kopf vom Leib, daß meine Augen Nicht nachgehn euch und euerm gehnden Segel Daß meine Stimme nicht, lauter als Brandung Zum Strand euch folgt und eurem Schiff aufs Meer. Haut mir die Hände von den Armen auch Eh sie euch anflehn stimmlos um den Platz Auf eurer Ruderbank, in eurer Front Reißt mir, daß nicht die roten Stümpfe noch Das Ungewollte tun, vom Rumpf die Arme. Der wird mir, fühllos auf fühllosem Stein Nicht den Gehorsam weigern und so will ichs.“ (Phil.: 317)

Philoktets Zornesrede ruft „eine der ältesten Soziallügen“ auf,40 die bei Livius überlieferte Fabel des Menenius Agrippa über den Aufstand der Glieder gegen den Magen. Die Phantasie der Amputation aller dienstbar zu machenden Gliedmaßen zielt auf die Vernichtung aller am menschlichen Körper orientierten Vorstellungen politischer und militärischer Repräsentation. Doch es gibt kein Entkommen für Philoktet. Philoktets Körper bleibt den Griechen einverleibt. „Seinen Fuß möchte er abhacken, so wie die Griechen seinen Körper aus dem Kollektivleib der Kriegsunternehmung schnitten; und es ist ihm ebensowenig möglich wie ihnen“,41 schreibt Wolfram Ette über Philoktets Amputationssehnsucht. Am Ende tritt noch Philoktets Leiche in den Dienst. „Ich will dem Toten meine Füße leihn“ (Phil.: 325), sagt Odysseus und lässt sich Philoktets toten Körper von Neoptolemos aufladen; als Märtyrerleiche soll er vor Troja die Moral stärken.

40 41

Bloch, 1970. Ette, 2011: 509.

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Auf dem Frontispiz zum „Leviathan“ verdeckt ein Vorhang die untere Körperhälfte des magnus homo. Symbolisch verschwindet damit alles ,Niedere‘: das Leibliche, das Animalische, das Weibliche, das Unstete und Bewegliche, das Anfällige und Hinfällige. Müller zieht den Vorhang auf. Am wunden Fuß des Philoktet verhandelt er eine Grundfrage des Politischen: die Frage danach, wer unter welchen Umständen zur Gemeinschaft zu zählen ist. Für Philoktet geht es am Ende weder ein noch aus. Der Sieg für das Kollektiv gelingt nur noch durch die Verbindung von Blut und Lüge, die Odysseus ersinnt. Neoptolemos bleibt die Rolle eines tumben Mörders. „Was wir hier zeigen, hat keine Moral“, hatte es im Prolog zum Stück geheißen. Müller ließ keinen Zweifel daran, dass ein anderer Ausgang nur auf der Seite des Publikums gefunden werden kann. Eine Wirkungspoetik liefert im Stück Odysseus. Als Philoktets Affekt- und Körper-Sprache drohen, Neoptolemos auf Philoktets Seite zu ziehen, sagt Odysseus zu seinem Begleiter: „Hätt ich zum Helfer einen Stein gewählt Taub für die Stimme, süß durch langes Schweigen Und blind für sein Gesicht, im langen Ausland Vom eignen Fuß verkehrt zur eignen Maske. Warum hab ich dir Aug und Ohr gelassen. Eh seine Wunde deine Faust aufmacht Gib seine andre Waffe mir, den Bogen.“ (Phil.: 319)

„Aug und Ohr“ sind die wichtigsten Sinne für das Theater. Im „Philoktet“ werden sie besonders herausgefordert. Die Blickrichtung nach unten, auf den Fuß, konterkariert die hierarchische Topologie des menschlichen Körpers, die von der Antike bis zur Gegenwart mit einer politischen Organologie verschaltet ist.42 Müllers Stück ruft die Frage auf, wie eine Repräsentationslehre aussähe, die nicht Kopf und Hände, sondern einen wunden Fuß zum ikonographischen Vor-Bild nimmt und wie sich eine politische Theorie schreiben ließe, die statt von der geordneten Rede nach der Tradition der Rhetorik ihren Ausgangspunkt beim schmerzerfüllten Urlaut, dem Schrei ansetzt. Mit hobbesianischem Vokabular formulierte Müller 1983 zur Figur des Philoktet: „Vielseitig schlau ist der Gebrauch, den er von seinem kranken Fuß macht: Ornament, Last, Beute. Auch Identität: In der Zeit, die dem Schmerz gehört, wird der Mann zur Fußnote, brüllender Kommentar des kranken Glieds. Die Wunde kann als Waffe eingesetzt werden, weil der Fuß das Loch im Netz bezeichnet, die Lücke im System, den immer neu bedrohten und neu zu erobernden Freiraum zwischen Tier und Maschine, in dem die Utopie einer menschlichen Gemeinschaft aufscheint.“43

42 43

Vgl. Fluhrer, 2019. Müller, 2005: 261.

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IV. „Viele Männer sind in einem Mann“: Heiner Müllers „Horatier“ (1968) und die Spaltung des Individuums „Philoktet“ thematisiert das Problem der Repräsentation über das Motiv des Ausschlusses des einzelnen kranken Körpers aus dem Kollektivkörper. Müllers drei Jahre später entstandenes Stück „Der Horatier“44 fragt nach den Konsequenzen der ,doppelten Körperschaft‘ des Individuums im Zusammenhang der Repräsentation. Arbeitsnotizen zu seinem Stück zeugen von einem Interesse Müllers an der Frage der ,Teilbarkeit‘ des In-Dividuums.45 Es geht darum, Repräsentation in ihrer widersprüchlichen Körperlichkeit über das Medium des Theaters erfahrbar zu machen. Für „Der Horatier“ bedient sich Müller in der römischen Frühgeschichte.46 Grundlage ist eine bei Titus Livius und Dionysius von Halicarnassus überlieferte Kampfszene zwischen den Horatiern und den Kuriatiern, die u. a. Pierre Corneille, JacquesLouis David und Bertolt Brecht bearbeiteten. Um 672 v. Chr., Tullus Hostilius herrscht über Rom, gerät die Stadt in Streit mit Alba. Aus Sorge, beide Heere zu schwächen und sich so den Etruskern auszuliefern, sollen auf jeder Seite Stellvertreter den Kampf austragen. Der Sage zufolge sind es Drillingsbrüder der Horatier auf der Seite Roms und Drillingsbrüder der Kuriatier auf albanischer Seite. Der Sieg geht an Rom; ein Horatier bleibt am Leben. Die Schwester der Horatier ist mit einem der Kuriatier verlobt. Auf ihre Klage über ihren Verlust tötet der siegreiche Horatier auch sie. Müller will den Stoff im Spätsommer 1968 in Reaktion auf die Niederschlagung des Prager Frühlings bearbeitet haben.47 Sein Stück umfasst nur rund ein Dutzend Textseiten. Weder gibt es eine Personenliste noch eine Aufteilung des in Verse gefassten Textes auf die Figuren. Eine „Anmerkung“ zum Stück erklärt: „Das Spiel folgt der Beschreibung.“ (Hor.: 86). Aus dem Text sollen demnach im Sinne implizierter Regiebemerkungen die jeweils Sprechenden erschlossen werden; viele Passagen sind allen Spielern aufgegeben; häufig bieten sich mehrere Optionen für individuelles oder kollektives Sprechen. Schon der theatrale Sprechakt wird so zu einem Kommentar auf das Verhältnis von Einzelnem und Kollektiv. In dieses Verhältnis soll möglichst auch das Publikum einbezogen werden: Für die Uraufführung von „Der Horatier“ 1973 im Westberliner Schiller-Theater unter der Regie von Hans Lietzau wurde eine Arena-Bühne verwendet. Während also über die dramatische und theatrale Form danach gefragt wird, was gemeinschaftlich geteilt werden kann und was der Einzelne allein tragen muss, gilt das inhaltliche Interesse der Frage, was geschieht, wenn ein Einzelner sich durch die 44

Müller, 2001. Ich zitiere aus dem Stück im Folgenden in Klammern im Haupttext mit dem Kürzel ,Hor.‘. 45 Vgl. Wood, 2017: 72 f. 46 Bereits für seinen „Philoktet“ sprach Müller allerdings von einer „Übersetzung des Sophokles ins Römische, eine staatlichere Version“. Müller, 2010: 251. 47 Vgl. Müller, 2010: 203.

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Struktur der Repräsentation vervielfältigt. Nach der Doppeltat des Horatiers – Sieg über den Kuriatier und Tötung der Schwester im Affekt –, um deren Folgen das Stück kreist, heißt es: „Da ist der Sieger. Sein Name: Horatius. Da ist der Mörder. Sein Name: Horatius. Viele Männer sind in einem Mann. Einer hat gesiegt für Rom im Schwertkampf. Ein anderer hat seine Schwester getötet Ohne Notwendigkeit. Jedem das Seine. Dem Sieger den Lorbeer. Dem Mörder das Beil.“ (Hor.: 80)

Der Satz „Viele Männer sind in einem Mann“ könnte beinahe dem „Leviathan“ entstammen. Vorbild ist vermutlich ein Vers aus Brechts Horatier-Stück, der lautet: „Viele Dinge sind in einem Ding“. Gemeint ist die vielfältige Nutzbarkeit einer Lanze, pragmatisches Geschick. Bei Müller rückt der Mensch an die Stelle des Dings; der Funktionswechsel gelingt entsprechend weniger reibungslos. Nur ein Augenblick liegt zwischen der soldatischen Tötung und dem geschwisterlichen Mord, zu wenig, offenbar, um vom Soldaten zum Bruder überzuwechseln: „Das jeder Römerin / Die den Feind betrauert.“ (Hor.: 76), sagt der Horatier nach dem Schwertstoß gegen die Schwester. Die Gemeinschaft beharrt auf den Grenzen der Repräsentation; jede der Taten unterliegt einer eindeutigen Bewertung. Im Zeichen der Formel „Jedem das Seine“, die auf dunkle Weise den Sadismus der Konzentrationslager mitführt,48 wird vom Kollektiv mit dem Horatier verfahren: Erst wird er gefeiert, dann getötet, die Leiche zuerst aufgebahrt, dann von Hunden zerfleischt. Wer nicht „mit den Hunden wohnen“ (Hor.: 84) will, muss in dieser Dopplung an ihn erinnern. Nimmt ein natürlicher Körper innerhalb einer Gemeinschaft mehrere Rollen ein, findet die Repräsentation im Extremfall ein Ende in Blut und Widersprüchen, suggeriert das Stück. Die Aporien, die entstehen, wenn ,viele Männer in einem Mann‘ sind, inszeniert Müller an der Grenze zum Slapstick. Der epische Stil der größtenteils chorisch gesprochenen Verse kann sich auf der Bühne mit pantomimischem Schauspiel reiben. Nachdem der Horatier hingerichtet worden ist, heißt es: „Und sie fügten zusammen ungefähr Das natürlich nicht mehr Vereinbare Den Kopf des Mörders und den Leib des Mörders Getrennt voneinander mit dem Richtbeil Blutig aus eigenem beide, zum Leichnam des Siegers Auf den Schilden der Mannschaft, heil durch sein Schwert Nicht achtend sein Blut, das über die Schilde floß Nicht achtend sein Blut auf den Händen, und drückten ihm Auf die Schläfe den zerrauften Lorbeer.“ (Hor.: 82)

48 Das Stück enthält noch eine Reihe weiterer Bezüge zur NS-Herrschaft. Vgl. dazu Wood, 2017: 74 f.

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Repräsentation wird im „Horatier“ als Sache von Wort und Hand gezeigt. Es regiert eine Verbindung aus Diskurs und Gestik, die durch Gegenstände zwischen Gewaltinstrument und Symbol geleitet werden: Schwert und Beil, Lorbeer und Rutenbündel. Müller deutet die Verwechslungsgefahr dieses Zeichensystems über einen schnellen Wechsel der Gegenstände an („die Römer bewaffneten sich / Jeder mit seinem Schwert. / Der den Lorbeer hielt und der das Beil hielt / Jeder mit seinem Schwert, so daß die Linke jetzt / Den Lorbeer oder das Beil hielt und das Schwert / Die Rechte.“ – Hor.: 78 f.) sowie Tücken des Objekts, etwa das Schwert, das sich nicht mehr aus der leichenstarren Hand lösen lässt (Hor.: 83). Während also die dramatische und theatrale Form des Stücks die Aporien der Repräsentation buchstäblich vorführen, propagiert der Text auf der Oberfläche Eindeutigkeit als Losung der Gemeinschaft nach dem Fall des Horatiers. Gegen Äquivokation hilft das Schwert. Das Stück endet mit den folgenden Versen: „Wer aber seine Schuld nennt zu einer Zeit Und nennt sein Verdienst zu anderer Zeit Redend aus einem Mund zu verschiedner Zeit anders Oder für verschiedne Ohren anders Dem soll die Zunge ausgerissen werden. Nämlich die Worte müssen rein bleiben. Denn Ein Schwert kann zerbrochen werden und ein Mann Kann auch zerbrochen werden, aber die Worte Fallen in das Getriebe der Welt uneinholbar Kenntlich machend die Dinge oder unkenntlich. Tödlich dem Menschen ist das Unkenntliche. So stellten sie auf, nicht fürchtend die unreine Wahrheit In Erwartung des Feinds ein vorläufiges Beispiel Reinlicher Scheidung, nicht verbergend den Rest Der nicht aufging im unaufhaltbaren Wandel Und gingen jeder an seine Arbeit wieder, im Griff Neben Pflug, Hammer, Ahle, Schreibgriffel das Schwert.“ (Hor.: 84 f.)

Gleich in zweifacher Hinsicht scheint der Schluss dem „Leviathan“ verpflichtet. Der Griff zu Arbeitsinstrument und Schwert erinnert an den magnus homo mit Schwert und Bischofsstab. Im Plädoyer für eine reine Rede hallt eine Passage aus dem V. Kapitel des „Leviathan“ nach, mit der Hobbes seine Gedanken zur Sprache abschließt: „Das Licht des menschlichen Geistes besteht in deutlichen Worten, die aber zuerst durch Definitionen zurechtgestutzt und von Doppeldeutigkeiten gereinigt werden müssen; Vernunft ist die Gangart, Vermehrung der Wissenschaft der Weg und das Wohl der Menschheit das Ziel. Und im Gegensatz dazu sind Metaphern und sinnlose und doppeldeutige Wörter wie Trugbilder, und auf ihrer Grundlage Beweisführungen anstellen heißt zwischen unzähligen Widersinnigkeiten umherirren; und ihr Ergebnis ist Streit und Aufruhr oder Schmach.“ (Lev.: 38 f.)

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Dass noch die Warnung vor der Metapher selbst zutiefst metaphorisch ist, bleibt bei Hobbes wie bei Müller unkommentiert. Müllers Stück ist für seine Wirkung darauf angewiesen, dass das Publikum die zahlreichen Ambivalenzen in Gestik und Rede wahrnimmt. Mit der Formel vom „Rest / Der nicht aufging“ erhält der Schluss einen expliziten Hinweis auf dieses Anliegen. Müllers Theater ist demnach eines, das „Streit und Aufruhr“ gerade zum Ziel hat. Für das Medium des Theaters sind Doppeldeutigkeiten konstitutiv, vom doppelten Schauspielerkörper bis hin zur doppelten Verweisungsstruktur der Sprache auf den Raum innerhalb und außerhalb des Theaters. Schauspiellehren und Bühnenarchitektur des 19. Jahrhunderts hatten darauf abgezielt, die damit einhergehenden Ambivalenzen möglichst zu verbergen. Der Entwurf für ein ,Theater des Gehorsams‘, der im Austausch zwischen Hobbes und William Davenant aufscheint, mag in eine ähnliche Richtung gezielt haben. Unter anderem im Rückgriff auf das Shakespeare-Theater, dessen Traditionslinie in England durch den Bürgerkrieg zunächst beendet worden war, wird seit dem frühen 20. Jahrhundert komisches und kritisches Potential aus den ästhetischen Spannungen des Theaters entwickelt. Die Dramen Heiner Müllers stehen in dieser Tradition. Dem Publikum werden Widersprüche zugemutet. Es ist mit der Frage entlassen, wie viel Widerspruch aushaltbar ist. V. Schluss Heiner Müllers Theater führt die politische Repräsentation auf ihren Ursprung zurück: den menschlichen Körper. Was bei Thomas Hobbes den Grund für die Entstehung einer politischen Gemeinschaft darstellt, wird bei Müller zum Austragungsort einer elementaren Kritik der Repräsentation. Hobbes’ Denken wird dafür – auf direktem oder indirektem Wege – Material zur Bearbeitung geliefert haben. Ausschlaggebend dabei ist nicht zuletzt die vielschichtige ästhetische Form des „Leviathan“, vom Frontispiz über die Theaterbezüge bis zu den Körpermetaphern. Mit Müller, der Literatur als Ausdruck für Widerfahrnisse betrachtete, lässt sich Hobbes’ literarischer Stil auf den turbulenten Erfahrungsraum des mittleren 17. Jahrhunderts zurückführen. Die komplexe Ästhetik des „Leviathan“ ist sein Erfahrungsspeicher. Gerade durch ihre Aporien und Widersprüche bleibt Hobbes’ Schrift anregend. Die gegenwärtig wieder häufiger gestellte Frage danach, ob es sinnvoll sein kann, sich mit Texten zu beschäftigen, die autoritäres Denken bewerben, könnte demnach über deren Ästhetik verhandelt werden. Vielleicht müsste die Auseinandersetzung mit ihnen im Theater stattfinden.

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Die Politik der Körper Von Tilo Schabert Abstract Human beings are bodily beings. They exist in a world constituted by bodies. This constitution governs their existence from its very beginning. The world of bodies is a political one. It calls for a political science of the body. Empirical reflections on the bodily behavior of humans, on the one hand, and a pertinent tradition in the history of political thought, on the other, allow to conceive of it. Humans ,read‘ the bodily signs and movements through which they ,speak‘ towards each other. They practice a hermeneutics of bodies and form with it a semiotic sphere that is the primary instance in the process of forming a society. The human body can be understood as a key for the understanding of human society. Sources from Ancient China, Classical Rome, and Medieval Europe tell us that a paradigmatic theory of governing is best be achieved through a political theory of the body. The condition of human beings to be bodily beings is liberating, if the promise that it holds is seized: hermeneutics.

Körperereignisse Uns allen ist das Wirkliche der Körper, durch die wir existieren, bekannt, ihre Gegenwart, ihre Wirksamkeit, ihre Kraft. Es ist uns so bekannt, dass uns eher selten ein Staunen darüber erfasst, wo überall und wie oft für uns Körper bedingen, was wir tun, wie wir es tun, warum wir es tun. Körper spielen in unserer Existenz grundsätzlich mit. Das scheinen wir so gut zu wissen, dass es uns schon nicht mehr aufstößt (es sei denn, der Körper meldet sich durch eine Krankheit). Werden wir der Wirkhaftigkeit der Körper für den Zweck der hier vorgetragenen Überlegungen gewahr! Wie zeichnet sich unser Leben, so mögen wir uns fragen, aus der Perspektive der Körper ab? Einmal aufmerksam, werden wir rasch all die Körperereignisse sehen können, über die und mit denen sich menschliche Existenz in ihrem natürlichen Gang vollzieht wie von Menschen als Handelnde vollführt wird.1 Wer nicht gerade in einem einzelnen Haus auf dem Lande wohnt, sondern in einem Dorf oder einer Stadt, wird in diesen Siedlungsformen tägliche Körperereignisse erfahren können, bei sich selbst wie bei anderen. Durch ihre architektonischphysische Anlage organisieren Dorf wie Stadt den körperlichen Lebensvollzug ihrer 1 Frühere Überlegungen zu dem hier aufgegriffenen Thema habe ich in meiner Schrift Die zweite Geburt des Menschen. Von den politischen Anfängen menschlicher Existenz (Freiburg: Alber, 2009) entwickelt, insbesondere in dem Kapitel „Im Körper“, 32 – 51. In diesem Beitrag werden jene Überlegungen fortgeführt und weiter ausgearbeitet.

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Einwohner vor. Begegnungen – und das sind ja zuerst Begegnungen von Körpern – werden geleitet, geordnet, aufgeteilt, zusammengeführt, erleichtert oder erschwert. Mein Leben im Dorf oder in der Stadt ist stets und zuallererst ein von der Gestalt des Dorfes oder der Stadt bestimmtes Körperereignis. Aus welchen Gründen auch immer beraten wir uns mit anderen oder verhandeln mit ihnen über etwas. Häufig geschieht dies, indem man zusammenkommt, zu dem Körperereignis also eines gemeinsamen Treffens an einem bestimmten Ort. Wir bewegen uns mit unseren Körpern in dem, was wir Raum nennen, das heißt in einer Welt, die physisch ausgespannt, dinglich verfasst und griffig ausgezirkelt ist. Darin sind Orte, Grenzen, Linien markiert, die Orte, Grenzen, Linien für unsere Körper sind: unser Wohnort, unsere Arbeitsstätte, das Territorium unseres Staates, dessen Verkehrswege, die Raumordnung für Wohngebiete und Landschaft. Elementar ist die körperliche Gegebenheit der Geschlechterdifferenz. Sie gebietet allen, jeder und jedem, eine Lebensschöpfung aus dem je eigenen Körper. Man muss zur Verschiedenheit hin auf ihn antworten und mit ihm Ereignis menschlicher Existenz in einer körperlichen Differenz sein. Körper ermöglichen ein Eingreifen vieler in den gesellschaftlich-politischen Prozess, ja reizen dazu an. Denken wir an Demonstrationen, Aufstände, Revolutionen. Das Wirkliche der Körper wird hier entdeckt und dann ausgeübt als Körpermacht. Körper, gesammelt, können eine Herrschaft wegfegen, oder diese zumindest so beeindrucken, dass sie sich Forderungen beugt, die über die Macht vereinter Körper erhoben werden. Soll diese seitens der Regierenden gebrochen werden, müssen jene auf die Körper zielen, durch die demonstriert, rebelliert wird. Jeder Krieg ist ein Krieg zwischen Körpern und gegen Körper, zum Sieg müssen Körper vernichtet werden. Bei bestimmten, strafrechtlich bewehrten Vergehen droht jenen, die sie begangen haben, eine Strafe, die an ihren Körpern getätigt wird. Ihre Körper werden eingesperrt in ein Gefängnis. Eine politische Wissenschaft vom Körper Andere Körperereignisse könnten angeführt werden, aber die Wirkhaftigkeit der Körper mag deutlich geworden sein. Davon gewahr, mögen wir uns nun fragen, woher sie, genauer: woher das Wirkliche der Körper, das uns so augenscheinlich bestimmt, denn grundsätzlich kommt. Das Wirkliche der Körper, so die sich anbietende Antwort, ist gegeben durch die Realität der Welt. Was aber, so wäre sogleich wieder zu fragen, heißt hier „Realität“, was „Welt“? Was sagt „gegeben“? Der überlieferte Begriff „Schöpfung“ ist hierfür aussagekräftig. Er zeigt einen Prozess und ein Ergebnis an, das Entstehen der Welt wie sodann deren Vorhandensein. Und er ist bildhaft. Dinge entfalten sich schöpferisch, und existieren dann, in einer plastisch beschaffenen Welt. Mit der Schöpfung entstand und besteht eine über Körper verfasste Welt. Wir behalten den Begriff „Schöpfung“ im Weiteren bei, damit uns der Modus „Körper“, in dem die Welt Realität ist, gedanklich stets gegenwärtig bleibt.

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Und der Mensch in einer solchen Schöpfung? Sehen wir es klar, und folgern daraus, was daraus zu folgern ist. Zu ihrer Existenz kommen die Menschen in eine Welt aus Körpern herein, auch sie als Körper. Diese sind die Form ihrer Schöpfung in der umfassenden Schöpfung, und bleiben darin die primäre Form ihrer Existenz. In einer Wirklichkeit aus Körpern sind sie zuallererst mit ihren Körpern gegenwärtig. Der Begriff „Existenz“ stammt von dem lateinischen Wort ex-sistere, und es ist in unserem Zusammenhang sehr sinnfällig, was dieses Wort bedeutet und wie es demnach im Deutschen wiedergegeben werden kann als „heraustreten“, „herausragen“, „hervorbrechen“, „auffallen“. Jeder Menschenkörper tritt mitten unter anderen Körpern auf, drängt sich in sie hinein, nimmt unter allen für seinen Körper seinen Raum ein und trennt ihn für sich ab und besitzt ihn. Er ist mit seinem Körper in einer ausschließenden Weise zugegen: wo ich bin, da bin nur ich. Körper, so scheint es, machen die Körperwelt ungesellig. Zu einer Wirklichkeit aus Körpern gehört indes eine politische Wissenschaft vom Körper. Wie das? Menschenkörper erklären sich, wenn wir entsprechend aufmerken. Wenden wir uns dafür, fragend, aufnehmend, der Situation der Menschen in ihren Körpern zu. Sie leben in Verschiedenheit voneinander, in dem Getrenntsein durch ihre Körper. Sie existieren in Vielheit, sind alle in Räume hinaus verbreitet, und bewegen sich in diesen unablässig. Sie besetzen, wo immer sie gerade sind, den Raum, den ihr Körper einfordert. Sie stoßen stets auf ihresgleichen, die das Gleiche sind und tun wie sie. Sie bewirken mit ihren Körpern Körperliches und Körperliches wirkt auf ihre Körper ein. Das Mächtige ihrer Körper regiert in ihr Leben hinein. Sie sind in der Schöpfung durch die Schöpfung in eine Form gebracht, die über ihre Existenz bindend herrscht. Wir können nicht anders als die aufgespürte Situation politisch zu verstehen und sie mit Begriffen einer politischen Wissenschaft darzulegen. Menschen sind schon allein durch die ihnen gegebene körperliche Form ihrer Existenz in eine politische Existenz versetzt. Da ist die Macht ihrer Körper über sie selbst wie über andere. Und da sind die Elemente in der Form ihrer Existenz, die sie in ihrer Körpermacht nicht ruhig lassen und zu einem Leben untereinander in der allseitigen Praktik ihrer Körpermacht lenken: ihr räumliches Ausgreifen, ihre Verschiedenheit, ihre Vielheit, die Unruhe ihrer Bewegungen, ihre Zerteilung. Ihre Körper verweisen sie aufeinander, gemeinschaftlich. Aber wie? Gemeinschaftlich ist allen das Politische der Schöpfung, deren Ereignis in der Form von Herrschen einerseits und dem Geschick andererseits, beherrscht zu werden. Sie sind Teile der Schöpfung, an denen und mit denen diese geschieht, durch ein Hervorbringen, Führen, Bewegen, Gestalten, Einordnen, das wiederum sie dazu anhält, sich auf es einzustellen, und in diesem Geschehen selbst ihre Existenz aufzuführen. Der Anfang ist die Schöpfung, die Menschen in Körper bringt, und sie damit in ihre politische Natur einbindet: „Zur ganz frühen Zeit, in der Epoche des großen Anfangs“, so vermerkte im 2. Jahrhundert v. Chr. der taoistische Autor Liu An in seinem philosophischen Werk Huainanzi, „ging der

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Mensch aus dem Nicht-Sein hervor, um vom Sein her Körperhaftigkeit anzunehmen. Was aber körperliche Form hat, wird von den äußeren Dingen beherrscht.“2

„Alles was eine Form hat, kann passend gemacht, zurechtgerückt werden“, so stellte im 3. Jahrhundert v. Chr. der chinesische Philosoph und Staatsmann Han Fei fest. „Wie kann dies bewiesen werden? Nun denn: wenn Dinge eine Form haben, so haben sie eine Länge, wenn sie eine Länge haben, so haben sie einen Umfang; wenn sie einen Umfang haben, so haben sie eine Gestalt; wenn sie eine Gestalt haben, so haben sie eine Dichte; wenn sie eine Dichte haben, so haben sie ein Gewicht; und wenn sie ein Gewicht haben, so haben sie eine Farbe. Länge, Umfang, Gestalt, Dichte, Gewicht und Farbe aber sind Normen. Und sobald den Dingen Normen gegeben sind, können sie erledigt, durchschnitten werden.“3

Sie sind ebenso lehrreich wie deutlich, diese Aussagen von Liu An und Han Fei. Ich greife auf sie zurück, weil sie einem Denken entstammen, das mit seinen Anfängen noch verbunden war. Es reflektierte stets die Schöpfung der Dinge mit, und so nicht zuletzt deren Ereignis in körperlicher Form. Eine politische Wissenschaft vom Körper kann hier nachdrucksvoll anknüpfen. Stellen wir uns die „äußeren Dinge“ vor, von denen Liu An spricht. Was sind sie, sie, die den Menschen beherrschen und auf die hin er denn, für sich selber handelnd, agieren muss? Es sind deren viele, und nicht wenige von ihnen können überwältigend, ja existenzvernichtend sein. Sie halten über den Menschen eine Macht, die unbedingt ist und vollkommen. Hitze wie Kälte setzen ihm zu. Er ist mit seinem Körper weitgehend schutzlos, er hat nicht Krallen oder Gift, tötende Zähne oder eine erdrückende Kraft seiner Glieder, womit er sich verteidigen könnte. Stets treibt ihn der Hunger und doch ermüdet sein Körper bei allem, was er tut. Er ist an einen Partner gebunden, will er seinesgleichen wieder zeugen. Raum und Zeit legen ihm bestimmte Verhaltensweisen auf, vermessen von vornherein für ihn Abläufe seines Lebens. Einzeln wie er für sich in der Körperwelt ist, ist er in ihr Form unter Formen, deren Verfassung nicht Ruhe, sondern Bewegung ist. Sie wirken aufeinander ein, nichts wird belassen, wie es ist oder sein möchte. Alle bilden eine Formengemeinschaft darin, in einer Form zu sein, die eine Sache aller ist. Teilt sich hier ein Mensch nicht einem anderen mit, körperhaft, wie man ist, in der Form des Körpers, und mit dieser? Der „äußeren Dinge“ wegen, der Verfassung, der man gemeinsam untersteht: Körper sind Körper aufeinander hin? Ja, ein Menschenkörper macht sich dem anderen kund, offensichtlich, nach dem, was wir hier schon sagen konnten. Aber wie? So wäre gleich weiter zu fragen. Wie?

2

Huai-nan-zi, Si bu bei yao, zi bu, Taipei 1966, Kap. 14, f. 1. Oder: Philosophes taoïstes, Bd. II, Huainan-zi, Paris 2003, = Bibliothèque de la Pléiade, 665. 3 The Complete Works of Han Fei Tzu. A Classic of Chinese Legalism, übs. u. hrsg. v. W. K. Liao, London 1939: 200.

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Zwei Lehrsätze Bedenken wir zuerst: unsere Überlegungen kreisen noch immer rein um Menschenkörper. Also müssen wir genauer fragen: Wie machen sich Menschenkörper einander kund? Körper zu Körpern? Um darauf antworten zu können, stellen wir es uns vor, und wir geraten in eine Klemme. Denn „Körper werden durch Körper an einer Verständigung miteinander behindert“, so müssen wir von Plotin, einem beispielgebenden Interpreten der menschlichen Existenz im Körper, hören, während „unkörperliche Wesen nicht durch Körper voneinander abgehalten“ würden, noch „im Raum voneinander getrennt“ seien.4 Wie konnten wir dann vorhin sagen: Alle bilden eine Formengemeinschaft darin, in einer Form zu sein, die eine Sache aller ist? Wir sind in der Klemme. Wir müssen, um weiter überlegen zu können, korrigieren, was wir uns vorstellen. Alle bilden eine Formengemeinschaft, halten wir das fest. Sie tun es aber, so könnten wir es uns indes denken, nicht in der Weise einer Kommunikation, die sich aus ihnen heraus einstellt, so als wären sie ihr gegenseitig verständig. Körper sind füreinander nicht offen. So machen sie sich einander nicht kund. Indem wir dies erfassen, scheinen wir mit unseren Überlegungen noch viel weniger weitergekommen zu sein, sagt uns doch ein anderer, in unserer Sache kundiger Autor, Dante Alighieri, dies: „Es gelingt niemandem, in den andern einzudringen, da durch Dicke und Undurchsichtigkeit des menschlichen Körpers der menschliche Geist bedeckt ist.“5

Nehmen wir diese Erkenntnis auf und bringen sie in den Lehrsatz: Jeder Mensch ist jedem Menschen ein Geheimnis. Der Körper ist eine undurchdringliche Wand vor eines jeden Geist. Prallen an dieser Wahrnehmung nun unsere Überlegungen endgültig ab? Es scheint so. Und doch begriffen wir auch: Menschenkörper machen sich einander kund. Sie tun es jedoch nicht, so sahen wir, indem sie für sich gegenseitig verständig sind. Doch drücken sie sich aus, und dann können wir fragen: Wie dann tun sie es? Allein durch ihre Körper, so vermögen wir es uns zu Recht zu sagen, darin also, wie sie sich zeigen, sich bewegen, räumlich gegenwärtig sind. Ihre Körper sagen ständig etwas aus, dieses, jenes, und dann wieder anderes. Sie sind untereinander gegenüber einander Äußerungen, und diese Äußerungen – Körperzeichen, Körpersignale, Körperhandlungen – können gedeutet werden. Sie verlangen eine Deutung, denn alle begegnen sich, verhalten sich so oder so zueinander, strukturieren in dieser, in jener Weise den von allen geteilten Raum. Alle Menschen deuten sich einander unablässig. Und doch „wissen“ sie voneinander ganz sicher nur dies: Dass sie sich deuten. Eine politische Wissenschaft vom Körper formt sich als Erstes in einer Körper-Hermeneutik aus.

4

Plotin, Enneaden, VI, 9.8.30. Dante Alighieri, Über das Dichten in der Muttersprache (De vulgari eloquentia), Übs. F. Dornseiff, J. Balogh, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1925, Nachdruck 1966: 22. 5

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Wir können sodann einen zweiten Lehrsatz formulieren: Körper sind beredt. Sie haben Botschaften, der eine Körper für den anderen, die vielen zueinander. Es sind körperliche Botschaften, wohlgemerkt, ein Gesichtsausdruck, ein Augenblinzeln, eine Handbewegung, das Einnehmen einer bestimmten Körperhaltung, Schritte in diesem oder jenem Tempo, ein Ausweichen bei Begegnungen, oder ein stures, wenn nicht aggressives Zugehen auf andere, ein Auftreten in einer Gruppierung, drohende oder friedfertige, einladende Gesten. Alle Menschen kennen diese Zeichen und verstehen sich darauf, sie zu deuten. Sie sind mit ihren Körpern zuallererst hermeneutische Wesen. Sie haben miteinander eine Hermeneutik der Botschaften ihrer Körper gemeinsam, durch die sie sich einander kundtun und gegenüber einander deuten. Diese Gemeinsamkeit, gegeben durch die Form ihrer körperlichen Schöpfung, geht jeder politischen Organisation von ihnen voraus. Aber ist sie denn nicht, Menschen verknüpfend, eine politische? Die Metapher vom politischen Körper Welche Frage! Was immer wir auf sie hin sagen, wird bestimmen, was es für die politische Wissenschaft mit der Wahrnehmung auf sich hat, zu der wir bei unseren ersten Überlegungen kamen: ,Gemeinschaftlich ist allen das Politische der Schöpfung‘. Wir sahen das Herrschen, das allem in der Schöpfung durch seine körperliche Form mitgegeben ist, und dazu anhält, angesichts der Körperwelt, welche die Schöpfung derart ist, von Macht und Regieren zu sprechen. Indes wurde damit eine politische Realität ausgemacht, die eine der Schöpfung ist, und aus dieser heraus Gemeinschaftliches schafft. Und jetzt erscheint vor uns eine politische Realität, die eine von Menschen gebildete ist. Aus der Praxis ihrer Körperhermeneutik geht eine ihnen gemeinsame Sphäre hervor, in der gesteuert, vermittelt, reguliert, abgeglichen, positioniert wird. Deutend schaffen die Menschen eine Realität von „Ordnung“: die Realität ihrer Deutungen. Ist sie eine politische? Erneut fragen wir uns das. Doch sind wir nicht einer Antwort nähergekommen? Das Stichwort „Ordnung“ bot sich an. Lassen wir uns indes durch dieses nicht dazu verleiten, „deuten“ mit „organisieren“ zu verwechseln. Die politische Realität, von der wir sprechen, ist eine Realität von Deutungen. Sie liegt, so konnten wir erklären, jeder organisierten menschlichen Gesellschaft voraus. Und präzisieren wir: das „voraus“ ist ein strukturell zu Sehendes. Es ist ein „voraus“ in der gestaltenden Anlage auf eine förmlich verfasste Gesellschaft zu. Und dieser, so wäre nun weiter zu sagen, liegt die Realität von Deutungen auch inne. Denn der Praxis ihrer Körperhermeneutik gehen die Menschen von ihrer körperlichen Natur aus nach. Auch wenn es bei einem förmlich ausgebildeten Institut „Gesellschaft“ dann so scheint, als sei erst durch dieses ein politisches Leben unter den Menschen entstanden. Doch in der gemeinsamen Sphäre ihrer Deutungen leben die Menschen schon aufeinander zu. Wiewohl sie allein durch ihre Körper hervorkommt, und nicht durch eine organisatorische Einrichtung zum Zusammenleben. Aber indem wir beides auseinanderhalten, die Sphäre der Deutungen und das ausgebildete Institut „Gesellschaft“, können

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wir die erstere noch besser bestimmen: sie ist in der Gesellschaft; aber einer solchen nicht gleich. Das hört sich geheimnisvoll an, so möchte man diese Beobachtung vielleicht kommentieren. Indes sind wir der gesuchten Antwort auf die Frage: Ist die Gemeinsamkeit der Menschen in der Sphäre ihrer Körperhermeneutik eine politische? ganz nahe. Noch ein letzter Schritt ist nötig, und das ist ein sprachlicher. Er wird uns überdies leichtfallen. Denn er wurde uns schon vorgemacht. Dies geschah durch die Autoren philosophisch-politischer Werke, die das sprachliche Instrument der Metapher dafür einsetzten, die Sphäre der Körperhermeneutik im Institut Gesellschaft augenfällig zu machen. Sie deuteten „Gesellschaft“, indem sie auf diese den Begriff „Körper“ übertrugen. Sie machten damit das Institut Gesellschaft transparent auf die ihr innewohnende Sphäre der Körperhermeneutik. Menschenkörper machen die Gesellschaft aus. Und sie sind einander in dieser zuerst Körper. Schaut man auf das „einander“ und bleibt seiner körperlichen Herkunft bewusst, bietet sich wie von allein die metaphorische Aussage an, dies sei ein politischer Körper. Wer sind die Autoren, bei denen wir diese metaphorische Aussage finden? Die sie nutzten für ihre politische Theorie? Denken wir an Laozi (auch Lao-tzu oder Laotse) im Alten China zuerst, dem die aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. stammende Schrift Daodejing (auch Tao Te Ching) zugeschrieben wird. In ihr lesen wir: „Wer das Reich in der Weise regiert, wie er seinen Körper (shen) achtet, dem kann man das Reich (tian xia) überlassen; und wer das Reich so regiert, wie er sich um seinen Körper sorgt, dem kann man es anvertrauen.“6

Dem philosophisch-politischen, kosmologisch begründeten Denken Laozis lassen sich die „Guodian Bambustexte“ aus dem 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. zuordnen, wobei in ihnen auch konfuzianisches Denken rezipiert ist.7 Hier wird dargelegt: „Das Volk fasst den Herrscher als sein Herz auf, der Herrscher fasst das Volk als seinen Körper auf.“8

Und vom konfuzianischen Philosophen Menzius (4. – 3. Jh. v. Chr.) hören wir: „Wenn der Herrscher seine Untertanen so behandelt, als wären sie seine eigenen Hände und Füße, dann werden sie ihn so behandeln, als wäre er ihr Herz und Bauch.“9

6 Laozi, Kapitel 13. Siehe dazu: Arnsgar Gerstner, Eine Synopse und kommentierte Übersetzung des Buches Laozi sowie eine Auswertung seiner gesellschaftskritischen Grundhaltung auf der Grundlage der Textausgabe Wang-Bis, der beiden Mawangdui-Seidentexte und unter Berücksichtigung der drei Guodian-Bambustexte, Diss. Universität Trier, 2001. 7 Zu den „Guodian Bambustexten“ siehe: Shirley Chan (Hrsg.), Dao Companion to the Excavated Guodian Bamboo Manuscripts, Cham (Schweiz): Springer, 2019. 8 Zitiert nach Lisa Raphals, „Body and Mind in the Guodian Manuscripts“, in: Dao Companion, 239 – 257, Zitat auf S. 251. 9 Mencius, Book IV, Part B, 3, Übs. u. Einl. D.C. Lau. Harmondsworth: Penguin, 1970: 128.

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Politische Theorie in der Form des politischen Körpers Wie schön, könnten die einen oder anderen an dieser Stelle sagen, wie schön, diese Verbildlichung menschlicher Gesellschaft. Wäre sie aber, so fügten sie vermutlich hinzu, von irgendeinem Nutzen? Was brächte sie, außer einem figurativen Einschub in unsere Sprache? Haben wir denn nicht für die Sache, um die es geht, unsere scharfen Begriffe: Staat, Gesellschaft, res publica, polis? Gewiss, so dürften wir daraufhin antworten, es würde niemand den Nutzen dieser Begriffe bestreiten wollen. Denkt man an ein förmlich verfasstes Zusammenleben von Menschen, erkennt man sogleich ihren Sinn. Aber blieben sie für ein Verständnis dieses Zusammenlebens die einzigen Begriffe, würde jene gemeinsame, stets aus der körperlichen Natur der Menschen hervorgehende Sphäre von Deutungen ausgeblendet, die in jeder Gesellschaft ist, wenngleich dieser nicht gleich, und die sich uns durch die vorangegangenen Überlegungen zeigte. Indes befinden wir uns hier inmitten von Politischer Theorie und Politische Theorie kann keine Sache von Ausblenden sein. Was gesehen wurde, muss dem Gesehenen entsprechend ausgedrückt werden. Das taten Laozi, die Autoren der Guodian Bambustexte, Menzius, indem sie ihre Vorstellung menschlicher Gesellschaft und des Regierens derselben in die metaphorische Form des politischen Körpers fassten. Sie erschlossen das von ihren Körpern herkommende Gemeinsame von Menschen und das Aufrechterhalten dieses Gemeinsamen mit einer Deutung, welches seiner Herkunft entsprach. Denn sieht man es als „politischen Körper“, kann man seinen Zusammenhang wie die Wechselbeziehungen zwischen den Gliedern und Organen des menschlichen Körpers beschreiben. Alles Elementare für das Bestehen einer Gesellschaft von Menschen wird anschaulich: die für ihr Leben schöpferischen Beziehungen zwischen Regierung und Volk, die Berechtigung zum Regieren, die Verantwortung, der die Regierung genügen muss, die Bestimmung von Regieren als Sorge für die Gesellschaft. Weit von China weg und Jahrhunderte später wurde ebenfalls in Europa politische Theorie in die Form des politischen Körpers gebracht. Hier von Einfluss zu reden, wäre sicherlich irrig. Als John of Salisbury (1115/20 – 1180), Christine de Pisan (1364 – 1429/30), und John Fortescue (geb. ca. 1385, gest. ca. 1479) ihrerseits die Metapher vom politischen Körper für ihre Regierungslehre verwandten, folgten sie einer römischen Fabel, die sie von Plutarch her kannten.10 In seiner Biographie des römischen Patriziers Gaius Marcius berichtet Plutarch von dem Konflikt in Rom im Jahr 494 v. Chr. zwischen dem Senat und den Armen in der Stadt, den Plebejern. Diese waren aus der Stadt ausgezogen, es drohte der Republik eine Sezession. 10

Man könnte jetzt über das Phänomen nachdenken, dass in zwei ganz verschiedenen Kulturen zu ganz verschiedener Zeit und bei großer geographischer Entfernung voneinander, und ohne dass man von interkulturellen Beziehungen ausgehen könnte, in der Hermeneutik zum Menschen Gleiches hochkam. „Archetypisches“ zu erwägen, kleisterte die Sache nur zu. Ein morphonoetischer Weg zur Erklärung solcher Phänomene, im Kontext einer Kosmologie, wird in meiner Schrift Die Architektur der Welt. Eine kosmologische Lektüre architektonischer Formen (München: Fink, 1997) vorgeschlagen, siehe Kapitel 1: „Die Spiegelungen des Seins im Sein“, 13 – 14.

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Um eine solche abzuwenden, beauftragte der Senat „einige ältere Männer“ mit dem Volk zu verhandeln. Deren Sprecher hieß Menenius Agrippa (Lanatus). Dieser „wandte sich mit dringenden Bitten an die Menge,“ so schreibt Plutarch, „kargte nicht mit freimütigen Äußerungen über den Senat und erzählte zum Schluss jene Fabel, die allgemein bekannt ist: ,Es geschah einmal, dass sich die Glieder des Menschen allesamt gegen den Magen empörten. Er allein, so murrten sie, sitze träge im Leib und trage nichts zum allgemeinen Besten bei, während sie alle beschwerlichen Dienst leisten müssten, um seine Gier zu befriedigen. Da lachte der Magen über ihre Einfalt: Sie wüssten also nicht, dass er zwar sämtliche Nahrung in sich aufnehme, sie aber auch wieder fortleite und alle verteile? Die gleiche Aufgabe‘, so fuhr Agrippa fort, ,erfüllt der Senat an euch Bürgern. Was dort zum Wohl des Staates beraten wird, bringt euch allen Vorteil und Nutzen‘. So kam“, schließt Plutarch seinen Bericht von dem Konflikt zwischen Senat und Plebejern, „die Versöhnung zustande.“11 Alle Glieder und Organe des menschlichen Körpers tragen zu dessen Wohlergehen bei. Wenn eines davon „rebelliert“, schadet es dem ganzen Körper. Und jedes von ihnen hat die ihm eigene Funktion, die es zu erfüllen hat, damit das Gesamt des Körpers gut in Gang bleibt. Alle sind voneinander abhängig und für ihre Tätigkeit aufeinander angewiesen. Die ihm eigenen Fähigkeiten – Überlegen, Entscheiden, Leiten – verleihen dem Kopf eine allgemein ordnende, „regierende“ Funktion für das Ganze des Körpers. Er vor allem darf nicht fehlgehen, litte denn sonst all der Zusammenhang des Körpers. Was folgt daraus, wenn man in der menschlichen Gesellschaft einen „politischen Körper“ sieht? John of Salisbury hatte in seinem Policraticus (1159) dazu eine entschiedene Antwort. Er formuliert sie in seiner Diskussion der Tyrannei. Sie bietet den exemplarischen Testfall für die Frage der gemeinsamen Verantwortung aller in einer Republik. Wie sollen sich deren Bürger angesichts dieser Verantwortung verhalten, wenn der „Kopf“ mit dem „Körper“ fehlgeht, sich die Herrschaft gegen die Gesellschaft kehrt? Welche Haltung soll man einer Tyrannei gegenüber einnehmen? John of Salisbury lässt seinen Lesern keinerlei Zweifel. Er erklärt: „Wer immer gegen den [Tyrannen] nicht vorgeht, sündigt gegen sich selbst und gegen den ganzen Körper der weltlichen Republik (in totum reipublicae mundanae corpus).“12 Denn eine Republik sei, wie es Plutarch dargestellt habe, eine „Art von Körper“ (est autem respublica corpus quoddam), dem ein Regent vorstehe. Und von diesem sei zu verlangen, dass er sich „gänzlich auf das konzentriert, was er sein soll [also ein guter Fürst], sowie auf die Auf-

11 Plutarch, Fünf Doppelbiographien, 2. Teil, Gr.-Dt., Übs. Konrad Ziegler, Walter Wuhrmann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1994: 703 (= Sammlung Tusculum). 12 Joannis Saresberiensis, Policraticus sive De nugis curialium et vestigiis philosophorum, Libri VIII, hrsg. v. Clemens C. J. Webb, Oxoni (Oxford): 1909, Liber III, Cap. 15, S. 512. – Englische Übersetzung: John of Salisbury, Policraticus. Of the Frivolities of Courtiers and the Footprints of Philosophers, hrsg. u. übs. v. Cary J. Nederman, Cambridge: Cambridge University Press, 1990: 25.

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gaben, die er für die Republik wahrzunehmen hat“.13 Wie bei einem menschlichen Körper sei der Fürst das Haupt der Republik, der Senat das Herz, die Aufgaben von Ohren, Augen, und Mund seien den Richtern und den Provinzgouverneuren übertragen, Schatzmeister und Buchhalter glichen dem Magen und den Eingeweiden, und von den Bauern könne man wie von den Füßen reden, für die das Haupt des Körpers – also der Fürst – besonders sorgen müsste, angesichts ihrer schweren Bürde und all ihrer Mühe, mit ihrer Arbeit den „Körper“ fortzubewegen.14 Plutarch zufolge erreichte Menenius Agrippa mit seiner Fabel eine Versöhnung zwischen Senat und Plebejern. Er appellierte gegenüber den Letzteren an die Gemeinsamkeit im Verstehen des Körpers. Mit dieser Gemeinsamkeit im Verstehen bot sich eine hermeneutische Brücke für eine Verständigung an. Seht die Republik wie einen Körper, und Ihr seht, wie Ihr es von Eurem eigenen Körper her wisst, dass alle ihre Teile miteinander zusammenhängen und dieser Zusammenhang einer ordnenden Sorge bedarf. Aus der Sphäre der Körperhermeneutik heraus entsteht Politische Theorie. In ihr wird die Republik als politischer Körper gedeutet und aus diesem Deuten entspringt eine Sprache politischer Ordnung. Wie wird der politische Körper einer Republik regiert, wenn er in rechter Weise regiert wird? Durch eine „Art von rationaler Regie (regitur quoddam moderamine rationis)“, so sagt uns John of Salisbury.15 Gewiss, denn hat nicht der menschliche Körper seine Rationalität? Sind nicht seine Glieder und Organe aufeinander abgestimmt, befolgen Abläufe, die miteinander synchronisiert sind? Charakterisiert den Körper nicht eine methodische Organisation? So dass wir deren Wirken in der Regel vollendet genießen und sie für einen wie selbstverständlichen Logos unserer Existenz halten können? Mit der Metapher vom politischen Körper wird an diesen Logos appelliert. Ein mit unseren Körpern erfahrenes Regierungswissen wird aufgerufen und in eine förmliche Regierungslehre eingebracht. Genauso verfuhr Christine de Pisan am Anfang ihres Buches, das in seinem Titel schon den Begriff vom politischen Körper enthält: Le livre du corps de policie (1406 – 1407).16 Der erste Teil des Buches richte sich, wie Christine de Pisan17 erklärt, an die „Fürsten“, der zweite an die „Ritter und Adligen“, und der dritte an das „allgemeine Volk“. Nach dieser kurzen Ankündigung kommt Christine de Pisan gleich zu einer Beschreibung des corps de policie. Dieser, so wird von ihr – wieder unter 13

Policraticus, Liber V, Cap. 2: 539. – Engl. Ausgabe: 66. Ebd.: 539 – 540. – Engl. Ausgabe: 67. 15 Ebd.: 539. – Engl. Ausgabe: 66. 16 Christine de Pizan, Le Livre du Corps de Policie, éd. critique, avec une introduction, notes et glossaires par Angus J. Kennedy, Paris: Honoré Champion, 1998. – Zur Datierung des Buches von Christine de Pizan folge ich Kennedy, siehe S. XVIII von dessen Introduction. 17 Ihr Name wird unterschiedlich geschrieben: einmal mit „z“ und einmal mit „s“ in der Mitte. Ich folge der letzteren Schreibweise, eingedenk dessen, dass Christine de Pisan aus der italienischen Stadt Pisa kam. 14

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Verweis auf Plutarch – ausgeführt, soll ein „in sich geeintes Gemeinwesen sein, gleich einem rechten lebendigen [menschlichen] Körper (une seule policie ainsi comme un droit corps vif).18 Später spricht sie von einem „in sich geeinten lebendigen, vollkommenen und gesunden Körper“ (un seul corps vif, parfait et sain).19 Fürsten hätten den Platz des Kopfes inne, Ritter und Adlige wären an der Stelle von Händen und Armen, die anderen Leute glichen dem Bauch, den Beinen und den Füßen. Und so wie der Bauch alles empfange, was der Kopf und die Glieder für ihn vorbereiteten, so müsse das Handeln des Fürsten und der Adligen auf das öffentliche Wohl und die „Liebe zur Gemeinschaft aller“ (amour publique) ausgerichtet sein.20 Wie der menschliche Körper kein Ganzes sei, sondern „beschädigt und verformt“, wenn ihm eines seiner Glieder fehle, so könne auch der politische Körper nicht „vollkommen noch wohlbehalten“ sein, wenn seine Teile nicht „zusammen in guter Verbindung und Einheit (en bonne conjonction et union ensemble)“ seien. Sie müssten um die „Erhaltung des Ganzen (conservation de tout ensemble)“ besorgt sein. Jeder Teil des politischen Körpers verhelfe dazu, gleich den Gliedern des menschlichen Körpers, den „ganzen Körper zu regieren und zu hegen (a gouverner et nourir tout le corps)“.21 Christine de Pisans Botschaft ist klar: der Logos ihrer Existenz, den Menschen an ihren Körpern erkennen können, lässt sie auch die Bedingungen erkennen, denen sie genügen müssen, um mit sich in einer Gesellschaft gerechter Ordnung und von innerem Frieden zu leben. Wie aufschlussreich eine der Metapher vom politischen Körper abgewonnene politische Theorie sein kann, zeigt am meisten John Fortescue mit den entsprechenden Passagen in seiner Schrift De laudibus legum Angliae („In Praise of the Laws of England“ ca. 1470). Das corpus politicum, so lesen wir dort, entsteht, wenn es aus einem Menschengewühl (coetus hominum) heraus in der Weise geformt wird, dass sich die Menge in dem Akt der Bestellung eines Hauptes (caput) zu einem Körper (corpus) konstituiert. Ohne eine Herrschaft, so stellt Fortescue klar, gebe es keine Gemeinschaft (communitas); das sei ja auch beim menschlichen Körper so, der ohne das Haupt nur ein Rumpf sei.22 Allein aus

18 Le Livre du Corps de Policie, 1. Die ganze einschlägige Passage lautet: „[…] j’espere a parler de l’ordre de vivre qui affiert aux nobles et chevaleureux, et puis tiercement a tout l’univiers peuple, lesquels trois genres d’estat doivent ester en une seule policie ainsi comme un droit corps vif, selon la sentence de Plutarque qui […]. Compare la chose publique a un corps aiant vie, auquel le prince ou les princes tiennent le lieu du chief, en tant qu’ils sont ou doivent estre souverains […]. Les chevaliers et les nobles tiennent le lieu des mains et des bras […].“ (ebd.: 1). 19 Ebd.: 91. 20 „Les autres gens de people sont comme le ventre et le piez et les jambes car si comme le ventre reîoit tout en soy ce que prepare le chief et les membres, ainsi le fait de l’exercite du prince et des nobles doit revertir ou bien et en l’amour publique.“ (ebd. : 2). 21 Le Livre du Corps de Policie, 91. 22 Fortescue, De Laudibus Legum Angliae, hrsg. v. A. Amos, London: Joseph Butterworth, 1825, Kap. XIII: 221. Englische Übersetzung: Sir John Fortescue, On the Laws and Gover-

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den Vielen, die als Menge handeln und sich so zu einem Volk (populus) zusammenschließen, bricht das Königtum hervor (ex Populo erumpit Regnum).23 Die „Vielen“ verschwinden dabei nicht, das lateinische Wort „populus“, von Fortescue mehrfach gebraucht, umschließt „Leute“, „Menge“, wie „Volk“. So wie die einzelnen Glieder und Organe des menschlichen Körpers mitgedacht werden, wenn man an diesen als Ganzes denkt. Die Metapher vom politischen Körper legt alles andere als die Vorstellung nahe, dass die Einzelnen, aus denen sich ein Volk bildete/bildet, in diesem aufgegangen sind. Ganz im Gegenteil. Die Metapher verlangt eine bestimmte Sprache, und mit ihr wird der Sachverhalt klar. Fortescue äußert sich nicht nur in dieser Sprache, er arbeitet sie zu einem beträchtlichen Maße erst aus. Im natürlichen Körper, so sagt er, sei das Herz das Erst-Lebende (primum vivens), weil es das Blut zu allen anderen Gliedern des Körpers schicke, und ihnen so Leben, Kraft und Energie spende. Gleich dem sei bei dem politischen Körper die intentio populi, der Wille des Volkes zu seiner Existenz, das Erst-Lebende (primum vivendum). Und ähnlich dem Blut im natürlichen Körper, kommuniziere diese intentio populi an das Haupt und alle Glieder des politischen Körpers die Sorge um sein Wohlergehen und seinen Nutzen, dank der er existiert und am Leben bleibt.24 Deuten ist eine freie Sache. Es schafft zwar nicht die Formen, die es deutet. Aber es macht sie transparent, und sieht sie verschiedentlich, wie es im Sehen auch Neues entdeckt. Vergleicht man das, was John of Salisbury, Christine de Pisan, John Fortescue im Einzelnen zum politischen Körper ausführen, bemerkt man beträchtliche Unterschiede. John of Salisbury deutet den politischen Körper mehr institutionell, Christine de Pisan mehr soziologisch, Fortescue in einer gemischten Sprache aus anatomischen und politisch-theoretischen Begriffen. Der hermeneutische Umgang mit der Metapher vom politischen Körper ist nicht an bestimmte Identifikationen von dessen Teilen mit denen des menschlichen Körpers gebunden. Man ist frei, jede Art der Konstitution menschlicher Gesellschaft in die Metaphorik des politischen Körpers zu übertragen. Das wird bei Fortescue auf exemplarische Weise deutlich. Er fasst begrifflich scharf, wie gezeigt wurde, eine sich selbst konstituierende Gesellschaft. Er weist die Abfolge für die Legitimation der vom Volk bestellten Herrschaft auf. Das Gesetz, so erklärt er ferner, bindet den politischen Körper zusammen und eint ihn. Um es zu verdeutlichen, vergleicht Fortescue das Gesetz mit den Nerven im natürlichen Körper, durch die dessen ganzes Gerüst zusammengehalten und verfestigt werde. Und von diesem Vergleich leitet er eine von ihm entschieden festgestellte konstitutionelle Begrenzung politischer Herrschaft ab. So wie das Haupt eines natürlichen Körpers dessen Nerven nicht ändern könne, so gelte dies für einen König: „er, der das Haupt des politischen Körpers ist, kann dessen Gesetze nicht ändern, noch dem nance of England, hrsg. v. Shelley Lockwood, Cambridge: Cambridge University Press, 1997: 20. 23 De Laudibus Legum Angliae, 221. – Engl. Übs.: 20. 24 Ebd.: 221. – Engl. Übs.: 20 f.

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Volk, entgegen dessen Willen, entziehen, was sein Eigenes ist“. Gleich nachdem Fortescue die Begrenzung königlicher Herrschaft so hervorgehoben hat, formuliert er in einer Art Zusammenfassung seiner Darstellung der „formalen Einrichtung jeder politischen Herrschaft (Instituti omnis Politici Regni Formam)“ einen weiteren Satz. Dieser hat es in sich. Denn er postuliert, weit vor dem sogenannten demokratischen Zeitalter, die Souveränität des Volkes gegenüber seinem Herrscher: „Er [der König] ist dazu bestellt, seine Untertanen auf ihr Leben, ihren Besitz und die Gesetze hin zu beschützen; dafür erhielt er vom Volk seine Macht (et hanc Potestatem a Populo effluxam ipse habet), und er hat keinen Anspruch auf irgend eine andere Macht als diese.“25 Körperlehre – Regierungslehre Weiter als Fortescue kann man eine Regierungslehre, die aus einer Körperlehre hervorgeht, nicht vorantreiben. Er selber legte ja sein Denken über das rechte Regieren dahingehend aus, dass er dessen Ergebnis mit der institutionellen Anlage „jeder politischen Herrschaft“ gleichsetzte. Das ist keine unerhebliche Aussage. Können wie sie nachvollziehen? Wie, so mögen wir uns fragen, konnte Fortescue auf sie kommen? Was war der Weg zu seiner Regierungslehre? Wir sind auf diesem mit ihm gegangen, so sehen wir, wenn wir zurückblicken. Es war der gleiche Weg, den Laozi, die Autoren der Guodian Bambustexte, Menzius, John of Salisbury, Christine de Pisan einschlugen. Sie dachten durch Deuten. So zeigte es sich uns, als wir entlang des Wegs auf ihre Sprache achteten. Es war stets eine Sprache des Deutens, und nicht des Definierens. Definitionen legen fest, verbringen Wirkliches in einen unabänderlichen und so manipulierbaren Zuschnitt. Deuten dagegen geschieht als offener Prozess, es wird in ihm verstanden, aber stets auch entdeckt, und immer etwas frei gelassen. Die ihm gemäße Sprache belässt das Gesehene, sie drückt es aus, ersetzt es aber nicht mit dem Ausdruck. Man sieht in verschiedenen Seh-Akten das Gleiche und hebt dann hervor, was man an ihm in einem davon besonders sieht. Auf diesem Weg kann vom Körper her eine Regierungslehre entworfen werden. Die Anlässe dazu haben wir beschrieben. Sie liegen in der den Menschen vorgegebenen Wirklichkeit, die zu einer Körperwelt verfasst ist, in der von allem Anfang an regiert wird. Man entspricht dieser Wirklichkeit, wenn man jedwede Regierungslehre bei einer Körperlehre ansetzt. Also den Weg beschreitet, den die hier angeführten Autoren vorgezeichnet haben. Und zuletzt begreift, dass dieser Weg auch eine Maßgabe ist. Unsere Autoren zielten bei ihren Überlegungen zum corpus politicum stets auf die Sorge ab, die ihm zu gelten habe. Regieren ist Sorge tragen, so hinterließen sie aus ihrer politischen Theorie heraus eine überaus praktische Lehre.26 Regierende sollen vor allem an ihrer 25

Ebd.: 221. – Engl. Übers.: 21. Ein guter Herrscher sei, erklärt Christine de Pisan, wer sich durch „Liebe und Sorge“ gegenüber dem Volk auszeichne. (Le Livre du Corps de Policie, 91). 26

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Sorge für die Gesellschaft gemessen werden, der sie vorstehen. Man darf, ja soll sie absetzen, verfehlen sie dieses Gebot. Denn jede Gesellschaft von Menschen ist eine Gesellschaft von Menschen, die Körper sind. Und ihre Körper teilen ihnen von dem Grund ihrer Existenz her ein Regierungswissen mit, das ein ganz bestimmtes Regieren ihrer Gesellschaft einfordert.

Menschenwürde aus dem Geist des Naturrechts oder aus dem des normativen Individualismus? Menschenrechte, Individualismus und Selbstbestimmung Von Karl-Heinz Nusser Abstract Federal laws need to include the natural law and can‘t be founded only in the positive limits of the federal legislation. In the Domain of Western Democracies the natural law will be included in human rights. Human Rights care for the ethical dignity of the human being. A declaration of human rights through self-determination of the individuals’ desire is misleading.

I. Einleitung Beim philosophischen Verständnis der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz gibt es zwei, sich weitgehende ausschließende Auslegungen: die nach dem normativen Individualismus und diejenige nach dem Naturrecht. Im Folgenden soll die erste Auslegung, die Bestimmung der Menschenwürde aus einer Autonomie des Subjekts heraus, durch die „Selbstbestimmung über die eigenen Belange“ (Dietmar von der Pfordten) hinterfragt und an die Naturrechtslehre erinnert werden. Das Konzept der Menschenwürde, das im Artikel 1, Absatz 1 des deutschen Grundgesetzes festgehalten ist, wird nur vor dem Hintergrund des Naturrechts verständlich. Aus einer falschen Zentralstellung des Individuums heraus wird der Staat vom normativen Individualismus zum Kollektiv herabgewürdigt und damit die Selbständigkeit des Individuums gegenüber dem Staat verspielt. All dies bedarf der Erklärung. Was verstehen wir unter Naturrecht? Mit der Existenz der Natur und des Menschen gibt es das Naturrecht. Jede gesetzgebende und herrschende Instanz hat ein Interesse an einem friedlichen Zusammenleben der Menschen. Dazu braucht es Gesetze, die nicht gegen das von Natur aus Gerechte verstoßen. Was aber ist das von Natur Gerechte? Das Naturrecht zeigt sich in einer ersten und bleibenden Form, wie wir bei Platon und Aristoteles sehen, im Aufstellen eines Gerechtigkeitsprinzips, nach dem niemand eine willkürliche Gewalt über einen anderen hat, dessen Leben zu zerstören oder zu beenden. Die ersten Einsichten der Philosophie bei Platon und Aristoteles weisen darauf hin, dass die Lebewesen ihre Ziele durch eine Art gehemmtes Naturstreben verwirklichen; denn der Mensch, der ungehemmt seine eigenen Ziele verwirklicht und dabei gegen das erkannte Gute und Gerechte handelt, kann nicht glücklich werden. Insofern diese Regeln vom Menschen auch beim Zusammenleben aller beachtet werden müssen, um das gute Leben zu erreichen, sind sie dem individuellen

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Wollen voraus bzw. sie gelten von Natur aus. Das von Natur Rechte gibt es schon immer. Es steht, weil es vorgegeben ist, über dem Menschen. Antigone spricht in der Tragödie des Sophokles vom „ungeschriebenen Gesetz“. Seit den christlich geprägten Epochen wurde das von Natur Rechte spezifischer zum Ausdruck gebracht, d. h., es wurde bei Thomas von Aquin erklärt, dass das von Natur Rechte (lex naturalis) ein göttliches Gebot, das zu erkennen dem Menschen möglich sei. Eine dem Naturrecht ähnliche Konzeption entstand auch außerhalb Europas, so z. B. im chinesischen Tao. Mit dem neuen Entstehen der Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert wurde der von den Griechen entwickelte Naturbegriff aufgegeben. Infolge der modernen Naturwissenschaften, die auf der Anwendung der physikalisch-mathematischen Methode beruhen, ist das zielhafte Naturstreben, das dem Lebendigen zugrunde liegt und insofern damit Menschenwürde und Naturrecht erklärt, aus dem Blick geraten. Die Natur wurde als mechanischer Kausalzusammenhang begriffen, der keine natürlichen Ziele mehr enthalten konnte. Kant brachte noch ein gewisses Naturrecht zur Sprache, als er sagte, dass es eine moralische Pflicht sei, aus dem Naturzustand in den bürgerlichen überzugehen. Sowohl die neuzeitlichen Vertragstheorien bei Thomas Hobbes und John Locke, als auch die Vernunftphilosophie Immanuel Kants suchten die in der Natur verloren gegangenen vorgegebenen Ziele in einer Reflexion auf die menschliche Vernunft als der neuen Quelle menschlicher Verpflichtungen wieder zu finden. Der Staat mit seinen verpflichtenden Zielen entstand nun aus einem Gesellschaftsvertrag (Hobbes und Locke) bzw. einer Verpflichtung aus dem Naturzustand in einen gesellschaftlichen Zustand (Kant) überzugehen. Das seit der Französischen Revolution vorhandene moderne Verständnis von Freiheit und Gleichheit aller Menschen führte das frühere Naturrechtsverständnis des aller Willkür entzogenen Lebensschutzes auf den im Geiste Rousseaus konzipierten gemeinsamen Vernunftwillen der ihre Gesetze selbst gebenden Bürger zurück. Damit war kein für das Recht des Individuums ausreichender Schutz erreicht, denn die Universalisierung der Menschennatur kippte in den der Französischen Revolution folgenden napoleonischen Kriegen in die nationalen Rechte des Franzosen, Belgiers, Briten, Deutschen, etc. um. Es bedurfte des Rückfalls in die Barbarei durch das Regime der Nationalsozialisten, damit in einer völkerübergreifenden Weise die Rechte des Menschen in einer fundamentaleren Weise gesetzlich gesichert wurden, als es in der Weimarer Verfassung nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war. Zur positivrechtlichen Verankerung naturrechtlicher Menschenrechte im (west-)deutschen Grundgesetz und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte kam es wegen der Missachtung des Naturrechts durch die ungeheuerlichen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs. Dabei erleichterte das Denken des Rechtspositivismus die Umstrukturierung der deutschen Justiz. Bei der Neugründung der deutschen Justiz stand das Naturrecht hoch im Kurs, der Rechtspositivismus wurde kritisiert. Das Bewusstsein, dass der Mensch Wahrheitsansprüchen und sittlichen Einsichten genügen muss, war in der Phase der Neugründung Deutschlands bei vielen Menschen vorhanden.

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Inzwischen sind 70 Jahre vergangen. Heute wird das Verstehen des moralischen Naturbegriffes durch die Denkgewohnheit eines moralischen Naturalismus erschwert, der der physikalisch aufgefassten Natur der Naturwissenschaften ein rein spirituelles und nicht-soziales Subjekt der freien menschlichen Selbstbestimmung gegenüberstellt. In der demokratischen Öffentlichkeit schlägt sich diese Denkweise in der Annahme nieder, der Staat gebe jedem die Freiheit mit seiner sexuellen Veranlagung zu machen, was er wolle. Die hellhörigen Jugendlichen verstehen es so, dass das Individuum diesbezüglich machen kann, was es will. Im öffentlichen Raum kursiert die Parole: „Sei, was du willst.“ Von der politischen Ethik her muss klar gemacht werden, dass Selbstbestimmung des Individuums nicht Willkürfreiheit bedeutet. Eine Verbindung von Menschenwürde und Menschenrechten, wie sie im deutschen Grundgesetz vorliegt, ist nur möglich, wenn man die erste Regel des klassischen Naturrechts oder des Sittengesetzes anwendet, dass das Gute zu tun und das Böse zu lassen ist. Aus der mathematisch-physikalischen Methode und dem heutigen Verständnis der Evolutionstheorie sind keine Ethik und kein Recht abzuleiten. Im Recht würde ohne die Anwendung des Prinzips des Sittengesetzes oder der ersten Regel des Naturrechts der völlige Relativismus herrschen. Die Einführung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz beruht auf einem durch das Naturrecht ermöglichten Verständnis. Dazu erwähne ich im Folgenden die kaum mehr bekannten formal-ethischen Grundlagen des Naturrechts in ihrer aktuellen Form (2), dann die Wiederbelebung des Naturrechts durch Jacques Maritain (3), der wechselseitige Bezug von positivem Recht und Naturrecht, der nicht von einer bloß faktischen Entscheidung der betroffenen Individuen abhängt (4) und das Gegenmodell einer Verneinung jeglichen Naturrechts im Namen einer naturalistisch reduzierten „freien Selbstbestimmung“ (5). II. Die Aktualität des Naturrechts in Deutschland Wenn heute von universalen politischen Prinzipien gesprochen wird, handelt es sich meist um solche, die dialektisch sind, d. h. um Vorschläge zur globalen Gestaltung der Politik, die inhaltlich vermeintlich richtige Ziele propagieren, denen die falschen Ziele und Ansichten gegenübergestellt werden. Diese dialektische Gegnerschaft pflegt man nach dem Freund-Feind-Verhältnis zu gruppieren. Als Beispiel könnte man die Gruppen der Kosmopoliten und der Kommunitaristen anführen. Das erste Prinzip des klassischen Naturrechts, das Gute ist zu tun und das Böse zu lassen, richtet sich dagegen an alle Menschen ohne direkte Gruppengegensätze zu provozieren. Aristoteles formuliert einen entsprechenden Grundgedanken am Anfang der Nikomachischen Ethik, wenn er sagt, dass alles nach dem Guten strebt. Zwar hatte schon Platon die Bewegungskraft des Guten mit dem Bild der Sonne verdeutlicht, aber dieses Bild ist erkenntniskritisch nicht so wirksam, wie das Streben nach dem Guten, das bei Aristoteles die Einfärbung durch jeden Strebenden mit sich bringt. Zwar strebt jeder nach dem Guten, aber dieses wird nur in dem Maße erkannt, wie es nicht von den Eigeninteressen des Strebenden zugedeckt wird. Als

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sekundäre Naturrechtsprinzipien sind bei Aristoteles zu nennen: die gesellschaftliche Gerechtigkeit nach den Kriterien der Gleichheit und Ungleichheit zu gestalten, die Polis als die beste Verfassung der Griechen anzusehen, den Frieden und die Selbständigkeit der Polis als oberstes politisches Ziel anzustreben. Solche Naturrechtsprinzipien bauen auf kontingenten, menschlichen Verhaltensweisen auf, die räumlich und zeitlich sehr verschieden sein können. Aristoteles illustriert diese partikularen Naturrechtsprinzipien, wenn er fragt, ob es eine universale Gerechtigkeit gibt. Diejenigen Regeln, die es für Athen gibt, gelten nur dort und sind trotzdem allgemein, weil es eben eine andere Allgemeinheit ist, als die in der Physik. Partikulares Naturrecht ist vergleichsweise konkret. Es geht aus einer naturrechtlich orientieren Suche nach dem für eine bestimme Kultur Angemessenen hervor, ist also nicht mit einer globalen Patentlösung zu verwechseln. Partikulares Naturrecht gilt nur für eine bestimmte Zeit oder für ein bestimmtes Volk. Für die Griechen, so Aristoteles, ist die Polis die beste naturgemäße Form des Zusammenlebens. Für sie ist die Verpflichtung, an den Kulten der griechischen Volksreligion teilzunehmen, eine unbedingte. Andere Völker mögen eine andere Religion haben, so wie sie z. B. auch andere Formen der Totenbestattung haben. Aristoteles sieht sehr klar, dass diese Form der Allgemeinheit nicht nach dem Muster der physikalischen Allgemeinheit zu denken ist. Das Feuer ist kein Vorbild für das Naturrecht. Es brennt in Persien genauso nach oben wie in Griechenland. Thomas von Aquin, der vor allem Aristoteles für die Entwicklung seines Verständnisses der praktischen Vernunft heranzieht, unterscheidet in den Quaestiones 91 bis 97 seiner theologischen Summa sehr klar in philosophischer Weise das allgemeine Naturrecht vom partikularen. Das allgemeine Naturrecht geht davon aus, dass der Mensch in jeder Kultur kognitiv auf das Naturrecht bezogen ist, also zwischen gut und schlecht unterscheiden kann. Das bereits genannte allgemeinste Prinzip lautet: Das Gute ist zu tun und das Schlechte zu meiden. Dieses mit dem Sittengesetz identische Fundamentalprinzip ist für den qualitativen Rahmen des Rechts unserer Demokratie grundlegend. Es hat, wie noch im Weiteren deutlich werden soll, für die Ableitung der Menschenrechte aus der Menschenwürde grundlegende Bedeutung. Es ist das übergeordnete Prinzip der praktischen Vernunft, das unser Gewissen verpflichtet und dessen Unbedingtheit ausmacht. Für Gesetze, die die Demokratie zur Lösung der anfallenden Probleme schaffen muss, gibt es nach Thomas naturrechtliche Voraussetzungen von Gesetzen, die auch heute gelten. Es ist vor allem die Hinordnung der Gesetze auf das Gemeingut. Thomas sagt: „Das Gesetz betrifft eigentlich in erster Linie und hauptsächlich die Hinordnung auf das Gemeingut. Etwas auf das Gemeingut beziehen, ist aber Sache entweder aller oder dessen, der die Stelle aller vertritt. Deswegen steht die Gesetzgebung entweder allen zusammen zu, oder der Amtsperson, welcher die Sorge für alle obliegt. Denn auch sonst überall ist auf das Ziel hinordnen Sache dessen, dem das Ziel sein eigenes Ziel ist.“1 1

Thomas von Aquin, Summa theologica. I-II, q. 90, a. 3.

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Damit ist der naturrechtliche Rahmen für das Recht und den Gesetzgeber formuliert. Bei der Bestimmung von empirischen und normativen Sachfragen sind diese aus der Perspektive von gegebenenfalls naturrechtlichen bzw. Gemeinwohlalternativen zu betrachten. Wenn bestimmte Gerechtigkeitsfragen zu lösen sind und dabei etwa fünf Vorschläge als abwegig und zwei als normativ akzeptabel erscheinen, dann muss der Gesetzgeber mit seiner Autorität darüber entscheiden. Wenn gleichwertige Sachargumente vorliegen, ist ebenfalls die Autorität des Gesetzgebers gefragt. Es wäre irreführend, sich das Naturrecht als ein vollkommen ausgestaltetes Normensystem vorzustellen. Zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Räumen fallen wegen der jeweilige Natur der Zusammenhänge unterschiedliche Problemlösungen an. Das moderne Verkehrssystem unterscheidet sich von früheren, etwa im Mittelalter. Trotzdem bleiben Regeln des partikularen Naturrechts aktuell, die Thomas von Aquin im Anschluss an Aristoteles formuliert hat. Der moderne Verkehr mit seinen vielen schnellen Fahrzeugen funktioniert wie bekannt mit einer Straßenverkehrsordnung, die jeder Staat als positives Recht schafft. Dieser voraus liegt jedoch eine sie ermöglichende sachliche Einsicht, welche den eigentlichen Anfang der Ordnung des Verkehrs schafft. Es liegt auf der Hand, dass nur auf einer Seitenhälfte der Straße vorwärts gefahren werden sollte. Dieser Gedanke zur Natur der Sache geht der positiv-rechtlichen Entscheidung der Frage, ob auf der rechten oder linken Straßenhälfte vorwärts gefahren werden soll, voraus. Bei uns ist es die rechte Seite, in England die linke. Ein anderes Beispiel möge zeigen, wie nach geschichtlichen Entwicklungen, die durchaus Kontingenz in sich tragen, eine naturrechtliche Ergänzung erforderlich wird. Alasdair MacIntyre hat in seinem späten, wenig bemerkten Buch Dependent rational Animals auf die Notwendigkeit hingewiesen, die vom Markt her übertragenen Regeln, welche auf die bedingungslose Macht des Stärkeren hinauslaufen, mittels Rücksichtnahme auf Schwächere zu durchbrechen. Behinderten ist zu einem tätigen Leben, das mit Anerkennung verbunden ist, zu verhelfen. Der naturrechtliche Geist auf den MacIntyre anspielt, findet sich in den modernen Sozialgesetzbüchern. Im Folgenden erläutere ich Menschenwürde und Naturrecht mittels der Theorien von Jacques Maritain und Immanuel Kant. Ferner diskutiere ich die Theorie des normativen Individualismus, der den Grund der moralischen Einsicht nur aus der Perspektive von Individuen sieht, aber offensichtlich keinen radikalen Individualismus meint. III. Naturrecht und Menschenwürde bei Jacques Maritain (1882 – 1973) und Immanuel Kant (1724 – 1804) In seinem Buch Die Menschenrechte und das natürliche Gesetz, das 1951 in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurde, leitet Maritain die natürlichen Menschenrechte aus der Natur des einzelnen Menschen und des Zusammenlebens ab. Maritain geht dabei vom Menschen als Person aus:

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„Wenn wir von einem Menschen sagen, er sei eine Person, wollen wir sagen, dass er nicht nur ein Stück Materie ist, ein individuelles Element in der Natur, wie ein Atom, ein Getreidehalm, oder eine Fliege oder ein Elefant individuelle Elemente in der Natur sind. Wo ist die Freiheit, wo die Würde, wo sind die Rechte eines individuellen Stückes Materie?“2

Maritain spricht hier die Grundlagen unseres Menschseins und unserer Handlungen an. Der Mensch ist in anderer Weise ein Naturwesen, als es die Evolutionstheorie denken kann, weil er sich selbst dank seiner Intelligenz und seines freien Willens „in der Hand hat“. Weil er sich „in der Hand hat“, wie Maritain sagt, ist er für sich selbst und für die, mit denen er zusammenlebt, verantwortlich. Die qualitative Natur der menschlichen Freiheit, mit der der Mensch fähig ist, das Gute und Gerechte für sich und in der Gemeinschaft zu erkennen, entwickelt Maritain aus stoischen und christlichen Voraussetzungen. Eine letzte Begründung der Menschenwürde ergibt sich für Maritain daraus, dass eine göttliche Freiheit das Freiheitswesen „Mensch“ gemacht hat. Während Maritain das Naturrecht christlich aus der Schöpfung begründet und dabei hofft, dass dieses auch für ein säkulares Verständnis zustimmungsfähig ist, formuliert Kant in der frühen Neuzeit eine moralische Verantwortung im Kategorischen Imperativ und leitet mit diesem über die Verallgemeinerung der Willensmaximen eine unbedingte Pflicht ab. Im Gehorsam unter die unbedingte Pflicht erlangt der Mensch eine Autonomie als nicht unterworfener, d. h. freier Gesetzgeber. Der bei Kant thematisierte absolute Kern der Person enthält eine Nähe zum Verständnis der Menschenwürde, sodass diese oft auch für die Erklärung der fraglichen Passagen des deutschen Grundgesetzes mit Bezug auf Kants Personenbegriff verstanden wird. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die in Artikel 1 Absatz 1 GG formuliert wird, entspricht Kants Formulierung, dass etwas, das Würde hat, niemals einen Preis haben kann und mit dem Nutzen inkommensurabel ist. „Was einen Preis hat“, so Kant, „an dessen Stelle kann etwas anderes, ein Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“3 Anwendungen dieses Würdebegriffs sind dann z. B. ein Embryo als anfänglicher Mensch, dem die Würde durch Tötung nicht genommen werden darf, oder ein Mensch, der, weil er seit seiner Geburt krank ist, niemals der Gesellschaft nützlich ist, sondern nur gepflegt werden muss. Oder auch ein Mensch, der geisteskrank ist und kein eigenes von ihm erkanntes Lebenszentrum hat. Gerade auch solchen Menschen, die von den Nationalsozialisten als lebensunwertes Leben getötet wurden, schreiben wir Menschenwürde zu. Zu dem Besitz der Menschenwürde hat der Mensch kein eigenes Verdienst. Sie kommt ihm als naturhaftes Geschenk zu, das er sich mit seiner Geburt nicht aussuchen kann, das aber als nicht von ihm gesetzte Ursache die entscheidende Bedingung und Ursache seiner Identität ist. Die sozialpsychologische Bedingtheit ist für die eigene Identität demgegenüber zweitrangig. Diese auch mit dem Denken von Robert Spaemann zu begreifende Men2 3

Jacques Maritain, 1951: 2. Immanuel Kant, 1964.

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schen- und Personenwürde ist der Hauptunterschied zum modernen Naturalismus. Ein Mensch als Person hat Menschenwürde und diese ist von anderer Natur als die Würde eines Elefanten oder einer Fliege. Der normative Individualismus kann die Normsetzung durch den Menschen nur als aus dessen eigenen Interessen entstandenes Faktum begreifen. Wenn die objektive Menschenwürde, wie im deutschen Grundgesetz, durch eine staatliche Gemeinschaft festgelegt wird, dann schützt das Recht die Unantastbarkeit der Menschenwürde vor äußeren Verletzungen. Jeder Mensch bekommt dann durch den Staat in den Grenzen des Rechts Handlungsfreiheit und freie Selbstbestimmung. Die durch das Recht bewirkte äußere Qualität des Individuums ist jedoch ohne Rückbezug auf die staatliche Positivierung und damit ohne die Inanspruchnahme der Existenz des Staats nicht möglich. IV. Kein Recht ohne Naturrecht und kein Naturrecht ohne Recht Das Naturrecht bedarf immer der Positivierung durch das Recht, damit es real wird. Umgekehrt bedarf das positive Rechts des Maßstabs des Naturrechts. In dem 2016 veröffentlichten Aufsatz Warum gibt es kein Recht ohne Naturrecht? verdeutlicht Robert Spaemann das Naturrechtsdenken.4 Spaemann vergleicht das Verhältnis von Naturrecht und positiven Recht mit dem Verhältnis von Sprachfähigkeit und konkreter Sprache. So wie ohne die Sprache der Mutter das Neugeborene nie seine natürlichen Sprechwerkzeuge aktualisieren und sprechen könnte, genau so wenig würde das Naturrecht ohne konkretes positives Recht real. Nun ist das Recht des gesunden Babys auf die Entwicklung seiner Sprechfähigkeit durch äußere Hilfe schon durch die im Grundgesetz verankerte Menschenwürde garantiert, aber wie steht es mit der Unveränderlichkeit der Natur, mit der es geboren wird? Wenn es die Chance gäbe, das Embryo wesentlich zu verbessern, stünde dem die Menschenwürde entgegen. Zweifelsohne folgt aus der naturrechtlichen Menschenwürde eines jeden Menschen keine exzessive Selbstbestimmung, die jedem das Recht gewähren könnte, in jeden Staat einzuwandern. Wenn mit der Menschenwürde die normative Selbstbestimmung begründet würde, und entsprechend missdeutete Menschenrechte internationale Geltung hätten, ergäbe sich der Anspruch auf die freie Bewegung migrierender Bürger in ein Land ihrer Wahl unter Missachtung der Staatsgrenzen. So etwas wird von Christine Bratu und Moritz Dittmeyer tatsächlich behauptet.5 Mit der Aufhebung der staatlichen Grenzen schafft man Anarchie. Die Menschenwürde will als Grundgedanke von Ethik und Recht verstanden sein. Sie ist nicht mit einer immer schon vorhandenen Vorratskammer primitiver Rezepte der Weltbeglückung zu verwechseln. Was lehrt nun der normative Individualismus?

4 5

Vgl. Robert Spaemann, 2016: 27 – 34. Vgl. Christine Bratu/Moritz Dittmeyer, 2017.

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V. Der normative Individualismus 1. Die falsche Alternative: Zwischen der mathematisch-physikalischen Natur und den menschlichen Interessen In der Annahme eines unbedingten Lebensschutzes und im Folterverbot stimmen Robert Spaemann und Dietmar von der Pfordten überein. Bei Spaemann wird diese Einsicht mit den Einsichten des Naturrechts begründet, die auf einem absoluten Verbot der Tötung Unschuldiger, auf einer Einsicht in Verpflichtungen zur Gerechtigkeit, die über der menschlichen Willkür stehen, basieren.6 Für den normativen Idealismus gibt es keine unmittelbare Einsicht in die Verpflichtungskraft des Naturrechts. Eine Metaphysik sei „zu weitgehend“. Er versteht unter Naturrecht immer ein göttliches Gebot. Von der Natur des Menschen will dieser Individualismus nicht sprechen, vielleicht, weil diese nicht durch die naturwissenschaftlichen Theorien belegt werden kann. Diesen werden menschliche Interessen, die die Menschenwürde schützen sollen, gegenübergestellt. Von der Pfordten erklärt: „Bei der großen Menschenwürde handelt es sich um eine nicht-körperliche, innere, im Kern unveränderliche notwendige und allgemeine Eigenschaft des Menschen. […] Die große Menschenwürde lässt sich – so der hier unterbreitete Vorschlag – am besten als Selbstbestimmung über die eigenen Belange verstehen.“7

Zunächst denkt man bei den „eigenen Belangen“ an das, was zu den eigenen Interessen oder Gütern gehört. Darin kann wohl kaum die unverwechselbare Menschenwürde gesichert werden; denn alle Güter sind teilbar. Allerdings ist die Verankerung der Legitimation im Urteilsgrund des menschlichen Gefühls und dem menschlichen Bedürfnis der Selbstbestimmung den Einwänden eines reduktionistischen Naturverständnisses erst recht nicht gewachsen. Geht man von objektiven Kausalgesetzen mit mathematisch-physikalischen Methoden aus, dann sind ein Bewusstsein, ein handelndes oder leidendes Ich, ein betroffenes Individuum nicht beobachtbar. Behauptet man, wie von der Pfordten, dagegen, dass das Foltern eines Menschen schlechthin nicht sein solle, weil es schlecht und böse sei, dann folgt man dem ersten Prinzip des Naturrechts. Gerade auch bei der Reaktion auf das Beispiel des Folterns zeigt sich, dass der moderne Mensch einen Unterschied zwischen Gut und Böse zu machen in der Lage ist. Dietmar von der Pfordten erklärt: „Die direkte Bezugnahme auf Gott oder ein göttliches Wesen ist für eine religiöse bzw. transzendente Rechtfertigung entscheidend, kann angesichts der Pluralisierung der Weltanschauungen in einer säkularen, immanenten Ethik aber nicht mehr die tragende Grundlage bilden. Auch ein Naturrecht ist in letzter Instanz von weitgehenden metaphysischen Annahmen abhängig.“8 6

Vgl. Robert Spaemann, 2002: 237. Dietmar von der Pfordten, 2016: 10. Hervorhebungen sind im Original. 8 Dietmar von der Pfordten/Lorenz Kähler (Hrsg.), 2014: 1. 7

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Diese Auffassung des Naturrechts ist ein Irrtum. Wenn von der Pfordten, wie wir sehen werden, zugunsten des Lebensschutzes der Embryonen argumentiert, beruht sein Denken selbst auf metaphysischen Annahmen. Gerade durch eine implizite Zustimmung zu einem von Natur Rechten unterscheidet er sich von einem extremen Individualismus. Ein extremer Individualismus, etwa wie der eines Mafia-Bosses könnte sich bei seinen Verbrechen immer mit seinem, auch beim von der Pfordten nicht akzeptablen, Anderssein rechtfertigen. 2. Das Individuum als letzte Rechtfertigung Dietmar von der Pfordten benennt sehr klar die beiden obersten Prinzipien der Theorie des normativen Individualismus: „Alle politischen Entscheidungen finden ihre letzte Rechtfertigung ausschließlich im Bezug auf die von der jeweiligen Entscheidung betroffenen Individuen, d. h. wenn man andere Lebewesen aus Vereinfachungsgründen außer Betracht lässt den betroffenen Menschen.“9

Im Gegensatz dazu lautetet das Prinzip des nach dem normativen Individualismus nicht rechtfertigbaren Kollektivismus folgendermaßen: „Politische Entscheidungen können ihre letzte Rechtfertigung in einem politische Legitimität verleihenden Kollektiv d. h. dem Staat, der Nation, dem Volk, der Rasse, der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Sprach- oder Kulturgemeinschaft, der Nachbarschaft etc. finden.“10

Mit von der Pfordtens Theorie des Kollektivismus befassen wir uns im folgenden Abschnitt. Für die Theorie des normativen Individualismus trifft zu, dass ihr Kriterium der Rechtfertigung durch die von einer Entscheidung betroffenen Individuen nicht wirklich allgemein anwendbar ist. Armin Engländer bestreitet zu Recht, „dass der Einzelne an Kollektivgütern stets nur ein Interesse haben kann, soweit sie ein Mittel zu Verfolgung seiner individuellen Ziele darstellen.“11 Umweltschützer können den Erhalt der Umwelt auch unabhängig von der menschlichen Existenz als Selbstzweck auffassen. „Ebenso mögen gläubige Personen die Achtung bestimmter religiöser Werte als in sich wertvoll und schutzwürdig beurteilen […] und schließlich“, so Engländer, „auch an der Wahrung bestimmter gesellschaftlicher Tabus kann ein nicht-instrumentelles Interesse bestehen.“12 Nach dem normativen Individualismus wird, wenn die freie Selbstbestimmung verletzt wird, immer auch die Menschenwürde verletzt. Das ist jedoch ein Irrtum; denn sonst könnte man keinen Menschen zu einer Gefängnisstrafe verurteilen. Im Gefängnis ist seine Selbstbestimmung aufgehoben, seine Menschenwürde wäre es dann ebenso. Aber der Mensch verliert nicht dadurch seine Würde, dass er sich 9

Dietmar von der Pfordten, 2004: 325. Ebd. 11 Armin Engländer, 2017: 550. 12 Ebd.

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nicht frei bewegen kann. Ähnlich ist es mit der Würde Verstorbener und Abwesender. Wie kann deren in Symbolen verkörperte Menschenwürde über ihre Selbstbestimmung erreicht werden?13 Eine objektive Würdeverletzung kann nicht mit dem Begriff der Selbstbestimmung erkannt werden. Die Folter gilt allgemein und naturrechtlich als Würdeverletzung. Sie negiert laut der normativen Ethik von der Pfordtens den Menschen als „freies willensbestimmtes Geistwesen und als leid- und schmerzempfindlich Körper- und Seelenwesen“.14 Diese psychologischen Kriterien der Menschenwürde reichen aber nicht aus, diese zu bestimmen. Die empirisch erfassbaren psychologischen Eigenschaften sind, wie man aus den Argumenten des Behavioristen Byrell Frederic Skinner ersehen kann,15 alle manipulierbar. Die Menschenwürde gehört zu jedem Menschen in seiner absoluten Einzigartigkeit und nicht zu seinen Eigenschaften. Sie kann nicht über die Selbstbestimmung seiner Eigenschaften gewährleistet werden. Auch gegen das zentrale Prinzip von von der Pfordten ergeben sich Einwände. Wie wir bereits kennengelernt haben, beruht die große Menschenwürde auf der Selbstbestimmung über die eigenen Belange.16 Das reicht für den Schutz des Individuums nicht aus. Der unbedingte Charakter der Menschenwürde erfordert, dass sie nicht von den Menschen verliehen werden darf. Die Menschenwürde ist gerade dadurch, durch ihre Unbedingtheit, die Naturrechtsgarantie für die Selbstbestimmung und für selbstbestimmte Interessen des Menschen. Würde ist keine empirische Eigenschaft, wie Robert Spaemann betont.17 Dies wird durch die naturrechtliche Überlegung korrigiert. Wir müssen die Unbedingtheit unserer eigenen Freiheit als Menschen auch anderen Menschen zuschreiben, die eine ebenso unbedingte Freiheit haben. Das gilt dann auch für die Würde. Die Würde und ihre Unantastbarkeit ist keine Eigenschaft. Sie ist nur negativ über die naturrechtliche Freiheitszuschreibung möglich, nicht positiv. Wir haben keine naturhafte Freiheit, die für sich isoliert so vorhanden wäre, wie unsere Sinne und unser Wollen, wodurch wir spontan auf die Aneignung eines Objektes reagieren können. Freiheit wird immer von möglicher Verantwortung begleitet. Menschenwürde hat so wenig einen empirischen Grund als die natürliche Freiheit. Beide müssen normativ begriffen werden. Die Würde, so formuliert Robert Spaemann ist „der transzendentale Grund dafür, dass Menschen Rechte und Pflichten haben. Rechte haben sie, weil sie Pflichten haben können, d. h. weil die normalen, erwachsenen Mitglieder der Menschheitsfamilie weder instinktiv in Gemeinwesen eingepasste Tiere sind, noch instinktoffene, bloße Triebsubjekte […].“18

13 So argumentiert Holger Gutschmidt, 2014: Immanuel Kant und der normative Individualismus. In: Dietmar von der Pfordten/Lorenz Kähler (Hrsg.), 2014: 159 – 176. 14 Dietmar von der Pfordten, 2010. 15 Vgl. Byrell Frederic Skinner, 2002. 16 Dietmar von der Pfordten, 2016: 10. Hervorhebungen sind im Original. 17 Vgl. Robert Spaemann, 2011: 93 – 101: 18 Ebd.

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Ein Individuum ist eine lebendige menschliche Natur, der ein Verständnis über ihr Zusammenwirken mit anderen menschlichen Naturen und damit ein Verständnis des Naturrechts zuzutrauen ist. Wäre Würde jene Selbstbestimmung über die „eigenen Belange“ isoliert betrachtet, so käme die Gerechtigkeitsfrage nach dem rechten Verhältnis zwischen den Betroffenen bzw. den privat sich selbst Bestimmenden zu kurz. Die politische Grundfrage nach gemeinsamen Belangen der sich selbst Bestimmenden bliebe unterbelichtet. Dass die Formulierung „Selbstbestimmung über die eigenen Belange“ missverständlich ist und wohl nicht ganz das wiedergibt, was von der Pfordten wohl selbst meint, lässt sich daraus ersehen, dass von der Pfordten keineswegs die Abtreibung von Wesen wie menschlichen Embryonen oder den Ausschluss von Personen, die sich nicht selbst bestimmten können, also von Schlafenden, Komatösen und schwer geistige Behinderten erlaubt.19 3. Der Staat als Diener des Individuums Nach von der Pfordten sind auch Staaten nur von Individuen abhängige Ziele: „Die Rede von Belangen bzw. Interessen einer Gemeinschaft, etwa eines Unternehmens oder eines Staates stützt sich also auf abhängige und nicht auf unabhängige Ziele.“20 Dass ein Staat aufgrund seiner formalen Beschaffenheit eine eigene Begründung von Zielen aus sich entlässt, die von Individuen erfüllt werden müssen, ohne dass sie sich dieser Aufgabe entziehen können, gerät bei von der Pfordten außer Blick. Das über den Interessen der Individuen stehende und diese begrenzende Gemeinwohl wird nicht beachtet. Die Vorrangigkeit des Staatswohls, das mehr ist als die Summe der Interessen der Einzelnen, ist jedoch nicht weniger wichtig. Dies zeigen die Staatsziele der Gefahrenabwehr, des Umweltschutzes, der Geldwertstabilität, der Umverteilung, der Bändigung von marktbeherrschenden Stellungen und der Sicherung von Arbeitsplätzen im globalen Standortwettbewerb, wie Matthias Herdegen aufführt.21 Das Recht der staatlichen Existenz ist begründungslogisch, d. h. von Natur früher als das der Individuen, weil die Existenz des Staates der Grund für das Zusammenwirken-können der Individuen ist. Die Rechtfertigung der Staatsziele verdankt sich nicht ihrer politischen Legitimierung, wie von der Pfordten meint,22 sondern der die Demokratie mit begründenden Einsicht, dass die Individuen begründungslogisch im Staat vorgängig gleichermaßen enthalten sind. Staatsziele müssen, bei Strafe des Untergang des Staates bei ihrer Auslassung, erfüllt werden. Hier lässt sich bei von der Pfordten ein gewisser neoliberalen Trend beobachten, der besonders individuelle Freiheit und Unabhängigkeit in den Vordergrund als zentrale Merkmale der menschlichen Natur stellt. Dagegen steht jedoch, dass das Ge19

Vgl. Dietmar von der Pfordten, 2016: 83; 85. Dietmar von der Pfordten, 2010: 88. 21 Vgl. Matthias Herdegen, 2010: 14. 22 Dietmar von der Pfordten, 2004: 325. 20

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meinwohl sich nicht in das individuelle Wohl aller Mitglieder einer Gesellschaft umformulieren lässt. Dieses Wissen vom Selbstverständlichen des Gemeinwohls, das uns natürlich ist, geht im normativen Individualismus verloren. Mit dem normativen Individualismus wird die freie Selbstbestimmung der Menschen als ein absolutes, aller Ordnung zugrunde liegendes Recht aufgefasst, das den Staat zu einem repräsentativen Instrument der Bürger macht.23 Der Staat ist jedoch mehr als die Repräsentation individueller Bürger. Er verlangt eine politische Integration und ist die Ermöglichung ihres Zusammenlebens. Das Prinzip seiner ganzen Tätigkeit ist in der Ermöglichung und Förderung des Gemeinwohls zu erblicken. Für alle ist es einsichtig, dass ihr Leben, ihre Menschenwürde und ihr Eigentum durch Gesetze geschützt werden müssen. Was aber allen von sich aus einleuchtet, gehört zum natürlichen Recht. VI. Fazit Der normative Individualismus geht von einem Vorrang des Individuums gegenüber dem Staat und der Gesellschaft aus. Die Natur, dies darf nicht vergessen werden, ist nicht nur die des Individuums, sondern auch die der Gesellschaft. Rousseau sagt einmal, wenn in der Gesellschaft Entscheidungen getroffen werden, die gegen die Natur der Gesellschaft sind, sodass diese sich selber zerstört, dann wird diese so lange sich in Unruhe befinden und von Katastrophen geschüttelt werden, bis die unbesiegbare Natur die Macht wieder ergriffen hat.24 Die in der Welt des Lebendigen grundlegende Solidarität, die beim Menschen durch die Fähigkeit des Wohlwollens ergänzt wird, ist ein Anlass für die naturrechtsfreundliche Öffentlichkeit einer Gesellschaft zu wirken. Literatur Bratu, Christine/Dittmeyer, Moritz (2017): Theorien des Liberalismus. Hamburg: Junius. Engländer, Armin (2017): Personal Rechtsgutslehre und normativer Individualismus. In: Saliger, Frank (Hrsg.), Rechtsstaatliches Strafrecht. Festschrift für Ulfrid Neumann. Heidelberg: C.F. Müller, 547 – 560. Gutschmidt, Holger (2014): Immanuel Kant und der normative Individualismus. In: von der Pfordten, Dietmar/Kähler, Lorenz (Hrsg.), Normativer Individualismus in Ethik, Politik und Recht. Tübingen: Mohr Siebeck, 159 – 175. Herdegen, Matthias (2010): Staat und Rationalität. Paderborn: Schöningh. 23

Vgl. ebd.: 333. Jean-Jacques Rousseau (1762): Du contrat social, ed. Marcel Michel Rey, Livre II, Capitre XI: Mais si le Législateur, se trompant dans son objet, prend un principe différent de celui qui nait de la nature des choses, que l’un tende à la servitude & l’autre à la liberté, l’un aux richesses l’autre à la population, l’un à la paix l’autre aux conquêtes, on verra les loix s’affoiblir insensiblement, la constitution s’altérer, & l’Etat ne cessera d’être agité jusqu’à ce qu’il soit détruit ou changé, & que l’invincible nature ait repris son empire. 24

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Kant, Immanuel (1785): Grundlegung der Metaphysik der Sitten (Akademie Ausgabe Band IV). Berlin (1964). Maritain, Jacques (1951): Die Menschenrechte und das natürliche Gesetz. Bonn: Brüder-AuerVerlag. Rousseau, Jean-Jacques (1762): Du contrat social, ed. Marcel Michel Rey 1762, Livre II, Capitre XI. Skinner, Byrell Frederic (2002): Walden Two. München: FiFa-Verlag. Spaemann, Robert (2002) Wer hat wovor Verantwortung? Kritische Überlegungen zur Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. In: Spaemann, Robert (Hrsg.), Grenzen – Zur ethischen Dimension des Handelns. Stuttgart: Klett-Cotta, 218 – 238. – (2011): Menschenwürde und menschliche Natur. In: Spaemann, Robert (Hrsg.), Schritte über uns hinaus, Gesammelte Reden und Aufsätze II. Stuttgart, 93 – 101. – (2016): Warum gibt es kein Recht ohne Naturrecht? In: Spaemann, Robert (Hrsg.), Naturrecht und Kirche im säkularen Staat. Wiesbaden: VS-Springer, 27 – 34. von der Pfordten, Dietmar (2004): Normativer Individualismus. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, 58 (3), (2004), 321 – 346. – (2016): Menschenwürde. München: C.H. Beck. von der Pfordten, Dietmar/Kähler, Lorenz (Hrsg.) (2014): Normativer Individualismus in Ethik, Politik und Recht. Tübingen: Mohr Siebeck, 159 – 176.

Toleranz und Inzivilität Von Walter Reese-Schäfer Abstract Tolerance means tolerating actions and opinions that deviate from the prevailing norms. Incivility refers to anti-social behavior that ranges from insulting opinions to direct threats of violence and the use of violence. Based on the riots at the G-20 summit in Hamburg on the 6th and 7th July 2017, manifestations of practiced incivility in this paper are first described phenomenologically, then theoretical suggestions are developed. The hypermoralization of indignation can lead to self-empowerment for forms of violence. This results in the systematic search for criteria for limits of tolerance, which are set out on the basis of John Rawls’ Theory of Justice and the discourses on militant democracy. The result of the analysis is that civil behavior encourages social disintegration wherever state authority withdraws. The determined exercise of state authority is always a tightrope walk between anarchy and authoritarianism, which can only be successful where liberal democracy can maintain its self-confidence and inner stability.

Einleitende Definitionsversuche Den Titel meiner Analyse bilden zwei Begriffe,1 von denen der eine mehr als bekannt, der andere neu ist. Toleranz bedeutet die Duldung von Handlungen und Meinungen, die von den bis dahin geltenden Normen abweichen. Oft ist das mit historischen Wandlungsprozessen verbunden. In der Anfangsgeschichte seiner Verwendung bezog sich der Begriff, wie jeder weiß, meist auf die Duldung abweichender religiöser Bekenntnisse. Der zweite Begriff, Inzivilität oder französisch, incivilité (von dort habe ich das Wort übernommen), bezeichnet ein deutliches Abweichen von Normen der Zivilgesellschaft oder des gesellschaftlichen Umgangs miteinander. Also ein antisoziales Verhalten. Das bezieht sich sowohl auf heftige bis beleidigende Meinungsäußerungen als auch auf direkte Gewaltandrohung und Gewaltanwendung, oft verbunden mit bestimmten Zonen und Gebieten, in denen nicht die Regeln der bürgerlichen Gesellschaft, sondern einer dominierenden, meist jungmännlichen Gewaltgruppe gelten. Beispiele sind die in den 1980er und 1990er Jahren als no-goareas angesehenen Gebiete in der New Yorker Bronx. Aktuell könnte man Teile der französischen Banlieues nennen, bestimmte Regionen wie die Südseite des Hamburger Hauptbahnhofs, die man abends besser nicht betritt, oder eben immer mal 1 Diesem Text liegt mein Vortrag im Rahmen der Tagung „Toleranz und Ignoranz in einer Offenen Gesellschaft. Über die Grenzen des Zuträglichen“ vom 28./29. 9. 2018 in Stapelfeld (Einladung Peter Nitschke) zugrunde.

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wieder für ein paar Tage sogenannte befreite Gebiete wie das Hamburger Schanzenviertel, in denen man stolz darauf ist, mit gewaltförmigen Mitteln die Feuerwehr, die Sanitätsdienste und die Polizei zeitweise fernzuhalten, um fröhlich plündern und Feuer anzünden zu können. Phänomenologie der Inzivilität Beginnen will ich mit einer persönlichen Perspektivierung. Am frühen Abend des 6. Juli 2017 bin ich mit dem ICE aus Göttingen kommend nach Hamburg gefahren. Das war zu Beginn des damaligen G20-Gipfels. Schon von den Elbbrücken aus konnte man sehen, dass die Hafencity vollkommen ausgestorben und an allen Brücken durch Polizeisperren blockiert war. An diesen Sperren warteten jeweils zwischen 6 und 20 von den Polizeikleinbussen, in die 8 – 10 Beamte passen. Über allem natürlich der Hubschrauber. Die einzige andere Bewegung, die zu sehen war, war eine Gruppe von 30 – 50 Radfahrern, die auf den Hauptbahnhof und die dortigen Sperren zufuhren. Die Zugfahrt wurde am Hamburger Hauptbahnhof vorzeitig beendet, weil sämtlicher Zugverkehr nach Hamburg-Dammtor und Hamburg-Altona eingestellt war, ebenso der U-Bahn- und Busverkehr, der an der Elbphilharmonie vorbeiführte. Schon das war ziemlich gespenstisch. Als ich ausstieg, wartete auf dem Bahnsteig eine Gruppe von ca. 20 Ordnungskräften der Bahn, die die Gäste zum Treppenaufgang geleiteten. Der Ausgang zur Innenstadt war gesperrt. Ich ging gezwungenermaßen zum anderen Ausgang, wo immerhin noch die U-Bahnlinie 1 fuhr. In dem Wagen war ich neben zwei Ausländern, die offenbar nicht mitbekommen hatten, was los war, der einzige Fahrgast, während die Bahn am Freitagabend sonst immer brechend voll ist. Am Klosterstern, meiner Haltestelle, stieg ich aus. Die dortige Weinhandlung war verbarrikadiert, obwohl sie normalerweise bis 19 h geöffnet hat, ebenso mehrere weitere Geschäfte. Man befürchtete offenbar durchziehende randalierende Gruppen. Die Straße war ebenfalls fast ausgestorben, obwohl sonst dort Hochbetrieb herrscht. Da wunderschönes Wetter war, und immerhin einige Lokale mit Außengastronomie geöffnet hatten, habe ich mich dort mit meiner Frau und einigen Freunden hingesetzt und die nächsten zwei Stunden Informationen ausgetauscht. In dem Lokal waren viele Nachbarn, die man sonst unter den vielen auswärtigen Restaurantbesuchern im Viertel eigentlich selten sieht, viele Plätze waren leer, freitagabends ebenfalls extrem ungewöhnlich. Alle Straßen aus unserem Viertel heraus nach Norden waren jeweils von mehreren quergestellten Polizeifahrzeugen blockiert, weil dort die Strecke vom Flughafen zur Innenstadt verläuft. Man hörte die ganze Zeit im Hintergrund die kreisenden Hubschrauber und erfuhr auch, dass im Schanzenviertel Barrikaden gebaut worden waren und Polizei und Feuerwehr sowie Krankenwagen nicht hineingelassen wurden. Da der Lärm bei uns nicht mehr als Hintergrundgeräusch war, sind wir irgendwann schlafen gegangen, allerdings gegen 1:30 Uhr aufgewacht, als es in unserer Straße laut wurde. Einige Vermummte, die sich nach der Räumung der Schanzenstraße über die Stadt verteilten, zogen bei uns durch und versuchten, Brandsätze auf Autoreifen zu verteilen. Eine ganze Reihe von Nachbarn hatte zu die-

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sem Zeitpunkt wegen des wunderschönen Sommerabends noch auf den Balkonen gesessen und Rotwein getrunken. Die kamen sehr schnell herunter, um ihre Autos zu schützen. Wie wir später erfuhren, hatten sie auch die Polizei angerufen, die allerdings erst Stunden später einen Streifenwagen schickte. Die nachbarliche Selbsthilfe wirkte aber nachhaltig, so dass nur zwei Fahrräder ausgebrannt sind. Die Autos konnten alle geschützt werden, und die Vermummten waren sehr schnell wieder weg. Die Nachbarn haben mit Taschenlampen die Autoreifen überprüft, ob dort vielleicht ein Brandwürfel abgelegt worden war. In der Schanzenstraße dagegen war mehrere Stunden lang geplündert und Feuer gemacht worden, weil die Polizei zwar mit Wasserwerfern und Hubschraubern präsent war, aber aus Angst nicht eingegriffen hat bzw. entsprechende Anweisungen der Einsatzleitung von den Polizeiführern vor Ort abgelehnt wurden, die für den Sturm auf die Schanze Spezialkräfte anforderten, was mehrere Stunden dauerte, in denen die autonomen oder befreiten Gebiete ihren eigenen Gesetzen der entfesselten Gewalt gehorchten. Das war nach der sogenannten Schlacht am Tegeler Weg in Berlin 1968 und den Unruhen um die Hausbesetzungen der 1970er Jahre in Hamburg und anderswo der wohl heftigste Fall von Inzivilität in der Bundesrepublik. Der Eindruck meiner Nachbarn war: die Polizei schützt die Politiker, aber nicht uns Bürger und unser Eigentum, so dass wir im Ernstfall auf Selbsthilfe angewiesen sind. Wären die Schwarzvermummten, die durch unsere Straße zogen, kein kleiner versprengter Trupp gewesen, sondern eine größere organisierte Gruppe, hätten sie gewiss ähnlichen Schaden anrichten können wie auf der Elbchaussee, wo durch die erfolgreiche Vermummung bis heute kein einziger Verdächtiger gefasst werden konnte. Interpretationsansätze dieser Beobachtungen Soweit mein Beobachtungsbericht aus Hamburg-Eppendorf – die generellen Fakten sind ja durch Fernsehen und Zeitungen allgemein bekannt. Die sogenannten rechtsfreien Räume, wie sie aus politischen oder anderen Gründen entstehen, also der Kontrollverlust des Staates, sind die Grundlage der Entfaltung solcher Formen von Inzivilität. „Falsche Toleranz gegenüber Durchbrechungen des staatlichen Gewaltmonopols, die Regel der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, wo nicht der Staat selbst oder Funktionseliten die Zielscheiben der Gewalt bildeten, sendet eine verheerende, am Ende die Gesellschaft selbst unterminierende Botschaft aus, dass nämlich Klugheit genügt, wo eigentlich Moral gefordert wäre.“2

Der Berliner Theoretiker Wolfgang Engler hat versucht, eine Analyse des Sozialismus als zivilisatorische Lücke zu entwickeln, die aber auf einer sehr viel weitgehenderen Zeitdiagnose der Moderne beruht. Anknüpfend an Norbert Elias’ Prozess der Zivilisation3 handelt es sich um drei große Kontrollen: erstens die instrumentelle 2 3

Engler, 1995: 97. Elias, 1978, bes. Bd. I, zur Geschichte des Begriffs „Civilité“, 65 – 75.

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Kontrolle der äußeren Natur, z. B. in der zunehmend erfolgreichen Bekämpfung von Infektionskrankheiten, zweitens die institutionelle Kontrolle der gesellschaftlichen Abhängigkeiten und Konflikte anstelle direkten Gewaltdurchgriffs, und drittens die psychische Selbstkontrolle jedes Einzelnen, die anstelle cholerischer oder irrationaler Ausbrüche tritt.4 Es geht vor allem in den beiden letzteren Fällen darum, die Sozialstruktur möglichst gewaltfrei durch Gewaltmonopolisierung zu handhaben, und im psychischen Bereich um die Affektkontrolle und Dämpfung persönlicher Angriffslust. Dazu gehören ebenso Prozesse der Verrechtlichung und der sozialen Kontrolle im öffentlichen Raum. Diese Prozesse haben einen Doppelcharakter. Einerseits ist dazu ein starker, Hobbesianischer Staat erforderlich, der das Gewaltmonopol auch erfolgreich durchzusetzen in der Lage ist. Daneben ist aber die Entwicklung einer bürgerlichen Gesellschaft oder Zivilgesellschaft nötig, die dies trägt und auch in die feineren kapillaren Verästelungen des Alltags aktiv diffundiert, bis hin zur innerfamilialen Struktur, denn dort, in der Kindererziehung und im Verhältnis der Geschlechter zueinander, hat Gewalt noch selbst in den hochzivilisiertesten europäischen Gesellschaften bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts eine heute zunehmend deutlicher erkannte Rolle eingenommen. Der Prozess der Zivilisation, der Affektkontrolle wird dabei in seinem Verlauf immer mehr umgestellt vom äußeren Zwang (z. B. durch schulische oder militärische Disziplin) auf sehr viel anspruchsvollere Formen innerer Selbststeuerung. Das führt dann am Ende dazu, dass auch der Erziehungsprozess selbst in die Hand genommen werden muss: „,Wir sind die erste Generation, die sich selbst erzogen hat‘, fasste kürzlich ein 22jähriger Westdeutscher das pädagogische Grunderlebnis weiter Teile seiner Generation in Worte.“5

Das war 1995. Nach meinen Beobachtungen hat das schon 1968 begonnen. Die Rede von den „befreiten Gebieten“, auf die ich mich am Anfang bei der Begriffsdefinition bezog, ist keineswegs nur metaphorisch oder ironisch zu verstehen. Man könnte durchaus davon sprechen, dass es eine Haltung zum Staat als eine Art Besatzungsmacht gibt, der gegenüber die so Redenden zumindest ein passives Widerstandsrecht beanspruchen.6 Das gilt keineswegs nur für die ehemalige DDR und Osteuropa vor 1989, wo der Besatzungscharakter ja mit den Händen zu greifen war. Das ist ebenfalls eine weit verbreitete Grundhaltung bis hin in die höchsten gesellschaftlichen Kreise des Westens. Man denke an den Dieselbetrug des VW-Konzerns, Steuerhinterziehungen Prominenter und ähnliche Verhaltensweisen. Die Gegenreaktionen der Staatsseite fallen durchaus auch heftig, oftmals geradezu reziprok ruppig aus. Publizitätsbewusste Staatsanwaltschaften sind geradezu mit Vorliebe dazu übergegangen, Durchsuchungen unter TV-Begleitung durchzuführen und so öffentlichkeitswirksam zu inszenieren. Beispiele dafür sind der einstige Postchef Klaus Zumwinkel (Verhaftung 2008, wegen Steuerhinterziehung), der frühere Präsident des FC Bayern Uli Hoeneß (Haftstrafe 2014 – 16, ebenfalls wegen Steuerhinterziehung), der 4

Engler, 1992: 38. Engler, 1995: 101. 6 Vgl. Engler, 1992: 45, speziell mit Blick auf Osteuropa. 5

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frühere Audi-CEO Rupert Stadler (Verhaftung im Juni 2018 im Zuge des Dieselskandals, das Verfahren läuft seit Juli 2019 am Landgericht München II), usw. Das heißt: Wo der Steuerstaat und der regelkontrollierende Staat als Fremdherrschaft wahrgenommen werden, nicht als demokratische Selbstgesetzgebung, wird vermieden, getrickst und es gibt spektakuläre Gegenreaktionen von Vertretern der Staatsgewalt. Ich will damit sagen: Formen von Inzivilität finden sich auf mehreren Ebenen der Gesellschaft, nicht nur bei Protestdemonstrationen und den Habitusformen sogenannter Aktivistinnen und Aktivisten, sondern auch bei Managern und Staatsanwälten. Dies gilt es als Hintergrundphänomen zu vermerken, auch wenn ich meine Analyse auf die oben dargelegten Beobachtungen konzentrieren werde. Zur Entschärfung besonderer ausgewählter Konfrontationssituation hat die Polizei sogenannte Deeskalationsstrategien entwickelt, z. B. in den Berliner Walpurgisnächten am Vorabend des 1. Mai. Dort wurden immer wieder Freudenfeuer mit parkenden Autos veranstaltet, wie man das auch aus französischen Banlieues kannte. In Hamburg hat man in der Ära Olaf Scholz (2011 – 2018), der für sich die Formel in Anspruch nahm, er sei „liberal, aber nicht doof“ (so sein Wahlkampfslogan von 2011), eher auf konsequenteres polizeiliches Eingreifen gesetzt, das jedoch wie eingangs geschildert anlässlich des G20-Treffens an seine Grenzen geriet, als die Polizeikräfte bzw. deren Kommunikation und Flexibilität nicht ausreichten und Prioritäten gesetzt werden mussten, so dass man lieber ein paar Ladengeschäfte plündern ließ, statt Verletzungsgefahren von Polizisten durch Steinewerfer in Kauf zu nehmen. Soweit die Lagebeschreibung. Lassen sich diese Phänomene in einen breiteren theoretischen Rahmen einordnen? Versuch der weitergehenden Theoretisierung Prozesse der Aufklärung und Modernisierung bedeuten immer auch das Infragestellen hergebrachter moralischer Normvorstellungen. Sind sie noch richtig, wenn sie überhaupt je richtig waren? Solche Prozesse des Durchbrechens haben weltweit um 1968 stattgefunden. Die Folgen sind bis heute spürbar. Die Kleidung ist informeller geworden, Hüte und Krawatten gelten zunehmend als überholt, Ehescheidungen und Abtreibungen sind mittlerweile nicht nur in Italien, sondern (seit Dezember 2018) sogar auch in Irland erlaubt, die Autorität von Behörden, Lehrern und Polizisten wird nicht mehr ohne weiteres hingenommen, das Patriarchat ist erschüttert. Zugleich gibt es Prozesse neuer Moralentwicklung oder der Entwicklung neuer moralischer Vorstellungen: Müll wird getrennt, politisch korrekte Sprachregelungen werden vorgegeben, das alte Thema der öffentlichen Kontrolle von Sexualverhalten wird von den Kirchen auf andere soziale Empörungsinstitutionen übertragen. Wir haben es mit wild wuchernden neuen Moralitäten zu tun, die kritisch zu überprüfen unerwünscht ist und die wie jede Moralität nicht notwendigerweise vernünftig oder gut, sondern einfach nur evolutionär vorhanden sind, aber in den Alltag der meisten Menschen nachhaltig hineinwirken.

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Die Vorstellung der britischen und französischen Aufklärung, man könnte eine hypertrophe religiöse Moral durch eine auf das Wesentliche reduzierte Vernunftmoral ersetzen, mag immer noch in den Köpfen herumspuken, ist aber auf der ganzen Linie gescheitert. Moral, das haben vor allem die Soziologen und Moralpsychologen seit Emile Durkheim erkannt, wuchert einfach wie der Giersch im Garten. Man trifft sich, man empört sich gemeinsam.7 Die penetrante Durchmoralisierung des Politischen entspringt offenbar aus der Sehnsucht nach einfachen, ans Denken nur geringe Ansprüche stellenden Verhältnissen. Moral richtet sich immer auf den sozialen Sinn von Handlungen und möchte diesen direkt zum Motiv erheben – das ist es, was man Moralisieren nennt. Der Denkfehler besteht in einem Kurzschluss. Man glaubt, die moralische Forderung, z. B. Lebensmittel oder billige Mieten für alle bereitzustellen, weil man ja essen oder wohnen müsse, führe auch schon dazu, dass andere sich zu dieser Bereitstellung verpflichtet fühlen – statt ihnen den Anreiz zu bieten, Brot zu backen oder in den Hausbau zu investieren. Moralisieren wird dem komplexen, arbeitsteiligen Zusammenhang moderner Gesellschaften nicht gerecht, die überhaupt erst die nötige Versorgungssicherheit produzieren.8 Die moralisierte Aufladung, man könnte auch von Hypermoral sprechen, hat als Kehrseite, da jede Moralisierung von der Erzeugung sozialen Drucks und öffentlicher Empörung lebt, eine ausgeprägte Intoleranz für auch nur ansatzweise von diesen Moralvorstellungen abweichendes Verhalten. Wir kommen damit zu einem doppelten Befund: ein Übermaß an Toleranz kann dazu beitragen, inziviles Verhalten zu fördern, ein Übermaß an Moral kann intolerante und heftige Praktiken der Moraldurchsetzung durch Beschimpfung und Privatgewalt fördern. Die vielgelobte Zivilgesellschaft demonstriert ihre Schattenseiten, wenn sie ihrerseits eigene Formen gewalttätiger Durchsetzung entwickelt, die darauf zielen, das Gewaltmonopol des Rechtsstaates mit durchmoralisierten Begründungsformen außer Kraft zu setzen. Vermutlich würden politische Aristoteliker irgendwelche Mittelwege aufzeigen, aber das Problem liegt woanders. Man könnte auch sagen: es ist struktureller Art. Der Versuch einer vernünftigen Kontrolle sowohl der Grenzen von Toleranz als auch der Grenzen von Moralität stößt auf die postaufklärerische Schwierigkeit, bestimmen zu können, was vernünftig ist. Seien Sie doch vernünftig und arbeiten Sie mit uns zusammen, sagte der Stasi-Offizier. Inzivilität kann mit Amoralismus verbunden sein, als Ursache aber auch einen Hypermoralismus haben. Es gibt eben auch Formen ethischer Gewalt, die ihren Grund in der Selbstgerechtigkeit von Moralistinnen und Moralisten hat.9

7

Durkheim, 1988: bes. 144. Siehe auch Durkheim, 1991. Vgl. Homann, 2002: 3 – 14. Besonders auch Pies, 2020. 9 Judith Butler sieht einen Gewaltakt schon darin, andere und sich selbst zu zwingen, mit sich selbst identisch zu sein. Vgl. Butler, 2007: bes. 58 – 62. 8

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Grenzen der Toleranz? Es würde zu weit führen, an dieser Stelle die ganze Vielschichtigkeit des Problems ausleuchten zu wollen. Ich will daher den vorgegebenen Rahmen meiner phänomenologischen Exposition nicht verlassen, sondern der Frage etwas vertiefter nachgehen, wo die Grenzen von Toleranz liegen könnten oder liegen müssten. Muss man beispielsweise Verfassungsfeinde im Staatsdienst tolerieren? Muss man die Entstehung rechtsfreier Räume akzeptieren? Soll man die Verfolgung von Ladendiebstahl einstellen, weil es sich nur um ein kleineres Delikt handelt? Soll man den Konsum von Drogen freigeben? Wie steht es mit dem Zeigen von Symbolen totalitärer Herrschaft? Wie mit den in Frankreich und Italien verbotenen Schleiern des Islam? Es handelt sich hierbei um ein ganzes Bündel politischer, rechtlicher wie moralischer Fragen, die nur außerordentlich schwer diesen verschiedenen Bereichen zuzuordnen und im Sinne einer Differenzierung auseinanderzuhalten sind. Es ist nicht so, dass ich auf diese Fragen selbstgewisse Antworten hätte. Der behauptende Gestus eines Carl Schmitt oder Arnold Gehlen liegt mir fern. Es geht mir lediglich darum, einige Antwortoptionen kritisch auszuloten. Wie schwierig das ist, möchte ich im Folgenden an der Stellungnahme zu diesem Thema von John Rawls, dem meistzitierten Moraltheoretiker unserer Gegenwart, ein wenig verdeutlichen, auch um damit klar zu machen, dass es sich keineswegs um einfache Fragen handelt und auch sehr berühmte Kollegen daran gescheitert sind. John Rawls hat einen Teil solcher Fragen in seiner Theorie der Gerechtigkeit an Hand der religiösen Toleranz erörtert. Er unterscheidet drei Fragen: „Erstens: Hat eine intolerante Sekte das Recht, sich zu beklagen, wenn sie nicht toleriert wird? Zweitens: Unter welchen Bedingungen haben tolerante Sekten das Recht, intolerante nicht zu dulden? Drittens: Wenn sie dieses Recht haben, zu welchen Zwecken dürfen sie es in Anspruch nehmen?“10

Seine Antworten sind differenziert. Natürlich hat man nur das Recht, sich über Verletzungen von Grundsätzen zu beklagen, die man selbst anerkennt. Aber, wenn die Intoleranten sich zwar selbst nicht beklagen können, können es dann nicht andere im advokatorischen Stil tun, also aus Gründen allgemeiner Gerechtigkeit und Toleranz? Rawls kommt zu dem Schluss, dass es erlaubt ist, „die Intoleranten in angemessener Weise zu zwingen, die Freiheit der anderen zu achten“11, doch „wenn die Verfassung selbst nicht in Gefahr ist, gibt es keinen Grund, den Intoleranten die Freiheit zu verweigern.“12 Rawls setzt auf die natürliche Stärke freier Institutionen und verbindet damit die Hoffnung, dass eine intolerante Sekte, wenn sie nicht von Anfang an so stark ist, dass sie sich einfach durchsetzen kann, oder wenn sie nicht zu schnell wächst, schon nach und nach aus psychologischen Gründen eine gewisse Treue gegenüber einer Verfassung entwickeln werde, die sie selbst schützt. 10

Rawls, 1979: 246. Ebd.: 248. 12 Ebd.: 249. 11

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„Es ergibt sich also, daß eine intolerante Sekte selbst kein Recht hat, sich über Intoleranz zu beklagen, daß aber ihre Freiheit nur dann einzuschränken ist, wenn die Toleranten aufrichtig und mit guten Gründen glauben, ihre eigene Sicherheit und die der freien Institutionen sei in Gefahr.“13

Mir scheint, dass aus diesen Argumenten eine gewisse Hilflosigkeit und psychologisierende Naivität spricht, obwohl sie im Kern vermutlich nicht falsch sind. Rawls glaubt nämlich, dass seine aus dem Urzustand gefolgerten Grundsätze durchaus auch „einen Versöhnungspakt zwischen verschiedenen Religionen und moralischen Auffassungen sowie den Kulturformen, zu denen sie gehören“14 implizieren. Die Gegenposition wird von einem berühmten Polemiker wie Henryk M. Broder formuliert: „Wer als Reaktion auf Geiselentführungen und Enthauptungen, auf Massaker an Andersgläubigen, auf Ausbrüche kollektiver Hysterie mit der Forderung nach einem ,Dialog der Kulturen‘ reagiert, der hat es nicht besser verdient.“15

Broder folgert: „Dermaßen praktiziert, ist Toleranz die Anleitung zum Selbstmord. Und Intoleranz eine Tugend, die mit Nachdruck vertreten werden muß.“16 Der Polemiker macht uns überdeutlich, dass Toleranz nicht unbedingt etwas Gutes ist. Es kommt eben darauf an, was oder wen man toleriert. Der Begriff der Zivilität, wie ich ihn hier verwende, hat große Ähnlichkeit mit dem Begriff der zivilisierten Standards bei Norbert Elias. „Zu ihnen gehört eine einigermaßen stabile Selbstzucht der einzelnen Menschen.“17 Es geht also um die weitgehende Abwesenheit physischer Attacken etwa in den großen Staaten und Städten unserer Gegenwart. Das gilt für die Ebene der individuellen Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum, also die Frage, ob man sich auf den großen Plätzen der Städte oder auch als Schüler auf den Schulhöfen ohne die Furcht vor körperlichen Attacken oder aggressiven Beschimpfungen aufhalten kann. Richard Rorty, der amerikanische Philosoph, hat dieses Problem der Schulhof-Bullys angesprochen, denen er als brillentragender Hochbegabter ausgesetzt war, bis er im Alter von 15 Jahren vorzeitig an die Universität wechseln konnte.18 Rortys Schoolyard-Bullies sind geradezu die Verkörperung dessen, was ich mit dem Begriff Inzivilität meine.19 Toleranz ist ein sprachlich fein abzugrenzender Begriff. Heinrich Heine spricht in seinen Memoiren davon, dass in ihm im Alter von 13 Jahren nicht bloß „der Unglau13

Ebd.: 250. Ebd.: 251. 15 Broder, 2006: 24. 16 Broder, 2009: 24. 17 Elias, 1989: 225. 18 Vgl. Rorty, 2000: 142. 19 Vgl. Elias, 1978: 157 – 167. Elias sieht den Erfinder des Wortes in der Welle französischer Übersetzungen eines kleinen Textes von Erasmus von Rotterdam: „De civilitate morum puerilium“ aus dem Jahre 1530. Danach wurde das englische civility, das italienische civilitá, und, seltener, das deutsche Zivilität geprägt. 14

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ben, sondern auch die toleranteste Gleichgültigkeit entstand.“20 Denn der Unglaube kann ja auch unduldsam auftreten. Die enge Verbindung von Gleichgültigkeit und Toleranz scheint mir eine wichtige sprachliche Beobachtung zu sein. Ich würde also nicht dem Rostocker Philosophen Heiner Hastedt folgen, der meinte: „Toleranz muss schwerfallen. Toleranz, die leichtfällt, ist keine.“21 Es könne durchaus sein, dass Toleranz ein entwicklungsmäßiges Zwischenstadium auf dem Weg zur Indifferenz, zur Gewöhnung, schließlich zur Akzeptanz oder gar zur Anerkennung oder zum Respekt darstellt. Hastedt hält aber daran fest: „Toleranz ohne Auseinandersetzung ist Indifferenz und keine Toleranz.“22 Das ist mir zu individualmoralisch gedacht, denn Toleranz wird hier nicht als politisches oder gesellschaftliches Verhalten, sondern als individuelle Tugend verstanden. In einer Institutionenethik kommt es aber entscheidend auf das Resultat an – ob dieses entsteht aus Gleichgültigkeit, aus Klugheitserwägungen oder aus moralischen Motiven ist vom Ergebnis her gesehen irrelevant. Toleranz aus Gleichgültigkeit könnte nachhaltiger und haltbarer sein als Toleranz aus moralbegründetem Selbstzwang.

Incivisme und militant democracy Gabriel Almond und Sidney Verba definieren die Civic Culture als „a pluralistic culture based on communication und persuasion, a culture of consensus and diversity, a culture that permitted change but moderated it. This was the civic culture.“23 Bei ihnen findet sich auch der Begriff der Entfremdung: dort, wo Haltungen vorhanden sind, die politische Institutionen oder Strukturen abweisen und zurückweisen.24 Frankreich war schon bei Almond/Verba für den incivisme of its people bekannt.25 Die Gelbwestenbewegung des Jahres 2019 war ein typisches Wiederlaufleben jener Emeuten und Straßenrevolten, die schon Kardinal Retz in seinem Memoiren beschrieben hatte.26 „Um zu überleben, muß unsere Demokratie eine streitbare Demokratie werden.“27 Im Original ist die Rede von der „militant democracy“. Nach Karl Mannheim müsste sie sich verständigen auf einige gemeinsam vereinbarte, rechtlich festgelegte Methoden sozialer Neugestaltung, wozu auch einige grundlegende moralische Wertvorstellungen gehören wie Brüderlichkeit, gegenseitige Hilfe, soziale Gerechtigkeit, Freiheit, Anständigkeit, Menschenwürde, also Wertvorstellungen, die eine gemeinsame verbindliche Grundlage darstellen können – im Gegensatz zum Kampfgeist der Dik20

Heine, 1974, Bd. VI/1: 557. Hastedt, 2012: 14. 22 Ebd.: 15. 23 Almond/Verba, 1963/1989: 6. 24 Vgl. ebd.: 21. 25 Vgl. ebd.: 9. 26 Vgl. Retz, 1964. 27 Mannheim, 1951: 17.

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tatoren, die ihren Untertanen ein starres Wertsystem auferlegen. Komplexere Wertvorstellungen müssten die Demokratien dagegen dem Glauben, der persönlichen Entscheidung oder dem Geist des Experimentierens überlassen. Die komplizierteren Fragen sollten also offen bleiben.28 Der Begriff der militanten Demokratie war unter den englischsprachig publizierenden deutsch-jüdischen Exilintellektuellen eine Art Gemeingut. Bei Karl Loewenstein findet er sich in gleicher Weise in einem großen zweiteiligen Aufsatz aus dem Jahre 1937 im American Political Science Review.29 Begeisterung und Enthusiasmus sind nach Loewenstein fast immer auf Seiten der totalitären Bewegungen, die Demokratie dagegen muss an die Vernunft appellieren und tut auch gut daran. Verteidigen muss sie sich daher durch institutionelle Regelungen, durch Versammlungsverbote, Parteienverbote, Verfassungsschutz und Polizei. Loewenstein hebt als wesentliches Merkmal totalitärer Bewegungen deren Techniken der Massenmobilisierung, öffentlichen Militanz und die Nutzung moderner Massenkommunikationsmittel hervor. An diesem Punkt soll die Gegenwehr ansetzen: Solche Methoden konnten nur unter den außergewöhnlichen Bedingungen wirksam werden, die demokratische Institutionen bieten. Der Mobilisierungserfolg des Faschismus vor seinem Sieg hat nach Loewenstein darauf basiert, dass er die Handlungsspielräume und Freiheiten von Demokratien ausnutzen konnte, ohne sich dafür anpassen zu müssen. Nur dort konnte er sich entfalten. Demokratie und demokratische Toleranz wurden so zu ihrer eigenen Zerstörung benutzt. Die liberalen Demokratien der Zwischenkriegszeit waren nicht in der Lage, den Feinden ihrer eigenen Existenz den Gebrauch demokratischer Institutionen zu verbieten. Loewenstein spricht von einem demokratischen Fundamentalismus und einer legalistischen Blindheit, die nicht bereit gewesen seien zu erkennen, dass der Mechanismus der Demokratie selbst das trojanische Pferd sein kann, mit dem der Feind in die Stadt gelangt. Man könnte auch von einem Virus sprechen, der sich überhaupt nur unter demokratischen Bedingungen entfalten kann. Loewensteins Gegenrezept: Die Demokratie muss militant werden und ihren Feinden die demokratischen Rechte entziehen. Nur so wird sie überleben können. Der übertriebene Formalismus rechtsstaatlicher Herrschaft, wie Loewenstein in entschlossener demokratischer Militanz formuliert, darf nicht dazu führen, dass der Rechtsstaat selbst abgeschafft werden kann. Politische Bewegungen, die sich wie militärische Kräfte organisieren, verunsichern die Bürger und schaffen ein Klima der Feindseligkeit gegenüber der Ordnung, die die emotionalisierende Politik dann benutzen kann. Totalitäre Bewegungen können sich nicht oder nur schwer im Verborgenen entfalten – sie brauchen die Propaganda, die Massenagitation, die Öffentlichkeit. Nur so kann die emotionalisierende Wirkung erzielt werden. Dieser revolutionäre Emotionalismus konnte mit den herkömmlichen rechtsstaatlichen Mitteln nicht wirksam 28 29

Vgl. ebd.: 18. Vgl. Loewenstein, 1937.

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bekämpft werden. Die Weimarer Republik verfügte über zu wenig Widerstandskraft, zu wenig Militanz gegen subversive Bewegungen. Einen demokratischen Emotionalismus als Gegenbewegung hält Loewenstein für unwahrscheinlich. Eine emotionale Gegenattacke der Demokraten ist nur schwer möglich, weil eine verfassungsmäßige Regierung allein an die Vernunft appellieren kann und sollte. Es kommt also auf die Gesetzgebung und auf Institutionen an, die direkt auf die totalitären Techniken der Massenemotionalisierung zielen. Bloße Bürgermobilisierung reicht nicht aus. Ideenmäßige Auseinandersetzung ist nicht genug, weil totalitäres Denken Loewenstein zufolge gar nicht auf Ideen basiert, sondern auf einer Herrschafts- und Machteroberungstechnik. Legalistische Selbstzufriedenheit führt zu einer suizidalen Lethargie der Demokratien. Deshalb muss ein anspruchsvolles Paket antitotalitärer Gesetzgebung entwickelt werden, wie Loewenstein das in der Tat für die meisten Länder nachweisen kann, die sich gegen derartige Bewegungen zu wehren hatten. Die Demokratien seien im Krieg, obwohl es sich um einen Untergrundkrieg an der inneren Front handele. Er warnte deshalb davor, allzu viele verfassungsmäßige Skrupel zu hegen und endlich die demokratischen Grundsätze zu beschränken, mit dem Ziel, sie überhaupt erhalten zu können. 1937 sah Loewenstein die Demokratien im Belagerungszustand.30 Solche Gedanken standen Pate bei der Formulierung der entsprechenden Passagen im Grundgesetz. Die Verfassungsväter übernahmen den Grundgedanken, die Abwehrkräfte der Demokratie bedürften einer nachhaltigen Stärkung. Carlo Schmid, der herausragendste unter den sozialdemokratischen Mitautoren des Grundgesetzes, erklärte 1946, die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit und die Vereinigungsfreiheit seien Grundrechte, welche von Antidemokraten missbraucht werden könnten: „Wir wollen uns nicht wieder dadurch lächerlich machen, dass wir uns von Leuten, die politisch kein anderes Ziel hatten, als die Freiheit auszulöschen, grinsend vorhalten lassen: Wenn ihr uns daran hindert, dann verstoßt ihr gegen das Prinzip der Freiheit!“31

Dies war eine entscheidende Lehre aus der Erfahrung der Endphase der Weimarer Republik, wie die Verfassungsväter sie sahen. An diesem Punkt stehen wir heute, wie Hans Magnus Enzensberger konstatiert, erneut: „Mit der Miene der gekränkten Unschuld fordern Hassprediger die Meinungsfreiheit ein, die abzuschaffen ihr erklärtes Ziel ist“.32 Die wehrhafte oder streitbare Demokratie hat immer wieder die Kontroverse provoziert, ob sie nicht in sich paradoxal sei, weil sie die Verfestigung der Demokratie auch gegen den Willen des Volkes, sogar gegen den Mehrheitswillen ermögliche. Das liegt an einer gewissen Asymmetrie demokratischer Regierungsformen: Innerhalb ihrer kann man für eine Vielfalt von Zielen und vor allem Dingen von individuellen 30

Vgl. zu diesem Themenkomplex Reese-Schäfer, 2019: 221 – 224. Niclauß, 1998: 204. 32 Enzensberger, 2006: 42. 31

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Rechten eintreten. Sind sie aber einmal abgeschafft, dann ist gerade und auch ein Eintreten für Demokratie selbst erschwert oder sogar unmöglich gemacht. Einmal abgeschafft, ist dannDemokratie nur sehr schwer wiederherzustellen. Vorübergehende Beschränkungen dagegen lassen sich nach Beruhigung der Situation wieder abbauen. Dies ist in der Bundesrepublik nach den Antiterrorgesetzen der 1970er Jahre auch geschehen – bis hin zur nachhaltigen Reduzierung lebenslänglicher Gefängnisstraßen für prominente Täterinnen und Täter. Der antitotalitäre Konsens der Väter des Grundgesetzes, die im widerstrebenden Zusammenspiel der Nationalsozialisten und Kommunisten die Hauptursache des Untergangs der Weimarer Republik sahen, ist seit den späten 1960er Jahren in der Folge einer in einigen Punkten zutreffenden, in anderen Punkten aber undurchdachten Ideologiekritik an der Totalitarismustheorie zusammengebrochen. Diese prominent von Hannah Arendt,33 Carl J. Friedrich34 und anderen vertretene Lehre hatte sich zu hohe Beweislasten aufgebürdet, indem sie die Übereinstimmung des linken und des rechten Extremismus an Hand zu vieler Merkmale zu behaupten versuchte.35 In Wirklichkeit kam es allein darauf an, die liberalen Demokratien gegen ihre Blockierung und Auslöschung zu verteidigen. Dazu hätte es einfach genügt, den Antiliberalismus und Antiindividualismus der extremistischen Ideologien und die darauf begründete fundamentale Ablehnung rechtsstaatlicher Institutionen und Verfahrensweisen zu konstatieren.36 Das Links-Rechts-Problem dagegen erscheint inzwischen in den Hintergrund getreten zu sein, wenn Islamexperten wie Bassam Tibi und andere gerade die Züge eines reaktionären Antimodernismus des politischen Islamismus (im Unterschied zum Islam als traditioneller Religion) hervorheben und auf die ebenfalls totalitären Züge dieser ebenfalls mit einer Massenbewegung verbundenen Ideologie hinweisen.37 Gern wird in solchen Diskussionen Hitlers Ermächtigungsgesetz von 1933 als Gefahr angeführt. Allerdings ging es bei diesem Gesetz um das genaue Gegenteil: nicht Schutz der Republik durch vorübergehende Einschränkung von Rechten, sondern die Machtübertragung an die Feinde der Republik. Die Mechanismen, welche die Weimarer Republik zu ihrem Schutz gegen Verfassungsfeinde zur Verfügung hatten, waren im ,Gesetz zum Schutz der Republik‘ vom Juli 1922 festgelegt, das fünf Jahre galt und 1927 für weitere zwei Jahre verlängert wurde. Es verfehlte 1929 die notwendige Zweidrittelmehrheit im Reichstag. Von nun an wollte man gegen antidemokratische Kräfte auf der Basis des Art. 48 der Reichsverfassung vorgehen. Damit hing die abwehrbereite Demokratie vom guten Willen des Reichspräsidenten ab.38 So wurde das Verbot von SS und SA im gesamten Reichsgebiet, das im April 33

Vgl. Arendt, 1986. Vgl. Friedrich/Brzezinski, 1965. 35 Vgl. Ballestrem, 1992. 36 Vgl. Holmes, 1995. 37 Tibi, 2004. 38 Vgl. Niclauß, 1998: 203. 34

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1932 erlassen worden war, unter der Kanzlerschaft Franz von Papens kurzerhand wieder aufgehoben. Eine Abgrenzung: Inzivilität oder Entzivilisierung Eine gewisse Verwandtschaft mit meinem Begriff der Inzivilität hat der Begriff der Entzivilisierung, wie ihn z. B. Oliver Nachtwey verwendet. Allerdings gibt es einige wesentliche Differenzen: Erstens ist sein Ansatz nicht von wissenschaftlichem Beobachtungsgeist getragen, sondern von einem heftigen Ressentiment gegen Donald Trump und ähnliche Erscheinungen. Zweitens scheint er doch trotz seiner Berufung auf Norbert Elias’ Prozess der Zivilisation einen geschichtsphilosophischen Ansatz zu verfolgen, auf dessen Basis er die Entzivilisierung als regressive Modernisierung kennzeichnet. Drittens ist seine Phänomenologie der Entzivilisierung höchst unbestimmt. Er schreibt: „Die Affektkontrolle erodiert an vielen Orten: Im Internet, auf der Straße, im Alltagshandeln.“39 Er sucht nach gesellschaftlichen Ursachen und findet diese in dem, was er Neoliberalismus nennt: „Im Neoliberalismus ist die Last des Selbstzwangs, der permanenten Sublimierung hoch: Man muss immer wettbewerbsfreudig sein, sich vergleichen, vermessen und optimieren. Zumutungen, Entwürdigungen, Demütigungen und Scheitern muss man sich selbst anlasten – und danach freudig auf eine neue Chance warten.“40

Der soziale Grund liegt für ihn darin, dass es keinen kollektiven Aufstieg mehr gibt, sondern dass es für einige wieder nach unten geht, z. B. für die aus Facharbeitern bestehende Mittelklasse. „Der gesellschaftliche Fortschritt kannte natürlich auch früher Verlierer, doch die Verlierer von heute sind häufig die halbwegs Etablierten von gestern.“41

Nun, das kennen wir schon vom Adel im Untergang und natürlich von der Vernichtung kleinbürgerlicher Ersparnisse und Lebensversicherungen durch die beiden großen Inflationen im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Gänzlich unbestimmt wird Nachtwey, wenn er über diese von ihm als Feindgruppe identifizierte Schicht hinausgeht: „Solche Phänomene der Entzivilisierung zeigen sich nicht nur in den (unteren) Mittelschichten, sondern auch bei den Eliten. Besonders anfällig scheinen jedoch Männer mittleren Alters mit einer mittleren Qualifikation und einem mittleren Einkommen zu sein. Mehr kann man noch nicht dazu sagen, die Forschung steht hier am Anfang. […] Sie fühlen sich abgewertet und ausgenutzt – von den Eliten, von der Globalisierung, von den Frauen, von den Flüchtlingen. Sie haben den Eindruck, sie würden zu sozialen Außenseitern gemacht, zu einer Minderheit im eigenen Land, der niemand zuhört und für die sich niemand interessiert. […] Materielle und kulturelle Statusängste sind die Treiber von Ressentiments, negativen 39

Nachtwey, 2017: 215. Ebd.: 221 f. 41 Ebd.: 225. 40

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Affekten, identitärer Schließung und von Verschwörungstheorien – Aspekte, die schon früh als Kennzeichen autoritärer Persönlichkeitsstrukturen ausgemacht wurden.“42

Hier haben wir das ganze Programm: der Irrationalität suggerierende Begriff der „Ängste“, obwohl im sozialen Abstieg doch eine Realursache dafür liegt, sich dagegen zu wehren, überflüssige Männer, Ressentiments (als ob es die nicht gerade bei akademischen Eliten gegen Handarbeiter und deren Habitus geben würde), etc. Nachtwey schlussfolgert: „Offenkundig erachten es einige Gruppen in der Gegenwart nicht länger als lohnenswert, sich zivilisiert zu verhalten. Als entbettete Individuen, die vor allem in Internet kaum noch sozialer Kontrolle unterliegen und sich für hasserfüllte Botschaften nicht verantworten müssen, lassen sie ihren Vorurteilen freien Lauf. Am Ende treffen sie sich in den Affektkoalitionen der Ressentimentgeladenen: bei der AfD, bei Auftritten von Donald Trump oder Marine Le Pen. Was diese Gruppen eint, ist die Negation der Zivilisation in der Praxis im Namen einer imaginierten abendländischen Zivilisation.“43

In solcherart wirren Diskursen geht so ziemlich alles durcheinander und ist andererseits alles ausgeblendet, was ich oben als Inzivilität gekennzeichnet habe, nämlich die repetitiven Gewaltorgien bei den G-20-Treffen, am Vorabend des 1. Mai und ähnlichen sonst sich bietenden Gelegenheiten. Trotz der Kritik an den männlichen Verlierertypen aus den Unterschichten fehlt der Verweis auf die Rolle aggressiver Männlichkeit und Frauenunterdrückung in Einwandererkreisen, für die zwar die Globalisierung, nicht aber der Neoliberalismus verantwortlich gemacht werden kann. Solcherlei Analysen wirken gerade in ihrer Unterschichtbeschimpfung eher bestätigend auf rechtsgerichtete Protesthaltungen und Protesttendenzen. Zivilisierte Verachtung als mögliche Gegenkonzeption Eine interessante Gegenkonzeption zu der etwas dumpfen Unterschichtbeschimpfung hat Carlo Strenger entwickelt, ein aus der Schweiz stammender israelischer Psychologieprofessor. Er befürchtet, „dass die Verteidigung unserer Kultur an die politische Rechte outgesourct wird. (…) Die Auswirkungen sind verheerend, weil die Rechte dabei eben nicht die Grundpfeiler der Aufklärung im Auge hat, sondern nationale Eigenschaften und Interessen betont (…). Verhindert werden kann dies nur, wenn sich die Linke und die Mitte gemeinsam für die Grundwerte der freien Welt engagieren.“44

Die Ursache, warum dies nicht geschieht, warum im linken und mittleren Milieu der Westen geradezu verpönt und gehasst wird, sieht Strenger in der politischen Korrektheit.

42

Ebd.: 228. Ebd.: 229. 44 Strenger, 2015: 18. 43

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„Gerade die Linke ist aber seit Jahrzehnten durch den Imperativ der politischen Korrektheit gelähmt, weil damit jede Kritik an anderen Kulturen sofort in die Nähe eines eurozentrischen Imperialismus gerückt wird. Die Grundthese dieses Essays ist, dass mit dem Insistieren auf der politischen Korrektheit ein fundamentales Prinzip der Aufklärung über Bord geworfen wurde, nämlich dass nichts und niemand über Kritik erhaben ist.“45

Er sieht in dieser Haltung „eine groteske Verzerrung des aufklärerischen Toleranzprinzips“.46 „Wenn andere Kulturen nicht kritisiert werden dürfen, kann man die eigene nicht verteidigen. […] Längst zeichnet sich ab, dass es psychologisch gar nicht möglich ist, diese Haltung dauerhaft einzunehmen. Kein Mensch kann authentisch respektieren, was er in Wahrheit für unmoralisch, irrational oder ganz einfach dumm hält. Das unausweichliche Resultat ist mangelnde Authentizität.“47

Es geht also darum, eine authentischere Haltung zu entwickeln. Als Psychologe schlägt Strenger die „zivilisierte Verachtung“ vor: „Ich definiere zivilisierte Verachtung als eine Haltung, aus der heraus Menschen Glaubenssätze, Verhaltensweise und Wertsetzungen verachten dürften oder gar sollen, wenn sie diese aus substanziellen Gründen für irrational, unmoralisch, inkohärent oder unmenschlich halten.“48

Warum zivilisiert? Erstens muss die Verachtung auf Argumenten beruhen, und zweitens muss sie sich gegen Meinungen, Glaubensinhalte oder Werte richten, aber nicht gegen die Menschen, die sie vertreten. „Zivilisierte Verachtung ist die Fähigkeit, zu verachten, ohne zu hassen oder zu dehumanisieren. […] Psychologisch gesehen, ist sie um einiges authentischer als die politische Korrektheit. Sie verlangt nicht, dass Respekt geheuchelt wird, wo keiner wirklich zu haben ist.“49

Strenger hat also durchaus ein Bewusstsein für die psychologische Komplexität einer solchen Haltung, zumal es immer noch Personen, Menschen sind, die Verantwortung für etwas tragen oder entsprechend vor Gericht bei entsprechenden Taten auch zur Verantwortung gezogen werden können. Personen werden verurteilt, nicht Werte, und die Träger und Prediger von Fanatismen sind wohl durchaus auch als Gegner zu identifizieren. Ich bin auch nicht ganz überzeugt, dass es allein die sogenannte politische Korrektheit ist, welche die Linke hindert, tyrannische oder diktatorische Verhältnisse zu kritisieren, denn diese Selbstbremsung und Zurückhaltung hat eine lange Tradition schon in der kommunistischen III. Internationale, bis hin zu Linksintellektuellen wie Jean-Paul Sartre, der die sowjetischen Straflager oder die Gewaltphantasien Frantz Fanons aus einer antiwestlichen und antikolonia45

Ebd.: 18. Ebd.: 18 f. 47 Ebd.: 19 48 Ebd.: 21. 49 Ebd.: 21. 46

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listischen Grundhaltung heraus zustimmend hingenommen hat. Es gibt eine lange zurückreichende Tradition linker Inhumanität und Inzivilität, die durchaus konkurrenzfähig ist mit den entsprechenden rechten Haltungen und Verhaltensweisen. Sie hat ihren Kern und ihre Wurzel im Denken Lenins, der Parteilichkeit über Wahrhaftigkeit stellte, und in den darauf aufbauenden Großverbrechen der stalinistischen Ära. Inzivilität ist ein Begriff für bestimmte Verhaltensweisen und Verhaltensformen, die sich in verschiedenen politischen Lagern, aber auch in sehr verschiedenen sozialen Schichtungen oder Gruppierungen finden. Das kann man durchaus als Stärke dieses Begriffes ansehen, der keineswegs eine bestimmte Gruppe ethnischer oder religiöser Art besonders auszeichnet oder diskriminiert, sondern Attacken auf die Wohlfahrt aller normativ zu kritisieren erlaubt, ohne gleich automatisch einen gruppenbezogenen Diskriminierungseffekt mit zu transportieren. Der gemeinsame Effekt der Inzivilität: sie macht das öffentliche Leben widriger und unangenehmer, sie senkt die Lebensqualität. Dies offen und ohne vordergründige Parteilichkeit benennen zu können, ist eine wichtiger Schritt zur Identifizierung eines Problems, das bis heute gern auf doppelte Weise vernebelt wird: nämlich erstens durch den Verweis auf die selbstverständlich jederzeit gerechte Empörung der eigenen Seite, welche eigenes inziviles Verhalten angeblich rechtfertigt, und zweitens dadurch, dass jede Kritik an solchen Verhaltensweisen sofort als gruppenbezogene Diskriminierung hingestellt wird, um wiederum in selbstgerechte Empörung usw. zu verfallen, womit dann die ganze Debatte in sich kreisend von vorne beginnt. Schluss In diesem Beitrag kam es darauf an, vernachlässigte Aspekte der Polarität von Toleranz und Inzivilität aufzuzeigen. Toleranz für inziviles Verhalten fördert gesellschaftliche Desintegration. Inzivilität ist eine gefährliche Alltagserscheinung, die immer wieder die dünne Schicht des von Norbert Elias beschriebenen Zivilisationsprozesses durchschlagen und jederzeit auch wieder die Oberhand gewinnen kann, wo die Staatsgewalt sich zurückzieht und die sie in den Demokratien tragende bürgerliche Gesellschaft ihr waches Bewusstsein für Grenzziehungen und gefährliche Grenzüberschreitungen verliert. Die Abwehrmöglichkeiten der Demokratie gegen Inzivilität sind im Grundgesetz und der bundesrepublikanischen Gesetzgebung durchaus gegeben, aber es handelt sich eben um Instrumente, die durch Diskursverschiebungen jederzeit auch von der politischen Linken oder der politischen Rechten gegen die jeweils andere Seite ins Feld geführt werden können, sobald die liberale Demokratie ihr Selbstbewusstsein und den inneren Halt verliert, sich gegen Ausprägungen extremistischen Verhaltens mit der nötigen Entschlossenheit abzugrenzen. Diese Gratwanderung der Mitte ist das Kernthema dieses Aufsatzes, ausgehend von der konkreten Phänomenologie eines kurzzeitig aus dem Ruder gelaufenen kleinen Weltereignisses auf Hamburger Boden.

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Mannheim, Karl (1951): Diagnose unserer Zeit. Zürich u. a.: Europa Verlag. Nachtwey, Oliver (2017): Entzivilisierung. Über regressive Tendenz in westlichen Gesellschaften. In: Heinrich Geiselberger (Hrsg.), Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 215 – 231. Niclauß, Karlheinz (1998): Der Weg zum Grundgesetz. Paderborn u. a.: Schöningh. Pies, Ingo (2020): Das Moralparadoxon der Moderne – Ordonomische Überlegungen zur modernen Ethik als Ethik der Moderne Diskussionspapier Nr. 2020 – 01 des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, hrsg. von Ingo Pies. Halle. Rawls, John (1979): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Reese-Schäfer, Walter (2019): Sicherheit, Freiheit und Terrorismus. In: Reese-Schäfer, Walter, Deutungen der Gegenwart. Zur Kritik wissenschaftlicher Zeitdiagnostik. Stuttgart, Springer Nature/J.B.Metzler, 219 – 234. Retz, Kardinal (1964): Aus den Memoiren. Dt. von Walter Maria Guggenheimer. Frankfurt a. M.: Fischer exempla classica. Rorty, Richard (2000): Wilde Orchideen und Trotzki. In: ders., Philosophie und die Zukunft. Frankfurt a. M.: Fischer, 137 – 160. Strenger, Carlo (2015): Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit. 4. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Tibi, Bassam (2004): Der neue Totalitarismus. „Heiliger Krieg“ und westliche Sicherheit. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

II. Rezensionsessays

Eine philosophische Novelle – Reinhard Mehrings „Landwehrkanal“* Von Hans-Christof Kraus Die „Philosophische Novelle“ Reinhard Mehrings, der vor allem durch seine Untersuchungen zu Carl Schmitt, Thomas Mann und Martin Heidegger bekannt geworden ist, hat es in der Tat in sich: „Landwehrkanal“ verknüpft in der Form eines verschiedene Zeiten verschränkenden Campusromans vergangene Wirklichkeit und Fiktion, ausgehend vom tragischen Schicksal des beruflich gescheiterten, heute so gut wie unbekannten Berliner Philosophen Friedrich Eduard Beneke, der, 1798 geboren, im Jahr 1854 plötzlich verschwand und dessen Leiche zwei Jahre später im Landwehrkanal gefunden wurde. Über die Umstände seines plötzlichen Verschwindens und seines Todes konnte nichts Näheres ermittelt werden; die polizeilichen Untersuchungen verliefen im Sande, trotz der intensiven Bemühungen von Benekes Bruder, eines Berliner Konsistorialrats. Jedenfalls wird man von zwei Möglichkeiten ausgehen müssen: Entweder wurde Beneke ausgeraubt und ermordet oder er beging Suizid. Auf eindrucksvolle Weise geling es Mehring, die tragische Geschichte Benekes mit seinen eigenen Erinnerungen an die Erneuerung der Berliner Humboldt-Universität eineinhalb Jahrhunderte später, in der „Nachwendezeit“ der 1990er Jahre, zu verknüpfen und damit auch seine eigene akademische Biographie ins Spiel zu bringen. Als Mitarbeiter Volker Gerhardts arbeitete und lehrte Mehring damals selbst am Philosophischen Institut der alten (bis 1945 nach ihrem Stifter König Friedrich Wilhelm III. benannten) Berliner Universität und war auf diese Weise am Neuaufbau der Hochschullandschaft der alten und neuen Hauptstadt beteiligt; hier habilitierte er sich auch im Jahr 2000. Im Roman taucht er selbst, leicht dechiffrierbar, unter dem Kürzel „M.“ auf; sein Gegenüber ist ein fiktiver, aus der früheren DDR übernommener Philosophiehistoriker „R.“, der allerdings etwas blass bleibt und dessen (nach Aussage des Verfassers) nach 1990 erfolglose Berufslaufbahn zum Schicksal Benekes in Parallele gesetzt wird; auch R. verschwindet nach erfolglosen Versuchen, sich im neu importierten „westlichen“ Wissenschaftssystem zurechtzufinden, in den neunziger Jahren plötzlich spurlos. Und R.’s durchaus verheißungsvolles Projekt einer „Alternativgeschichte“ der deutschen Philosophie an der Berliner Universität im 19. Jahrhundert, die nunmehr Beneke ins Zentrum der Darstellung zu rücken versucht – gegen die traditionelle Dominanz und Deutungshoheit der bekannten Groß* Reinhard Mehring: Landwehrkanal – Philosophische Novelle. Freiburg i. Br. – München (Verlag Karl Alber) 2019, 245 Seiten.

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ordinarien von Hegel über Trendelenburg und Zeller bis hin zu Dilthey – bleibt ungeschrieben. Das von R. über Beneke gesammelte Material gerät in die Hände M.’s, der aufgrund dessen, allerdings Wirklichkeit und Fiktion auch hier vermischend, das Lebensschicksal Benekes noch einmal rekonstruiert. Tatsächlich war Mehring zusammen mit anderen in den 1990er Jahren an einer Darstellung der Berliner Philosophiegeschichte beteiligt, in der auch Beneke – wenngleich nur am Rande – gewürdigt wird1, während er in der neuen „offiziellen“, zum zweihundertjährigen Jubiläum (2010) erschienenen Geschichte der Berliner Universität nur einmal knapp Erwähnung findet, hier wiederum hauptsächlich in seiner Eigenschaft als zweiter Gegner Hegels an der damaligen Philosophischen Fakultät neben Schopenhauer2. Die nunmehr von Mehring – auch anhand der einzigen, bereits mehr als einhundert Jahre alten Gesamtdarstellung zu Person und Werk3 – rekonstruierte und mit literarischen Mitteln anschaulich ausgemalte Biographie Benekes zählt tatsächlich zu den besonders traurigen verfehlten Karrieren der neueren deutschen Universitätsgeschichte, denn der junge Berliner Philosoph geriet seit den 1820er Jahren gewissermaßen unter die Räder der akademischen Machtpolitik der Restaurationszeit; vor allem wurde er das Opfer Hegels, dessen spekulativer Philosophie er damals einen explizit psychologisch-empirischen Denkansatz entgegensetzte, orientiert an der einstigen „Erfahrungsseelenkunde“ einer großen Gestalt der Berliner Klassik, Karl Philipp Moritz. Und Beneke brachte sogar das Kunststück fertig, sich durch eine äußerst kritische Rezension der „Welt als Wille und Vorstellung“ ebenfalls den überaus groben Polemiker Schopenhauer (beide hatten sich im gleichen Jahr in Berlin habilitiert) zum Feind zu machen.4 Hegel erreichte nicht nur als zuständiger Lehrstuhlinhaber, sondern auch dank seiner exzellenten Kontakte zum allmächtigen Kultusminister Altenstein, dass Beneke nur kurz nach seiner erfolgreich absolvierten Habilitation die Venia legendi von der Berliner Fakultät wieder entzogen wurde – mit der allzu fadenscheinigen Begründung, den Mitgliedern der Philosophischen Fakultät erschienen „die wissenschaftlichen Leistungen des Dr. Beneke nur mittelmäßig“, so dass sie daran zweifelten, „ob er auf seinem Wege je in die Tiefen der Wissenschaft eindringen könne“5; Benekes 1 Volker Gerhardt/Reinhard Mehring/Jana Rindert: Berliner Geist. Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie bis 1946. Mit einem Ausblick auf die Gegenwart der Humboldt-Universität, Akademie Verlag, Berlin 1999: 62 f. 2 Herbert Schnädelbach: Philosophie auf dem Weg von der System- zur Forschungswissenschaft. Oder: Von der Wissenschaftslehre zur Philosophie als Geisteswissenschaft, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Geschichte der Universität Unter den Linden, Bd. IV: Genese der Disziplinen. Die Konstitution der Universität, Berlin 2010: 151 – 196, hier: 184. 3 Otto Gramzow: Friedrich Eduard Benekes Leben und Philosophie. Auf Grund neuer Quellen kritisch dargestellt, phil. Diss. Bern 1899. 4 Vgl. ebd.: 39 – 48. 5 Eingabe der Philosophischen Fakultät an das Kultusministerium, 24. 1. 1822, abgedruckt in: Max Lenz: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. IV, Halle a. d. S. 1910: 476 f., hier: 476, dort auch die weiteren Dokumente zur Affäre, ebd.: 476 –

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1822 veröffentlichte Schrift mit dem – aus damaliger Sicht zugegebenermaßen provozierenden – Titel „Grundlegung zur Physik der Sitten“ hatte die Stimmung gegen ihn nur noch weiter angeheizt. Beneke musste anschließend für einige Jahre an die Universität Göttingen übersiedeln, konnte aber immerhin schon 1827 nach Berlin zurückkehren, wo er erneut lesen durfte, freilich nur als unbesoldeter Privatdozent und später als außerordentlicher Professor. Materiell überleben konnte er vermutlich nur dank der kleinen Einkünfte aus seiner fleißigen Buchproduktion und durch die Tatsache, dass er mit seinem Bruder, einem ebenfalls unverheirateten evangelischen Geistlichen, die Wohnung teilen konnte. Lange Jahre hindurch scheint er sich dennoch Hoffnung auf den Berliner philosophischen Lehrstuhl gemacht zu haben, den nach Hegels plötzlichem Tod 1830 dessen ziemlich unbedeutender, die zentralen Ideen seines Lehrers lediglich ausbuchstabierender Schüler Georg Andreas Gabler erhalten hatte. Nach Gablers Ableben im September 1853 schien nach mehr als zwei Jahrzehnten vergeblichen Wartens Benekes Stunde endlich gekommen, doch wiederum blieben seine Hoffnungen unerfüllt, denn nunmehr verhinderte der zweite philosophische Lehrstuhlinhaber Friedrich Adolf Trendelenburg zusammen mit den noch in Berlin lehrenden Hegelschülern eine späte Berufung Benekes. Und dieser musste nunmehr, nachdem sich auch frühere Hoffnungen auf eine Anstellung in Jena oder Göttingen nicht erfüllt hatten, seine akademische Karriere als gescheitert ansehen. Insofern liegt die Vermutung eines Freitodes zumindest nahe. Max Lenz, der in seiner großen, zum ersten Jubiläum von 1910 erschienenen Berliner Universitätsgeschichte ein konzises, durchaus von verhaltener Sympathie geprägtes Porträt Benekes gezeichnet hat6, vertrat schon vor mehr als einhundert Jahren die Auffassung, dessen Scheitern sei in etwa zu gleichen Teilen fremd- wie auch selbstverschuldet: Denn schon in seinen Anfängen habe sich das allzu große Selbstbewusstsein des gebürtigen Berliners Beneke gezeigt. Man dürfe wohl sagen, so Lenz, dass Benekes „Selbstgefühl nicht im Einklang stand mit dem, was er war, und was er wußte. Schon auf der Schule hatte er sich für einen großen Philosophen gehalten, und kaum war er von der Universität herunter, so hatte er die Prinzipien seiner Philosophie alle beieinander. So hatten es die großen Philosophen nicht gemacht“7.

Und auch Lenz deutet wenigstens an, dass der Philosoph nach dem Scheitern seiner letzten beruflichen Hoffnungen im Jahr 1854 vermutlich freiwillig „aus dem Leben schied“8. 484; vgl. ebenfalls Herbert Hömig: Altenstein – Der erste preußische Kultusminister. Eine Biographie, Münster 2015: 151 f. 6 Max Lenz: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. II/ 1, Halle a. d. S. 1910: 294 – 303, Bd. II/2, Halle a. d. S. 1918: 281, 288. 7 Ebd., Bd. II/1: 302, siehe auch 303! 8 Ebd., Bd. II/2: 288.

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Doch es kam noch etwas anderes hinzu: nämlich das Wirken der machtbewussten Berliner Großordinarien, die den allzu selbstbewussten jungen Mann nicht nur zurechtstutzten, sondern schließlich an den Rand drängten und sein weiteres Emporkommen konsequent verhinderten. Eine akademische Generation später hat Trendelenburgs bedeutendster Schüler und späterer Nachfolger Wilhelm Dilthey dies in einer unvollendet gebliebenen nachgelassenen Skizze über „Hegels Berliner Periode“ auch zugegeben, wenn er anmerkt, Hegel habe sich in den 1820er Jahren „nicht frei genug gegenüber den geringwertigen Werkzeugen“ gehalten, „denen sich die Reaktion jener Tage bediente. So ließ er sich fortreißen, an dem unheilvollen Schritt mitzuwirken, welcher in der Suspension Benekes von seiner Funktion als Privatdozent lag“. Insofern habe der Großdenker am Ende „seine Macht mit einem zu hohen Preis“ bezahlt. Überhaupt sei es, so Dilthey abschließend, „ein tragisches Schicksal großer Machtnaturen im wissenschaftlichen Leben, daß sie ihren herrschenden Einfluß mit Zugeständnissen erkaufen, … welche mit dem Charakter der wissenschaftlichen Arbeit und der in ihr begründeten Forderung eines objektiven, von den Sachen bestimmten Denkens nicht in Übereinstimmung stehen“9.

Aus den genannten Gründen wurde Beneke also nach seinem tragischen Tod 1854 rasch vergessen und selbst Dilthey hat ihn und sein durchaus beachtliches Werk nicht mehr rehabilitiert, obwohl er von Beneke – dessen Hörer er wohl um 1852/53 noch gewesen sein muss – einiges gelernt haben dürfte; später führte er freilich seine „verstehende“ Psychologie vornehmlich auf Anregungen Schleiermachers zurück. Von Hegels Biographen hat um 1900 nur Kuno Fischer (auf den sich Dilthey vermutlich stützte) die brutale Verdrängung Benekes unter Mitwirkung Hegels ausführlich zum Thema gemacht10. Unter den späteren hat immerhin noch Horst Althaus knapp auf Beneke hingewiesen, der, „obwohl er nie recht reüssierte, eine Zeitlang von sich reden machte, bis er sich aus Lebensüberdruß im Berliner Landwehrkanal ertränkte“11. In der allerneuesten, sehr umfangreichen Hegel-Biographie kommt der Name Beneke indessen nicht einmal mehr vor12. Er war und ist also noch immer ein Verschollener der deutschen Geistesgeschichte, obwohl er mit mehr als zwei Dutzend Monographien ein wenigstens vom Umfang her durchaus bemerkenswertes Œuvre aufzuweisen hat13. Man müsste eigentlich – das kann an dieser Stelle nur knapp angedeutet werden – die von Mehring in seinem Buch nur knapp angedeutete, bereits vor Jahren von Norbert Elias zur soziologischen Kategorie ausgearbeitete Dichotomie von „Etablierten“ 9 Wilhelm Dilthey: Hegels Berliner Periode, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. IV, Stuttgart – Göttingen 1959: 252 – 258, hier: 258. 10 Kuno Fischer: Hegels Leben, Werke und Lehre, Bd. I, Heidelberg 1901: 155 – 157. 11 Horst Althaus: Hegel und Die heroischen Jahre der Philosophie. Eine Biographie, München – Wien 1992: 598. 12 Klaus Vieweg: Hegel – Der Philosoph der Freiheit. Biographie, München 2020. 13 Siehe dazu das (vermutlich unvollständige) Schriftenverzeichnis bei Gramzow: Friedrich Eduard Benekes Leben und Philosophie (Anm. ##): 277 – 281.

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und „Außenseitern“ einmal auf die Wissenschaft und die Frage der Durchsetzungsfähigkeit neuer Ideen, Thesen und Konzeptionen anwenden. In Bezug auf die Entwicklung der literarischen Geschmacksbildung und der erfolgreichen Rezeption bestimmter literarischer Richtungen im jeweiligen „Zeitgeist und Zeitgeschmack“ hat bereits vor fast einhundert Jahren Levin L. Schücking Wegweisendes gesagt, der auf die Bedeutung von Modeströmungen, Manövern der Werbung, Einflüssen wichtiger Kritiker und anderes hingewiesen hat, um die immer wieder auftauchende und aus späterer Sicht kaum verständliche maßlose Überschätzung wie eben auch Unterschätzung bestimmter Autoren – als Zeitgeistgrößen einerseits, als Unzeitgemäße andererseits – erklären zu können14. Von ganz anderer Seite, aus der Nationalökonomie herkommend, hat Joseph Alois Schumpeter schon vor dem Ersten Weltkrieg darauf hingewiesen, dass sich die Durchsetzung neuer Auffassungen und Ideen in der Wissenschaft niemals „von selbst“ vollzieht, sondern stets „von einer kraftvollen Persönlichkeit aufgegriffen und durch ihren Einfluß durchgesetzt“15 werden muss. Im Berlin der 1820er Jahre verkörperte kein anderer als Hegel diese kraftvolle Persönlichkeit; Beneke konnte neben diesem akademischen Machtmenschen und höchst durchsetzungsfähigen Großordinarius nicht bestehen. Doch auch der zweite Aspekt der mehrere Zeitebenen ineinander verschränkenden, höchst komplexen philosophischen Novelle Mehrings darf nicht unbeachtet bleiben: Er liefert eine höchst anschauliche, wenn auch stilistisch etwas eigenwillige Schilderung sowohl des Neuanfangs der Humboldt-Universität nach „Wende“ und Wiedervereinigung als auch der eigenartigen Ab- und Aufbruchsatmosphäre im nunmehr ebenfalls wiedervereinigten Berlin der 1990er Jahre vor der Übersiedelung der Regierungsbehörden in die alt-neue Hauptstadt. Diese Jahre der akademischen Neuorientierung und des radikalen Umbruchs in den neuen Bundesländern sind in allen ihren vielfältigen Aspekten bisher kaum so drastisch-konkret und zugleich erfahrungsgesättigt – eben aus der Sicht eines direkt Beteiligten – dargestellt worden wie von Reinhard Mehring in den diesem Thema gewidmeten Abschnitten (Teil II: Nachwendezeit) seiner „Philosophischen Novelle“, die eben gerade nicht beansprucht, ein bloßer „Bericht“ zu sein, „wie es eigentlich gewesen“, sondern sich die Freiheiten des literarischen Textes herausnimmt, die Dinge auszuschmücken, zuzuspitzen, und in dialogischer Form zu konkretisieren. Und das ist dem Verfasser – diejenigen, die ebenfalls Gelegenheit hatten, das akademische Neu-Berlin der neunziger Jahre von innen kennenzulernen, werden es bestätigen – in exzeptioneller Weise gelungen. Eine letzte Dimension dieses ebenso eigenartigen wie bemerkenswerten Buches ist in der Thematisierung einer Besonderheit des deutschen akademischen Systems, die sich seit dem frühen 19. Jahrhundert bis heute durchgehalten hat, zu sehen: dem von Max Weber 1919 in seinem Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ so deutlich-dras14 Levin L. Schücking: Soziologie der literarischen Geschmacksbildung, 3. Aufl. Bern 1961 (zuerst 1923). 15 Joseph Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Leipzig 1912: 543.

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tisch charakterisierten „Hasard“ des Privatdozententums, das er damals zu Recht mit der Teilnahme an einem Glücksspiel verglich. Zwar herrsche, merkte Weber hier an, nicht ausschließlich der Zufall, „aber er herrscht doch in ungewöhnlich hohem Grade. Ich kenne kaum eine Laufbahn, wo er eine solche Rolle spielt“. Und gerade aus diesem Grund sei immer wieder ausdrücklich an „das unverdiente Schicksal der vielen“ zu erinnern, „die trotz aller Tüchtigkeit innerhalb dieses Ausleseapparates nicht an die Stelle gelangen, die ihnen gebühren würde“; nicht zuletzt liege es auch „an der Unzulänglichkeit der Auslese durch kollektive Willensbildung“, dass sich das akademische Leben in Deutschland, zugespitzt formuliert, nicht selten als „ein wilder Hasard“ erweise16. Mehring illustriert Webers bekannte Formulierungen nicht nur anhand der literarischen Rekonstruktion des traurigen Schicksals von Friedrich Eduard Beneke, der jenem System am Ende zum Opfer fiel, sondern auch am Beispiel des (stark autobiographisch gezeichneten) Protagonisten M., dessen „Blatt nach der Habilitation“ im Jahr 2000 „ziemlich ausgereizt war“, denn das „HU-Abenteuer war Urlaub vom Leben gewesen, nun winkte Asphalt. M. hatte stets damit gerechnet, dass ein Sturz aus dem Elfenbeinturm anstand“17, doch am Ende fiel er auf den weichen Rasen, denn seinen „Plan B“ konnte er, da er Staatsexamen und Referendariat absolviert hatte, umgehend in die Wirklichkeit umsetzen; er überbrückte die sieben Jahre als unbesoldeter Privatdozent an der Humboldt-Universität bis zum Ruf an eine kleine süddeutsche Hochschule als Lehrer an einer Realschule seiner rheinischen Heimatstadt. Das entsprach und entspricht in der Tat, wie er sagt, dem „akademischem Usus“18 und galt bereits im neunzehnten Jahrhundert – denn Gestalten wie Beneke gab es nicht nur in der Philosophie, sondern auch in anderen Dosziplinen, beispielsweise in der Geschichtswissenschaft. Das Schicksal des Ranke-Schülers Rudolf Köpke (1813 – 1870) ähnelt in mancher Hinsicht erstaunlich demjenigen Benekes19. Klein, verwachsen und stets kränklich, lebte auch Köpke lebenslang bei seinen Eltern und konnte sich beruflich nach der Promotion nur mühsam als Gymnasiallehrer, anschließend als Editor lateinischer Quellen beim ersten historischen Forschungsinstitut, den „Monumenta Germaniae Historica“, durchschlagen. 1846 an der Friedrich-Wilhelms-Universität habilitiert, scheiterte sein 1851 gestellter Antrag auf Ernennung zum außerordentlichen Professor; vom Minister von Raumer erhielt er eine „abschlägige Antwort: die Facultät wäre wegen Ueberfüllung mit Docenten gegen seine Ernennung gewesen“20. Erst 16 Max Weber: Wissenschaft als Beruf (1919), in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. Johannes Winckelmann, 4. Aufl. Tübingen 1973: 582 – 613, hier: 585 f., 588. 17 Mehring: Landwehrkanal (Anm. *): 163. 18 Ebd. 19 Siehe dazu die knappe Lebensdarstellung seines Schülers Wilhelm Bernhardi: Einleitung, in: Rudolf Köpke: Kleine Schriften zur Geschichte, Politik und Literatur, hrsg. v. F. G. Kiessling, Berlin 1872: 1 – 17. 20 Ebd.: 15.

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1856 wurde er zum Extraordinarius ernannt, verfasste die Gründungsgeschichte zum fünfzigjährigen Jubiläum seiner Universität21, musste jedoch, um seinen Lebensunterhalt zu sichern, neben der Lehre an der Universität auch noch bis 1867 an der Kriegsakademie vor angehenden Offizieren Vorlesungen halten. Als sich endlich – Köpke stand bereits in seinem 57. Lebensjahr – Aussicht auf Ernennung zum ordentlichen Professor ankündigte, wollte die ohnehin schwache Physis nicht mehr; er starb im Juni 1870. Köpke scheint, nach allem, was bekannt ist, wohl eine ausgeglichenere, zufriedenere und vor allem weniger ehrgeizige Natur als Beneke gewesen zu sein. Gleichwohl illustriert auch sein Schicksal das Wirken des akademischen „Hasards“, der eben nicht nur einem Glücksspiel gleicht, sondern den Einfluss der Kontingenz im akademischen Berufsleben immer wieder am konkreten Beispiel aufzeigt. Auch die Berufsexistenz als akademischer Lehrer ist, um hier abschließend Hegel zu paraphrasieren, nicht der Boden des Glücks.

21 Rudolf Köpke: Die Gründung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1860.

Vittorio Hösle und Florian Meinel über die Lage vor den Corona-Zeiten Von Reinhard Mehring Die weltgeschichtliche Beschleunigungsdynamik der letzten Jahre verlangt immer atemloser nach deskriptiven Übersichten und normativen Orientierungen. Zwei – thematisch differente, einander ergänzende – essayistische Analysen der Welt vor Corona seien dafür hier vorgestellt: Vittorio Hösles „geschichtsphilosophische Kartierung der Gegenwart“ sowie Florian Meinels Analyse des Verfassungswandels im Gewaltengefüge der neuen Bundesrepublik. Beide Autoren gehen vom Epochenwandel nach 1989 aus und konstatieren neuere, kritische Entwicklungen. Hösle spricht von „globalen Fliehkräften“ zwischen den Weltmächten; Meinel stellt den bundesdeutschen Tendenzen zum Exekutivregime die parlamentarische „Vertrauensfrage“. Beide monographische Großessays verbinden ingeniöse Detailbeobachtungen mit analytischer Zielführung, scharfen Thesen und Resultaten. Beide sind höchst anspruchsvoll und lesenswert. I. Vittorio Hösle (*1960) lehrt schon lange als Philosoph in den USA (University of Notre Dame) und vertritt in weltweit gelesenen Büchern einen von Platon und Hegel ausgehenden „objektiven Idealismus“.1 Sein neues Buch Globale Fliehkräfte bezeichnet er als „zeitanalytische Gelegenheitsschrift“ und weiterführenden „Anhang“ (S. 14) zu seinem grundlegenden „Hauptwerk“ Moral und Politik von 1997.2 Wie der einstige Bundespräsident Horst Köhler in seinem Geleitwort berichtet und Hösle im Vorwort (S. 17) bestätigt, ging ein Anstoß zur Niederschrift dieser „geschichtsphilosophischen Kartierung“ von einem abendlichen Gespräch aus, bei dem Hösle sein „Panorama“ entfaltete. Köhler bemerkte damals dazu: „Hätte ich besser mal mitgeschrieben.“ (S. 10) Man muss Hösle dankbar sein, dass er dieses Panorama entfaltete. Nach dem kurzen Vorwort eröffnet er seine Kartierung mit einer Kontrastierung der „Hoffnungen von 1991“ mit dem doppelten „Schock von 2016“: dem Brexit-Referendum sowie, vor allem, der Wahl von Donald Trump. Für diese Spannung der Hoffnungen spricht Hösle auch von einem „goldenen Vierteljahrhundert“. Er fügt der Rede vom „langen“ 19. und „kurzen“ 20. Jahrhundert also, wohl analog zur 1 2

Dazu u. a. Hösle, 1987, 2004, 2006 und 2018. Vgl. Hösle, 1997.

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Rede von den wenigen „goldenen Jahren“ der Weimarer Republik, eine kurze Epoche der Hoffnungen auf die USA als „milder Hegemon einer unipolaren Welt“ (S. 174) hinzu, die sich nach der Auflösung der Sowjetunion ergab und heute in der Selbstzerstörung ihrer weltpolitischen Autorität unter Trump endet. Die geschichtsphilosophische Kartierung ist also global akzentuiert: Hösle analysiert die fahrlässige und mutwillige Beschleunigung des Ausscheidungskampfes und Hegemoniewechsels seit George W. Bush und Donald Trump. Ein einziges Mal riskiert er dafür eine geschichtstheologische Formulierung, die nicht nur witzig gemeint ist: „Wenn es erlaubt ist, geschichtstheologisch zu sprechen, darf man die Vermutung wagen, zuerst der zweite Bush, dann aber ganz besonders Trump seien subtile Mittel der göttlichen Vorsehung, die US-amerikanische Hegemonie zu einem Ende zu bringen. In der Wahl einer Cartoon-Figur wie Trumps zeigt sich ein erstaunlicher Sinn Gottes für Humor.“ (S. 70)

Man könnte sich darüber verwundern, dass Hösle das „goldene“ Interim unipolarer Hegemonie bis 2016 datiert, es also nicht bereits mit der Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts enden lässt, dem 11. September 2001, in dessen Folge der Nahe und Mittlere Osten in Krieg und Bürgerkrieg versanken und der „War on Terror“ das klassische Völker- und Kriegsrecht erodierte. In weltpolitischer Perspektive betrachtet Hösle wohl aber selbst solche Katastrophen noch als mehr oder weniger regionale Konflikte, die den Ausscheidungskampf der Imperien nicht unmittelbar betreffen. Hösle denkt universalistisch und verbindet Platon und Hegel dabei mit Vico, Spengler und sachlich auch Hobbes: mit einem scharfen Realismus und Naturalismus, der mit möglichen „großen Kriegen“ und einem Untergang der westlichen „Spätmoderne“ (S. 196) rechnet. Er formuliert dabei mitunter so deutlich und drastisch, wie es mancher vom „objektiven Idealisten“ nicht erwarten würde: „Der Mensch bleibt aufgrund seiner biologischen Natur, zumal seiner Instinktreduktion, ein hochgefährliches und gefährdetes Tier, und alle Zivilisation ist ein aufgesetzter Lack, der viel schneller abblättern kann, als der behagliche Bildungsbürger denkt. Insofern allgemeiner Wohlstand dies leicht in Vergessenheit geraten lässt, trägt er den Keim des kulturellen Verfalls und damit der eigenen Unterhöhlung in sich.“ (S. 127)

Der Imperiendiskurs nahm nach dem Ende des „Kalten Krieges“ und Fukujamas Provokationen bald neuen Auftrieb. Eine brillante Globalgeschichte der Ausscheidungskämpfe vom Aufstieg und Untergang der Reiche publizierte in Deutschland unlängst etwa Ulrich Menzel.3 Hösles Globale Fliehkräfte unterscheiden sich von solchen historischen und politikwissenschaftlichen Übersichten durch die essayistische Anlage, die US-amerikanische Erfahrung, den aktuellen Ansatz beim „Schock von 2016“, diesem „annus horribilis“ (S. 13) einer neuen Krisenbeschleunigung, sowie der Orientierung an naturrechtlichen Klassikern. Hösle schreibt nicht als Sozialwissenschaftler, sondern als engagierter Weltbürger, mit enormem Detailverstand, unerbittlicher Konsequenz und normativem Impetus. Der Essay versteckt seine philosophische Tiefenschicht und Botschaft dabei hinter signifikanten tagespolitischen Beobachtungen. Karl Rosenkranz überlieferte einst aus Hegels Jenaer Auf3

Vgl. Menzel, 2015. Dazu meine Besprechungsabhandlung, 2018: 181 – 204.

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zeichnungen: „Das Zeitungslesen des Morgens früh ist eine Art von realistischem Morgensegen.“4 Dieser Realismus frommt auch Hösles Kartierung. Aus der US-Tagespolitik sammelt er treffende Mosaiken zur Charakterologie des populistischen Politikertypus; mit Platon analysiert er die „Zersetzung politischer Rationalität“ in Zeiten des Politainment und der „Mediendemokratie“. Trump steht dabei als aktueller Ausgangspunkt, Risikofaktor und symptomatisches „Genie des Populismus“ (S. 54) im Zentrum. Scharf unterscheidet Hösle, ähnlich wie einst Carl Schmitt, zwischen Liberalismus und Demokratie (S. 96 ff.); er plädiert und argumentiert dabei aber, anders als Schmitt, für einen Primat des politischen Liberalismus und ethischen Universalismus. Hösle spricht von einer „antiglobalistischen Revolute“ (S. 71) des neuen Nationalismus und Irrationalismus und betrachtet den Aufstieg des Populismus, der mit Trumps Präsidentschaft zum weltpolitischen Risikofaktor wurde, im Horizont von Platons klassischer Demokratiekritik und Tyrannislehre (S. 122 f.); Politainment und „Trash-Politik“ (S. 115) bezeichnet er als Abkehr vom „meritokratischen“ Standard des Liberalismus. Nach seiner scharfen Profilierung der Selbstzerstörung der weltpolitischen Autorität der USA unter Trump geht Hösle dann die alternativen Kandidaten durch; auch hier finden sich viele interessante Beobachtungen im Detail. Grundsätzlich sieht Hösle die Notwendigkeit einer hegemonialen Ordnung der Weltpolitik: „Ganz allgemein gilt: Machtvakuen sind nicht von Dauer. Wenn die EU nicht in der Lage ist, diese Lücke [des verantwortungslosen Rückzugs der USA unter Trump] auszufüllen, werden China und Russland es tun.“ (S. 143)

Der EU traut Hösle aufgrund ihrer losen Verfassung als Staatenbund keine hegemoniale Rolle und Führungskraft zu. Die heterogenen Fliehkräfte seien zu groß, der Spagat gleichzeitiger Erweiterung und Vertiefung konfligiere (S. 151). Moralisch betrachtet sei die EU in der „Asymmetrie von Handeln und Unterlassen“ (S. 160) zwar nur zur „selektiven“ und verteilungsgerechten Einwanderungspolitik verpflichtet; ihre Verfassung sei aber als Staatenbund aufgrund ihrer mangelnden Handlungsfähigkeit für eine weltpolitische Führungsrolle nicht disponiert. „Es bleiben somit für die nächste Zeit nur China und Russland als globale Mächte neben der USA“ (S. 174), konstatiert Hösle nüchtern. Dieser Befund ist an sich zwar wenig originell; Hösle entwickelt ihn aber in prägnanter Sondierung der Kandidaten, wobei er auch auf ein eigenes Büchlein zur politischen Kultur Russlands zurückgreifen kann.5 Sein Essay überzeugt in der klaren Anlage, dichten Fülle tagesaktueller Beobachtungen, der originären Durchdringung des Stoffes mit platonischen Motiven und Problemstellungen. Seine Analyse mündet in das weltpolitische Krisenszenario, dass die USA ein vernünftiges Arrangement mit China, eine „Dyarchie von USA und China“ (S. 181), unter Trump gerade fahrlässig verspielen und das nationalistisch gedemütigte Russland zum Schulterschluss mit China treiben, sodass ein Bündnis 4 5

Vgl. Rosenkranz, 1844: 543. Vgl. Hösle, 2017.

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Russlands mit China als mögliches Horrorszenario und Ende der westlichen Kultur droht. Hösle schreibt dazu abschließend alarmistisch: „Die Menschheit mag leicht auf eine vorindustrielle Kulturstufe zurückgeschleudert werden und Jahrhunderte damit verbringen, eine existentiell tiefer verankerte Moral wiederzugewinnen, als der Spätmoderne zur Verfügung steht. Ich verzichte darauf, diesen Prozess im Detail auszumalen. Zu erwähnen ist allerdings, dass im Falle eines Sieges Russlands und Chinas über einen immer mehr geschwächten Westen ein Endkampf der asiatischen Weltmächte um die Weltherrschaft wahrscheinlich wäre. Und aufgrund der viel größeren Bevölkerung und der überlegenen Wirtschaft ist es viel plausibler, dass China der Sieg zufallen würde. Die jahrtausendealte Kultur würde wohl wirksamer sein als selbst Putins brillantes geostrategisches Denken. Vielleicht mag diese Perspektive Russland vor zu enger Zusammenarbeit mit China abschrecken. Denkbar ist natürlich auch, dass sich beide Mächte wechselseitig zerstören und die Weiterentwicklung der Menschheit hauptsächlich in der südlichen Hemisphäre erfolgen wird, primär in Afrika und Lateinamerika, mit Australien und Neuseeland als letzten Überbleibseln dessen, was einst westliche Kultur war.“ (S. 196)

Solche hypothetischen Überlegungen und Szenarien mögen sich sozialwissenschaftlich verbieten. Sie widersprechen, mit Hösle gesagt, auch „Hegels Passatismus: Die Philosophie ist Erinnerung, Rückblick auf das Vergangene, nicht Prolepse und Entwurf des Kommenden, Sein-Werdenden.“6 Dem politischen Bürger und Denker aber ziemt die Sorge um die mögliche Zukunft. Hösles aktuelle Standortbestimmung ist wenig ermutigend; zur „geschichtsphilosophischen“ Orientierung wird sie durch ihre normative Option für den ethischen und politischen Universalismus. Hösle stellt Trump nicht eingehend in die Geschichte und spricht nicht politikwissenschaftlich vom Schwanken der US-Außenpolitik zwischen Interventionismus und Isolationismus, weil seine Analyse des Politikertypus über die politics-Dimension hinaus auf die „Zersetzung“ der liberalen politischen Kultur und Rationalität abzielt. Sein Essay wirft die beunruhigende Frage auf, ob eine Revitalisierung der liberalen und universalistischen Vernunft zu erwarten ist. Dabei knüpft Hösle seine Hoffnungen an einen neuen religiösen Universalismus. So schreibt er: „Letztlich ist die Herausbildung einer rationaleren Form von Universalreligion, die gleichzeitig im Prinzip allen zugänglich ist, das eigentliche Desiderat einer globalisierten Welt.“ (S. 200) Fehlen dafür aber nicht die politischen Voraussetzungen? Zeigt sein Essay nicht eigentlich, wie sehr das Projekt des ethischen und politischen Universalismus an die Formierung der „westlichen“ Hegemonie gebunden war und mit dem aktuellen Ausscheidungskampf und Übergang zur Vorherrschaft Chinas untergeht? Lässt sich auf eine Liberalisierung von Russland und China und einen resultierenden multipolaren, neuen Universalismus wirklich hoffen? In seinem Buch Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie betonte Hösle 2013, dass der deutsche Idealismus die ältere philosophische Mystik beerbte und als „Rückkehr zum Rationalismus Eckharts“ rekonstruiert werden könne.7 In den Globalen Fliehkräften schreibt er auch: 6 7

So Hösle, 1988: 424. Hösle, 2013: 31. Dazu meine Rezension, 2014: 146 – 152.

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„Der ethische Universalismus ist genetisch ein Resultat der Universalreligionen, auch wenn die Aufklärung dachte, durch die Überwindung des Partikularismus aller geschichtlich gewordenen Religionen einer noch nobleren Ethik vorzuarbeiten, ist die gegenaufklärerische Revolte gegen den Universalismus leider das viel wahrscheinlichere Resultat der Krise der Hochreligionen – zumal nachdem die postmoderne Philosophie jeden Glauben an allgemeine Normen im Namen der Differenz zersetzt hat.“ (S. 135 f.)

Was lässt dann auf ein universalistisches Weltethos hoffen? Mit einer interkulturell angelegten, wahrhaft universalistischen Religionsphilosophie ist es noch nicht da. Vielleicht wird Hösle aber einmal eine universalistische Antifuge als positives Gegenstück zur Krisenanalyse der Fliehkräfte schreiben. Wer sonst könnte es wagen?

II. Während Hösle weltpolitische Mächteverschiebungen analysiert, blendet Meinel die internationalen und europapolitischen Rahmenbedingungen der bundesrepublikanischen Verfassungsentwicklung weitgehend ab und beschränkt sich auf eine Analyse der Verschiebungen im Gewaltengefüge der „klassischen“ rechtsstaatlichen Verfassungsorgane. Wie Hösle verbindet er dabei in brillanter Weise prägnante Detailbeobachtungen mit grundsätzlichen Trendaussagen. Während Hösle die USA unter Trump erörtert, betrachtet Meinel die deutsche Entwicklung im beiläufigen Vergleich mit dem „klassischen“ Parlamentarismus Englands, ohne auf die jüngsten Erosionen seit der Brexit-Entscheidung und Johnson einzugehen. Der Titel Vertrauensfrage signalisiert eine doppelte Anlage: Einerseits bezieht er sich auf das aktuelle Szenario am Ende der Ära Merkel, dass die Kanzlerin durch eine Vertrauensfrage den Weg zu Neuwahlen eröffnen könnte; andererseits stellt Meinel dem bundesdeutschen Parlamentarismus die Vertrauensfrage, ob die parlamentarische Regierungsform positiv entwickelt ist. Im Ergebnis meidet er eine einfache Antwort. Einerseits zeigt er auf, wie sich Institutionen parlamentarischer Regierungstechnik auch jenseits starker Verrechtlichung praktisch ausgestalteten und andererseits konstatiert er einen Zug zur Verschiebung der Gewaltenverhältnisse in Richtung eines Exekutivregimes. Meinel (*1981) lehrt seit 2018 als Nachfolger von Horst Dreier Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie in Würzburg. Seine souveräne Darstellung schließt thematisch an die Habilitationsschrift Selbstorganisation des parlamentarischen Regierungssystems an.8 Das Verhältnis der beiden Studien zueinander ist hier nicht zu erörtern. Seit seiner Dissertation über Ernst Forsthoff wurde Meinel einem weiteren Publikum durch zahlreiche prägnante Beiträge (auch im Merkur oder der FAZ) schnell bekannt.9 Für einen noch jungen Autor verfügt er über ein erstaunlich breites und abgeklärtes verfassungshistorisches Wissen und einen klaren, weiten und offe8 9

Vgl. Meinel, 2019. Vgl. Meinel, 2011.

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nen verfassungspolitischen Blick. Obgleich er an Autoren wie Carl Schmitt und Forsthoff geschult ist, sich auch in der Carl Schmitt-Gesellschaft engagiert, ist sein – inzwischen auch von der Bundeszentrale für politische Bildung vertriebener – Essay alles andere als eine Variation auf Schmitts Parlamentarismuskritik oder dessen Apologie eines „starken“ Exekutivregimes. Meinel schreibt vielmehr in einer Linie der Parlamentarismusanalyse nach Max Weber10 und Wilhelm Hennis.11 Seine Studie ist eher didaktisch als doktrinär gehalten, argumentiert mit einer überbordenden Fülle signifikanter Beobachtungen und zielt auf tragende Einsichten in das Zusammenspiel der Akteure und Institutionen. Meinel meidet den alarmistischen Krisendiskurs, der im Untertitel etwas reißerisch anklingt. Sein verhalten optimistisches Panorama resultiert dem „dezisionistischen“ Grundansatz, dass parlamentarische Verfassungen auf die Regierbarkeit zielen und Politikfähigkeit als Entscheidungskompetenz generieren sollen. Der lange Schatten Max Webers, den auch Hennis suchte, zeigt sich eingangs schon im Ausgang von den „dualistischen Voraussetzungen“ des Bund-Länder– und Regierungs-Verwaltungs-Dualismus. Dabei spricht Meinel nicht eingehender von den Pfaden und Hypotheken, die den bundesdeutschen Parlamentarismus durch den Föderalismus belasten. Mit hohem Tempo zielt er auf die Verschiebungen im „klassischen“ Gewaltengefüge. Der Forsthoff-Experte betrachtet die relative Eigenlogik der Verwaltung, die „bürokratische Herrschaft“, dabei als ein zentrales Ausgangsproblem, das den deutschen Demokratisierungspfad auch nach 1919 prägte: „Die Bürokratie war als Verfassungsfaktor sozusagen gesetzt“ (S. 52): „Die Verwaltungsstaatlichkeit und der sogenannte Vollzugsföderalismus deutscher Prägung hatten von Anfang an eine scharf antiparlamentarische Pointe.“ (S. 24) Meinel schlägt eine Brücke von 1919 zu 2019. Vom Anfang und Ende dieser Parlamentarisierungsgeschichte her stehen seinem Essay jüngste Debatten zu den anfänglichen Möglichkeiten und Perspektiven der Weimarer Republik wie zum Ende der Ära Merkels Pate. Webers wegweisende Studie Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland stand an der Wiege der Demokratisierung Deutschlands und feierte gerade 100. Geburtstag. In der Linie Max Webers (1864 – 1920) und des Freiburger Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis (1923 – 2012) spricht auch Meinel noch von einem „Ballast des Bismarck’schen Erbes“ (S. 25). Während Weber aber Bürokratie und Demokratie in einen Gegensatz brachte und Probleme der Parlamentarisierung und Demokratisierung in der Spannung zur „bürokratischen Herrschaft“ erörterte, stellt Meinel dem bundesdeutschen Parlamentarismus, wie einst Hennis, die Frage nach seiner Regierbarkeit, nach dem Regierungswillen und der Regierungstechnik. Manche aktualisierende Bemerkung gehört dabei zur essayistischen Bedeutungsschicht der Studie; so spricht Meinel eingangs eher beiläufig von aktuellen Herausforderungen durch die AfD, die der Bundesrepublik die „Verfassungsfrage“ (S. 10) stelle. Analytisch zielt er aber mehr auf das „Erbe Merkels“ 10 11

Vgl. Weber, 1918 und 1919. Vgl. Hennis, 1999 und 1998.

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(S. 35 ff.): auf die aktuelle Form der „Verklammerung von Parlament und Regierung“ (S. 29), die Meinel als „institutionellen Kern der Verfassung der Bundesrepublik“ bezeichnet. Dafür geht er von einer „verfassungsgeschichtlichen Skizze des parlamentarischen Regierungssystems“ seit 1919 aus. Er betont die Abkehr von individueller Ministerverantwortlichkeit und den Ausbau der „Kanzlerdemokratie“ seit Adenauer und stellt hier, wie einst Baring,12 die zentrale Rolle des Bundeskanzleramts als „Regierungszentrale“ und Agendasetter (S. 67 ff.) heraus. Er zeigt, wie die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den strategischen Umgang von Kohl und Schröder mit der Vertrauensfrage akzeptierte und das Institut als sehr elastisches, fast uneingeschränktes „freies Auflösungsrecht“ (S. 77) interpretierte. Meinel betrachtet Verfassungsrecht selbstverständlich politisch und bezieht politikwissenschaftliche Befunde und Betrachtungsweisen methodisch innovativ in seine juristische Analyse ein. Er meidet starke normative und legitimatorische Aussagen und wählt deshalb auch eine spröde und nüchterne Semantik, ohne im Rahmen seines Essays in positiv grundlegende verfassungstheoretische oder rechtsphilosophische Überlegungen einsteigen zu wollen. Begrifflich spricht er deshalb recht abstrakt und funktionalistisch nur von „Verklammerung“ oder einer „Entkoppelung“ und „Informalisierung“ der „Vermittlungsinstitutionen“ von Parlament und Regierung. Viele aktuelle Aspekte und Entwicklungen thematisiert und assoziiert er im Detail. So erörtert er die Erosion der Volksparteien und gegenläufige Tendenzen, einen regierungsfähigen „Handlungsverbund“ zu schmieden. Parteipatronage, beispielsweise, sei einem Arbeitsparlament unerlässlich. Das Bundesverfassungsgericht habe den „Gesetzesvorbehalt“ allerdings so weitläufig interpretiert, dass es das Parlament als „Legitimationsmaschine“ überlastete. Dagegen erinnert Meinel um der Entscheidungs- und Regierungsfähigkeit willen an Thomas Hobbes‘ Auslegung von Repräsentation als „Autorisierung“ (S. 101). Vor allem hier deutet er die Aufgabe einer theoretischen Vertiefung seines Essays in Richtung eines Repräsentationsbegriffs an, der wahlrechtliche Konsequenzen aus der Spannung von Liberalismus und Demokratie zieht. Eine systematische Antwort und starke Vorschläge für die aktuelle Wahlrechts- und Wahlkreisdiskussion bietet er aber nicht. Allzu knapp deutet er nur an, dass einige pragmatische Probleme des aktuellen Parlamentarismus auf das Repräsentationsverständnis zurückgehen: „Auf eine kurze Formel gebracht, kann man sagen: Die Repräsentationsidee des Mehrheitswahlrechts beruht auf bürgerlicher Egalität und Arbeitsteilung, die des Verhältniswahlrechts dagegen auf der politischen Artikulation von Gruppeninteressen in der ,organisierten Moderne‘. Zu beiden führt kein Weg zurück.“ (S. 122)

Eingehend diskutiert Meinel aktuelle Probleme und Fragen der Regierungsbildung:13 so die immer schwieriger und detaillierter werdenden Koalitionsverhandlun12 13

Vgl. Baring, 1982. Zur Regierungsbildungskrise von 2017/18 vgl. Mehring, 2019: 23 ff.

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gen sowie die wachsende Bedeutung des Bundespräsidenten im Fall von geschäftsführenden Präsidialregierungen oder Minderheitsregierungen. Meinel spricht für die Große Koalition von einem „Supermajoritätsproblem“, auf das das Bundesverfassungsgericht auch mit einer Tendenz zur „Gegenrepräsentation“ (S. 150) und „Verfassungsidentitätskontrolle“ geantwortet habe. Problematischer noch sei aber die mit der Ausdehnung des Gesetzesvorbehaltes gegebene „Überflutung des Bundestages mit Umsetzungsgesetzgebung“: „Europarechtlich genügt […] in aller Regel die Umsetzung durch Rechtsverordnungen der Bundesregierung. Es ist das deutsche Verfassungsrecht, das die starke Einbindung des Bundestages in die Umsetzungsgesetzgebung fordert.“ (S. 155)

All diese Entwicklungen führten zu einer „Entgrenzung“ der Aufgaben des Bundeskanzleramtes. Meinel spricht von einem Zug zur „Präsidentialisierung“ (S. 159) und zu einem „monokratischen Modell mit einem völlig herausgehobenen Kanzler“ (S. 163) und konstatiert insgesamt einen Ausbau der Kanzlerdemokratie als Exekutivregime. Plastisch zeigt er nicht zuletzt an Geschäftsordnungsfragen, wie die parlamentarische Kontrolle der Regierung vielfältig zurückgedrängt wurde und an Macht und Kompetenz verliert. Es fehle an offenen und direkten Formaten, Kontrolle werde als Informationsrecht und „Beobachtungspflicht“ ausgelegt und durch die „Agendamacht“ der Regierung geradezu mundtot gemacht. Abschließend argumentiert Meinel in dieser Lage gegen vereinzelte Hoffnungen, das Szenario möglicher Minderheitsregierungen biete jenseits unbestrittener Probleme auch effektive Chancen für eine „Renaissance des Parlamentarismus“ (S. 197 ff.). Meinel befürchtet vielmehr, ähnlich wie einst Weber, einen „Rückfall in die Beamtenherrschaft“ (S. 207 ff.): „Ob eine aus der jetzigen Situation hervorgegangene Minderheitsregierung die politische Kraft hätte, einer […] Auflösung eingespielter Handlungsmuster etwas Neues entgegenzusetzen, gar den Parlamentarismus neu zu beleben, ist eine naive Hoffnung.“ (S. 206)

Meinel zeigt, wie sich die Kanzlerdemokratie in der Krise der Volksparteien und eines schwachen Parlamentarismus neue Machtinstrumente zu verschaffen wusste. Mit dem Titel seiner Habilitationsschrift bezeichnet er das wohl als Selbstorganisation des parlamentarischen Regierungssystems. Die Bedeutung dieser Parlamentarismuskritik über Weber und Hennis hinaus liegt in der Analyse der aktuellen Gewaltenverschiebungen in Richtung Exekutivregime sowie der Perspektiven einer Minderheitsregierung auf Bundesebene. Meinel problematisiert das mögliche Ende der Ära Merkel im Ende der großen Koalition. Auswege deutet er kaum an und lässt auch die Zukunft offen. Der Name Kramp-Karrenbauer fällt sowenig wie derjenige anderer Prätendenten. Verglichen mit Weber, der Grundschrift neuerer Parlamentarismusanalyse, ist das Szenario konkurrierender Gewalten ungleich komplexer: Meinel schreibt nicht in der Antithese von „bürokratischer Herrschaft“ und parlamentarischer Regierung. Seine Antithese von „Beamtenherrschaft“ und Kanzlerdemokratie bleibt auch unausgeführt. Dafür zeigt er plastisch eingehend und brillant, wie der bundesdeutsche Parlamentarismus aus vielerlei Gründen gegenüber

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dem Exekutivregime des Bundeskanzleramtes an Boden verliert. Symptomatisch ist hier und heute dafür nicht nur Merkels spröder Verzicht auf eine öffentliche und offene Erklärung ihrer Politik, sondern etwa auch die Verdunklung der Rolle des Kanzleramtschefs im Übergang von Peter Altmaier zu Helge Braun, dessen Name im Essay nicht fällt. Im Sommer 2019, als Meinel seinen Text verfasste, stand das Ende der Groko mit dem künftigen Parteivorsitz der SPD förmlich sichtbarer auf der Agenda als heute. Szenarien eines vorzeitigen Ende von Merkel IV, schwieriger Koalitions- und Regierungsbildungen und drohender Minderheitsregierungen sind heute aber so aktuell wie 2018 oder 2019. Gut zu wissen, dass es hier noch gewichtige akademische Stimmen gibt und der Bundesrepublik wenigstens noch die Staatsrechtslehre als konstruktiver Hüter der Verfassung bleibt. In der Corona-Krise sind sie gerade (im Frühjahr 2020) neu gefordert.

Besprochene Literatur Hösle, Vitorio (2019): Globale Fliehkräfte: Eine geschichtsphilosophische Kartierung der Gegenwart. Mit einem Geleitwort von Horst Köhler. 2. Auflage. Freiburg: Alber-Verlag, 224 S. Meinel, Florian (2019): Vertrauensfrage: Zur Krise des heutigen Parlamentarismus. München: C.H. Beck-Verlag, 238 S.

Ergänzende Literatur Baring, Arnulf (1982): Im Anfang war Adenauer: Die Entstehung der Kanzlerdemokratie. München: Deutscher Taschenbuchverlag. Hennis, Wilhelm (1999): Regieren im modernen Staat: Politikwissenschaftliche Abhandlungen I. Tübingen: Mohr Siebeck. – (1998): Auf dem Weg in den Parteienstaat. Aufsätze aus vier Jahrzehnten. Stuttgart: Reclam. Hösle, Vittorio (1987/1988): Hegels System: Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität. 2 Bde. Hamburg: Meiner. – (1997): Moral und Politik: Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert. München: C.H. Beck. – (2004): Platon interpretieren. Paderborn: Schöningh. – (2006): Der philosophische Dialog: Eine Poetik und Hermeneutik. München: C.H. Beck. – (2013): Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie: Rückblick auf den deutschen Geist. München: C.H. Beck. – (2017): Russland 1917 – 2017: Kultur, Selbstbild und Gefahr. Basel: Schwabe-Verlag. – (2018): Kritik der verstehenden Vernunft: Eine Grundlegung der Geisteswissenschaften. München: C.H. Beck. Meinel, Florian (2011): Der Jurist in der industriellen Gesellschaft: Ernst Forsthoff und seine Zeit. Berlin: Akademie-Verlag.

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– (2019): Selbstorganisation des parlamentarischen Regierungssystems. Vergleichende Untersuchungen zu einem Verfassungsproblem der Bundesrepublik Deutschland. Tübingen: Mohr Siebeck. Mehring, Reinhard (2014): Besprechung zu Vittorio Hösles „Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“. In: Philosophischer Literaturanzeiger, 67, 2014, 146 – 152. – (2018): „Gute Macht“? Ulrich Menzel über die Ordnungsleistung der „großen Mächte“. In: Georg Zenkert (Hrsg.), Die Macht der Demokratie: Zur Organisation des Verfassungsstaates. Baden-Baden: Nomos-Verlag, S. 191 – 204. – (2019): Die neue Bundesrepublik: Zwischen Nationalisierung und Globalisierung. Stuttgart: Kohlhammer. Menzel, Ulrich (2015): Die Ordnung der Welt. Berlin: Suhrkamp. Rosenkranz, Karl (1844): G.W.F. Hegels Leben. Berlin: Duncker & Humblot. Weber, Max (1918): Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland: Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteienwesens. München: Duncker & Humblot. – (1919): Deutschlands künftige Staatsform. Frankfurt a. M: Societäts-Druckerei.

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Max Weber: Gesamtausgabe, Abteilung I: Schriften und Reden, Bd. 12: Verstehende Soziologie und Werturteilsfreiheit. Schriften und Reden 1908 – 1917, hrsg. v. Johannes Weiß in Zusammenarbeit mit Sabine Frommer. J. C. B. Mohr – Paul Siebeck, Tübingen 2018, XVI, 648 S. Die Max-Weber-Gesamtausgabe [MWG], eines der ambitioniertesten Editionsunternehmen des deutschen Akademieprogramms, mehrere Jahrzehnte lang angesiedelt an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München, steht unmittelbar vor dem Abschluss (es fehlt nur noch Bd. III/2, der noch in diesem Jahr die Vorlesungen über „Praktische Nationalökonomie“ veröffentlichen wird). Der zuletzt herausgebrachte Band MWG I/12, der letzte der ersten Abteilung, bringt nunmehr, auf ebenso hohem editorischen Standard wie die früheren Bände (siehe dazu u. a. die Besprechungen des Verfassers in diesem Jahrbuch 2015 und 2017), Webers wissenschaftstheoretische Abhandlungen, darunter die beiden zu Recht berühmten Aufsätze aus dem Jahren 1913 und 1917 zur „verstehenden Soziologie“ und zum Problem der „Wertfreiheit“ in den Wissenschaften. Hinzu kommen sechzehn weitere Abhandlungen, protokollierte Diskussionsbeiträge sowie wichtige längere Besprechungen (u. a. zu Georg Simmel, Christian von Ehrenfels und Edgar Jaffé), die ebenfalls in den Kontext der wissenschaftstheoretischen Reflexionen aus der Zeit kurz vor und nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs zählen. Bei der Betrachtung und Deutung dieser Texte stellt sich nicht nur für die Kenner Webers die Frage, ob Weber tatsächlich eine konsistente Theorie, also eine „Wissenschaftslehre“ im eigentlichen Sinne ausgearbeitet hat, wie die frühere, im Jahre 1922 durch Webers Witwe Marianne veranlasste Edition dieser Schriften schon im Titel vermuten ließ, oder ob es sich nicht doch eher um Gelegenheitsschriften – verfasst in aller Regel zur Klärung bestimmter Einzelprobleme – handelte, teilweise auch nur um kritische Auseinandersetzungen mit den aktuellen Thesen einiger Zeitgenossen, die Weber seinerzeit im Kontext eigener Studien rezipierte. War Weber tatsächlich einer der ersten theoretisch arbeitenden „Soziologen“ und verstand er sich selbst auch so, wie es in der von dem ausgewiesenen Weber-Spezialisten Johannes Weiß verfassten, sehr kundigen Einleitung zum vorliegenden Band MWG I/12 (S. 1 – 92) ausgeführt wird? Oder muss man in Weber nicht doch den in erster Linie empirisch arbeitenden Wissenschaftler sehen, für den die zentralen Elemente seiner theoretischen Überlegungen gerade nicht Selbstzweck, sondern lediglich Hilfsmittel zur präziseren intellektuellen Durchdringung und Deutung bestimmter konkreter sozialer Phänomene darstellten, wie ein anderer hervorragender Weber-Kenner, Dirk Kaesler, in einer wichtigen Rezension dieses Bandes (im Rezensionsforum „literaturkritik.de“) kürzlich angemerkt hat? Das alles ist in der Tat schwer zu entscheiden. Jedenfalls hat Weber seine zentralen wissenschaftstheoretischen Grundideen, das Konzept des „Verstehens“ sozialer Phänomene, das Konstrukt des „Idealtypus“ sowie das Postulat der „Werturteilsfreiheit“ in den Wissenschaften – erstens – ausdrücklich im Kontext der gelehrten Debatten und Konzepte seiner Zeit (von Dilthey bis Simmel, von Schmoller bis Tönnies,

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um nur diese zu nennen) ausformuliert, und – zweitens – hat er diese Grundideen auch nicht in der Form einer einzigen zusammenfassenden Theorie „der“ Soziologie (ein Ausdruck, den er selbst auch nicht allzu oft verwendete) auf den Begriff gebracht. Weber gehört denn auch überhaupt nicht – hier ist Kaesler ausdrücklich zuzustimmen – zu den großen Theoriekonstrukteuren seiner Epoche. Seine Stärke liegt gerade darin, die Erfahrungen des Empirikers, als der er seine gelehrte Laufbahn begonnen hatte, einzubringen in eine großangelegte wissenschaftliche Synthese, die beides, einzelne theoretisch informierte Fragestellungen und geballte empirische Befunde, zusammenbringen sollte. Bekanntlich konnte er diese Synthese in seinem unvollendeten Großwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“ aufgrund seines verfrühten Todes im Alter von nur 56 Jahren nicht mehr vollenden. Die neu edierten Texte des Bandes I/12 der MWG zeigen jedenfalls, ob es sich nun um einen ausformulierten wissenschaftlichen Aufsatz, um einen Diskussionsbeitrag im Rahmen einer Tagung, um eine ausführliche Rezension oder auch nur um Exzerpte und Notizen – hier besonders zu Georg Simmel oder Othmar Spann – handelt. Es wird deutlich, wie leidenschaftlich Weber um Erkenntnis gerungen hat und wie schonungslos er sich gelegentlich mit bestimmten Auffassungen und Thesen kritisch auseinandersetzen konnte, die er als theoretisch defizitär, als zu wenig begründet oder schlichtweg als voreingenommen und (wie man heute wohl sagen würde) „unterkomplex“ empfand und deshalb missbilligte. Das gilt für bestimmte Thesen durchaus bedeutender Zeitgenossen wie Sombart, Schmoller, Tönnies oder Simmel ebenso wie für – heute eher disparat, ja abstrus wirkende – Rassentheorien, wie sie damals etwa von Alfred Ploetz vertreten wurden, oder auch für bestimmte Konzepte einiger (heute nicht immer zu Recht vergessener) Autoren wie etwa Friedrich Gottl, Friedrich von Wieser oder Alfred Vierkandt aus dem Umfeld der frühen deutschen Soziologie und der damaligen ökonomischen Wissenschaften. – Ausdrücklich lobend hervorgehoben werden soll die sehr wichtige und ertragreiche Einleitung des Bandes, die neben einer Deutung auch eine vorzügliche biographische und wissenschaftsgeschichtliche Kontextualisierung der hier abgedruckten Weber-Texte vornimmt und hierfür vor allem die im Rahmen der MWG umfassend edierte Weber-Korrespondenz ausgewertet hat. Hans-Christof Kraus, Passau Max Weber: Gesamtausgabe, Abteilung II/11: Briefe. Nachträge und Gesamtregister, hrsg. v. Rita Aldenhoff-Hübinger und Edith Hanke. J. C. B. Mohr – Paul Siebeck, Tübingen 2019, XXVI, 706 S. Band 11 der zweiten Abteilung der Max-Weber-Gesamtausgabe (MWG) schließt das Briefcorpus der großen Werkedition ab, in dem erstmals sämtliche überlieferte (und bekannte) Schreiben Max Webers erfasst und kommentiert worden sind. Der stattliche Band enthält zuerst eine Reihe von Nachträgen, also Briefe Webers, die erst nach dem Erscheinen der vorangegangenen, seit 1990 publizierten Jahresbände ermittelt werden konnten. Darüber hinaus werden erneut einige Briefe abgedruckt,

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die in den schon früher publizierten Bänden aufgrund von Abschriften veröffentlicht wurden; nunmehr werden sie nach den wieder aufgefundenen oder erst jetzt zur Verfügung gestellten Originalen publiziert. Nun erst stellt sich beim Vergleich heraus, dass – nicht zuletzt aufgrund der äußerst schwer lesbaren Handschrift Webers – einige vor Jahren falsch oder nur unzureichend entzifferte Texte nunmehr in korrekter Form dargeboten werden können. Zudem weisen, wie die Herausgeberinnen anmerken, einige der von Webers Witwe Marianne bald nach seinem Tod angefertigten Abschriften Auslassungen auf, nämlich dort, wo es um Persönliches oder auch um Kollegenkritik und nicht zuletzt um Fehler in Webers eigenen Veröffentlichungen geht. Hier erweist sich ebenfalls noch einmal, in wie starkem Maße das frühe Bild von Leben und Werk Max Webers von Marianne Weber stilisiert und in ihrem Sinne „korrigiert“ worden ist. Es ist gut zu wissen, dass diese verfremdende Patina nunmehr entfernt werden konnte. Unter den neu aufgefundenen oder in korrekter Form nach den Originalen abgedruckten Briefen findet sich noch manches bemerkenswerte Schreiben: so etwa ein ausführlicher Brief Webers an den Romanisten Karl Vossler aus dem Jahr 1908, in dem Weber ausführlich Stellung zu dessen großem Dante-Kommentar nimmt (S. 34 – 44), oder auch einige bisher nicht bekannte Schreiben an zwei seiner damals populärsten Kollegen, den Leipziger Staatswissenschaftler und Ökonomen Karl Bücher sowie den Freiburger Nationalökonomen und Politiker Gerhart von Schulze-Gaevernitz. Neu gelesen werden muss nun auch ein 1907 verfasster Brief an Aby Warburg mit einer interessanten Äußerung zum Calvinismus, der bisher in einigen entscheidenden Passagen fehlerhaft entziffert worden ist – so auch im seinerzeitigen Erstabdruck nach einer unvollständigen Abschrift (MWG II/5, 1990, S. 390 f.). Merkwürdigerweise wird dabei allerdings im Kommentar nicht darauf hingewiesen, dass der Brief nach dem Original bereits 1998 von dem Renaissance-Spezialisten Bernd Roeck neu ediert und kommentiert worden ist (Aby Warburg und Max Weber. Über Renaissance, Protestantismus und kapitalistischen Geist, in: Enno Rudolph [Hrsg.]: Die Renaissance und ihr Bild in der Geschichte. Die Renaissance als erste Aufklärung III, Tübingen 1998, S. 189 – 205). Den größten Teil des hier anzuzeigenden Bandes umfassen jedoch die Register zum Gesamtbriefwechsel der Edition (MWG II/1 – 10): Es handelt sich um vier Spezialregister, deren erstes die Briefempfänger umfasst, sodann um ein allgemeines Personenregister inklusive Kurzbiogrammen, schließlich ein Orts- und ein ausführliches Sachregister. Personen- und Ortsregister erfassen auch die Bestände der früher erschienen zehn Bände, doch hinzugekommen ist jetzt, so die Mitteilung der Herausgeberinnen, ein „Sachregister, das erstmalig das gesamte edierte Briefwerk Max Webers aus den Jahren 1875 bis 1920 systematisch und inhaltlich erschließt. Es erfasst neben den persönlichen Lebensumständen unter anderem Schlüsselbegriffe seiner wissenschaftlichen und publizistischen Arbeiten und Projekte sowie seines politischen Engagements“ (S. XIII). Daneben enthält dieses Register Einträge zu Institutionen, mit denen Weber in Verbindung stand, etwa zu den Universitäten, an denen er lehrte oder zu denen er Kontakte unterhielt, zu wissenschaftlichen und politischen

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Vereinigungen, etwa dem „Verein für Socialpolitik“ oder der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“, aber auch zu in- und ausländischen Verlagen, Zeitschriften und Zeitungen. Kurz gesagt: Ein grundlegendes Hilfsmittel, mit dessen Hilfe sich alle, die sich für Weber interessieren oder sich intensiv mit seinem Werk befassen, das riesige Corpus der – trotz eines fehlenden Nachlasses – in bedeutendem Umfang überlieferten Korrespondenzen erschließen können. Hans-Christof Kraus, Passau Philipp Batthyány: Existentielle Freiheit und politische Freiheit. Die Freiheitsideen von Karl Jaspers und Friedrich August von Hayek im Vergleich. Duncker & Humblot, Berlin 2019, 436 S. In seiner Habilitationsschrift setzt Philipp Batthyány unter der Hinsicht des Freiheitsbegriffs das existenzphilosophische Denken von Karl Jaspers in systematischen Bezug zum liberalen Denken von Friedrich August von Hayek. Dieses Vorhaben kann für sich in Anspruch nehmen, fachlich Neues zu Tage zu fördern, denn ein „solcher Vergleich ist in der Literatur bislang nicht durchgeführt worden“ (S. 40). Die profunde Studie zielt darauf, eine Forschungslücke zu „zweien der bedeutendsten Denker der jeweiligen Freiheitsidee im 20. Jahrhundert“ zu schließen. In der Tat – mit Karl Jaspers handelt es sich um einen der auflagenstärksten Philosophen Deutschlands des letzten Jahrhunderts und mit Friedrich August von Hayek um einen der renommiertesten deutschsprachigen Ökonomen, der für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Geld- und Konjunkturtheorie im Jahr 1974 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde. Philipp Batthyány knüpft mit seiner umfassenden Untersuchung an eigene Vorarbeiten zu diesen beiden Denkern an. So ist er mit seiner Dissertation Zwang als Grundübel in der Gesellschaft? Der Begriff des Zwangs bei Friedrich August von Hayek an der Hochschule für Philosophie in München promoviert worden und hat sich in seinem Aufsatz Karl Jaspers und die Freiheit mit der Existenzphilosophie dieses Denkers auseinandergesetzt. Auch mit systematischen Gedanken Über Gefährdungen und Forderungen politischer Freiheit in unserer Zeit ist Batthyány in Erscheinung getreten. Von daher dürfen die Leserinnen und Leser gespannt sein, welche politiktheoretischen Hinsichten und Einsichten der Autor mit seiner neuesten Publikation zur Sprache bringt. „Programmatisch zusammengefaßt ist es das Ziel der Untersuchung, eine vergleichende Synthese der Freiheitsbegriffe der Existenzphilosophie und des klassischen Liberalismus durchzuführen. Als Antwort auf die negative Freiheitskonzeption des klassischen Liberalismus – Freiheit als Abwesenheit von Zwang und Gewalt – ist es das Ziel, eine Reformulierung derselben zu entwickeln, die durch den Einbezug der Freiheitsidee der Existenzphilosophie – existentielle Freiheit als Freiheit des Selbstseins – deren positive Vervollständigung ermöglicht, ebenso wie umgekehrt hierdurch das erkennbare politische Profil der existenzphilosophischen Freiheitsidee begrifflich präzisiert und auf dieser Weise ethischer und politischer Diskussion zugänglich gemacht wird.“ (S. 39).

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Diese Zielsetzung kann aus Sicht der Politischen Theorie im besten Sinne als ehrgeizig bezeichnet werden, denn hier geht der Autor – was den Freiheitsbegriff in philosophischer wie in politischer Hinsicht betrifft – aufs Ganze. Wo Jaspers von der Psychopathologie zur Philosophie kommend die existenzielle Freiheit der menschlichen Lebensführung einer erhellenden Deutung unterzieht, ist von Hayek ein vom klassischen Liberalismus kommender Theoretiker, der die menschliche Freiheit in Gesellschaft erörtert. Batthyány zeigt die unterschiedlichen Ausgangspunkte der beiden Denker auf und skizziert biographisch die Denkwege in ihrer Besonderheit nach (S. 59 ff.). Ihm gelingt es, die unterschiedlichen Freiheitsphänomene in ihrer jeweiligen Erscheinung kenntlich zu machen und dabei aufzuweisen, dass Unabhängigkeit (liberty) als etwas anderes als Selbstbestimmung (freedom) zu verstehen ist. In seinem hermeneutischen Vorgriff lässt der Verfasser der Studie keinen Zweifel daran aufkommen, dass sich negative und positive Freiheit im wechselseitigen Bezug vervollständigen. Ein solchermaßen erweitertes Freiheitsverständnis vermag sowohl das Leben des Einzelnen als auch das Zusammenleben der Vielen zu fundieren. Existenzphilosophie und politische Philosophie verschlingen sich idealtypisch in dieser „Synthese beider Freiheitsideen“ (S. 39). Die Frage nach der Möglichkeit einer Zusammenführung der Freiheitsverständnisse ist eine ursprünglich philosophisch motivierte Frage, auch wenn es, wie Batthyány aufweist, biographische Aspekte gibt, die einen systematischen Vergleich der Denker nahe legen. Karl Jaspers und Friedrich August von Hayek sind sich begegnet, es liegt ein kurzer Briefwechsel vor, in dem die „kollegiale Anerkennung“ (S. 57) beider spürbar wird. Wie diese Korrespondenz, wäre sie umfassender gewesen, ausgesehen haben könnte, bleibt Spekulation. Angesichts dieser Offenheit macht die Studie neugierig, das Gemeinsame im Trennenden und das Trennende im Gemeinsamen nachzuvollziehen. Nachdem Batthyány im I. Teil die Frage und These der Untersuchung formuliert, den Aufbau schildert und neben den genannten biographischen Hinweisen erste Begriffsklärungen vornimmt, widmet er sich im II. Teil den Grundbegriffen der Freiheitsdefinitionen und den Grundlagen ihres Vergleichs. Das Ich und das Umgreifende wird im III. Teil erörtert und hier kommt die menschliche Existenz im Vokabular der Periechontologie differenziert zur Sprache. Die Ausführungen zeugen in ihrer gedanklichen Tiefe wie auch in ihrer fachlichen Breite von der verständigen Auseinandersetzung mit der alles andere als leicht zu fassenden Existenzphilosophie. Karl Jaspers kommt hier als ein Denker zur Anschauung, der einen langen Denkweg von Kierkegaards Existenzbegriff zu einer vielschichtigen Lehre vom Umgreifenden zurücklegt, in der die ganze Komplexität des humanen Selbst- und Weltverhältnisses begriffsfähig wird. So wundert es nicht, dass Jaspers in dieser Studie weniger als politischer, denn als originär existenzphilosophischer Denker seine Gestalt gewinnt. Im IV. und abschließenden Teil erfolgt der detaillierte Vergleich der Politik- und Freiheitsbegriffe, auf den diese Arbeit hin angelegt ist. In diesem Abschnitt der Arbeit versinnbildlicht Batthyány die Parallelität von Jaspers’scher Grenzsituation und Hayek’schem Sachzwang (S. 294 ff.). Mit Fug und Recht kann konstatiert werden, dass hier fachlich Neues den Leserinnen und Lesern zugänglich gemacht wird. An

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diesem Punkt wird die gemeinsame Stoßrichtung, die in der Liberalität beider Denker gesehen werden kann, klar erkennbar. Jaspers und von Hayek zeigen auf, dass das menschliche Leben als solches unweigerlich an Grenzen stößt. Aber nicht jede Limitierung – und das erörtern beide in aller Feinsinnigkeit – darf als freiheitsvernichtender Zwang missdeutet werden. Jegliche Simplifizierung meidend, expliziert Batthyány in seiner Studie die entsprechenden Politikverständnisse und macht die Unterschiede deutlich. Jaspers, der politiktheoretisch von Platon, Kant und Max Weber geprägt ist, formuliert ein Ideal des Staatsmannes aus, welches von einem aristokratischen Amtsethos getragen ist. Hayek legt sich hier – mit Jürgen Habermas gesprochen – eine ethische Enthaltsamkeit1 auf und beschränkt sich in guter liberaler Weise darauf, lediglich die Bedingungen der Möglichkeit von Regelsystemen und Institutionen aufzuzeigen. Wo Jaspers als Existenzdenker konsequent personenbezogen denkt, da entfaltet Hayek als Ordnungsdenker eine regelbezogene Politikauffassung. Wo bei Jaspers der politisch Handelnde als staatsführende Persönlichkeit in Erscheinung tritt, da bleiben bei Hayek die namenlosen Mitglieder der gesetzgebenden Versammlung im politiktheoretisch Verborgenen. Das „evolutionäre Entwicklungsverständnis Hayeks“ (S. 378) lässt sich von dem „geschichtsphilosophischen Entwicklungsverständnis Jaspers’“ (ebd.) klar konturiert abheben. Mit dieser im Vergleich gewonnenen Differenz sind jene Ideale begriffsfähig, die, um der Vervollständigung der Freiheit willen, systematisch aufeinander bezogen werden sollen. In der Vereinigung von Existenzphilosophie und Liberalismus, also in der Zusammenführung „des Staatsführungsideals Jaspers’ mit dem Verfassungsideal Hayeks“ (S. 383), beantwortet Batthyány gleichsam die Fragestellung seiner Arbeit. In der geschichtlichen Gestalt Solons wird das Gemeinsame von Jaspers’ und Hayeks Freiheitsverständnis politisch verkörpert, hier vereinigt sich das Ideal des maßgebenden und verantwortlichen Amtshandelns mit dem Ideal einer freiheitssichernden Rechtsordnung. Der politiktheoretische Entwicklungsgang in diesem Buch ist von argumentativer Schlüssigkeit getragen. So wird in dieser Arbeit nachvollziehbar – und das ist ja das ausgesprochene Ziel der Studie –, dass die existenzielle Verfasstheit der Menschen und die politische Verfassung der Ordnung ein Ganzes bilden. Nur wenn sich die selbstbestimmten Menschen als Bürgerinnen und Bürger einer bewahrungswürdigen Freiheitsordnung verstehen, kann diese von Dauer sein. Freiheit, und das bezeugen die beiden Denker in aller Eindringlichkeit, ist ein hohes Gut, das verteidigt und erhalten werden muss. Freiheit ist kein Gegenstand, der einfach vorliegt, Freiheit – als existenzielle und politische – ist „selbstoffen“ (S. 391), und diese Offenheit verlangt eine Lebensweise der Freiheit. Das Leben muss als eigenes in Freiheit gestaltet werden und in einer gemeinsamen Freiheitsordnung seine Verfassung finden. Mit dieser Lesart, die kenntnisreich entfaltet und überzeugend begründet wird, kann Batthyány an vorherrschende Deutungen anschließen. Wie Kurt Salamun in seinen zahlreichen Schriften aufzeigt, ist das Philosophieren von Karl Jaspers durch eine anti-dogmati1

Vgl. Habermas, 2005: 115.

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sche, eine anti-holistische, anti-fundamentalistische und schließlich durch eine antimonistische Grundeinstellung geprägt.2 Um der Freiheit willen lehnt der Existenzdenker jegliche geschlossene und endgültige Erklärung des humanen Wesens ab. Das menschliche Leben und Zusammenleben können aus dieser kritischen Hinsicht niemals ganzheitlich geplant, gesteuert und im Ablauf vorherbestimmt werden. Jedwede Art einer finalen Geschichtsphilosophie wird von Jaspers vehement abgelehnt, und so gesehen trifft er sich in der Negation von freiheitsvernichtenden Absolutheitsansprüchen mit dem kritischen Rationalismus von Friedrich August von Hayek (S. 135). Diese Zuordnung zum liberalen Diskurs findet sich in vielen Veröffentlichungen zum politischen Denken von Jaspers. So sieht Reinhart Koselleck den politischen Philosophen mit seinem Plädoyer für den Vorrang der Freiheit vor der nationalen Einheit in der altliberalen Tradition stehend.3 Alexander Schwan, der als einer der ersten Politikwissenschaftler das politiktheoretische Potenzial des Existenzdenkens erkannt und entfaltet hat, deutet Jaspers als einen vorrangig liberalen Denker. Denn dieser zielt in seinem Philosophieren darauf, das Pathos der Freiheit zu wecken. Ihm liegt weniger daran, die gesellschaftlichen Bedingungen der Freiheit kritisch in den Blick zu nehmen.4 Jaspers’ Denken ist auf die Ermöglichung der Freiheit ausgerichtet, und da er das Gleichheitsprinzip kaum erörtert, erweist sich die politische Theorie von Jaspers als „eine primär liberalistische Demokratiekonzeption.“5 Volker Gerhardt, der von Batthyány in seiner Studie zitiert wird, reiht sich ebenfalls in diesen Deutungskontext ein und versteht den Existenzdenker als einen ursprünglich liberalen Denker. In dem Maße, in dem Jaspers die politische Freiheit an die existenzielle Freiheit des konkreten Menschen zurückbindet, verbleibt er der klassisch liberalen Begründungsweise des Politischen verhaftet.6 So gesehen bewegt sich die Studie von Philipp Batthyány, was ihre argumentative Stoßrichtung anbelangt, auf vertrauten Pfaden. Die liberale Deutung des Jaspers’schen Denkens kann als bekannt und politikwissenschaftlich gesichert gelten. Den Vergleich, den der Autor unternimmt, um die beiden Freiheitsverständnisse zu konturieren, ist hingegen neu und hier liegt der eigentliche Gewinn dieser Untersuchung. Gleichwohl mag hier auch eine gewisse Schwäche – so man diese liberale Lesart in ihrer Eindeutigkeit als Schwäche bezeichnen möchte – liegen. Denn bei intensiverer Beschäftigung mit Karl Jaspers wird einsehbar, dass sein politisches Denken facettenreicher ist, als in dem Bezug zum Liberalen Hayek zur Anschauung kommen kann. In der Zuordnung zum liberalen Denken wird übersehen, dass Jaspers durchgehend von den Bürgerinnen und Bürgern her denkt und mit aller Nachdrücklichkeit die Ethosbedürftigkeit jeder demokratischen Freiheitsordnung benennt. Wolfgang Kersting, ein politischer Theoretiker, der sich eingehend mit verschiedenen liberalen Denkern 2

Vgl. Salamun, 1991: 47 ff. Vgl. Koselleck, 1986: 294 f. 4 Schwan, 1984: 584. 5 Fahrenbach, 1989: 154. 6 Gerhardt, 1999: 106. 3

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auseinandergesetzt hat, nennt solch einen Liberalismus einen „belehrten Liberalismus“.7 Ein so geartetes Denken, in dem über die Qualität des politischen Gemeinwesens reflektiert wird, muss „die Sprache des Guten, der Einstellungen und der Tugenden sprechen“,8 denn sonst können die zentralen Gründungsvoraussetzungen einer Freiheitsordnung und die Bewahrungsleistungen der Regierenden und Regierten nicht benannt werden. Genau solch eine Sprache spricht Karl Jaspers in seinem politischen Denken, das im wahrsten Sinne als „belehrt“ bezeichnet werden kann, da es systematisch um die Frage nach dem Erhalt der bundesdeutschen Republik kreist. In einem politiktheoretisch geweiteten Blick erscheint Jaspers als ein Denker, der jene topoi erörtert, die im Bedeutungsfeld des klassischen Liberalismus nicht angemessen zur Sprache kommen. Sein explizit bürgerbezogenes und ethosfundiertes Denken kann so gesehen im Diskursfeld des Republikanismus verortet werden. Denn das republikanische Denken ist eine wirkmächtige Gestalt jenes „belehrten“ Denkens, in dem von Grund auf die Sprache des Guten und der Bürgertugenden gesprochen wird. Folgen wir dem Ideengeschichtlicher und politischen Philosophen Charles Taylor, so lässt sich das westliche Freiheitsdenken in einen liberalen Locke-Strang und einen republikanischen Montesquieu-Strang teilen. Wo in der Nachfolge von John Locke politische Freiheit vorrangig im Kontext von life, liberty und estate9 verortet wird, da kommen im republikanischen Montesquieu-Strang, die politische Ethosbedürftigkeit und der politische Erziehungsbedarf ausdrücklich zur Sprache.10 Den liberalen Denkern geht es wie den republikanischen Denkern zwar um die Ermöglichung und Sicherung der menschlichen Freiheit innerhalb einer politischen Ordnung. Nur werden die komplexen Bezüge des Politischen im liberalen Diskurs nicht in der gleichen Vielschichtigkeit zur Sprache gebracht, wie sie im Gesprächsfeld des republikanischen Denkens zum Ausdruck kommen. Neben Montesquieu, den Taylor als Repräsentanten des Republikanischen wählt, sind es Aristoteles, Cicero, Niccolò Machiavelli, James Harrington und Alexis de Tocqueville, welche die politische Leistung der Regierenden und Regierten in ihrer Wechselseitigkeit und die vielschichtigen Voraussetzungen des Politischen zur Sprache bringen. Philip Pettit bringt das Gemeinsame dieser unterschiedlichen Denker auf den Punkt.11 So stehen für den Theoretiker des Republikanismus Begriffe wie Mischverfassung, Herrschaft der Gesetze, Machtgleichgewicht, Bürgertugend und ein besonderes Freiheitsverständnis, welches sich als ein Nicht-Beherrscht-Werden fassen lässt, im Mittelpunkt des republikanischen Diskurses. Politik ist in dieser Hinsicht nichts dem Menschen Fremdes. Ganz im Gegenteil: Der Mensch kann seine Menschlichkeit nur in politischen Bezügen voll entfalten. Das Politische muss als ein Eigenes erkannt werden, weil sich das Humanum nicht jenseits des gemeinsamen Lebenszusammenhangs ver7

Kersting, 1997: 455. Ebd.: 456. 9 Locke, 71998: 278. 10 Vgl. Taylor, 1993: 132 ff. 11 Vgl. Pettit, 1999: 20. 8

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wirklichen lässt. Im republikanischen Denken wird die Sinnfrage der Lebensführung ins Politische gewendet. Exakt dieses vollzieht Karl Jaspers in seinem politischen Denken und in diesem Sinne kann er als Exponent eines republikanischen Denkens verstanden werden.12 Wie Batthyány aufzeigt, hat sich Jaspers schon früh – nämlich kurz nach Kriegsende in der Zeitschrift Die Wandlung mit seinen Thesen zur politischen Freiheit – der Aufgabe der Gründung und Bewahrung einer politischen Freiheitsordnung zugewandt. Dabei bleibt jedoch unklar, dass es Hannah Arendt ist, die ihren ehemaligen akademischen Lehrer zu neuen Hinsichten inspiriert.13 Von ihr hat Jaspers die Verständnisse und Auffassungsweisen, die er sich schrittweise aneignet. Arendt deutet die Amerikanische Revolution, das Gründen und Bewahren der constitutio libertatis, aus dem Geiste Roms. Sie setzt den amerikanischen Verfassungsgründern ein politiktheoretisches Denkmal, von dem aus ihre Philosophie des Citizen den systematischen Ausgang nimmt. „Was Du über die amerikanischen Gründer schreibst, und was Du von ihnen mitteilst, ist mir ganz neu.“14 Wie der Briefwechsel zwischen Arendt und Jaspers bezeugt, lernt Karl Jaspers im Dialog mit seiner vormaligen Studentin, die Grundtatbestände und Sinnzusammenhänge des Politischen neu in den Blick zu nehmen. Dominiert in den frühen Schriften eine staatszentrierte Sichtweise, so wandelt sich das politische Philosophieren des Existenzdenkers zu einem republikanischen Denken. „After 1945 he clearly integrates important aspects of republican theory into his own political position.“15 Es sind die Erörterungen zum politisch Guten, zu den Tugenden und der politischen Bildung, welche das Freiheitsdenken von Karl Jaspers gleichsam einbetten. Zunehmend betont Jaspers, dass das Wesen der politischen Freiheit nicht in einem bloßen Rechtszustand liegt, sondern dem politischen Tätigsein der Bürgerinnen und Bürger entspringt. Freiheit wird nicht von Herrschenden gewährt, sondern die Regierenden und Regierten müssen ihrer Freiheit eine Form geben. Trotz aller augenscheinlichen Liberalität überschreitet Karl Jaspers mit seinen Erörterungen zur Kommunikation die Tradition des vertragstheoretischen Denkens. „Alles Vertragsmäßige und rechtlich Erzwingbare, alles Versprechen und Worthalten ist zwar die unser gemeinsames Dasein ermöglichende Zuverlässigkeit, aber doch noch äußerlich im Vergleich zur Verläßlichkeit vernünftiger Kommunikation.“16 Die von den republikanischen Autoren geforderte Bürgertugend verwirklicht sich in Jaspers’ politischer Philosophie in der rückhaltlosen Bereitschaft zur Kommunikation, in der wir uns beständig selbst erziehen und durch die unsere Demokratie als Lebensform eine vernunftgegründete Gestalt erfährt.

12

Vgl. Gantschow, 2017: 61 ff. Vgl. Gantschow, 2016: 47 ff. 14 Arendt/Jaspers, 22001: 541. 15 Thornhill, 2002: 182. 16 Jaspers, 61982: 303. 13

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Für Jaspers erschöpft sich der Demokratiebegriff nicht in der repräsentativen Demokratie, denn diese muss durch eine „demokratische Lebensart“17 der Bürgerinnen und Bürger fundiert werden. Demokratie verlangt, wenn sie bewahrt werden soll, die „Selbsterziehung des gesamten Volkes.“18 Es bedarf im republikanischen Sinne eines „Ethos gemeinschaftlichen Lebens“19, in dem der Sinn für zivile Umgangsweisen prägende Macht gewinnt. Gesetze können in dieser Lesart nur so gut sein, wie die Sitten, die diese Gesetze fundieren. Die Sicherung der Freiheit vollzieht sich durch die sorgende Bereitschaft der Bürger, sich für die Integrität der politischen Ordnung einzusetzen. Deshalb gewinnt die politische Erziehung und Bildung einen so hohen Stellenwert im politischen Denken von Karl Jaspers.20 Für Jaspers gilt die sokratisch-platonische Einsicht, dass die Polis der großgeschriebene Mensch ist, die Verfassung der Republik bildet die Verfasstheit der Menschen ab. Philipp Batthyány liegt in seiner Interpretation des Jaspers’schen Amtsverständnisses richtig, der große Staatsmann gewinnt seine normative Kraft vom maßgebenden Menschen her. Wo von Hayek (und mit ihm Karl Raimund Popper) in der Demokratie jedoch primär einen Mechanismus sehen, der den blutlosen Regierungswechsel ermöglicht21, formuliert Karl Jaspers ethisch-politische Ansprüche an die Amtsinhaber. Staatsmänner und Amtsinhaber denken und handeln schöpferisch aus dem Ursprung und wirken durch ihre unersetzbare Originalität als Vorbild (Vgl. S. 360 ff.). Sie realisieren in ihrer Beispielhaftigkeit das Menschenmögliche, das als aristokratischer Ansporn die individuelle wie auch die gemeinsame Lebensführung anzutreiben vermag. Gleichwohl dürfen sich die Bürgerinnen und Bürger nicht auf den bestenfalls aristokratischen Qualitäten ihrer Amtsinhaber ausruhen. Es reicht nicht aus, wenn allein die Regierenden nach Größe und Eigenständigkeit streben. Die aristokratische Forderung, die Karl Jaspers in vielen seiner Schriften erhebt, richtet sich an die Repräsentanten wie auch an die Repräsentierten. Doch diese Bürgerorientierung kommt in Batthyánys Studie nicht in dem Maße zur Sprache, wie sie müsste, denn im Denken von Jaspers nimmt eben diese Orientierung großen Raum ein. Es sind die Bürgerinnen und Bürger, die aufgefordert sind, die öffentlichen Angelegenheiten aktiv und aufmerksam zu begleiten. Den Regierenden wie den Regierten ist es aufgegeben, im Medium des Philosophierens, ihr republikanisches Denken und Handeln im Weltbezug zu entwickeln und zu schärfen. „Plato hat recht: Ohne die Verbindung von Politik und Philosophie bei den Regierenden gibt es kein Heil; aber, so fügen wir hinzu: Diese Verbindung muß auch das Volk erfassen, dergestalt daß es, in dem unaufhörlichen Prozeß der Auflösung zum Philosophieren gelangt, ein Volk von Philosophierenden wird.“22 17

Jaspers, 61982: 462. Ebd.: 463. 19 Ebd.: 464. 20 Vgl. Gantschow, 2014: 37 ff. 21 Popper, 82003: 145. 22 Jaspers, 1967: 210. 18

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Hier wird das platonische Erbe, das alles andere als liberal ist, erkennbar, zielt doch die Politeia auf die wechselseitige Verschränkung von personaler Verfasstheit und politischer Verfassung. Aus Jaspers’ Hinsicht reicht es nicht aus, dass die Verfassung als bloßes Regelwerk in Ordnung ist, die platonische Frage nach der menschlichen Selbstbeherrschung bleibt für den Existenzdenker bedeutsam. Existenzphilosophisch gesprochen müssen in unserem Bürgerverständnis Ethos und Logos zusammenfallen. Freiheit kann nur gegründet und bewahrt werden, wenn die Bürgerinnen und Bürger im Begriff der Bürgerexistenz ein erweitertes Verständnis ihres Menschseins entwickeln. Die Fragestellung der Arbeit geht von der Annahme aus, dass sowohl Jaspers als auch Hayek in ihrem Freiheitsverständnis einseitig geblieben seien. Für Friedrich August von Hayek mag das gelten, für Karl Jaspers allerdings nicht, wie die republikanische Lesart seines politischen Denkens vor Augen führt. Karl Jaspers hat in seinem Denken, die von Batthyány sorgsam entfaltete Synthese von existenzieller Verfasstheit und politischer Verfassung bereits vollzogen.23 Literatur 2

Arendt, Hannah/Jaspers, Karl ( 2001): Briefwechsel 1926 – 1969. München: Piper. Breier, Karl-Heinz/Gantschow, Alexander (2017): „Notwendig ist die Sorge aller für die Freiheit“. In: dies. (Hrsg): Vom Ethos der Freiheit zur Ordnung der Freiheit. Staatlichkeit bei Karl Jaspers. Baden-Baden: Nomos, 11 – 27. Fahrenbach, Helmut (1989): Zeitanalyse, Politik und Philosophie der Vernunft im Werk von Karl Jaspers. In: Harth, Dietrich (Hrsg.): Karl Jaspers. Denken zwischen Wissenschaft, Politik und Philosophie. Stuttgart: Metzler, 139 – 185. Gantschow, Alexander (2014): „Ein Volk von Philosophierenden“ – zum Bürgerleitbild im politischen Denken von Karl Jaspers. In: Jahrbuch der Österreichischen Jaspers-Gesellschaft, Jg. 27. Innsbruck: Studienverlag, 37 – 76. – (2016): Die Entwicklung des Freiheitsverständnisses von Karl Jaspers im Hinblick auf Hannah Arendt – „Von ihr lernte ich diese Welt des größten Versuchs politischer Freiheit besser sehen“. In: Jahrbuch der Österreichischen Karl Jaspers Gesellschaft, Jg. 29. Innsbruck: Studienverlag, 47 – 90. – (2017): „Nur die politische Freiheit kann uns zum ganzen Menschen werden lassen“ – Karl Jaspers als republikanischer Denker. In: Breier, Karl-Heinz/ders. (Hrsg.): Vom Ethos der Freiheit zur Ordnung der Freiheit. Staatlichkeit bei Karl Jaspers. Baden-Baden: Nomos, 61 – 94. Gerhardt, Volker (1999): Existentieller Liberalismus. Zur Konzeption der Politik bei Karl Jaspers. In: Wiehl, Reiner/Kaegi, Dominic (Hrsg.): Karl Jaspers – Philosophie und Politik. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 97 – 113. Habermas, Jürgen (2005): Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates. In: ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 106 – 118. 23

Breier/Gantschow, 2017: 11 ff.

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Jaspers, Karl (1967): Antwort. Zur Kritik meiner Schrift ,Wohin treibt die Bundesrepublik?‘. München: Piper. – (61982): Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. München: Piper. Kersting, Wolfgang (1997): Freiheit und Tugend. In: ders.: Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend. Abhandlungen zur parktischen Philosophie der Gegenwart. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 436 – 458. Koselleck, Reinhart (1986): Jaspers, die Geschichte und das Überpolitische. In: Hersch, Jeanne/ Lochmann, Jan Milicˇ /Wiehl, Reiner (Hrsg.): Karl Jaspers. Philosoph, Arzt, politischer Denker. Symposium zum 100. Geburtstag in Basel und Heidelberg. München: Piper, 292 – 302. Locke, John (71998): Zwei Abhandlungen über die Regierung, hrsg. u. eingel. von Walter Euchner. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Pettit, Philip (1999): Republicanism. A Theory of Freedom and Government. Oxford: Oxford University Press. Popper, Kar Raimund (82003): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 1: Der Zauber Platons, hrsg. von Hubert Kiesewetter. Tübingen: Mohr Siebeck. Salamun, Kurt (1991): Die liberal-aufklärerische Dimension in Jaspers’ Denken – ein Beispiel moderner Aufklärung. In: ders. (Hrsg.): Karl Jaspers – Zur Aktualität seines Denkens. München: Piper. 46 – 69. Schwan, Alexander (1984): Existentielle und politische Freiheit. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 35 Jg., Heft 12, Seelze: Friedrich, 569 – 585. Taylor, Charles (1993): Der Begriff der ,bürgerlichen Gesellschaft‘ im politischen Denken des Westens. In: Brumlik, Micha/Brunkhorst, Hauke (Hrsg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.: Fischer, 117 – 148. Thornhill, Chris (2002): Karl Jaspers – Politics and Metaphysics. London/New York: Routledge.

Alexander Gantschow, Kiel Gerald Posselt/Tatjana Schönwälder-Kuntze/Sergej Seitz (Hrsg.): Judith Butlers Philosophie des Politischen. Kritische Lektüre. Mit zwei Beiträgen von Judith Butler. transcript: Edition Moderne Postmoderne, Bielefeld 2018, 332 S. Der programmatische Titel des Bandes verspricht eine kritische Auseinandersetzung mit Butlers Philosophie des Politischen. Butlers Relevanz als Denkerin findet aktuell eine breite Anerkennung und Anschluss im Bereich der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften sowie innerhalb der Queer Theory und Gender Studies. Die Fokussierung in diesem Band liegt auf der politischen Dimension ihres Denkens, die sich für Butler bereits aus der Verflechtung von Theorie (Philosophie) und Politik bzw. politischer Praxis ergibt. Mit der Thematisierung von Prozessen der Subjektkonstituierung als diskursive und performative Regulierungsverfahren wird dabei auf politische Aspekte sowie Möglichkeiten politischer Handlungsfähigkeit hingedeutet, die Butler seit ihrem Hauptwerk Das Unbehagen der Geschlechter (1991) verfolgt und in ihren neueren Beiträgen – u. a. in Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung (2016) – weiterdenkt.

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Der Band gliedert sich in vier Hauptteile: I. Theoretisierungen – mit Beiträgen von Tatjana Schönwälder-Kuntze, Gerald Posselt und Sergej Seitz; II. Normen und Normativierungen – mit Beiträgen von Matthias Flatscher & Florian Pistrol, Maria do Mar Castro Varela & Nikita Dhawan, Hanna Meißner und Heike Kämpf; III. Visibilitäten und Transformationen – mit Beiträgen von Julia Prager, Andreas Oberprantacher, Hans-Martin Schönherr-Mann und Gerhard Tohnhauser. Der letzte Teil IV. Perspektivierungen enthält zwei Originalbeiträge von Judith Butler: „Politische Philosophie bei Freud. Krieg, Zerstörung und die Fähigkeit zur Kritik“ sowie „Politik, Körper, Vulnerabilität. Ein Gespräch mit Judith Butler“; der zweite Beitrag geht auf ein Gespräch mit Judith Butler anlässlich einer Workshop-Veranstaltung von Gerald Posselt und Anna Babka am 07. Mai 2014 an der Universität Wien zurück. Mit dieser von den Herausgeber*innen vorgenommenen Schwerpunktsetzung sollen die unterschiedlichen Gegenstandsbereiche und Problematisierungsweisen im Hinblick auf die Dimensionen des Politischen in Butlers Denken beleuchtet werden: „Darüber hinaus werden zentrale Konzeptionen in Butlers Werk – wie etwa Macht, Subjektivität, Performativität, Körperlichkeit und Perkarität – rekonstruiert und auf ihr transformatives Potential hin befragt“ (S. 13). Der erste Teil des Bandes Theoretisierungen geht dem Verhältnis von Theorie und Politik nach. Butlers Verhältnisbestimmung zwischen politischer Theoriebildung und politischer Praxis zielt auf eine implizite Interdependenz der beiden Bereiche, indem sie „das Theoretisieren selbst [als] eine spezifische Praxisform“ versteht, „die sich niemals gänzlich von den politischen Problemlagen, Machtrelationen und Kraftverhältnissen ablösen lässt“ (S. 9). In diesem Zusammenhang wird Butlers Denken „als Versuch einer (Re-)Politisierung politischer Theorie und Philosophie“ (S. 9) gewertet. Die grundsätzliche Frage, ob philosophische Methoden und Konzepte politische Relevanz haben, verweist auf den Anspruch reflexiv-kritischer Theoriebildung (S. 23 ff.). Mit dem Rekurs auf Descartes, Kant, Hegel und ferner Foucault wird der Kontext einer erkenntnistheoretischen Fundierung von Wissen, und wie dieses erzeugte Wissen in die Gestaltung bzw. Umformung bestehender (politischer) Strukturen einfließen kann, skizziert. Am Beispiel der Aufklärung wird der reflexiv-kritische Anspruch deutlich, der als Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit einen emanzipatorischen Charakter und politischen Auftrag erhält. Die selbstkritische reflexive Haltung zielt aber nicht nur auf die Bedingungen der Erkenntnis ab, sondern verweist auf die Ebene der praktischen Philosophie (S. 24). Theoretisierungen wie im Hinblick auf das Ideal der Aufklärung konstituieren jedoch Normierungen, indem von einem mündigen politischen Bürger (masculinum) ausgegangen wird, der lesen, schreiben, denken und handeln kann. Die kritische Frage, wie Wissensbestände und diskursive Wahrheiten etabliert und reproduziert werden, welche Ausschlussmechanismen damit einhergehen und wirksam sind, gerät erst mit Foucaults „genealogischer Rekonstruktion“ (S. 29) in den Blick. Bei Butler wird diese kritische Perspektive im Hinblick auf normative Bedingungen des eigenen

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Sprechens sowie Reflexion auf eigene Situiertheit als Theoretiker*in hinterfragt: „von welchen Positionen aus überhaupt Theoriebildung geleistet werden kann und welche spezifischen Macht- und Autoritätseffekte damit verbunden sind“ (S. 9). Die vermeintliche Objektivität bzw. Neutralität des (wissenschaftlichen) Wissens wird dadurch aufgedeckt zugunsten einer relationalen Erkenntnis, die das Subjekt in seiner sozialen, historischen und vergeschlechtlichten Situiertheit einbezieht. Somit muss das Außerachtlassen der subjektrelativen Bedingungen von Erkenntnis sowie der darin impliziten Macht- und Herrschaftsverhältnisse zusammen mit dem Problem der erkenntnistheoretischen Fundierung von wissenschaftlichem Wissen reflektiert werden. Als „zentrale Analyse- und Reflexionskategorie für die Theorie des Politischen“ (S. 46) hebt Posselt den Begriff des Performativen in Butlers Denken hervor. Diesen entwickelt sie im Anschluss an Austins Theorie der Sprechakte (1994 [1965]) weiter, indem das Konzept des Performativen nicht nur Sprechakte, vielmehr auch körperliche Gesten und Darstellungen umfasst, die im Sinne einer performativen Logik eine soziale Wirklichkeit konstruieren. Mit dieser Erweiterung der Bedeutungsdimension des Sprechens werden auch folgende Aspekte intendiert: „die körperliche Verfasstheit des Sprechens, die Verantwortung, die mit jedem Sprechen einhergeht, sowie die Sprech- und Handlungsmöglichkeiten, die sich ergeben, sobald wir die Abhängigkeit von anderen und die Verletzbarkeit durch andere anerkennen“ (S. 45).

Als einen genuinen Beitrag zur politischen Philosophie sieht Seitz in der Verhältnisbestimmung zwischen Ethik und Politik, wie sie in Butlers „neueren Arbeiten immer dezidierter in den Fokus rückt“ (S. 71). Gerade ihr Rekurs auf Lévinas Denken der Alterität erweist sich als fruchtbar für das Verständnis der ,ethischen Beziehung‘, die auf Basis eines prä-normativen Bezogenseins das ethische Subjekt erst hervorruft (provoque). Bei Lévinas steht das Antlitz des Anderen (auch im Sinne eines vulnerablen Körpers) im Zentrum eines „ethischen Aufgefordertseins“ (S. 71); dieser Ansatz steht in Kontrast zu den „normalisierenden Tendenzen traditioneller normativer Theoriebildung“ (S. 14) und wurde bei Butler im Rahmen ihrer Kritik der ethischen Gewalt (2007) ausformuliert. Unter der Überschrift Normen und Normativierungen sind im zweiten Teil des Bandes vier Beiträge versammelt, worin der Themenkomplex um Subjekt und Subjektivierung im Kontext von Anerkennung, Normativität, Sozialität und Politik aus unterschiedlichen Perspektiven analysiert wird. In Butlers Werk spielt der Normativitätsbegriff eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, die gesellschaftlichen Prozesse der Subjektwerdung und Identifizierung zu verstehen, auch unter dem Aspekt des Politischen. In Das Unbehagen der Geschlechter schreibt sie: „Die Bereiche der politischen und sprachlichen ,Repräsentation‘ legen nämlich vorab die Kriterien fest, nach denen die Subjekte selbst gebildet werden, so daß nur das repräsentiert werden kann, was als Subjekt gelten kann. Oder anders formuliert: Bevor die Repräsentation erweitert werden kann, muß man erst die Bedingungen erfüllen, die notwendig sind, um überhaupt Subjekt zu sein.“ (Butler 1991: 16)

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Eine kritische Analyse derjenigen Verflechtung zwischen Normen – Subjekte[n] – Gewalt auf der Ebene der Identitätsbildung, Anerkennung, Institutionen und Machtstrukturen steht im Fokus des Beitrags von Castro Varela und Dhawan (S. 125). Die Perspektive auf hegemoniale Heteronormativität zusammen mit dem epistemologischen Status der Kategorie Geschlecht tragen zu den bekannten Kontroversen um die Geschlechteridentität bei. Seit Butlers poststrukturalistischer Kritik an der Sex-Gender-Differenzierung wird die Vorgegebenheit eines natürlichen Geschlechts (sex) als vordiskursives Faktum der sexuellen Binarität dementiert, vielmehr verweist Geschlecht bzw. Geschlechtsidentität immer schon auf soziale Konstruktion: „Normative Ideale von Sex und Gender legen fest, wer als legitimes Subjekt wahrgenommen werden kann, indem sie bestimmte Körper, Begehren und Handlungen als lesbar oder natürlich darstellen“ (S. 126 – 127).

Butler geht also davon aus, dass die gesellschaftlichen Regulierungsverfahren zur Herstellung der Geschlechteridentität normsetzend sind, indem sie performativ und diskursiv in Alltagspraxen fundiert und hergestellt werden. Die Wirkmächtigkeit von Normen, Ordnungen und Strukturen geht mit einer Unterwerfung unter herrschende (Geschlechter-)Normen einher, was in Butlers Denken als „normative Gewalt“ herausgestellt wurde: „Normative Gewalt ist die Gewalt partikularer Normen, die nicht nur bestimmen, wer letztlich als Mensch zählt, sondern die auch regulieren, was innerhalb eines bestimmten Rahmens lesbar, sprich, intelligibel ist“ (S. 127 – 128).

Diese Perspektive verweist auf Gender, wie es im Diskurs konstruiert wird. Dabei besteht die Schwierigkeit darin, jene implizite Logik der Sprache bzw. der Politik in ihrer Funktion als identitätsstiftend und rollenzuweisend zu erkennen. Denn die Sprache „strukturiert die Welt, indem sie die Bedeutungsvielfalt unterdrückt […] und stattdessen eindeutige, diskrete Bedeutungen einsetzt“ (Butler 1991: 123). Solche Normierungsmechanismen setzten eine ,Subjektivation‘ in Gang, der man sich nicht entziehen kann, da nur im Rahmen normativer Identitäten soziale Anerkennung zugestanden wird. Im dritten Teil des Bandes finden sich unter dem Titel Visibilitäten und Transformationen weitere vier Beiträge, die Butlers medientheoretischen Überlegungen sowie Ansätze zur Performativität unter dem Aspekt der Politisierung des Körpers auf ihr analytisches und transformatives Potential untersuchen. Unter der Perspektive einer „politischen Theorie des Medialen“ in Anschluss an Butlers medientheoretische Überlegungen geht Prager dem Problem der „Ver-Antwortbarkeit“ bzw. Verantwortlichkeit ,fernen‘ Leidens nach (S. 189). Es geht um die Möglichkeiten, auf ,fernes‘ oder fremdes Leiden zu reagieren, das sich scheinbar woanders abspielt. Mit der Denkfigur der Reversibilität von Nähe und Distanz (S. 189) werden die Modalitäten dieser Beziehung nicht nur räumlich gedacht, sondern auf „einen Komplex von räumlich-zeitlicher, kulturell-körperlicher, medial-ästhetischer und kritischer Distanz“ (S. 189). Die herausgestellte Verflechtung von me-

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dialen und politischen Rahmensetzungen konstituiert Subjekte, die keine souveräne Position innerhalb hegemonialer Diskurse und dominierender Medien einnehmen können, vielmehr sind sie normierenden Konventionen sowie „expliziten Zensurverfahren“ unterworfen (S. 190). Die Unterwerfung an die Konvention der Darstellungs-, Redeweisen und medialen Praktiken stellt den Prozess der Subjektivation dar, wodurch das Subjekt als unterworfenes im Kontext diskursiver Ordnung erst in Erscheinung tritt. Dabei impliziert diese Ordnung die dispositive Anforderung des Zusammenspiels von Medien und Politik. In diesem Sinne verbindet sich das Wahrnehmungsdispositiv mit der Macht der Diskurse (Foucault). Butler spricht von einer „Bedeutungs-Ökonomie“ (Butler 1991: 122) auf der Ebene der symbolischen Ordnung. Prager unterstreicht das Ineinandergreifen von Medien und Politik im Hinblick auf deren normierenden Tendenzen auf Darstellung und Wahrnehmung, das „somit Einfluss auf unsere ethische Sensibilität und damit auf unsere Bereitschaft, politisch aktiv zu werden“ (S. 190) und effektiv auf das ferne und fremde Leid zu antworten, nimmt. In diesem Zusammenhang bekommt der menschliche Körper und die körperliche Dimension des Medialen einen besonderen Stellenwert, die Butler mit dem Konzept der Vulnerabilität verbindet; in ihren früheren Arbeiten wird die Thematisierung zu Gender und Performativität ebenfalls am Leitfaden des Körpers geführt. Unter dem Titel Plurale Performativität (S. 251) greift Thonhauser Butlers Überlegungen zu einer Theorie der Versammlung auf und verweist dabei auf den Flüchtlingsmarsch am 4. September 2015 als konkretes politisches Beispiel, um die theoretische Perspektive „einer Selbst-Konstitution, Selbst-Bestimmung und Selbst-Autorisierung einer Versammlung in den Blick“ (S. 256) nehmen zu können. Mit den beiden Originalbeiträgen von Judith Butler werden die vielfältigen Aspekte politischer Philosophie – wie innerhalb der differenzierten Bezugnahmen in diesem Band diskutiert – weiter vertieft. In Butlers Auseinandersetzung mit Freud Politische Philosophie bei Freud. Krieg, Zerstörung und die Fähigkeit zur Kritik (S. 271) wird der Aspekt menschlicher Bindungen sowie deren Komplexität wie auch Funktionsfähigkeit im Hinblick auf ein gemeinschaftliches Leben herausgestellt, um diese im Kontext politischer Philosophie zu reflektieren: „Die Verwirklichung politischen Lebens“ – sagt Butler – „setzt nicht nur ein geteiltes Leben voraus, sondern auch eine Reihe sozialer Bindungen, die von der Verpflichtung zeugen, dieses geteilte Leben dauerhaft zu erhalten, eine Regierungsform zu finden und am gemeinsamen Regierungsprozess teilzunehmen.“ (S. 273) Gerade der Verweis auf zwischenmenschliche Bindungen erfordert analytisch und methodologisch einen Blick auf diejenigen Bereiche, „die sich im Fühlen und Handeln manifestieren und nicht allein durch bewusste Reflexion verstanden werden können“ (S. 277); dazu gehört u. a. der Bereich der leiblichen Affektivität (Triebe), der für die Ausgestaltung subjektiver und intersubjektiver Beziehungen bzw. für das kollektive Zusammenleben entscheidend ist. Bezogen auf die implizite Wirkmächtigkeit von Macht-, Wahrnehmungs- und Sexualitätsdispositiven wird ferner Freuds Begriff der Fähigkeit zur Kritik fruchtbar gemacht.

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In diesem Sammelband werden Butlers philosophisches Werk und ihr Beitrag zur politischen Philosophie eingehend behandelt. Die Strukturierung des Bandes und die unterschiedlichen Beiträge folgen einerseits den thematischen Schwerpunktsetzungen, andererseits geben sie einen differenzierten Einblick in Butlers vielfältige theoretische Überlegungen sowie ihre kritischen Reflexionen zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Problemlagen. Die Komplexität der philosophischen Auseinandersetzung setzt allerdings ein theoretisches Vorwissen hinsichtlich politischer und ethischer Fragestellungen, die Kenntnis philosophischer Fachbegriffe sowie aktueller Diskurse voraus. Auf das inzwischen breite Œuvre von Butler wird in den einzelnen Beiträgen sehr differenziert Bezug genommen, sodass eine Kenntnis ihrer zentralen Werke, Begriffe und Denkfiguren notwendig ist, um den Argumentationen folgen zu können. Im Kontext einer Philosophie des Politischen werden die relevanten Begriffe wie Subjekt, Macht, Körper, Identität, Performativität, Vulnerabilität und Prekarität kritisch diskutiert und auf deren analytisches Potential für die gegenwärtigen Diskurse politischer Theoriebildung geprüft. Bedeutsam scheint die theoretische Herausstellung der Vulnerabilität zu sein, worin die Perspektive des verwundbaren Körpers als ein Denken der politischen Widerständigkeit sowie als Strategie für alternative Handlungsmöglichkeiten avisiert wird. Ferner wird die politische Dimension des vulnerablen Körpers gerade angesichts der aktuellen, durch die Corona-Pandemie ausgelösten, Krise verdeutlicht. „Wir können für das Leiden anderer tot oder lebendig sein – sie können tot oder lebendig für uns sein. Aber nur wenn wir begreifen, dass das, was dort geschieht, auch hier geschieht, und dass ,hier‘ immer schon und unausweichlich ein Anderswo ist, haben wir eine Chance, die schwierigen und wechselnden globalen Zusammenhänge in einer Weise zu erfassen, die uns die Beförderung und die Beschränkung dessen, was wir noch als Ethik bezeichnen können, erkennen lässt.“ (Butler 2016: 162)

Butlers Philosophie schärft den Blick einerseits für die globalen Zusammenhänge politischen Handelns, andererseits für die Verwundbarkeit des menschlichen Körpers, die das ethische Verständnis sowie politische Verpflichtung hinsichtlich eines lebbaren Lebens begründet. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Denken eine breite Resonanz in theoretischen wie politischen Thematisierungen erfährt. Anna Orlikowski, Vechta Alois Riklin: Engagierte Politikwissenschaft: Ausgewählte Schriften. Stämpfli Verlag AG, Bern 2018, 598 S. Die schweizerische Politikwissenschaft hat sich universitär im Vergleich mit den Nachbarländern leicht verzögert etabliert. Eine «Generation 0» war in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit einigen Teilgebieten der Politikwissenschaft an vereinzelten Universitäten oder universitären Instituten tätig. So war Jacques Freymond (1911 – 1998) ab 1951 Professor (für Geschichte) am Institut für Internationale Studien (IUHEI) in Genève, von 1958 bis 1977 für Geschichte der Internationalen Be-

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ziehungen an der Universität Genève. Während Freymond allerdings der disziplinären Politikwissenschaft immer abgeneigt, war, darf Erich Gruner (1915 – 2001), ebenfalls von Haus aus Historiker, als Vater der Politikwissenschaft in der Schweiz gelten. Seit 1961 Professor für Sozialgeschichte und Soziologie der schweizerischen Politik und Direktor des «Forschungszentrums für Geschichte und Soziologie schweizerischer Politik» an der Universität Bern, betrieb er auch ab 1965 zusammen mit Peter Gilg (1922 – 2006) das Année politique suisse, das als präzises und konzentriertes Monitoring der Schweizer Politik und Gesellschaft immer noch besteht. Den formell ersten Lehrstuhl für Politikwissenschaft in der Schweiz hatte Jean Meynaud (1914 – 1972) von 1961 – 65 an der Universität Lausanne inne. Flächendeckend wurde die Disziplin an den Schweizer Universitäten ab Ende der 1960er Jahre: Roland Ruffieux (1921 – 2004) lehrte ab 1968 an der Universität Fribourg (formell auf einer Professur für allgemeine Zeitgeschichte, er hatte aber zeitweilig und parallel auch eine für Politikwissenschaft in Lausanne inne). Dusan Sidjanski (*1926) erlangte ebenfalls 1968 eine Professur für Politikwissenschaft an der Universität Genève, ebenso François Masnata (1934 – 2011) im gleichen Jahr eine ao. Professur an der Universität Lausanne. Ab 1970 folgten die Deutschschweizer Universitäten mit Alois Riklin (*1935) als Professor für Politikwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der internationalen Beziehungen an der Hochschule St. Gallen (HSG, heute Universität St. Gallen), ein Jahr später 1971 Daniel Frei (1940 – 88) mit einer gleichlautenden Professur an der Universität Zürich. Schließlich wurde Ernest Weibel (*1942) 1973 Professor an der Universität Neuchâtel. Es sei angefügt, dass aus diesen Jahrgängen mindestens zwei prominente Schweizer Politikwissenschaftler im Ausland Karriere machten – und sich mit je einem bedeutenden Werk zur Schweizer Politik hervortaten1 –, nämlich Leonard Neidhart (*1934) als Professor für Politikwissenschaft in Konstanz 1974 – 2000, und Jürg Steiner (*1935), 1971 – 2002 Professor für Politikwissenschaft an der University of North Carolina at Chapel Hill. Von der vorangehenden, der eigenen und erst recht der nachfolgenden Generationen von Schweizer Politikwissenschaftlern ist Alois Riklin mit Abstand der polyvalenteste. Die Beiträge des hier zu rezensierenden Sammelbandes decken so nicht nur eine eindrückliche Zeitspanne von 46 Jahren – von der akademischen Antrittsvorlesung als Ordinarius in St. Gallen 1971 bis 2017 in einem vom Rezensenten mitherausgegebenen Sammelband2 –, sondern vor allem auch verschiedenste Unterdisziplinen der Politikwissenschaft ab: die Ideen- und Verfassungsgeschichte, die Politische Ethik, Schweizerische Innen- und Außenpolitik sowie zusätzlich noch die Universitäts- und Wissenschaftspolitik. Das zeigt nicht nur die Vielfalt der Milizaufgaben, die Riklin neben seiner Professorentätigkeit – Universitätsrektor, die damals zweithöchste Offiziersstufe für Nichtberufler in der Armee, Mitglied des Forschungsrates des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wis1 2

Neidhart, 1970; Steiner, 1974. Riklin, 2017.

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senschaftlichen Forschung u. a.m. –, sondern auch sein genuin breites Interesse an der Politik. Riklin hat, wie er eindrücklich in seinem Geleitwort bekennt, seine Erkenntnisse in der 30-jährigen Professoren-3 und nun schon über 55-jährigen Wissenschaftskarriere revidiert, sie (wie er mit guten Gründen hofft) «verbessert». Die Beiträge im rezensierten Werk sind zwar Wiederveröffentlichungen, aber von diesem unablässigen und unablässig kritischen Bemühen geprägt, der Erkenntnisse letzten Stand zu formulieren. Das verhindert allerdings nicht, dass die Lektüre da und dort etwas repetitiv wirkt. In der Ideen- und Verfassungsgeschichte, wo Ideen und Verfassungen typischerweise für Riklin, nahgeführt werden, hat Riklin mit seinem opus magnum zur Geschichte der Mischverfassung (2006) ein Standardwerk veröffentlicht, das nach Meinung eines Rezensenten „in keiner verfassungshistorischen und politikwissenschaftlichen Bibliothek fehlen“ sollte.4 Auch im vorliegenden Band wird „die Wahrnehmung der Mischverfassung als eine der wichtigsten und wohltätigsten politischen Erfindungen gegen Machtmissbrauch“ (S. 11) nicht nur wieder belebt, sondern neu affirmiert. Dazu gehört auch die kontinuierliche Beschäftigung Riklins mit dem Freskenzyklus von Ambrogio Lorenzetti in der Sala dei Nove des Palazzo Publico von Siena, der mittlerweile als Buchdeckel in die politikpublizistische Gemein-, um nicht zu sagen: Trivialimagologie Eingang gefunden hat. In der Auseinandersetzung mit den beiden kanonbildenden Altmeistern Nicolai Rubinstein und Quentin Skinner kommt Riklin aber nicht nur zu einer eigenständigen und kenntnisreichen Lektüre des Buon governo, sondern er stellt Lorenzettis Fresken (entstanden 1337 – 9) auch ins Gesamtprogramm der Kunstausstattung des Sieneser Rathauses mit Simone Martini (1315, im Grossratssaal), Taddeo di Bartolo (1413 in der Anti-Cappella), vor allem aber Domenico Beccafumi (1529 – 35 in der Sala del Consistoro). Auch mit einer reichen Illustrierung im Anhang dokumentiert Riklin überzeugend seine These von der über zweihundertjährigen Entwicklung von einer primär religiös inspirierten hin zu einer rein weltlich orientierten republikanischen Ethik in Siena. Als weitere thematische Konstante schält sich etwa Souveränität/Unabhängigkeit heraus: die Unabhängigkeit ist ein Teil der Souveränität, der andere ist die Selbstregierung nach innen, aber kein Staat ist völlig unabhängig (S. 35 f.). Wenn Deutschland, wie bei Max Weber im Ersten Weltkrieg „das deutsche Reich“, „eine Großmacht, wie wir es nun einmal sind“, ein Groß- und Massenstaat, der „unser Gewicht in dieser Frage der Geschichte in die Waagschale werfen“ und wie ein „Herrenvolk in die Speichen der Weltentwicklung“ greifen soll, je einmal war, heute ist es das jedenfalls nicht mehr. Und der biedere Kleinstaat Schweiz existiert nicht mehr einfach nur als pittoreskes kulturelles Gegenprojekt (was übrigens auch für Dänen, Holländer, 3

Zu seiner Emeritierung erschien eine gediegene Festschrift: Kley/Möckli, 2000, mit einem gleichermaßen einfühlsamen wie kenntnisreichen Porträt des Mitherausgebers Kley: 559 – 638. 4 Backes, 2007: 185.

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oder Norweger galt), der „den Panzer großer Militärstaaten nicht tragen“ konnte. Heute ist die Schweiz wirtschaftlich bedeutend und intensiv regional wie global verflochten, allerdings nur partiell integriert; gegenüber dem europäischen Normalfall fehlt die Mitgliedschaft in der NATO und in der EU. Während erstere mit der schweizerischen Neutralität – deren übers Ganze gesehen positive Funktionen im Übrigen seit 1989 merklich erodieren (s. Nr. 19, S. 350 ff.) – nicht vereinbar ist, wird Riklin zurecht nicht müde zu betonen, dass uns infolge der Nichtmitgliedschaft in der EU Unabhängigkeitseinbußen erwachsen, oder wie er schon 1975 sagte: Dependenz mangels Mitbestimmung.5 „Indem sich die Schweiz an ein formalistisches, fiktives Souveränitäts- und Unabhängigkeitsverständnis klammert, schlittert sie als Nichtmitglied der Europäischen Union mangels Mitbestimmung auf der schiefen Ebene wachsender faktischer Integration in zunehmende Abhängigkeiten. Wer nicht mitbestimmen kann, läuft Gefahr, fremdbestimmt zu werden. Die Schweiz tendiert zum nichtautonomen, nichtsouveränen Nachvollzugsland.“ (S. 170)

Deutlich betont wird bei Riklin verschiedentlich die Überlegenheit von Donato Giannottis prozessorientierter und die Außenpolitik berücksichtigender Gewaltenteilungslehre über die stärker strukturorientierte von Montesquieu.6 Beide sind sich allerdings des „thukydideischen Pragmas“ (Max Weber) der Macht bewusst, die den politischen Erfindergeist weckte und gerade bei Montesquieu in die „für immer gültige“ Forderung des institutionellen Checks der einen Macht durch eine andere mündet (S. 148). Riklin kann aber auch den Bogen schlagen von seiner ideengeschichtlichen Trouvaille Giannotti bis zu den wirtschaftswissenschaftlichen Nachbardisziplinen in St. Gallen. Das wird in den Beiträgen zur schweizerischen Innenpolitik deutlich, etwa bei der vorgeschlagenen Projekt- anstatt der dem Juristen an sich näher stehenden Kompetenz-Orientierung der politischen Exekutive und deren Reform, wo er eine Anleihe bei der BWL nimmt, oder beim „magischen Vieleck der schweizerischen Staatsidee“ aus dem Werkzeugkasten der Volkswirtschaft(-spolitik). Präzis im Moment übrigens von Riklins Vorschlag einer dergestalt eben sozialwissenschaftlich angereicherten Regierungsreform (1995) nahm die Schweiz den Weg einer am New Public Management orientierten Verwaltungsreform;7 zu der von Riklin angemahnten Reform der politischen Führung ist es nicht wirklich gekommen. Eine solche hätte das Kollegialprinzip des Bundesrates (Exekutive) stärken, und dafür die sieben einzelnen Bundesräte in ihren Ressortaufgaben (Departementen) entlasten sollen. Diese Reformen sind versandet; realisiert wurde, wie von Riklin vorausgesagt, die „Minireform“ einer Entlastung durch einzelne „Staatssekretäre“, die gewissermaßen als „höhere Amtsdirektoren“ ohne politische Funktion und Kompetenz fungieren.

5 Riklin, 1975; 30 – ein weiterer seminaler Beitrag Riklins, der auch die «St. Galler Studien zur Politikwissenschaft» begründete. 6 Vgl. auch die Matrixdarstellung in Riklin, 1998: 56. 7 Dazu Brühlmeier et al., 2001.

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Ein nicht nur biographisch, sondern auch wissenschaftlich für Riklin typisches Thema ist die Miliz: hier spürt man einerseits aus der wissenschaftlichen Prosa Nähe, ja Begeisterung für die Sache heraus, andererseits auch den unerbittlichen Blick für den Verfall einer Idee oder Praxis und, schlimmer noch, deren (manchmal sogar bewusste und bewusst verschleiernde) Überhöhung und Verfälschung. Riklins Arbeiten zur Miliz sind gewichtig, „Milizparlament?“ (Nr. 24, mit Silvano Möckli) gehört zu seinen „seminal articles“. Miliz ist in der Schweizer Politik und Demokratie ein hehres, aber zunehmend auch hohleres Ideal: Der faktische Arbeitsaufwand eines Bundesparlamentariers beträgt heute im Durchschnitt gegen 60 %; mit Einkommen, Taggeldern und Entschädigungen verdient man heute im Durchschnitt rund 130.000 CHF pro Jahr. Über die Hälfte sind Halbberufsparlamentarier, die daneben noch einem Teilzeitberuf nachgehen. 28 % sind „Berufsabgeordnete“;8 diese haben oft noch ein „Einkommen“ eines privaten Arbeitgebers (Krankenkasse, Wirtschaftsverband, Gewerkschaft, Bank/Versicherung etc.), das dasjenige des Parlaments z. T. bei weitem übersteigt. Viele Wortprägungen von Riklin sind schlagend und langlebig. Dass die Schweiz ein „Geheimdienste-Kooperationsland“ (S. 48) ist, wurde durch die kürzlich aufgebrochene Crypto-Affäre eindrücklich bestätigt: Die Crypto AG, die seit den 1950er Jahren und über Jahrzehnte die weltweit besten Chiffriergeräte an über 100 Nationen verkaufte, erwies sich als eine gutschweizerische Tarnfirma des CIA und des BND, die die Geräte so manipulierten, dass sie alles mithören und -lesen konnten – also etwa 1973 beim Militärputsch in Chile, 1978 bei den Friedensverhandlungen in Camp David, 1982 beim Falklandkrieg, aber auch in diversen staatsterroristischen Aktivitäten Irans oder Libyens. Der Schweizer Geheimdienst wusste und profitierte wahrscheinlich davon; die Abklärungen, ob und wieweit der Bundesrat davon Kenntnis hatte, laufen. Riklins kleinere Schriften zeichnen sich aus durch unvoreingenommene, aus reicher und vielfältiger Lektüre und Beschäftigungen genährte Fragestellungen, eine klare und unprätentiöse Sprache, eine systematische, aber variable, vor allem alerte, energisch vorwärtsschreitende Argumentation. Diese ist oft «dialektisch», und zwar in einem eminent thomistischen Sinne: Riklin stellt zwei konträre Position einander gegenüber und macht jede für sich stark, um dann in einer Synthese die positiven Aspekte zu verbinden. Diese Methodik wird bei Riklin gewissermaßen zur Haltung: in praktisch allen Positionsbezügen des Buches haben wir Balance des Urteils, Vermittlung und Vermeidung von extremen Positionen und Lösungen. Das zeigt sich in der Bildbetrachtung ebenso wie in der Gegenüberstellung von Gemeinwohl und Volkssouveränität, in der wichtigen Unterscheidung, aber eben auch wieder Zusammenführung von personalistischer, institutionalistischer und resultatorientierter Perspektive in der politischen Ethik.

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So Vatter, 2018: 282 ff., von dem auch die neuesten Zahlen stammen.

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Max Weber ist die zentrale Referenz im Geleitwort, das für diese Publikation neu verfasst wurde, sich aber an eine wichtige frühere Publikation anlehnt.9 Riklin folgt Weber in praktisch allen von ihm interpretierten Aspekten der Werturteilsfreiheit – präzis mit Ausnahme des Wertengagements. In einem „Exkurs zur Machtpolitik“ (S. 24 – 26) und in Anlehnung an (einen allerdings nur partiell rezipierten) Dieter Langewiesche verschärft Riklin im Geleitwort sogar noch die frühere Position: Im Gegensatz zu seinem „Ghostwriter“ und „insgeheimen Gewährsmann“ Machiavelli betreibe Weber ein uneingestandenes Wertengagement, insbesondere in seinem Bekenntnis zu einem „imperialistischen Nationalismus“. Riklin selbst steht zu diesem Wertengagement, was sich sprechend auch im Titel des Werks ausdrückt. Er stipuliert dafür explizit die Bedingungen der Explizitheit, Begründung, Aufrichtigkeit und Vorläufigkeit. Wie das Gros der Autoren geht Riklin die Werturteilsfrage bei Weber vom Methodischen her an. Überblickt man den ganzen Weber, kann man feststellen, dass er in der Tat wenig Hemmung vor Werturteilen hatte. Man könnte etwa auch – was m. W. überraschenderweise noch niemand gemacht hat – die Aufrufe hinzuziehen, die er (mit)unterzeichnet hat: sie betreffen eminent politische Fragen, Büsten oder Porträts von Persönlichkeiten, Lehrstühle, aber auch so emotional berührende (Kriegs)Alltagsthemen wie deutsche Sanitätshunde. Sein methodisches Credo war, dass Werturteile nicht wissenschaftlich, ja wohl nicht einmal rational begründet werden können. Seine tiefere Tragik liegt allerdings darin, dass der „Kampf der Götter der einzelnen Ordnungen und Werte“, sowohl die Tatsache, dass die inkommensurable „Unvereinbarkeit und also die Unaustragbarkeit d[ies]es Kampfes der letzten überhaupt möglichen Standpunkte zum Leben“ als auch „die Notwendigkeit also: zwischen ihnen sich zu entscheiden“,10 unser Leben konstitutiv ausmachen. Weber konnte sich nicht in einen zynischen Wertnihilismus flüchten, wie er ihm im legendären Zusammenstoß im Café Landtmann von Schumpeter quasi auf dem Silbertablett präsentiert wurde. „Engagierte Politikwissenschaft“ – enragiert ist sie übrigens nur selten und dann eigentlich nur im nicht-öffentlichen Rahmen – ist also ein für Riklin sehr treffender Titel: Leidenschaft und Sachlichkeit, und deren spannungsreiches Verhältnis zeichnen ihn aus. Für seine Weggefährten, die bei ihm auch mal Schüler und Lernende waren, stellt sich das Gefühl von «Charisma» im Unterricht ein. In Webers «Wissenschaft als Beruf» scheint so etwas auf den ersten Blick kategorisch ausgeschlossen, bei genauerem Hinsehen zeigen sich mögliche Öffnungen: „Pulsiert jenes Etwas“ wenn nicht im Hörsaal, so doch im (eben auch intimeren) Forschungsgespräch, in der Wahl des Dissertationsthemas u.a.m.? Zudem gebraucht Weber seinen Begriff Charisma/charismatisch in dessen triadischer Form auch11 – und vielleicht sogar zum ersten Mal!12 – im 9

Riklin, 1987: 9 ff. Weber, 1992: 104 f. – die Hervorhebungen in den beiden Zitaten finden sich im Original. 11 Vgl. die Ausführungen zu den „grossen Typen der Erziehung“ im Rahmen des chinesischen Literatenstandes in Weber, 1989: 302 f. 12 Weber, 2001: 322 („ Autoritäten des Kindes“). 10

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Erziehungskontext. Was aber bei Weber durchaus auch eine tragische Note hat, erscheint für jemanden, der ihn näher kennt, beim Bergsteiger und Geigenspieler Riklin spielerisch, ja fröhlich, damit im wahrsten Sinne auch: „fröhliche Politikwissenschaft“. Literatur Backes, Uwe (2007): Rezension: Alois Riklin: Machtteilung: Geschichte der Mischverfassung. In: Totalitarismus und Demokratie, 4 (1), 2007, 182 – 185. Brühlmeier, Daniel/Haldemann, Theo/Mastronardi, Philippe/Schedler Kuno (2001): Politische Planung. Mittelfristige Steuerung in der wirkungsorientierten Verwaltungsführung. Bern/ Stuttgart/Wien: Paul Haupt. Kley, Roland/Möckli, Silvano (Hrsg.) (2000): Geisteswissenschaftliche Dimensionen der Politik. Festschrift für Alois Riklin zum 65. Geburtstag. Bern/Stuttgart/Wien: Paul Haupt. Langewiesche, Dieter (2016): Nation bei Max Weber: soziologische Kategorie und politisches Bekenntnis. Zum Verstummen des Soziologen als homo politicus vor seinem Wertgott. In: Lehnert, Detlef (Hrsg.), Max Weber 1864 – 1920. Politik – Theorie – Weggefährten. Wien: Böhlau, 39 – 56. Neidhart, Leonhard (1970): Plebiszit und pluralitäre Demokratie. Eine Analyse der Funktion des schweizerischen Gesetzesreferendums. Bern: Francke. Riklin, Alois (1975): Grundlegung der schweizerischen Außenpolitik. Bern: Haupt. – (1987): Verantwortung des Akademikers. St. Gallen: VGS Verlagsgemeinschaft. – (1998): Vom Gleichgewicht in der Politik. In: Politisches Denken. Jahrbuch 1998, 47 – 65. – (2006): Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. – (2017): Defizitäre Demokratie. In: Brühlmeier, Daniel/Mastronardi, Philippe (Hrsg.): Demokratie in der Krise. Analysen, Prozesse und Perspektiven. Zürich: Chronos, 269 – 283. Steiner, Jürg (1974): Amicable Agreement versus Majority Rule. Conflict Resolution in Switzerland. Chapel Hill: University of North Carolina Press. Vatter, Adrian (2018): Das politische System der Schweiz, 3. Aufl. Baden-Baden: Nomos. Weber, Max (1989): Gesamtausgabe, Abt. 1, Schriften und Reden, Bd. 19: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus: Schriften l915 – 1920, hrsg. von Helwig Schmidt-Glintzer in Zus. mit Petra Kolonko. Tu¨ bingen: J.C.B. Mohr – Paul Siebeck. – (1992): Gesamtausgabe, Abt. 1, Schriften und Reden, Bd. 17: Wissenschaft als Beruf: 1917/ 1919 [u. a.], hrsg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter in Zus. mit Birgitt Morgenbrod. Tu¨ bingen: J.C.B. Mohr – Paul Siebeck. – (2001): Gesamtausgabe, Abt. 1, Schriften und Reden, Bd. 22: Wirtschaft und Gesellschaft: die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte; Nachlaß. Teilbd. 1. Gemeinschaften, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen und Michael Meyer. Tu¨ bingen: J.C.B. Mohr – Paul Siebeck.

Daniel Brühlmeier, Baden

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Michael Kühnlein: konservativ ?! Miniaturen aus Kultur, Politik und Wissenschaft. Duncker & Humblot, Berlin 2019, 495 S. Bei der Bestimmung dessen, was oder wer und vor allem wie konservativ ist, denkt, handelt oder einfach nur ist, kommt man allzu schnell in die Versuchung einer Verallgemeinerung. Je nach Blickwinkel kann konservativ vieles gleichzeitig sein – eine verbindliche Schnittmenge sucht man indessen (aus gutem Grund) vergebens. Mit dem Konservatismus, vereinzelt auch zum Konservativismus verballhornt,1 liegt einer der vielleicht wichtigsten strategischen Schlüsselbegriffe in der modernen politischen Auseinandersetzung vor, an dem sich seit den Tagen von Edmund Burke und der in den nachrevolutionären Wirren des postnapoleonischen Paris erscheinenden Zeitschrift „Le Conservateur“ schon viele versucht haben.2 Sofern überhaupt Annäherungen möglich – oder wohl eher denkbar – sind, kaprizieren sich diese in der Hauptsache auf die Argumentationslinie Bewahrung (der historischen Ordnung) – Staat – Nation – Gesellschaft – Legitimation – Identität.3 Auffällig dabei sind gleich mehrere Befunde, die infolge dessen auch für den hier zu besprechenden Band von Michael Kühnlein heranzuziehen, weil erkenntnisleitend sind. Der Konservatismus kann, erstens, wie dies Karl Mannheim begründet hat, aus sich selbst heraus nicht als Ideologie aufgefasst werden. Das Konservative als materielles Substrat der Diskurse seit Burkes „Reflections on the Revolution in France“ (1790) ist, zweitens, das aufgeklärte (nationale) Bürgertum. Konservativ meint, drittens und im besten Sinne der von Aristoteles bis Bourdieu reichenden Traditionslinie zur Bestimmung von habituellen Verhaltensmustern, eine an normativen Werthaltungen orientierte und gegenüber der Legitimität des staatlichen Handelns kritisch-reflexive Einstellung. Bedenkt man letzteres, wird das Interesse Kühnleins an der Materie verständlich, der sich schon in seiner Promotion mit dem Denker Charles Taylor befasst hat, mit dem der dritte Befund noch um die sakrale (religionsphilosophie) Dimension erweitert werden kann. Allen drei Befunden gemeinsam – und hier wird es mit Blick auf Kühnleins Projekt „konservativ ?!“ noch interessanter – ist, dass konservativ mal kulturpessimistisch, mal existentiell entlang einer bellizistischen Freund-Feind-Konstellation,4 mal durch die Brille der Staatsräson und mal föderal gedacht werden kann. Kein Wunder also, dass bislang noch jeder, der für sich die Deutungsmacht über den Konservatismus beanspruchte, dafür ein bestimmendes Beiwort hinzugefügt – und so das Erscheinungsbild des Konservativen nachhaltig verschleiert hat. Umso wohltuender also, dass Michael Kühnlein als Herausgeber genau darauf verzichtet und die im Sammelband vereinten Autorinnen und Autoren für sich sprechen und wirken lässt. Was hier bescheiden als „Miniaturen aus Kultur, 1 Vgl. Andreas Rödder, 2019. Im Kontrast dazu Joachim Klose/Norbert Lammert (Hrsg.), 2019. 2 Vgl. im Sinne einer kulminierten Kritik an diesen Versuchen Christoph Kai Klunker, 2016. Ähnlich schon Gerd-Klaus Kaltenbrunner, 1972. 3 Vgl. Peter Nitschke, 2019. 4 Vgl. Peter Nitschke, 2019: Sp. 1006 – vor allem mit Blick auf die (notwendige) Abgrenzung zu Totalitarismen wie dem Nationalsozialismus.

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Politik und Wissenschaft“ – so der erläuternde Untertitel des imposanten Sammelbandes – angekündigt wird, ist in Wirklichkeit ein wahres Kaleidoskop, das sich zwischen dem im Titel enthaltenden Frage- und dem Exklamationszeichen aufspannt. Kühnlein will weder den Kampfbegriff noch das politisch-ideologische Mobilisierungspotential (S. 15). Ihm geht es um die „leidenschaftlichen Erfahrungswelten von Schriftstellern, Politikern und Wissenschaftlern“, die hier im Essay-Stil, auf wenige Seiten komprimiert, ohne eine vom Herausgeber vorgegebene systematische Einordnung und vor allem „barrierefrei“ (S. 16) als (z. T. sehr persönlich gehaltene) Innenansichten präsentiert werden. Kühnleins Einladung an den Leser ist ebenso kurz und prägnant: Wer wie der Herausgeber davon ausgeht, „dass der Konservatismus […] eine unzerstörbare lebensweltliche Basis hat“, möge sich die Muße nehmen und sich diese Erkenntnis anhand der über 100 Beiträge selbst erlesen. Sucht man nach verbindenden Elementen und Brückenschlägen zwischen den Autorinnen und Autoren, fällt das Suchende, das Hinterfragende gegenüber dem Schlagwort konservativ auf, das – bei manchen Beitragenden überraschend – durchweg auf Sympathie trifft und dadurch in der Summe eine überaus bemerkenswerte Vielschichtigkeit und zugleich Tiefenschärfe erhält. Angesichts der Vielzahl der Beiträge seien im Folgenden nur einige wenige exemplarisch vorgestellt, verbunden mit der Intention, die im Hintergrund liegenden Kontexte und Verbindungen zwischen den einzelnen Texten zumindest ansatzweise aufzuzeigen. Kühnlein eröffnet den an einen Episodenfilm erinnernden und nur scheinbar ohne inhaltliche Ordnung daherkommenden Reigen mit Wolfgang Schäuble, der als Präsident des Deutschen Bundestages, als Bundesinnen- und als -finanzminister, als Stichwortgeber in der Frühphase des europäischen Unionsvertrags von Maastricht und nicht zuletzt als Mitglied des Deutschen Bundestages (seit 1972) über ein wahrhaftig umfangreiches politisches Wissen verfügt. Für Schäuble spielt gerade die Moral (S. 18) eine Schlüsselrolle, die er als Kompass im politischen Wettstreit und jenseits der Zeitumstände (S. 19) betrachtet. Für Schäuble ist das Konservative Anker und Antwort zugleich auf das „Nichts“ der Moderne (S. 20). Darauf lässt Kühnlein gewissermaßen Winfried Kretschmann antworten, jenen Ministerpräsidenten der Partei Bündnis 90/Die Grünen, der – so das sorgsam und mit Blick auf die anstehenden Landtagswahlen (14. 03. 2021) in Baden-Württemberg gepflegte Image –, der durch seine pragmatischen Entscheidungen die Partei auch für die bürgerlichen Mitte wählbar macht und der in seinem Beitrag wie selbstverständlich eine Brücke zu Edmund Burke findet (S. 22). Fast möchte man sagen „ausgerechnet“ – aber Kretschmann setzt bei der Schöpfung ein, lässt Kant und Joas aufblitzen, appelliert an das Basisdemokratische und bietet im Geiste von Heiner Geisler so viele Anknüpfungspunkte, dass sich die CDU als Koalitionspartner in Stuttgart auf einen schwierigen Wahlkampf einstellen muss. Mit Thilo Schabert ruft Kühnlein sodann einen Schüler Eric Voegelins in den Zeugenstand, der u. a. als politischer Berater des französischen Präsidenten François Mitterrand profunde Kenntnisse über das sonst für die Politikwissenschaft nur schwer zugängliche politisch-administrative (Entscheidungs-)Umfeld hat. Schaberts Formulierungen sind nur vordergründig bio-

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graphisch, seine Allegorie auf den Frosch (S. 29) liest sich wie eine Replik auf Winfried Kretschmann und damit auf die Frage der Deutungshoheit über die Geschichte an sich (S. 28). Wenn man nun in dem Band voranschreitet, an den Beiträgen von Kardinal Woelki, der hier als Vertreter ostpreußischer Landsmannschaften dem Themenspektrum Migration Gewicht verleiht, und Rita Süßmuth, die das Thema Frau in der CDU herausstellt, bietet der Beitrag des Hirnforschers Wolf Singer eine an Descartes erinnernde Erkenntnis: Der Mensch lernt durch Erfahrungen, also ist auch die Demokratie an sich ein lernendes Wesen (S. 44). Dazu bedarf es eines historischen Bewusstseins, für das sich im Anschluss Jörn Leonhard stark macht. Alleine diese wenigen Beispiele zeigen schon die Querverbindungen in dem Sammelband auf: Woelki als Katholik, Süßmuth als Protestantin. Von Süßmuth ließe sich der Faden zu Armin Laschet spannen, der an das christlich-europäische Erbe erinnert (S. 239 ff.), oder zu Dorothee Bär, die sich für die CSU im aktuellen Kabinett Merkel als Staatsministerin um das Thema Digitalisierung kümmert, das Dirndl als politischironisches Druckmittel einsetzt und darauf verweist, dass für Konservative die Evolution kein Kulturkampf (S. 196) ist. Dass neben Armin Laschet als CDU- und Stephan Weil als SPD- mit Bodo Ramelow auch ein Ministerpräsident von der Partei Die Linke zu Wort kommt, kann als Reminiszenz an die Brüche im Parteiengefüge des heutigen Deutschlands gewertet werden. Wer außerdem daran zweifelt, dass es so etwas wie eine Bezugsebene zwischen so widersprüchlichen Persönlichkeiten wie Thomas Sternberg, Dietmar Bartsch, Jürgen Trittin, Ralf Stegner und der bis zu ihrem plötzlichen Rückzug in den öffentlich-rechtlichen Talkshows omnipräsenten Sarah Wagenknecht geben kann – dem bieten sich hier echte Überraschungen an. Wagenknecht beispielsweise beruft sich auf das politische Chamäleon Gustav Heinemann (S. 65), die Rhetorik ist ihrer früheren Schwerpunktsetzung als Oppositionsführerin (bis 2017) und als Fraktionsvorsitzenden der Partei Die Linke geschuldet. Geschichtsbewusstsein ist in ihrem Fall denn auch eine Frage der dialektischen Identitätsbildung (S. 68). Bedenkt man die Wortgefechte im Bundestag, möchte man direkt zu Philipp Amthor (S. 121 ff.) wechseln, der wiederum an Schäuble anknüpft, sich als rationaler Pragmatist von dem nach Beliebigkeit strebenden Zeitgeist distanziert und als eines der großen rhetorischen Talente auf der Reservebank der Unionsparteien gilt – ein Schicksal, das er mit Jens Spahn (S. 281 ff.) teilt. Wer nun den Blick weiter streifen lässt, dem fällt der lebenskluge Beitrag von Hans Maier ins Auge, jenem Schüler von Arnold Bergstraesser, der als Vertreter der sogenannten Freiburger Schule zu den Mitbegründern der Politikwissenschaft in Deutschland zählt. Maier setzt sich kritisch mit dem Faktor der Staatsräson im konservativen Denken auseinander (S. 253), erklärt das Diktum vom „Wandel durch Annäherung“ (S. 254) zum Mythos und erinnert an den Stellenwert des Godesberger Programms der SPD (ebd.). Seiner Feststellung nach ist das Konservative auch in die anderen Parteien eingesickert – die Beiträge von Cem Özdemir (S. 215 ff.) und Nicola Berr (S. 227 ff.) lesen sich folgerichtig wie eine Replik auf die Versuche des Jahres 2017, eine Jamaika-Koalition zu schmieden.

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Michael Kühnlein gibt sich übrigens auch selbst das Wort, in dem er darüber räsoniert, wie konservativ das Konservative ist (S. 473). Würde sein Beitrag den Reigen schließen, geriete der Herausgeber hier schnell in den Verdacht eines Schlusswortes; ein solches kann und will der bewusst offene und zur Debatte einladende Band aber nicht liefern. Stattdessen setzt sich Kühnlein mit der Frage der Wahrheit auseinander, in Zeiten von Fake News und gezielter Desinformation als Mittel der (staatlich gelenkten oder auch parteipolitisch motivierten) Propaganda durchaus naheliegend. Der Verweis auf Hegels Eulenmetapher – die Herbert Marcuse einst aufgrund ihrer vermeintlichen Fortschrittsfeindlichkeit verdammte5 – lässt den Konservativen als Verstandesmensch auftreten, der sich, wie schon oben bei Wolf Singer ausgeführt, der Tat rational nähert und somit den Versprechungen eines Liberalismus widersteht, der Freiheit nur vorgaukelt (S. 474). Dass Kühnlein dabei das berühmte Böckenförde-Theorem streift und sodann en passant mit Oswald Spengler und Carl Schmitt jene (vermeintlichen) Apologeten der Führer-zentrierten Apokalypse bemüht, lässt den Konservatismus als phänomenologisches Konstrukt aufscheinen, das Kühnlein zum unverzichtbaren Element der modernen Demokratie erklärt (S. 475). Der Konservatismus als systemrelevant, als notwendiges Korrektiv gegenüber dem Progressiven – Kühnlein verdeutlicht das am Beispiel Talleyrands, den er gewissermaßen zum Prototypen eines Wendehalses proklamiert (S. 476). So ist es an Hermann Lübbe, den Band abzurunden. Lübbe ist eine weitere Querverbindung, gehörte er doch wie Hans Maier zum Gründerkreis jenes Bund Freiheit der Wissenschaft, der sich in den 1960er Jahren kritisch mit der rebellierenden Studierendenschaft auseinandersetzte, dann im Historikerstreit in der Opposition zu Jürgen Habermas stand und sich schließlich 2015 selbst auflöste. Warum aber steht Lübbe, zuletzt mit einer kleinen Schrift zum politischen Moralismus in Erscheinung getreten,6 am Schluss des Bandes? Ist es sein Verweis auf die ungebrochene Modernität des Konservatismus (S. 467), die er beispielhaft in der Archivierung von Kulturgütern erkennt und dafür unter anderem auf François Mitterrand verweist, der schon bei Tilo Schabert anklang? Wo Lübbe auf die Macht der Geschichte hinweist, liegt der Rekurs auf Marx nahe (S. 478), den Lübbe aber nur kursorisch streift, um generell auf den Faktor Erinnerung als Kampfmittel im politischen Wettstreit hinzuweisen. Konservatismus als Ausdruck einer „unverfügbaren Herkunft“, die es „zukunftsfähig zu halten“ gilt – gespiegelt an der für ihren pragmatischen Regierungsstil vielgescholtenen Angela Merkel –, das liest sich bei Lübbe (S. 482) als Appell für die geistige und politische Redefreiheit, die nur im konservativen Denken bewahrt werden kann, weil das progressive Pendant zum Verbotsdiskurs und damit zur Negation des Historischen neigt. Ein vielsagender Abschluss für einen Sammelband, der mehr sein will – und auch so verstanden werden sollte. Kühnlein legt hier eine wahrlich gelungene Einladung zur Debatte vor.

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Vgl. entsprechend Herbert Marcuse, 1990: 166. Vgl. Hermann Lübbe, 2019.

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Rezensionen Literatur

Kaltenbrunner, Gerd-Klaus (1972): Rekonstruktion des Konservatismus. Freiburg i.Br.: Rombach-Verlag. Klose, Joachim/Lammert, Norbert (Hrsg.) (2019): „Balanceakt für die Zukunft“. Konservatismus als Haltung. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht. Klunker, Christoph Kai (2016): Beobachtungen zum heutigen Konservatismus in Deutschland. Eine Untersuchung nach Edmund Burke. Frankfurt a. M.: Peter Lang-Verlag. Lübbe, Hermann (2019): Politischer Moralismus. Der Triumpf der Gesinnung über die Urteilskraft. Münster: Lit-Verlag. Nitschke, Peter (2019): Konservatismus. In: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), 2019: Staatslexikon. Recht-Wirtschaft-Gesellschaft in 5 Bde. 8., völlig neu bearb. Aufl. Freiburg i.Br. u. a.: Herder-Verlag, Spalte 1003 – 1008. Marcuse, Herbert (1990): Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie. 8. Aufl. Frankfurt a. M.: Luchterhand. Rödder, Andreas (2019): Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland. München: C.H. Beck-Verlag.

Martin Schwarz, Vechta Alexander Grau: Politischer Kitsch. Eine deutsche Spezialität. Claudius-Verlag: München 2019, 127 S. Alexander Grau gehört zu jenen Autoren, die nicht zum akademischen Betrieb zählen, sondern sich als freie Publizisten in essayistischer und populärwissenschaftlicher Form an aktuellen gesellschaftspolitisch und politikwissenschaftlich relevanten Debatten beteiligen. Als Grenzgänger zwischen der akademischen und der nichtakademischen Welt unterliegen diese Autorinnen und Autoren zwar den kommerziellen Zwängen des Buch- und Zeitschriftenmarktes, dafür aber nicht der wissenschaftlichen Zitierakkuratesse oder den Stilgepflogenheiten im akademischen Betrieb. Das mag den Vorteil haben, als Autorin oder Autor – unbekümmert um solche Zitier- und Stilgepflogenheiten – frei und frank auch provokant zugespitzte Thesen zu verbreiten. Nachteilig kann dann freilich sein, dass die Form des populärwissenschaftlichen Essays dazu verführt, wissenschaftliche Traditionsbestände auszublenden und Gefahr zu laufen, als bloßes Pamphlet missverstanden zu werden. Zentrale These des Buches ist, dass „politischer Kitsch“ Produkt eines politischen Bewusstseins sei, das „selber kitschig“ ist. Basis dieses kitschigen „Politbewusstseins“ sei der „moralische Kitsch“, dieser wiederum sei das „psychologische Fundament“ des politischen Kitsches, der sich des ästhetischen Kitsches „bedient“ (S. 14). Beide, ästhetischer wie moralischer Kitsch, bauen auf Sentimentalität, auf eine „zur Schau getragene Empfindsamkeit“, auf erhoffte „Geborgenheit“ in einer geordneten Welt, damit auf Komplexitätsreduktion. Gegen den rationalen Politikbetrieb organisiere sich das kitschige Bewusstsein mittels politischem Kitsch als „Kommunikationsform der Zivilgesellschaft“ (S. 15). In dieser „Gemeinschaft der politisch Er-

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leuchteten, der Nichtkorrumpierten und Aufrechten“ könne der moralische Kitsch einem „moralischen Maximalismus“ frönen (S. 16), Moral werde massentauglich und der Einzelne könne sich ohne eigene Kosten im guten Gefühl moralischer Überlegenheit sonnen. Aufgrund der Denunziation möglicher Kritiker als „Unmenschen“ sei es zudem möglich, die „diskursive Lufthoheit“ zu beanspruchen (S. 17). Statt rationaler Analyse oder dem Abwägen verschiedener Perspektiven und Positionen würden sentimentale Worthülsen, eine infantile Sprache und vielsagende, Betroffenheit anzeigende Gesten bemüht. Kennzeichnend sei daher der „Appellcharakter“ zu symbolischen Handlungen wie Lichterketten, Mahnwachen, „herzerwärmende Solidaritätsbekundungen“, Schweigemärschen, Kerzen, von Kindern gemalte Bilder, Blumen, Kuscheltiere etc. Stets gehe es um „Zeichen setzen“, „Gesicht zeigen“, „Aufstand der Anständigen“, „wachsame Zivilgesellschaft“ etc. Sogleich mag sich an dieser Stelle beim Leser – auch dieser Rezension – Widerstand regen. Ist es in einer demokratischen Gesellschaft nicht erwünscht, ja notwendig, dass Bürgerinnen und Bürger sich in der Öffentlichkeit engagieren und aktiv Stellung zu gesellschaftspolitischen Fragen beziehen? Wie passt hierzu die provokative These von Grau, politischer Kitsch sei eine „Gefahr für die offene Gesellschaft“ (S. 10)? Eine erste Antwort gibt Grau mit der ästhetischen Unterscheidung zwischen Inhalt und Form: gegen Inhalte (wie Umweltschutz, Frieden oder Humanität; artikulierte Sorgen, Wünsche, Hoffnungen) habe niemand grundsätzlich etwas einzuwenden; problematisch hingegen sei die kitschige Inszenierung als Form, das heißt die Infantilität der Selbstdarstellung, das „Gefühlige der benutzten Sprache“, die „süßlichen Bilder und Metaphern“ (S. 13). Gegen eine solche Aufwertung der Gefühle – daran sei hier erinnert – hatte schon Hegel geltend gemacht, dass zwar moralische, religiöse, soziale oder politische Ideen und Prinzipien als Inhalte zuerst einmal auch empfunden werden müssen, um bewusst gedacht werden zu können. Aber Gefühl und Empfindung als jeweils an die Individualität Einzelner gebundene Form können keineswegs die Geltungsbasis für verallgemeinerungsfähige Rechtfertigungen abgeben. Dazu passt denn auch die zweite Antwort von Grau, indem er historisch die „Grammatik des Kitsches“ (S. 31) mit pietistischer Frömmigkeit in Verbindung bringt – diese verkläre die Wirklichkeit im Zeichen „persönlicher Gefühligkeit“, die innere Welt des sentimental gestimmten Subjekts werde zur alleinigen Welt, die äußere Realität werde verleugnet, es komme zur „Weltflucht“, zum „Schwelgen in der eignen Gefühlswelt“ (S. 36), zur „Verklärung des Subjektiven und Gefühligen“ (S. 40), insbesondere in der Romantik des sich formierenden Bürgertums. Otto Pöggeler – auch daran sei erinnert – bezeichnete im Sinne von Hegels „Kritik der Romantik“ solche subjektiv-individuelle stimmungs- und empfindungsinduzierte Welteinstellung als „unversöhnte Subjektivität“1 im Medium eines „gläubigen, sich sehnenden Gemüts“2. Auch mit Grau basiert Kitsch in diesem Sinne auf einem „kitschigen Weltbild“ (S. 40) am Leitfaden 1 2

Pöggeler, 1999: 43. Hegel, 2003 [1823]: 189.

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einer „Idee der Verklärung des Gewöhnlichen“, das „Ewige“ sei „schon im Hier und Jetzt präsent“ (S. 51). Wer hört hier nicht auch die frühe Warnung von Lessing vor den religiösen – und mutatis mutandis – auch politischen „Schwärmern“ heraus, die fordern, dass ihre weltverändernden Ideen „in dem Augenblicke“ ihres „Daseins reifen“.3 Diese Entwicklung – so Grau – habe im Extrem zur Entstehung „totalitärer Regime“ (S. 75) wie im Faschismus und Kommunismus führen können. Vermeintlich harmloser – so Grau – führe der kitschige „Traum von der totalen Versöhnung der Welt“ (S. 89) beispielsweise zur Uminterpretation der Wirklichkeit zu einem „Verblendungszusammenhang“ (S. 90), zur „Moralisierung der Weltwahrnehmung“ (S. 92) und zum Kippen der „Aufklärung in Gegenaufklärung“ (S. 97). Denn letztlich lasse sich alles kritisieren und selbst Aufklärung, von Kant als „Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“ bestimmt, könne nunmehr der „Entmündigung“ der Menschen überführt werden. Wir erinnern uns an den Streit zwischen Arnold Gehlen und Theodor W. Adorno4, in dem Gehlen Adorno genau solche sich selbst entgrenzende Kritik, die vor nichts und niemanden Halt mache, vorgeworfen hatte. Man denke auch an Ralf Dahrendorf, der angesichts unaufhebbarer Konfliktträchtigkeit der „ungeselligen Geselligkeit“ (Kant) der Menschen5, die auf Freiheit und Sicherheit garantierende Institutionen angewiesen seien, vor einem „ganz hemmungslosen Reformismus, dem am Ende alle Verlässlichkeit zum Opfer“ falle6, gewarnt hatte. Odo Marquard hatte ebenfalls vor solch „absolute[r] Zeitkritik“ gewarnt, sie münde letztlich in eine „antimodernistische Utopie“.7 Gegen utopische Heilslehren wie gegen apokalyptische Weltuntergangsszenarien gleichermaßen gerichtet, betonte Marquard denn auch immer wieder, die Wirklichkeit sei „weder der Himmel auf Erden noch die Hölle auf Erden, sondern die Erde auf Erden“.8 In diesem Sinne greifen gegenwärtig, so Graus Befund, esoterische und sich selbst als „holistisch“ kennzeichnende Heilslehren um sich, die als „utopische Vision“ die „Auflösung aller Widersprüche“ (S. 99) erstreben. Letzte Geltungsinstanz über Wahrheit und Realität werde „das subjektive Empfinden“ (S. 100). Nun kann sogar das Private politisch (S. 103) werden. Durch die „Subjektivierung moralischer Anliegen“ komme es zu einem „Triumph der Gesinnungs- über die Verantwortungsethik“ (S. 105) und durch Konfrontation mit der verdrängten Realität zur „kognitiven Dissonanz“, so dass das kitschige Bewusstsein letztlich „in Hass“ (S. 106) umkippe. Schließlich enthülle das kitschige Gemüt sein „autoritäres Wesen“ und werde zum „normativen Goldstandard“ (S. 107) erhoben. So werde das „kitschige Denken in Gestalt des politischen Kitsches schließlich zur Gefahr für die Demokratie“ (S. 108).

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Lessing, 1996: 509. Gehlen vs. Adorno 1965; Gehlen & Adorno 1965. 5 Kant, 1983 [1784]: 37. 6 Dahrendorf, 1994: 176. 7 Marquard, 2007a: 117. 8 Marquard, 2007b: 78.

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Auch in diesem Punkt kann Grau, ohne dies selbst zu benennen, an bekannte Autoren und an bekannte Diskussionen um das Phänomen der „Moralisierung“ anschließen. Luhmann beschrieb schon früh den Mechanismus der Moralisierung, der sich über Sachfragen und teilgesellschaftliche spezifische Logiken hinwegsetzt und einzig sachfremde moralische Maßstäbe zulässt.9 Gehlen hatte von „Hypermoralismus“ gesprochen und auf die Folgen einer „Radikalisierung der Moral“ und der daraus entspringenden „Freisetzung von Aggressionen“ hingewiesen.10 Marquard sprach von einer „Übertribunalisierung“11 aller Lebenswirklichkeit im Gefolge einer „Sollenshypertrophie“, die wiederum unweigerlich eine „Seinsvermiesung“12 bewirke – d. h., die Welt und die Verhältnisse sind schlecht, alles und alle stehen unter ständigem Bewährungsvorbehalt angesichts einer antizipierten besseren, aber noch lange nicht realisierten Wirklichkeit. Moralisierungen entfachen nach Luhmann häufig einen unendlichen Streit, mit Max Weber führen sie zur „Gesinnungsethik“13, für die nur noch die „reine Gesinnung“ zählt und die eigene Verantwortung externalisiert werden kann: Schuld und Verantwortung haben andere, die Welt, die Gesellschaft, der Kapitalismus, die Dummheit und Ignoranz der Mitmenschen. Missionarischer Eifer sowie moralische Selbstgefälligkeit und Aggressivität gehen damit einher. Schon Hegel hatte in seiner berühmten Kritik am Gewissen, mit dem sich Subjektivität absolut setzen und die Allgemeinheit moralischer Normen subjektivieren kann, zeigen können, wie aus dem formal anzuerkennenden Gewissen inhaltlich auch Böses entspringen kann.14 Und die mit Dahrendorf mit Konflikten stets verknüpfte Tendenz zur ,Dichotomisierung‘15 konfligierender Positionen, Gruppen und Parteiungen führt mit Grau zur ,Polarisierung‘ unversöhnlicher Positionen und Gruppen, mit der Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann letztlich in eine „Polarisierungsfalle“ (2020).16 Auf diese Weise werden die extremen politischen Ränder gestärkt, die politische Mitte zerfasert. Insofern ist Graus Behauptung, die umrissenen Prozesse seien demokratiegefährdend, nicht einfach von der Hand zu weisen. Doch warum und inwiefern ist der politische Kitsch eine „deutsche Spezialität“ – schärfer noch: „die heimliche deutsche Ideologie“ (S. 111)? Graus Antwort ist lapidar: In Deutschland sei man „verliebt in Ideen, nicht in die Wirklichkeit“ (S. 112). Grau weist nur einen Ausweg auf, der an die gegenwärtig tragende sozioökonomische und kulturhistorische Voraussetzung dieses Phänomens geknüpft sei: an den „prosperierenden Massenwohlstand“ (S. 122); werde dieser gefährdet, so gefährde dies auch den politischen Kitsch und den Hang zum Moralisieren. 9

Luhmann, 1989: 2017. Gehlen, 2016: 35. 11 Marquard, 1981: 47. 12 Marquard, 1986: 127. 13 Weber, 1988 [1919]. 14 Hegel, 1980: 340 – 362. 15 Dahrendorf, 1972: 20 – 46. 16 Ackermann, 2020. 10

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Dieser Schluss mag wenig ermutigend, auch mögen manche Thesen überspitzt, manche Beschreibungen überzeichnet sein. Und die teils fehlende Kontextualisierung in einen größeren tradierten und aktuellen Diskussionszusammenhang mag ebenfalls stören. Diese „Mängel“, die der außerakademischen Form dieses Buches geschuldet sind, werden aber sicherlich dadurch geheilt, dass der Autor teils unbequeme Sachverhalte anspricht und die Schärfe seiner Kritik zur Stellungnahme derjenigen anregen sollte, die sich von diesen Thesen provoziert fühlen. Mit Ralf Dahrendorf wäre dieses Buch dann ein willkommener Beitrag zu einem produktiven wissenschaftlichen Streit – freilich unter der Bedingung, die jeweils eigene Position nicht als die einzig „wahre“ oder „richtige“ aufzufassen, sondern sich einem geregelten wissenschaftlichen Konflikt auszusetzen, das heißt, für andere Deutungen offen zu sein und sich damit strikt gegen Immunisierungsstrategien und angemaßte Deutungshoheiten zu wenden. Literatur Ackermann, U. (2020): Das Schweigen der Mitte. Wege aus der Polarisierungsfalle. Darmstadt: WBG. Dahrendorf, R. (1972): Konflikt und Freiheit. Auf dem Weg zur Dienstklassengesellschaft. München: Piper. – (1994): Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit. München. Gehlen vs. Adorno (1965): https://www.youtube.com/watch?v=pXdu1y6Cy_U. Zugegriffen: 30. 03. 2020. Gehlen, A. & Adorno, Th.W. (1965): Freiheit und Institution. Ein soziologisches Streitgespräch. https://www.youtube.com/watch?v=mWklSE08aCw. Zugegriffen: 30. 03. 2020. Gehlen, A. (2016): Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik. Frankfurt a. M.: Klostermann. Hegel, G.W.F. (1980): Phänomenologie des Geistes. In W. Bonsiepen & R. Heede (Hrsg.), Gesammelte Werke. Bd. 9. Hamburg: Meiner. – (2003 [1823]): Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrieben von H. G. Hotho. Hrsg. von A. Gethmann-Siefert. Studienausgabe. Hamburg: Meiner. Kant, I. (1983 [1784]): Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: Weischedel, W. (Hrsg.), Kant. Werke. Band 9 (S. 31 – 50). Darmstadt: WBG. Lessing, G.E. (1996): Die Erziehung des Menschengeschlechts. In: G. E. Lessing, Werke, Bd. VIII (S. 489 – 510). Darmstadt: WBG. Luhmann, N. (1989): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (2017): Systemtheorie der Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp. Marquard, O. (1981). Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts. In: O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen (S. 39 – 66). Stuttgart: Reclam. – (1986): Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen. In O. Marquard, Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien (S. 117 – 139). Stuttgart: Reclam.

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– (2007a): Freiheit und Pluralität. In: O. Marquard, Skepsis in der Moderne. Philosophische Studien (S. 109 – 123). Stuttgart: Reclam. – (2007b): Sprachmonismus und Sprachpluralismus der Philosophie. In: O. Marquard, Skepsis in der Moderne. Philosophische Studien (S. 72 – 82). Stuttgart: Reclam. Pöggeler, O. (1999): Hegels Kritik der Romantik. München: Fink. Weber, M. (1988 [1919]): Politik als Beruf. In J. Winckelmann (Hrsg.), M. Weber. Gesammelte Politische Schriften (S. 505 – 560). Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck).

Karsten Berr, Tübingen

Autorenverzeichnis Dr. Karsten Berr, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Stadt- und Regionalentwicklung, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät/Forschungsbereich Geographie, Eberhard Karls Universität Tübingen. Dr. Daniel Brühlmeier, 2004 – 2013 Leiter Koordination Außenbeziehungen, Staatskanzlei, Kanton Zürich; 2012 – 2018 Dozent für Politikwissenschaft an der Universität Bern. Dr. Sandra Fluhrer, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie, FU Berlin/Akademische Rätin a. Z., Department Germanistik & Komparatistik, FAU Erlangen-Nürnberg. Dr. Alexander Gantschow, Habilitand an der Universität Vechta und Lehrbeauftragter am Institut für Sozialwissenschaften, Christian-Albrechts-Universität Kiel. Prof. em. Dr. Harald Kleinschmidt, Professor für Geschichte der internationalen Beziehungen an der (staatlichen) Universität Tsukuba, Japan. Prof. Dr. Hans-Christof Kraus, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Passau. Dr. Michael Kühnlein, Institut für Philosophie, Goethe-Universität Frankfurt a. M. Dipl.-Soz. Ursula Ludz, freie Übersetzerin und Herausgeberin, München. Prof. Dr. Reinhard Mehring, Fakultät III/Institut für Gesellschaftswissenschaften/Politikwissenschaft, PH Heidelberg. Prof. Dr. Peter Nitschke, Professur für Wissenschaft von der Politik, Fakultät II/Politikwissenschaft, Universität Vechta. Prof. Dr. Karl-Heinz Nusser, a.o. Professor am Institut für Philosophie I, Ludwig-MaximiliansUniversität München. Dr. Anna Orlikowski, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Sozialwissenschaften (Gender Studies), Fakultät II – Natur- und Sozialwissenschaften, Universität Vechta. Prof. Dr. Walter Reese-Schäfer, Institut für Politikwissenschaft, Georg-August-Universität Göttingen. Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Tilo Schabert, Department Sozialwissenschaften und Philosophie; Institut für Politische Wissenschaft, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Dr. Martin Schwarz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Fakultät II/Politikwissenschaft, Universität Vechta. Dr. Mario Wintersteiger, Lehrbeauftragter am Fachbereich Politikwissenschaft und Soziologie der Universität Salzburg sowie am American Institute for Foreign Study (AIFS) in Salzburg.