Politisches Denken. Jahrbuch 2011 [1 ed.] 9783428537167, 9783428137169

Das Jahrbuch Politisches Denken widmet sich 2011 dem Schwerpunktthema "Rechtskultur" aus den unterschiedlichst

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Politisches Denken. Jahrbuch 2011 [1 ed.]
 9783428537167, 9783428137169

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POLITISCHES DENKEN JAHRBUCH 2011 Herausgegeben von

V. Gerhardt, R. Mehring, H. Ottmann,

M. P. Thompson, B. Zehnpfennig u Georg Zenkert: Die Macht des Rechts – das Recht der Macht u HansChristof Kraus: Neue deutsche Verfassungstheorie u Peter Koller: Zur Legitimität politischer Gemeinschaften im Allgemeinen und der Europäischen Union im Besonderen u Christian Hiebaum: Die Reichweite sozialer Gerechtigkeit u Michael Henkel: Was bleibt vom Naturrecht? u Joachim Rückert: Politische Romantik im 20. Jahrhundert – eine fatale deutsche Erbschaft? u Michael Stolleis: Das Unverstehbare verstehen: Der Holocaust und die Rechtsgeschichte u Ada Neschke-Hentschke: Philosophie und Recht in der rechtsstaatlichen Demokratie – gestern und heute u Walter Mesch: Praktische Philosophie als Lebenskunst? u Johannes W. Müller: „Das Werk eines einzigen Allmächtigen und unendlich weisen Schöpfers“ u Clemens Kauffmann: Die Rationalität des Anarchismus u Friedrich Pohlmann: Der politische Verrat u Peter Nitschke: Zielsetzung und Methoden der Ideengeschichte in der Politikwissenschaft

Duncker & Humblot

Politisches Denken · Jahrbuch 2011

In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens Redaktionsanschriften: Prof. Dr. Reinhard Mehring Pädagogische Hochschule Heidelberg. Abteilung Politikwissenschaft. Im Neuenheimer Feld 581, 69120 Heidelberg. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig Politische Theorie und Ideengeschichte Universität Passau, 94030 Passau E-Mail: [email protected]

Wissenschaftlicher Beirat: Karl Dietrich Bracher (Bonn), Reinhard Brandt (Marburg), John Dunn (Cambridge), Iring Fetscher (Frankfurt), Wilhem Hennis (Freiburg), Dieter Henrich (München), Otfried Höffe (Tübingen), Hasso Hofmann (Berlin), Nikolaus Lobkowicz (Eichstätt), Hermann Lübbe (Zürich), Odo Marquard (Gießen), Kenneth Minogue (London), J. G. A. Pocock (Hopkins University), Melvin Richter (New York), Quentin Skinner (Cambridge), Michael Stolleis (Frankfurt)

Das Jahrbuch „Politisches Denken“ ist das Publikationsorgan der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens (DGEPD). Das Spektrum des Jahrbuchs umfasst Beiträge mit historischem oder aktuellem Bezugspunkt sowie Themen- oder Theoretiker-zentrierte Beiträge. Alle eingereichten Manuskripte durchlaufen ein Begutachtungsverfahren. Manuskripte bitte anonymisiert und in zweifacher Ausfertigung ausgedruckt sowie als pdf-Datei an einen der Herausgeber senden. Der Textumfang des Beitrags sollte 25 Seiten (oder 50 000 Zeichen) nicht überschreiten. Genauere Hinweise zur Textgestaltung finden Sie unter: www.dgepd.de.

Politisches Denken Jahrbuch 2011 Herausgegeben von Volker Gerhardt, Reinhard Mehring, Henning Ottmann, Martyn P. Thompson und Barbara Zehnpfennig

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0942-2307 ISBN 978-3-428-13716-9 (Print) ISBN 978-3-428-53716-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-83716-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 * ∞

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I. Schwerpunktthema „Recht und Rechtskultur“ Die Macht des Rechts – das Recht der Macht Von Georg Zenkert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Neue deutsche Verfassungstheorie Von Hans-Christof Kraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Zur Legitimität politischer Gemeinschaften im Allgemeinen und der Euro­ päischen Union im Besonderen Von Peter Koller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Die Reichweite sozialer Gerechtigkeit. Zur Kontroverse zwischen ­Partikularismus und Kosmopolitismus Von Christian Hiebaum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Was bleibt vom Naturrecht? Zur Frage nach den normativen Grundlagen sozialer und politischer Ordnung Von Michael Henkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Politische Romantik im 20. Jahrhundert – eine fatale deutsche Erbschaft? Von Joachim Rückert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Das Unverstehbare verstehen: Der Holocaust und die Rechtsgeschichte Von Michael Stolleis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Philosophie und Recht in der rechtsstaatlichen Demokratie – gestern und heute. Ein Essay Von Ada Neschke-Hentschke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 II. Aufsätze Praktische Philosophie als Lebenskunst? Überlegungen aus aristotelischer Sicht Von Walter Mesch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 „Das Werk eines einzigen allmächtigen und unendlich weisen Schöpfers“. Zur religiösen Fundierung der Staatsphilosophie John Lockes Von Johannes W. Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

6 Inhaltsverzeichnis Die Rationalität des Anarchismus Von Clemens Kauffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Der politische Verrat. Von der Dreyfus-Affäre bis Wikileaks Von Friedrich Pohlmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Zielsetzung und Methoden der Ideengeschichte in der Politikwissenschaft. Eine Kritik an der Cambridge School Von Peter Nitschke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 III. Besprechungsabhandlungen und Rezensionen ‚Success Story‘ mit glücklosem Ende: Thomas Manns amerikanische Laufbahn – Hans Rudolf Vagets Opus magnum Thomas Mann, der Amerikaner, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011 Besprechungsabhandlung von Dieter Borchmeyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Alexander Demandt, Es hätte auch anders kommen können. Wendepunkte deutscher Geschichte, Propyläen-Verlag, Berlin 2010 Von Reinhard Mehring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Samuel Salzborn / Rüdiger Voigt (Hg.), Souveränität – Theoretische und ideen­geschichtliche Reflexionen, Reihe Staatsdiskurse Bd. 10, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Von Franz Halas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Sönke Neitzel / Harald Welzer, Soldaten. Protokolle von Kämpfen, Töten und Sterben, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2011 Von Kai-Uwe Hellmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Staatsrecht und politische Theorie in der Zwischenkriegszeit. Das Erbe der Weimarer Republik Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2010; Marcus Llanque (Hg.), Souveräne Demokratie und soziale Homogenität. Das politische Denken Hermann Hellers, Nomos Verlag, Baden-Baden 2011; Robert Chr. Van Ooyen / Frank Schale (Hg.), Kritische Verfassungspolitologie. Das Staatsverständnis von Otto Kirchheimer, Nomos Verlag, Baden-Baden 2011 Besprechungsabhandlung von Jens Hacke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Autorenverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Editorial Das Jahr 2011 war politisch äußerst bewegt: Rebellionen in Nordafrika und Reaktorunfall in Fukushima, Landtagswahlen, Griechenland, Haushalts­ krisen und Euro-Rettungsschirm, der 10. Jahrestag des 11. September – das sind nur einige der Herausforderungen, vor die dieses Jahr auch das politi­ sche Denken und die politische Theorie gestellt hat. Das Jahrbuch Politisches Denken kann diesen Themen nicht in atemlosem Aktualismus folgen. Strukturell aber geben sie dem Verfassungsstaat sehr zu denken. Insofern lohnt es, sich nochmals mit dessen Grundlagen auseinanderzusetzen. Das diesjährige Jahrbuch Politisches Denken widmet sich dem Schwer­ punktthema „Recht und Rechtskultur“ aus den unterschiedlichsten Perspek­ tiven: Legalität und Legitimität, Rechts- und Verfassungstheorie, die Sprache des Rechts und Irrwege der Rechtswissenschaft werden historisch und sys­ tematisch erörtert. Neben diesem Schwerpunktthema stehen einige teils sehr grundsätzliche Aufsätze zur Ideengeschichte und zur Form der Ideenge­ schichtsschreibung. Im Rezensionsteil finden Sie auch längere Bespre­ chungsabhandlungen. Wir hoffen, dass die Mischung stimmt, und laden alle Leser ein, sich mit weiteren Beiträgen am Jahrbuch zu beteiligen. Eine anregende Lektüre wünschen Barbara Zehnpfennig und Reinhard Mehring

I. Schwerpunktthema „Recht und Rechtskultur“

Die Macht des Rechts ­– das Recht der Macht Von Georg Zenkert Das Modell des Nationalstaates ist fragwürdig geworden. In zahlreichen Publikationen ist von einer Transformation des Staates, von einer Zerfase­ rung und nicht selten vom Ende der Staatlichkeit die Rede.1 Obwohl diese Schlagwörter meist im Kontext rhetorischer Fragen auftauchen, gibt es eine Tradition der Verabschiedung vom Konzept des Nationalstaates. Die Liste der Grabreden auf den Staat reicht, von den marxistischen Invektiven abge­ sehen, mindestens zurück bis zu Carl Schmitts Schrift zum Begriff des Politischen. Nachdem der Nationalstaat allen ideologischen Anfeindungen von Links und Rechts widerstanden hat, gilt er mittlerweile auch im nüch­ ternen Diskurs der Wissenschaften als Problemfall. Angesichts der wachsen­ den Verflechtungen der Staaten durch das Internationale Recht, durch inter­ nationale und supranationale Organisationen und im Blick auf die Emanzi­ pation gesellschaftlicher Mächte im Zeitalter der Globalisierung erscheint die Idee des unabhängigen und sich selbst genügenden Nationalstaates als obsolet. Ein zentrales Grundmotiv der Diagnosen ist die Beobachtung, dass sich das traditionelle Verhältnis von Macht und Recht verschiebt. Machtla­ gen und rechtliche Strukturen drohen auseinanderzudriften. Einerseits sind Staaten durch internationale Verbindlichkeiten und nicht zuletzt durch die weitgehend anerkannten fundamentalen Menschenrechte immer mehr in ihrem Handlungsspielraum eingeengt. Andererseits entstehen Machtstruktu­ ren, die nicht mehr der territorial definierten staatlichen Regelungskompe­ tenz unterworfen sind. Die nach klassischer Lehre im Staat zentrierte Macht und das auf den Staat zurückzuführende Recht scheinen sich in eine Vielzahl von Funktionen und Zuständigkeiten zu zersplittern. Die These der Kongru­ enz von Macht und Recht, die den neuzeitlichen Staat charakterisiert und 1  Peter Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995; Klaus-Peter Sommermann, „Der ent­ grenzte Verfassungsstaat“, in: Detlef Merten (Hg.), Der Staat am Ende des 20. Jahr­ hunderts, 1998; Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates. Denationalisie­ rung und Globalisierung als Chance, 1998; Stephan Leibfried, Michael Zürn (Hg.), Transformation des Staates?, 2006. Tine Stein, Hubertus Buchstein, Claus Offe (Hg.), Souveränität, Recht, Moral. Die Grundlagen der politischen Gemeinschaft, 2007. Achim Hurrelmann, Stephan Leibfried, Kerstin Martens, Peter Mayer (Hg.) Zerfasert der Nationalstaat? Die Internationalisierung politischer Verantwortung, 2008.

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bis zum 20. Jahrhundert ihre Wirkung zeitigt, wird damit in Frage gestellt. Wenn sich, gemäß dem gegenwärtigen Konsens, die Idee der Staatlichkeit wandelt, dann muss sich dieser Wandel im Verhältnis von Macht und Recht niederschlagen. Das Verhältnis von Macht und Recht gehört in der Tat zu den fundamen­ talen Fragen des politischen Denkens. Obwohl der Rechtswissenschaft die Doppelnatur der Rechtsnormen – als Ausdruck faktischer Befehlsgewalt und als Norm mit Geltungsanspruch – vertraut ist, w ­ ird dort das Verhältnis bei­ der Sphären nur vage bestimmt. Die stillschweigende Prämisse, dass Nor­ men und Machtstrukturen konform sind oder sein sollten, bildet den Boden für die Arbeitsteilung zwischen Rechtswissenschaft und Soziologie. In Jel­ lineks Allgemeiner Staatslehre2 hat dieses Verhältnis seine für das 20. Jahr­ hundert prägende Form gefunden und ist durch Weber als methodologische Prämisse in die Sozialwissenschaften eingegangen.3 Politiktheoretisch ist diese Konstellation höchst unbefriedigend. Die be­ hauptete Kongruenz von Macht und Recht erweist sich bei näherer Betrach­ tung schnell als fragil. Macht gilt als „Chance, seinen Willen durchzuset­ zen“. Dies ist eine normativ neutrale, am Modell konkurrierender Kräfte orientierte Definition. Zugleich besteht die Erwartung, dass Macht durch Recht gebändigt wird. Macht provoziert Misstrauen und soll deshalb norma­ tiv eingegrenzt werden. Recht aber kann Macht nicht eindämmen, wenn es nicht selbst Machtcharakter besitzt. Dann aber wäre Recht nur eine Funk­ tion von Macht. Recht gehört der Sphäre des Sollens an. Zugleich aber gilt als Recht im strengen Sinne nur das positive Recht, das eine rechtsetzende Instanz, einen erklärten Willen und die Macht der Durchsetzung zur Voraus­ setzung hat. Reine Normativität findet sich lediglich in moralischen Sätzen, die um dieser Reinheit willen keine oder nur eine psychologisch zu konsta­ tierende Wirkung besitzen. Durchdekliniert ist dieses Modell in Kants Programm eines ewigen Frie­ dens4 mit der paradoxen Forderung nach der unbeschränkten Macht des Rechts, die einerseits ohne die Institutionalisierung der übergeordneten Macht einer Weltrepublik auskommen möchte, aber andererseits nicht auf die befriedende Wirkung völkerrechtlicher Vereinbarungen vertraut. Kant sucht einer Lösung des Dilemmas, die vernunftrechtlich begründet ist. Um dem Spiel von Hase und Igel zu entrinnen, muss Kant darauf vertrauen, dass sich die souveränen Staaten in gegenseitigem Misstrauen kontrollieren. 2  Georg

Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1900. Vollrath, Institutionenwandel als Rationalisierungsprozess bei Max Weber, in: H. Hartwich (Hg.), Macht und Ohnmacht politischer Organisationen, 1988, S. 93 ff. 4  Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Werkausgabe, hg. W. Weischedel, Bd. XI, 1977. 3  Ernst



Die Macht des Rechts – ­ das Recht der Macht13

Die versprochene Realisierung des Rechts bleibt so jedoch ein bloßer Ap­ pell, denn Politik ist in diesem Beziehungsgefüge nicht mehr vorgesehen.5 Sie soll durch eine Herrschaft des Rechts ersetzt werden, deren Schicksal jedoch insgeheim an die Macht der souveränen Staaten gebunden ist. Der Versuch einer Entkoppelung von Recht und Macht lässt sich mit Kants Begrifflichkeit nicht bewältigen. Dieses hier nur flüchtig beschriebene Bild einer Sein-Sollens-Beziehung kippt von der Vorstellung der Kongruenz von Macht und Recht in die un­ erfüllbare Forderung der Überführung der Macht in Recht, sofern normative Defizite empfunden werden. Die Tradition des vertragstheoretischen Den­ kens von Hobbes über Kant bis zu Rawls laboriert an diesem Umschlag von Recht in Macht und von Macht in Recht, ohne dass dieser Zusammenhang unter den gegebenen Voraussetzungen plausibel entwickelt werden kann. Bei Hobbes muss die Gewaltdrohung, die sich in der habituellen Furcht der Individuen spiegelt, dem Vertragsschluss motivierend nachhelfen, und im liberalen Vernunftrecht kann nur das starke Postulat der Rationalität aller Beteiligten die Konstruktion unterfüttern.6 Dieses Modell der Beziehung von Macht und Recht ist unzureichend. Weder die neukantianische Spiege­ lung von Sein und Sollen noch der Rekurs auf moralische Kategorien, weder Kongruenz noch Konkurrenz von Recht und Macht können dazu beitragen, den Status des Rechts als von Zwang begleitete Verhaltenserwar­ tung einerseits und als normative Forderung andererseits zu klären. Als Recht kommen nur Normen mit Durchsetzungsmacht in Frage. Über­ positives Recht ist damit nicht in Abrede gestellt, muss aber als defizitär betrachtet werden. Recht erheischt Zwang im Sinne der Sanktionsgewalt. Das bedeutet aber nicht, dass Macht und Recht koinzidieren. Vielmehr ist das Verhältnis beider durch eine produktive Spannung bestimmt, die sich in einer ersten Annäherung mit Hermann Hellers Begriffsprägungen des „machtbildenden Charakters des Rechts“ und des „rechtbildenden Charak­ ters der Macht“ fassen lässt.7 Macht setzt ein Minimum an Legitimität vo­ raus. Das Recht ist das unverzichtbare Medium der Realisierung von Macht. 5  Eine kritische Auseinandersetzung mit Kants Entwurf findet sich in: Georg Zenkert, Kants Utopie des ewigen Friedens und die Topik der Politik, in: Dialektik 2002 / 1. Die affirmative Kantexegese sieht in Kants Verzicht auf den Weltstaat eine Inkonsequenz, verkennt aber dabei, dass Kant den darin verkörperten Primat der Macht vermeiden muss, um nicht seine eigenen Prämissen zu konterkarieren. 6  Gerade bei Rawls findet sich eine artifizielle Vorstellung von Vernünftigkeit im Sinne der planenden instrumentellen Vernunft, die sich als Hypothese erklärterma­ ßen nur auf den fiktiven Naturzustand bezieht; s. John Rawls, Theorie der Gerech­ tigkeit, 1979, S. 166 f. 7  Hermann Heller, Staatslehre, in: Gesammelte Schriften, 21997, S. 297 bzw. S. 300.

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Recht kann zugleich nur dann angemessen bestimmt werden, wenn berück­ sichtigt wird, dass Rechtsnormen auf einer expliziten Setzung beruhen und zwar auch dann, wenn die Rechtsbestimmung als unabdingbar und evident aufgefasst wird. Es bedarf eines dazu ermächtigten Willens. Dieser kann seinerseits nicht völlig normfrei konzipiert werden. Nur normativ gesättigte Macht kann Normen setzen, die Legitimität beanspruchen können. Durch das Recht formt und stabilisiert sich eine Herrschaftskonstellation schon in einfacheren Verhältnissen und um so mehr in komplexen politischen Struk­ turen.8 Politische Macht beruht auf der Erwartung regelmäßigen Handelns seiner Instanzen und Organe. Diese sind ihrerseits befugt, Recht zu setzen und mit der notwendigen Vollstreckungsgewissheit zu versehen. Auch eine ideale Gestalt des Rechts kann nicht auf reiner Normenlogik beruhen, son­ dern bedarf der Anordnung, Konkretisierung und Durchsetzung. Mit dieser vorläufigen Skizze der Beziehung von Macht und Recht rückt ein Grundbegriff der Staatlichkeit in den Blick: der Begriff der Souveräni­ tät. Mit ihm wird die intensivste Verbindung von Macht und Recht thema­ tisch. Er steht in seiner ursprünglichen Bedeutung für die Gleichsetzung von Staat und Recht. Kernkompetenz der Souveränität nach der von Jean Bodin formulierten kanonischen Auffassung ist die im Staat zentrierte Gesetzge­ bung, die Autorität, hoheitlich Recht zu setzen.9 Gemäß der einschlägigen römisch-rechtliche Formel ist der Herrscher „legibus solutus“, selbst den Gesetzen nicht unterworfen.10. Nach außen verkörpert der souveräne Staat als Entscheidungs- und Wirkungseinheit eine juristische Person als Subjekt des Völkerrechts. Das Souveränitätskonzept markiert insofern die entschei­ dende Schnittstelle von Macht und Recht. Diese Verbindung wird nun an­ gesichts der internationalen Einbindung der Staaten und der Emanzipation der gesellschaftlichen Kräfte fragwürdig. Jene schränkt seine Rechtsetzungs­ befugnis ein, diese relativiert seine Macht. Ein Abschied vom Souveränitätskonzept wäre indes voreilig. Gerade die wachsende Bedeutung völkerrechtlicher Strukturen und internationaler Or­ ganisationen verlangt um so mehr handlungsfähige Staaten, die nicht als isolierte und auf ihr Territorium fixierte autarke Einheiten operieren, son­ dern durch das Recht auf Teilnahme an der internationalen Gemeinschaft gekennzeichnet sind.11 Die Voraussetzung dieses Wandels ist eine Transfor­ 8  Einen Sonderfall stellen die Diktaturen des 20. Jahrhunderts dar, die sich para­ sitär auf elaborierte Rechtssysteme stützen, diese aber nur strategisch nutzen und damit auf Dauer nicht nur delegitimieren, sondern destruieren. 9  Jean Bodin, Six Livres de la République, I, 142. 10  Digesten. I, 3,31. 11  Preuß konstatiert in diesem Sinne einen Wandel des Souveränitätsbegriffs vom „ausschließenden Herrschafts- und Verfügungsrecht in ein kommunikatives und in­



Die Macht des Rechts – ­ das Recht der Macht15

mation der Staatlichkeit vom geschlossenen Nationalstaat zum Koopera­ tionsstaat, der die fundamentale Integrationsebene sowohl für politische Prozesse von unten als auch für die Gewährleistung und Durchsetzung von Mindeststandards supranationalen Rechts.12 Damit deutet sich eine gegenwärtig vieldiskutierte Modifikation des Sou­ veränitätskonzepts des 16. Jahrhunderts an. Die Frage, ob damit eine Mehr­ ebenensouveränität instituiert ist oder ob es sich um eine Delegation von staatlichen Rechten handelt, kann nicht allein auf der Grundlage des Sou­ veränitätskonzeptes entschieden werden. Dazu ist der Zusammenhang von Staatssouveränität und Volkssouveränität zu erörtern. Denn erst hier erweist sich, ob Recht auf faktische Machtlagen reduziert werden muss oder ob sich eine legitime Quelle des Rechts ausmachen lässt. Volkssouveränität löst nicht einfach den Begriff der Souveränität ab.13 Dies wäre auch dann nicht zutreffend, wenn letztere im eingeschränkten Sinne als Fürstensouveränität verstanden würde. Mit Blick auf den demokratischen Verfassungsstaat ist vielmehr festzustellen, dass Staatssouveränität und Volkssouveränität in systematischer Verbindung stehen. Dabei gilt es zu bedenken, dass Volks­ souveränität kein Modus von Herrschaft ist, sondern den Strukturen und der Ausübung von Herrschaft zugrunde liegt. Diesem Unterschied wird bereits Hobbes’ Vertragsmodell gerecht, das die Einrichtung des Staates und der Herrschaftsfunktionen als einen Beschluss des Volkswillens konstruiert. Mit diesem Akt ist jedoch bei Hobbes die Volkssouveränität erschöpft. Unplau­ sibel bleibt an dieser Konzeption, dass die begründungslogische Folge als eine temporale interpretiert wird, diese Folge aber wiederum nur fiktiven Charakter hat. Probematisch ist auch die nicht aufgelöste Aporie des Rekur­ ses auf eine Instanz, die sich konstituiert, indem sie sich wieder aufhebt, das heißt die Macht der Instanz des eingesetzten Herrschers überträgt.14 Denn die Menge wird erst dadurch eine handlungsfähige Einheit, dass sie sich zu einem Willen vereinigt und eo ipso ihren Willen dem Herrscher unterwirft. Indes verdoppelt sich die Souveränität in der Gestalt der herr­ schenden Instanz, die von einem Einzelnen, einem Kollegium oder einer Versammlung verkörpert wird. Das Volk besitzt gegebenenfalls nur in Ge­ teraktives Teilnahme- und Teilhaberecht“. (Ulrich K. Preuß, Souveränität – Zwi­ schenbemerkung zu einem Schlüsselbegriff des Politischen, in: Stein, Buchstein, Offe (Hg.), Souveränität, Recht, Moral, S. 324). 12  Rainer Wahl, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, Frank­ furt / M. 2003, S. 49 ff. 13  Bodin gilt die Souveränität des Volkes als Modus der Souveränität (I 8), die auch dann nicht aufgehoben ist, wenn die Herrschaft zeitlich befristet delegiert wird. Allerdings fehlt bei Bodin eine klare Unterscheidung zwischen Herrschaftsmonopol und Staatssouveränität. 14  Thomas Hobbes, De cive V 7.

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stalt der geregelten und dem Mehrheitsprinzip verpflichteten Versammlung die höchste Gewalt.15 In der Tat kann das Volk selbst nicht herrschen. Selbst in der identitären Demokratie nach dem Vorbild Rousseaus bedarf es eines Repräsentanten, der im Namen des Volkes herrscht. Die liberalistische Kritik am Konzept der Volkssouveränität verkennt diesen Umstand. Die Funktion des Prinzips der Volkssouveränität zeigt sich zum einen in der von Sieyès geprägten Formel des pouvoir constituant,16 die als verfassunggebende Gewalt des Volkes identifiziert wird. Trotz seiner unbestreitbaren Relevanz führt der Begriff eher ein Schattendasein am Rande des Verfassungsrechts. Das mag daran liegen, dass er juristisch schwer zu handhaben ist. Immerhin wird die verfassunggebende Gewalt in der Präambel des Grundgesetzes beschwo­ ren.17 Sie ist eine normsetzende Macht, die selbst keinen Normen unterwor­ fen zu sein scheint. Sie beansprucht höchste Legitimität, obwohl sie sich doch einer revolutionären Situation verdankt. Keine Verfassung kann sich auf das Recht allein zurückführen. Hinter ihr steht immer ein politischer Wille als diejenige Kraft, die eine Verfassung hervorbringt und trägt. Als einzig legitimer Träger dieser Gewalt kann nach den Maßstäben des moder­ nen Verfassungsstaats nur das Volk in Anspruch genommen werden, das durch die Verfassung seine politische Gestalt und Dignität erhält. Im weiteren und allgemeineren Sinne behauptet sich Volkssouveränität dar­ in, dass sie als Legitimationsgrund staatlicher Entscheidungen in Anspruch genommen wird. Aber auch dieser Zusammenhang erschließt sich nur dann, wenn Volkssouveränität nicht als Modus von Herrschaft, sondern als eigen­ ständiger Machttypus gefasst wird. Es empfiehlt sich, in Anlehnung an Paine und Friedrich Schlegel in diesem Zusammenhang von konstitutiver Macht zu sprechen.18 Die Manifestation konstitutiver Macht ist die Einrichtung einer Verfassung. Aber sie ruht nicht nach diesem Akt, sondern äußert sich in der „controlling power“ (Paine), die jeden Akt der Herrschaftsinstanzen begleitet. Die Legislative muss sich als Repräsentant der Volkssouveränität darstellen lassen, um Anspruch auf Souveränität erheben zu können. 15  Hobbes,

De cive VII 5. Sieyès, Qu’est-ce que le Tiers État?, Paris 21989, S. 66 f. 17  s. dazu Wilhelm Henke, Die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, Stuttgart 1957. E.-W. Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes – Ein Grenzbegriff des Ver­fassungs­rechts, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Ver­fas­sungs­theorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt / M. 1991. 18  Thomas Paine, The Rights of Man, Part II, 1792, in: Political Writings, ed. by B. Kuklick, Cambridge 1989, S. 180; F. Schlegel spricht von einer „konstitutiven Macht“ in seinem gegen Kant gerichteten Versuch über den Begriff des Republika­ nismus (1796), Kritische Ausgabe, Bd. 7, hg. v. E. Behler, München / Paderborn / Wien 1966, S. 18. 16  E.



Die Macht des Rechts – ­ das Recht der Macht17

Volkssouveränität beruht also nicht darauf, dass das Volks herrscht, son­ dern dass das Volk sich als Volk konstituiert und sich eine Verfassung gibt. Der Akt der Verfassungsstiftung ist freilich historisch komplex und lässt sich nicht in linearer Ableitung rekonstruieren. Logisch ist der Prozess nur zirkulär zu beschreiben, denn das Volk, das sich die Verfassung gibt, exis­ tiert streng genommen nur aufgrund der Verfassung. Was das Volk will, lässt sich nur im Rahmen der Verfassung artikulieren und die Verfassung ist die Form der Willensbildung des Volkes. Die repräsentativen Strukturen stiften die entscheidende Verbindung zwischen dem souveränen Volk und den Instanzen der Herrschaft, also den staatlichen Gewalten. Dieses Konzept bietet ein Modell, mit dem sich die Verschränkung von Macht und Recht im Staat darlegen lässt. Der Staat ist eine juristische Per­ son, eine durch Repräsentation in Erscheinung tretende Willensvereinigung. James Wilson’s Lectures on Law19 dokumentieren, dass dieses Prinzip für die amerikanische Verfassung grundlegend ist. Auch Hegels Rechtsphiloso­ phie sieht in der auf Dauer gestellten Repräsentation des allgemeinen Wil­ lens im Sinne der Volkssouveränität das Prinzip des modernen Staates. Volkssouveränität koinzidiert bei Hegel mit der Souveränität des verfassten Staates im Ganzen.20 Damit hebt sich das Konzept von der kontraktualisti­ schen Tradition, von Hobbes, Locke und Rousseau ab. Anders als in der Vertragstheorie wird die Vereinigung des Willens nicht uno actu vollzogen, sondern ist auf stete Integrationsleistung angewiesen. Während das amerikanische Modell sich bei der Darstellung der repräsen­ tativen Realisierung von Volkssouveränität auf die Meinungsbildung kon­ zentriert und Hegel die Institutionenbildung in den Vordergrund stellt, stimmen beide Varianten darin überein, dass das Recht die Funktion eines integrativen Mediums besitzt. Transparente Willensbildungsprozesse mit repräsentativem Anspruch, eine differenzierte Entwicklung der staatlichen Organe im Sinne der Gewaltenteilung und die Rechtlichkeit als Prinzip staatlichen Handelns bilden die bekannten Eckpfeiler des demokratischen Verfassungsstaates. Nun stellt sich die Frage: Schlägt sich der Wandel vom traditionellen Nationalstaat zum Mitgliedstaat in einer Völkergemeinschaft auf das Kon­ zept und die Realisierung der Volkssouveränität nieder? Für Hegels Staats­ verständnis gilt dies zweifellos. Der Übergang vom Inneren zum Äußeren Staatsrecht in der Rechtsphilosophie basiert auf der Individualität der Staa­ ten, die sich zwar gegenseitig anerkennen, aber keine stabilen völkerrecht­ 19  James Wilson, Lectures on Law (1790  / 91), in: R. G. McCloskey (Hg.), The Works of James Wilson, Cambridge 1967. 20  G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt / M. 1971, Bd. 7, § 279.

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lichen Strukturen schaffen können. Alle Vereinbarungen bleiben per defini­ tionem der Willkür und dem Zufall ausgeliefert. Dies gilt unerachtet der Voraussetzung der abstrakt-rechtlichen Bestimmungen, in deren Formen sich die konkreten Staaten verwirklichen. Aber mit Hegel wird zugleich das seit Hobbes gültige Prinzip der Kongruenz von Macht und Recht aufgebro­ chen, das die absolute Selbstständigkeit der Staaten zur Voraussetzung hat. Dass der Staat kein wirkliches Individuum ist ohne Verhältnis zu anderen Staaten,21 dieses Grundprinzip von Hegels Logik der Individualität spricht gegen seine eigene Einschätzung der internationalen Verhältnisse als Natur­ zustand. Aus dieser Voraussetzung folgt, dass die Beziehung zu anderen Staaten immer auch rechtliche Qualität besitzt, zumal Staaten selbst recht­ liche Gebilde sind. Damit ist nicht die potentielle Aufhebung der Staaten in einer Weltre­ publik postuliert, aber eine Voraussetzung der Legitimität von Staaten zur Sprache gebracht, die sich auch hinsichtlich ihrer Macht als folgenreich erweist. Denn das Interventionsverbot ist kein Naturrecht, sondern beruht auf der wechselseitigen Anerkennung der Staaten. Hier gibt es gewiss keine lückenlose Verbindung von Macht und Recht. Völkerrecht ist nur für aner­ kennende Staaten verbindlich. Wird es verletzt, so bleibt mangels Sank­ tionsgewalt nur der Rückgriff auf die faktische Macht. Daraus einen Ein­ wand gegen Hegels Konzeption zu formulieren, hieße zu verkennen, dass Völkerrecht nicht auf rein moralische Kategorien gebaut sein kann, sondern der willentlichen Setzung durch souveräne Völkerrechtssubjekte bedarf. So können rechtliche Verbindlichkeiten entstehen, die für die Mitgliedstaaten insofern bedeutungsvoll sind, als sie ihre Macht und Stabilität nicht zuletzt durch wachsende gegenseitige Anerkennung steigern. Auch wenn Hegel keine weitergehenden Folgerungen aus dieser Konstel­ lation zieht, kann hier doch ein Anfang gesehen werden für ein Konzept von Staatlichkeit, das durch die Etablierung internationalen Rechts nicht in Frage gestellt, sondern bestätigt wird. Die Realisierung von Volkssouverä­ nität findet in den Normen und Vereinbarungen des Internationalen Rechts keine bloßen Schranken, sondern ihre Bekräftigung. Vor diesem Hintergrund lässt sich die These vertreten, dass die wachsen­ de Bedeutung des Internationalen Rechts den Verfassungsstaat nicht etwa relativiert, sondern eine konsequente Entwicklung seiner Voraussetzungen darstellt, die sowohl seine Subsistenz als auch seine Legitimität betreffen. Und auch umgekehrt gilt, dass nur dank der Existenz der Staaten die Voll­ streckungsgewissheit internationaler Verbindlichkeiten und der Menschen­ rechte gewährleistet ist. 21  Hegel,

Grundlinien § 331.



Die Macht des Rechts – ­ das Recht der Macht19

Allerdings ist das dieser Entwicklung zugrunde liegende Verhältnis von Recht und Macht nicht ohne innere Spannung. Strukturelle Probleme beglei­ ten den Verfassungsstaat von Beginn an. Dazu gehört vor allem das prekäre Verhältnis von Gesellschaft und Staat. Indem die Freisetzung gesellschaft­ licher Kräfte garantiert wird, können diese eine Eigendynamik entfalten, die auch destruktive Wirkungen zeitigt. Nach der vorübergehenden Bändigung dieser Kräfte durch sozialstaatliche und ordnungspolitische Maßnahmen hat diese Dynamik mittlerweile ein Maß erreicht, das staatliche Aktivität in ganz anderen Dimensionen verlangt. Ökonomische und ökologische Nebenwirkun­ gen der global operierenden Wirtschaft können, wenn überhaupt, nur durch internationale Anstrengung aufgefangen werden. Dazu kommen sicherheits­ politische Konstellationen, die ein kooperatives Vorgehen verbündeter Staaten erforderlich machen. Hier sind supranationale Steuerungsinstrumente not­ wendig, die in die Herrschaftsbereiche der Staaten eingreifen.22 Ein zweites Problem, dessen Ausmaß noch nicht abzusehen ist, betrifft die Frage der Gewährleistung von Menschenrechten, die mit dem Anspruch auf universale Geltung versehen sind, ohne dass ihnen Pflichten konkreter Adressaten korrespondieren. Die allgemeinen Freiheits- und Schutzrechte, aber insbesondere die politischen Rechte wie der Anspruch auf Staatsange­ hörigkeit laufen als normative Forderungen ins Leere, wenn sie nicht in das Recht auf Staatenbildung im Sinne der Realisierung eines demokratischen Verfassungsstaates münden. Insgesamt kann die Universalität der Men­ schenrechte die Exklusivität ihrer Erfüllungsbedingungen nicht verhehlen.23 Sie enthalten Ansprüche, die nur durch die Zugehörigkeit zu einer konkreten Rechtsgemeinschaft erfüllt werden können. Hinsichtlich dieser Gemein­ schaften selbst enthalten sie implizit einen Erwartungsdruck, der auf den einzelnen Staaten lastet, und im Extremfall einen Interventionsauftrag, der natürlich politisch äußerst brisant ist. In beiden Problemfeldern, die den klassischen Verfassungsstaat begleiten, kann offensichtlich nicht von einer Kongruenz von Macht und Recht ge­ sprochen werden. Die ideologische Überhöhung des Nationalstaats hat die Diskrepanzen nur vorübergehend zu kaschieren vermocht. Unter der Er­ nüchterung der postideologischen Gesellschaften werden die Spannungen um so deutlicher. Um zu erwägen, ob der Verfassungsstaat sich in dieser 22  Eine Bestandsaufnahme dieser Probleme im Überblick liefert Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und Denationalisierung als Chance, Frankfurt / M. 1998. 23  Diese Diskrepanz wird vor allem in der juristischen und politikwissenschaft­ lichen Diskussion betont; vgl. Hasso Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, in: Archiv des Öffentlichen Rechts, Bd. 118, H. 3., 1993; Jürgen Gebhardt, Gibt es eine Theorie der Menschenrechte? in: Politisches Denken. Jahrbuch 1998, Stutt­ gart / Wei­mar 1998.

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Lage behaupten kann, ist es notwendig, die unterschiedlichen Formen poli­ tischer Macht zu vergegenwärtigen.24 Neben den Machtmodus, der als Herrschaft zu kennzeichnen ist, und die bereits erwähnte konstitutive Macht tritt die Handlungsmacht. Die Funktion der Handlungsmacht und ihr imma­ nenter Maßstab besteht darin, Hand­lungs­möglich­kei­ten im weitesten Sinne zu gewähr­ leisten. Die offensichtliche Stärke dieses Machtmodus liegt in seiner Flexibilität, in der Fähigkeit, direkt und unter Aufbietung der kollek­ tiven Klugheit zu agieren. Die Kehr­ seite dieses Macht­ potentials ist die Fragilität einer primär auf spontane Hand­ lungsmacht gestützten Politik. Handlungsmacht stellt eine hochriskante und labile Form praktischer Orga­ nisation dar, wie die Schicksale der griechischen poleis veranschaulichen, in denen diese Form der Macht im Sinne von dynamis dominiert. Im Vergleich dazu bietet die in der Neuzeit in den Vordergrund getretene Herr­schaftsstruktur ein hohes Maß an Stabilität. Sie basiert auf eindeutiger Weisungsbefugnis, klaren Hierarchien und präzise abgesteckten Entschei­ dungs­spielräumen der Akteure. Dieser Machtmodus steigert gegenüber der Handlungsmacht die Problemver­ arbeitungskapazität. Durch die Trennung von Funktion und Person sorgt er für die Abgrenzung von öffentlicher und privater Sphäre. Wie subjektive Freiheit und stabile Herr­schaftsstrukturen sich wechsel­seitig be­dingen, zeigt sich daran, dass jede Garantie subjekti­ver Freiheiten eine kollektive Ordnungsleistung voraus­setzt und umge­kehrt die Herr­schaft sich der Zustimmung seitens der Subjekte ver­sichern muss. Die Funktion dieses Machttypus besteht darin, Ordnung zu garantieren. Das Problem dieser Macht­kon­stellation ist der permanente Legiti­mations­druck. Herrschaft kann sich nicht selbst legitimieren, sondern muss in den Rahmen kollektiver Selbst­bestimmung eingebettet sein. Dies ist die Funktion des dritten Machttypus, der konstitutiven Macht, die eine politi­ sche Gemeinschaft als Ganzes verkörpert. Auf ihr basiert, wie dargelegt, die Idee der Volkssouveräni­tät. Die moderne Verfassung ist das Dokument dieser Gestalt der Macht, allerdings nicht im Sinne einer Samm­ lung von Rechts­ sätzen, sondern als Ausdruck der Kon­ stitution einer Handlungs­ gemein­ schaft, die sich in einer historischen Aus­ nahmesi­ tuation etabliert. Die Normativität dieser Dimension der Macht zeigt sich in der Funktion der Integration. Integration, nicht Konsens ist Maßstab und Ziel kollekti­ver Macht. Das Recht nun durchzieht als Medium alle drei Sphären von Macht und nimmt dabei selbst unterschiedliche Gestalt an. Dadurch treten die Differen­ 24  Diese sind ausführlich untersucht in Georg Zenkert, Die Konstitution der Macht. Kompetenz, Ordnung und Integration in der politischen Verfassung, Tübin­ gen 2004.



Die Macht des Rechts – ­ das Recht der Macht21

zen der Machtformen hervor; zugleich aber bietet das Recht ein universales Übersetzungsmedium, mit dessen Hilfe die Spannungen zwischen den Machtsphären teilweise aufgearbeitet werden können. Im Bereich der le­ bensweltlich realisierten Handlungsmacht hat das Recht primär die Funktion abstrakter Formeln, die das Recht der Person und die menschenrechtlichen Garantien als Voraussetzungen von Handlungsfähigkeit definieren. Die Au­ toren der Federalist Papers waren der Auffassung, dass diese nicht eigens in der Verfassung erwähnt werden müssten, da sie als selbstverständliche Prä­ missen in ihr enthalten seien. Dies ist nicht unplausibel, aber letztlich ist die Entwicklung dieser Rechte als Grundrechte im Skopus des Verfassungskon­ zepts konsequenter. Die abstrakten Rechte sind ihrem Geltungsanspruch nach überpositives Recht: universal, aber ohne Durchsetzungsmacht. Sie können nur durch den Anschluss an das staatliche Rechtssystem in positives Recht transformiert werden. Im Zusammenhang mit den Strukturen der Herrschaft erscheint das Recht in seiner eigentlichen Form als positives Recht, das sich als Regelungs­ macht auf den Einflussbereich, das jeweilige Territorium der Herrschafts­ struktur bezieht. Aber die Einheit von Herrschaft und Territorium ist nicht obligatorisch. Wie sich innerhalb des Staates durch die Gewaltenteilung eine Differenzierung der Funktionen ergibt, können sich auch Herrschafts­ bereiche überlagern und ergänzen, so lange nur die Zuständigkeit geklärt ist. Die Rationalität dieses Machtmodus erlaubt ein hohes Maß an Arbeits­ teilung. Auf der dritten Ebene schließlich ist das Recht in Gestalt des Verfas­ sungsrechts präsent, das nicht nur die geschriebene oder überlieferte Verfas­ sung, sondern auch die ihr zugeordnete Rechtsprechung und Rechtstheorie umfasst. Diese fundamentalen Rechte lassen sich nicht restlos dem sonstigen Recht gleichsetzen. Sie konstituieren das souveräne Volk als die Instanz, deren Repräsentanten das positive Recht setzen. Als Legitimationsgrund von Herrschaft ist das Verfassungsrecht nicht selbst ein Ausdruck bloßer Herr­ schaft noch der einsame Akt eines vorpolitischen Willens. Es ist die Macht­ form mit der höchsten politischen Intensität, insofern hier die Macht mit sich selbst als rechtserzeugende Kraft konfrontiert ist. Die zuvor erwähnten Herausforderungen des Verfassungsstaates treffen diesen nicht von außen, sondern ergeben sich aus den immanenten struktu­ rellen Problemen. Die abstrakten Rechtsbestimmungen, die als Menschen­ rechte kodifiziert sind, verstehen sich als willensunabhängige Voraussetzun­ gen, die nicht als bloße Relikte des Naturrechts verstanden werden können, sondern die Bedingungen von Handlungsfähigkeit umreißen. Als solche transzendieren sie das positive Recht, weil sie die Voraussetzungen des Daseins rechtsfähiger Personen darstellen. Sie sind jedoch nicht nur ideale

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Gestalten, sondern auf konkrete Macht bezogen. Sie sind Inbegriff der Re­ geln, die der Entfaltung von Handlungsmacht zugrunde liegen. Sie zeitigen eine Wirkung, die sich auch politisch niederschlägt als Machtsteigerung einer Handlungswelt, die dadurch über ein weit größeres Spektrum an Mög­ lichkeiten verfügt als Gesellschaften ohne menschenrechtliche Fundierung. Grundsätzlich gilt: Verrechtlichung erweitert und intensiviert die Sphären der Macht, begrenzt sie aber damit auch. Obwohl erst die explizite willentliche Setzung dieser Normen im Kontext einer Verfassung und im Namen des Souveräns diesen die Qualität des Rechts verleiht, ist es sinnvoll, die Differenz zwischen positivem Recht und Men­ schenrechten aufrechtzuerhalten. Denn gerade daraus ergibt sich deren Orien­ tierungsfunktion, die mit dem Anspruch vollständiger Verrechtlichung ge­ schwächt wäre. So betrachtet bedeutet eine Umsetzung der Bestimmungen der Menschenrechte eine Stärkung des Staates, während die Rechte selbst durch Überfrachtung und juristische Konkretisierung ihre kritische Wirkung einbüßen. Indem sie in den Bestand des geltenden Rechts eingearbeitet wer­ den, liefern sie sich der Logik der Herrschaft aus. Es ist zu vermuten, dass die zunehmende Einbindung der Menschenrechte in die staatliche Jurisdiktion und deren kleinteilige Interpretation letztlich deren Autorität als überpositive Normen schwächt und so gerade durch die Anerkennung überstaatlicher Prin­ zipien die Bedeutung des souveränen Nationalstaates stärkt. Daraus ist kein Plädoyer gegen Menschenrechte abzuleiten, doch lassen sich vor diesem Hintergrund Bedenken bezüglich der Relativierung staat­ licher Souveränität als Folge der wachsenden internationalen Bedeutung der Menschenrechte und ihrer Einforderung etwa durch den Europäischen Ge­ richtshof für Menschenrechte zerstreuen. Grundsätzlich ist in der Differenz von Macht und Recht keine Tendenz zur Schwächung der staatlichen Macht angelegt, denn sie greift lediglich in den Vollzug der Herrschaft ein; die Souveränität bleibt davon unberührt. Im Modus staatlicher Herrschaft ist die Kongruenz von Macht und Recht mit dem Nationalstaat klassischer Prägung zwar weitgehend realisiert. Durch die Übertragung von Kompetenzen auf überstaatliche Instanzen ins­ besondere in der Europäischen Union scheint sich aber dieses Verhältnis zu verschieben. Allerdings ist zunächst zu berücksichtigen, dass durch die Rückbindung aller vertraglichen Verpflichtungen an die Zustimmung der Einzelstaaten deren Souveränität nicht in Frage gestellt ist, so lange diese Verpflichtungen Vertragscharakter haben. Gewiss ändert sich die Zuständig­ keit in vielen Bereichen (wie etwa in den Angelegenheiten des internationa­ len Handels oder im Umweltrecht etc.), doch ist gerade durch die klare Verteilung der Zuständigkeiten die Funktion der Herrschaft grundsätzlich gewährleistet. Ihr Kern ist die durchgängige, konsistente und widerspruchs­



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freie rechtliche Regelung aller Handlungsbereiche, nicht die Konzentration aller Kompetenzen in einer einzigen Instanz. Eine auf den Souverän zurückgehende Legitimationskette für alle Maß­ nahmen ist deshalb nicht erforderlich. Einzelne Herrschaftsfunktionen kön­ nen delegiert werden an supranationale Organisationen. Doch ist dieser Zusammenhang mehr als eine Delegation, mit der die Machtkonstellation nicht antastet wäre. Eine Übertragung von Hoheitsrechten kann faktisch die Konstitution neuer Machtbeziehungen bedeuten.25 Der Nationalstaat bleibt davon nicht unberührt, wird aber in seiner rechtlichen Dignität nicht grund­ sätzlich in Frage gestellt. Er bildet als Kooperationsstaat den unverzichtba­ ren Bezugspunkt und Akteur dieses supranationalen Machtgefüges. Die mit diesem Wandel des Nationalstaates verbundene politische Her­ ausforderung besteht darin, die neuen Machtbeziehungen in repräsentativen Strukturen abzubilden. Die Formen der Repräsentation sind vielfältig. Für die Frage der Souveränität sind nicht die Strukturen der Herrschaft entschei­ dend, sondern die Existenz der zentrierten Willensbildung, die sich als Volkssouveränität darstellt. Erst wenn durch die Missachtung des Rechts auf Selbsterhaltung des Staates die Souveränität des Volkes verletzt wird, wäre seine Existenz in Frage gestellt. Völkerrechtlich ist dieses Stadium nicht mehr darstellbar, da das Selbsterhaltungsrecht die immanente Bedingung für die Geltung allen Rechts und insbesondere des Internationalen Rechts ist. Damit wäre der Umschlagspunkt von Recht in Gewalt erreicht. Die vorgeschlagene Differenzierung der Machtsphären erlaubt es, die Modifikation des Staates vom geschlossenen Nationalstaat zum offenen Mitgliedstaat so darzustellen, dass diese Entwicklung die Prinzipien der demokratischen Verfassung nicht erschüttert, sondern zur Geltung bringt. Der Staat bleibt im internationalen Gefüge als entscheidender Akteur prä­ sent und übernimmt nach Innen die zentrale Funktion der integrierenden Kraft. Das Recht erweist sich so betrachtet als äußerst flexibles Medium, in dem die unterschiedlichen Machtsphären kommunizieren. So ist es schließ­ lich möglich, dass vormals staatliche Aufgaben an eine suprastaatliche Ebene delegiert werden. Der Wandel der Herrschaftsformen berührt nicht das Zentrum des Staates, das politische Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht. Dem entspricht die Beobachtung, dass politische Öffentlichkeit und die vor diesem Hintergrund stattfindende Willensbildung sich bislang immer noch weitgehend auf den Einzugsbereich einzelner Staaten erstreckt. 25  Rainer Wahl plädiert in diesem Sinne für eine „offene Staatlichkeit“ und weist unter Bezug auf das Grundgesetz darauf hin, dass die in Art. 24 Abs. 1 GG genann­ te Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen als eine „Durchgriffswirkung von außen auf die Rechtsverhältnisse im innern zu verstehen ist (Verfassungsstaat. Europäisierung. Internationalisierung, S. 19).

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Das Verhältnis von Macht und Recht erweist sich als komplexe Bezie­ hung, die auch im Falle des klassischen Nationalstaates nur in perspektivi­ scher Verkürzung dem Kongruenzpostulat zu genügen schien. Das Recht durchzieht die unterschiedlichen Machtmodi und ist nicht das normative Spiegelbild, sondern die Form oder das Medium der Macht. Die Kongruenz von Macht und Recht ist zwar in speziellen Wirkungsfeldern der Macht gegeben wie dem regulären Verwaltungshandeln, doch insgesamt operiert der Staat mit der Differenz von Macht und Recht, die er durch Prozesse der rechtsförmigen Machtbildung fallweise aufarbeitet, ohne sie jemals aufzu­ heben. Nachdem der Verfassungsstaat seine nationalistische Camouflage weitgehend abgelegt hat, kann er durchaus noch auf eine Zukunft hoffen. Ungefährdet ist diese nicht. Wenn das Recht seine Funktion als Medium der Macht einbüßt, wenn die Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Machtsphären in der Logik des Rechts nicht mehr gewährleistet ist, dann drohen sich die einzelnen Machtkreise zu verselbständigen. Der Neolibera­ lismus, der die Skepsis des klassischen Liberalismus gegenüber der Konzep­ tion staatlicher Souveränität geerbt hat, scheint dieses Schwinden politischer Macht theoretisch und praktisch zu begrüßen. Die frei sich entfaltenden gesellschaftlichen Kräfte und die Herrschaft der konkurrierenden subjekti­ ven Meinungen sind jedoch nur vordergründig ein Gewinn. Mit der Dere­ gulierung geht auch ein Verlust an Einsicht und Übersicht einher. Das Im­ perium ohne Machtzentrum, das sich dann etablieren könnte, wäre für de­ mokratische Willensbildung nicht mehr zugänglich. Die politischen Organi­ sationen müssten der Entwicklung des nervösen Marktes der Meinungen immer hinterherhinken und würden von den Netzwerken situativ operieren­ der Interessen und ihrer manipulativen Rhetorik in den Schatten gestellt. In dieser Kluft zwischen Macht und Recht öffnet sich das Spielfeld für Dem­ agogen. Für Hobbes ist dies der Beginn einer fatalen Entwicklung: „Unwis­ senheit und Eloquenz verbünden sich“, heißt es in den Elementa, „zum Zwecke der Subversion des Staates“.26 In dieser Situation kann politische Theorie selbst zum Machtfaktor werden – zumindest wenn man Hobbes’ Optimismus teilt –, insofern sie nicht parteilich wird, sondern sich die S ­ ache des Rechts zueigen macht.

26  Hobbes,

De cive XII, 13.

Neue deutsche Verfassungstheorie Von Hans-Christof Kraus Die Verfassungstheorie stellt innerhalb der Rechtswissenschaften noch eine verhältnismäßig junge Disziplin dar1. Dagegen ist der behandelte Ge­ genstand, die „Verfassung“, seit einem knappen Jahrhundert ein zentrales Thema der Rechts- und Staatswissenschaften, der Politikwissenschaften und – in diachroner Perspektive untersucht – ebenfalls der Geschichtswissen­ schaften. Ein deutlich spürbares, an vielerlei Anzeichen mehr oder weniger klar erkennbares Bedürfnis gegenwärtiger, in diesem Fall rechtswissen­ schaftlicher Theoriebildung scheint es zu sein, Schneisen durch ein immer weniger überschaubares, kaum noch zu durchdringendes Dickicht der ein­ schlägigen Fachliteratur zu schlagen, deren von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr ansteigender Berg auch von den fleißigsten Staatsrechtlern und Verfassungsjuristen unserer Zeit nicht mehr zu bewältigen sein dürfte. Man braucht sich lediglich die nicht nur fachfremde Beobachter abschreckenden Bleiwüsten neuerer Grundgesetzkommentare anzusehen, in denen ein ein­ zelner Artikel, ja zuweilen sogar ein einziger Satz der gegenwärtig gültigen deutschen Verfassungsurkunde auf manchmal mehreren hundert Seiten umund umgewendet, ausgelegt und vielleicht ab und zu auch zu Tode interpre­ tiert wird. Es ist verständlich, dass ein sich in ausufernden selbstreferen­ tiellen Sprachspielen ergehender Wissenschaftsbetrieb ein tiefsitzendes Un­ behagen auslösen muss, das an das bekannte, im Jahr 1847 erstmals formu­ lierte Diktum des Juristen Julius von Kirchmann von der „Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“ erinnert2. Es handelt sich dabei zwar selbstredend um ein Diktum, das bisher im­ mer wieder mehr oder weniger trefflich widerlegt worden ist3, aber die 1  Die nachfolgenden Überlegungen orientieren sich an einer in mehrfacher Hin­ sicht bemerkenswerten neuen Publikation: Otto Depenheuer / Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, Tübingen 2010, deren wichtigste Ergebnisse sie zu re­ flektieren und resümieren bestrebt sind. Der Band enthält insgesamt siebenundzwan­ zig Beiträge von dreiundzwanzig Autoren, deren Anliegen es ist, eine „systematisch angelegte Verfassungstheorie vorzulegen“ (ebenda, S. VII). 2  Julius von Kirchmann, Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, Berlin 1848. 3  Siehe statt vieler nur Karl Larenz, Über die Unentbehrlichkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, Berlin 1966.

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Tatsache ist nun einmal nicht aus der Welt zu schaffen, dass bereits eine kleine Gesetzesnovelle, ganz zu schweigen von einer Verfassungsänderung, Berge von rechtswissenschaftlicher Literatur zu Makulatur werden lässt, die anschließend zumeist nicht einmal mehr für Rechtshistoriker interessant ist. Zusammenfassende Gesamtdarstellungen einer Teildisziplin sind schon des­ halb immer wieder notwendig, weil erst sie es ermöglichen, aktuelle Ent­ wicklungstrends, Schwerpunktbildungen, Begriffskonstruktionen, Interes­ senlagen und Problemstellungen erkennen zu lassen, deren Neuheit und besondere Bedeutung sonst im Dickicht der wissenschaftlichen Textproduk­ tion untergehen könnte. Sehr selten nur gelingt eine solche Gesamtdarstel­ lung „aus einem Guss“; und das ist vor allem dann kaum möglich, wenn sie als Gemeinschaftswerk von fast zwei Dutzend Autoren angelegt ist. In einem solchen Fall kann sie es vielleicht an Materialfülle und Perspektiven­ reichtum, nicht jedoch an gedanklicher Stringenz und logisch-konstruktiver Präzision mit berühmten, heute als klassisch geltenden Einzelwerken wie etwa den Staatslehren von Georg Jellinek und Herbert Krüger oder der Verfassungslehre Carl Schmitts aufnehmen4. Wiederholungen, zahlreiche Überschneidungen und Inkonsistenzen sind nicht zu vermeiden und daher als Konzession an die entstehungspraktischen Voraussetzungen eines sol­ chen Sammelwerkes eben hinzunehmen. Man kann unter bestimmten Aus­ pizien sogar einen Vorzug darin sehen, in einem einzigen Werk plurale Standpunkte, Deutungen, Sehweisen und Thesen zu diversen Aspekten neuester deutscher Verfassungstheorie geboten zu bekommen. Eine eigentlich neue Disziplin innerhalb der Rechtswissenschaften will die ‚Verfassungstheorie‘ allerdings nicht sein. Sie fügt sich nach den Worten Otto Depenheuers und Christoph Grabenwarters ein „in bestehende Nischen im Gebäude rechtswissenschaftlicher Disziplinen“ und ist dabei „weder Fortschreibung der hergebrachten Allgemeinen Staatslehre noch eine moder­ nere Form der Verfassungslehre“. Im Gegensatz zur enger gefassten Verfas­ sungsrechtsdogmatik geht die Verfassungstheorie „über das Formale hinaus und thematisiert die inhaltliche Eigenart der Rechtsschicht ‚Verfassung‘ “. Und schließlich liegt „das Wesen der Verfassungstheorie in der Rückbesin­ nung auf das, was ‚vor‘ der Verfassung liegt“5. Es geht also nicht nur um Verfassungstexte als Rechtstexte, nicht nur um das Verfassungsrecht im engeren Sinne, sondern ebenfalls um die inhaltlichen, geschichtlichen, poli­ tischen und auch die rechts- und verfassungshistorischen Voraussetzungen des in Rede stehenden Phänomens ‚Verfassung‘ bzw. darum, Verfassungen 4  Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre (zuerst 1900), 3. Aufl. (1913), 7. Neu­ druck, Bad Homburg v. d. H. 1960; Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, Stutt­ gart 1964; Carl Schmitt, Verfassungslehre (zuerst 1928), 6. unv. Aufl. Berlin 1983. 5  Alle Zitate: Depenheuer  /  Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. VI (Vorwort der beiden Hrsg.).



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„aus größerer Distanz und dabei im Prozess ihres Wandels zu beobachten“. Hierin liegt ein über die Sphäre des rein Theoretischen hinausgreifender praktischer, letztlich im Grunde politischer Aspekt, denn eine in diesem Sinne verstandene Verfassungstheorie „thematisiert … ordnungspolitische Herausforderungen und verfassungspolitische Handlungsmöglichkeiten, auf die eine konkrete Verfassung nur eine – von mehreren theoretisch mögli­ chen – historisch kontingente Antwort ist“6. Dieser erfreulich nüchterne und sachliche – von der emphatischen ‚Ver­ fassungslyrik‘ mancher deutscher Politologen und Juristen wohltuend abge­ hobene – Ton beherrscht die meisten Beiträge des genannten Sammelwerks. Von der traditionellen, zuerst in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts ausgebildeten klassischen Staatslehre unterscheidet sich die Verfassungsthe­ orie zuerst dadurch, dass, wie Matthias Jestaedt treffend sagt, Verfassung „nichts weiteres als ein[en], wenn auch wichtige[n] Bestandteil moderner Staatlichkeit“7 darstellt. Die Abgrenzung von der traditionellen Verfassungs­ lehre im engeren Sinne gelingt indes nicht so leicht; dies mag damit zusam­ menhängen, dass (wie gleich anfänglich offen eingeräumt wird) außer Carl Schmitts „Verfassungslehre“ von 1928 tatsächlich kein anderes Werk glei­ chen Namens „relevanten Widerhall in der deutschen Staatsrechtslehre gezeitigt“8 hat. Mag es nun sein, dass man sich vom ebenso klassischen wie umstrittenen Urbild aus den bewegten Zeiten der späten Weimarer Republik absetzen möchte – es ist letztlich nicht zu bestreiten, dass die beiden Be­ griffe ‚Verfassungslehre‘ und ‚Verfassungstheorie‘ weitgehend synonym verwendet werden und dass die meisten zentralen Fragestellungen der letz­ teren, jedenfalls soweit sie allgemeiner und grundsätzlicher Natur sind oder historische Aspekte betreffen, an die von Schmitt zumeist erstmals ent­ wickelten Frage- und Problemstellungen sowie an seine Begrifflichkeit an­ knüpfen, auch wenn die heute gegebenen Antworten nicht selten vollkom­ men anders ausfallen. Jedenfalls bleibt die Tatsache auffällig, in wie starkem Maße auch noch die deutsche Verfassungstheorie der Gegenwart von den ‚Weimarer Klassikern‘ der Verfassungs- und Staatslehre – nicht nur Carl Schmitt, sondern auch Rudolf Smend, Hans Kelsen und Hermann Heller9 – beeinflusst und geprägt ist. Denn gerade historisch-politische Umbruchs6  Alle

Zitate: ebenda, S. V.

7  Depenheuer  / Grabenwarter

(Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 10 (Matt­ hias Jestaedt, § 1 Verfassungstheorie als Disziplin). 8  Ebenda, S. 6. 9  Schmitt, Verfassungslehre (Anm. 4); Rudolf Smend, Verfassung und Verfas­ sungsrecht (zuerst 1928), jetzt in: ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 3. Aufl. Berlin 1994, S. 119–276; Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925; Hermann Heller, Staatslehre (zuerst aus dem Nachlass 1934), 6. Aufl. Tübingen 1983.

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und Krisenzeiten wirken offensichtlich anregend und fördernd auf die poli­ tisch-juristische, staats- und verfassungstheoretische Reflexion10. Eine der Hauptaufgaben der Verfassungstheorie wird nicht zuletzt darin gesehen (und hier besteht sicher ein Unterschied zur Weimarer Zeit), die heutige juristische „Verfassungsdogmatik“ immer wieder deutlich „daran zu erinnern, dass das geltende (Verfassungs-)Recht kein selbsterklärendes und selbstgenügsames, sondern nur in seiner kontingenten Ambiance, seinem Kontext verstehbares und verständliches Konstrukt ist“11. Und das Allein­ stellungsmerkmal der Verfassungstheorie wird darin gesehen, dass sie es mit dem Verfassungsrecht als der höchsten positivrechtlichen Normenschicht zu tun hat, die damit also keine weitere, keine noch höhere Normenschicht des positiven Rechts kennt, „in der sie ihre ratio finden, auf die sie sich zurück­ führen lassen und damit stützen könnte. Sie besitzt ihre positivrechtliche Grundlage nur mehr in sich selbst“. Dies und auch das Faktum, dass (so Jestaedt) „die ranghöchste Rechtsschicht unter einem brennenden Bedürfnis nach innerer Rechtfertigung“ leidet, vermag zugleich zu erklären, „warum der Verfassungstheorie in gewissem Sinne so etwas wie eine disziplinäre Alleinstellung zukommt“12 – wobei zugleich natürlich (dies sei an dieser Stelle nur angedeutet) fraglich bleiben muss, ob sie denn auch tatsächlich imstande ist, eben jenes „brennende Rechtfertigungsbedürfnis“ des Verfas­ sungsrechts stillen zu können. Ein rechtstheoretischer „deutscher Sonder­ weg“ soll damit jedenfalls nicht beschritten werden13. 10  Auf diese Tatsache mag es zurückzuführen sein, dass – wie Josef Isensee mit Blick vor allem auf Schmitt und Smend sehr treffend formuliert – die Verfassungs­ theorie „nicht wie die Allgemeine Staatslehre langsam gewachsen, sondern (wenn man vereinzelte ältere Ansätze vernachlässigt) fertig geboren, wie Pallas Athene in voller Gestalt dem Haupte des Zeus entsprungen [ist]. Freilich sind es hier zwei Häupter, und ihre Sprösslinge haben ihren je eigenen Charakter und zeitigen unter­ schiedliche Wirkungen. Gleichwohl sind die Initialtexte gleichaltrig, beide Jahrgang 1928, beide geprägt durch die geistige und politische Lage der Weimarer Republik: … Die Fundamente von Staat und Verfassung bebten, mit ihnen die Fundamente der vom Kaiserreich überkommenen Staatsrechtslehre. Diese war ihrerseits in die Krisis geraten. Der Rechtspositivismus war unfähig, die Grundprobleme jenseits des Ver­ fassungsgesetzes auch nur wahrzunehmen. Damit brach die Stunde der Verfassungs­ theorie an. Die neue Disziplin griff die fundamentalen Fragen des Verfassungsstaates auf, die sich an seiner Neuheit und Not entzündeten, und fand prototypische Ant­ worten, die bis heute nachwirken“; Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungs­ theorie (Anm. 1), S. 211 f. (Josef Isensee, § 6 Die Staatlichkeit der Verfassung). 11  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 52 (Matthias Jestaedt, § 1 Verfassungstheorie als Disziplin). 12  Ebenda, S. 54. 13  Vgl. ebenda, S. 45: Jestaedt merkt hier an, dass im Gegensatz zur „Allgemeinen Staatslehre“, die allerdings einen „deutschen Sonderweg“ markiere, die „Verfassungs­ lehre“ nichts spezifisch Deutsches darstelle: „Soweit es das Format ‚Verfassungstheo­



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Aus dem Blickwinkel des Historikers betrachtet, fällt das deutliche Zu­ rücktreten bestimmter historischer Anknüpfungen und Reminiszenzen auf. Die sonst obligatorischen Bezugnahmen auf die deutschen Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber auch auf die deutschen politischen und Verfassungstraditionen des „konstitutionellen“ 19. Jahrhunderts treten langsam in den Hintergrund. Nur noch selten wird an die Jahre „der anfäng­ lichen elementaren Existenzsicherung nach dem Krieg“ erinnert14 – und dies lediglich dann, wenn die Herausbildung moderner sozialer Sicherungssyste­ me Erwähnung finden. Und in einem eher allgemeinen Sinne wird die historische Dimension einer bestehenden Verfassungsordnung als Resultat einer spezifischen „Kulturerfahrung“ gesehen15. Das Bonner Grundgesetz wird mit Recht als inzwischen historisch-politisch bewährtes Erfolgsmodell betrachtet, also nicht mehr nur, wie noch in den ersten beiden Jahrzehnten nach Kriegsende, mit Carl Joachim Friedrich und Fritz Hartung als eine jener typischen „negativen Verfassungen“ verstanden, „die nicht aus einer positiven Begeisterung für eine schöne Zukunft, sondern aus dem negativen Abscheu vor einer unsauberen Vergangenheit heraus entstanden sind“16. Der Erfolg der neuen, wesentlich durch das Grundgesetz mit geschaffenen sta­ bilen politischen Ordnung in Deutschland hat dazu beigetragen, dass in verfassungsgeschichtlicher (und damit auch in verfassungstheoretischer) Hinsicht ebenfalls nicht mehr nur der lange verbreitete „Negativpatriotis­ mus“ des „Hitlersyndroms“ wirksam ist, den Josef Isensee vor einem Vier­ teljahrhundert in einer klassischen Abhandlung zur „Staatsverdrängung der Deutschen“ noch zu Recht beklagen konnte17, sondern dass eine neue rie‘ betrifft, kann von einer deutschen Erfindung gewiss nicht die Rede sein. Soweit hingegen der Fokus auf die konkrete Ausrichtung und den kon­kreten Stellen- wie Ge­ brauchswert der Verfassungstheorie gerichtet wird, weist der deutsch(sprachig)e Weg einige Besonderheiten und Eigentümlichkeiten auf“ (ebenda). 14  So Depenheuer  /  Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 92 (Paul Kirchhof, § 3 Begriff und Kultur der Verfassung). 15  So ebenfalls von Kirchhof, ebenda, S. 92. 16  Fritz Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Ge­ genwart, 8. Aufl. Stuttgart 1964, S. 370 f.; vom „Optimismus“ der einstigen Weimarer Reichsverfassung sei „im Bonner Verfassungswerk nichts mehr zu spüren. Es ist viel­ mehr beherrscht von dem Bestreben, nicht nur der Wiederkehr einer Gewaltherrschaft, wie sie der Nationalsozialismus ausgeübt hatte, vorzubeugen, sondern auch die Män­ gel zu vermeiden, die sich von 1919 bis 1933 in der Handhabung des parlamentari­ schen Regierungssystems gezeigt und stark zum Sturz des Weimarer Staates beigetra­ gen haben“. Zum Begriff der „negativen Verfassung“ siehe auch Carl Joachim Fried­ rich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin / Göttingen / Heidelberg 1953, S. 171 f. 17  Vgl. Josef Isensee, Die Verfassung als Vaterland. Zur Staatsverdrängung der Deutschen, in: Armin Mohler (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu. Anmerkungen zur Lage (Schriften der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, 11), München 1986, S. 11–35, hier S. 13.

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Sachlichkeit sich jedenfalls dort bemerkbar macht, wo in Deutschland über Verfassung und Verfassungen geredet wird. Dennoch muss es etwas merkwürdig berühren, wenn die eigentlich kaum hintergehbare Tatsache der ausdrücklichen Erwähnung für würdig befunden wird, dass Staat und Verfassung sich gegenseitig bedingen, dass der Staat einerseits „nicht denkbar ohne eine bestimmte Verfassung“ (hier in sehr allgemeinem Sinne verstanden) ist, und dass andererseits die „Verfassung … nur zu rechtlicher Geltung und zu realer Wirksamkeit über den Staat“18 gelangen kann – was sonst? Erklären lässt sich dieser Vorgang vor allem aus der Erinnerung an jene „Kulturrevolution“ der ausgehenden 1960er Jahre, in deren Folge immer wieder der Versuch unternommen wurde, die Verfassung gegen den Staat auszuspielen sowie das auch gegenwärtig noch immer „nachhaltig verstört[e]“ deutsche Nationalbewusstsein durch einen in seiner Substanz eher nebelhaften „Verfassungspatriotismus“ zu erset­ zen19. Man sollte in der Tat die aus einem in überzogener Weise moralisch aufgeladenen, letztlich in Staatsverdrängung mündenden „Verfassungspatri­ otismus“ resultierenden Folgen nicht unterschätzen, worauf vor allem De­ penheuer sehr zu Recht hinweist: In diesem Zusammenhang kann eine „Metaphysik des Anspruchsdenkens“ entstehen, die ihren Ausdruck in der Parole findet: „Alles für das Individuum, nichts für den Staat“. Die bereits bestehende und durch eine solche Entwicklung noch verstärkte „Asymme­ trie von Rechten und Pflichten generiert eine den Staat verdrängende Ver­ fassungszentriertheit sowie ein auf Verfassungsauslegung reduziertes Ver­ ständnis des Politischen, das die Politik im Grenzfall hindern könnte, auf Lagen sachlich angemessen und verfassungsrechtlich unbedenklich reagie­ ren zu können“20. Von einem wie auch immer gearteten langsamen „Absterben des Staates“, den manche Strömungen der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts von Fichte bis Engels postulieren zu können meinten, ist bis heute jeden­ falls nichts zu spüren, und auch die neue deutsche Verfassungstheorie zwei­ felt – im Gegensatz wohl zu einzelnen Vertretern der neuesten deutschen 18  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 200 (Josef Isensee, § 6 Die Staatlichkeit der Verfassung). 19  Dazu vgl. ebenda, S. 225 ff. 20  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 563 (Otto Depenheuer, § 16 Funktionen der Verfassung). Schon vor längerem hat in diesem Zusammenhang Isensee, Die Verfassung als Vaterland (Anm. 16), S. 24, ebenso polemisch wie in der Sache treffend auf die Gefahren einer „Verfassungsmoralität“ und „Verfassungsreligiosität“ hingewiesen, die sich vom „Verfassungspietismus und Verfassungsmessianismus“ zum „Verfassungszelotismus“ weiterentwickeln kann – als eine Art „vagabundierende Religiosität, die sich im Grundgesetz eine säkulare Heimstätte sucht“ und auf diese Weise zur „rabies theologica“ degeneriert!



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Verfassungsgeschichtsschreibung21 – grundsätzlich nicht an der Existenz und Funktionsfähigkeit moderner Staatlichkeit. Freilich wird man ebenfalls nicht – oder nicht mehr – von einer „bedeutsamen Transformation der Ge­ sellschaft“ im Sinne „einer ungeheuren Ausweitung der Staatsgewalt“ spre­ chen können, die Bertrand de Jouvenel in seinem gegen Ende des Zweiten Weltkriegs entstandenen und 1947 erstmals publizierten Werk über die Staatsgewalt („Du Pouvoir“) erkennen wollte22. Der Staat ist und bleibt, soweit absehbar, der „Regelungsgegenstand des Verfassungsgesetzes“23, und zu den Regeln der vom Staat gewährleisteten Normalität gehören weiterhin ebenso der von ihm eingeforderte „Rechtsgehorsam und die Friedenspflicht der Bürger sowie die Gesetzesbindung und das Gewaltmonopol des Staates“24. Sollte dieses Gewaltmonopol künftig einmal unter bestimmten Umständen, etwa im Zeichen eines allgemeinen kulturellen und sozialen Niederganges, tatsächlich fallen – dann allerdings würde sich die Frage nach dem inneren Verhältnis von Verfassung und Staat vollkommen neu stellen und dann würde sich vermutlich ebenfalls sehr rasch erweisen, dass ‚Verfassung‘ ohne rudimentär funktionierende ‚Staatlichkeit‘ nurmehr eine Chimäre sein würde. Man kann sich also auf die Feststellung einigen, dass der Staat zwar in absehbarer Zeit sicher nicht ‚verschwinden‘, sich aller­ dings in stetem Wandel befinden wird, etwa gemäß einer Einsicht des bis heute unterschätzten Denkers Paul Yorck von Wartenburg, der schon im Jahr 1892 an Wilhelm Dilthey schrieb: „Der Staat …, der sich darauf be­ schränkt eine rechtliche und polizeiliche Einheit zu sein, wird, wie ein Schiff, hin und hergeworfen von den Wogen der elementaren historischen Gewalten. Die Dynamik der Sozietät läßt den status – Staat – nur als vor­ 21  Hingewiesen sei pars pro toto nur auf Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, der, ebenda, S. 516, wenigstens tendenziell eine allgemeine Entwicklung in Richtung auf „ein Gemeinwesen voll von intermediären Instanzen anstelle eines zentralen Staates“ erkennen möchte, vgl. zum Zusammen­ hang auch ebenda, S. 509–536. Mit ähnlicher Akzentsetzung auch Martin van Cre­ veld, Aufstieg und Untergang des Staates, München 1999, S. 373–456, bes. 439 ff. 22  Bertrand de Jouvenel, Über die Staatsgewalt. Die Naturgeschichte ihres Wachs­ tums, Freiburg i. Br. 1972, S. 424 (frz. Originalausgabe: Du Pouvoir. Histoire natu­ relle de sa croissance, Genève 1947). 23  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 244 (Josef Isensee, § 6 Die Staatlichkeit der Verfassung). 24  So Isensee, ebenda, S. 250; vgl. auch ebenda, S. 656 (Eckart Klein, § 19 Staat­ liches Gewaltmonopol): „Das staatliche Gewaltmonopol ist unverhandelbar und unverzichtbar. Weder auf der nationalen noch auf der internationalen Ebene zeichnen sich andere Formen der Zivilisierung ab, die es ersetzen könnten. Wir müssen mit dem Paradox leben, dass Gewalt letztlich nur gewaltsam unterdrückt werden kann. Zerbräche das staatliche Gewaltmonopol, zerbrächen daher auch Friede und Ord­ nung und damit unsere Freiheit“.

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übergehende Erscheinungsweise – Einzelfall – gelten. Die Bewegungstheo­ rie hat die Staatspraxis ergriffen“25. Den Standpunkt eines derart radikalen historischen Relativismus kann der Verfassungsjurist und Verfassungstheoretiker freilich nur aus großer Entfer­ nung einnehmen; in systematischer Hinsicht und bezogen auf seine eigene Gegenwart bleibt er gebunden an die bereits vor Jahrzehnten von Carl Schmitt formulierte Einsicht, der Akt der Verfassungsgebung konstituiere „durch einmalige Entscheidung das Ganze der politischen Einheit hinsicht­ lich ihrer besonderen Existenzform“26 – einer Einheit, deren Dasein bereits grundsätzlich vorausgesetzt wird. Mit den Formulierungen Otto Depenheu­ ers: „Auch der Verfassungsstaat ist zunächst einmal Staat und setzt zumin­ dest einen im Entstehen begriffenen Staat voraus. Das Strukturmodell des modernen Staates geht seiner verfassungsrechtlichen Ausformung historisch, rechtslogisch und in der Sache voraus. Eine Verfassung bedarf eines exis­ tent gedachten Gegenstandes, den sie verfassen, d. h. konstituieren kann“27. In diesem Zusammenhang bleibt mit Carl Schmitt und Otto Brunner aller­ dings festzuhalten, „daß ‚Staat‘ kein für alle Völker und Zeiten gültiger Allgemeinbegriff, sondern ein geschichtlicher, an eine bestimmte Epoche gebundener, konkreter Begriff ist und daß es ein Fehler … war, durch die Verwendung des Wortes ‚Staat‘ typische Vorstellungen der staatlichen Epo­ che in andere Zeiten und Situationen hineinzuprojizieren“28. Verfassung im modernen Sinne ist und bleibt also gebunden an die Existenz des neuzeit­ lichen, auf Organisation und Verwaltung beruhenden, das Gewaltmonopol innehabenden Staates – damit also auch an eine konkret zu bestimmende geschichtliche, bis in die Gegenwart andauernde Epoche. Hierdurch ist auch die jeweilige Entstehung des Verfassungsgesetzes be­ stimmt, das seine Legitimität allerdings nicht immer durch die Art der Verfassungsgebung erhält, sondern wesentlich durch Erfolg und Akzeptanz. Diese Auffassung, vertreten auch von den maßgeblichen Autoren der neu­ esten deutschen Verfassungstheorie, richtet sich freilich vor allem darauf, 25  Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von War­ tenburg 1877–1897 (Philosophie und Geisteswissenschaften, Buchreihe 1), Halle a. S. 1923, S. 141 (Yorck an Dilthey, 10.3.1892). 26  Schmitt: Verfassungslehre (Anm. 4), S. 21. 27  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 545 (Otto Depenheuer, § 16 Funktionen der Verfassung). 28  Carl Schmitt, Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebunde­ ner Begriff, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, 3. Aufl. Berlin 1985, S. 375–385, hier S. 383. Siehe auch Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfas­ sungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter, 3. Aufl. Brünn / München / Wien 1943, S. 124–134 u. a.



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die – vor Jahrzehnten gelegentlich in Zweifel gezogene – demokratische Legitimität des Bonner Grundgesetzes aufgrund von dessen ungewöhnlicher Entstehungsgeschichte zu untermauern29. Fritz Hartung hat noch Mitte der 1960er Jahre in seiner knappen Analyse des Grundgesetzes in verfassungs­ historischer Perspektive ausdrücklich darauf hingewiesen, dass mit Blick auf die westdeutsche Teilstaatsgründung die 1945 „siegreichen Großmächte nicht als Befreier aufgetreten sind, sondern die Demokratisierung als die wesentliche Bedingung ihrer eigenen Sicherheit aufgezwungen haben“30. Dass sich dies insgesamt auf die Entwicklung zuerst Westdeutschlands, später auch der wiedervereinigten Nation ausgesprochen positiv ausgewirkt hat, dürfte sechs Jahrzehnte später niemand mehr ernsthaft in Zweifel zie­ hen können. Aber man sollte die konkreten, auf Kriegsniederlage, Besetzung und Teilung zurückgehenden Ursprünge auch nicht vergessen und sie schon gar nicht mit dem Mantel der Verklärung umhängen. So sollte es sich heu­ te ebenfalls von selbst verstehen, dass in Abrissen zur neueren deutschen Verfassungsgeschichte nicht nur die Ausarbeitung und das Inkrafttreten des Grundgesetzes, sondern auch die – inzwischen ebenfalls wissenschaftlich hinreichend geklärte – Entstehung der ersten Verfassung der DDR behandelt wird31; die deutsche Verfassungsgeschichte der zweiten Nachkriegszeit ist nun einmal eine doppelte, unbeschadet der höchst unterschiedlichen Bedeu­ tung und Qualität beider Dokumente. Überhaupt – dies sei in diesem Zusammenhang ebenfalls angemerkt – kann eine zu vorschnelle Gegenüberstellung von ‚Westen‘ und ‚Osten‘ (bzw. ‚westlichen‘ und ‚nicht-westlichen‘ Werten) heute nicht mehr unbe­ dingt überzeugen. Zur neueren europäisch-nordamerikanischen Verfassungs­ geschichte gehören eben nicht nur die immer wieder als vermeintlich her­ ausragende und maßstabsetzende Paradigmen oder ‚Prototypen‘ gerühmten frühen französischen Revolutionsverfassungen (die bekanntlich in der Praxis 29  Siehe jetzt vor allem Christian Waldhoff, in: Depenheuer  /  Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 309 (Christian Waldhoff, § 8 Entstehung des Verfassungsgesetzes), der zu verdeutlichen versucht, „dass nicht bestimmte Mehrheitsanforderungen im Entstehungsakt diese dauerhafte Geltung [der Bestim­ mungen einer Verfassungsurkunde, H.-C.K.] bewirken, sondern dass der reale Er­ folg im Sinne einer übergreifenden Akzeptanz das entscheidende Datum darstellt: Nur insofern die im politischen Prozess unterliegenden Teile sich dem Mehrheits­ diktum beugen, gewinnt die Verfassung Legitimität aus Akzeptanz. Nicht das Ple­ biszit im Rahmen der Verfassunggebung, sondern das ‚plébiscite de tous les jours‘ ist entscheidend“. 30  Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte (Anm. 16), S. 371. 31  Vgl. dazu statt vieler nur Marcus Howe, Karl Polak. Parteijurist unter Ulbricht (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 149), Frankfurt a.  M. 2002; Heike Amos, Die Entstehung der Verfassung in der Sowjetischen Besatzungszone / DDR 1946–1949. Darstellung und Dokumentation, Münster 2006.

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nicht funktionierten)32 und ebenfalls nicht nur die US-amerikanische Bun­ desverfassung von 1787 (die bekanntlich einen nicht geringen Teil ihrer Bevölkerung als Sklaven von der Teilnahme an politischer Partizipation ausdrücklich ausschloss), sondern auch die bis heute ungeschriebene, sich auf einzelne historische Verfassungsgesetze und Konventionalregeln stützen­ de Verfassungsordnung Großbritanniens33, die ‚westlichen‘ Standards (wenn denn dieser Begriff tatsächlich einen Sinn haben soll) stets ebenfalls ent­ sprach und bis heute entspricht, auch wenn sie sich vom Paradigma der modernen geschriebenen Verfassung im liberalen Verständnis deutlich ab­ hebt. Erinnert sei in diesem Zusammenhang lediglich an ein im 19. Jahr­ hundert auch in Deutschland viel zitiertes Wort des damals prominenten Rechtshistorikers Sir Francis Palgrave, der 1844 feststellte, dass die engli­ sche Verfassung nicht auf Freiheit, sondern auf Recht gegründet sei, dass das britische Verfassungsrecht nicht das Volk als solches oder den Menschen als solchen, sondern den Untertanen schütze und dass die althergebrachte britische Verfassung zuerst als Resultat und Summe dieses durch die Jahr­ hunderte gewährten Rechtsschutzes, nicht aber als eine „Urkunde voll Ma­ ximen und Definitionen, eingeteilt in Kapitel und Paragraphen“, anzusehen sei34. Und die Untersuchungen von Martin Kirsch haben gezeigt, dass die konstitutionelle Monarchie keineswegs nur die deutsche, sondern die ge­mein­ europäische ‚Normalverfassung‘ des 19. Jahrhunderts gewesen ist35. Auch 32  Es darf in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, dass es in Frank­ reich in den elf Jahren zwischen der ersten Revolutionsverfassung (1793) und der Verfassung des napoleonischen Kaiserreichs (1804) nicht weniger als sechs z. T. überaus verschiedene Verfassungen (im Sinne moderner geschriebener Verfassungs­ grundgesetze) gegeben hat; vgl. zum Zusammenhang Peter Claus Hartmann, Fran­ zösische Verfassungsgeschichte der Neuzeit (1450–2002), 2. Aufl. Berlin 2003, S. 58–88. 33  Vgl. zusammenfassend: David Lindsay Keir, The Constitutional History of Modern Britain since 1485, 9. Aufl. New York / London 1969; Karl-Ulrich Meyn, Die Verfassungskonventionalregeln im Verfassungssystem Großbritanniens (Göttinger rechtswissenschaftliche Studien, 93), Göttingen 1975. 34  Francis Palgrave, The Conquest and the Conqueror, in: Quarterly Review, Bd. 74 (1844), S. 281–325, hier S. 320: „The English constitution is not based upon liberty, but upon law; our law secures the liberty of the subject; – our law knows nothing of the liberty of the people; – yet the subject values his liberty only to obtain the protection of the law. … Ours has not been a rude contest for assertion of individual independence, but an attempt to obtain an adjudication upon our rights. We have never contended for abstract rights or for general principles; our constitu­ tion is not a charter of maxims and definitions, divided into chapters and principles, but the result of definite remedies applied to definite grievances …“. 35  Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäische Verfassungsform – Frankreich im Vergleich (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 150), Göttingen 1999; siehe dazu auch Hans-Christof Kraus: Monarchischer Konstitutionalismus. Zu einer



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die heutige deutsche Verfassungstheorie sollte sich also vor einer verfas­ sungshistorischen Verengung und vor dem pseudohistorischen Konstrukt einer vermeintlich ‚westlichen‘ (sich in Wirklichkeit aber nur auf die kons­ titutionelle Entwicklung der amerikanischen und der Französischen Revolu­ tion beziehenden) Verfassungstradition hüten36. „Verfassung und Verfassungsstaat sind keine universellen und überzeitli­ chen, sondern historische konkrete, d. h. geschichtlich kontingente Erschei­ nungen. Das Wissen um die Geschichte und die Geschichtlichkeit dieser Phä­ nomene ist notwendige Bedingung für das Verständnis – in den beiden Rich­ tungen einer Verfassungstheorie: der Kritik wie der Sinngebung – von Verfas­ sung und Verfassungsstaat in der Gegenwart“37. Mit erfreulicher Deutlichkeit und Nüchternheit weist Christian Waldhoff auf die Tatsache hin, dass „die Lebensdauer einer Verfassung … oftmals eher kurz“38 ist – ein Faktum, das auch durch das einzige nennenswerte Gegenbeispiel, die US-Verfassung von 1787, keineswegs widerlegt wird. Keine konkret bestehende Verfassung – hier verstanden zuerst als Verfassungsurkunde, Verfassungsgesetz – hat also Ewig­ keitswert, auch wenn manche Verfassungsjuristen dies zu suggerieren ver­ suchen. Ewigkeitsgarantien (wie etwa in Art. 79, Abs. 3 des deutschen Grund­ gesetzes) sind ebenso wie vergleichbare „Ewigkeitsklauseln“ in anderen Ver­ fassungen bloße Absichtserklärungen, deren eigentlicher Zweck im Grunde nur in einer möglichst präzisen und deutlichen Abgrenzung zwischen verfas­ sungsgebender und verfassungsändernder Gewalt zu sehen ist39. Es ist klar: Neue konkrete geschichtlich-politische Lagen können unter be­ stimmten Umständen auch neue politische Ordnungen – und damit auch neue Verfassungen – erfordern, und dies widerspricht auch keineswegs dem Grund­ verständnis der Volkssouveränität. Gerd Roellecke weist darauf hin, dass „je­ des Volk zu jeder Zeit“ über ein „Verfassungskreationsrecht“40 verfügt, das neuen Deutung der deutschen und europäischen Verfassungsentwicklung im 19. Jahr­ hundert, in: Der Staat 43 (2004), S. 595–620. 36  So aber Depenheuer  /  Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 326 ff. (Christian Waldhoff, § 8 Entstehung des Verfassungsgesetzes). – Treffen­ de Feststellungen zum (vermeintlichen) Problem deutscher und ‚westlicher‘ Verfas­ sungstradition auch bei Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat. Eine verglei­ chende Geschichte von der Entstehung bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn / Mün­ chen / Wien / Zürich 2001, S.  528  f. 37  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 120 (Chris­ tian Waldhoff, § 4 Verfassungsgeschichte und Theorie der Verfassung). 38  Ebenda, S. 120, vgl. auch S. 131 f. 39  Vgl. Depenheuer  / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 362 (Matthias Herdegen, § 9 Grenzen der Verfassungsgebung). 40  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 455 (Gerd Roellecke, § 13 Identität und Variabilität der Verfassung).

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über bloße Verfassungsänderung hinausgeht41; aus verfassungshistorischer Perspektive sind nach seiner Auffassung Revolutionen sogar „als Quelle und Gegenbilder zur Verfassung“42 zu verstehen. Dem in Ausnahmesituationen eintretenden „Verfassungskreationsrecht“ steht freilich auch die Tatsache ge­ genüber, dass im Normalfall eine funktionsfähige Verfassung stabil zu sein hat, d. h. in der Lage sein muss, funktionierende politische Institutionen zu schaffen und die Substanz der eigenen Ordnung gegen Bedrohungen auch und gerade von innen zu verteidigen. Eben dies ist in Deutschland nach 1949 er­ reicht worden: Die Strategie, politische Stabilität auch durch „Begrenzung des Volkswillens mit Rechtsschutz und Verfassungsgerichtsbarkeit“ zu si­ chern, war, so Roellecke zu Recht, „jedenfalls in dem Sinne erfolgreich, dass das Grundgesetz insgesamt eine viel gelobte Verfassung und die Bundesrepu­ blik Deutschland ein anerkannt gut geordneter Staat geworden sind. Das ist vermutlich nicht der ‚Ewigkeitsklausel‘ zu verdanken, sondern der Stabilität der verfassungsrechtlichen Institutionen“43, und diese Stabilität wird letzten Endes auch durch die Möglichkeit zu legalen (wenn nötig, auch umfangrei­ cheren) Verfassungsänderungen gewährleistet, denn nicht zuletzt belegen Än­ derungen „die Geltung einer Verfassung, also ihre Resonanz in der Öffentlich­ keit … Ohne Änderungen trocknen Geltung und Resonanz ein“44. Die in diesem Zusammenhang zu stellende Frage nach der historischen und politischen Kontingenz einer Verfassungsurkunde wie einer Verfas­ sungsordnung ist nicht einfach zu beantworten und auch theoretisch nicht leicht zu fassen. Das mag damit zusammenhängen, dass Recht und Politik unterschiedliche „soziale Systeme“ sind, aber beide tendenziell „universale Ansprüche“ erheben und aus diesem Grund „ihre Funktionen nie erledigen“ können. Insofern lässt sich mit Roellecke (und Luhmann) sagen: „Die Sys­ 41  Vgl. ebenda, S. 455 f.: „Bei Verfassungsänderungen scheint es keinen besseren Grund zu geben, sich an die geltende Verfassung zu halten, als die geltende Verfas­ sung, und das ist zu wenig“, sowie S. 459: „Art. 79 Abs. 3 GG kann … aufgehoben werden, weil jedes gesetzte Gesetz wieder beseitigt werden kann. Die jederzeitige Änderbarkeit gehört zur Struktur der Positivität. Wenn man Recht setzt, kann man die Änderbarkeit nicht abschütteln. Mit welchem Recht auch?“ Ähnliche Auffassung bei Karl Doehring, Allgemeine Staatslehre – Eine systematische Darstellung, 2. Aufl. Heidelberg 2000, S. 125, der anmerkt, dass auch in rechtstheoretischer Perspektive „kein Grund ersichtlich ist, warum eine staatliche Gemeinschaft nicht dazu frei sein soll, auch die Grundlagen ihrer Staatsorganisation konsensuell zu verändern, ohne damit einen Rechtsbruch zu vollziehen und sich eine ‚neue‘ Verfassung zu geben“. 42  Depenheuer  / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 67 (Gerd Roellecke, § 2 Beobachtung der Verfassungstheorie). 43  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 460 (Gerd Roellecke, § 13 Identität und Variabilität der Verfassung). 44  Ebenda, S. 471; umfassend zu den unterschiedlichen Arten und Formen der Verfassungsänderung bzw. des Verfassungswandels siehe Roelleckes Ausführungen ebenda, S. 470 ff.



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teme selbst schließen es daher aus, das Verhältnis von Recht und Politik einfürallemal festzulegen“45. Ein Wandel der Systeme – oder des Verhältnis­ ses der Systeme zueinander – kann aber andererseits wiederum nicht auf eine verfassungspolitische creatio ex nihilo hinauslaufen; einen Neuanfang bei „Null“ oder auf der Basis einer tabula rasa ist unmöglich, worauf De­ penheuer hinweist, denn: „Jede Verfassung muss anknüpfen an die kulturel­ len Vorgegebenheiten, geschichtlichen Bedingtheiten und politischen Rah­ menbedingungen, die ihr unverfügbar vorausliegen“46. Hierin liegen in der Tat die Grenzen der Verfassungskontingenz. Mit Blick auf die neuere europäische Verfassungsgeschichte wird man der Feststellung, eine Verfassung sei „Produkt politischer Entscheidung“ und wirke als solche „auf den politischen Entscheidungsträger sofort und unmit­ telbar zurück“47, nur im ersten Halbsatz gelten lassen können, der zweite ist nichts anderes als eine Juristenillusion. Zu viele Beispiele gibt es – ange­ fangen bei der bereits erwähnten ersten französischen Revolutionsverfassung von 1793 –, die belegen, dass Verfassungen, auch wenn sie soeben erlassen sind, von der Politik souverän ignoriert werden können. Um solche Illusio­ nen zu vermeiden, muss man eben doch den sonst gerne verdrängten oder beiseite geschobenen Sonderfall, den Ausnahmezustand, die politische Krise in den Blick nehmen. Auch für neue, revolutionäre Verfassungen gilt, was Jacob Burckhardt einmal als ein besonderes Kennzeichnen echter histori­ scher Krisen ausmachte: „Die Notwendigkeit, den Erfolg um jeden Preis für sich zu haben, führt in solchen Zeiten diese völlige Gleichgültigkeit in den Mitteln und ein totales Vergessen der anfänglich angerufenen Prinzipien bald mit sich“48. Politische Krisen stellen den Prüfstein für jede Verfassungsordnung dar, und es ist nicht mehr und nicht weniger als eine schöne (aber im Grunde unverzeihliche) Illusion zu glauben, dass eine Verfassung tatsächlich „dem künftigen politischen Gestaltungswillen ihren eigenen Willen vorgibt, um nicht zu sagen aufzwingt“49. Das Gegenteil ist der Fall: Eine Verfassung 45  Die Zitate: Depenheuer  /  Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 68 (Gerd Roellecke, § 6 Beobachtung der Verfassungstheorie). 46  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 546 (Otto Depenheuer, § 16 Funktionen der Verfassung); der Autor zitiert ebenda Hegels Be­ merkung, Verfassungen seien insoweit Emanationen der „Idee und des Bewußtseins des Vernünftigen, inwieweit es in einem Volk entwickelt ist“ (Rechtsphilosophie, Zusatz zu § 274). 47  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 943 (Bern­ hard Kempen, § 27 Verfassung und Politik). 48  Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Stuttgart 1978, S. 178. 49  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 944 (Bern­ hard Kempen, § 27 Verfassung und Politik). – Neuerdings hat der Autor in diesem

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kann den politisch Handelnden ihren Willen gerade nicht aufzwingen, son­ dern ist, im Gegenteil, mit einer sehr treffenden Formulierung Depenheuers angewiesen auf „die Fähigkeit und Bereitschaft der Politik, die Herrschaft des Rechts anzuerkennen und sich ihr zu unterwerfen. In normalen Zeiten wird dies in der Regel und unbewußt als gegeben und als selbstverständlich vorausgesetzt. In Krisen und Notzeiten hingegen wird der Eigenstand des Staatlichen erkennbar. Kündigt die Politik dann ihren Verfassungsgehorsam auf, wird aus dem ‚Zauberpergament‘ ein rechtlich leerlaufendes ‚Blatt Papier‘ (Lassalle)“50. Anders formuliert, bringt jeder Staatsnotstand die „im liberalen Rechtsstaat strukturell grundsätzlich angelegte Asymmetrie zwi­ schen den rechtlichen Befugnissen und den tatsächlichen Möglichkeiten staatlichen Handelns“51 zum Ausdruck – eine Asymmetrie, die sich im ge­ gebenen Fall unmittelbar politisch auswirken kann und der mit dem (von Karl Loewenstein so bezeichneten) „leere[n] Normengeklapper“52 einer Verfassungstheorie oder Verfassungslehre, mag sie auch noch so ‚modern‘ sein, nicht zu begegnen ist. Insofern ist es notwendig, dass jedes „Verfassungsgesetz … durch beson­ dere Notstandsregelungen auch Vorsorge für die Fälle [trifft], in denen seine auf die Normallage zugeschnittenen Regelungen außerordentlichen Bedro­ hungslagen nicht genügen“53, egal, ob es sich um einen äußeren oder einen inneren Notstand handelt (worunter auch, die neueste Entwicklung belegt es, Katastrophenfälle verstanden werden können). In verfassungsrechtlicher Hinsicht lässt sich das hier auftretende Problem, die sich öffnende „Schere zwischen Verfassungslegalität und Staatspraxis“, nach Josef Isensees über­ zeugenden Ausführungen nur schließen, „wenn man ein ungeschriebenes Notrecht anerkennt, das die Verfassung einschlussweise vorsieht (intra con­ Zusammenhang massiv Stellung bezogen gegen „die gelegentlich anzutreffende Politikerattitüde …, alles, was mit Juristerei zu tun hat, als rückwärtsgewandte Be­ denkenträgerei, als hinderlichen Formkram oder überhaupt als überflüssigen Ballast zu empfinden“. Diese Attitüde offenbare „ein gestörtes Verhältnis zu den politischen Entscheidungsmechanismen“; Bernhard Kempen, Politiker entscheiden. Anmerkun­ gen zum Verhältnis von Politik und Recht, in: Verfassung – Völkerrecht – Kultur­ schutz. Festschrift für Wilfried Fiedler zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Michaela Wit­ tinger / Rudolf Wendt / Georg Ress (Staats- und Völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, 26), Berlin 2011, S. 177–187, hier S. 186. 50  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 553 (Otto Depenheuer, § 16 Funktionen der Verfassung). 51  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 441 (Bernd Grzeszick, § 12 Ungeschriebenes Verfassungsrecht). 52  Karl Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Aufl. Tübingen 1969, S. IV. 53  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 257 (Josef Isensee, § 6 Die Staatlichkeit der Verfassung).



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stitutionem) oder hinnimmt (praeter constitutionem)“; allerdings lebt ein solches verfassungsimmanentes Notrecht erst dann auf, „wenn alle regulären Formen der Abhilfe versagen“54. Die Frage ist in diesem Fall nur: Wer entscheidet – und zwar nicht nur über das Eintreten des Ausnahmezustan­ des, sondern auch darüber, welche „extrakonstitutionelle“ politische Maß­ nahme sich noch so nahe an der bisher bestehenden Verfassungslegalität befindet, dass sie als Notmaßnahme akzeptabel erscheint? Auch in diesem Fall wird, so Isensee in Anlehnung an Carl Schmitt, „die Rechtsfrage, was von Verfassungs wegen gilt, …, abgelöst durch die Machtfrage, wer entscheidet“55. Die Position einer möglichen „Nichtentscheidbarkeit“56 im Ausnahmefall bleibt letztlich ein juristischer Grenzfall. Eine andere, hier aufzuwerfende Frage besteht darin, inwieweit der Aus­ nahmefall tatsächlich ein „Notstandsrecht“ im Sinne einer wenigstens rudi­ mentär vorhandenen Rechtsordnung konstituiert. Schmitt bemerkt hierzu: „Weil der Ausnahmezustand immer noch etwas anderes ist als eine Anarchie und ein Chaos, besteht im juristischen Sinne immer noch eine Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung“57. Wie steht es dann beispielsweise mit einer für den Ausnahmezustand typischen politischen Maßnahme, etwa mit einer „Verfassungsdurchbrechung“? Gerd Roellecke macht scharfsinnig da­ rauf aufmerksam, dass Verfassungsdurchbrechungen58 so bezeichnet werden, „um den Ausnahmecharakter zu betonen und anzudeuten, dass man an der durchbrochenen Norm grundsätzlich festhalten will“59. Eine solche Verfas­ sungsdurchbrechung hätte beispielsweise der gegen Ende der Weimarer Republik im Umfeld des Reichspräsidenten ernsthaft erörterte Versuch sein können, durch zeitweilige Ausschaltung des (infolge absoluter Mehrheit der verfassungsfeindlichen Parteien NSDAP und KPD) handlungsunfähigen Reichstags ein befristetes autoritäres Präsidialregime zu etablieren, um die Republik und damit auch den Kern ihrer Verfassung, ihrer Rechtsordnung über die Phase einer massiven „Funktionsstörung“ der obersten Reichsorga­ 54  Die Zitate ebenda, S. 258; Isensee fügt hinzu, ebenda, S. 258 f.: „Abweichun­ gen von der verfassungsgesetzlichen Regel sind nur legitim, wenn sie zwecktaug­ lich, unvermeidlich und angemessen sind: so schonend und so nahe an der Verfas­ sungslegalität wie möglich“. 55  Ebenda, S. 259; vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Leh­ re von der Souveränität (zuerst 1922), 4. Aufl. Berlin 1985, S. 17 ff. 56  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 260 (Josef Isensee, § 6 Die Staatlichkeit der Verfassung). 57  Schmitt, Politische Theologie (Anm. 55), S. 18 f. 58  Dazu wichtig: Ulrich Hufeld, Die Verfassungsdurchbrechung. Rechtsproblem der Deutschen Einheit und der europäischen Einigung. Ein Beitrag zur Dogmatik der Verfassungsänderung (Schriften zum Öffentlichen Recht, 725), Berlin 1997. 59  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 473 (Gerd Roellecke, § 13 Identität und Variabilität der Verfassung).

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ne hinweg zu retten60. Aber auch hier stellt sich erneut die unumgehbare Frage nach demjenigen, der über die Macht verfügt, darüber zu entscheiden, wann eine solche befristete Verfassungsdurchbrechung beendet werden kann, wann also der Ausnahmezustand aufzuheben ist. Die Frage nach dem Ort und nach den kurzfristigen oder auch langfristigen Absichten der Inha­ ber der realen politischen Macht ist hier also weder zu vermeiden noch durch juristische Kunstgriffe zu umgehen; die von Bernd Grzeszick so be­ zeichnete „Asymmetrie“ zwischen Recht und Politik ist nicht in irgendein Gleichgewicht zu bringen, und die Antwort auf die Frage, ob eine „Verfas­ sungsdurchbrechung“ an der durchbrochenen Norm festzuhalten bestrebt ist oder nicht, ist in letzter Konsequenz immer lageabhängig und deshalb nicht eindeutig zu beantworten. Für jede Verfassungstheorie muss die Frage nach den Funktionen einer Verfassung zentral sein. Zuerst einmal ist mit Christian Waldhoff festzu­ stellen: „Verfassungen verrechtlichen politische Machtausübung. Die in ih­ nen festgelegten, mithin konsentierten Regeln entlasten den politischen Prozess“61 – und dies durchaus im Sinne der Bestimmung Arnold Gehlens, dass die genuin entlastende „Institutionalisierung von Machtlagen zu Herr­ schaftsformen … grundsätzlich auf die Dauer nur möglich [ist], wenn die geltenden Rechts- und Moralvorstellungen in sie aufgenommen sind“62. In historischer Perspektive gesehen, ordnen sich Staatsbildung und damit auch Verfassungsentstehung und Verfassungsentwicklung in den größeren Zu­ sammenhang einer seit Beginn der Neuzeit kontinuierlich ansteigenden Verdichtung von Herrschaft ein63. Dies bedeutet zugleich eine zunehmende Ausdifferenzierung von Regelungsfunktionen, die einer Verfassung zukom­ men. Man kann sie, auf die Gegenwart (sowie auf Deutschland) bezogen mit Isensee folgendermaßen formulieren: „Aufgabe des Verfassungsgeset­ zes ist es, die Staatsgewalt demokratisch zu legitimieren, gewaltenteilig auszudifferenzieren, bundesstaatlich zu gliedern sowie durch die Vorgaben des sozialen Rechtsstaates zu begrenzen und zu steuern“64. Abstrakter for­ 60  Vgl. dazu statt vieler nur Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 7: Ausbau, Schutz und Untergang der Weimarer Republik, Stutt­ gart / Berlin / Köln / Mainz 1984, S.  1078  ff., 1212  f., 61  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 122 (Chris­ tian Waldhoff, § 4 Verfassungsgeschichte und Theorie der Verfassung). 62  Arnold Gehlen, Soziologie der Macht, in: ders., Gesamtausgabe, hrsg. v. KarlSiegbert Rehberg, Bd. 7: Einblicke, Frankfurt a. M: 1978, S. 91–99, hier S. 94. 63  Vgl. die insgesamt vorzügliche Darstellung in Depenheuer  /  Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 123 ff. (Christian Waldhoff, § 4 Verfas­ sungsgeschichte und Theorie der Verfassung). 64  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 207 (Josef Isensee, § 6 Die Staatlichkeit der Verfassung).



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muliert es Grabenwarter, der die Verfassung auch als „Erzeugungsregel für … staatliches Recht“65 bestimmt. Genau an diesem Punkt stellt sich die schwierige Frage nach dem unge­ schriebenen Verfassungsrecht66, denn „keine Kodifikation kann alle Fragen, die sie regeln müßte, regeln. Durch eine Kodifikation ist das Bedürfnis nach Rechtsnormen für einen Sachbereich nicht erschöpft“67 – schon gar nicht für den Bereich des Politischen. Jedenfalls führt die „Spannungslage zwi­ schen Verfassungstext und Verfassungsaufgabe oder Verfassungsfunktion“ regelmäßig zur Erzeugung neuen ungeschriebenen (weil nicht in der Urkun­ de enthaltenen) Verfassungsrechts, das allerdings damit „ein schwieriger und unbequemer Gegenstand für solche Verfassungsrechtsauslegungen“ wird, „die Text, Regelung und Norm tendenziell gleichsetzen“68. Auch dies ist ein wichtiger Aspekt moderner Verfassungstheorie, die sich eben nicht nur auf die Betrachtung und Analyse gegebener Verfassungstexte beschrän­ ken kann, denn „das ungeschriebene Verfassungsrecht ergänzt das Verfas­ sungsrecht und kann deshalb nur als Entfaltung, Vervollständigung oder Fortbildung der Prinzipien des geschriebenen Verfassungsrechts und immer nur im Normeneinklang mit diesen Prinzipien entstehen und bestehen“69, damit jeder – gerade im politischen Bereich immerhin mögliche – Miss­ brauch ausgeschlossen bleibt. Integration ist in gegenwärtiger wie auch in historischer Perspektive – nicht erst seit den berühmten, nach wie vor grundsätzlichen Ausführungen Rudolf Smends70 – eine zentrale Aufgabe jeder Verfassungsordnung. Inso­ fern leistet sie einen Beitrag zur Herstellung innerer Einheit, und dies auf vielerlei Art und Weise. Schon Helmut Quaritsch wies im Rahmen seiner Analyse der „Selbstdarstellung des Staates“ und ihrer Probleme schon vor Jahrzehnten darauf hin, dass „eine soziale Organisation … ihr Dasein, ihre Ziele und Zielverwirklichungen dauernd vorweisen“ müsse, „um sich selbst gegenüber Mitgliedern und Umwelt als sinnvoll, vertrauenswürdig und er­ folgreich zu präsentieren; ebenso gehört zu ihrer Selbstbehauptung, sich von 65  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 399 (Chris­ toph Grabenwarter, § 11 Die Verfassung in der Hierarchie der Rechtsordnung). 66  Grundlegend und thematisch weit ausgreifend reflektiert von Heinrich Amade­ us Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz (Jus Publicum, 44), Tübingen 2000; jetzt auch, teilweise von Wolff abweichend, Depenheuer / Gra­ benwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 417–452 (Bernd Grzeszick, § 12 Ungeschriebenes Verfassungsrecht). 67  Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht (Anm. 66), S. 462. 68  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 423 (Bernd Grzeszick, § 12 Ungeschriebenes Verfassungsrecht). 69  Ebenda, S. 449. 70  Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (Anm. 9), S. 136 ff. u. passim.

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anderen Organisationen deutlich abzuheben“71. Und Otto Depenheuer erin­ nert neuerdings daran, dass es zu den fortdauernden Aufgaben einer Verfas­ sung gehört, „die Selbstidentifikation der Nation fortzuschreiben, sie durch die Kraft repräsentierter Symbole, Personen, Verfahren und Institutionen zu einer politischen Einheit zusammenzuhalten“72. Letztlich zielt Integration auf eine „umfassende Einheit, in der Bürger, gesellschaftliche Kräfte und Staatsorgane zusammenfinden“73. Ob dies aber immer gelingt – und wenn ja, auf welche Weise –, bleibt dennoch fraglich. Man kann in diesem Zusammenhang zwar an die (in der Regel auch in der Verfassungsurkunde festgelegten) Staatsziele und Staatszielbestimmungen erinnern, die u. U. integrierend wirken können74, doch darf man hier eben­ falls nicht verkennen, dass es höchst problematisch ist, die Rahmenverfas­ sung zur „Totalverfassung“75 auszudehnen, indem die Verfassungstexte überfrachtet werden mit Wünschbarkeiten aller Art. Unsere derzeitige Ver­ fassung ist, wie Wolfgang Graf Vitzthum treffend anmerkt, „immer mehr zur Pinnwand geworden, auf die jede gesellschaftliche oder parteipolitische Gruppierung ihr Begehr nagelt …, um sich anschließend auf die angebliche konstitutionelle Nobilitierung ihres Anliegens berufen zu können“76. In der Tat: Derartige „Überdehnungen der Verfassungsidee“ können der Rechts­ institution Verfassung durch „Überfrachtung mit Nebensächlichkeiten“ 71  Helmut Quaritsch, Probleme der Selbstdarstellung des Staates (Recht und Staat, 478 / 479), Tübingen 1977, S. 10. 72  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 542 (Otto Depenheuer, § 16 Funktionen der Verfassung); siehe auch ebenda, S. 948 f. Bern­ hard Kempens Bemerkungen zur „einheitsstiftende[n] Funktion der Verfassung“ (hier S. 948). 73  Ebenda, S. 562. 74  Hierzu grundlegend Karl-Peter Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestim­ mungen (Jus publicum, Bd. 25), Tübingen 1997, der Staatszielbestimmungen in „idealtypischer Ausprägung“ als „final-programmierte Normen“ definiert, „d. h. Nor­ men, die den Staat auf die Verfolgung bzw. Verwirklichung eines bestimmten Ziels festlegen, ohne den Weg oder die Mittel der Zielverwirklichung vorzuschreiben“ (ebenda, S. 482); siehe hierzu auch die Bemerkungen von Hans-Christof Kraus, Staatsziele in historischer und systematischer Perspektive, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 251 (1999), S. 277–286. 75  Begriff nach Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 563 (Otto Depenheuer, § 16 Funktionen der Verfassung). 76  Depenheuer  /  Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 388, Anm. 38 (Wolfgang Graf Vitzthum, § 10 Form, Sprache und Stil der Verfassung). Auch Isensee, Die Verfassung als Vaterland (Anm. 16), S. 20, beklagte schon vor einem Vierteljahrhundert mit Recht die „Metamorphose des Grundgesetzes vom obersten Rechtsgesetz zum politischen Integrationsprogramm, von der thematisch beschränkten Rahmenordnung des Staates zur unbegrenzten, virtuell allzuständigen Totalverfassung für Staat und Gesellschaft“.



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Schaden zufügen, denn „der verfassungsrechtlich normierte Grundkonsens zielt auf die Basis des politischen Gemeinwesens und wahrt souveräne Zu­ rückhaltung gegenüber tagespolitisch motivierter Instrumentalisierung der Verfassungsform“77. Und die skeptische, durch historische Erfahrungen gerade des 20. Jahr­ hunderts begründete, heute von Josef Isensee ausgesprochene Warnung vor der Möglichkeit einer bloß „semantischen Verfassung, die ein Trugbild schafft, um von der wahren Machtlage abzulenken“78, sollte in diesem Zu­ sammenhang ebenfalls nicht vergessen werden. Die Existenz einer geschrie­ benen Verfassung bedeutet nämlich, worauf nicht deutlich genug hingewie­ sen werden kann, allen rhetorischen Beschwörungen zeitgenössischer juris­ tischer ‚Verfassungslyrik‘ zum Trotz, „keineswegs … ipso facto eine Garan­ tie für geteilte und deshalb begrenzte Macht. … In vielen Fällen ist die geschriebene Verfassung nichts weiter als eine handliche Verkleidung, die über die Zusammenballung der Macht in einem einzigen Machtträger hin­ wegtäuschen soll“79. Diesen Worten Karl Loewensteins ist kaum etwas hinzuzufügen, auch wenn sich inzwischen gezeigt hat, dass die Verkündung bestimmter politischer Absichten (etwa in den Menschenrechtserklärungen der KSZE-Akte), deren Verwirklichung gleichzeitig mit politischen Mitteln rabiat unterbunden wird, unter gewissen Umständen eine Eigendynamik zu entwickeln vermag, die zu revolutionären Umbrüchen führen kann, wie die Entwicklungen in den Jahren 1989 bis 1991 gezeigt haben. Erledigt erscheint auch der neuesten deutschen Verfassungstheorie die Fiktion einer inhaltlichen Rechtsbindung des Verfassungsgesetzes. Jedenfalls verbieten sich, so Christian Waldhoff, „Bindungen an ein ‚Naturrecht‘ oder an sonstiges überpositives Recht … von selbst“, und der Gedanke einer entsprechenden „Rechtsbindung der verfassunggebenden Gewalt vermag auch theoretisch nicht zu befriedigen“80; die eingehende und teilweise auch ausufernde Debatte, die hierüber in der Nachkriegszeit nicht nur innerhalb der damaligen Jurisprudenz geführt wurde81, ist in jedem Fall beendet. Gerd Roellecke hat in diesem Zusammenhang treffend darauf hingewiesen, es 77  Die Zitate: Depenheuer  /  Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 552, 557 (Otto Depenheuer, § 16 Funktionen der Verfassung). 78  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 252 (Josef Isensee, § 6 Die Staatlichkeit der Verfassung). 79  Loewenstein, Verfassungslehre (Anm. 52), S. 148. 80  Die Zitate: Depenheuer  /  Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 313 f. (Christian Waldhoff, § 8 Entstehung des Verfassungsgesetzes). 81  Die meisten der grundlegenden Texte zur damaligen Debatte finden sich ge­ sammelt in: Werner Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus? (Wege der Forschung, 16), Darmstadt 1972.

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komme nicht nur darauf an, „die Gespenster der Vergangenheit zu bannen“, sondern „auch Geister der Zukunft“ zu verscheuchen. Außerdem gehöre „die Änderbarkeit positiver Normen, einschließlich der Verfassungsnormen, … zu ihrer Positivität. Sie kann zwar durch andere Normen ausgeschlossen werden, aber für Verfassungsnormen kann es solche anderen Normen nicht geben, weil sie in der Normenhierarchie den höchsten Rang haben. Um diesen Zusammenhang zu unterlaufen, beschwören Verfassungen … häufig ihre Einmaligkeit und historische Notwendigkeit. … Aber in der Politik versagen historische Begründungen in der Regel vor Vergleichen mit der realen Geschichte“82. Das von den verschiedenen Verfassungen der Vergangenheit sehr unter­ schiedlich geregelte Problem der Religion wird in der deutschen Verfas­ sungstradition sehr differenziert gesehen, und dies aus guten Gründen. Die seit fast einem halben Jahrtausend bestehende deutsche Bikonfessionalität samt ihrer verfassungspolitischen Folgen für Deutschland seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und den Friedensverträgen von 1648 hat bekannt­ lich dazu geführt, dass man hier nicht den von Frankreich und den USA gewählten, vermeintlich ‚westlichen‘ Weg einer völligen Trennung von Staat und Kirche gegangen ist. Weimarer Reichsverfassung und Bonner Grundgesetz haben sich demgegenüber zu einer detaillierten Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, das man vielleicht als partielle wechselseitige Verschränkung bezeichnen kann, entschlossen. Nicht nur vor diesem Hintergrund, auch angesichts aktueller weltpolitischer Erfahrungen ist das Thema „Säkularität und Verfassung“ heute wesentlich differenzierter als noch vor wenigen Jahrzehnten in den Blick zu nehmen. Auch wenn der moderne europäische Staat wesentlich als Resultat eines „Vorgangs der Säkularisation“ anzusehen ist83, so bleibt doch angesichts der Tatsache, dass – jedenfalls historisch gesehen – kein eindeutig-geradliniger Vorgang eines konstanten Rückgangs des religiösen Elements in der europäischen Gesell­ schaft festzustellen ist84 und dass dementsprechend, trotz gegenwärtig star­ ker Säkularisierungstendenzen, von einer allgemeinen ‚Entchristlichung‘ nicht die Rede sein kann, das Verhältnis von Säkularität und Verfassungs­ staat kompliziert. Mit Recht wird deshalb neuerdings darauf hingewiesen, 82  Die Zitate: Depenheuer  /  Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 487 (Gerd Roellecke, § 13, Identität und Variabilität der Verfassung). 83  Hierzu immer noch grundlegend die klassische Studie von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976, S. 42–64. 84  Dazu statt vieler die einschlägigen Studien von Hartmut Lehmann, Religion und Religiosität in der Neuzeit. Historische Beiträge, hrsg. v. Manfred JakubowskiThiessen / Otto Ulbricht, Göttingen 1996.



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dass „Säkularität … kein Proprium der Staatlichkeit als solcher, sondern eine qualitative Zuschreibung“ darstellt. Und im übrigen ist „Staatlichkeit … auch auf ausgewiesen nicht-säkularer Grundlage möglich“85. Schließlich ist (auch seitens derer, die es gerne tun würden) die Tatsache nicht aus der Welt zu schaffen, dass die christliche Wertordnung weiterhin als „prägende[r] Kulturfaktor“86 zu den Grundvoraussetzungen des modernen deutschen Ver­ fassungsstaates gehören wird; Geschichte und Tradition lassen sich nicht – oder jedenfalls nicht ungestraft –­umstandslos über Bord werfen. Das lässt sich auch von einem anderen Teilaspekt der Verfassungstheorie sagen, nämlich von der Bestimmung des Umfangs und der Wirkungsfelder staatlicher Tätigkeit. Michael Brenner hat diesen Aspekt mit Blick auf die (west-)deutschen Privatisierungen von Bahn und Post seit den 1980er Jah­ ren thematisiert87, indem er darauf hinweist, dass Staatsaufgaben im engeren Sinne nur eine Teilmenge der öffentlichen – d. h. im öffentlichen Interesse zu tätigenden – Aufgaben darstellen88. Freilich muss an dieser Stelle mit Blick auf die Realität, etwa auf die ersten Resultate dieser seinerzeit stark umstrittenen Maßnahmen gefragt werden, ob die Privatisierungen tatsäch­ lich der im Grundgesetz festgelegten „Gewährleistungsverantwortung“ des Staates, damit auch der staatlichen „Verpflichtung auf das Gemeinwohl“89 gerecht geworden sind. Und hier wird man, angesichts der Schließung klei­ nerer Bahnhöfe und vieler Postfilialen überall im Lande unter vermeintlich ‚wirtschaftlichen‘ Gesichtspunkten fragen, ob der Staat seiner zentralen Verantwortung zur Daseinsvorsorge noch angemessen gerecht wird. Das ist sicherlich Einschätzungssache und damit interpretationsbedürftig, aber be­ reits die allgemein vorhandene Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Zuständen zeigt die Brisanz dieses Problems, das letztlich wohl als eine Folge der seit den frühen 1990er Jahren einsetzenden und in den Konse­ quenzen fraglos verhängnisvollen allgemeinen Überökonomisierung der Lebenswelt anzusehen ist. – Das gewissermaßen andere Extrem dieser Ent­ wicklung stellt der gegenwärtige Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat dar, der teils berechtigte, teils unberechtigte Ansprüche weckt und diese wiederum nur noch zum Teil auch erfüllen kann90. Insofern erscheint es als notwendig, den 85  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 160 (Klaus Ferdinand Gärditz, § 5 Säkularität und Verfassung). 86  Ebenda, S. 196; vgl. auch die Ausführungen und Hinweise S. 196 f. 87  Vgl. Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 852 ff. (Michael Brenner, § 25 Staatsaufgaben). 88  Vgl. ebenda, S. 854 f. 89  Ebenda, S. 857. 90  Ausführlich hierzu Depenheuer  /  Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 777–805 (Indra Spiecker gen. Döhmann, § 23 Verfassungstheorie des Sozialstaates).

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Sozialstaat und dessen Aufgabenbereich vom (umfassender angelegten) Wohlfahrtsstaat möglichst präzise abzugrenzen91. Wiederum mit Blick auf die Gegenwart wird darauf hingewiesen, dass Sozialstaatlichkeit nicht zu­ letzt eine wichtige „Legitimation für Staatlichkeit zu liefern“ vermag, auch wenn sie zuweilen „nur geringe Leistungen für den Einzelnen“92 zur Er­ möglichung von dessen Teilnahme an den staatlich gesicherten Grundfrei­ heiten zur Verfügung stellt. Grundfreiheiten und vor allem die Grundrechte haben in der westdeut­ schen Verfassungstheorie nach dem letzten Krieg verständlicherweise eine besonders bedeutende Rolle gespielt. Die Debatten um Werte und Normen und darüber, inwieweit sich das Bundesverfassungsgericht vor allem in den 1950er Jahren einer „Tyrannei der Werte“93 unterworfen habe, ist derzeit noch keineswegs abgeschlossen.94 Das in diesem Zusammenhang immer wieder genannte, das Grundrecht – nicht nur – auf Meinungsfreiheit beson­ ders extensiv auslegende sog. „Lüth-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts von 1958 bedürfte im Grunde einer entschiedenen Historisierung – verstan­ den als Ausdruck des Bedürfnisses der noch durch die vorangegangenen Ereignisse der Zeit vor 1945 zutiefst traumatisierten westdeutschen Gesell­ schaft nach fester, nicht mehr nur allgemein-naturrechtlich verbürgter 91  Vgl. ebenda, S. 802 f.: „Der Sozialstaat will etwas leisten, das der Einzelne so nicht schaffen kann. … Sozialstaatlichkeit … will Freiheitsgewähr und damit eine der essentiellen Grundbedingungen eines Rechtsstaats gewährleisten. Denn damit Freiheiten genutzt werden können, bedarf es einer realen Verfügungsmacht über diese Freiheiten. Daher kann Sozialstaatlichkeit immer nur gerichtet sein auf die Zur-Verfügung-Stellung eines Mindestmaßes. Darüber hinaus gehende Versorgung ist Verantwortung und Aufgabe des Individuums im Rahmen seiner Wahlfreiheiten. … Der Wohlfahrtsstaat dagegen will etwas anderes. Er will Entlastung des Einzel­ nen. Er bietet eine staatliche Erleichterung und Übernahme von Aufgaben und Ver­ antwortlichkeiten, die dieser an sich wahrnehmen könnte, aber aus vielerlei Gründen nicht oder nicht so gut oder nicht so viel wie unter staatlicher Ägide umsetzt. Der Wohlfahrtsstaat will dem Einzelnen die Selbst-Versorgung über die Sicherung des für alle gleichen Existenzminimums abnehmen. … Deshalb wohnt dem Wohlfahrts­ staat grundsätzlich ein paternalistisches und steuerndes Element inne. In diesem unterscheidet er sich fundamental vom Sozialstaat: Der Bürger soll mit staatlicher Hilfe, staatlichen Anreizen und staatlicher Leitung das für ihn Gute aussuchen und bekommen. Der Wohlfahrtsstaat definiert im Rahmen des politischen Prozesses das zu erreichende Ziel und die Ausgestaltung der Zielrichtung“. – Hier hat die Autorin offenkundig, obwohl sie keine realen Beispiele nennt, das skandinavische Modell im Blick! 92  Ebenda, S. 805. 93  Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, in: Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien – Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1967, S. 37–62. 94  Vgl. Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 817 ff. (Wolfgang Kahl, § 24 Grundrechte).



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„Werteordnung“, die sich angeblich im Grundgesetz ausdrückte. Dass man hier einer merkwürdigen Selbsttäuschung erlag und im Grunde durch die Hintertür dasjenige wieder einführte, von dem man sich an der Vordertür soeben verabschiedet hatte, nämlich wiederum eine Art Pendant zum Natur­ recht älteren Typs, indem man eine historisch zufällig unter extremen Um­ ständen entstandene Verfassungsauslegung zur absoluten moralischen und rechtlichen Norm erhob, begriff man offensichtlich nicht. Es ging seinerzeit wohl eher, wie Wolfgang Kahl anmerkt, um das in der Sache nur allzu verständliche „politische Streben einer ‚Nach-Diktatur-Gesellschaft‘ nach moralischer Rehabilitation“95. So entschieden die Grundrechte gesichert und geschützt werden müssen, so sind sie doch selbst wiederum „vor der Gefahr der Überforderung zu bewahren“96, wenn sie im Rahmen aktueller Recht­ sprechung überdehnt interpretiert werden und zur Begründung von allem und jedem herhalten müssen. Die bereits vor mehreren Jahrzehnten ausge­ sprochene eindringliche Warnung bleibt aktuell: „In einem Gemeinwesen, dessen Verfassung einen Gesetzgeber und Gesetze vorsieht, ist es Sache des Gesetzgebers und der von ihm gegebenen Gesetze, die Vermittlung durch berechenbare und vollziehbare Regeln zu bestimmen und den Terror des unmittelbaren und automatischen Wertvollzugs zu verhindern“ 97. Nicht in einem nebelverhangenen Wertehimmel, sondern auf dem klar wahrnehmbaren Boden der konkreten Realität bewegt sich die neue Verfas­ sungstheorie dort, wo sie es mit der traditionell als „Gewaltenteilung“ be­ stimmten Machtbeschränkung innerhalb konkreter Verfassungsordnungen zu tun hat. Die vielfältigen in diesem Zusammenhang auftauchenden, nicht nur von der Rechtsdogmatik, auch von der Politikwissenschaft98 intensiv disku­ tierten Fragen nach den diversen Ausprägungen und Formen von Zuständig­ keitstrennungen und Zuständigkeitsbeschränkungen, konkret gesprochen: von Fragen der Machtverteilung innerhalb einer Verfassungsordnung, wer­ den noch heute unter Anknüpfung an die klassischen Texte von Montesqui­ eu und den Autoren des ‚Federalist‘ abgehandelt. Nach Auffassung von Matthias Cornils verbindet sich mit dem Gewaltenteilungsbegriff zweierlei: „zum einen die Vorstellung einer Trennung der Funktionen (insbesondere der drei Staatsfunktionen), man mag dies interfunktionale Gewaltenteilung nennen, zum anderen die Vorstellung einer Aufteilung von Organzuständig­ keiten innerhalb ein und derselben Staatsfunktion, man mag dies als intra95  Depenheuer / Grabenwarter

(Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 836. S. 833. 97  Schmitt, Die Tyrannei der Werte (Anm. 93), S. 62 (Kursivierung im Original). 98  Vgl. statt vieler etwa die wichtige Studie von Alois Riklin, Mischverfassung und Gewaltenteilung, in: Festschrift zum 65. Geburtstag von Mario M. Pedrazzini, hrsg. v. Ernst Brem / Jean Nicolas Drurey / Ernst A. Kramer / Ivo Schwandner, Bern 1990, S. 21–37. 96  Ebenda,

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funktionale Gewaltenteilung bezeichnen“99. Im Kern läuft die bekannte Theorie auch in moderner Fassung darauf hinaus, jene alten, schon vor zweieinhalb Jahrhunderten von Sir William Blackstone formulierten „checks and balances“100 in neuem Gewande als Gewaltenverschränkung, Gewalten­ hemmung oder – ultramodern gesprochen – als „konsensdemokratische Arrangements“ zum Mitregieren „institutionalisierter Vetospieler“101 zu präsentieren. Zu diesen institutionalisierten Vetospielern gehört im Deutschland des Grundgesetzes seit langem das Bundesverfassungsgericht – und das ist problematisch, nicht nur dann, wenn man an das bedenkliche, weil par­ teipolitisch keineswegs unbeeinflusste Berufungsverfahren für Verfas­ sungsrichter und auch an den sich bekanntlich „hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses“ vollziehenden Prozess der Karlsruher Entschei­ dungsfindung102 denkt. Josef Isensees stark pointierte, indessen nur allzu begründete Warnung vor einem „Juristenstaat“, in dem sich das Bundes­ ver­fassungs­gericht „zum neuen praeceptor Germaniae“ aufschwingt103, aus­ gesprochen bereits vor einem Vierteljahrhundert, hat seitdem nichts von seiner Aktualität verloren104. Christian Waldhoff sieht in der Tatsache, dass die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts seit 1951 „in der Anwendung des Grundgesetzes gleichrangig behandelt wird“, ein bis zur Gegenwart „ungelöstes verfassungsrechtsdogmatisches Problem“105. Und Bernd Grze­ zick warnt mit keineswegs geringerem Recht vor einer bestimmten, neuer­ dings weit verbreiteten Art von „Verfassungsrechtsauslegungen, die Text, Regelung und Norm tendenziell gleichsetzen und den Verfassungsrechtspo­ sitivismus durch den Verfassungsgerichtspositivismus ergänzt haben, in dessen Folge die Fixierung auf den Verfassungstext durch eine ebensolche 99  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 669 (Mat­ thias Cornils, § 20 Gewaltenteilung). 100  Vgl. William Blackstone, Commentaries on the Laws of England (1765), Ndr. Chicago / London 1979, Bd. 1, S. 150 f. 101  Alles nach Depenheuer  / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 669 (Matthias Cornils, § 20 Gewaltenteilung). 102  Dazu neuerdings, ebenso erhellend wie ernüchternd: Uwe Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses. Der Willensbildungs- und Entscheidungs­ prozess des Bundesverfassungsgerichts, Wiesbaden 2010. 103  Isensee, Die Verfassung als Vaterland (Anm. 16), S. 16 f.; siehe jetzt auch Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 252 ff. (Josef Isensee, § 6, Die Staatlichkeit der Verfassung). 104  Neuestens hierzu auch: Matthias Jestaedt  /  Oliver Lepsius  /  Christoph Möl­ lers  /  Christoph Schönberger, Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, Berlin 2011. 105  Depenheuer  /  Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 132 (Christian Waldhoff, § 4, Verfassungsgeschichte und Theorie der Verfassung).



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Fixierung auf den Text der Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen er­ gänzt wird“106. Natürlich kommt das Verfassungsgericht nicht umhin – Gerd Roellecke hat darauf hingewiesen –, angesichts des dem Rechtsstaat immanenten Rechtsverweigerungsverbots gelegentlich auch „Richterrecht“ zu schaffen, und von dieser Möglichkeit hat das Karlsruher Gericht denn auch „reichlich Gebrauch gemacht“ – vielleicht überreichlich. Dennoch wird man das Ver­ fassungsgericht wohl kaum als „Hüter der Verfassung“ bezeichnen können, denn: „Eine Institution, die die Grundrechtsstruktur ändert oder ein neues Grundrecht erfindet, ‚hütet‘ die Verfassung doch nicht“. Insofern erhebt sich tatsächlich die bislang unbeantwortete (und vielleicht angesichts der beste­ henden Tatsachen auch unbeantwortbare) Frage: „Wer schützt die Verfas­ sung vor dem Bundesverfassungsgericht?“107 Christian Hillgruber etwa weist auf die grundsätzliche Interpretationsbedürftigkeit jeder Art von Recht hin, die sich zugleich „als offene Flanke seines objektiven Geltungsan­ spruchs, als Einfallstor des Subjektivismus“108 erweisen kann. Insofern ist immer wieder nachdrücklich auf die Grenzen der verfassungsgerichtlichen Verfassungsinterpretation hinzuweisen: „Nimmt ein Verfassungsgericht die Kompetenz nicht nur zu Bewahrung des Verfassungsrechts, d. h. der Durch­ setzung der Verfassungsbindung gegenüber Fehldeutung oder Missachtung, sondern auch zur interpretativen Fortentwicklung und Fortbildung des Ver­ fassungsrechts, d. h. zur Erzeugung neuen Verfassungsrechts in Anspruch, so bedarf es dafür einer hinreichend bestimmten verfassungsrechtlichen Er­ mächtigung. Andernfalls handelt es sich um die schlichte Usurpation der ausschließlich dem verfassungsändernden Gesetzgeber zustehenden Kompe­ tenz zur authentischen Interpretation der Verfassung“109. Nicht nur angesichts der gravierenden Probleme einer europäischen Fi­ nanzordnung muss eine moderne Verfassungstheorie auch das Thema der „Internationalisierung“ von nationalem Verfassungsrecht, dessen übernatio­ nale Bezüge, in angemessener Weise mit in den Blick nehmen und reflek­ tieren. Und dies nicht nur, weil inzwischen – worauf wiederum Isensee aufmerksam macht – überstaatliche Organisationen „versuchen, … die Funktionen einer Staatsverfassung für sich nutzbar zu machen und einen Zugewinn an rechtlicher Stabilität wie Rechtssicherheit zu erlangen, … zu­ 106  Depenheuer  /  Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 424 (Bernd Grzeszick, § 12, Ungeschriebenes Verfassungsrecht). 107  Alle Zitate: Depenheuer  / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 501 f. (Gerd Roellecke, § 14, Institutionelle Gewähr der Verfassung). 108  Depenheuer  /  Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 506 (Christian Hillgruber, § 15, Verfassungsinterpretation). 109  Ebenda, S. 533.

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sätzliche Legitimation und Integrationskraft zu gewinnen und am überrecht­ lichen Nimbus der Verfassungsidee zu partizipieren“110. Ob es angesichts dieser Sachlage tatsächlich Aufgabe jeder Verfassungsordnung sein muss, „die ausgewogene Balance zwischen selbstbewusster Autonomie und elasti­ scher Offenheit für internationale Standards“111 zu halten, wird daher wohl von Fall zu Fall im jeweiligen Problemzusammenhang zu entscheiden sein; im Zweifelsfall sollte das bewährte Eigene dem unausgegorenen Neuen vorgezogen werden. Politischen Universalismen aller Art, gar der von eini­ gen zeitgeistbeflissenen Soziologen etablierten Chimäre einer „Weltinnenpo­ litik“, sollte in deutlichster Weise widersprochen werden. Wolfgang Graf Vitzthum hat recht, wenn er bemerkt: „Die Vereinten Nationen als Welt­ regierung, die VN-Generalversammlung als Weltgesetzgeber, der VN-Si­ cherheitsrat gar als Gewaltmonopol-Monopolist …, das wären bis auf wei­ teres Schreckbilder“112. Schwerer zu handhaben sind im Vergleich hierzu die verfassungsrechtli­ chen Probleme der europäischen Integration, und hier vor allem das interne Konkurrenzverhältnis zwischen dem Recht der Union und demjenigen der einzelnen Mitgliedsstaaten – ein Verhältnis, das sich, je nach Perspektive, in einem eigentümlichen Schwebezustand zu befinden scheint113. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009 die souveräne Staatlichkeit Deutschlands als unantastbar bezeichnet und jeder Form von Eingliederung des Landes in einen europäischen Bun­ desstaat bis auf Weiteres eine klare Absage erteilt114. Ohne oder gar gegen den unmittelbar erklärten Willen des deutschen Volkes kann nach dem ge­ nannten BVG-Urteil eine solche Aufgabe der eigenen Souveränität nicht rechtmäßig stattfinden, und auch sonst bleibt offen, ob mit dieser unmittel­ 110  Depenheuer  /  Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 263 f. (Josef Isensee, § 6, Die Staatlichkeit der Verfassung). 111  So Depenheuer  / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 286 (Matthias Herdegen, § 7, Internationalisierung der Verfassungsordnung). 112  Wolfgang Graf Vitzthum, Der Staat der Staatengemeinschaft (Schönburger Gespräche zu Recht und Staat, 6), Paderborn / München / Wien / Zürich 2006, S. 94. 113  Vgl. Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 416 (Christoph Grabenwarter, § 11, Die Verfassung in der Hierarchie der Rechtsord­ nung): „Aus Sicht der ‚autonomen‘ Rechtsordnung der Union lässt sich das Ver­ hältnis [zwischen nationalem Recht und Unionsrecht; H.-C.K.] auch dergestalt de­ finieren, dass das mitgliedstaatliche Recht sich vom Unionsrecht ableitet – rechtli­ che Bedingung wird auf diese Weise maßgeblich vom Standort – unionsrechtlich oder nationalstaatlich – bestimmt, von dem man für die theoretische Betrachtung ausgeht. Der eine Ansatz ist dem anderen in theoretischer Hinsicht nicht über­ legen“. 114  Hierzu siehe auch Depenheuer  /  Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 369 f. (Matthias Herdegen, § 9 Grenzen der Verfassungsgebung).



Neue deutsche Verfassungstheorie51

baren Willenserklärung „die intra-konstitutionelle Verfassungsablösung nach Art. 146 GG oder ein revolutionärer Akt gemeint ist“115. Im Grunde wäre, so neuerdings Dietrich Murswiek, eine Umwandlung der Verfassung Deutschlands „in eine Gliedstaatsverfassung … nicht eine bloße Verfas­ sungsänderung, sondern ein verfassungsgebender Akt. Dazu ist nicht der verfassungsändernde Gesetzgeber, sondern nur der pouvoir constituant be­ fugt“, weil die demokratische Legitimation des verfassungsändernden Ge­ setzgebers nun einmal nur für das Handeln im Rahmen der Verfassung ausreicht, nicht aber „für die Verfügung über die Verfassung als solche“116. Hierüber noch hinaus geht die vom gleichen Verfasser entwickelte These eines Grundrechts „auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns“117, der durch die unkontrollierte Weiterentwicklung des – immer noch von deutlichen Partizipationsdefiziten gekennzeichneten – europäischen Eini­ gungsprozesses118 gefährdet werden könnte. Das nicht zuletzt auch hiermit im Zusammenhang stehende Problem einer angemessenen Verfassungsvergleichung unter entsprechender Berücksichti­ gung der historischen Perspektive stellt sich heute ebenfalls. Hier gibt es noch Handlungsbedarf; so sollten etwa, Christian Waldhoff weist zu recht darauf hin, in der vergleichenden Verfassungsgeschichte in stärkerem Maße als bisher geschehen „Untersuchungen zu Rezeptionsvorgängen in Bezug auf Verfassungen erfolgen“119. Ob die Verfassungstheorie, wie Depenheuer und Grabenwarter meinen, tatsächlich als „Basis für die Bildung von Kate­ gorien und Institutionen jenseits einer konkreten Rechtsordnung“ dienen kann, indem sie auf ihre Weise „Maßstäbe für konkretes Vergleichen“120 schafft, steht noch dahin; wünschenswert wäre es indessen allemal. Freilich muss man im Rahmen solcher Bemühungen darauf achten – Sebastian Müller-Franken weist darauf hin –, dass die bei solchen Vergleichen imma­ 115  Ebenda,

S. 370. Zitate: Dietrich Murswiek, Der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit als unabänderliches Verfassungsprinzip, in: Souveränitätsprobleme der Neuzeit. – Freun­ desgabe für Helmut Quaritsch anlässlich seines 80. Geburtstages, hrsg. v. HansChristof Kraus / Heinrich Amadeus Wolff (Wissenschaftliche Abhandlungen und Re­ den zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, 58), Berlin 2010, S. 95–147, hier S. 108. 117  Dietrich Murswiek, Das Grundrecht auf Achtung des unabänderlichen Verfas­ sungskerns, in: Michaela Wittinger / Rudolf Wendt / Georg Ress (Hrsg.): Verfassung – Völkerrecht – Kulturschutz (Anm. 49), S. 251–278. 118  Vgl. dazu auch die Bemerkungen in: Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Ver­ fassungstheorie (Anm. 1), S. 774 f. (Hans-Detlef Horn, § 22 Demokratie). 119  Depenheuer  /  Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 146 (Christian Waldhoff, § 4, Verfassungsgeschichte und Theorie der Verfassung). 120  Depenheuer  / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. VI (Vor­ wort). 116  Die

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nent vorhandenen Wertsetzungen und Wertungen stets mitreflektiert werden müssen, auch wenn „der Bezugspunkt, auf den hin der Vergleich vorgenom­ men wird“, etwas so Allgemeines wie „das verfassungspolitische Ordnungs­ bedürfnis [darstellt], das den Verfassungen zur Lösung aufgegeben ist“. Denn auch hier gilt: „Die Frage nach der Bewährung einer Regelung und ihrer Bewertung ist abhängig von sozialen, historischen und politischen Prägungen der jeweiligen Staaten, so dass hier in der Regel nur relative Aussagen getroffen werden können“121. Eine wichtige, im Detail nicht leicht zu beantwortende Frage der allermo­ dernsten Verfassungstheorie bezieht sich auf grundlegende, in ihren Wirkun­ gen weitreichende technische Veränderungen innerhalb der Lebenswelt; bereits 1994 hat Georg-Christoph von Unruh auf die Bedeutung elektroni­ scher Neuerungen in den Bereichen von Verfassung und Verwaltung in historischer und gegenwartsbezogener Perspektive hingewiesen122. Neues­ tens wiederum wird – mit Blick auf die Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen durch das Internet – der Staat einer „postmodernen Gesellschaft der Netzwerke“123 zum Thema der Verfassungstheorie. „Während die ‚Ge­ sellschaft der Individuen‘ “, meint beispielsweise Karl-Heinz Ladeur, „rela­ tiv dauerhafte Formen der Individualität hervorgebracht“ habe und „die Gesellschaft der Organisationen von standardisierten massenhaften Gruppe­ nidentitäten geprägt“ worden sei, müsse „das Individuum der ‚Gesellschaft der Netzwerke‘ [als] ein volatiles, von schnell wechselnden Konstellationen bestimmtes ‚hybrides Projekt‘ “ angesehen und „Unbestimmtheit“ als die „nicht hintergehbare Folge der Orientierung der Gesellschaft an der Zukunft statt an der Vergangenheit“ akzeptiert werden124. Das alles bewegt sich noch im Bereich des Hochspekulativen, und es wäre vermutlich angemessener, wenn manche allzu vollmundig verkündeten Zukunftsvisionen etwas bescheidener daherkämen. Freilich entstehen im Rahmen der neuesten Möglichkeiten technischer Vernetzung Probleme, die auch eine politisch-verfassungspraktische und damit letztendlich auch ver­ fassungstheoretische Relevanz entfalten können – erinnert sei nur an das neuerdings diskutierte, mannigfache rechtliche Implikationen enthaltende 121  Die Zitate: Depenheuer  / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 927 f. (Sebastian Müller-Franken, § 26 Verfassungsvergleichung). 122  Vgl. Georg-Christoph von Unruh, Perspektiven der Verfassungs- und Verwal­ tungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, in: Helmut Neuhaus (Hrsg.), Verfassung und Verwaltung. Festschrift für Kurt G. A. Jeserich zum 90. Geburtstag, Köln / Wei­ mar / Wien 1994, S. 371–380, hier S. 375. 123  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 626 (KarlHeinz Ladeur, § 18 Staat und Gesellschaft. Von der liberalen zur postmodernen Gesellschaft). 124  Die Zitate ebenda, S. 629, 633.



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Problem der „Netzneutralität“125. Auch die manipulativen Möglichkeiten, welche die neue ‚digitale Welt‘ ihren Nutzern, Anbietern wie Konsumenten gleichermaßen, darbietet, bedürften noch genauerer Reflexion. Schon heute werden in ihrer Konsequenz außerordentliche bedenkliche Ideen einer ‚flüs­ sigen Demokratie (liquid democracy)‘ ernsthaft diskutiert, die darauf hin­ auslaufen, dass der Wähler sich interaktiv an politischen Entscheidungen beteiligen können soll: „Also leiht er in der flüssigen Demokratie mal dem einen, mal dem anderen Politiker seine Stimme, digital und je nachdem, wer ihm zusagt. Ist ein Abgeordneter nutzlos, wird ihm die Macht weggeklickt“126. Keine erfreuliche Vision – aber allein die Tatsache, dass so etwas bereits ernsthaft diskutiert wird, sollte von Verfassungstheoretikern nicht ignoriert werden. Und umgekehrt: Wer kann ausschließen, dass die hyperkomplexe, ‚unbestimmte‘, und ‚liquide‘ schöne neue Welt nicht einmal die Sehnsucht nach dem großen Umschlag ins (vermeintlich) Einfache und Übersichtliche, ins ‚Bestimmte‘ und ‚Feste‘ hervorrufen mag? Undenkbar ist dies beileibe nicht – historia docet. Die neue deutsche Verfassungstheorie zeigt insgesamt ein sehr vielfältiges Erscheinungsbild. Immerhin kann man bei einer Reihe von Autoren – kei­ neswegs bei allen – ein wenigstens unterschwellig vorhandenes Unbehagen an der Hyperkomplexität einer selbstverliebten, teilweise selbstreferentiellen Theoriebildung feststellen, der die Sache, um die es eigentlich gehen soll, nämlich die ‚Verfassung‘ als konkrete politische Ordnung, zunehmend ab­ handenkommt. Ein weiterer gegenwartspolitischer Aspekt betrifft das Bun­ desverfassungsgericht, dessen zuweilen allzu unbekümmerte Weiterentwick­ lung des Verfassungsrechts von nicht wenigen Juristen als bedenklich, weil vom Souverän nicht legitimiert, eingestuft wird. Gerade hier, in Bezug auf das Verhältnis von Verfassungsrichterrecht und Verfassungsrecht, bedarf es weitergehender theoretischer Reflexion. Das Gleiche gilt für gegenwärtig neu auftauchende Fragen nach der Veränderung der politischen Ordnungen durch Internet und elektronische Vernetzungsphänomene: Lässt man sich durch neue technische Möglichkeiten blenden, schätzt man sie dementspre­ chend zu hoch ein – oder schafft es die Wissenschaft, manchen heute viel­ leicht überschätzten technischen Wandel auf sein normales Maß zurückzu­ führen? Wichtig bleibt eine weitere Feststellung: Die „1945-er“ Perspektive, also das politische und verfassungsrechtliche Denken vor dem Erfahrungshori­ zont der deutschen Katastrophe des 20. Jahrhunderts, macht gegenwärtig langsam neuen Erfahrungen und Problemlagen Platz, die beispielsweise 125  Vgl. Michael Kloepfer (Hrsg.), Netzneutralität in der Informationsgesellschaft (Beiträge zum Informationsrecht, 27), Berlin 2011. 126  Constanze von Bullion, Alles fließt, in: Süddeutsche Zeitung, 1.9.2011, S. 3.

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durch die Chiffre ‚1990‘ bezeichnet werden. Das ist vielleicht – man möch­ te es wünschen – der Abschied von einer typisch deutschen Art nationaler Selbstbespiegelung, damit aber auch der Schritt hin zu einem neuen Realis­ mus, der die politischen und zugleich die vorpolitischen Voraussetzungen jeder Verfassungsordnung immer aufs Neue mit in den Blick nehmen muss, ohne jedoch fundamentale historische Erfahrungen zu ignorieren. Das bleibt eine beständige, durch nichts zu ersetzende Aufgabe. Schließlich: Der ‚Staat‘ ist kein erledigtes Phänomen eines abgeschlossenen historischen Zeitabschnitts – hier hat Carl Schmitt mit seiner bekannten Diagnose aus dem Jahr 1963, die „Epoche der Staatlichkeit“ gehe zu Ende127, nicht Recht behalten –, sondern der Staat ist und bleibt immer noch konkrete Grundlage und nicht hintergehbare Voraussetzung auch jeder heutigen politischen Ord­ nung, die sich als Verfassungsstaat verstehen möchte. Der stets sich vollzie­ hende Wandel der Staatlichkeit führte und führt – bisher jedenfalls – nicht zu ihrer Auflösung. Zur sinnvollen Existenz des Menschen gehört immer noch, und dies bis auf Weiteres, die „nach Regeln ausgeübte Herrschaft auf einem geschlossenen, fest umgrenzten Gebiet“128 – also eben der Staat. Insofern wird man das Verhältnis von Staat und Verfassung auch im Blick auf die absehbare Zukunft mit einer lapidaren Formulierung von Josef Isen­ see auf den Begriff bringen können: „Die Verfassung lebt nur so lange wie der Staat, den sie verfasst“129.

127  Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963, S. 10 (Vorwort von 1963). 128  Helmut Quaritsch, Der Staat und die deutschen Revolutionen im 20. Jahrhun­ dert, in: Detlef Merten (Hrsg.), Der Staat am Ende des 20. Jahrhunderts (Speyerer Forschungsberichte, 191), Speyer 1998, S. 115–140, hier S. 115, 136. 129  Depenheuer / Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (Anm. 1), S. 269 (Josef Isensee, § 6 Die Staatlichkeit der Verfassung).

Zur Legitimität politischer Gemeinschaften im Allgemeinen und der Europäischen Union im Besonderen Von Peter Koller Vorbemerkungen Unter einer politischen Gemeinschaft verstehe ich in meinen folgenden Ausführungen einen herrschaftlich organisierten Territorialverband, der über ein hinreichendes Maß an politischer Autonomie verfügt, vermöge welcher er wichtige Belange des Lebens seiner – ihm in der Regel unfreiwillig an­ gehörenden – Mitglieder letztverbindlich zu regeln und sich nach außen hin nach eigenem Gutdünken abzuschließen vermag. Dieser Begriff ist eng genug, um freiwillige politische Interessenvereinigungen, die hier nicht von Interesse sind, auszuschließen, zugleich aber weit genug, um eine Vielfalt verschiedener politischer Gemeinwesen abzudecken, wie z. B. Fürstentümer, Staaten, Imperien und Staatenverbände verschiedener Art, einschließlich der Europäischen Union. Politische Gemeinschaften sind sowohl reale Phänomene der sozialen Welt, die als empirische Tatsachen beschrieben werden können, als auch Ergebnisse sozialen Handelns, die normativer Bewertung unterliegen. Demgemäß gilt es zwischen ihrer Genese einerseits und ihrer Legitimität andererseits zu unter­ scheiden. Die Genese politischer Gemeinschaften ist gewöhnlich ein komple­ xer sozialer Prozess, der von vielfältigen Kräften vorangetrieben wird, so vor allem von sozialen Machtkämpfen, die sich eher um handfeste Interessen als um vernünftige Argumente drehen. Doch wie politische Gemeinschaften auch immer zustande kommen mögen, sie brauchen, um ihren längerfristigen Be­ stand zu sichern, ein hinreichendes Maß an Legitimität. Der Legitimitätsbe­ darf politischer Gemeinschaften findet deutlichen Niederschlag in den normativen Ansprüchen, die ihnen gegenüber von verschiedenen Seiten erhoben werden: im Anspruch ihrer Repräsentanten auf die Verbindlichkeit der von ihnen getroffenen Entscheidungen, im Anspruch ihrer Angehörigen auf die Richtigkeit der Regelungen und Verhältnisse des Gemeinschaftslebens sowie im Anspruch ihrer sozialen Umwelt auf die Zumutbarkeit der sie tangierenden externen Auswirkungen der Gemeinschaftspraktiken. Der Begriff der Legitimität weist jedoch eine notorische Mehrdeutigkeit auf, infolge der er sowohl in empirischer als auch in normativer Bedeutung

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verwendet werden kann. So kann auch die Frage nach der Legitimität poli­ tischer Gemeinschaften zweierlei bedeuten: einmal die empirische Frage, ob eine bestimmte politische Gemeinschaft tatsächlich als legitim anerkannt wird, d. h. die für ihre Funktionsfähigkeit notwendige Akzeptanz der betei­ ligten Gruppen findet, und zum anderen die normative Frage, unter welchen Bedingungen eine solche Gemeinschaft, wenn überhaupt, bei rechter Erwä­ gung als legitim akzeptiert werden sollte. Ich werde mich im Folgenden vor allem mit der zweiten, normativen Fragestellung in zwei Perspektiven be­ fassen. Ich werde zuerst zu klären versuchen, welchen normativen Anforde­ rungen eine politische Gemeinschaft denn überhaupt genügen muss, um als legitim gelten zu können, und davon ausgehend prüfen, wie es mit der Legitimität der Europäischen Union bestellt ist. Dementsprechend gliedern sich meine Ausführungen in zwei Teile: einen allgemein-philosophischen Teil, der die Legitimität politischer Gemeinschaften im Allgemeinen zum Gegenstand hat, und einen speziell-politischen Teil, der die aktuellen Legi­ timitätsprobleme der EU im Besonderen beleuchten soll. I. Die Legitimität politischer Gemeinschaften 1. Grundlagen der Legitimität politischer Gemeinschaften Um den Fokus meiner folgenden Ausführungen zu präzisieren, möchte ich noch einmal an den Unterschied zwischen faktischer und normativer Legitimität erinnern, aber auch ihren Zusammenhang betonen. Eine politi­ sche Gemeinschaft hat faktische Legitimität, wenn sie tatsächlich in einem für ihren längerfristigen Bestand hinreichenden Maße die Anerkennung ihrer Mitglieder und ihrer sozialen Umwelt genießt oder, um mit Max Weber1 zu sprechen, „Legitimitätsglauben“ findet. Worauf es dabei ankommt, sind nicht irgendwelche für richtig gehaltene normative Standards, sondern die faktischen Einstellungen der Amtsträger und Mitglieder einer solchen Ge­ meinschaft wie auch ihrer sozialen Umwelt, gleichgültig, ob diese Einstel­ lungen aus kritisch-rationaler Sicht als rational, arational oder sogar als ir­ rational erscheinen. Eine freie und halbwegs aufgeklärte Öffentlichkeit wird sich damit aber nicht zufrieden geben und auch darüber diskutieren, ob für oder gegen jene Einstellungen gute Gründe sprechen, Gründe nämlich, die allgemein akzeptabel oder vertretbar sind. Damit steht die Frage zur Debat­ te, welche normativen Ansprüche eine politische Gemeinschaft erfüllen muss, um für ihre Mitglieder und ihre soziale Umwelt akzeptabel zu sein und insgesamt als legitim gelten zu können, die Frage ihrer normativen Legitimität. Worum es nun geht, das ist nicht die tatsächliche Akzeptanz 1  Weber

1972, S. 122 ff.



Zur Legitimität politischer Gemeinschaften57

einer politischen Gemeinschaft, sondern deren Akzeptabilität, Zustimmungs­ fähigkeit oder Vertretbarkeit im Lichte allgemein zustimmungsfähiger nor­ mativer Richtlinien. Welche Richtlinien kommen dafür in Betracht? Die normativen Richtlinien für die Bewertung sozialer Verhältnisse und Ordnungen im Allgemeinen und politischer Gemeinschaften im Besonderen können – analog zu Kants Unterscheidung von technischen, pragmatischen und moralischen Richtlinien des individuellen Handelns – grundsätzlich in drei Sorten eingeteilt werden: solche der Effizienz, des Gemeinwohls sowie der Moral bzw. Gerechtigkeit.2 Ich will mein Verständnis dieser Konzepte kurz erläutern. Vom Standpunkt der Effizienz werden soziale Zustände oder Praktiken in Hinsicht auf ihre Zweckmäßigkeit im Lichte der faktischen Präferenzen der Beteiligten bewertet, wobei als Referenzzustand der Bewertung der jeweilige Status quo dient. Auch wenn darüber, wie die individuellen Präferenzen zu einer kollektiven, für alle Beteiligten akzeptablen Präferenzfunktion zusam­ mengefasst werden sollen, nach wie vor Meinungsdifferenzen bestehen, scheinen doch zwei Kriterien einigermaßen plausibel: zum einen das ParetoKriterium, nach dem ein Zustand als effizient gilt, wenn von ihm aus keine Veränderung möglich ist, von der wenigstens eine Person profitiert, ohne dass Andere verlieren; und zum anderen das Kaldor-Hicks-Kriterium, das von mehreren möglichen Zuständen denjenigen als effizient auszeichnet, der, ver­ glichen mit den anderen, zumindest einigen Beteiligten so großen Nutzen bringt, dass sie jene, die in ihm schlechter fahren, entschädigen könnten.3 Beim Gemeinwohl geht es um das allgemeine Interesse oder allgemeine Beste der in Betracht stehenden Gemeinschaft, worunter jedoch nicht ein­ fach ein Aggregat der Vorteile der beteiligten Individuen, sondern ein kol­ lektives Interesse der ganzen Gemeinschaft zu verstehen ist. Erwägungen des Gemeinwohls erfordern daher eine unpersönliche Betrachtung, die von den faktischen Präferenzen der Individuen abstrahiert und stattdessen auf den Wert gemeinschaftlicher Projekte im Lichte der verallgemeinerungsfähigen Interessen aller Mitglieder, einschließlich der künftigen, abstellt. Die Kriterien, nach denen das geschehen soll, sind seit je kontrovers und schwer zu fassen.4 Aber vielleicht können folgende Gesichtspunkte als Indikatoren für das Gemeinwohl dienen: die Selbstbehauptungsfähigkeit der Gemeinschaft im zwischengesellschaftlichen Wettbewerb, ihre soziale Kohäsion und die Achtung kollektiv geteilter Werte. Diese Gesichtspunkte sind natür­ lich offen für vielfältige Interpretationen. 2  Vgl.

Koller 2002, S. 44 ff. Buchanan 1985, S. 4 ff.; Coleman 1988, S. 67 ff. 4  Koller 2002. 3  Vgl.

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Erwägungen von Moral und Gerechtigkeit zielen darauf ab, soziale Ver­ hältnisse, Praktiken und Ordnungen im Hinblick auf ihre allgemeine Zustimmungsfähigkeit für alle betroffenen Personen aus unparteiischer Sicht zu bewerten und entsprechende Richtlinien für ihre Gestaltung zu postulieren. Der Referenzzustand, mit Bezug auf den die möglichen Alternativen bewer­ tet werden, ist demnach eine hypothetisch angenommene Situation gleicher Wahlfreiheit (nicht der Status quo), und als Maß der Bewertung fungieren die wesentlichen, allgemein geteilten Interessen der betroffenen Individuen, wie etwa ihre Grundbedürfnisse (nicht ihre faktischen Präferenzen). Die sich daraus ergebenden Richtlinien lassen sich grob in zwei Gruppen eintei­ len: die Gebote der allgemeinen Pflichtmoral, die ganz universell für jede Person gegenüber anderen Menschen gelten, und die Erfordernisse der Gerechtigkeit, die nicht schlechthin jede Person gegenüber jeder anderen bin­ den, sondern sich jeweils auf bestimmte Konstellationen sozialen Handelns beziehen und nur die daran beteiligten Akteure berechtigen bzw. verpflich­ ten. Um die Vielfalt solcher Konstellationen im Hinblick auf die für sie relevanten Gerechtigkeitsstandards sinnvoll zu ordnen, ist es erforderlich, verschiedene Arten der Gerechtigkeit zu unterscheiden, die auf unterschied­ liche Formen des sozialen Handelns Bezug nehmen. Meines Erachtens sprechen gute Gründe dafür, vier Arten ins Auge zu fassen, nämlich distri­ butive Gerechtigkeit, Tauschgerechtigkeit, politische und korrektive Gerech­ tigkeit.5 Die distributive oder Verteilungsgerechtigkeit findet auf Verhältnisse An­ wendung, bei denen eine Mehrzahl von Personen einen gemeinsamen An­ spruch auf bestimmte Güter oder eine gemeinsame Obliegenheit zur Bewäl­ tigung gewisser Lasten hat. Solche Verhältnisse – ich nenne sie Gemeinschaftsverhältnisse – erfordern eine gerechte, für alle Beteiligten akzeptable Verteilung der in Betracht stehenden Güter und Lasten. Die Grundforderung distributiver Gerechtigkeit ist, dass alle Mitglieder einer Gemeinschaft gleich zu behandeln sind, also gleichen Anteil an den gemeinschaftlichen Gütern und Lasten haben sollen, sofern es nicht allgemein vertretbare Grün­ de für deren Ungleichverteilung gibt. – Die Tauschgerechtigkeit stellt auf Tauschverhältnisse ab, auf vertragliche Übereinkünfte einzelner Personen über den wechselseitigen Transfer von privaten Gütern und Leistungen. Sie fordert, dass solche Übereinkünfte dem allseitigen Vorteil der Beteiligten dienen. Das verlangt faire Tauschbedingungen, wozu vor allem die folgen­ den gehören: dass alle Tauschparteien über eine hinreichende Kenntnis der relevanten Tatsachen und über ein ausreichendes Maß an Entscheidungsfä­ higkeit verfügen, dass Irreführung und Betrug ausgeschlossen sind und dass keine Partei die Macht besitzt, die Tauschbedingungen zu diktieren. – Die 5  Koller

2003, S. 238 f.



Zur Legitimität politischer Gemeinschaften59

politische Gerechtigkeit hat Herrschaftsverhältnisse zum Gegenstand, d. h. Formen autoritativer Machtausübung mittels zwangsbewehrter Normen. Solche Verhältnisse können nur dann als gerecht gelten, wenn sie im wohlverstandenen Interesse aller Beteiligten (einschließlich der Beherrschten) liegen, woraus folgt, dass Herrschaft der Realisierung legitimer Zwecke dienen und nach allgemeinen Regeln auf unparteiische Weise ausgeübt wer­ den muss. – Die korrektive Gerechtigkeit nimmt auf Unrechtsverhältnisse Bezug und verlangt, begangenes Unrecht – sei es eine Verletzung individu­ eller Rechte oder ein Verstoß gegen die soziale Ordnung – auf angemessene Weise zu berichtigen. Dazu gibt es im Wesentlichen zwei Mittel, nämlich Wiedergutmachung und Strafe, die sowohl in ihrer Art als auch in ihrem Umfang bestimmten Anforderungen der Verhältnismäßigkeit unterliegen. Da die Gesichtspunkte der Effizienz, des Gemeinwohls und der Moral nur zusammen eine Gesamtbewertung sozialer Zustände ergeben, erhebt sich die Frage, wie sie sich zueinander verhalten und zusammengeführt werden sollen. Diese Frage wird vor allem aktuell, wenn die einzelnen Gesichtspunkte nicht zu übereinstimmenden Ergebnissen führen, sondern in Konflikt geraten. Für solche Fälle gibt es eine einfache Regel, nach der die Erfordernisse von Moral und Gerechtigkeit Vorrang vor Gemeinwohlinter­ essen und diese wiederum Priorität vor Effizienzerwägungen haben. Für diese Rangordnung spricht der Umstand, dass Effizienzerwägungen in der Regel stärker motivieren als die Erfordernisse des Gemeinwohls und diese wiederum stärker als die Gebote der Moral. Infolgedessen müssen Effizienz, Gemeinwohl und Moral hinsichtlich ihrer normativen Kraft in eine Rang­ ordnung gebracht werden, die im umgekehrten Verhältnis zu ihrer motiva­ torischen Stärke steht, da sonst die Moral wohl überhaupt gänzlich wir­ kungslos bliebe und auch das Gemeinwohl wenig Berücksichtigung fände. Der Vorrang der Moral vor Gemeinwohl und Effizienz macht es möglich, im Folgenden die Maßstäbe der Effizienz und des Gemeinwohls weitgehend auszuklammern und hauptsächlich auf die Erfordernisse von Moral und Gerechtigkeit abzustellen. Damit komme ich zur Frage, unter welchen Be­ dingungen politische Gemeinschaften Legitimität beanspruchen können. 2. Anforderungen der Legitimität politischer Gemeinschaften Die Fragestellung, unter welchen Bedingungen politische Gemeinschaften – genauer: deren Ordnungen und Praktiken – als legitim gelten können, macht offenbar nur dann Sinn, wenn angenommen wird, dass die Existenz solcher Gemeinschaften nicht nur eine Tatsache, sondern auch normativ akzeptabel ist. Das wirft die grundsätzliche Frage auf, welche Gründe die Bildung relativ selbständiger und separierter gesellschaftlicher Gemein­ schaften und die daraus resultierende Teilung der sozialen Welt rechtfertigen

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mögen. Da hier nicht der Platz ist, diese Frage eingehend zu erörtern, deu­ te ich meine Auffassung nur in aller Kürze an. Ich schlage vor, politische Vergemeinschaftung als eine Form der ‚moralischen Arbeitsteilung’ zu verstehen, von der Menschen Gebrauch machen, um ihre Daseinsprobleme zu meistern, weil personell oder regional begrenzte Gemeinwesen eher als offene und unbegrenzte soziale Beziehungen die Schaffung sozialer Ord­ nungen ermöglichen, die den Rechten und Pflichten ihrer Mitglieder Gel­ tung verschaffen und deren allgemein vorteilhafte Kooperation begünstigen.6 Moralische Arbeitsteilung bedeutet, dass Menschen bestimmte soziale Beziehungen eingehen, aufgrund welcher den Beteiligten gegeneinander spezielle moralische Rechte und Pflichten zukommen, die über die ganz allgemeinen, für und gegenüber jedermann geltenden Pflichten der Moral hinausgehen. Der Musterfall einer solchen Beziehung ist die Familie, deren Mitglieder einander ein weitaus größeres Maß an Unterstützung und Fürsor­ ge schulden als Fremde. Der Sinn moralischer Arbeitsteilung besteht darin, die Gebote der allgemeinen Pflichtmoral, die wegen ihrer uneingeschränkten Allgemeinheit nicht viel verlangen können, durch weitere, anspruchsvollere, aber eben nur zwischen bestimmten Personen bestehende Pflichten zu er­ gänzen, die es den jeweils Beteiligten erleichtern, ihre Existenzprobleme durch eine zweckmäßige Kooperation zu bewältigen. Eine ebenso verbrei­ tete wie geeignete Praxis einer solchen Arbeitsteilung ist die Bildung von Gemeinschaften, die ihre Mitglieder zu wechselseitiger Solidarität verpflich­ ten und sich damit zugleich von ihrer Umwelt abgrenzen. Dazu gehören auch politische Gemeinschaften, die sich von anderen Gemeinschaften aller­ dings dadurch abheben, dass sie aufgrund ihrer weitreichenden Befugnisse zur letztverbindlichen Regelung öffentlicher Belange die vielen anderen Gemeinschaften dominieren, die sich in ihrem Ausdehnungsbereich befin­ den. So verstanden, scheint die Vielzahl begrenzter politischer Gemein­ schaften, aus denen sich die Welt zusammensetzt, aus moralischer Sicht nicht per se illegitim, ja möglicherweise sogar erforderlich.7 Damit ist freilich noch gar nichts über die Legitimität der einzelnen Gemeinschaften gesagt. Deren normative Legitimität bemisst sich an speziellen Anforderun­ gen, denen ich mich nun zuwende. In diesem Zusammenhang sei noch einmal betont, dass die Legitimität jeder politischen Gemeinschaft zwei Seiten hat: eine Innen- und eine Au­ ßenseite. Die interne Legitimität einer politischen Gemeinschaft ist die Akzeptabilität ihrer grundlegenden Ordnung, d. h. ihrer maßgeblichen Rege­ lungen, Institutionen und Praktiken, für ihre Mitglieder. Dass ein politisches Gemeinwesen Legitimität nur dann beanspruchen kann, wenn es den Erfor­ 6  Koller 7  Koller

2007. 2001.



Zur Legitimität politischer Gemeinschaften61

dernissen von Effizienz, Gemeinwohl und Gerechtigkeit zumindest in einem gewissen Umfang entspricht, wird weithin anerkannt, auch wenn die Mei­ nungen über die Interpretation dieser Erfordernisse auseinander gehen. Die externe Legitimität einer politischen Gemeinschaft meint dagegen die Ver­ tretbarkeit ihrer Praktiken gegenüber Außenstehenden, ihrer sozialen Um­ welt. Ob politische Gemeinschaften, vor allem Staaten, einer externen Le­ gitimation bedürfen, ist allerdings eine umstrittene Frage, die zwar von den meisten Autoren positiv beantwortet, aber von manchen hartgesottenenen Vertretern eines außenpolitischen „Realismus“ nach wie vor verneint wird.8 Entgegen der Ansicht des Realismus, nach der das Verhalten von Staaten gegenüber anderen einer normativen Legitimation weder fähig noch bedürf­ tig ist, plädiere ich für einen differenzierten Moralismus, der die externe Legitimationsbedürftigkeit politischer Gemeinschaften grundsätzlich bekräf­ tigt, aber gewisse Einschränkungen zulässt.9 Für die These, dass Staaten auch in ihrem Verhalten gegenüber anderen Nationen den Erfordernissen von Moral und Gerechtigkeit unterliegen, spre­ chen unter anderem zwei Gründe. Erstens zeigt schon die reale Praxis des politischen Diskurses, dass politische Gemeinschaften sowohl von ihren Mitgliedern als auch von ihrer sozialen Umwelt nicht allein hinsichtlich ihrer inneren Verfassung, sondern ebenso auch mit Bezug auf die äußeren Auswirkungen ihrer Aktivitäten moralisch bewertet werden, auch wenn sich die Wertungen der Mitglieder und die der Außenstehenden häufig nicht decken. So pflegen die Führer von Staaten, die einen Krieg beginnen, ihr Handeln nicht nur damit zu rechtfertigen, dieser Krieg sei notwendig, um die berechtigten Interessen ihres Landes zu verteidigen, sondern stets auch damit, der gegnerische Staat bzw. dessen Regierung habe den Krieg provo­ ziert und damit zu verantworten. Umgekehrt pflegen jene, welche die Ver­ anlassung eines Kriegs durch einen Staat verurteilen, dessen Regierung nicht nur wegen der Opfer anzuklagen, die sie ihren eigenen Bürgern auf­ erlegt, sondern gerade auch deswegen, weil sie die berechtigten Interessen des angegriffenen Volkes missachtet. Zweitens dürfte sich schwer leugnen lassen, dass der Zustand dauernder Friedlosigkeit und Unsicherheit, der aus der Anarchie des Systems souveräner Staaten resultiert, ein schlimmes mo­ ralisches Übel ist, dem es nach Möglichkeit durch den Aufbau einer wirk­ samen internationalen Rechtsordnung entgegenzuwirken gilt. Auch wenn die Stimme der Moral alleine sicher viel zu schwach ist, um eine solche Ord­ nung zu schaffen, ist sie dabei doch unverzichtbar, weil sie das Ideal einer friedlichen und gerechten Welt artikuliert, das zum Aufbau einer solchen Ordnung benötigt wird. Die Moralisierung der internationalen Politik stößt 8  Vgl. 9  Vgl.

Donelly 1992. Lord 2005.

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jedoch dort an ihre Grenzen, wo die unbedingte Einhaltung moralischer Normen, die unter der idealen Bedingung allgemeiner Befolgung uneinge­ schränkte Verbindlichkeit hätten, angesichts der moralischen Unvollkom­ menheiten der realen Welt als unzumutbar erscheint, weil sie den beteiligten Staaten nur um den Preis der Aufopferung ihrer grundlegenden Interessen möglich wäre.10 Davon ausgehend schlage ich vor, die moralischen Anforderungen an die Legitimität politischer Gemeinschaften in erster Annäherung ganz allgemein wie folgt zu fassen: Eine politische Gemeinschaft ist normativ legitim, wenn und insoweit sie hinsichtlich ihrer wesentlichen Regelungen und Praktiken (a) intern zustimmungsfähig ist, also von jedem ihrer Mitglieder bei sorg­ fältiger Erwägung als verbindlich akzeptiert werden kann, und (b) extern vertretbar ist, d. h. von ihrer sozialen Umwelt nicht mit triftigen Gründen als unzulässig abgelehnt werden kann. Da diese Anforderungen von politi­ schen Gemeinschaften in verschiedenem Grade erfüllt werden können, sind sie nicht als strikte Bedingungen zu verstehen, sondern vielmehr als regulative Ideale, an denen gemessen eine politische Gemeinschaft entweder als legitim oder aber als mehr oder minder illegitim bewertet werden kann. Dabei spielt natürlich eine wesentliche Rolle, wie die genannten Anforde­ rungen, die ja bewusst sehr abstrakt gehalten sind, im Detail verstanden werden. Ich kann hier nur in aller Kürze andeuten, was sie nach meinem Dafürhalten erfordern, wobei ich jeweils zuerst das von ihnen anvisierte – sehr anspruchsvolle und faktisch kaum erreichbare – Ideal und dann die – schwächeren und eher realistischen – Minimalbedingungen einer legitimen politischen Ordnung skizzieren werde. Die interne Zustimmungsfähigkeit verlangt eine soziale Ordnung, deren Regeln und Praktiken gleichermaßen im vernünftigen Interesse aller Ge­ meinschaftsmitglieder liegen, d. h. bei informierter und unparteiischer Erwä­ gung für alle Beteiligten als besser oder zumindest nicht viel schlechter erscheinen als mögliche Alternativen. Ich nehme an, dass eine solche Ord­ nung im idealen Fall den Ansprüchen der Effizienz und des Gemeinwohls, vor allem aber den Erfordernissen der sozialen Gerechtigkeit Geltung ver­ schafft. Diese Erfordernisse inkludieren nach meinem Verständnis jedenfalls die folgenden: rechtliche Gleichheit, bürgerliche Freiheit, demokratische Teilhabe, soziale Chancengleichheit und ökonomische Ausgewogenheit.11 So wie ich diese Erfordernisse deute, werden sie von keiner mir bekannten politischen Gemeinschaft vollständig oder auch nur weitgehend erfüllt. Da es aber wenig Sinn hätte, die Latte der Legitimität so hoch zu hängen, dass sie von keiner Gemeinschaft je erreicht wird, wird man sich realistischer10  Siehe 11  Koller

dazu Buchanan 2004. 2003.



Zur Legitimität politischer Gemeinschaften63

weise mit bescheideneren Forderungen begnügen müssen. Eine plausible Minimalforderung, die eine politische Gemeinschaft jedenfalls erfüllen sollte, um als legitim gelten zu können, ist wohl die, dass sie die grundle­ gensten Menschenrechte, und zwar nicht nur die liberalen, sondern auch die sozialen und ökonomischen Rechte ihrer Mitglieder wirksam gewährleistet. Die externe Vertretbarkeit einer politischen Gemeinschaft setzt voraus, dass deren Lebenspraktiken und Aktivitäten nicht negative Auswirkungen auf ihre soziale Umwelt zur Folge haben, die bei unparteiischer Berück­ sichtigung aller Interessen als unzulässig erscheinen und daher von den Betroffenen zu Recht abgelehnt werden können. Das erfordert, dass jene Praktiken und Aktivitäten verallgemeinerungsfähig, d. h. selbst dann noch akzeptabel sind, wenn sie auch von anderen, ja allen Gemeinschaften prak­ tiziert werden. Ich nehme an, dass eine politische Gemeinschaft diese For­ derung idealerweise erfüllt, wenn ihre Praktiken und Aktivitäten im Ein­ klang mit den Grunderfordernissen einer friedlichen Koexistenz und gerechten Kooperation der Völker stehen, wozu meines Erachtens vor allem folgende gehören: Respektierung der gleichen politischen Autonomie ande­ rer Völker in dem Umfang, in dem sie allen zukommen kann; Teilnahme an unparteiischen internationalen Institutionen, die so gut wie möglich für eine friedliche Regelung internationaler Konflikte und für die weltweite Achtung der Menschenrechte Sorge tragen; Einhaltung der Bedingungen eines fairen Wirtschaftsverkehrs, damit alle beteiligten Völker daraus Vor­ teil ziehen können; und Beschränkung der Nutzung von natürlichen Um­ weltressourcen auf ein Maß, das deren gleichberechtigte Nutzung durch alle Menschen auf Dauer ermöglicht. Dass diese Erfordernisse von jenen Ländern, die mächtig genug sind, sich darüber hinwegzusetzen, tatsächlich nicht erfüllt werden, ist offensichtlich. Dennoch wird man auch von diesen Ländern erwarten können, dass sie wenigstens den folgenden Minimalbedingungen entsprechen, damit sie von anderen Völkern als legitim aner­ kannt werden können: dass sie in ihrer Außenpolitik nicht von Praktiken Gebrauch machen, die als kolonialistisch oder imperialistisch zu qualifizie­ ren sind; dass sie keine fremden Regierungen unterstützen oder begünsti­ gen, welche die Menschenrechte ständig mit Füßen treten; dass sie sich gegenüber anderen Ländern keiner krass unfairen Handelspraktiken bedie­ nen, durch die sie sich auf Kosten der anderen bereichern; und dass sie zumindest gewisse Anstrengungen unternehmen, einen unvertretbar hohen Verbrauch natürlicher Umweltressourcen im Interesse der benachteiligten Länder zu reduzieren. So viel zu den Anforderungen an die Legitimität politischer Gemeinschaf­ ten. Auch wenn meine knappen Anmerkungen mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet haben mögen, sollten sie zumindest ungefähr deutlich gemacht haben, wie ich mir eine Konzeption der politischen Legitimität vorstelle.

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Und sie sollten auch eine ausreichende Grundlage für den folgenden Ver­ such bieten, die Legitimität der Europäischen Union einer kritischen Prü­ fung zu unterziehen. II. Legitimitätsprobleme der Europäischen Union 1. Zur internen Legitimität der Europäischen Union Es ist im vorliegenden Zusammenhang weder möglich noch nötig, die Ent­ wicklung der Europäischen Union (im Folgenden: EU) zu rekapitulieren.12 Zur Vermeidung eventueller Missverständnisse sei gesagt, dass ich diesen Be­ griff hier nicht im streng juristischen Sinne verwende, sondern darunter – wie im allgemeinen Sprachgebrauch heute weithin üblich – das ganze System der seit dem Pariser Vertrag über die Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1951 in Entwicklung begriffenen Staatenkooperati­ on samt den jeweiligen Institutionen und Organen verstehe.13 Das Projekt der europäischen Integration schöpft seine andauernde Anzie­ hungskraft vor allem aus zwei Antrieben, die weitgehend in Gleichklang miteinander stehen: einerseits dem handfesten, aber berechtigten Interesse der beteiligten Länder, aus ihrem Zusammenschluss zu einem gemeinsamen Markt Nutzen zu ziehen, und andererseits dem ambitionierten Vorhaben, die bis ins 20. Jahrhundert dauernde Rivalität der Völker Europas, die immer wieder in verheerende Kriege mündete, zu überwinden und eine stabile Friedensordnung zu errichten, die dem Weltfrieden dient. Das Zusammen­ spiel dieser Motive findet schon im Pariser Vertrag Ausdruck, in dessen Präambel es unter anderem heißt, die Vertragsparteien seien bestrebt, „durch die Ausweitung ihrer Grundproduktionen zur Hebung des Lebensstandards und zum Fortschritt der Werke des Friedens beizutragen“, aber auch ent­ schlossen, „durch die Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft unter Völkern zu legen, die lange Zeit durch blutige Auseinandersetzungen entzweit wa­ ren, und die institutionellen Grundlagen zu schaffen, die einem nunmehr allen gemeinsamen Schicksal die Richtung weisen können“. Diese Erklä­ rung verkörpert in ihrer Form geradezu das Musterbeispiel der Rechtferti­ gung einer politischen Gemeinschaft, die den Anforderungen sowohl der internen als auch der externen Legitimität Rechnung trägt. Davon ausgehend hat sich die EU im Zuge ihrer fortschreitenden Erwei­ terung und Vertiefung immer weiter reichende und anspruchsvollere Ziele 12  Siehe 13  Siehe

dazu Ziegerhofer et al. 1999; Arndt 2006, S. 9 ff.; Cini 2007, S. 13 ff. Arndt 2006, S. 2.



Zur Legitimität politischer Gemeinschaften65

gesteckt, die, obwohl sie eine Einheit bilden, grob in politische und wirt­ schaftliche eingeteilt werden können. Zu den politischen Zielen gehören vor allem die Sicherung des Friedens, die Bewahrung von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, der Schutz der Menschenrechte, Kooperation im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung, Bemühungen um eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Aus der im Lauf der Zeit ständig erweiterten Liste der wirtschaftlichen Ziele seien ohne Rücksicht auf ihre Chronologie und Systematik die folgenden herausgegriffen: Ermöglichung eines freien Wirtschaftsverkehrs, Erhaltung ländlicher Regionen, Schaffung eines ein­ heitlichen Binnenmarktes, Sicherung einer harmonischen und nachhaltigen Entwicklung aller Mitgliedsländer, Förderung der Beschäftigung, Gewähr­ leistung eines hinreichenden sozialen Schutzes, Gleichbehandlung der Ge­ schlechter, beständiges Wachstum, Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit Eu­ ropas gegenüber anderen Regionen, Schutz der Umwelt, Sicherung der Lebensqualität und des sozialen Zusammenhalts, Solidarität der Mitglied­ staaten, Förderung von Wissenschaft und Forschung.14 Von den bisher bekannten Erscheinungsformen großer politischer Ge­ meinschaften, bei deren Entstehung fast immer in irgendeiner Weise Gewalt im Spiele war, hebt sich die europäische Staatengemeinschaft insbesondere auch dadurch ab, dass sie ausnahmslos im Wege freier vertraglicher Übereinkünfte zustande kam, denen alle beteiligten Länder in ihrem wohlüber­ legten Interesse zustimmen konnten. Ein Novum ist auch die weitgehende Offenheit der EU für alle Länder Europas, welche die wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Erfordernisse der Mitgliedschaft erfüllen. Darü­ ber hinaus hat die EU bisher eine erstaunliche Fähigkeit bewiesen, ihr Ins­ titutionensystem zu erneuern, um den mit ihrer Entwicklung wachsenden Leistungsanforderungen an dieses System zu entsprechen. Durch die Reihe ihrer großen Verträge – die Verträge von Rom (1957), den Vertrag von Brüssel (1965), die Einheitlichen Europäischen Akte (1986) sowie die Ver­ träge von Maastricht (1992), Amsterdam (1997) und Nizza (2001) – hat sie nach und nach ein komplexes, gewaltenteilig strukturiertes System von In­ stitutionen ausgebildet, das zwar sicher nicht perfekt, aber im Großen und Ganzen doch recht leistungsfähig ist. So hat sich im Rahmen dieses Systems der Europäische Gerichtshof als ein Garant der rechtsstaatlichen Kontrolle profiliert, und auch das Europäische Parlament verkörpert mittlerweile ein unverzichtbares demokratisches Gegengewicht zur Europäischen Kommis­ sion. Die Grundsätze, auf denen das ganze System beruht, scheinen – in der Theorie, wenn auch nicht immer in ihrer praktischen Umsetzung – sinnvoll, so insbesondere das Subsidiaritätsprinzip, das die Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten regelt, und der Vorrang des 14  Vgl.

Urwin 2007; Phinemore 2007.

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Gemeinschaftsrechts vor dem nationalem Recht, der die rechtliche Einheit der EU garantiert.15 Angesichts dieser Umstände muss man die EU sicher als eine gelungene Form der politischen Gemeinschaftsbildung betrachten. Aus moralisch-politi­ scher Sicht liegen ihre größten Erfolge und Errungenschaften hinsichtlich ih­ rer internen Legitimität wohl in der Friedenssicherung und dem Menschen­ rechtsschutz, in der wirtschaftlichen Integration und dem einheitlichen Markt sowie in der Förderung der Kohäsion und Identität der Europäischen Völker. Der Kürze halber deute ich die meines Erachtens bedeutendsten Leistungen der EU nur mit einigen Stichworten an. – Friedenssicherung und Menschenrechtsschutz: friedliche Konfliktregelung und Kompromissbildung; Stärkung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch Verpflichtung der Mit­ gliedstaaten zu deren Einhaltung; Gewährleistung des Rechts auf freie Bewe­ gung in Europa; Verringerung ökonomischer Ungleichheiten zwischen den Mitgliedsländern; Kooperation im Bereich von Polizei und Strafverfolgung.16 – Wirtschaftliche Integration und einheitlicher Markt: Erweiterung und Ver­ tiefung des Binnenmarktes und des wirtschaftlichen Wettbewerbs schafft Effi­ zienzgewinne und Wachstumsimpulse; Grundfreiheiten: Waren, Dienstleis­ tungen, Kapital, Personen.17 – Europäische Kohäsion und Identität: moderate wirtschaftliche Umverteilung; Förderung von Austauschbeziehungen und Kontakten; Projektförderungen nach einheitlichen Leistungskriterien; Ansät­ ze einer europäischen Zivilgesellschaft.18 Diese beachtlichen Erfolge und Leistungen sollten jedoch nicht vergessen lassen, dass die EU, was ihre interne Legitimität betrifft, auch an diversen Unzulänglichkeiten und Defiziten leidet.19 Dazu gehören manche Steue­ rungsdefizite, das berühmte Demokratiedefizit und, was nach meiner An­ sicht am stärksten ins Gewicht fällt, ein gravierendes Sozialdefizit. Da diese Unzulänglichkeiten in der öffentlichen Diskussion häufig thematisiert werden, kann ich mich auf eine knappe Erläuterung beschränken. Steuerungsdefizite: Die Funktionsfähigkeit des Institutionensystems der EU wird durch deren fortschreitende Erweiterung zunehmend geschwächt, weil einige ihrer zentralen Institutionen, so vor allem der Europäische Rat und die Europäische Kommission, durch die nunmehr stark angewachsene Zahl der Mitgliedstaaten überfordert und in ihrer Handlungskapazität einge­ schränkt werden. Insofern ist die EU eigentlich schon zu groß. Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrags wurde mit dem rezenten Vertrag von 15  Holzinger

et al. 2005, S. 19 ff.; Arndt 2006, S. 41 ff.; Cini 2007, S. 137 ff. 2006, S. 141 ff.; Greer 2006, S. 47 ff. 17  Arndt 2006, S. 179 ff.; Egan 2007. 18  McLaren 2007. 19  Allgemein dazu Follesdal 2005. 16  Arndt



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Lissabon zwar ein notwendiger Schritt unternommen, diese Defizite zu be­ heben, aber ob dieser Schritt auch zum Ziel führt, bleibt abzuwarten. Ein Testfall ist die jüngst durch die Turbulenzen der globalen Finanzmärkte ausgelöste Krise der Europäischen Währungsunion, deren Bewältigung eine über das bisherige Maß weit hinausgehende Regelung der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Mitgliedsländer zu erfordern scheint. Umgekehrt erweist sich die EU aber auch wieder als zu klein, um die sie immer stärker berüh­ renden Probleme bewältigen zu können, die aus der rapide voranschreiten­ den Globalisierung resultieren, wie insbesondere die Probleme der Umwelt­ zerstörung und des Klimawandels, der globalen Migrations- und Flücht­ lingsströme sowie des Lohn- und Sozialdumping im weltwirtschaftlichen Wettbewerb. Angesichts ihrer unzureichenden Regelungskapazitäten hin­ sichtlich dieser Belange muss sich die EU intensiver am Aufbau transnati­ onaler und globaler Regelungsmechanismen beteiligen, die derzeit noch völlig unterentwickelt sind. Zu diesen ganz grundsätzlichen Beschränkungen der politischen Handlungsfähigkeit der EU kommen einige weitere Rege­ lungsdefizite, die oft kritisiert werden, nämlich ihr merklicher Hang zur Überregulierung der Waren- und Dienstleistungsmärkte, während sie die Bereiche des Arbeitslebens, des Sozialwesens und der Steuersysteme zu wenig reguliert. Ein krasses Beispiel dafür ist die in jeder Hinsicht proble­ matische, weil sowohl ökonomisch unsinnige wie auch ökologisch unver­ tretbare Agrarpolitik der EU, die aber in absehbarer Zeit wohl zu einem Ende kommen wird. Demokratiedefizit: Die Klage darüber ist so weit verbreitet, dass es genü­ gen wird, die wichtigsten Kritikpunkte in Erinnerung zu rufen. Einer davon lautet, die EU sei allzu bürgerfern, weil ihre Entscheidungsprozesse einer hinreichenden Kontrolle durch eine kritische öffentliche Diskussion entbehr­ ten und weil ihre Institutionen auch zu geringe Anstrengungen unternähmen, ihre Regelungen den Bürgern verständlich zu machen. Ein anderer, damit zusammenhängender Kritikpunkt ist, die ungleiche Stärke der Lobbys, die auf die Entscheidungsprozesse der EU hinter den Kulissen Einfluss nehmen, habe eine tendenzielle Benachteiligung der Interessen der Arbeitnehmer und Bürger gegenüber jenen der Unternehmer zur Folge. Diese und diverse andere Beobachtungen ähnlicher Art münden schließlich in die generelle Kritik, der EU fehle nach wie vor eine ausgewogene Machtverteilung zwi­ schen Kommission und Parlament zu Lasten des letzteren, was nicht nur dazu führe, dass die Arbeit des Europäischen Parlaments wenig öffentliche Beachtung finde, sondern die EU-Bürger überhaupt demotiviere, sich für die europäische Politik zu interessieren. Insoweit diese Kritikpunkte zutref­ fen, was sie bis zu einem gewissen Grade zweifellos tun, stellt sich aller­ dings die Frage, ob das Demokratiedefizit der EU überhaupt durch institu­ tionelle Reformen behoben werden kann, wenn nicht auch eine europäische

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Zivilgesellschaft wächst, die eine die europäische Integration flankierende kritische Öffentlichkeit zu formieren vermag.20 Sozialdefizit: Ein wesentliches Manko der europäischen Integration ist das deutliche Missverhältnis zwischen der weit fortgeschrittenen Entwick­ lung eines gemeinsamen Marktes und der völlig unzureichenden Kooperation in den Bereichen der Sozial-, Beschäftigungs- und Steuerpolitik. Während die europäischen Staaten stets zu einer Einigung kamen, wenn es um die nötigen Schritte zur Schaffung eines einheitlichen Marktes ging, wie die Öffnung ihrer Märkte, die Liberalisierung des Wettbewerbs, die Privatisie­ rung öffentlicher Unternehmen, die Angleichung ihrer Budgetpolitiken und die Schaffung einer gemeinsamen Währung, waren sie bisher nicht imstan­ de, sich auf allgemein verbindliche Minimalstandards des Arbeitnehmerschutzes, der sozialen Sicherung und der Besteuerung zu einigen, die von den Interessenverbänden der Arbeitnehmer eingefordert werden.21 Infolge­ dessen kommt es unter den europäischen Ländern zu einem immer schärfer werdenden Standortwettbewerb, der den großen, grenzüberschreitend ope­ rierenden Unternehmen nützt, aber nicht nur die Position der Arbeitnehmer und kleinen lokalen Formen schwächt, sondern auch die Finanzierungsbasis der staatlichen Sozialsysteme untergräbt. Die Folge davon sind enorme Gewinnzuwächse der großen Unternehmen, die sich in entsprechend hohen Einkommenssteigerungen ihrer Anteilseigner und Führungskräfte nieder­ schlagen, aber ständig sinkende Realeinkommen der Arbeitnehmer, eine fortschreitende Demontage des arbeitsrechtlichen Arbeitnehmerschutzes, die Schwächung der Gewerkschaften, prekäre Arbeitsverhältnisse, ein fort­ schreitender Abbau sozialer Transferleistungen und öffentlicher Dienste, eine wachsende soziale Ausgrenzung minderqualifizierter Menschen, die mangelnde Integration von Zuwanderern und dergleichen mehr.22 Dieser Befund liefert zwar sicher keinen hinreichenden Grund, der EU die interne Legitimität abzusprechen, aber er nötigt wohl dazu, den bisher beschrittenen Weg der europäischen Integration als eine Fehlentwicklung zu kritisieren, die es zu korrigieren gilt. 2. Zur externen Legitimität der Europäischen Union Rekapitulieren wir zuerst die erklärten Ziele der EU hinsichtlich ihres Verhältnis zur Außenwelt und ihrer Rolle auf internationaler Ebene. Dabei ist es notwendig, zwischen ihrer Außenhandelspolitik und ihrer sonstigen 20  Siehe dazu Follesdal 2006; Holzinger et al. 2005, S. 89 ff.; Eising 2007; Chryssochoou 2007. 21  Holzinger et al. 2005, S. 181 ff.; Giubbione 2006; Falkner 2007. 22  Vgl. Attac 2006.



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Außenpolitik, wozu insbesondere die Sicherheits- und Verteidigungspolitik gehören, zu differenzieren. Die EU versteht sich, was ihre Außenpolitik insgesamt betrifft, als ein expandierendes Friedensprojekt, das die Sicherheit und Stabilität Europas durch die Festigung von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gewährleisten und damit zugleich einen wesentlichen Bei­ trag zum Weltfrieden leisten soll. Darüber hinausgehende sicherheitspoliti­ sche Ziele konnte die EU bisher schon deshalb kaum verfolgen, weil ihr hierfür sowohl die Befugnisse als auch die Machtressourcen fehlen. In letzter Zeit gibt es jedoch zunehmende Bestrebungen, eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu etablieren, die vor allem folgende Ziele hat: die Wahrung der gemeinsamen Werte und Interessen der Union, die Stärkung der Sicherheit der Union wie auch der internationalen Sicherheit, die Förderung der internationalen Kooperation sowie die Stärkung der De­ mokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte.23 Demgegenüber spielt die EU im Feld der Außenhandelspolitik eine tragen­ de Rolle, da sie die Mitgliedstaaten zu einer Gemeinsamen Handelspolitik verpflichtet und sie auch in den diesbezüglichen Verhandlungen auf internati­ onaler Ebene vertritt. Die gemeinsame Handelspolitik der EU hat sich grund­ sätzlich dem Ziel verschrieben, die Liberalisierung des internationalen Han­ dels und der Weltmärkte im Wege bilateraler und multilateraler Abkommen voranzutreiben. Aus diesem Grund hat die EU in der Welthandelsorganisation (WTO), in der sie im Namen der Mitgliedstaaten die Verhandlungen über den Warenhandel (GATT), den Dienstleistungsverkehr (GATS) und den Schutz von Patentrechten (TRIPs) führt, eine besonders gewichtige Stimme.24 Ein wesentlicher Punkt des handelspolitischen Programms der EU ist die erklärte Absicht, die wirtschaftliche Entwicklung armer Länder durch deren begüns­ tigte Behandlung fördern zu wollen. Dementsprechend sieht sie eine Reihe spezieller Maßregeln für den Handel mit Entwicklungsländern vor, die sicher­ stellen sollen, dass diese Länder von der Marktöffnung besonders profitieren. Dazu gehören u. a. das so genannte Generalised System of Preferences (GSP), das den Import bestimmter Güter aus Entwicklungsländern durch nicht-rezip­ roke Zollreduktionen erleichtert; diverse Begünstigungen des Exports von Medikamenten in arme Länder, um ihnen diese zu erschwinglichen Preisen zugänglich zu machen; das Programm Everything But Arms (EBA), das den Waffenhandel mit den ärmsten Ländern beschränkt; die Beachtung der Um­ weltverträglichkeit, Nachhaltigkeit und Sozialverträglichkeit des Handels; und der Dialog mit zivilgesellschaftlichen NGOs, die im Bereich der Ent­ wicklungszusammenarbeit tätig sind.25 23  Howorth

2005; Arndt 2006, S. 309 ff.; Dover 2007. Meunier / Nicolaides 2005. 25  Edwards 2005; Smith 2007. 24  Vgl.

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An den genannten Zielen der allgemeinen Außenpolitik wie auch der Handelspolitik der EU ist gewiss nichts auszusetzen. Ja, man kann sie ge­ radezu als ein Beispiel dafür nehmen, wie die externe Legitimität großer politischer Gemeinschaften der Form nach zu fundieren wäre. Und trotz der immer wieder zu hörenden Klagen über die notorische außenpolitische Schwäche der EU ist wohl auch ihre reale Wirkung in der Welt der inter­ nationalen Beziehungen insgesamt positiv zu bewerten. Ihre größte Leistung ist, dass sie in erheblichem Maße zur Sicherung des Friedens und zum in­ ternationalen Schutz der Menschenrechte beigetragen hat und weiter bei­ trägt. So spricht einiges dafür, dass die EU während des Kalten Kriegs ein wichtiger Faktor der politischen Stabilisierung Westeuropas war, die ihrer­ seits eine Voraussetzung dafür gewesen sein dürfte, dass es nicht zu einem heißen Krieg kam. Davon abgesehen können zumindest drei Punkte für die außen- und weltpolitischen Verdienste der EU angeführt werden: erstens ihre enorme Anziehungskraft, die eine Reihe von Staaten erst dazu bewogen hat, ihre nationalen Gesellschaftsordnungen auf Demokratie und Rechts­ staatlichkeit umzustellen, um sich für den Beitritt zur EU zu qualifizieren; zweitens ihre beachtliche Vorbildwirkung als ein Erfolgsmodell der regiona­ len Staatenintegration, das auch für andere Regionen eine Perspektive bietet; und drittens ihr Beitrag zum europäischen Menschenrechtssystem, dessen Erfolg wesentlich darauf zurückzuführen ist, dass die EU ihre Mitgliedstaa­ ten zur Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention des Euro­ parats verpflichtet.26 Darüber hinaus spielt die EU im bestehenden internationalen System insge­ samt eine relativ sympathische Rolle. Als „economic giant, political dwarf and military worm“27 ist sie einerseits vor imperialistischen Ambitionen weit­ gehend gefeit, bildet andererseits aber doch ein gewisses Gegengewicht zu anderen Weltmächten, die – wie die USA – wegen ihrer militärischen Stärke zu einer eher aggressiven Verfolgung ihrer – wirklichen oder vermeintlichen – Interessen tendieren. Außerdem wird man der EU attestieren können, dass sie im Rahmen der internationalen Ordnung im Großen und Ganzen als eine kooperative und nützliche Partnerin in Erscheinung tritt, die sich durch ihre konstruktive Mitarbeit an einer Vielzahl internationaler und globaler Instituti­ onen auszeichnet und sich auch für neue Formen der transnationalen Rege­ lung drängender Probleme der Menschheit engagiert, wie etwa beim globalen Umweltschutz oder der internationalen Strafgerichtsbarkeit.28 Diesen Leistungen stehen jedoch mehrere Negativposten in der Außenbi­ lanz der EU gegenüber, die deren Anspruch auf externe Legitimität erheb­ 26  Linklater

2005; Merli 2007. 2005, S. 61. 28  Hill / Smith 2005, S. 388 ff.; Holzinger et al. 2005, S. 215 ff. 27  Edwards



Zur Legitimität politischer Gemeinschaften71

lich schmälern. Kritikbedürftig ist insbesondere ihre Außenhandelspolitik gegenüber armen Ländern, die ihrer Absichtserklärung, die wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder durch deren bevorzugte Behandlung unterstützen zu wollen, Hohn spricht. Die reale Praxis ihrer Wirtschaftsbeziehungen mit armen Ländern sieht anders aus: Hier ist die EU – wie auch die anderen mächtigen und reichen Nationen, etwa die USA und Japan – hauptsächlich auf den Vorteil ihrer eigenen Wirtschaft bedacht, ohne sich um die Interes­ sen der Entwicklungsländer zu scheren, denen die tatsächlichen Praktiken oft nicht nur keinen Nutzen bringen, sondern vielfach sogar zum Schaden gereichen. Dieser Befund ließe sich durch zahlreiche Fakten belegen, von denen ich hier nur einige wenige in exemplarischer Weise andeuten kann. Die fragwürdige Außenhandelspolitik der EU findet besonders deutlichen Ausdruck im bestehenden Welthandelssystem, das teils auf multilateralen Abkommen im Rahmen der WTO (wie GATT, GATS und TRIPs), teils auf bilateralen Verträgen zwischen den einzelnen Staaten beruht. Obwohl in der WTO jedes Mitgliedsland eine Stimme hat, leidet sie unter einem steilen Machtgefälle zwischen reichen und armen Nationen, das nicht zuletzt aus deren höchst ungleichen Mitteln für ihre Vertretungen, Experten und Lobbys resultiert. Infolge ihrer Übermacht können die reichen Wirtschaftsmächte, zu denen die EU gehört, sowohl die Regeln des Welthandels als auch die Entscheidungen der WTO in erheblichem Maße im Sinne ihrer Interessen beeinflussen. So ist es diesen Mächten immer wieder aufs Neue gelungen, die armen Länder – teils mit leeren Versprechen, teils mit der Androhung von Sanktionen und Antidumping-Klagen – zur weitgehenden Öffnung ihrer Märkte zu nötigen, ihrerseits jedoch an systemwidrigen oder verbotenen Praktiken des Protektionismus festzuhalten, wie extremen Zöllen für Fertig­ produkte, nicht-tariflichen Handelshemmnissen und Exportsubventionen.29 Dass es die EU im Gebrauch solcher Praktiken zu einer gewissen Meister­ schaft gebracht hat, zeigt eine Studie von Oxfam International, der zufolge die EU, gemessen an einem zehn Kriterien umfassenden Double Standards Index, sich stärker gegen Importe aus Entwicklungsländern abschirmt als alle anderen reichen Nationen, die USA eingeschlossen. Neben den multila­ teralen Abkommen der WTO gibt es die bilateralen Handelsabkommen, die, wie die meisten Experten des internationalen Handels betonen, die Entwick­ lungsländer in der Regel noch schlechter stellen.30 Dieses System mag im Interesse der europäischen Wirtschaft liegen, fügt aber den armen Länder großen Schaden zu. Während es den europäischen Unternehmen Zugang zu den Absatzmärkten der Entwicklungsländer ver­ schafft, bringt es deren Wirtschaften vielfach in eine prekäre Lage, weil die 29  Siehe

Jackson 1997, S. 247 ff. 2002, S. 95 ff.

30  Oxfam

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von der EU oft mit erheblichen Exportsubventionen geförderten Ströme preisgünstiger Produkte, die ihre Märkte überschwemmen, viele der dorti­ gen Produzenten in den Ruin treiben. Überdies werden diese Länder durch die hohen Importzölle und andere Importrestriktionen, mit denen sich die EU gegen den Import von Fertigprodukten schützt, gehindert, ihre Wirt­ schaften auf fortgeschrittenere Produktionsformen der verarbeitenden Indus­ trie umzustellen, was zur Folge hat, dass sie meist weiterhin auf den Verkauf ihrer Rohstoffe angewiesen bleiben, womit sie freilich nicht viel Gewinn erzielen können. Das ist einer der Gründe, warum gerade viele der ärmsten Regionen der Welt von der Liberalisierung des Welthandel trotz des be­ trächtlichen Wachstums der gesamten Weltwirtschaft wenig profitieren oder durch sie sogar verlieren.31 Einige weitere Kritikpunkte, die der EU wegen ihrer Außenwirtschafts­ politik vorgehalten werden können, seien nur in Stichworten kurz ange­ sprochen: ihre Mitwirkung an der für zahlreiche arme Länder katastropha­ len Folgen der Kreditvergabepraxis des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank;32 ihre Mitverantwortung für die Schuldenfalle, in die viele Entwicklungsländer durch das internationale Kreditsystem geraten sind;33 ihre unzureichenden Maßnahmen gegen die extensive Nutzung natürlicher Umweltressourcen, die vor allem den armen Völkern zum ­ Schaden gereicht;34 ihre mangelhafte Bereitschaft, gegen skandalöse und ausbeuterische Praktiken transnationaler Unternehmen europäischer Prove­ nienz in den Entwicklungsländern vorzugehen;35 ihre Unfreundlichkeit gegen­über den Bürgern angrenzender Nachbarländer, denen sie entwürdi­ gende bürokratische Schikanen zumutet, wenn sie in die EU reisen wollen; und vielleicht auch ihre gelegentlichen Ausflüge ins Reich törichter Welt­ führerschaftsträume, wie sie beispielsweise in den Lissabon-Zielen Nieder­ schlag finden.36 Schlussbemerkung Meine Überlegungen zur Legitimität der Europäischen Union führen ins­ gesamt zu einer gemischten Bilanz. Wird die EU an den im ersten Teil proponierten Anforderungen an die interne und externe Legitimität politi­ scher Gemeinschaften gemessen, so kann sie im Großen und Ganzen wohl 31  Oxfam

2002, S. 64 ff.; Küblböck / Strickner 2006. 2002; 2003. 33  Hertz 2004. 34  Wuppertal Institut 2005. 35  Oxfam 2002, S. 175 ff. 36  Huffschmid 2006, S. 81 ff. 32  Stiglitz



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als eine erwünschte und legitime, ja sogar als eine gebotene Form politi­ scher Gemeinschaftsbildung gelten. Sie weist allerdings auch einige nicht unerhebliche Defizite auf, die sowohl ihre interne wie auch ihre externe Legitimität betreffen. Ihre interne Legitimität wird insbesondere durch die wachsenden sozialen und wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten gemindert, die ihre einseitige Politik der Marktliberalisierung ohne flankierende Sozialpo­ litik zur Folge hat. Demgegenüber leidet die externe Legitimität der EU vor allem an den unfairen Praktiken, welcher sie sich in ihren Wirtschaftsbezie­ hungen mit Entwicklungsländern bedient. Literatur Arndt, Hans-Wolfgang (2006): Europarecht. 8. Aufl. Heidelberg: C.F. Müller Verlag. Attac, Hg. (2006): Das kritische EU-Buch. Warum wir ein anderes Europa brauchen. Wien: Deuticke. Buchanan, Allen (1985): Ethics, Efficiency, and the Market. Totowa, NJ: Rowman & Allanheld. – (2004): Justice, Legitimacy, and Self-Determination. Moral Foundations for In­ ternational Law. Oxford: Oxford University Press. Chryssochoou, Dimitris N. (2007): Domocracy and the European Polity. In: Cini 2007, S. 359–374. Cini, Michelle (2007): European Union Politics. 2. Aufl., Oxford: Oxford Universi­ ty Press. Coleman, Jules L. (1988): Markets, Morals and the Law. Cambridge: Cambridge University Press. Donelly, Jack (1992): Twentieth-Century Realism. In: Terry Nardin / David R. Mapel (Hg.), Traditions of International Ethics. Cambridge: Cambridge University Press, S. 85–111. Dover, Robert (2007): The EU’s Foreign, Security, and Defence Policies. In: Cini 2007, S. 237–252. Edwards, Geoffrey (2005): The Pattern of the EU’s Global Activity. In: Hill / Smith 2005, S. 39–63. Egan, Michelle (2007): The Single Market. In: Cini 2007, S. 253–270. Eising, Rainer (2007): Interest Groups and the European Union. In: Cini 2007, S. 202–221. Falkner, Gerda (2007): The EU’s Social Dimension. In: Cini 2007, S. 271–286. Follesdal, Andreas (2005): The Legitimacy Deficits of the European Union. The Journal of Political Philosophy 14 (4), S. 441–468. – (2006): Why There is a Democratic Deficit in the EU: A Response to Majone and Moravcsik. Journal of Common Market Studies 44 (3), S. 533–562.

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Die Reichweite sozialer Gerechtigkeit Zur Kontroverse zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus Von Christian Hiebaum Nach weitverbreiteter Auffassung (innerhalb und außerhalb der politi­ schen Philosophie) beschränkt sich der Anwendungsbereich von Normen der sozialen Gerechtigkeit im Wesentlichen auf staatlich verfasste, jedenfalls aber partikulare Gesellschaften. Zwar möge es moralische Pflichten geben, etwa zur Nichtschädigung oder zur Hilfeleistung, die über Staatsgrenzen hinausreichen, aber dabei handle es sich eben kaum um Pflichten der sozia­ len Gerechtigkeit, jedenfalls nicht um Pflichten der den Kern der sozialen Gerechtigkeit bildenden Verteilungsgerechtigkeit. Das ist die Position des starken Partikularismus. Spontan würden sicher viele starke Partikularisten (außerhalb der akademischen politischen Philosophie) die massiven globa­ len Ungleichheiten und die Tatsache, dass zahlreiche Menschen in großem Elend leben, eine Ungerechtigkeit nennen. Aber dabei ist dann mehr an eine Ungerechtigkeit gedacht, die „das Leben“ an sich auszeichne („life is unfair“), vergleichbar mit der „Ungerechtigkeit“ der natürlichen Verteilung von Talenten und körperlichen Merkmalen. Demgegenüber bestreitet der schwache Partikularismus zwar nicht, dass bestimmte Grundrechte und die zu ihrer Gewährleistung nötigen Ressour­ cen global zu verteilen seien. Den Anwendungsbereich darüber hinausge­ hender Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit, insbesondere von Gleich­ heitsprinzipien, beschränkt aber auch der schwache Partikularismus auf die domestische Sphäre. Generell können nach partikularistischer Auffassung Institutionen der Umverteilung ökonomischer Ressourcen nicht auf gleich­ heitsbezogene Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit gegründet werden. Globale Ungleichheit möge allerlei Probleme verursachen, aber im Gegen­ satz zu extremer Armut stelle sie selbst keine moralische Herausforderung dar. Ohne hier eine Theorie globaler Gerechtigkeit auch nur grob skizzieren zu können, möchte ich im Folgenden zuerst einige der gängigen Argumen­ te für den gerechtigkeitstheoretischen Partikularismus einer Kritik unterzie­ hen: Argumente der Kooperation (I), der Solidarität (II) und der Souveräni­

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tät (III) – wobei vor allem die ersten beiden Argumente oft miteinander verwoben werden. Wie ich danach zeigen werde, ist mit dieser Kritik weder beschlossen, dass Staatsgrenzen moralisch irrelevant wären, noch dass wir uns eine Welt ohne Staatsgrenzen wünschen sollten. Dass bestehende Gren­ zen die aktuelle Allokation von individuellen und kollektiven Pflichten be­ einflussen, gehört gewissermaßen zu den Geschäftsgrundlagen jeder nichtidealen Theorie, ob partikularistisch oder kosmopolitisch angelegt. Aber sogar eine ideale kosmopolitische Theorie der Gerechtigkeit, die von einigen moralischen Unzulänglichkeiten der realen Welt abstrahiert, kann, so die These, staatlichen Grenzen, mithin einer gewissen Segmentierung des welt­ politischen Systems in mehr oder weniger autonome territoriale Einheiten, hohen Wert beimessen (IV). Abschließend komme ich noch auf ein Problem kosmopolitischen Denkens zu sprechen, welches man als „Tendenz zum Technokratischen“ bezeichnen könnte. Der Partikularismus wird dadurch aber, meine ich, nicht zu einer nennenswert attraktiveren Option (V). I. Das Argument der Kooperation Das Kooperationsargument, welches, wie auch die anderen hier erörterten Argumente, auf recht verschiedene Weisen vorgetragen wird, besagt im Wesentlichen: Soziale Gerechtigkeit bezieht sich auf umfassende Koopera­ tionszusammenhänge, und insoweit es keine globale Kooperation gibt, sind Normen der sozialen Gerechtigkeit nicht auf die globale Ebene anwendbar. Dass nicht jede unter dem Gesichtspunkt der sozialen, nicht einmal der distributiven, Gerechtigkeit relevante Beziehung eine der Kooperation ist, soll hier nur erwähnt werden. Man denke etwa an Besitzgemeinschaften, welche darin bestehen, dass mehreren Personen gemeinsam bestimmte Gü­ ter zukommen oder dass sie gemeinsam Lasten zu tragen haben.1 Zu solchen Lasten könnte heute insbesondere der Aufwand zählen, der notwendig ist, um den Klimawandel zu stoppen oder wenigstens zu verlangsamen. Eine globale Besitzgemeinschaft hinsichtlich natürlicher Ressourcen und der Kosten, die deren Bewahrung verursacht, begründet zwar keine Gesellschaft im vollen Sinne des Wortes, aber doch, so darf man annehmen, einen glo­ balen Anwendungsbereich für Normen der Verteilungsgerechtigkeit, welche immer das auch sein mögen. Üblicherweise negieren Partikularisten nicht, dass alle Menschen gleich an Würde sind und also gleichermaßen Respekt verdienen und dass dieser Res­ pekt in der Gleichverteilung grundlegender Rechte zum Ausdruck kommen muss. Die Anwendung weiterer komparativer bzw. gleichheitsbezogener Prin­ 1  Vgl.

Koller 2001, S. 38



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zipien der sozialen Gerechtigkeit2 aber setze eine Kooperation voraus, wie sie nur im Rahmen eines Staates stattfinde. Antikosmopolitische Rawlsianer et­ wa, für die die Grundstruktur der Gesellschaft der primäre Gegenstand von Gerechtigkeitserwägungen ist, betrachten die staatlichen Basisinstitutionen als den Rahmen der relevanten Kooperation. Und sie nehmen damit in der Regel an, dass solche Institutionen bereits existieren müssen, damit ein sinn­ voller Gerechtigkeitsdiskurs stattfinden kann. Wenn dieses Argument nicht bloß die empirisch zweifelhafte These aus­ drücken soll, dass über Staatsgrenzen hinweg, abgesehen von zwischen­ staatlicher Zusammenarbeit, keine nennenswerte Kooperation stattfinde, dann muss der dabei verwendete Begriff der Kooperation ein sehr enger sein. Mit „Kooperation“ könnten hier politische Praktiken der Deliberation und des Verhandelns sowie das schlichte Befolgen kollektiv verbindlicher Regeln gemeint sein. Tatsächlich meint Samuel Freeman, dass es auf „so­ ziale“ und „politische Kooperation“ ankomme, und beides zusammen gäbe es nur innerhalb von Staaten.3 Aber warum sollen wir nur das unter „Ko­ operation“ verstehen? Eine andere Möglichkeit wäre, zu behaupten, dass zur Idee der Kooperation „die Idee der fairen Modalitäten der Zusammenarbeit“ gehört, also die Idee der „Modalitäten, die jeder Beteiligte vernünftigerwei­ se akzeptieren kann und manchmal akzeptieren sollte, sofern sie auch von jedem anderen ebenso akzeptiert werden“.4 Wobei sich – gerade nach einer rawlsianischen Auffassung5 – die Fairness der Kooperationsmodalitäten zu einem guten Teil über die Verteilung der im Wege der Kooperation herge­ stellten Güter und der mit der Kooperation verbundenen Lasten bestimmt. Doch wenn das nicht bloß bedeutet, dass Kooperation unweigerlich Gerech­ tigkeitsfragen aufwirft, sondern dass ohne das vernünftige Bewusstsein, unter fairen Bedingungen zu kooperieren, gar keine Kooperation vorliegen kann, dann bleibt offen, worauf sich Erwägungen der Verteilungsgerechtig­ keit überhaupt beziehen. Oder anders: Wenn die Forderung nach fairer Kooperation Sinn ergeben soll, muss unfaire Kooperation zumindest mög­ lich sein. Darüber hinaus stellt sich die Frage, weshalb allein schon „die Idee fairer Modalitäten der Zusammenarbeit“ die innerstaatliche Koopera­ tion gegenüber der transnationalen oder globalen Kooperation gerechtig­ keitstheoretisch auszeichnen soll. 2  Komparative Prinzipien sind Prinzipien, die nicht bloß auf absolute, sondern auch auf relative soziale Positionen abstellen. Dadurch unterscheiden sie sich von Prinzipien der Suffizienz und von bestimmten Versionen des Nutzenmaximierungs­ postulats (vgl. Miller 2008, S. 46). 3  Freeman 2007, S. 306. 4  Rawls 2003, S. 26. 5  Vgl. Rawls’ Kritik am „System natürlicher Freiheit“ (Rawls 1975, S. 92–95).

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Würde man dagegen unter „Kooperation“ auch sonstige Praktiken des arbeitsteiligen Zusammenwirkens subsumieren, welche nicht von der Idee fairer Modalitäten oder dem Bewusstsein, Teil eines kollektiven Unterneh­ mens zu sein, inspiriert oder motiviert sind, dann könnte man genauso gut sagen, dass es neben staatlichen noch supranationale oder gar globale poli­ tische Institutionen braucht, die der bereits vorhanden inter-, supra- und transnationalen ökonomischen, wissenschaftlichen, kommunikationstechno­ logischen und nicht zuletzt rechtlichen Struktur der modernen Gesellschaft gerecht werden. Kurz, man könnte sagen, dass die politische und die sons­ tige soziale Grundstruktur zu wenig harmonieren – dass die politischen Basisinstitutionen die Tendenz haben, den Gerechtigkeitsdiskurs systema­ tisch zu verzerren. Immerhin geben sie einen starken Anreiz, globale Prob­ leme aus einem borniert-nationalen Blickwinkel zu betrachten und sich in Wohlstandschauvinismus zu üben. Warum also komplexe, vielfältige Interdependenzen erzeugende Interak­ tion im Einklang mit einem System rechtlicher und sonstiger sozialer Normen, auch wenn den Interagierenden selbst nichts am kooperativen Unter­ nehmen an sich liegt, nicht als gerechtigkeitsrelevante Kooperation begrei­ fen? Kooperation kann, so gesehen, auch in der (schwer oder gar nicht vermeidbaren) Teilnahme an einem System von Tauschbeziehungen beste­ hen, das seinerseits durch eine Fülle formeller und informeller Regeln konstituiert wird. Und dass zumindest ein globales System des Handels mit Gütern und Dienstleistungen existiert, bestreiten auch Partikularisten nicht. Genauso wenig wie die Tatsache, dass dieses System ein System von Re­ geln ist, die man einhalten oder missachten kann. In dieser Hinsicht unter­ scheidet sich das globale System nicht prinzipiell von einem nationalen. Dass die Regeln nicht von einer zentralen Instanz erlassen worden sind, ist für die Frage, ob die Teilnahme am System Kooperation darstellt oder nicht, noch belangloser als die individuellen Motive. Wenn aus einer solchen ob­ jektiven Koopera­tionsbeziehung Güter und Lasten entstehen, stellt sich die Frage der gerechten Verteilung als Grundfrage der sozialen Gerechtigkeit. Und diese bezieht sich dann naturgemäß auch auf die Bedingungen, unter denen kooperiert wird. Ja, sie stellt sich für Rawlsianer, wie gesagt, als Frage nach der Fairness dieser Bedingungen und Modalitäten. Wobei augen­ scheinlich nicht nur Staaten kooperieren – mögen sie auch zusammen (wenngleich in unterschiedlichem Maße) die meisten Regeln über den glo­ balen Handel zu verantworten haben. Das System lebt von unzähligen Tauschparteien, die tagtäglich zur Reproduktion des Systems beitragen und von denen viele nicht mehr als ihre Arbeitskraft anzubieten haben, während andere den Inhalt von Geschäften aufgrund von wirtschaftlicher Macht und Informationsvorsprüngen praktisch diktieren können – und überdies großen Einfluss auf die Formulierung der internationalen Regeln ausüben.



Die Reichweite sozialer Gerechtigkeit81

Tatsächlich gelangt man auch über die Tauschgerechtigkeit selbst rasch zur Verteilungsgerechtigkeit, nämlich dann, wenn man als eine wesentliche Bedingung für Tauschgerechtigkeit eine gerechte Hintergrundverteilung von materiellen und immateriellen Ressourcen ansieht. Die Rechtfertigungskraft der hauptsächlich verfahrensbezogenen Normen der Tauschgerechtigkeit hängt stark davon ab, ob und wie sich die sonstigen Lagen der Tauschpar­ teien unterscheiden. Wer nur die Wahl hat, auf den Straßen der Favelas dahinzuvegetieren oder in einer Fabrik unter elenden Bedingungen zu arbei­ ten, dessen Arbeitsvertrag mag frei von Irrtum, Zwang und List zustande gekommen sein, wird aber kaum als gerecht bezeichnet werden können. Tauschgerechtigkeitsnormen, die Ausbeutung ausschließen, stellen immer schon auf die Hintergrundverteilung von Gütern und Lasten ab. Deren Un­ gerechtigkeit kontaminiert die Tauschbeziehungen und kann durch Normen, die sich auf die einzelnen Transaktionen beziehen, niemals vollständig ausgeglichen werden. Hinzu kommt, dass transnationale Marktprozesse ne­ gative externe Effekte zeitigen, mithin Probleme verursachen, z. B. Umwelt­ belastungen, deren Lösung ihrerseits Kooperation, wenn auch zunächst vor allem Kooperation der Staaten, und damit eine gerechte Verteilung von Vorteilen und Nachteilen (etwa von Emissionsrechten) erfordert.6 Damit ist nicht gesagt, dass die Kooperationsbeziehung, in der sich die Bürger eines Staates zueinander befinden, keinerlei gerechtigkeitsrelevante Unterschiede zu transnationalen oder gar globalen Kooperationen aufweisen würde und dass die dieser Beziehung angemessenen Gleichheitsanforderun­ gen nicht strenger wären. Die Auffassung, dass diese Unterschiede groß genug seien, um die Anwendung komparativer Prinzipien (im Gegensatz zu humanitären Prinzipien oder dem Prinzip der Suffizienz) auf den innerstaat­ lichen Bereich zu beschränken, bedarf jedoch einer besseren Begründung, als sie das Kooperationsargument allein bieten kann. II. Das Argument der Solidarität Wie bereits angedeutet, wird das Kooperationsargument oft mit einem Solidaritätsargument verknüpft. Immerhin soll „Kooperation“ als notwendi­ ges Element politische Kooperation einschließen. Auf diese Weise erhält das Argument, wenn man so will, eine kommunitäre Qualifikation. Demnach ist es nicht die institutionalisierte Kooperation allein, die den Gegenstand einer Theorie der sozialen Gerechtigkeit ausmacht. Eine Gesellschaft brauche außerdem noch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, welches die Mitglie­ der erst dazu motiviere, sich auf eine Debatte über die institutionellen 6  Vgl.

Caney 2008, S. 497.

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„terms of cooperation“ einzulassen. Voraussetzung für Unparteilichkeit in­ nerhalb einer Gruppe, sei Loyalität gegenüber der Gruppe als solcher. Und da man nicht loyal gegenüber der ganzen Menschheit sein könne, bezögen sich die Normen der sozialen Gerechtigkeit eben auf subglobale Gemein­ schaften, insbesondere auf das Innenleben von Staaten.7 Regelmäßig werden in einer solchen Argumentation die Begriffe „Solidarität“ und „Identität“ weitgehend synonym verwendet.8 Zumindest aber scheint man von der An­ nahme auszugehen, dass kollektive Identität unweigerlich Solidarität bzw. die Bereitschaft, für andere Opfer zu bringen, generiert. Gerechtigkeitstheoretische Kosmopoliten bestreiten zwar nicht, dass exis­ tierende Solidarverbände, wie sie Staaten auch sind, ihre Mitglieder in eine besondere normativ relevante Beziehung zueinander setzen. Sie können überdies noch einräumen, dass solchen partikularen Solidarbeziehungen, mithin Territorialstaaten, auch in einer idealen Theorie von Bedeutung sind. Das heißt, sie träumen nicht von einem Weltstaat, erst recht nicht von einem zentralistischen. Was sie aber bestreiten, ist die These, dass erst die kollek­ tive Identität jene Beziehungen begründe, auf die sich dann das Gerechtig­ keitsdenken beziehen könne. Insbesondere glauben sie, dass dem Insistieren auf partikularen Identitäten eine Täuschung „über den Normalfall der eva­ luativen und emotionalen Kohäsion von Gruppen“ zugrunde liegt.9 In der Tat werden jene politischen Debatten, in denen es am offensichtlichsten um sozialen Ausgleich geht, selten in Begriffen kollektiver Identität geführt. Am ehesten kommt der Begriff der nationalen Identität dabei noch im Ge­ wand der „Wirtschaftsstandort“-Rhetorik ins Spiel. Diese soll aber typi­ scherweise moralische Erwartungen der sozial Schwachen gerade dämpfen, und zwar, indem sie sie gegen Effizienzerwägungen ausspielt. Dagegen könnte man einwenden, dass es einen Unterschied gebe zwischen dem strategischen Gebrauch des Patriotismus-Topos in Form des Appells an die ohnehin schon Benachteiligten, an das „größere Ganze“ zu denken, und der gewissermaßen objektiven Funktion von Loyalitätsgefühlen. Echte Loya­ lität gegenüber einer Gemeinschaft sei zwar keine hinreichende Bedingung für Gerechtigkeit im Inneren, aber eben notwendige Bedingung für einen an­ gemessenen Gerechtigkeitsdiskurs. Das klingt plausibel. Zweifellos richtig ist der Hinweis, dass es ceteris paribus schwerer fällt, Gerechtigkeitsforderun­ gen von Mitgliedern der eigenen Gruppe abzuwehren, als Forderungen von „Fremden“. Doch damit ist nicht gezeigt, dass Gerechtigkeitsurteile keinen vernünftigen Sinn ergeben, wenn sie sich nicht auf das Innere einer bereits 7  Vgl.

Heyd 2007. Rorty 2000. 9  Somek 1998, S. 420. 8  Vgl.



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bestehenden Gruppe beziehen, mit der sich die Mitglieder identifizieren, son­ dern auf Institutionen, die Menschen miteinander verbinden, ohne ihnen eine gemeinsame kollektive Identität zu geben. Gezeigt ist lediglich, dass Loyalität gegenüber einer Gruppe bzw. kollektive Identifikation ein mögliches Motiv bildet, sich auf einen Gerechtigkeitsdiskurs einzulassen oder gar einen Kampf um Gerechtigkeit zu initiieren. Der Wunsch, unnötiges Leid zu verringern, der Affekt gegen „Privilegierte“ oder die Anerkennung der Würde anderer, also Respekt, wären weitere Motive, Institutionen im Namen der sozialen Gerech­ tigkeit infrage zu stellen – auch wenn zunächst noch nicht klar sein mag, wer der Adressat von Kritik und Forderungen ist. Wären Solidarität, Loyalität oder eine gemeinsame Identität notwendige Bedingungen für die Angemessenheit von Gerechtigkeitsforderungen und Kritik an den Zuständen unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtig­ keit, hätten wir mit folgender bizarr anmutenden Konsequenz zu kämpfen: Wir könnten den Übergang von einer feudalen Gesellschaftsordnung zu demokratischen und souveränen Nationalstaaten nicht mehr als Fortschritt in der sozialen Gerechtigkeit beschreiben. Was immer die Entstehung von Nationalstaaten genau verursacht haben mag, ist es nicht zumindest denk­ bar, dass die bloße Überzeugung, die feudale Ordnung sei ungerecht, ein Faktor gewesen ist? Und hätte ein Philosoph den Benachteiligten, Ausge­ beuteten und Entrechteten, die zu dieser Überzeugung gelangt waren und sich davon leiten ließen, sagen sollen, dass ihre Beschwerden zwar ver­ ständlich seien, aber nichts mit Gerechtigkeit zu tun hätten, solange sie mit den Adressaten keine Identität oder Gefühle der Loyalität und auch kein Forum teilen würden, in dem man, politisch verbunden, die „terms of co­ operation“ aushandeln könnte? Nimmt man das Solidaritätsargument beim Wort, darf man die Überwin­ dung des Feudalismus nur als einen Prozess der Bildung neuer kollektiver Identitäten und Konzeptionen sozialer Gerechtigkeit zu beschreiben, ohne dabei einen wertenden Gerechtigkeitsvergleich anzustellen. Das aber wider­ spricht der weitverbreiteten und geradezu trivialen Auffassung, dass der Kampf um Gerechtigkeit zu einem guten Teil im Kampf um Institutionen besteht, welche dann ihrerseits erst die Einzelnen zu einer Gemeinschaft zusammenschweißen, die kollektive Identität generiert, ein gewisses Maß an Loyalität verlangt und demokratische Kooperation unter politisch Gleichen ermöglicht.10 Und bisweilen ist dieser Kampf um Institutionen sogar ein revolutionärer, im Gegensatz zu einem reformistischen Kampf innerhalb eines weitgehend konstant gehaltenen institutionellen Settings. 10  Einen ähnlichen Einwand formuliert A. J. Julius (2006, S. 183 f.) gegen Tho­ mas Nagel (2005).

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III. Das Argument der Souveränität Das Souveränitätsargument besagt, dass (derzeit) nur der Rechtszwang des souveränen Staates jene Ordnung schafft, auf die Normen der sozialen Gerechtigkeit, jedenfalls aber die komparativen Prinzipien der distributiven Gerechtigkeit, angewendet werden können.11 Die Begründung lautet in etwa folgendermaßen: Gerechtigkeit ist eine Frage der Rechtfertigung Autonomie beschränkenden Zwangs. Solcher Zwang geht vom souveränen Staat aus. Seine Rechtfertigung erfordert daher Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit. Von der globalen Ordnung geht kein bzw. kein unmittelbarer Zwang aus. Auf sie sind daher Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, jedenfalls aber komparative Prinzipien der distributiven Gerechtigkeit, nicht anzuwenden. Nach Michael Blake, dessen Argumentation ich hier vereinfacht wieder­ gegeben habe, begründet jedoch der Wert der Autonomie, unabhängig von deren Einschränkung durch staatlichen Zwang, die globale Anwendbarkeit von Prinzipien der Suffizienz. Auch dieses Argument hat offensichtlich Schwierigkeiten mit dezentrali­ siertem und mittelbarem Rechtszwang. Ich möchte hier aber nicht noch einmal den Übergang vom Feudalismus zum System souveräner National­ staaten bemühen, sondern den Zwang globaler Institutionen mit dem des souveränen Staates vergleichen. Was unterscheidet den Rechtszwang, den ein Staat auf seine Einwohner ausübt, vom Zwang, der von inter- und supra­nationalen rechtlichen Regimen ausgeht? Lassen wir einmal die Tat­ sache beiseite, dass ein Gutteil staatlicher Rechtsvorschriften bereits durch inter- und supranationale Vorgaben bedingt ist. Erstere werden durch Letz­ tere (teilweise) ermöglicht und auch inhaltlich geprägt. Ein in inter- und supranationale Regime eingebundener Staat ist zu allerlei Rechtssetzung ermächtigt und zugleich in seinen rechtlichen Möglichkeiten beschränkt. Dieses System von Ermächtigungen und Beschränkungen bietet sich auch insofern ganz natürlich als Gegenstand eines Gerechtigkeitsurteils an, als es gehörige Auswirkungen hat auf die Verteilung von Ressourcen zwischen Staaten sowie Einzelmenschen innerhalb von Staaten und über Staatsgren­ zen hinweg. Man denke nur an das von Thomas Pogge treffend analysierte Ressourcen- und Kreditprivileg12 oder an die Beschränkungen, welche die WTO ihren Mitgliedern auferlegt. Hier hakt der Partikularist nun ein: Die Auswirkungen dieser Regime auf die Autonomie der Einzelmenschen sei lediglich eine mittelbare, im Gegen­ satz zur Geltung staatlicher Rechtsnormen. Doch abgesehen davon, dass nicht ganz klar ist, weshalb die Mittelbarkeit des Zwangs derart relevant sein, dass 11  Vgl.

Blake 2002; Nagel 2005. 2002, S. 112–115.

12  Pogge



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sie schon den Anwendungsbereich (und nicht bloß das relative Gewicht) von komparativen Gerechtigkeitsprinzipien beschränkt13: Ist der staatliche Rechts­ zwang tatsächlich und naturgemäß nennenswert unmittelbarer? Einiges an Zwang, den staatliche Gesetze entfalten, ist ebenfalls mittelbar, etwa der Zwang einer Eigentumsordnung oder der Zwang des Vertragsrechts. Wenn ein Staat wirtschaftlichen Akteuren Rechte einräumt, schränkt er zwar Freiheiten anderer ein, aber zunächst nur mittelbar. Niemand wird deswegen behaupten wollen, dass die besagte Einräumung von Rechten gegenüber den zunächst nur mittelbar Beschränkten nicht ungerecht sein kann. Und wenn der Gesetz­ geber wirtschaftliche Akteure zu etwas zwingt, das diese veranlasst, über Dritte Zwang auszuüben, besteht doch eine Rechtfertigungspflicht des Ge­ setzgebers auch gegenüber den Dritten.14 Die Verpflichtung, Umsatzsteuer zu entrichten, etwa wird praktisch an Konsumenten weitergereicht. Und obwohl Letztere in einem gewissen Sinne gar nicht gezwungen werden, weil sie ja in die Verträge einwilligen, ist es ganz selbstverständlich, dass über die Umsatz­ steuer und deren Höhe nicht unter dem Gesichtspunkt der unmittelbaren Ver­ pflichtung für Unternehmen diskutiert wird, sondern unter dem der Auswir­ kungen für die Wirtschaft im Allgemeinen und für die einkommensschwachen Konsumenten im Besonderen. An dieser Stelle müsste der Partikularist also wieder auf eine Art Solidaritätsargument zugreifen und auf präexistente Ge­ fühle der Zusammengehörigkeit abstellen. Überhaupt scheint dem Souveränitätsargument eine allzu weitgehende Vermischung zweier Fragen zugrunde zu liegen: der Frage der politischen Legitimität und der Verteilungsgerechtigkeitsfrage. Nicht dass es hier keine Verschränkung gäbe. Immerhin lassen sehr große Ungleichheiten auch Zweifel an der Legitimität politischer Entscheidungen bzw. an Legitimation durch die etablierten Verfahren der Entscheidungsfindung aufkommen. An­ dererseits aber kann auch ein Autokrat wenigstens prinzipiell Verteilungsge­ rechtigkeit (natürlich in Bezug auf andere Güter als politische Partizipa­ tionsrechte) gewährleisten. Und umgekehrt können an sich einwandfreie demokratische Entscheidungen Ungerechtigkeiten generieren. Dabei könnte es sich auch um Ungerechtigkeiten handeln, die von den Benachteiligten gar nicht als solche erlebt werden und deshalb nicht mehr weiter diskutiert werden. Die Frage der Legitimität ist also nicht identisch mit der Vertei­ lungsgerechtigkeitsproblematik. Aber nicht nur die These, dass souveräner Rechtszwang einen so großen Unterschied macht, ist fragwürdig. Schon die Annahme, dass es Zwangsaus­ 13  Genau genommen, ist auch die vage These, dass Gewicht und Gehalt kompa­ rativer Prinzipien mit dem Grad der Mittelbarkeit des Zwangs variieren, nicht über jeden vernünftigen Zweifel erhaben. 14  Caney 2008, S. 501.

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übung bedarf, um die Verteilungsgerechtigkeitsfrage aufs Tapet zu bringen, lässt sich bestreiten. Immerhin sind viele Kontexte denkbar (wie z. B. Akti­ vitäten im Freundeskreis), in denen zwar nicht Zwang, wohl aber die Ge­ rechtigkeit der Verteilung von Gütern und Lasten ein Thema sein kann.15 Umso weniger schließt die Abwesenheit souveränen staatlichen Zwangs die Anwendbarkeit komparativer Prinzipien und die Angemessenheit gleich­ heitsbezogener Gerechtigkeitserwägungen aus. IV. Die moralische Signifikanz von Staatsgrenzen kosmopolitisch gedacht Aus all diesen Einwänden folgt nun aber nicht, dass Staatsgrenzen aus kosmopolitischer Perspektive moralisch und gerechtigkeitstheoretisch be­ deutungslos wären. Der durchaus plausiblen Idee einer gewissen Diskonti­ nuität zwischen sozialer Gerechtigkeit innerhalb einer staatlich verfassten politischen Gemeinschaft und globaler sozialer Gerechtigkeit lässt sich mit einem Modell moralischer Arbeitsteilung Rechnung tragen. Demnach müs­ sen nicht alle gleichermaßen verantwortlich sein für die Erfüllung univer­ seller Ansprüche anderer.16 Jedes Kind hat bestimmte Ansprüche, aber nicht jeder von uns ist dafür verantwortlich, sie zu befriedigen. Zumindest können wir uns hinsichtlich unserer Pflichten stark unterscheiden. Als Eltern mögen wir andere Pflichten gegenüber unseren eigenen Kindern haben als gegen­ über den Kindern von Fremden. Zudem liegt es nahe anzunehmen, dass wir mehr zur Familienförderung im eigenen Land beizutragen haben als zur Förderung von Familien in anderen Teilen der Welt. Analog dazu können Staaten eine besondere Verantwortung gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern haben, ohne deshalb schon frei von jeglicher Verantwortung für das Schicksal anderer zu sein – insbesondere dann, wenn diese anderen sich in gerechtigkeitsrelevanten (vor allem wirtschaftlichen) Beziehungen zu den eigenen Bürgerinnen und Bürgern befinden. Genau genommen kann die kosmopolitische Legitimation von Staatsgren­ zen auf zwei verschiedenen Modellen der moralischen Arbeitsteilung gründen:17 (1) Staatsgrenzen können Ausdruck genuiner moralischer Ar­ beitsteilung sein. Das heißt, das Zusammenleben in einem Staat kann selbst Pflichten begründen. Diese Pflichten ergeben sich somit nicht letzten Endes aus universellen Pflichten. Ähnlich mag es sich bei der Beziehung zwischen Eltern und Kindern verhalten. (2) Staatsgrenzen und Souveränitätsrechte können aber auch lediglich ein Mittel sein, um Gerechtigkeit möglichst 15  Caney

2008, S. 504. Shue 1988, S. 687–691. 17  Vgl. Koller 1998, S. 104–109; Scheffler 2002, S. 115. 16  Vgl.



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verlässlich zu gewährleisten, d. h. um die zur Erfüllung sämtlicher Ansprü­ che notwendigen Pflichten effizient zu allozieren. Das wäre dann ein Fall von bloß institutioneller Arbeitsteilung. Dass Modelle der moralischen Arbeitsteilung zumindest in einer nicht-idea­ len kosmopolitischen Theorie der Gerechtigkeit eine Rolle spielen, versteht sich, denke ich, von selbst. Staatsgrenzen existieren (wie porös auch immer) und begründen Erwartungen individueller wie kollektiver Akteure, denen Rechnung zu tragen ist. Inwieweit Staatsgrenzen Bestandteile einer idealen Theorie sind, hängt wohl davon ab, was zu den empirischen „Anwendungs­ verhältnissen der Gerechtigkeit“ (Rawls) gezählt wird. Gehören dazu, neben einer gewissen Güterknappheit und beschränktem Altruismus, etwa auch die Bedingungen für eine Institutionalisierung von demokratischer kollektiver Selbstbestimmung und von stabilen Solidarbeziehungen zwischen Fremden, dann werden (beschränkt) souveräne Territorialstaaten auch von einer idealen kosmopolitischen Theorie postuliert werden. Möchte man einer solchen The­ orie ein noch stärker rawlsianisches Gepräge verleihen, kann man das viel­ leicht dadurch tun, dass man die Mitgliedschaft in einer demokratischen Soli­ dargemeinschaft in die Liste der Grundgüter aufnimmt. Allerdings können Kosmopoliten diesem Gut nicht den Stellenwert ein­ räumen, der ihm etwa bei Michael Walzer18 zukommt. Für sie setzt nicht schon das Konzept der distributiven Gerechtigkeit als Kern jeder Konzep­ tion sozialer Gerechtigkeit die „festumgrenzte Welt“ einer als Staat organi­ sierter politischer Gemeinschaft voraus. Gleichwohl müssen sie zugeben, dass die Mitgliedschaft in einem staatlichen Gemeinwesen sich von anderen Gütern, welche Gegenstand von Verteilungsentscheidungen sind, unterschei­ det. Wenn es gilt, die Existenz von Staaten im Rahmen einer idealen Theo­ rie zu rechtfertigen, ist die Mitgliedschaft überhaupt nicht als Gegenstand von Verteilungsentscheidungen zu begreifen.19 Doch trifft eine ideale Theo­ rie naturgemäß ohnehin keine Entscheidungen. Vielmehr erhebt sie den Anspruch, neben den Gegenständen noch Kriterien und „side constraints“ bzw. Voraussetzungen solcher Entscheidungen zu explizieren. Und die Mit­ gliedschaft in einem staatlichen Gemeinwesen scheint eben (nach allem, was wir von den Menschen und der Gesellschaft wissen) Voraussetzung dafür zu sein, jene halbwegs robuste und umfassende Solidarität erwarten zu dürfen, ohne die das Leben zu einer allzu unsicheren Angelegenheit würde und die individuelle Freiheit aufgrund diverser, höchst ungleicher 18  Walzer

1994, Kap. 2. verhält es bei Entscheidungen über die Aufnahme von Personen in politische Gemeinschaften in einer Welt, in der Staaten bereits existieren. Diese bzw. internationale Regelungen für solche Entscheidungen haben in mancherlei Hinsicht durchaus den Charakter einer Verteilung knapper Ressourcen. 19  Anders

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Anpassungszwänge allzu stark eingeschränkt wäre. Zudem stellt die Mög­ lichkeit der Teilnahme an der politischen Kooperation innerhalb einer par­ tikularen Gemeinschaft von Gleichen an sich schon einen Wert dar. Soweit können Kosmopoliten den Partikularisten zustimmen. Und doch votieren sie aus Gründen sozialer Gerechtigkeit, dabei nicht zuletzt: der Gleichheit, für bestimmte weitere Beschränkungen staatlicher Souveränität bzw. für die Ergänzung staatlicher und zwischenstaatlicher Entscheidungsverfahren um supra- und transnationale Institutionen. Der starke Kosmopolitismus fokussiert im Rahmen einer idealen Theorie auf das zweite Modell der Arbeitsteilung. Demnach ist die Existenz einer Vielzahl von Staaten ein Gebot der effizienten Erfüllung von Gerechtigkeits­ forderungen. Der schwache Kosmopolitismus dagegen bedient sich insofern auch des ersteren Modells, als er politischer Verbundenheit zwischen Frem­ den, wie sie im günstigen Fall das Zusammenleben in einem Staat auszeich­ net, einen gewissen Eigenwert zuschreibt – oder zumindest einen Wert (Ge­ meinschaftlichkeit), der über die Erfüllung von Gerechtigkeitsforderungen hinausgeht. Anders formuliert: Der schwache Kosmopolitismus betrachtet das Zusammenleben in einem Staat als eine Form des Zusammenlebens, der inso­ fern auch ein Eigenwert zukommt, als sie Bedürfnissen entspricht, die nicht restlos mit dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit zusammenfallen.20 Diesem An­ satz zufolge würde mit den Staaten etwas Nennenswertes verloren gehen, das durch andere Institutionen, selbst wenn diese eine gerechte Verteilung aller sonstigen Güter bewirken, nicht vollständig ausgeglichen werden kann – mag auch die Identifikation des Einzelnen mit seinem Gemeinwesen (und darüber vermittelt mit den Landsleuten) kein rationaler Akt sein, ja überhaupt nicht auf einer bewussten Entscheidung beruhen. Nur der starke Kosmopolitismus tendiert dazu, die Notwendigkeit, parti­ kulare kollektive Identitäten zu schaffen und zu erhalten, weniger als in der Natur des Menschen oder in den elementaren Tatsachen des Zusammenle­ bens in einer modernen Gesellschaft begründet anzusehen denn als kontin­ gente Unvollkommenheit der Welt. Und nur eine sehr starke kosmopoliti­ sche Theorie idealer Gerechtigkeit weist daher Züge einer Utopie der Staatenlosigkeit auf, wie sie nach Auffassung mancher den Kosmopolitismus schlechthin auszeichnet. Der Preis einer solchen Rekonstruktion kosmopoli­ tischen Denkens liegt natürlich darin, dass dessen Konturen etwas ver­ schwimmen.21 Man könnte das allerdings auch als einen Vorzug betrachten. 20  Ob und inwiefern das tatsächlich der Fall ist, darüber lässt sich streiten. Parti­ kularisten sollten mit dieser Annahme aber keine Probleme haben, außer dass sie ihnen nicht weit genug geht. 21  Was die Bekämpfung globaler Armut angeht, so können sich schwache Parti­ kularisten und Kosmopoliten aber ohnehin relativ leicht auf einige Forderungen ei­



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Immerhin wird auf diese Weise die Basis für eine politische Verständigung verbreitert, die sich nicht in scholastischen Haarspaltereien verliert. V. Kosmopolitische Theorie und Praxis Bei allem, was man am Partikularismus aussetzen mag – auch der Kos­ mopolitismus hat seine Probleme. Vor allem der real implementierte Kos­ mopolitismus weist eine Tendenz zum Verteilungsgerechtigkeitsminimalis­ mus auf und leistet augenscheinlich der Ungleichheit innerhalb der wohl­ habenden Staaten Vorschub. Die Struktur des Problems stellt sich in etwa folgendermaßen dar: Inter- und supranationale Institutionen beschränken die sozial- und fiskalpolitischen Möglichkeit von Staaten, indem sie die Öff­ nung von Märkten sowie deren Liberalisierung gebieten, ohne selbst über Kompetenzen und demokratische Verfahren für nennenswerten sozialen Ausgleich zu verfügen. Was unter solchen Bedingungen von der Orientie­ rung am Ziel der sozialen Gleichheit bleibt, sind Anti-Diskriminierung, et­ was Armenhilfe und Konsumentenschutz. Damit verfestigt sich ein Diskurs der „Treffsicherheit“ sozialer Leistungen und – da gesellschaftliche Proble­ me nun vorzugsweise als „kulturelle Konflikte“ verstanden werden – des „diversity management“. Besonders deutlich werden diese Defizite neolibe­ raler politischer Transnationalisierung in der Europäischen Union, wo die Gratwanderung zwischen Vermarktlichung und technokratischer Regulierung geradezu Programm ist.22 Wir können hier durchaus von einer „Entpolitisierung“ der sozialen Ge­ rechtigkeit sprechen. Eine wesentliche Ursache dafür liegt in den politischen Institutionen und Entscheidungsverfahren, die dem Postulat der demokrati­ schen Beteiligung immer weniger gerecht werden. Komplexe transnationale Verhandlungen und Beratungen geben (fast) alle Macht finanzstarken, Par­ tikularinteressen verfolgenden Lobbys und sogenannten „Experten“. Für die breitere Öffentlichkeit werden von den wahlwerbenden Parteien, wie es scheint, mehr denn je Theaterstücke aufgeführt, die spontane, wenn auch vielleicht etwas widerwillige Akzeptanz generieren, ein Sich-Fügen ange­ sichts unüberwindbar scheinender „Sachzwänge“, die hauptsächlich rationa­ les Management verlangen würden – und natürlich die bekannten Affekte nigen, insbesondere auf die Abschaffung des Rechts von Regierungen souveräner Staaten, völlig frei über die natürlichen Ressourcen des eigenen Landes zu verfügen und nach Belieben Kredite auf dem globalen Kapitalmarkt aufzunehmen. Diese bei­ den Privilegien fördern, wie Pogge gezeigt hat, nicht nur Unverantwortlichkeit, Misswirtschaft und Korruption, sondern bieten überdies noch einen Anreiz, sich gewaltsam an die Macht zu bringen. 22  Vgl. Somek 2011.

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gegen „Fremde“ und andere, für die der Staat angeblich allzu viel Geld ausgibt. Mit Bezug darauf spricht man heute auch von „Postdemokratie“.23 Ein Gesellschaftsverständnis, welches eine anspruchsvollere Konzeption sozialer Gleichheit zwar nicht unumstritten macht, aber doch als eine dis­ kutable Option erscheinen lässt, gedeiht erfahrungsgemäß aber nur dort, wo es machtvolle kollektive Akteure gibt, die dafür sorgen, dass die Interessen der sozial relativ Schwachen, nicht allzu leicht übergangen werden können: z. B. Gewerkschaften. Man mag von einzelnen ihrer Aktivitäten und Posi­ tionierungen halten, was man will, doch wenn der faktische Zwang zur Rechtfertigung gegenüber solchen Akteuren wegfällt, degeneriert die politi­ sche Argumentation fast unweigerlich zu einem bloßen Unternehmen der Produktion und Reproduktion von Phrasen und Mythen.24 Mit anderen Worten: Die kosmopolitische Theorie kann zwar mit schlüs­ sigen „policy“-Analysen und Kritiken am Wohlstandschauvinismus reicher (Post-)Industrienationen sowie an den Ungerechtigkeiten internationaler Regime aufwarten. Sie tut sich aber schwer mit Politik im Sinne eines Pro­ zesses der kollektiven Entscheidungsfindung. Ihre Skepsis gegenüber staat­ licher Souveränität und „provinziellem Denken“ führt, ins Praktische ge­ wendet, oft dazu, dass vom Kompetenzverlust des Staates die ohnehin schon Gutgestellten überproportional profitieren. Organisationen, welche die Inte­ ressen der Schlechtergestellten bzw. der „local players“ in einem Staat vertreten geraten allzu leicht in den Verdacht, illegitimen Protektionismus auf Kosten noch viel Ärmerer zu betreiben oder zu propagieren. Meinen es Kosmopoliten dagegen mit globaler sozialer Gleichheit wirk­ lich ernst, legen sie nicht selten ein Gleichheitsverständnis zugrunde, wo­ nach es im Wesentlichen auf die Neutralisierung von Zufälligkeiten an­ kommt, die andernfalls eine Ungleichverteilung zur Folge hätten.25 Es gelte, Ungleichverteilungen zu vermeiden bzw. zu korrigieren, soweit sie nicht 23  Vgl.

Crouch 2008. denke nur an die nach wie vor populäre, gleichwohl empirisch wie theo­ retisch bereits seit einiger Zeit desavouierte Idee des „trickle-down“. Ihr zufolge sickern Wohlstandgewinne der Reichen geradezu naturgesetzlich zu den Armen durch, sodass wesentlich gleichmäßigere Verteilungen von Einkommen und Vermö­ gen immer mit Wohlstandsverlusten für die Armen verbunden wären. Zu dieser und zu weiteren „Zombie-Ideen“ Quiggin 2010. 25  Bisweilen wird auch betont, dass es nicht um soziale Gleichheit an sich, wel­ che auch politische Gleichheit einschließt, gehe, sondern um einen Teilaspekt: dis­ tributive Gleichheit (vgl. Dworkin 2000, S. 12). Der Anschein, dass damit eine nennenswerte Präzisierung vorgenommen wurde, löst sich jedoch auf, sobald klar wird, dass (wie Dworkin selbst ausdrücklich einräumt) auch Rechte Gegenstand von Verteilungsentscheidungen sein können – ja, dass eigentlich ohnehin von Rechten die Rede ist, wenn über Institutionen der Verteilung materieller Güter diskutiert wird, nämlich von Rechten an diesen Gütern. 24  Man



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durch die eigenen Entscheidungen der Benachteiligten verursacht sind.26 So sind demnach etwa schlechtere Lebensaussichten aufgrund des Zufalls, in diesem und nicht jenem Land geboren worden zu sein, mit dem Gleichheits­ ideal unvereinbar. Dass der Versuch, ein solches Gleichheitsideal möglichst weitgehend zu realisieren, ob global oder nur national, zumindest in einer atemberaubenden Umverteilungsbürokratie münden muss, liegt auf der Hand. Für Politik jenseits von Sozialmanagement bliebe also auch im Rah­ men einer keineswegs minimalistischen Konzeption globaler Gerechtigkeit wenig Raum.27 Zuvor stellt sich aber schon die Frage, wer die Subjekte sein sollen, die eine solche globale Gleichheit herstellen und danach verlässlich bewahren könnten. Freilich ist es nicht ausgeschlossen, dass sich auch auf transnationaler Ebene handlungsfähige Gerechtigkeitsbewegungen bilden, die ernstzuneh­ mende politische Akteure werden und eine kosmopolitische Praxis begrün­ den, welche über „social engineering“ hinausgeht. In Ansätzen findet dieser Prozess der (durchaus spannungsreichen) Vernetzung von global operieren­ den NGOs und mehr oder weniger lokalen Protestbewegungen bereits statt (etwa im Rahmen des World Social Forum). Doch soweit das kosmopoliti­ sche Denken nicht primär auf die Begrenzung staatlicher Gestaltungsmög­ lichkeiten zwecks Vergrößerung wirtschaftlicher Freiheiten abzielt, sind seine Auswirkungen auf die „große“ Realpolitik noch recht bescheiden. Sogar von jenen grundlegenden, gleichwohl überschaubaren Veränderungen internationaler Institutionen (einschließlich ihrer Entscheidungsverfahren), die notwendig wären, um wenigstens die extreme Armut in vielen Regionen effektiv zu bekämpfen, scheinen wir weit entfernt zu sein – und das, ob­ wohl die sich Kosten dafür in engen Grenzen halten würden (gemessen an dem, was z. B. für militärische Rüstung ausgegeben wird oder was uns die Rettung von strauchelnden Großbanken wert ist). Vor allem aber scheinen viele Visionen „transnationaler Demokratie“ ohne jene Elemente auszukommen, die nach verbreiteter Auffassung essen­ ziell sind für eine Demokratie: Parteien, Wahlen und Mehrheitsentscheidun­ gen. Stattdessen ist viel die Rede von „Deliberation“ zwischen Regierungs­ vertretern, wissenschaftlichen Experten, NGOs, betroffenen Bürgern und Sprechern minoritärer Gruppen.28 Das mag allzu luftig und unverbindlich 26  Vgl.

Temkin 1993, S. 13; Cohen 2008, S. 7. diesem Einwand sehen sich allerdings sämtliche Gerechtigkeitstheorien konfrontiert, die sich nicht mit der Konstatierung „vernünftiger Meinungsverschie­ denheiten“ oder Beschwörungen „des Politischen“ zufrieden geben, sondern zu ex­ plizieren versuchen, was aus welchen Gründen unter diesen und jenen Bedingungen tatsächlich geboten wäre. 28  Vgl. etwa Nanz 2006, S. 81. 27  Mit

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anmuten29, ein zwingendes Argument gegen das kosmopolitische Paradigma sozialer Gerechtigkeit ergibt sich daraus aber nicht. Abgesehen davon, dass, wie gesagt, die Frage der Gerechtigkeit bei allen Verschränkungen nicht identisch ist mit der Legitimitätsproblematik und wir bei kollektiven Vertei­ lungsentscheidungen, die aus guten Gründen in unsere Kompetenz fallen, durchaus angehalten sein können, die Interessen Unbeteiligter zu berücksich­ tigen: Der Partikularismus schneidet im „Praxistest“ keineswegs besser ab. Unter Bedingungen der Globalisierung blieben vielen Staaten selbst dann, wenn sie nicht in inter- und supranationale Regime eingebunden wären, relativ wenig Spielraum für eine anspruchsvolle Politik sozialer Gerechtig­ keit. Nationale Politik wäre weiterhin zu einem guten Teil „Standortpolitik“, in der um die optimale Anpassung an unverfügbare transnationale soziale Entwicklungen gerungen wird. Eine Pluralität formal sehr unabhängiger Staaten schafft für viele von ihnen ähnliche Adaptionszwänge wie atomisti­ scher Individualismus und weitgehende Vermarktlichung sozialer Beziehun­ gen. Hinzu kommt, dass die realen politischen Bedingungen für die Durch­ setzung von Forderungen der sozialen Gerechtigkeit innerhalb demokrati­ scher Staaten heute nicht mehr so verschieden sind von den Bedingungen in der globalen oder regionalen Sphäre. Wer ist der Adressat von Forderun­ gen sozialer Gerechtigkeit oder von Gerechtigkeitsnormen in einem demo­ kratischen Staat, wenn nicht ein durch verschiedene Interessen und Macht­ potenziale entzweites sowie durch politische Apathie stark virtualisiertes Kollektiv? Auf den Ebenen jenseits des Staates scheint das Adressatenpro­ blem lediglich empirisch ein wenig potenziert. Solidarität, politische Koope­ ration und kollektive Selbstbestimmung im Rahmen eines Staates werden stärker denn je konterkariert durch eine „entwickelte Konsumgesellschaft mit ihrer ausdifferenzierten, privatisierten und individualistischen Bedürfnis­ struktur [sowie durch] die gestiegene internationale Mobilität nicht nur des Kapitals, sondern auch der Arbeit“.30 Und die Ursache dafür liegt kaum in der Wirkmacht kosmopolitischer Gerechtigkeitstheorien.31 Auch die etwas größere Übersichtlichkeit der Problemlagen, die der Parti­ kularismus für die internationale Politik dadurch zu schaffen scheint, dass er 29  Somek

2010, S. 26–30. 2010, S. 30. 31  Besonders augenscheinlich ist die politische Desintegration in den USA, wo Solidarität und Patriotismus nach verbreiteter Auffassung implizieren, ein System der Entscheidungsfindung hochzuhalten, das ernsthafte Sozialpolitik, von der die Masse der Bevölkerung profitieren würde, geradezu unmöglich macht (vgl. Ha­ cker  /  Pierson 2010). Hier gehen partikularistische Skepsis gegenüber Völkerrecht und Denationalisierung politischer Entscheidungsfindung Hand in Hand mit tiefsit­ zenden Vorbehalten gegenüber einer Konzeption sozialer Gerechtigkeit, die sehr Wohlhabenden mehr als nur ein Minimum an materieller Solidarität abverlangt. 30  Streeck / Mertens



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globale soziale Gerechtigkeit von der Agenda nimmt bzw. auf Erwägungen der Suffizienz und der Fairness zwischen Staaten zusammenkürzt, kann in Zweifel gezogen werden. Der Preis partikularistischer Konzeptionierung glo­ baler Probleme ist jedenfalls eine gewisse Entkoppelung oder sogar Entfrem­ dung von den Kämpfen um Gerechtigkeit, die transnationale Bewegungen (zum Teil gegen die Regierungen von Staaten, in denen sie ihren Ursprung haben) führen. Dieser Preis mag derzeit aus weltpolitisch-realistischer Pers­ pektive32 klein erscheinen, unbeachtlich ist er nicht. Und auch wenn solche Kämpfe oft auf lokale Bedürfnisse (nach Erhalt von Lebensraum, menschen­ würdiger Arbeit, medizinischer Versorgung etc.) zurückgehen, so zielen sie doch auf eine gerechte Gestaltung inter-, supra- und transnationaler Institutio­ nen ab. Gleichwohl können Kosmopoliten ohne weiteres einräumen, dass sich die Gerechtigkeit dieser Institutionen zum Teil daran bemisst, wie sie es er­ möglichen, die Verhältnisse innerhalb von Staaten gerechter oder zumindest zu einem Gegenstand kollektiver Selbstbestimmung zu machen, die ihren Na­ men verdient und nicht bloß eine euphemistische Bezeichnung ist für die Herrschaft nationaler, aber transnational gut vernetzter Eliten. Wie jegliches vernünftige politische Denken oszilliert auch der Kosmopolitismus zwischen Transzendierung, Optimierung und Konservierung des Status quo. Soll in seinem Zentrum der Wert der sozialen Gleichheit stehen, müsste dieser aber wohl anders verstanden werden, als dies im Mainstream der analytischen politischen Philosophie üblicherweise geschieht. Doch eine egalitaristische Kritik am soziologisch und politisch einigermaßen sterilen Zufallsegalitarismus scheint unabhängig von der Kosmopolitismus / Partiku­ larismus-Debatte angebracht.33 Nach dieser Kritik hat der Diskurs der so­ zialen Gleichheit von Beziehungen zwischen Menschen zu handeln – von Beziehungen, die sich über die Verteilung einer Vielzahl sozialer Güter vermitteln. Und dazu gehört eben auch die Möglichkeit zur politischen Partizipation. Literatur Anderson, Elisabeth S. (1999): What Is the Point of Equality? Ethics 109 (2), S. 287–337. Blake, Michael (2002): Distributive Justice, State Coercion, and Autonomy. In: Phi­ losophy and Public Affairs 30, S. 257–296. Caney, Simon (2008): Global Distributive Justice and the State. Political Studies 56, S. 487–518. 32  Und auch angesichts der Vorbehalte gegen die Idee, sie könnten den Keim für eine Transnationalisierung der Demokratie bilden. 33  Vgl. Anderson 1999; Scheffler 2003; Hiebaum 2010.

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Was bleibt vom Naturrecht?* Zur Frage nach den normativen Grundlagen sozialer und politischer Ordnung Von Michael Henkel I. Einleitung Die vorliegende Abhandlung versteht sich als Beitrag zu einem wissen­ schaftlichen und philosophischen „Programm“, das seit einigen Jahren vor allem unter dem Titel „Sozialontologie“ in den Sozialwissenschaften und in der Sozialphilosophie international eine zunehmende Aufmerksamkeit er­ fährt.1 Es geht also im folgenden um Fragen der Sozialontologie und zwar in der Perspektive einer bestimmten geistesgeschichtlichen Entwicklung – nämlich derjenigen des Naturrechtsdenkens. Was dabei unter Sozialontolo­ gie zu verstehen ist, wird später im Zusammenhang mit der Diskussion der hier zu begründenden These zu erläutern sein. Die These lautet: Die über­ kommene Naturrechtslehre stellt die Sozialwissenschaften vor die Heraus­ *  Der vorliegende Text stellt eine geringfügig überarbeitete Fassung meines öf­ fentlichen Habilitationsvortrages dar, den ich im Februar 2009 an der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena gehal­ ten habe. 1  Selbstverständlich gibt es mehrere untereinander durchaus verschiedene Varian­ ten von Sozialontologie, weshalb die hier vorgestellte nur eine Spielart darstellt. Auch existieren für das hier angesprochene „Programm“ neben der Kennzeichnung als „Sozialontologie“ andere Bezeichnungen. Siehe aus der jüngeren Literatur nur etwa Ulrich Wesser, Heteronomie des Sozialen. Sozialontologie zwischen Sozialphi­ losophie und Soziologie, Wiesbaden 2011; John Searle, Einige Grundprinzipien der Sozialontologie (2004), in: Hans Bernhard Schmid / David P. Schweikard (Hrsg.), Kollektive Intentionalität. Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen, Frankfurt am Main 2009, S. 504–533; ders., Die Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Reinbek 1997; Clive Lawson / John Latsis / Nuno Martins (Hrsg.), Contributions to Social Ontology, London 2007; Ludger Jansen, Was ist Sozialontologie?, in: Otto Neumaier  /  Clemens Sedmak  /  Michael Zichy (Hrsg.), Philosophische Perspektiven. Beiträge zum VII. Internationalen Kongreß der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie, Frankfurt am Main, Lancaster 2005, S. 279–284; Panajotis Kondylis, Das Politische und der Mensch. Grundzüge der Sozialontologie, Bd. 1 [einziger Band], Soziale Beziehung, Verstehen, Rationalität, aus dem Nachlaß hrsg. von Falk Horst, Berlin 1999.

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forderung, eine Ontologie des Sozialen, eine Sozialontologie zu entwickeln. Und umgekehrt: Die Fragen, die eine Sozialontologie zu beantworten ver­ mag, sind Fragen, die in der Vergangenheit gerade unter dem Titel des Naturrechts verhandelt wurden. Nachdem sich das Naturrecht in der Neuzeit, vor allem aber seit dem 19. Jahrhundert in einer Dauerkrise befindet, hat man sich insbesondere im 20. Jahrhundert und zumal in den Sozialwissenschaften weitgehend von ihm abgewandt, und zwar in der Meinung, daß das Naturrecht am Ende oder überwunden oder überflüssig oder sogar gefährlich wäre. Wenn im Titel dieses Beitrages danach gefragt wird, was denn vom Naturrecht bleibt, so scheint diese Frage auf den ersten Blick zu implizieren, daß auch hier der Auffassung vom Ende des Naturrechts gefolgt wird. Das gilt indes nur mit einer Einschränkung: Indem man sich nämlich in den Sozialwissenschaften vom Naturrecht abwandte, hat man zugleich auch Fragen ausgeblendet, um die sich das Naturrecht vormals immer wieder neu bemühte. Es sind dies aber Fragen, die für die Sozialwissenschaften, insbesondere für Soziologie und Politikwissenschaft, alles andere als gleichgültig sein können. Und wenn gerade in den letzten Jahren von verschiedenen Gelehrten sozialonto­ logische Ansätze präsentiert wurden, so ist dies wohl als Hinweis darauf zu werten, daß der entsprechende Mangel heute deutlich gesehen und Abhilfe für notwendig erachtet wird. Diese Fragen, die die Naturrechtslehren zu beantworten suchten, sind mithin nach wie vor aktuell, und ihnen ist im folgenden auf den Grund zu gehen. Die Darstellung ist folgendermaßen aufgebaut: Zunächst ist ein kritischer Blick auf den Begriff des Naturrechts und die Geschichte des Naturrechts­ denkens zu werfen (II.). Sodann wird im Anschluß an bestimmte naturrecht­ liche Positionen die Problemstellung der Sozialontologie dargelegt (III.), um in einem weiteren Schritt eine grobe Skizze dessen zu zeichnen, was unter Sozialontologie verstanden werden kann (IV.). Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Sozialontologie können hier zwar nicht mehr in extenso dis­ kutiert werden, doch sind im abschließenden Kapitel einige Punkte her­ vorzuheben, die den Charakter der Sozialontologie beleuchten (V.). II. Natur und Naturrecht in der Geschichte des Naturrechtsdenkens 1. Aspekte der neuzeitlichen Naturrechtsdebatte bis zu Immanuel Kant Als herausragende Gestalt des spezifisch neuzeitlichen Naturrechtsden­ kens gilt Thomas Hobbes, der seine Konzeption im Rahmen einer umfas­



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senden Philosophie entfaltet hat. In seiner Begründung dafür, warum es rational ist, dem Staat und seinen Rechtsregeln zu gehorchen, rekurriert Hobbes auf den Begriff der Natur, der bei ihm insbesondere in Gestalt eines gedachten Naturzustandes diskutiert wird. Das macht zunächst deutlich, daß Hobbes als Naturrechtsdenker anzusprechen ist, und dies entspricht ganz seinem Selbstverständnis. Charakteristisch nun ist, daß für Hobbes Politik und Staat zwar ihren Grund in der Natur finden, ihrer Eigenart zufolge aber gerade die Natur überwinden: Der Staat und das staatskonstitutive Handeln – also das im eminenten Sinne politische Handeln – sind dadurch gekenn­ zeichnet, daß sie den Naturzustand hinter sich lassen. Staat und Politik sind in diesem Sinne gerade nicht Natur oder natürlich, sondern künstlich, wobei Natur und Kunst einander gegenübergestellt werden. Üblicherweise erkennt man in dieser Konstruktion des Hobbes einen entscheidenden Bruch in der Entwicklung des Naturrechtsdenkens. Dieser Bruch besteht eben darin, daß Politik und politische Ordnung als artifizell, als nicht-natürlich ausgewiesen werden. Die vor-hobbessche oder vor-neuzeitliche Tradition aber hatte dies genau umgekehrt gesehen. Bekanntlich bestimmt Aristoteles und mit ihm jene Tradition den Menschen als das von Natur politische Lebewesen und Politik bzw. politisches Handeln als einen Aspekt der physis, der Natur.2 Es liegt auf der Hand, daß es entscheidend ist, welcher Naturbegriff den sozial- und politiktheoretischen Erwägungen zugrundegelegt wird. Und gera­ de dieser Begriff erfuhr zu Beginn der Neuzeit einen tiefgreifenden Wandel, der aufs engste mit der Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaften, insbesondere der Physik zusammenhing. Deren Fortschritte hatten dazu ge­ führt, daß man teleologische Gesichtspunkte aus der Erklärung der Natur aus­ klammerte bzw. daß man teleologische Erklärungen der Phänomene auszu­ schließen suchte. An die Stelle eines Universums, in dem es Zwecke gibt, welche die Veränderungen verursachen, trat ein Universum, in dem es nur­ mehr kausale Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge geben sollte, ein mecha­ nisches Universum. Aristoteles und die sich auf ihn berufende Tradition hat­ ten Natur aber geradezu mittels des Telosbegriffes bestimmt. Ausdrücklich hebt Aristoteles in der Physikvorlesung den teleologischen Aspekt des Natur­ begriffs hervor. Wichtig ist hier allerdings zu sehen, daß sich Natur bei ihm keineswegs im Streben nach einem Ziel, verstanden als ein Endpunkt, er­ schöpft. Zuerst nämlich ist Natur für Aristoteles das Wesen von solchen Din­ gen oder Seienden, die ein Bewegungsprinzip in sich selbst und als solche haben.3 Damit ist angedeutet, daß die Kluft zwischen Aristoteles und neuzeit­ 2  Siehe die Bestimmung des Menschen als zoon politikon in Aristoteles, Politik, 1253a 2. 3  Siehe F. P. Hager et al., [Artikel] Natur, in: HWP, Bd. 6, Sp. 421–478, hier: Sp. 430 [F. P. Hager].

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lichen Denkern wie namentlich etwa Hobbes weniger groß ist, als es auf den ersten Blick scheint. Daran ist zu erinnern, um später die Traditionslinie so­ zialontologischen Denkens deutlicher hervortreten zu lassen.4 Der Wandel des Naturbegriffs in der frühen Neuzeit stellte jedenfalls für die praktische Philosophie, namentlich für die Naturrechtslehre eine fun­ damentale Herausforderung dar, und Hobbes gehörte zu jenen, die diese Herausforderung annahmen. Tatsache bleibt, daß Hobbes versuchte, seine politische Theorie auf der Grundlage einer prinzipiell mechanistischen, ­ nicht teleologischen Naturauffassung und einer entsprechenden Lehre vom Menschen aufzubauen.5 Das konnte ihm nicht zuletzt deshalb gelingen, weil sich mit dem Naturbe­ griff auch der Vernunftbegriff verändert hatte. Der Begriff der Vernunft steht ja im Grunde im Zentrum des Hobbesschen politischen Argumentes, und da­ rin steht Hobbes zunächst ganz in der Naturrechtstradition, die er vorfand. Und auch wenn Hobbes keineswegs dasselbe unter Vernunft verstand wie die Denker der Antike und des Mittelalters, so galt doch auch ihm die Vernunft als die Quelle sozialer und politischer Normativität. Denn im Naturzustand ist es bei Hobbes die Vernunft, die die von Leidenschaften angetriebenen Menschen den Weg zum politischen Frieden, zur Gründung des Staates suchen und fin­ den läßt, die Gesetze der Natur sind „dictates of reason“.6 Diese „dictates of reason“ stehen schließlich hinter jenem Vertragsmodell, mit dem Hobbes den Übergang von der Natur zur Kultur auf den Begriff bringt. Die naturüberwindende und doch von der Natur erzwungene Kultur wird hier übrigens gleichursprünglich mit der Politik: Keine Kultur ohne Politik und vice versa. Daß die Natur bei Hobbes – nicht anders als etwa bei John Locke – ein Argument bleibt, bedeutet, daß seine politische Theorie an eine von ihm breit ausgeführte Naturlehre anknüpft. Immerhin ist Hobbes zu den Begrün­ dern des modernen mechanistischen Naturbegriffs zu rechnen,7 von dem 4  Längst ist sich die Hobbes-Forschung einig, daß das Bild von Hobbes als dem Fundamentalkritiker des Aristoteles und des Aristotelismus’ – ein Bild, das Hobbes selbst gezeichnet hat –, die Zusammenhänge nicht angemessen wiedergibt. Mit an­ deren Worten ist Hobbes viel mehr Aristoteliker, als er glauben machen wollte. 5  Siehe Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte (1953), 2. Auflage, Frankfurt am Main 1989, S. 177 f. 6  Thomas Hobbes, Leviathan Or the Matter, Forme and Power of a Common­ wealth Ecclesiasticall and Civil (1651), edited by Michael Oakeshott, with an Intro­ duction by Michael S. Peters, New York 1999, Kap. XV (hier: S. 124). 7  Siehe François Tricaud, Thomas Hobbes, Doxographie, in: Jean-Pierre Schobin­ ger (Hrsg.), Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 3, England, Basel 1988, S. 134–160, hier: S. 145.



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ausgehend er auch seine politische Theorie konzipiert – weshalb er hier etwas ausführlicher dargestellt werden soll. Nach Hobbes’ materialistischer Naturlehre gibt es in der Welt nur bewegte Körper, weshalb namentlich die Tiere und Menschen Körper, und zwar durch bestimmte Merkmale gekenn­ zeichnete Körper sind. Für die Menschenkörper charakteristisch sind vor allem die Empfindungen, die Hobbes materialistisch und durch, ja als Be­ wegung erklärt. Gleich zu Beginn des Leviathan etwa erläutert Hobbes das Entstehen von Empfindungen durch einen direkten oder indirekten Druck auf das periphere Sinnesorgan eines Tieres und eben auch des Menschen. Dazu schreibt er: „Dieser Druck (pressure) setzt sich durch die Vermittlung der Nerven und anderer Stränge und Membranen des Körpers nach innen bis zu dem Gehirn und Herzen fort und verursacht dort einen Widerstand (resistance) oder Gegendruck (counter-pressure) oder ein Bestreben des Herzens, sich davon freizumachen. Da dieses Bestreben nach außen gerichtet ist, scheint es eine äußere Materie zu sein. Und dieser Schein (seeming) oder diese Einbildung (fancy) ist das, was die Menschen Empfindung (sen­ se) nennen“.8 Eine Empfindung ist demnach eine Bewegung, und „was der Mensch direkt davon spürt, ist nur das Erscheinen dieser Bewegung; es ist, ontologisch betrachtet, nichts Substanzielles“.9 Mit anderen Worten hat der Mensch bei Hobbes keinen unmittelbaren „Kontakt“ zur Außenwelt oder zu den äußeren Objekten, was seinem Ansatz einen phänomenalistischen oder – in gewisser Weise – „konstruktivistischen“ Grundzug vermittelt. Von den skizzierten Überlegungen aus entfaltet Hobbes dann die Kon­ zepte des Gedächtnisses, des Denkens, der Sprache, der Vernunft, der Lei­ denschaften, des Willens usw., also letztlich auch die Eigenart des Men­ schen. Dies ist noch etwas weiterzuverfolgen: Die Vernunft, die neben den Leidenschaften das Sozialleben der Menschen durchwirkt, ist für Hobbes ein artifizieller Sonderfall der Sprache, sie umfaßt neben dem wissenschaft­ lichen Denken auch das Urteilsvermögen. Die soziale Situation der Men­ schen ist dadurch geprägt, daß zwischen deren Vernunfturteilen und -an­ sprüchen Konflikte entstehen, die die natürliche Situation des Menschen ausmachen und „ein gemeinsames Maß für alle Dinge, die zu Streitigkeiten Anlaß geben“10 notwendig machen.11 Vernunft und Klugheit aber bleiben 8  Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates (1651), hrsg. und eingeleitet von Iring Fetscher, 4. Auflage, Frankfurt am Main 1991, Kap. I (hier: S. 11; engl. S. 21). 9  Tricaud, Doxographie, S. 134. 10  Thomas Hobbes, Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgrün­ den (Elements of Law), mit einer Einführung von Ferdinand Tönnies, mit einem Vorwort zum Neudruck 1976 von Arthur Kaufmann, [Nachdruck] Darmstadt 1990, II, Kap. 10, 8 (hier: S. 209). 11  Siehe Tricaud, Doxographie, S. 145.

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Instrumente oder Mittel,12 während es die Leidenschaften sind, die die Zwe­ cke der Menschen verursachen. Und die Leidenschaften werden von Hobbes mittels bestimmter Begriffe der Bewegung erläutert, wobei die vitale Bewe­ gung elementar ist, an die dann die animalischen oder willentlichen Bewe­ gungen anknüpfen bzw. aufbauen.13 Was hat es mit der vitalen Bewegung auf sich? Sie ist gewissermaßen der Selbsterhaltungstrieb, den Hobbes mit bestimmten Körperprozessen (Blut­ kreislauf, Puls, Atmung, Verdauung) ineins setzt. „Die Lust und der Schmerz entstehen aus dem Zusammentreffen dieser vitalen Bewegung mit der durch das äußere Objekt in den Organismus eingeführten Bewegung. […] Diese Bewegung äußeren Ursprungs [ruft] eine vom Herzen ausgehende reaktive Bewegung hervor, die das organische Substrat der Empfindung ist. Doch hat sie noch eine andere, nicht weniger wichtige Wirkung: Indem sie das Herz erreicht, wo das ‚Prinzip des Lebens‘ (Kap. 25, 12) sitzt, fördert oder hemmt sie die vitale Bewegung. Das Subjekt empfindet die Förderung als Lust, die Hemmung als Schmerz. Auch hier ist das, was bewußt gefühlt wird, nur das Epiphänomen eines mechanischen Geschehens, das in den Tiefen des Organismus verborgen ist“.14 So erweist sich die Anthropologie des Hobbes in gewisser Weise als Bestandteil seiner Physik, ohne daß sie sich darin erschöpfte; vielmehr geht seine praktische Philosophie und damit seine Naturrechtskonzeption über diese Physik in spezifischer Weise hinaus. Es muß aber festgehalten wer­ den, daß Natur bei Hobbes eben ein mit den Wissenschaften seiner Zeit konvergierendes elaboriertes Konzept darstellt, ohne das seine Theorie so­ zialer und politischer Normativität, namentlich seine Vertragslehre, nicht denkbar ist. Indes geriet das Naturrechtsdenken in den Zeiten nach Hobbes oder Lo­ cke, genauer: in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in eine neue grundlegende Krise. Die Krise wurde ihrerseits nicht unwesentlich durch den Fortgang der Naturwissenschaften hervorgerufen, durch welche das Naturrechtsdenken in spezifischer Weise unter Druck geriet.15 Dieser kom­ plexe geistesgeschichtliche Vorgang kann hier nicht rekapituliert werden, er soll nur gewissermaßen in seinen Resultaten veranschaulicht werden. Hier­ für sei zunächst an Descartes erinnert, den Zeitgenossen des Hobbes, dessen 12  „Im

Rang von Mitteln“ (ebd., S. 146). ebd.

13  Siehe 14  Ebd.

15  Siehe dazu Gunter Scholz, Vom Naturrecht zum Rechtspositivismus (zuerst 1988), in: ders., Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften, Frankfurt am Main 1991, S. 55– 80, hier: S. 58.



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Denken für jene spätere Entwicklung bereits charakteristisch ist. Für Des­ cartes war die Welt gewissermaßen zweigeteilt, aufgegliedert nämlich in die intellektuellen oder denkenden Dinge (res cogitantes) und die ausgedehnten Dinge, die Körper (res extensae), die greifbar, meßbar, berechenbar sind. Dieser Aufteilung der Welt folgte etwa und in durchaus spezifischer Weise Immanuel Kant, und auf ihrer Linie liegt dann auch die Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, die beispielswei­ se einem Hobbes so noch völlig fremd war. Für die hier verfolgte Fragestellung ist kurz bei Kant zu verweilen. In einer etwas groben Vereinfachung kann man konstatieren, daß bei dem Königsberger Philosophen die cartesische Zweiteilung in der Weise wieder­ kehrt, daß die Natur hier dem vorausgesetzten Faktum der Vernunft dort gegenübergestellt wird. Die Vernunft ist es dabei bekanntlich, die als theo­ retische Vernunft der Natur a priori die Gesetze aufzwingt und die als reine praktische Vernunft dem menschlichen Willen die sittlichen Normen, ge­ nauer: das Sittengesetz vorschreibt, worin der Mensch seine Autonomie, seine Freiheit hat. In der Metaphysik der Sitten etwa konstatiert Kant aus­ drücklich, die praktische Philosophie habe „nicht Natur, sondern die Freiheit der Willkür zum Objecte“.16 Zwar spricht er dort explizit auch von der „Natur des Menschen“,17 doch bleibt entscheidend, daß dieser Natur gegen­ über die Welt der ethischen Normen und Werte unabhängig ist. Ihr weist Kant den Status einer „nur durch Erfahrung“ zu erkennenden Wirklichkeit zu. Dementsprechend kann „eine Metaphysik der Sitten“, wie es dann heißt, „nicht auf Anthropologie gegründet, aber doch auf sie angewandt werden“.18 Es ist auf den ersten Blick klar, daß aus einer solchen Perspektive von Naturrecht nicht mehr die Rede sein kann, sondern von Vernunftrecht die Rede sein muß, und zwar von einem Vernunftrecht, das in eigentümlicher Weise jenseits der Natur seinen Ort hat.19 Dementsprechend wird denn auch konstatiert, daß gerade Kant „der älteren Naturrechtslehre ein Ende [berei­ tet]“ und zugleich mit seinem Entwurf „das Naturrecht auf eine solidere Basis“ gestellt habe, wie Gunter Scholz schreibt. Was diese solidere Basis sei, erläutert Scholz sogleich: es ist die „Basis der reinen, d. h. erfahrungs­ freien, praktischen, d. h. aufs Handeln bezogenen Vernunft“. Und weiter: 16  Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), in: ders., Werke [Akade­ mie-Ausgabe], Bd. VI, Berlin 1968, S. 203–493, hier: S. 216. 17  Ebd., 217. 18  Ebd. 19  Bei Kant sei die Natur „ein zu Vernichtendes“, stellt Hegel (Glauben und Wis­ sen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie (1802), in: ders., Je­ naer Schriften 1801–1807 [= Werke, Bd. 2], Frankfurt am Main 1970, S. 287–433, hier: S. 420) fest.

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„Das Naturrecht gründet sich nun auf die Freiheit, und die Freiheit ist zu­ gleich für Kant das einzige ‚angeborene Recht‘. Dadurch sind die Bereiche des Seins und des Sollens, sind Natur und Sittengesetz nun streng geschieden“.20 2. Aspekte der Naturrechtsdebatte in der Zeit nach Kant bis zum Historismus Es stellte sich alsbald heraus, daß die von Kant gelegte Basis tatsächlich alles andere als solide war. Die auf Kant folgende Diskussion knüpfte ei­ nerseits an den Königsberger an, strebte aber andererseits rasch über ihn hinaus. Entscheidend war hier in erster Linie die Entdeckung, daß die von Kant durchaus statisch und universal begriffene Vernunft geschichtlich ist, also Geschichte hat, ja, daß die Vernunft selbst in der Geschichte gewisser­ maßen erst zur Vernunft kommt. Die Suche nach apriorischen und univer­ salen Grundlagen normativer Ordnungen erwies sich von dieser Entdeckung aus als im Grunde vergebliches Mühen, womit die Konzeption eines Ver­ nunftrechts im Sinne Kants in ihren Grundlagen erschüttert war. Es war namentlich Hegel, der den vernunftrechtlichen Ansatz Kants und des Kantianismus’ mit seinem Konzept der dialektisch sich entwickelnden Sittlichkeit beiseite schob. Hegel verortete die normativen Grundlagen so­ zialer und politischer Ordnung mittels des Geistbegriffes in den Interak­ tionszusammenhängen kollektiver Lebensweisen, also in der Praxis, ist doch Geist bei ihm letztlich Sozialität. Mit ebendiesem Gedanken aber bereitet Hegel wichtige Grundlagen für eine Sozialontologie, doch ist die Sozialontologie selbstverständlich keines­ wegs ein an sich oder ausschließlich „hegelianisches“ Projekt. Indes ist einen Moment bei Hegel zu verweilen. Daß Hegel eine Verzeit­ lichung des Vernunftbegriffes vornimmt, bedeutet nicht, daß sein Vernunft­ begriff per se partikularistisch oder relativistisch ist. Hegel hält an einem Universalismus durchaus fest, wenngleich dieser Universalismus seinerseits historisch vermittelt wird. Ebendeshalb kann er von einer Weltgeschichte sprechen, die mit Blick auf die ethischen Verhältnisse eine eindeutige Richtung aufweist. Indem die Weltgeschichte nämlich Geschichte des ­ „Fortschritt[s] im Bewußtsein der Freiheit“21 ist, hat sie zugleich einen universalen oder vielleicht richtiger: einen globalen Horizont, denn für He­ gel, der Aufklärer war, ist es unstreitig, daß die Selbsterkenntnis des Men­ 20  Scholz,

Naturrecht, S. 59. Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Ge­ schichte, [= Werke, Bd. 12], Frankfurt am Main 1970, S. 32. 21  Georg



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schen als freies Wesen nicht nur unaufhaltbar, sondern im Grunde erst dann gänzlich erfüllt ist, wenn sie von ausnahmslos allen Menschen vollzogen wird.22 Der Universalismus, den wir bei Hegel also in spezifischer Weise noch finden, wird erst in der auf ihn folgenden Zeit preisgegeben, nämlich durch die historische Schule bzw. den Historismus. Der Historismus, verstanden als die Auffassung, daß Normen, Werte und andere kulturelle Gehalte durch ihre konkret historische Genese zugleich auch von bloß historischer Geltung sind, riß im Grunde alle Brücken zur natur- und vernunftrechtlichen Tradi­ tion ab. Es war der Historismus, der mit der ihm eigentümlichen Überzeu­ gungskraft dazu führte, daß man jedenfalls im Deutschland der Epoche vor dem Ersten Weltkrieg weithin der Meinung war, das Naturrechtsdenken sei überwunden.23 3. Humanwissenschaften und praktische Philosophie vom Historismus bis zur Gegenwart Das Jahrhundert nach Hegels Tod, das den Aufstieg des Historismus sah, war eine Zeit vielfältiger Ausdifferenzierungsprozesse in den Wissenschaf­ ten, die als Erfahrungswissenschaften rasante Erfolge aufzuweisen hatten. Im Bereich der Humanwissenschaften entstand mit dem Historismus eine methodisch reflektierte Geschichtswissenschaft, die überkommene Staats­ wissenschaft differenzierte sich aus in Jurisprudenz, Nationalökonomie und Soziologie, welche Disziplinen ihrerseits eine zunehmende Zahl von Sub­ disziplinen ausbildeten. Der philosophische Geist, der die rasch sich entwi­ ckelnden und reiche Früchte tragenden Wissenschaften des 19. Jahrhunderts begleitete, reflektierte und mitprägte, war ganz überwiegend – wenn auch keineswegs ausschließlich – der Geist des Positivismus. Die Philosophie selbst stand unter dem prägenden Eindruck des Erfolgs der positiven Wis­ senschaften und richtete einen erheblichen Teil ihres Interesses auf erkennt­ nis- und wissenschaftstheoretische Fragestellungen, mit denen man die in­ tellektuellen Grundlagen der Wissenschaften zu ergründen suchte. Der phi­ losophische Ansatz, dessen man sich dabei bediente, war der Neukantianis­ mus, der in Deutschland das dominierende philosophische Paradigma in der Zeit des Kaiserreiches darstellte und der von einem spezifischen Rückgriff 22  Insoweit kann man in Hegel durchaus auch einen Globalisierungstheoretiker sehen. 23  Daß es allerdings auch im 19. Jahrhundert eine naturrechtliche Unterströmung (jenseits des katholischen Naturrechtsdenkens, von dem noch die Rede sein wird) gab, zeigen etwa die Beiträge in Diethelm Klippel (Hrsg.), Naturrecht im 19. Jahr­ hundert. Kontinuität – Inhalt – Funktion – Wirkung, Goldbach 1997.

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auf Kants theoretische Philosophie geprägt war. Wo aber hatte sich inner­ halb des sich ausdehnenden Disziplinenkanons der Wissenschaften die Re­ flexion über normative Grundfragen des Zusammenlebens einquartiert? Etwas pauschal kann man hierauf wie folgt antworten: Als normative Fragen, als Fragen nach dem Ursprung und der Geltung von Normen und Werten wurden sie einerseits nach wie vor in der Philosophie behandelt. Die (hauptsächlich neukantianische) Philosophie jener Zeit wies aber, wenn man das derart grob verkürzen darf, über Kants Erkenntnislehre nicht eigentlich hinaus. Auf der anderen Seite war es die Jurisprudenz, in deren Rahmen man entsprechende Überlegungen anstellte, doch war auch die Jurisprudenz in erheblichem Maße vom Neukantianismus einerseits, den Resultaten des Historismus, dessen juristischer Zweig die historische Rechtsschule bildete, andererseits geprägt. Insoweit gab es um 1900 in den Hauptströmungen von Philosophie und Jurisprudenz ein Anknüpfen an vernunftrechtliche Tradi­ tionen; ein Anknüpfen, das indes prekär war und blieb, da die Grundlagen jener Tradition längst und spätestens seit Hegel erschüttert waren. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg endete dann auch die Epoche des Neu­ kantianismus, und es war in der Tat die praktische Philosophie Hegels, die nun neue Aufmerksamkeit gewann. Durch allerhand historische Verwick­ lungen blieb diese sogenannte Hegelrenaissance (die nicht auf Deutschland beschränkt war) Episode – und zwar Episode bis in die jüngste Zeit hinein. Der kursorische Blick auf das nachhegelsche Jahrhundert bis zur Hegel­ renaissance in der Weimarer Zeit offenbart für die hier diskutierte Fragestel­ lung das Folgende: Indem das Nachdenken über normative Grundfragen im Schatten der Wissenschaftsentwicklung der Zeit stand, folgte es auch deren Imperativen. Demnach erfolgte die Auseinandersetzung mit normativen Grundfragen entlang der Differenz von Sein und Sollen, die auch die Grundlage der Überlegungen Kants darstellte. Demnach gab es normative bzw. Normwis­ senschaften einerseits und Tatsachen- bzw. Erfahrungswissenschaften ande­ rerseits. Sofern Normen und Werte als Tatsachen betrachtet wurden, konnten sie selbstverständlich den Gegenstand von Erfahrungswissenschaften wie der Nationalökonomie oder der Soziologie bilden. Sofern es aber um die Richtigkeit und die Geltung der Normen und Werte ging, waren die Norm­ wissenschaften zuständig. Hier ließ man der Philosophie ihr Recht, doch standen deren praktische Reflexionen im positivistischen Zeitalter nicht sehr hoch im Kurs, zumal es ihnen an der Praxisanbindung mangelte, die immer­ hin die Jurisprudenz für sich in Anspruch nehmen konnte. Diese wiederum verstand sich ihrerseits allererst als Lehre vom positiven Recht. Dement­ sprechend legte sie sich die Frage nach dem richtigen Recht vorrangig in der Perspektive einer Rechtsphilosophie vor, die sich als Reflexionstheorie



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dieser positiven Rechtslehre verstand und damit ihren thematischen Hori­ zont deutlich beschränkte. Die Kulturwissenschaften – und zwar weder die Normwissenschaften noch die Erfahrungswissenschaften vom Menschen – fragten mithin nicht (mehr) nach der Natur des Menschen und der ihr entspringenden Normati­ vität. Die Natur des Menschen zu erforschen, sah man als Aufgabe der Naturwissenschaften an.24 Die so charakterisierte kulturwissenschaftliche Lage bestimmte die Ansät­ ze etwa eines Hans Kelsen oder eines Max Weber, für die die Wirklichkeit in zwei voneinander schroff getrennte Bereiche zerfiel, in „das Sein“ und „das Sollen“ bei Kelsen, in Tatsachen und Werte bei Weber. Diese Dualis­ men bildeten die dogmatischen Prämissen der bedeutenden Gelehrten, die nie auf den Gedanken kamen, daß sie damit ihrerseits in einer durchaus fragwürdigen Ontologie befangen blieben. Die Frage nach dem Menschen und seiner Natur blieb außerhalb des Blickfeldes der Kulturwissenschaften auch über die Weimarer Zeit hinaus – auch wenn sich mit der Philosophischen Anthropologie Max Schelers und Helmuth Plessners bereits eine Gegenströmung ausgebildet hatte. Die be­ rühmte sog. Naturrechtsrenaissance, die nach 1945 für etwa eineinhalb Jahrzehnte hier und da aufblühte, blieb ein hilfloser Versuch, an Traditionen anzuknüpfen, deren Grundlagen längst vergangen waren. Dominant blieb seither und bis in die jüngere Vergangenheit hinein die Orientierung an den grundlegenden Dualismen von Sein und Sollen, von Norm- und Tatsachen­ wissenschaften oder von Natur- und Kulturwissenschaften. Auch die – un­ verkennbar in Kantscher Tradition stehenden – Entwürfe beispielsweise eines John Rawls oder eines Jürgen Habermas bleiben in dem durch jene Dualismen abgesteckten Rahmen befangen. 4. Gegen den Strom: Katholisches Naturrechtsdenken Die bis hierher skizzierte Historie des Naturrechtsdenkens hat einen Strang der geistesgeschichtlichen Entwicklung ausgeblendet, der auch sonst in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung gerne übergangen wird: Nämlich das Naturrechtsdenken im Katholizismus. Durch die Prämisse des Schöp­ fungsglaubens und der darin beschlossenen göttlichen Verbürgung des Na­ turrechts konnte der Katholizismus prinzipiell am Naturrechtsdenken auch durch die Zäsuren der neuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung hindurch 24  Siehe so auch etwa Christian Vogel, Von der Natur des Menschen in der Kul­ tur, in: Hans Rössner (Hrsg.), Der ganze Mensch. Aspekte einer pragmatischen Anthropologie, München 1986, S. 47–66, hier: S. 47 f.

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festhalten. Insbesondere wurde hier weder die ontologische Zweiteilung der Wirklichkeit in zwei voneinander im Grunde völlig unabhängige Reiche des Seins und des Sollens vollzogen, noch hatte man Anlaß, sich auf einen transzendentalphilosophischen Apriorismus einzulassen. So blieb das katho­ lische Naturrechtsdenken bis in die Gegenwart mehr oder weniger lebendig,25 und zwar nicht zuletzt im Rahmen der katholischen Soziallehre, die für sich beansprucht, eine theologisch fundierte ethische Wissenschaft von Mensch und Gesellschaft in all ihren Aspekten zu sein. In kritischer Absicht richtet sich gerade auch das katholische Naturrechts­ denken gegen die Fragmentierung des Wissens vom Menschen und gegen einseitige Abstraktionen in der Erforschung des Zusammenlebens von Men­ schen. Einer der maßgebenden Vertreter katholischen Naturrechtsdenkens in Deutschland, Arthur Friedolin Utz, bemerkt dazu, daß zwar die Erkenntnis der menschlichen Natur durch Abstraktion erfolge, daß es bei solcher Ab­ straktion aber darauf ankomme, „die allgemeinen Bestimmungen des Men­ schen möglichst vollständig zu erfassen, um einseitige und damit notwendig fehlerhafte Schlußfolgerungen zu vermeiden“. Das Verharren bei „Teilab­ straktionen“ wie etwa derjenigen, die durch das Modell des homo oeconomicus vorgenommen wird, oder gar die Verabsolutierung einer solchen Teilabstraktion muß zu einem Zerrbild des Menschen und seiner Sozialität führen. Dagegen hält Utz fest: „Wenn wir […] die Natur des Menschen erkennen wollen, wie sie sich als Objekt der sittlichen Handlung darstellt, müssen wir das ganze Wesen des Menschen abstrahieren“.26 Solche Überlegungen speisen sich aus der Überzeugung, daß das ganze Wesen des Menschen, also seine Natur, mit der Vernunft erfaßt werden kann und daß diese Natur selbst, zu der ihrerseits das Moment der Vernunft un­ abdingbar hinzugehört, einen ethischen Gehalt in sich trägt, der die norma­ tiven Grundlagen sozialer und politischer Ordnung enthält. Bemerkenswert ist dabei, daß jene normativen Grundlagen aus der praktischen Seite der Vernunft hervorgehen, Resultat einer dezidiert praktischen Vernunft sind. Wie immer sonst es um die katholische Naturrechtslehre und die katho­ lische Soziallehre bestellt sein mag, so können Sozialwissenschaften wie Politikwissenschaft und Soziologie allerdings nicht ohne weiteres an sie 25  Der heutige Papst spricht ungeachtet des Festhaltens an der katholischen Na­ turrechtslehre davon, daß „dieses Instrument“ im Gespräch der Kirche mit der säku­ laren Gesellschaft und anderen Religionen „leider stumpf geworden“ sei (Joseph Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderung der Zukunft beste­ hen, Freiburg, Basel, Wien 2005, S. 35). 26  Arthur Friedolin Utz, Die menschliche Natur als Grundlage der Sittlichkeit (1990), in: ders., Ethik des Gemeinwohls. Gesammelte Aufsätze 1983–1997, hrsg. von Wolfgang Ockenfeld, Paderborn et al. 1998, S. 13–16, hier: S. 16.



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anknüpfen. Der Grund liegt auf der Hand: Die Sozialwissenschaften beru­ hen wie alle moderne Wissenschaft auf einem rein säkularen Wirklichkeits­ verständnis. Sie klammern von daher theologische Prämissen von vornherein aus und verzichten auf theologische Begründungen; und das gilt auch im Bereich des sozial- und politiktheoretischen Denkens. Gerade Thomas Hob­ bes war einer derjenigen, die im Bereich dieses Denkens die Durchsetzung eines säkularen Verständnisses etabliert haben. Hermann Heller konstatiert sogar: „Die unerhört neue, von der religiös-ethischen Begründung im we­ sentlichen freie Begründung der Herrscher- und Staatsgewalt geht […] zu­ rück auf Hobbes. Ihn darf man als den Begründer der modernen politischen Wissenschaften bezeichnen“.27 So gewiß dies ist, so sehr ist doch daran zu erinnern, daß Hobbes ebenso wie heute noch die katholische Naturrechtslehre an der Natur als Argument festhielt. Hobbes’ Ansatz war ein umfassender Ansatz, der die normativen Grundlagen sozialer und politischer Ordnung mit einer Physiologie und ei­ ner an diese anknüpfenden elementaren Sozialtheorie begründete und der ferner diese Sozialtheorie als eine Lehre der praktischen Rationalität aus­ buchstabierte. Und so könnte man überspitzt und etwas ketzerisch behaup­ ten, daß Thomas Hobbes, der säkular-wissenschaftlich argumentierende Begründer der Politikwissenschaft, womöglich mehr mit den katholischen Naturrechtsdenkern gemeinsam hat als mit Kant, Rawls oder Habermas. Diese zuspitzende Behauptung führt zu einer Explikation der sozialontolo­ gischen Problemstellung. III. Zur sozialontologischen Problemstellung Die Problemstellung einer Sozialontologie besteht in der Frage nach der menschlichen Sozialität und zwar mit Blick auf die Eigenart des Menschen, das heißt: des ganzen Menschen. Die Problemstellung folgt also einem fundamentalen Erkenntnisinteresse, wie es etwa Thomas Hobbes oder die Denker der katholischen Naturrechtslehre – oder auch Hermann Heller ver­ folgten bzw. verfolgen. Letzterer hielt den „vereinseitigte[n] Mensche[en]“ für „das Kainszeichen unseres Zeitalters“,28 ein Kainszeichen, das auch die vereinseitigenden Wissenschaften vom Menschen tragen. Eine der genannten Problemstellung verpflichtete Sozialontologie ver­ spricht, einerseits die Sozialwissenschaften fundieren und andererseits die 27  Hermann Heller, Staatslehre (1934), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, hrsg. von Martin Drath et al., 2. Auflage, Tübingen 1992, S. 79–406, hier: S. 108. 28  Hermann Heller, Vom Wesen der Kultur (1924), in: ders., Gesammelte Schrif­ ten, Bd. 1, hrsg. von Martin Drath et al., 2. Auflage Tübingen 1992, S. 425–430, hier: S. 427.

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Grundlagen sozialer und politischer Normativität offenlegen zu können. In kritischer Hinsicht richtet sie sich gegen jene Vereinseitigungen im Ver­ ständnis des Menschen, die dann allzuoft auch eine angeblich wissenschaft­ liche Basis doktrinärer und ideologischer Positionen abgeben. Bedeutsam ist für die Problemstellung der Sozialontologie, daß sie wie dereinst Hobbes und später die katholische Naturrechtslehre oder Hermann Heller in der Frage nach der Natur des Menschen diesen (nach Erörterung der animalischen Grundlagen) stets als primär praktisches Wesen in den Blick nehmen, weil die praktische Natur das Elementare im Verständnis des Menschen darstellt. Hier wird nun auch deutlich, warum sich gerade heute das Interesse der Sozialontologie zuwendet: Die neueren Versuche, norma­ tive Grundlagen sozialer und politischer Ordnung zu explizieren, finden ihr Modell allesamt an Konzeptionen spezifisch theoretischer Rationalität, auch wenn sie dies oft zu verdecken trachten. Deutlich wird das zum Beispiel und in paradigmatischer Weise bei Kant, dessen praktische Vernunft sich als Variante der theoretischen Vernunft erweist. Das entscheidende Kriterium der Moralität bei Kant ist die mit Notwendigkeit ineins fallende Allgemein­ heit, die den Prüfstein für den sittlichen Charakter praktischer Maximen darstellt. Diese Allgemeinheit aber ist eine logische Kategorie, die ihre Voraussetzung in Grundannahmen der Newtonschen Physik hat. Und auch etwa die Gerechtigkeitskriterien von John Rawls werden eingeführt als Re­ sultate einer spezifisch theoretischen Reflexion, wenngleich diese Reflexion letztlich eine historische Praxis expliziert. Das führt zu einem weiteren Aspekt der Aktualität der sozialontologischen Problemstellung: Das Zeitalter der Globalisierung hat neuerlich die Frage nach universalen, nach gemeinmenschlichen Grundlagen sozialer und poli­ tischer Normativität aufgeworfen. Gerade die normativen Entwürfe, die dem Modell einer theoretischen Vernunft folgen, erweisen sich hier – allen Uni­ versalitätsansprüchen zum Trotz –, als nicht völlig befriedigend, und dies in wenigsten zwei Hinsichten: Zum einen bleibt bei diesen Entwürfen die Konzeption des Menschen vielfach unausgeführt, denen sie verpflichtet sind, und die doch für die normativen Explikationen fast immer konstitutiv ist. Hierauf haben etwa hinsichtlich des Rawlsschen Entwurfes manche Kritiker aus den Reihen des sog. Kommunitarismus hingewiesen. Zum an­ deren aber wollen diese Entwürfe nicht so recht zu ihrem universalen – und das heißt ja auch: globalen – Anspruch passen. So erweist sich beispiels­ weise der Rawlssche Ansatz offenkundig als Explikation des Selbstverständ­ nisses westlicher Gesellschaften und des freiheitlichen Sozialstaates west­ licher Prägung,29 und der Horizont des Habermasschen Modells ist noch 29  Siehe dazu Chandran Kukathas / Philip Pettit, Rawls. A Theory of Justice and its Critics, Stanford 1990, S. 145.



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enger gezogen: Wo es sich nicht als eine säkularisierte Variante der pieti­ stischen Brüdergemeinde erweist,30 stellt es im Grunde die Explikation des Selbstverständnisses eines universitären Hauptseminars – also einer per definitionem theoretischen Veranstaltung – dar. Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, wenn sich der Blick bei der Suche nach den normativen Grundlagen sozialer und politischer Ordnung der Sozialontologie zuwendet. IV. Zum Konzept der Sozialontologie 1. Eine Begriffsbestimmung Vor dem Hintergrund des soeben Ausgeführten stellt sich die Frage, ob das Programm der Sozialontologie, nämlich das Wesen des Menschen, den ganzen Menschen, mithin die Natur des Menschen zu begreifen, nicht letzt­ lich ein philosophisches, ja, ein metaphysisches Programm sei. Und Philo­ sophie oder Metaphysik zu betreiben, wäre ja zumindest weder Aufgabe der Politikwissenschaft noch der Soziologie noch einer anderen Sozialwissen­ schaft. Darüber wird man streiten dürfen, hat sich doch längst herumgespro­ chen, daß Metaphysik „stets […] unvermeidlich [bleibt]“,31 wie Heller einmal bemerkte, der damit nur aussprach, was auch anderen Denkern seiner Zeit (wie Otto von Gierke, Erich Kaufmann oder Carl Schmitt) völlig klar war und was heute wieder vielfach anerkannt wird. Darauf wird sogleich kurz zurückzukommen sein. Zunächst einmal ist zweifellos etwas daran, daß sich das Programm der Sozialontologie mit Metaphysik berührt. So kann es nicht wundern, daß sich in einem interessanten Buch über Karl Marx, nämlich in Carol C. Goulds Marx’s Social Ontology von 1978 die Bestimmung findet, daß Sozialonto­ logie eine „metaphysische Theorie der Natur sozialer Realität“ sei. Eine solche metaphysische Theorie, so heißt es weiter, biete „eine systematische Darstellung der fundamentalen Gegebenheiten und Strukturen der sozialen Existenz, wie beispielsweise Personen und Institutionen, sowie der grundle­ genden Natur sozialer Interaktion und sozialen Wandels“.32 Es gibt andere 30  Siehe dazu Ernst Topitsch, Die „Himmelsstadt“ des Jürgen Habermas. Ein Kapitel zur politischen Theologie, in: ders., Im Irrgarten der Zeitgeschichte. Ausge­ wählte Aufsätze, Berlin 2003, S. 93–130. 31  Hermann Heller, Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart (1929), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, hrsg. von Drath et al., 2. Auflage, Tübingen 1992, S. 249–278, hier: S. 256. 32  Carol C. Gould, Marx’s Social Ontology. Individuality and Community in Marx’s Theory of Social Reality, Cambridge et al. 1978, S. XI: „[…] a social onto­

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Bestimmungen des Begriffes der Sozialontologie, doch kann man sich an derjenigen Carol Goulds gut orientieren, gerade weil sie den Metaphysikbe­ griff mit sich führt und so darauf hinweist, daß die positiven Wissenschaften nicht in sich selbst ruhende, abgeschlossene und klar abgegrenzte Diskurs­ universen darstellen, sondern immer wieder der Reflexion auf ihre Grund­ begriffe und auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit angewiesen sind, und zwar um den Preis ihrer Fruchtbarkeit. Es geht aber jetzt gerade nicht um die Frage der Metaphysik und des Zusammenhanges von Wissenschaft und Metaphysik. Vielmehr soll hier die Sozialontologie als primär sozialwissen­ schaftliches Unternehmen eingeführt werden, und das bedeutet, daß sie als positive Wissenschaft, als Erfahrungswissenschaft verstanden wird. So, wie etwa Thomas Hobbes für seinen Naturbegriff auf den Stand der Erfahrungswissenschaften seiner Zeit zurückgriff, so muß auch heute eine Sozialontologie auf die Erfahrungswissenschaften der Gegenwart zurück­ greifen. Als dafür einschlägige Wissenschaften müssen vor allem auch die Biologie inklusive der Evolutionstheorie und der Neurowissenschaft sowie die biologisch fundierte Psychologie und daran anknüpfende Sozialpsycho­ logie gelten. Hier sind die Grundlagen für eine Sozialontologie in erheb­ lichem Umfange bereits gelegt, obgleich man die Ergebnisse dieser Diszi­ plinen für die sozialontologische Problemstellung sicher noch nicht hinrei­ chend ausgewertet hat. Eben deshalb gälte es, die Sozialontologie als syste­ matisches Unternehmen einmal auszubuchstabieren. 2. Ein exemplarischer Blick auf sozialontologische Einsichten: Normative Grundlagen sozialer und politischer Ordnung Wie würde die Ausführung der so aufgefaßten Sozialontologie aussehen? Es versteht sich von selbst, daß dies hier nur angedeutet und in exempla­ rischer Weise veranschaulicht werden kann – was anhand der Frage nach den normativen Grundlagen sozialer und politischer Ordnung geschehen soll. Es geht nun also um Fragen, die solche der Naturrechtslehren waren (oder sind). Man kann hierfür von der Feststellung ausgehen, daß die Sozialwissen­ schaften als Handlungswissenschaften zu verstehen sind, als Wissenschaften vom menschlichen Handeln. Handlungen aber sind Lebensäußerungen von Lebewesen, und als solche sind sie Teile oder Episoden des Lebens dieser logy, that is, a metaphysical social theory of the nature of social reality. Such a metaphysical theory would give a systematic account of the fundamental entities and structures of social existence – for example, persons and institutions – and of the basic nature of social interaction and social change“.



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Lebewesen.33 Ein elementares Verständnis von Handlung fordert von daher den Blick auf die Eigenart von Lebewesen als Lebewesen, das heißt den Blick auf die Eigenart lebender Organismen. In dieser Perspektive wird also der Mensch zuerst als lebendiger Organismus begriffen, näherhin als ein Lebewesen, das sich als Organismus in Jahrmillionen der Evolution spezifisch entwickelt und das in den letzten Phasen seiner Entwicklung Charakteristika angenommen hat, die es von anderen Lebewesen spezifisch unterscheidet, ohne daß es damit aufhörte, animalischer Organismus zu sein. Die Biologie lehrt, daß das Leben des Organismus zuerst darauf aus ist, sich selbst zu erhalten angesichts einer sich wandelnden Umwelt, auf die der Organismus für seine Erhaltung angewiesen ist und die zugleich eine Bedrohung für seine Selbsterhaltung sein kann. In der Auseinandersetzung mit der Umwelt bildet der Organismus sich aus, und im Verlaufe der Na­ turgeschichte differenzieren sich die Organismen in verschiedene Arten aus, und zwar – grob gesagt – in je spezifischer, ihrer jeweiligen Umwelt prak­ tisch angepaßter Weise. Nun kann der Weg von der Amöbe zu Einstein hier nicht nachgezeichnet werden, doch gilt es, das Beispiel des menschlichen Organismus in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt genauer zu be­ trachten. Hierfür soll insbesondere auf die Arbeiten von Jean Piaget rekur­ riert werden, den biologischen Psychologen, sowie auf diejenigen des pragmatistischen Sozialpsychologen George Herbert Mead. Piaget zufolge läßt sich die Auseinandersetzung des menschlichen Orga­ nismus’ mit der Umwelt als ein bestimmter, gewissermaßen dialektischer Prozeß beschreiben, in dem die Adaption des Organismus’ durch eine aktive Transformation der Umwelt erfolgt, und zwar mittels Assimilation und Ak­ komodation. Der Prozeß setzt auf physiologischer Ebene – etwa mit At­ mung, Nahrungsaufnahme und Verdauung – ein und schreitet über die sensomotorischen Adaptionsprozesse fort bis zur Entfaltung der höchsten affektiven Dispositionen sowie kognitiven Kompetenzen namentlich in der Ausbildung logischer und mathematischer Erkenntnis. Piaget hat die psy­ chologische und erkenntnistheoretische Seite des Prozesses in seinen be­ rühmten Studien über die Entwicklungsstadien der Kindheit ausführlich dargestellt. Assimilation bezeichnet den aktiven Aspekt des Anpassungsprozesses, demzufolge „das Subjekt“ – oder zunächst allgemeiner: der Organismus – „die Einwirkung der Umwelt nicht passiv erleidet, sondern seinerseits die Umwelt verändert, indem er ihr eine ihm eigentümliche Struktur gibt“. Auf 33  Siehe zu den Begriffen der Lebensäußerung und der Episode Thomas Buch­ heim, Unser Verlangen nach Freiheit. Kein Traum, sondern Drama mit Zukunft, Hamburg 2006, passim, zur obigen Aussage besonders ebd., S. 55.

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der psychologischen Ebene besteht die intellektuelle, die „gedankliche Assi­ milation […] aus der Einverleibung der Objekte in die Verhaltensschemata, Schemata, die nichts anderes sind als verfügbare Handlungen, die der Mensch in der Wirklichkeit effektiv wiederholen kann“.34 Den anderen Pol des Pro­ zesses bildet die Akkomodation, bei der die Umwelt auf den Organismus ein­ wirkt, „wobei es selbstverständlich ist“, so Piaget, „daß kein lebendes Wesen die Einwirkung der es umgebenden Objekte als solche passiv erleidet, son­ dern daß die Akkomodation nur den Assimilationszyklus ändert, indem sie sich den Eigentümlichkeiten der Situation anpaßt. Auf der psychischen Ebene finden wir denselben Prozeß wieder. Der Druck der Umwelt führt niemals zu einer passiven Unterwerfung, sondern zu einer einfachen Veränderung der sich auf sie beziehenden Handlung. Man kann also nun die Anpassung“, so faßt Piaget zusammen, „als ein Gleichgewicht zwischen der Assimilation und der Akkomodation definieren, was nichts anderes bedeutet als ein Gleichge­ wicht der Austauschprozesse zwischen Subjekt und Um­welt“.35 Das Fortschreiten der individuellen Entwicklung führt über verschiedene Stufen schließlich zur Ausbildung auch der theoretischen Vernunft, das heißt der Fähigkeit, in der Erkenntnis von Gegebenheiten so weit von sich selbst, von seinen eigenen Befindlichkeiten, Wünschen etc. zu abstrahieren, daß eine objektive(re) Erkenntnis möglich wird. Piaget nennt dies die Dezentrie­ rung. Diese ermöglicht es dem Subjekt, „den Blickwinkel anderer Subjekte oder den Standpunkt von Objekten einzunehmen“,36 wobei schließlich auch die Fähigkeit ausgebildet wird, rein formale Erkenntnisoperationen – näm­ lich solche der Logik und der Mathematik – vornehmen zu können. Das bedeutet aber unter anderem, daß die theoretische Vernunft sich aus der praktischen Vernunft herausdifferenziert und zwar gewissermaßen als ein praktisches Vermögen der Umweltadaption. „Der Ursprung“ der „logischmathematischen Strukturen [ist] […] in der Tätigkeit des Subjekts zu su­ chen, d. h. in den allgemeinsten Formen seiner Handlungskoordinationen und letztlich in seinen organischen Strukturen selbst“.37 Diese Einsicht ist deshalb hervorzuheben, weil demnach gewissermaßen die Logik niemals vor der Praxis kommen kann und eine gelingende Praxis, das heißt eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit der Umwelt die Bedingung der Mög­ lichkeit theoretischer Vernunft ist. Für die politikwissenschaftlichen Fragen etwa nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis in der Politik, nach dem 34  Jean Piaget, Psychologie der Intelligenz (zuerst 1947), mit einer Einleitung von Hans Aebli, 3. Auflage, Stuttgart 1992, S. 10 f. 35  Ebd., S. 11. 36  Jean Piaget, Meine Theorie der geistigen Entwicklung (zuerst 1970), hrsg. von Reinhard Fatke, Weinheim, Basel, Berlin 2003, S. 61. 37  Ebd., S. 51.



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Verhältnis von Planung und Entscheidung, Politikberatung und politischem Instinkt sind diese Zusammenhänge von größter Bedeutung, und hier erwei­ sen sich die sozialontologischen Einsichten als förderlich für eine Erkennt­ nis dessen, was Politik ist und wie sie gemacht wird. Aber diesen Problemen ist jetzt nicht nachzugehen.38 Vielmehr ist für die hier verfolgte Frage nach den normativen Grundlagen sozialer und politischer Ordnung ein anderer Strang zu verfolgen: Bei der Charakterisierung des Dezentrierungsprozesses spricht Piaget wie zitiert davon, daß die fortschreitende Dezentrierung es dem Subjekt ermögli­ che, „den Blickwinkel anderer Subjekte […] einzunehmen“. Zur Umwelt des menschlichen Organismus gehören ja in der Tat von Anfang an andere menschliche Organismen, auch solche, die schon über einen ausgebildeten In­ tellekt verfügen. Wie sich der menschliche Organismus im Zusammenhang der sozialen Welt verhält, ist nunmehr im Ausgang von den Beobachtungen Piagets zu verfolgen. Mit diesen Beobachtungen stimmen die entsprechenden Erwägungen George Herbert Meads in wesentlichen Punkten zusammen, und mit Mead gilt es nunmehr, den Begriff der Intentionalität zu klären: In einer Darstellung des Verhältnisses von Organismus und Umwelt erläutert Mead, „daß der Organismus jene Merkmale vorfindet, auf die er reagieren kann, und daß er die sich daraus [aus seiner Reaktion; M.H.] ergebenden Erfahrungen dazu benützt, bestimmte organische Ergebnisse zu erzielen, die für seinen weiteren Lebensprozeß von entscheidender Bedeutung sind. In gewissem Sinne schafft sich also der Organismus seine Umwelt im Hinblick auf Mittel und Zweck. Diese Bestimmung der Umwelt ist natürlich genauso real wie die Wirkung der Umwelt auf den jeweiligen Organismus.“39 Meads Beobachtung ist dahingehend zu verstehen, daß sich in der Reak­ tion des Organismus auf seine Umwelt die vitalen Bedürfnisse bzw. das Lebensinteresse des animalischen Organismus äußern und daß in der Reak­ tion des Organismus zugleich ein kreatives Moment umfaßt ist. Dieses kreative Moment hat seine Grundlage darin, daß die Umwelt des Organis­ 38  Ihnen hat in der deutschen Politikwissenschaft Hans Buchheim in verschie­ denen Arbeiten vertiefte Aufmerksamkeit gewidmet, siehe insbes. Hans Buchheim, Antike Römische Republik und neuzeitlicher Republikanischer Staat, in: PVS 46 (2005), S. 313–323; ders., Die Rationalität der gemeinen Menschenvernunft. Vom Primat praktischer Ratio in Politik und Staat, in: Der Staat (44) 2005, S. 608–621; ders., Die Rationalität der politischen Vernunft. Über unlogische Vernunft und un­ vernünftige Logik, hrsg. und mit einem Nachwort von Michael Henkel, Berlin 2004; ders., Beiträge zur Ontologie der Politik, München 1993; ders. Theorie der Politik, München, Wien 1981. 39  George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des So­ zialbehaviorismus (postum 1934), hrsg. von Charles Morris, Frankfurt am Main 1968, S. 259, siehe auch etwa ebd., S. 171.

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mus immer Umwelt für den Organismus oder auch: die Umwelt des Orga­ nismus ist (deshalb spricht Mead davon, daß sich der Organismus seine Umwelt „schaffe“) – und nicht die Umwelt an sich. Das so zu beschreibende Verhältnis des Organismus zu seiner Umwelt bezeichnet nichts anderes als die Intentionalität des Organismus. Intentionalität tritt demnach zuerst in der Form vitaler Bedürfnisse (im Sinne von Mitteln und Zwecken des Le­ bensprozesses) auf. Die erfolgreiche Befriedigung der vitalen Bedürfnisse im sozialen Zusammenhang steht nun aber unter der Bedingung, daß sich die Intentionalität anderer erkennender und handelnder Organismen als Be­ dingung dieser Befriedigung erweisen. Es geht also für den Organismus darum, unter dieser Bedingung seine vitalen Bedürfnisse möglichst optimal zu befriedigen, und auf höheren Ebenen der Intelligenz, also namentlich für menschliche Subjekte, darum, unter jener Bedingung die verschiedenen ei­ genen Absichten, Zwecke und Ziele, gewissermaßen sublimierte vitale Be­ dürfnisse, möglichst weitgehend zu verwirklichen. Entscheidend ist nun im vorliegenden Zusammenhang, daß die menschli­ chen Organismen in ihrem Verhalten die Reaktion der anderen antizipieren, welche ihrerseits das gleiche tun, wodurch die soziale Situation die der um­ fassend wechselseitig sich bedingenden und durchdringenden Intentionali­ täten ist. Für die Adaption des Einzelnen an diese Situation erweisen sich also die anderen intentional existierenden Subjekte nicht nur als Verwirklichungs­ bedingung der eigenen Intentionalität, wie etwa leblose Objekte im Raum, sondern diese anderen Subjekte werden vermittels deren intentional bedingten Ansprüchen erfahren. Und dies gilt wechselseitig für alle Beteiligten. Die je­ weils eigene Adaption an diesen Umstand besteht in einer elementaren Aner­ kennung dieser Ansprüche, also einer Assimilation, die sich zuerst darin äu­ ßert, jene Ansprüche als Bedingung der Möglichkeit der Erfüllung der eige­ nen Ansprüche zu begreifen. Die Ansprüche selbst aber sind – auf dieser ele­ mentaren Ebene völlig unreflektierte, geradezu instinktive – Freiheits-, Gleichheits- und Gerechtigkeitsansprüche. Zur möglichst optimalen Erfüllung der eigenen Ansprüche aber wird das eigene Verhalten und Handeln jenen An­ sprüchen des und der anderen gerecht zu werden suchen, weil sich im Adap­ tionsprozeß herausstellt, daß gerade solches Verhalten und Handeln die Erfül­ lung der eigenen Ansprüche (die auf die anderen Subjekte angewiesen ist) befördert. Hier haben wir die elementarsten Anerkennungsprozesse und ent­ sprechende soziale Handlungen, die in einzelnen Situationen ethische Verhält­ nisse begründen. Ethische Verhältnisse kommen in die Welt also nicht durch die Ansprüche selbst, sondern durch deren wechselseitige Anerkennung im Adaptionsprozeß. Eben hier – das heißt in konkreten Handlungssituationen – bilden sich die normativen Grundlagen so­zialer und politischer Ordnung aus. Diese Grundlagen haben mithin ihre Wurzeln in der organismischen Natur des Menschen. Am Ursprung ethischer Verhältnisse stehen also nicht irgendwel­



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che allgemeine Regeln, auch keine gesetzgebende Vernunft, sondern die Be­ wältigung von Situationen, in denen Ansprüche intentional existierender Sub­ jekte aufeinandertreffen, die eben dieses Aufeinandertreffen praktisch bewäl­ tigen müssen, um letztlich ihre vitalen Bedürfnisse befriedigen sowie ihre hö­ heren Zwecke, Absichten und Ziele erreichen zu können. Die normativen Grundlagen sozialer und politischer Ordnung werden im konkreten Fall ge­ schaffen, und zwar in Form konkreter, situativer sittlicher Entscheidungen. Solche Entscheidungen wiederum verstetigen sich, indem in späteren Fällen hinreichender Ähnlichkeit auf sie als relevante Präzedenzien rekur­ riert wird. So bilden sich soziale, ethische Gewohnheiten aus, die sich als objektive Normen und Werte schließlich relativ verstetigen und verfestigen können, bis hin zu umfassenden und explizit formulierten Normordnungen. Deren subjektive Seite besteht dann in einem entsprechenden Habitus des Verhaltens, der sich in dem realisiert, was klassisch unter den Tugenden verstanden wird. Für deren Ausbildung ist es nach Aristoteles entscheidend, daß nicht derjenige Tugend hat, der „einmal eine gut zu nennende Handlung durchführt, auch nicht, wer sich, schwer getreten, gerade noch einer be­ stimmten Norm des Handelns unterwirft […]. Vielmehr nur der, dem ein solches Handeln geläufig und zur Gewohnheit geworden ist […], ja der sogar Lust dabei empfindet […], ist tugendhaft“.40 Solche subjektive Ge­ wohnheit und Lust aber hat ihrerseits wieder physiologische Grundlagen: „Vom physiologischen Standpunkt aus ist eine erworbene Gewohnheit nichts anderes als eine neugebildete Entladungsbahn im Gehirn, durch welche gewisse zentripetale Erregungen von nun an immer sich zu ergießen be­ strebt sind“, schrieb William James in seinem Textbook of Psychology,41 in dem er auch der praktischen und ethischen Bedeutung der Gewohnheit große Aufmerksamkeit widmete. 3. Aspekte der Sozialontologie: Recht, Gesellschaft, Politik Die dargelegten, sicher recht grob skizzierten sozialontologischen Ein­ sichten lassen sich nun in verschiedene Richtungen ausbuchstabieren und weiterverfolgen. Dies soll hier für das Recht, für gesellschaftliche Zusam­ menhänge und für die Politik nur noch exemplarisch und schlaglichtartig beleuchtet werden. Zunächst zum Recht: •• (i) Als sich Georg Jellinek vor mehr als einem Jahrhundert die Frage nach den normativen Grundlagen des Staatrechts vorlegte, entwickelte er 40  Thomas

Buchheim, Aristoteles, Freiburg 1999, S. 150. nach der dt. Übertragung: William James, Psychologie (zuerst 1892), Leipzig 1909, S. 130. 41  Hier

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das seither oft mißverstandene Konzept der normativen Kraft des Fakti­ schen.42 Es kann nun kein Zweifel daran bestehen, daß Jellineks Lehre nicht nur ihre Bestätigung in den skizzierten sozialontologischen Befun­ den zu finden vermag, sondern daß die Sozialontologie imstande ist, Jellineks Lehre im einzelnen und bis in die physiologischen Grundlagen hinein auf der Basis erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnisse zu begrün­ den. Jellinek selbst konnte die Zusammenhänge noch nicht im einzelnen explizieren, er war sich aber über die grundsätzlichen Verhältnisse offen­ bar völlig im klaren, wenn er etwa feststellte, daß die normative Bedeu­ tung praktischer Übung „in der weiter nicht ableitbaren Eigenschaft unse­ rer Natur“ bestehe, „kraft welcher das bereits Geübte physiologisch und psychologisch leichter reproduzierbar ist als das Neue“.43 Ganz richtig erinnerte Jellinek daran, daß „alles Recht […] praktischer Natur [ist] und […] sich irgendwie im Leben bewähren und durchsetzen können muß“.44 •• (ii) Die oben dargelegten Zusammenhänge finden ihre Bestätigung ohne weiteres in der Rechtsgeschichte. Ein herausragendes Beispiel ist nament­ lich die Entstehung und Entwicklung des römischen Rechts, über das Fritz Schulz schreibt: „Im Anfang war der ‚Fall’. Aber jede Fallentscheidung wird gegeben in der Überzeugung und mit dem Willen, daß bei der Wieder­ kehr des Falles dieselbe Entscheidung zu ergehen hat. Da nun der Fall in allen Einzelheiten niemals wiederkehren kann, so enthält jede Fallentschei­ dung schon mehr als die Entscheidung eines individuellen Falles: eine Rechtsnorm, die von gewissen Umständen des Falles absieht, abstrahiert“.45 Es folgen einige Überlegungen zu grundlegenden sozialen Verhältnissen: •• Was diese angeht angeht, so führen die skizzierten sozialontologischen Be­ obachtungen auf einen Zusammenhang, der in der Soziologie seit Ferdinand Tönnies und neuerdings im Zusammenhang der Kommunitarismusdebatte oft unter dem Konzept der Gemeinschaft thematisiert wird. Es geht hier um diejenigen Gegebenheiten, die gewissermaßen eine Gesellschaft zusam­ menhalten. Geht man von den oben vorgestellten sozialontologischen Be­ obachtungen aus, so bietet sich statt des Begriffs der Gemeinschaft für jene Zusammenhänge ein anderes Konzept an, nämlich der aristotelische Begriff der philia.46 Aristoteles bezeichnet mit philia eine Vielzahl elementarer So­ 42  Siehe Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1900), 3. Auflage, [Nachdruck] Darmstadt 1960, S. 337–364. 43  Ebd., S. 338. 44  Ebd., S. 360. 45  Fritz Schulz, Prinzipien des römischen Rechts, [unveränderter Nachdruck der 1934 erschienenen ersten Auflage] Berlin 2003, 27. 46  Dieser Begriff, üblicherweise mit „Freundschaft“ (oder auch „Liebe“) ins Deutsche übertragen, sollte unübersetzt bleiben, weil der Ausdruck „Freundschaft“



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zialverhältnisse, die weit über das hinausgehen, was bei uns Freundschaft meint. Tatsächlich ist philia zunächst der Inbegriff persönlicher Beziehun­ gen und Zugehörigkeiten aller Formen nicht politisch institutionalisierter Gemeinschaft:47 „Von der Kameradschaft und Gastfreundschaft über Ge­ schäftsbeziehungen, Familie und Nachbarschaft bis zu den Verbindungen um des Guten willen“.48 Diese Beziehungen zielen auf jene elementaren Anerkennungsverhältnisse ab, die aus der durch Intentionalität konstituier­ ten sozialen Situation resultieren, und die eine grundlegende, auf Wechsel­ seitigkeit beruhende Solidarität bezeichnen49 – die übrigens nicht nur unter Gleichen, sondern gerade auch unter Ungleichen möglich ist, wie Aristote­ les betont. Die grundlegende Solidarität kommt darin zum Ausdruck, daß sie eine Eintracht stiftet und Zwietracht vertreibt, ohne daß sie so etwas wie einen inhaltlichen Konsens oder Konfliktlosigkeit bedeutete. Eric Voegelin bezeichnet in seiner Aristotelesmonographie die philia treffend als „die Le­ benskraft jeder Gesellschaft“.50 Philia ist als Tugend näherhin „Aufge­ schlossenheit und Verbindlichkeit, die Mitte zwischen aufdringlicher Ge­ fallsucht oder berechnender Schmeichelei und abwehrender Selbstverhär­ tung oder […] Streitsucht“,51 und der Freund ist ein „anderes Selbst“ bzw. ein „zweites Ich“,52 worin man wieder die elementare Wechselseitigkeit in den grundlegenden Sozialbeziehungen erkennt. „Den Freund wahrnehmen“, so heißt es in der Eudemischen Ethik, bedeute, „so viel wie in gewisser Wei­ se sich selbst wahrnehmen und in gewisser Weise sich selbst erkennen“.53 Aus der Perspektive der Sozialontologie kann im übrigen nicht verwun­ dern, daß die philia Aristoteles zufolge bereits bei den Tieren vorkommt,54 bei den Menschen nimmt sie einen durch Vernunft (nous) sittlich veredel­ ten Charakter an. Assoziationen weckt, die den Blick auf die Zusammenhänge, die Aristoteles meinte, mehr verstellen als öffnen. 47  Siehe so Otfried Höffe, philia  / Freundschaft, Liebe, in: ders. (Hrsg.), Aristo­ teles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 445–448, hier: S. 446. 48  Ebd. 49  Siehe zur Wechselseitigkeit der Freundschaft auch Aristoteles, Rhetorik 1381a1–3. 50  Eric Voegelin, Aristoteles (zuerst 1957) [= Ordnung und Geschichte, Bd. VII], hrsg. von Peter J. Opitz, München 2001, S. 71. 51  A. Müller et al., [Artikel] Freundschaft, in: HWP, Bd. 2, Sp. 1105–1114, hier: Sp. 1106 [A. Müller]; siehe Aristoteles, NE 1108a26–30. 52  Aristoteles, NE 1166a32. 53  Aristoteles, EE 1245b35–36. 54  Siehe Höffe, philia, 446 mit Verweis auf Aristoteles, De generatione animalium 753a8 ff. Aristoteles spricht dort von der philia, die bei höheren Tieren zwischen Mutter und Kindern auch über die Zeit hinaus beobachtbar sei, in der die letzteren abhängig sind.

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Damit aber ist bereits das Feld der Politik berührt, von dem abschließend kurz zu sprechen ist: •• Die philia zeigt sich in besonderer Weise als Bürgertugend, und tatsäch­ lich ist die spezifisch politische Freundschaft (politikê philia) für Aristo­ teles gewissermaßen die höchste Form der philia. Ausdrücklich heißt es, daß die politische Gemeinschaft „auf freundschaftliche Beziehungen ge­ gründet [ist]“.55 Der fundamentale Charakter der philia für die politische Ordnung kommt darin zum Ausdruck, daß sie das höchste Gut der Polis, also insoweit auch der Gerechtigkeit vorgeordnet ist, die nämlich ihrer­ seits in der philia (und im nous) gründet und zu ihrer Verwirklichung der philia bedarf. Politische philia, so erläutert Voegelin, „ist nicht eine Über­ einstimung in den Ansichten, wie sie auch zwischen einander Fremden vorkommen kann, oder eine Übereinstimmung über wissenschaftliche Aussagen; sie ist eine Übereinstimmung zwischen Bürgern hinsichtlich dessen, was ihnen nützt, Übereinstimmung über politische Ziele und ihre Durchführung“.56 Modern und in den Worten Konrad Hesses gesprochen ist die politische philia insoweit der gemeinsame Wille zur Verfassung. Deshalb auch gilt, daß „eine Polis [um stabil zu sein] so eingerichtet sein [muß], daß sie zu einem Netz von Freundschaftsbeziehungen verschiede­ ner Art wird“.57 V. Ausblick Es bleiben zum Schluß einige Feststellungen zur Charakterisierung der Sozialontologie zu treffen. Die hier skizzierte Sozialontologie versteht sich als naturalistisch oder auch in einem richtig verstandenen Sinne als materialistisch und zugleich als holistisch in dem Sinne, daß sie starre Dualismen wie diejenigen zwi­ schen Sein und Sollen, Natur und Vernunft, Idealismus und Realismus, Natur- und Geisteswissenschaften letztlich transzendiert. Natur ist diesem Ansatz durchaus Natur, wie sie die Biologie versteht, aber diese Natur hat sich ganz im Sinne Hegels als „schlafender Geist“58 erwiesen, womit der Geist dieser Natur eben nicht äußerlich bleibt. Die Sozialontologie hat sodann ihren Ort in den Sozialwissenschaften, namentlich in Politikwissenschaft und Soziologie und sie ist zugleich eine 55  Aristoteles, 56  Voegelin,

Politik 1295b24. Aristoteles, S. 72.

57  Ebd. 58  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1821) [= Werke, Bd. 7], Frankfurt am Main 1970, § 258 Zus. [= S. 403].



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Grundlagenwissenschaft der Sozialwissenschaften. Als eine solche Grundla­ genwissenschaft überschreitet sie nicht nur die Grenzen zu anderen Diszi­ plinen, besonders auch der Biologie und Psychologie, sondern namentlich auch die ohnehin flüssigen Grenzen zwischen den Erfahrungswissenschaften und der Philosophie, sie treibt weiter zur Sozialphilosophie, schließlich zur Geschichtsphilosophie und zur Metaphysik. Gleichwohl erhebt sie in keiner Weise den Anspruch, die Philosophie und die normative Reflexion in der Philosophie ersetzen zu können. Sehr wohl aber beansprucht die Sozial­ ontologie im hier skizzierten Sinne, eine Brücke darzustellen von den So­ zialwissenschaften zur Philosophie, und nicht nur eine Brücke, sondern auch eine kritische Instanz. Normative Entwürfe der Philosophie müssen sich sehr wohl von der Sozialontologie daraufhin befragen lassen, ob sie mit den elementaren Gegebenheiten menschlicher Sozialität und menschlicher Natur vereinbar sind oder nicht. Was die Sozialontologie schließlich nicht ist, ist zur Vermeidung von Mißverständnissen auch zu betonen: Es sollte aus allen vorherigen Ausfüh­ rungen deutlich geworden sein, daß Sozialontologie insbesondere nichts mit dem zu tun hat, was Kritiker gerne als Substanzontologie bezeichnen, meist ohne klarer anzugeben, was damit eigentlich gemeint ist. Substanzialistisch ist die hier vorgestellte Sozialontologie dezidiert nicht. Sie hat außerdem nichts mit dem zu tun, was immer noch als der sogenannte normativ-onto­ logische Ansatz der Politikwissenschaft bezeichnet wird. Sie hat schon deshalb nichts damit zu tun, weil niemand genau weiß, was das eigentlich sein soll. Die Sozialontologie im hier dargelegten Sinne kann anknüpfen an ein Naturrechtsdenken, wie es von Thomas Hobbes repräsentiert wird. Wenn oben etwas ausführlicher Hobbes’ physiologische Theorie der Empfin­ dungen, seine Konzeption des Denkens und der Leidenschaften dargelegt wurden, so um den Bogen schlagen zu können zu einer heutigen Sozial­ ontologie, die ebenfalls auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse rekurriert. Wenn die geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung nach dem 17. Jahrhundert des Hobbes das Ende des Naturrechtsdenkens herbeigeführt hat – sieht man vom Sonderfall der katholischen Naturrechtslehre einmal ab –, so kann man zwar sagen, daß das Naturrecht tot ist, es kann aber zugleich festgestellt werden, daß es einen würdigen Erben gefunden hat, nämlich die Sozialontologie. Diese vermag im Rahmen der heutigen Erfah­ rungswissenschaften an Traditionen des Naturrechts anzuknüpfen, ohne das Naturrechtsdenken selbst weiterführen zu wollen. Und nicht zuletzt das ist es, was vom Naturrecht bleibt.

Politische Romantik im 20. Jahrhundert – eine fatale deutsche Erbschaft? Von Joachim Rückert I. Eine große Frage Die Frage im Titel ist groß. Sie interessiert immer wieder. Die Möglich­ keit fataler, also schicksalhafter und gar nationaler Erbschaften bewegt die Federn von Generation zu Generation erneut. Mir geht es um eine genaue­ re Ortsbestimmung und einen bisher nicht beachteten Faktor gerade bei der Frage der politischen Bedeutung der Romantik. Denn eine gewisse poetischmetaphysische Methode und Denkweise hat besondere Bedeutung, so meine These, für das normativ-politische Denken – womöglich fatale. Ich greife damit zurück auf einen Vortrag zur Politischen Romantik1 und auf ältere Überlegungen zu „Idealismus, Jurisprudenz und Politik“.2 Man weiß natürlich, dass Romantik oder Romanticism oder Romantisme eine gar nicht so klare Sache ist, schon weil man in Europa damit mindes­ tens drei recht verschiedene Phänomene meint. Teils denkt man an eine bestimmte europäische und deutsche Bewegung in Literatur und Kunst um und seit ca. 1800, teils meint man nur eine spezifisch deutsche Bewegung in dieser Zeit zwischen ca. 1780 und 1830, teils hat man eine allgemeine, typologische Vorstellung von Romantik als wiederkehrender Gegenströmung zu Aufklärung, Vernunft und Klassik. Was daran dann politische Romantik sein könnte, wird noch unterschied­ licher, ja recht radikal beantwortet. Viele halten diese Romantik einfach für eine ganz unpolitische Literatengruppierung, die hauptsächlich schwärmeri­ sche Gedichte schrieb, um die Welt zu romantisieren (Novalis), eine Ju­ 1  Dem Deutschen Historischen Institut in London danke ich gerne auch an dieser Stelle für die Einladung und Herausforderung dazu. 2  Siehe Joachim Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, Ebelsbach 1984, bes. Kap. III 2: Idealismus und Politik, mit den Stich­ worten: Wahrheit und Politik, innere Notwendigkeit, Geist und Gesinnung, Elastizi­ tät als Prinzip, Willkürabwehr, Abneigung gegen Parteien, Gemeinschaft der Gesin­ nung, Volk und Nation, Abneigung gegen „leblose Formen“, Recht und Moral und Politik, Politische Metaphysik als politische Richtung, Politik und Wissenschaft, Positivismus.

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gendbewegung sozusagen. Eine kleine Dichterlesung würde dann genügen, angenehm kurz, erholsam und anregend, um dies zu vorzuführen. Andere finden in den romantischen Texten immerhin einige unsystematische politi­ sche Gedanken oder sogar eine allgemeine politische Tendenz. Um dies zu erklären, muss man schon etwas gelehrt werden und mindestens eine Frühund eine Spätromantik unterscheiden. Denn die einen tanzten nach 1789 um die Freiheitsbäume, die anderen 1815 auf dem Wiener Kongress der euro­ päischen Restauration – nicht selten waren es immerhin die gleichen Perso­ nen, die vielleicht eine kontinuierliche politische Romantik repräsentierten. Offenbar geht es dann nicht um eine Kontinuität der politischen Richtung, sondern um eine irgendwie andere. Ganz radikal halten wieder andere gerade die Romantik für besonders politisch, allerdings meist im dem negativen Sinn von Schwärmerei, Welt­ fremdheit, Irrationalismus, Mystizismus und Subjektivismus. „Die Zerstö­ rung der Vernunft“ war dafür ein berühmter Titel (Georg Lukacs 1954). Dies bedarf keiner großen Erklärung, denn es ist wohl die Meinung, die sehr viele dazu haben. Schöne Gedichte, aber wenig Vernunft und wenig Ordnung. So wertete schon das 19. Jahrhundert.3 Wirklich fatal und gefährlich wäre dies alles noch nicht. Erst wenn man die Romantik zu einer schicksalhaften deutschen Erbschaft macht, stellt sich diese Frage. Man darf dann Hitler und den Nationalsozialismus nicht vergessen. Sie erscheinen konsequent als Fälle von unvermeidlichem Na­ tionalromantismus. Man muss dann die deutsche Vergangenheit irgendwie politisch korrekt behandeln. Das ist einfach, wenn ich an die klaren Verbre­ chen denke, die ja auch juristisch und völkerrechtlich präzisiert und judiziert wurden. Aber es wird schwierig, wenn es um Romantik geht. Muss man dann Hitler einen Romantiker auf dem Kanzlersessel des deutschen Reiches nennen, so wie man mit einem berühmten Aperçu den preußischen König Friedrich Wilhelm IV.4 1847 den Romantiker auf dem Thron nannte (D. F. Strauß)? Der unglückliche bayerische König Ludwig II.,5 dessen „Märchen­ schlösser“ aus den Jahren nach 1870 heute fast alle Welt gerne besucht, gehörte auch in eine solche Reihe. 3  Siehe nur soeben Claudia Lieb, Einleitung, S. 17, in: Romantik. Das große Le­ sebuch, hg. von Detlef Kremer und Claudia Lieb, Frankfurt am Main 2010. Für die Zeitgenossen nach wie vor Friedrich Sengle, Biedermeierzeit, Bd.1: Allgemeine Voraussetzungen. Richtungen. Darstellungsmittel, Stuttgart 1971, S. 31 f. über die Probleme der langen Nachkriegs- und Nachrevolutionsepoche mit „Überfliegendem“ und „Schwebendem“ und bloß „Subjektivem“, mit der „Energie der Zerissenheit“ bei Kleist und der „Schwindsucht des Geistes“ bei Novalis, so im Rückblick der überall beteiligt gewesene Hegel 1828. 4  Er lebte 1795–1861 und regierte 1840–1858. 5  Er lebte 1845–1886 und regierte seit 1864.



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Friedrich Wilhelm, Ludwig, Hitler? Um es noch bizarrer zuzuspitzen: Gibt es einen romantischen Zusammenhang zwischen dem gotischen Kölner Dom (Friedrich Wilhelms Anliegen nach 1840), dem neugotischen Neu­ schwanstein (Ludwigs Traum nach 1868) und Hitlers Haus der deutschen Kunst (1933–37) – obwohl dieses Haus der deutschen Kunst neoklassisch stilisiert ist? Oder politischer und rechtshistorisch: Gibt es eine Kontinuität zwischen den politischen Prozessen im Deutschen Bund gegen die sog. Demagogen seit 1819, die Linkshegelianer und das Junge Deutschland nach 1840, die Polen (1846), die Kommunisten (1852) in Preußen unter Friedrich Wilhelm und dem berüchtigten Volksgerichtshof seit 1934 mit seinen vielen Todes­ urteilen unter Freisler oder den Konzentrationslagern seit Mai 1933? Ob­ wohl es etwa in Bayern unter Ludwig nach 1864 offenbar keine vergleich­ baren Vorgänge gab? War das bayrische „Volk“ zu monarchisch von „Natur“, wie man sagt,6 und die Regierung zu liberal und gemütlich?7 Ich stelle diese Fragen nicht nur in isolierter Rhetorik. Im Blick auf die Kant-Rezeption in juristischer und politischer Theorie (Naturrecht, Rechts­ philosophie, Staatslehre, Politik) des 19. Jahrhunderts8 wurde immerhin er­ wogen, und keineswegs zufällig, ob es nicht einen „schicksalhaften, fatalen Zusammenhang der beiden Begriffe ‚reine Vernunft‘ und ‚reines Blut‘ gibt“, ob also Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft von 1781 und der NSRassismus der 1930er Jahre Ausdruck eines einzigen Schicksals seien.9 Problem und Phänomen sind damit exponiert. Zwei Lösungsschritte scheinen mir wichtig. Erstens muss viel genauer gesagt werden, was mit politischer Romantik gemeint sein könnte. Und man kann diese Frage nicht einfach mit neuen originellen Exegesen lösen, es stecken zu viele Ge­ schichtsbilder mehrerer europäischer Generationen darin. Zweitens soll diese Romantik ein speziell deutsches Erbstück sein. Es ist kaum zweifel­ haft, dass es ein solches Erbstück Romantik gibt. Aber es ist genauer zu 6  Hans Rall, in Handbuch der bayrischen Geschichte, hg. von Max Spindler, Bd. IV 1: Das neue Bayern 1800–1870, München 1974, S. 267. 7  Umfassend dazu Wolfram Siemann, Der „Polizeiverein deutscher Staaten“. Eine Dokumentation zur Überwachung der Öffentlichkeit nach der Revolution von 1848 / 49, Tübingen 1983, hier S. 16. 8  Dazu unter diesem Titel Joachim Rückert, in: John Locke und  / and Immanuel Kant. Historische Rezeption und gegenwärtige Relevanz. Historical Reception and Contemporary Relevance, hg.von Martin P. Thompson, Berlin, 1991, S. 144–215. 9  So Karl Hahn, ebda, Zitat S. 219, und 216 f., mit den dann üblichen Argumen­ tationsstücken (kantischer Formalismus, abstrakter Rationalismus, schematisierte Denkungs- und Darstellungsart, Widerspruch zum Gedanken der Autonomie, Son­ derentwicklung Deutschlands gegen Locke und Rousseau, irrationale Gegenbewe­ gung, Nietzsche als Zeuge: Der reine Geist ist eine reine Dummheit).

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untersuchen, wie das Erben eigentlich aussehen soll. Dabei interessiert dann vor allem die Frage einer Schicksalhaftigkeit und Gefährlichkeit dieser Erbschaft. II. Romantik. Politische Romantik? Was bedeutet also politische Romantik genauer, in einer Übersicht nach Zeit, Raum, Ort, Personen und Gehalt? Ohne Zweifel hat es eine ziemlich klar bestimmbare Romantische Bewegung in Deutschland gegeben. Heinrich Heine gab ihr 1835  /  36 von Paris aus den berühmt gewordenen Namen „Romantische Schule“. Das war kein Ehrentitel, sondern ein Schimpfwort. So gerne man im 19. Jahrhundert von literarischen, philosophischen, jurist­ ischen und anderen „Schulen“ redete, es geschah fast immer polemisch. In allen Nachschlagewerken bis hin zur Encyclopedia Britannica findet man unter diesen Stichworten Informationen über einige berühmte Dichter, Literaten und Philologen zwischen ca. 1790 und 1850 – keine Politiker. Es beginnt mit den gelehrten Gebrüdern Schlegel (geb. 1767, 1772), den hoch­ poetischen Freunden Novalis (1772) und Tieck (1773), alle geboren um ca. 1770, daneben Wackenroder (1773) und Hölderlin (1770). Auch schon Be­ nedicte Naubert (1752) und jedenfalls Sophie Mereau (1770) zählt man dazu. Aus ganz verschiedenen Richtungen, aus Hannover, Kursachsen, Berlin, Neckarschwaben, Thüringen trafen fast alle in Jena zusammen, zu gemeinsamem Dichten und Denken, im Milieu der führenden Reformuni­ versität der Zeit. Im Kern handelt es sich also um die sog. Jenaer Romantik, ca. 1797 bis 1801. Diese Zwanzig- bis Dreißigjährigen betrieben lebendig­ ste „Symphilosophie“, sie schrieben aufregend andere Literatur. Als Theorie schufen sie nicht Systeme, sondern geistreiche und meist freche und anma­ ßende sog. Fragmente und Essays in ihrer Zeitschrift Athenäum (1798–1800). Goethe und Schiller hatten das im Jahr zuvor, 1797, in ihren Xenien vorge­ führt. Dichtung, Philosophie und manchmal auch Politik wurden kräftigst aufgespießt. Nur Fichte und der Goethe des Wilhelm Meister kamen eini­ germaßen gut davon. Ein sehr berühmtes Beispiel des philosophischen Friedrich Schlegel war: „Die Französische Revolution, Fichtes Wissen­ schaftslehre und Goethe’s Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters“.10 Ein wenig anmaßend muss man die Selbstsicherheit nennen, mit der hier die gesamte Philosophie und Dichtung und Politik, ja das gan­ ze Zeitalter, durchaus überraschend für die Zeitgenossen resümiert werden. Schlegel trumpft zudem noch auf: „Wer an dieser Zusammenstellung Anstoß nimmt …, der hat sich noch nicht auf den hohen weiten Standpunkt der Geschichte der Menschheit erhoben.“ Ein anderes berühmtes Fragment, von 10  In:

Athenäum I 2, 1798, S. 232, Fragment Nr. 216.



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Novalis, erklärt 1799 das romantische Anliegen so: „Die Welt muß roman­ tisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder“.11 Das war durchaus philosophisch gemeint, wie die Fortsetzung bekräftigt: „Romanti­ sieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert … Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Anse­ hen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es … Romantische Philoso­ phie. Lingua Romana“. Die objektiv-idealistische Verknüpfung von Sein und Sollen ist unübersehbar. In der Tat gehen diese Romantiker aufs Ganze, und sie tun dies gerade auch für die Suche nach Sinn in der Geschichte. „Leben“ und „Natur“ werden durch „Geist“ geadelt. Das gewinnt politische Bedeutung – „Revolution“, „Menschheit“, „Welt“ werden genannt. Diese Sinnsuche kann begeistern, sie muss aber wegen ihrer Erklärungsungeduld auch nachdenklich machen. Jena war ein nachhaltiger Anfang. Es wird genügen, nur noch einige Umrisse zu geben. Nach und mit Jena bildete sich die etwas jüngere Marburger Romantik um 1800–1806 mit Clemens Brentano (1778), der damals länger bei Savigny (1779) wohnte, und dessen Schwester Bettina mit ihrer Freundin, der Günderrode, dann auch mit Sophie Mereau, die Brentano 1803 heiratete, den Brüdern Creuzer, den Pfarrern Bang und Justi, den stu­ dentischen Brüdern Grimm (1785, 1786), auch schon Achim von Arnim (1781). Seit 1805 – der Marburger Ruhepunkt Savigny entfernte sich 1804 zu Forschungsreisen – entsteht wirkmächtig die Heidelberger Romantik, mit Clemens Brentano, von Arnim und Görres (1776). 1808 kommt auch der Philologe und Mythologe Friedrich Creuzer (1771) an die Universität Hei­ delberg. Daneben wirken die Gebrüder Grimm mit den Volksliedersamm­ lungen und Neudichtungen (Des Knaben Wunderhorn, 1805–06; Die Kronenwächter 1817), die Zeitung für Einsiedler oder Trösteinsamkeit. Die liebevoll geschichtliche Erforschung der deutschen Sprache kommt ebenso in Blüte (Grimm: Deutsche Grammatik I 1819, Deutsches Wörterbuch I 1854) wie die Sammlung der Deutschen Kinder- und Hausmärchen (1812– 15), der Deutschen Heldensagen (1820) und der sog. Deutschen Rechtsalterthümer (1828) und der Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter (Savigny: 1815–1831). In Landshut blieb man nicht unberührt, um Sailer, wieder Savigny (auch mit Bettina Brentano), Ringseis, Röschlaub u. a. In Berlin beginnt, besonders seit 1809, eine weitere Gruppe und Phase mit Arnim (zeitweise wieder Brentano), Kleist, Adam Müller, Eichendorff, 11  Novalis, Neue Fragmente Nr. 86, nach der Ausgabe: Novalis, Werke und Brie­ fe, hg. von Alfred Kelletat, München, Winkler, o. J. (ca. 1960), S. 424.

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Hoffmann. Sie geht über in eine Spätromantik in den 1820er- und 1830er Jahren mit den E. T. A. Hoffmann, Chamisso, von Eichendorff, Fr. Rückert u. a. Daneben und danach kennen wir eine bedeutende Schwäbische Romantik mit Uhland, Mörike, Gustav Schwab u. a. Ludwig Uhland (1787) könnte man als das poetische Gewissen der deutschen Nationalversammlung von 1848 / 49 in der Frankfurter Paulskirche bezeichnen. Die europäische Dimen­ sion mit der älteren englischen Lake School und etwa Rousseau bis Miche­ let, Hugo und Baudelaire (1857) in Frankreich sei wirklich nur angedeutet. Was aber soll das Politische sein in diesen zahlreichen romantischen Gruppen – Schulen sind es ja gerade nicht? Gerne würde man dafür einfach irgendeinen maßgeblichen, grundlegenden Text zitieren. Aber bekanntlich gibt es von diesen Romantikern so gut wie keine durchgearbeiteten Texte zur Politik oder zur politischen Theorie, zur Staatslehre oder zur Demokra­ tietheorie usw. Wir dürfen ihren Fragmenten und Dichtungen nicht einfach geschlossene Gedankengänge von Burke, Fichte oder Schelling oder Hegel oder Savigny unterlegen, geschweige denn von Kant und den damals domi­ nierenden Kantianern oder auch von K. L. von Haller, dem Schweizer Re­ staurationstheoretiker des Staates. Dennoch kann man den Texten konkrete politische Tendenzen entnehmen. Dazu gehören vor allem fünf Punkte: (1) Man sieht Volk und Nation positiv und schreibt so gegen Napoleon und Frankreich für deutschen Patriotismus. (2) Man sieht das deutsche und europäische Mittelalter positiv als Vielfalt und schreibt so gegen den französischen Zentralismus. (3)  Man sieht die katholische Christlichkeit des Mittelalters positiv und schreibt so gegen den Laizismus der Revolution, also die Trennung von Religion und Staat in der großen Säkularisation 1803, und gegen den politisch-vernünftigen Planungsglauben der neuen Verfassungen und Kodifikationen (Frankreich 1789 ff., Allgemeines Preußisches Landrecht 1794, Code civil 1804, Verfassung in Westfalen und Bayern 1808; All­ gemeines Bürgerliches Gesetzbuch in Österreich 1811). (4) Man schätzt gerade auch die phantasievollen und schwärmerischen Sei­ ten dieses Mittelalters, die Mystik etwa, positiv ein. Man romantisiert es und schreibt so in doppelter Front mit innerlichem Verstehen gegen den französischen Rationalismus der Vernunft, die kalte Reflexion (Mül­ ler 1809), und gegen die englische Seichtigkeit des gesunden Men­ schenverstandes (common sense). (5)  Man sieht die überkommenen ländlichen, städtischen und religiösen Gemeinschaftsformen positiv, also etwa Gutsherrschaften, Zünfte, Klö­ ster, Stadtkommunen, und findet darin lebendige Vielfalt und wohl­ gegliederte soziale Harmonie. So gestärkt schreibt man gegen das



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Evangelium der Gleichheit und den Freiheits-Individualismus der Revo­ lution und der englischen Ökonomie. Kurz: Volk, Vielfalt, Religion, geschichtliches Verstehen, maßvolle Frei­ heit und Gleichheit stehen in der Wertskala oben. Ist mit diesen fünf Ten­ denzen das politische Bekenntnis der Romantik rekonstruiert? III. Politische Romantik 1919 Es wird längst aufgefallen sein, dass ich das Problem bisher vereinfacht habe, da z. B. die republikanische Frühromantik eines Friedrich Schlegel (Versuch über den Republikanismus, 1796) in meinem Romantik-Umriss fehlte. In dieser Verlegenheit fand sich auch der bekannteste Autor über politische Romantik, der junge Jurist, Staatsrechtslehrer und ehrgeizige Geistesgeschichtlicher Carl Schmitt (1888–1985). Er gab die bekannteste und wohl immer noch folgenreichste Antwort auf die Frage nach dem poli­ tischen Denken der Romantik – kaum zufällig wieder ziemlich paradox und selektiv. Sie steht in seinem brillanten Buch von 1919 mit dem lapidaren Titel Politische Romantik.12 Es erschien nach 1925 noch sechsmal und un­ verändert bis 1998, auf 128 Seiten, daneben in Französisch (1928), Italie­ nisch (1981) und Englisch (1986).13 Als Prototyp, der den „Typus politischer Romantik in seltener Reinheit“ (S. 27)14 darstelle, wird dort auf 27 Seiten15 ein ‚Romantiker‘ ausführlich vorgestellt, den ich bisher nur gestreift habe: Adam Müller. Der in Berlin geborene Müller lebte 1779–1829, gehört also noch zur frühen Gruppe im ersten Jahrzehnt nach 1770. Nach dem Jurastu­ dium im vornehmen, eher trockenen Göttingen trat er nicht als Dichter, sondern philosophisch und politiktheoretisch (Die Lehre vom Gegensatz, 1804) als eine Art Intellektueller und Journalist auf, bis er nach schweren Konflikten mit Hardenberg und dessen Reformpolitik in Berlin nach 1815 in Metternichs Diensten seine Sicherheit als Gesandter fand. Sein literari­ scher Höhepunkt lag vor 1814. 1809 ließ er das Buch drucken, das sehr einschlägig auftritt mit dem Titel Die Elemente der Staatskunst. Nicht zu­ fällig entstand es im Milieu von Öffentlichen Vorlesungen vor seiner Durchlaucht dem Prinzen Bernhard von Sachsen-Weimar und einer Versammlung 12  Dazu und im Entstehungskontext die umfassende Biographie von Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009, S. 101–111: Politische Romantik 1815 / 1919. Das Buch entstand kaum zufällig im Krieg. 13  So jedenfalls das Ergebnis einer Recherche im weltweiten Karlsruher virtuellen Katalog. Alle Auflagen erschienen ohne Quellen- und Literaturverzeichnis, nur mit einem Namensverzeichnis. 14  Die Seitenzahlen aus Schmitt stehen im folgenden so im Text. Sie beziehen sich auf die vielfach nachgedruckte wesentlich erweiterte 2. Auflage von 1925. 15  Carl Schmitt, Politische Romantik, München 1925, S. 50–76.

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von Staatsmännern und Diplomaten im Winter 1808 auf 1809, zu Dresden gehalten – so der Untertitel. Man spürt die Bemühung des minder Gebore­ nen um Reputation und Geltung in Adelskreisen. Die Vorlesungen hatten Erfolg, gewiss mehr als Schmitt meint16. Sie wurden teilweise vorveröffent­ licht unter dem Titel Von der Idee des Staates und ihren Verhältnissen zu den populären Staatstheorien, 1809, und ebenfalls 1809 in der Zeitschrift Pallas des Kleist-Freundes Rühle von Lilienstern. Ein Savigny, nun Profes­ sor im aufstrebenden bayerischen Landshut, nahm sie jedenfalls sofort energisch und abwägend in die Hand und exzerpierte viel.17 1817 wird er jedoch sehr kritisch.18 1823 zeigt sich der Dissens von der Gegenseite, bei Müller, der die „Sophistereyen“ der Königsgegner im preußischen Staatsrat beklagt, „der Humboldt, der Savigny p. p.“19 Müller gehörte aber nicht unmittelbar zu den mehr literarischen Roman­ tikerkreisen, die bisher genannt wurden. Das muss irritieren in der Politikund Erbschaftsfrage. Irritieren muss auch Schmitts Hauptetikett dazu, seine „Kategorie politischer Geistigkeit“ (S. 49) dafür: Das Politische in Müllers Texten nennt er „subjektivierten Occasionalismus“ (S. 162 f. u. ö.). Gemeint ist eine causa-lose (und für Schmitt auch norm-lose [S. 22]) Haltung je nach Gelegenheit. Anders als im religiösen Kontext, sei sie freilich gottlos, bin­ dungslos (S. 22 f.), also nur noch Dezision, „privates Priestertum“ (S. 26). Weniger vornehm und weniger gewollt kategorial ausgedrückt, wird Müller wie der gesamten Strömung also schlicht Opportunismus bescheinigt – ebenso brillant wie vernichtend. Die politischen Ideen dieser Romantik sind ihm bloße Begleitaffekte (S. 142, 170, 225, auch 161 f.) ohne eigene Ent­ scheidung und ohne inneren Halt. Sie zeigen nur Ordnungsunfähigkeit (S. 226), ja sogar persönliche und soziale Wurzellosigkeit (S. 77). Man ­reserviere sich hier systematisch als Subjekt (S. 106 u. ö.), die bekannte romantische Ironie gelte sinnlos nur dem Objekt, nicht dem Subjekt selbst (S. 107). Man erschöpfe sich in räsonnierender Resonanz zur wahren Poli­ tik (S. 151). Darin liege weder eine Staatsphilosophie, wie etwa bei Schel­ ling (S. 159), noch eine selbständig konservative Haltung wie bei Metternich und Haller oder Rehberg oder vom Stein. Der Staat sei hier nur Kunstwerk, 16  Er sieht Erfolg nur im „engeren Kreis der Bekannten“ und hebt auf drei Be­ sprechungen 1809 und 1810 ab, deren Kontext aber zu prüfen wäre (Politische Romantik, S. 63). 17  Siehe Friedrich Carl von Savigny, Politik und Neuere Legislationen. Materia­ lien zum „Geist der Gesetzgebung“, aus dem Nachlass hg. von Hidetake Akamatsu und Joachim Rückert, Frankfurt am Main 2000, hier S. XXXVIII und 163–173. 18  Dazu Rückert, Savigny (wie Fn. 2) 202 (das Urteil aber ohne klaren Bezug auf die Schriften). 19  Dazu mit den Quellen Rückert, Savigny (wie Fn. 2) 202, 387. Sophisterei warf man übrigens auch Adam Müller vor, s. Schmitt, Romantik (wie Fn. 15) 222 f.



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das sei der Kern aller politischen Romantik (S. 172). Auch die nationale und katholische Tendenz seien nicht selbständig (S. 179). Im Schluß folgt kon­ sequent: Jede ernsthafte politische Aktivität und Theorie widerspreche der wesentlich ästhetischen Art des Romantischen (S. 222), eben ihrem subjektivierten Occasionalismus (223 f., 227). Der letzte Satz spitzt das Urteil noch einmal zu: „Alles Romantische steht im Dienste anderer, unromanti­ scher Energien und die Erhabenheit über Definition und Entscheidung ver­ wandelt sich in ein dienstbares Begleiten fremder Kraft und fremder Ent­ scheidung“ (S. 228). Schmitt schrieb also eine unerbittliche Abrechnung. Diese ‚freie‘ geistes­ geschichtliche Monographie war etwa doppelt so lang wie „Gesetz und Urteil“ von 1912. Man spürt das Engagement und erneut den an Grundfra­ gen interessierten und versierten Juristen. Denn er spricht Müller und den Romantikern vor allem jegliche eigene Wertkonsequenz ab – ein vernich­ tendes Urteil für eine politische, normative Ideenwelt. Folgerichtig protes­ tiert Schmitt gegen einen unrichtigen deutschen Sprachgebrauch, der viel zu weit von politischer Romantik rede und die echte, aktive politische Restau­ ration eines Metternich meine (vgl. 9 f., 43). Meine Fünf-Punkte-Romantik half weiter, aber mit Carl Schmitt wird die Verwirrung wieder komplett. Folgt man Schmitt, so wäre die bis dahin gültige und bis heute tragende konkretere Vorstellung von politischer Ro­ mantik falsch und wertlos. Die katholisierende Restauration wäre nur poli­ tische Tat ohne geistige Grundlage in der Romantik. Denn Opportunismus ist kein geistesgeschichtlich selbständiger Faktor. Opportunisten gibt es immer und überall. Hitler wäre eben auch ein Opportunist und das deutsche Volk mit ihm. Was ist dazu zu sagen? Schmitts aggressive Bilanz blieb natürlich nicht unwidersprochen. Ein schier endloser Streit um das Wesen der Romantik, ihre Begriffsbestimmung wurde 1972 bilanziert.20 1977 verhandelte man die Romantik in Deutschland in einem gewaltigen internationalen Symposion mit 48 Beiträgen auf rund 700 Seiten.21 Das Londoner Festival von 1994, dann auch in München, war noch üppiger angelegt.22 Die Kulturregion Frankfurt a. M. wird sich nach dem Expressionismus drei Jahre lang auf Romantik im Frankfurter 20  Begriffsbestimmung der Romantik, hg. von Helmut Prang, Darmstadt 1972 (= Wege der Forschung 150). Auf rund 450 Seiten gesammelt sind Aufsätze zwi­ schen 1911 und 1968, darunter auch ein Auszug aus Carl Schmitt. 21  Romantik in Deutschland. Ein interdisziplinäres Symposion, hg. R. Brinkmann, Stuttgart 1978. 22  Ein Bericht in: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 8.10.1994: Das schwe­ re Erbe der Romantik. Eine extreme Kritik, Schmitt verschärfend, in: The Indepen­ dent vom 24.8.1994: As if Hitler never existed, von Andrew Graham-Dixon.

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Raum konzentrieren.23 London verwendete einen pragmatisch-gelassenen Romantik-Begriff. Audio-visuell hielt man sich an konkrete Texte, Bilder und Personen. Das war gewiss klug und heilsam. Aber die hier entscheiden­ de Frage nach der politischen Erbschaft und ihrer Gefährlichkeit blieb dabei offen und streitig. IV. Die Gefährlichkeit der Erbschaft Nimmt man Schmitt beim Wort, so geht es darum, ob politischer Oppor­ tunismus in der Form eines subjektivierten Okkasionalismus einen wesent­ lichen deutschen Geschichtsfaktor bildet. Das kann man gewiss bejahen. Aber es wäre kaum etwas besonderes Deutsches in der Weltgeschichte. Gibt es typischerweise hier mehr und dort weniger Mitläufertum? Das wäre von Romantik ganz unabhängig. Und wie sollte man das klären? War Mitlaufen der Kern eines deutschen Sonderwegs? Aber Mitläufertum funktioniert nicht ohne organisiertes Führertum. Es können nicht beide Teile Mitläufer sein, weil dann die Richtung fehlt. Nach diesem Modell wäre das deutsche Volk als romantischer Dauer-Mitläufer aufzufassen, aber Hitler und seine Ideolo­ gen wären gerade keine Romantiker, sondern die (Ver)Führer. Sowohl Mit­ läufertum als Erbschaft wie die Gefährlichkeit der Verführbarkeit und die Eigenständigkeit der Verführer wären klar. Carl Schmitt hätte 1919 gerade­ zu prophetisch das NS-Regime und seine Rolle darin als mitführender Kronjurist vorweggenommen. Diese Erklärung erscheint mir zu großräumig, zu einfach und unhisto­ risch. Sie arbeitet mit der Vorstellung von einem festen Volkscharakter als Geschichtsfaktor. Mag der Charakter nun gut oder schlecht oder eben schwächlich opportunistisch sein – die Logik vom Charakter ist die gleiche und sie ist nicht sehr überzeugend. Die möglichen geistigen und politischideellen Faktoren, ganz zu schweigen von den ökonomischen und sozialen, verschwinden so in einer allgemeinen, irgendwie harmlos fatalistischen Formel. Hitler wäre nicht nur geistiger Führer, sondern vor allem geistiger Verführer. In der Tat hat man nach 1945 die Ideologie des Nationalsozialismus nicht als eigene politische Theorie anerkennen wollen und oft als eklektisches Sammelsurium und bloße Zweckdemagogie bezeichnet. Sabine schrieb in seinem Standardwerk zur politischen Ideengeschichte24 über den national socialism und italienischen fascism: „Their so-called philosophies were mosaics of ancient prejudices, put together without regard for truth and 23  Durch

den Kulturfonds Frankfurt Rhein Main. H. Sabine, A History of Political Theory, 3. A. 1961.

24  George



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consistency …“ und bemerkt: „The strategy determined the philosophy“.25 Mir scheint, dass damit das Gewicht und die geschichtliche Tragweite der geistigen Faktoren beim Aufbau und der Durchsetzung einer solchen Ideo­ logie unterschätzt werden. Obwohl ich persönlich mehr dazu neige, die unmittelbaren brutalen Machtkämpfe um Parlament, Regierung, Justiz, Ar­ mee, Polizei und Strafrecht, Presse und Rundfunk für wichtiger, ja für entscheidend zu halten – das Problem der rationalen Gewichtung der histo­ rischen Faktoren muss hier auf sich beruhen –, möchte ich doch die Dyna­ mik auch der sog. geistigen Faktoren unterstreichen. Denn politische Herr­ schaft war und ist auch eine Sache der Beherrschung der Köpfe und nicht nur der Macht über die Geldbeutel und die Waffen. Vor allem missachtet man mit der Darstellung der NS-Ideologie als bloßes Sammelsurium die unglaubliche literarische und ideelle Denkarbeit auch der besten Köpfe schon seit 1914 an einer neuen Weltanschauung.26 Man missachtet auch den riesigen Propagandaaufwand, der an der NS-Zeit so sehr als neu und prä­ gend auffällt. Diese Arbeit mit und an den Köpfen der Deutschen war nicht nur eine Sache der Parteiversammlungen und politischen Stammtische, sondern die tägliche Sorge einer Mehrheit der geistigen Eliten in Presse und Universität und besonders in der Studentenschaft der späten Weimarer und der frühen NS-Zeit. Ein Carl Schmitt in Berlin und ein Heidegger in Frei­ burg strengten ihre erstklassigen Köpfe für die neue Politik an. Schmitt schrieb über die ‚ewige‘ Trias von Staat, Bewegung, Volk (Dez. 1933) und das neue konkrete „Ordnungs- und Gestaltungsdenken“ im Recht (Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934). Hochbegabte ältere und vor allem jüngere Rechtslehrer der Geburtskohorte nach 1900 dachten mit und weiter, vor allem Larenz (1903–1993) in Rechtsphilosophie, Me­ thode und Zivilrecht, Ernst Rudolf Huber im Staatsrecht und Schaffstein und Welzel im Strafrecht. In der Rechtsgeschichte arbeitete man „in strengs­ ter Wissenschaftlichkeit am ewigen germanischen Grundgedanken“ (Hey­ mann 1942)27. 25  Ebd.

S. 885, 887. immer noch Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Wei­ marer Republik, zuerst 1962, u. a. für Plenge, Spengler, Schmitt, Jünger, Freyer, Zehrer, auch van den Bruck, Rosenberg, Krieck. Für die Jurisprudenz wichtig Oliver Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus, München 1994. 27  So der renommierte Berliner Jurist Ernst Heymann zu Herbert Meyer 1942, dazu Joachim Rückert, Das gesunde Volksempfinden – eine Erbschaft Savignys?, in: Zs. der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abt. 103 (1986) S. 199–247, hier 230; zu diesen Vordenkern und ihrem Vordenken auch ders., Der Rechtsbegriff der Deutschen Rechtsgeschichte in der NS-Zeit: der Sieg des „Le­ bens“ und des konkreten Ordnungsdenkens, seine Vorgeschichte und seine Nachwir­ 26  Siehe

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Dieses einzige kurze Zitat kennzeichnet sehr gut die allgemeine Einstel­ lung und den Ernst dieser Anstrengungen. Gewiss entstand daraus weder ein allgemeingültiges völkisches Rechtsdenken noch eine gültige juristische Staatslehre oder politische Theorie, zumal nicht nach 1939. Das hätte eine zu große interne Regel-Bindung der Diktatur bedeutet. Aber diese Versuche sind ernst gemeint und müssen ernst genommen werden, wenn man die geistigen Faktoren klären will. Schmitt hat auch dazu, freilich eher unbeab­ sichtigt, 1919 die Fäden gelegt. Ein Adam Müller diente Metternich zwar nur als Helfer und Werkzeug. Aber er wurde eingesetzt, und nicht zufällig, im Kampf um die öffentliche Meinung. Auch damals wurde der Kampf um die Köpfe also ernst genommen und angelegentlich geführt. Hier benutzte man die Vorstellungen der Romantik als Werkzeuge im geistespolitischen Kampf, hier wurden daraus eine politisch durchdachte Romantik und eine deutsche Erbschaft, die über bloßen Opportunismus hinausgeht. Heine und die Junghegelianer bestätigen vor 1848 das Gewicht dieses Faktors durch die Heftigkeit ihrer Polemik und verfestigen zugleich ein allgemeineres Bewußtsein davon. Die späteren klassischen Romantik-Studien von Haym (1870) über Ricarda Huch (1899) und Schmitt (1919) und Lukacs (1954) und Jacques Droz (1966) kreisen alle darum, in pro oder contra. In diesem Kampf um die Köpfe scheint mir der Kern der Frage nach einer Erbschaft und ihrer Gefährlichkeit zu stecken. Im Bild: War die Waf­ fe der Romantik eine ererbte und gefährliche? Ein schwacher Volkscharakter wäre eine Art chronische Krankheit, eher tragisch als per se gefährlich. Viel brisanter wäre eine Mischung von durchaus gutem Charakter und guten Absichten mit fatalen geistigen Werkzeugen, die den guten Charakter poli­ tisch und überhaupt normativ irreleiten. Tatsächlich scheint mir das gedank­ liche Arsenal der politischen Romantik eine bestimmte brillante Metaphysik und Methode zu enthalten, die derart verwendbar ist, freilich nicht so ver­ wendet werden muss. Der oben erstellte Fünf-Punkte-Katalog von politi­ schen Tendenzen trägt dies allerdings noch nicht. Patriotismus und Volks­ verbundenheit, Vorliebe für dezentrale Vielfalt und soziale Harmonie, für kreative Phantasie und religiöse Fundamente – das alles kann gute Wirkun­ gen haben. Ich denke an eine Methode, eine Denkhaltung, eine geistige Grammatik und konkrete Sprachwelt, die nach vielen Erfahrungen die rule of law, die allgemeine Rechtsfunktion der Verhaltenssteuerung und Erwar­ tungssicherung überhaupt, tendenziell auflösen und die rechtlich-politischen Regeln des menschlichen Zusammenlebens zerstören. Solche Regeln haben eine sehr nötige stabilisierende Aufgabe gegenüber dem unvermeidlichen und fruchtbaren Streit der menschlichen Interessen. Sie erfüllen diese Auf­ kungen, in: Die Deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit, hg. von Joachim Rückert und Dietmar Willoweit, Tübingen 1995, S. 177–140.



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gabe aber nur, wenn sie eine gewisse Festigkeit und Gewissheit haben. Die politische Theorie der Romantik unterstützt diese relative Festigkeit der normativen Vorstellungen nicht, im Gegenteil. In diese Richtung argumen­ tiert freilich auch Schmitt. Aber er verallgemeinert dies zu einer Dauerstruk­ tur als „subjektivierter Occasionalismus“. Das führt dann wieder in die Irre. Meine Behauptung lässt sich nur an konkreten Punkten verdeutlichen, am besten an einigen juristisch-politischen Grundbegriffen. Nur hier stellt sich ja die normative Frage der Stabilität. Es geht um die Stabilität des Rechts und damit auch die der Politik, die jedenfalls in der Neuzeit durch Recht begrenzt werden muss. Die Auffassungen von den Rechtsquellen (Gesetz, Gewohnheit, Juristen, König, Volk?) und vom Rechtsbegriff, vom Staat und seinen For­ men, von der Rolle des Volks und des Gesetzes und der der Juristen dabei, von der Auslegung der Gesetze und der Stellung des Richters – überall stößt man dazu auf Weichenstellungen. Novalis nennt den Staat ein schönes Individuum, und Friedrich Schlegel spricht von Organismus und beklagt die zu star­ re, zu juristische Ethik Kants28. „Jämmerlich“ schreibt Novalis 1798, sei „je­ ne praktische Philosophie der Franzosen und Engländer, von denen man meint, sie wüßten so gut, was der Mensch sei, unerachtet sie nicht darüber spekulierten, was er sein solle. Jede organische Natur hat ihre Regel, ihr Sol­ len. Und wer darum nicht weiß, wie kann der sie kennen?“29 Und: „Vollendet ist, was zugleich natürlich und künstlich ist.“30 Auch für Müller ist der Staat Naturprodukt, Organismus, nicht Maschine31, er enthält so auch die vergangenen Geschlechter.32. Der Staat kann daher sogar Gegenstand einer unend­ lichen Liebe33 sein. „Sich und den Andern oder den Nächsten … zugleich ­lieben … das ist die Grund-Maxime … der Staats-Philosophie“34. Das Staats­ volk bzw. das politisch maßgebende Volk soll eine beseelte Naturgröße sein, Volksgeist konstituiert es. Überhaupt sei alles Recht organisiertes Natur­ produkt35, das traditionelle Naturrecht sei eine Chimäre.36 Die Methode der Erforschung dieser Natur ist die geschichtliche. Natur ist hier nicht naturalistisch gemeint. Sie hat als Sein mit Sollen einen hochgradig positiven Wertakzent und eine ‚objektive‘ Richtung. In 28  Beides treffend vermerkt von Schmitt, Romantik (wie Fn. 15) 156, aber mit weniger treffenden Folgerungen. 29  Novalis, in Athenäum I 2, 1798, S. 280. 30  Schlegel, in Athenaeum I 2, 1798, S. 306, Nr. 419. 31  Adam Müller, Elemente der Staatskunst (1809), hg. von Jakob Baxa, 2 Bde, Berlin u. Leipzig 1922, I S. 45, 181, 324 u. ö., 330 das Gegenbild „Maschine“. 32  Vgl. ebda. II 321, aus 16. Vorlesung. 33  Ebd. I 314 mit II 370 (nach hs. Ergänzung). 34  Ebd. I 309 mit II 368 (nach hs. Ergänzung). 35  Ebd. I 45, II und 258 u. ö. 36  Ebd. I 40.

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Müllers Sätzen steckt ganz methodisch das metaphysische Programm der Immanenz. Die Dinge tragen ihre Richtigkeit oder ihre Regel immer schon in sich, sie entwickeln sich im Prinzip von selbst richtig. Eingriffe sind verwerflich. 1814 widmete sich der bedeutende Jurist Savigny in seiner europaweit wirksam gewordenen Schrift Über den Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft den normativ-politischen Grundsatzfragen seiner Zeit. Er behandelte und löste diese Fragen in analoger metaphysischer Wei­ se, auch wenn er sonst vor allem ein gelehrter römischrechtlicher Fachjurist war. Das Recht entsteht nach ihm in Wahrheit kraft innerer Notwendigkeit37, nicht durch stets künstliche Gesetze. Gesetze und Richter und Juristen und souveräne Könige sind in Wahrheit nur Organe dieses Volksrechts38, dieses wirklichen39, natürlichen Rechts. Den Staat fasst er 1840 auf als die leibliche Gestalt der geistigen Volksgemeinschaft40, nicht als bewußtes Menschenprodukt, nicht von Menschenhänden gemacht41. Im Staat wird die an sich unsichtbare … organische Erscheinung42 Volksgemeinschaft sichtbar – für den der sehen kann. Das normativ wesentliche Volk findet er im Bewußtseyn des Volkes43 und im Volksgeist44, als ein Naturganzes, nicht als ein reales Volk45 usw. Der historische Weg soll der einzige Weg zur wahren Erkenntnis unseres eigenen Zustandes sein46. Man findet sich hier in nicht immer leicht verständlichen Doppelungen. Die Objekte oszillieren zwischen etwas Eigentlichem, aber an sich Unsicht­ barem wie dem eigentlichen Recht im Volksgeist und etwas Sichtbarem wie dem Gesetz und dem realen Volk. Das wird bewusst und konsequent so gedacht. Darin liegt die immanenzphilosophische Rüstung dieser Texte. Man weiß es dadurch ganz und besser. Es wirkt alles sehr stabil und klar. Man findet so den Sinn als ursprünglichen Sinn, wie ihn Novalis suchte. Das Leben trägt ihn in sich. 37  Savigny, Vom Beruf, 1814, Kap. 2; erneut ders. in seinem umfassenden Grund­ lagenwerk: System des heutigen Römischen Rechts, Bd.1, Berlin 1840, § 7 Allge­ meine Entstehung des Rechts, hier S. 15, 17. 38  Savigny, System I 39, 50. 39  Savigny, Beruf 17; System I 14, 31, 43. 40  System I 22; erneut in VIII, 1849, S. 14. 41  Siehe Savigny, Beruf 43, in Kap. 5 am Ende. 42  Savigny, System I 22. 43  Savigny, Beruf 9, 43. 44  Savigny, System I, 1840, 14. 45  Ebd. 30. 46  Siehe den Programmaufsatz von Savigny, Über den Zweck dieser Zeitschrift, in: Zs. für geschichtliche Rechtswissenschaft, Bd. 1, 1815, S. 4.



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Aber die zwischenmenschliche Umsetzung dieser Erkenntnisse ist schwie­ rig. Das beginnt bei der oft schwierigen Sprache. Man muss sie geradezu lernen und kann damit die besondere Einsichtsfähigkeit erwerben, ohne die man hier nichts versteht. Das Modell setzt tiefere als normale Einsicht vo­ raus und ist daher doch instabil. Konsens muss hier am an sich Unsichtba­ ren verankert werden, weil das Sichtbare nur eine Erscheinungsform davon ist. Geselligkeit und Symphilosophie sind hier das vereinigende Medium. In Diskussionen des Marburger Kreises um praktische Philosophie argumen­ tiert der hier genauere Jurist Savigny scharf gegen die starre Pflicht der Kantianer und gegen die geheimen Erzieher nach Plan in Goethes Meister.47 Sein ideales Medium gemeinsamer praktischer Sinnfindung sind mit ­Friedrich  Schlegel Freundschaft und Liebe48 und daraus, nicht aus Hetero­ nomie, erwachsende Gemeinschaft der Gesinnung49. Wenn diese fehlt, be­ klagt er dies als kalte anteillose Zeit.50 Das hält er auch immer fest. Die Schülergruppen spalteten sich meist im Streit um die rechte Einsicht in die Normativität der unsichtbaren Substanz, nicht zufällig oft in linke und rechte Gruppen. Das Leben erwies sich als nicht so klar von selbst geregelt. Diese Denkformen und -figuren, bis hin zu einem darin fassbaren grund­ sätzlichen Denktyp versus Kant,51 ließen sich noch viel umfassender dar­ stellen.52 Das hier Wesentliche scheint mir aber gesagt. Ich lasse daher nur noch eine m. E. sehr aufschlussreiche zeitgenössische Stimme sprechen. Im englisch-hannoverschen Klima hatte sich August Wilhelm Rehberg (1757– 1836) als politischer und philosophischer Schriftsteller und hannoverscher Staatsmann eine glänzende Übersicht über seine Zeit geschaffen. Er rezen­ sierte 1810 Adam Müllers Staatskunst-Schrift recht verständnisvoll,53 aber in einem Punkt sehr kritisch. Der Verfasser Müller, so Rehberg, „hat nicht genug an der poetischen Manier Herder’s. Er setzt eine metaphysische 47  Brieflich

um 1800 und 1821, siehe Rückert, Savigny (wie Fn. 2) 196, 202. den Briefen, siehe Rückert, Savigny (wie Fn. 2) 194–197. 49  Ebd. 391–394. 50  Ebd. 392, für die Zeit um 1819  / 20 nach den Karlsbader Unterdrückungsbe­ schlüssen, im Gegensatz zu 1813 / 14. 51  Dazu näher Rückert, Volksempfinden (wie Fn. 27) 224–229. 52  Bes. hilfreich sind dafür immer noch Erich Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, in: Handbuch der Philosophie, hg. von A. Baeumler und M. Schröter Abt. II, 1927, sep. Neudruck Darmstadt 1970; Ernst Troeltsch, Die Organologie der deutschen historischen Schule, in: der Historismus und seine Pro­ bleme (1922), Ges. Schriften, Bd. 3, Tübingen 1922; Timothy D. Weldon, Kritik der politischen Sprache (1953), dt. Übs. Neuwied 1962. 53  Rehberg, Rez. in (Hallesche) Allg. Lit.-Zeitung 1810, Nr. 107–109, hier nach ders., Sämtliche Schriften, Bd. 4, Hannover 1829, S. 240–277. 48  Aus

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hinzu.“54 In dieser spekulativen Staatsphilosophie sei alles in eine metaphysisch-poetische Sprache übersetzt.55 Es sei der Roman eines in lebenden, sich bewegenden Ideen bestehenden Staates.56 Roman war 1810 ein Leit­ wort für Romantik.57 Rehberg nimmt auch durchdacht Stellung. Allerdings leiste der reine Verstand für sich allein in der wirklichen Welt sehr wenig, ein gewisser poetischer Sinn mache einen „wesentlichen Teil eines vollstän­ digen menschlichen Geistes aus“. Er schärfe auch sogar den Verstand. Ganz etwas anderes aber sei der „angebliche Enthusiasmus, der den Verstand benebelt und unterdrückt“. Der suche allenthalben auch in der practischen Welt nur Ideen und läuft Irrlichtern nach.58 Man erbaue, construiere, so eine bloß idealische Welt, die ungeachtet des inneren Zusammenhangs der Begebenheiten keine Haltung habe, weil sie auf keinem festen Boden ruhe. Das gewähre keine sichere Einsicht. Ein „einziger Blick auf die wirkliche Welt reicht hin, den Zauber zu lösen“.59 Treffend erfasst Rehberg damit den philosophischen Zauber von Müllers Zugriff.60 Es ist wichtig zu beachten, dass Rehberg und Müller über normative Fragen schreiben. Was literarisch und ästhetisch und künstlerisch sehr fruchtbar sein kann, nämlich die metaphysisch-poetische Manier, kann nor­ mativ und juristisch gefährlich wirken. Denn dort kommt viel auf Kreati­ vität und Phantasie an, hier das Meiste auf Stabilität und Klarheit. Dort geht es um Entdeckungen, hier um die klare Darstellung und Vermittlung von Regeln. Die gewisse Hybris, den ganzen und ursprünglichen Sinn er­ fasst zu haben – die Welt im Innersten zu erfassen, treibt zu dieser Zeit auch Goethes Faust61 –, das kann in der Poesie sehr fruchtbar, ja notwen­ dig sein, in der Jurisprudenz und Politik erscheint es gefährlich, da sie dann die tiefere Einsicht von Priestern der Gerechtigkeit erforderte. Auch dafür gibt es genügend Beispiele. Priestertum funktioniert aber nur hierar­ chisch, da die besondere Einsicht in die Substanz nicht jedem gleich ge­ lingt und zukommt. Pluralismus und Gewaltenteilung sind hier dysfunk­ tional, Liberalismus und Demokratie und rechtliche Gleichheit ebenso. Die überwiegend metaphysisch-poetische Denkart der Romantiker erscheint mir 54  Ebd.

IV 255. IV 263, auch 264, 270. 56  Ebd. IV 265 57  Siehe zur Wortgeschichte jetzt Lieb (wie Fn. 3) 17–19. 58  Alles Rehberg IV 249 f. 59  Ebd. IV 260. 60  Carl Schmitt verwendet diese Rezension und Rehberg überhaupt ebenfalls mehrfach (s. Namensverzeichnis), nennt aber diesen Aspekt nicht. 61  Goethe, Faust I, 1808, Vers 382 f., im Anfangsmonolog von Faust: „Daß ich erkenne, was die Welt / im Innersten zusammenhält, / Schau alle Wirkungskraft und Samen, / Und tu nicht mehr in Worten kramen.“ 55  Ebd.



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also auf dem Felde normativer Probleme und Lösungen eher gefährlich. Sie passt jedenfalls schlecht zu den Norm-Idealen rechtlicher Gleichheit und freiheitlicher Individualität der Menschen, zu Verfassungsstaat als Or­ ganisation dieser gleichen Freiheit und zu rule of law als Richtschnur usw. Mit diesem Ergebnis bleibt die Frage nach der Prägekraft genau dieses Faktors als einer deutschen Erbschaft. Vermutlich stellt diese Art von Me­ taphysik tatsächlich eine spezielle Mitgift einiger deutscher Dichter und Denker aus ihrer besten Zeit dar, die man hier etwas höher hielt als anders­ wo. Aber diese Mitgift scheint eine Pandoragabe zu sein. Sie muss natürlich nicht unvermeidlich, folgerichtig oder notwendig Unglück bringen oder womöglich zu Verbrechen führen. Die unmittelbaren realen Machtkämpfe und schlichten Untaten fern von jeder Geistigkeit im schwankenden Deutschland seit 1918 und besonders in den Jahren 1933 / 34, als die Dikta­ tur in den Sattel stieg, dürfen als Ursache nie vergessen werden. Allerdings kam es auf der Ebene der geistigen Faktoren schon nach 1918 zu einer neometaphysischen Welle in den normativen Fächern und sogar zu berühm­ ten ‚Konversionen‘ – etwa des einflussreichen Rechtsphilosophen Julius Binder seit 1918 von Kant zu Hegel –, die kaum unabhängig waren von der Unruhe der politisch-rechtlichen Entwicklung. Allgemeine Lebensphiloso­ phie und juristische Freirechtsbewegung62 arbeiteten hier Hand in Hand. Je unsicherer die rule of law und ihre Verfahren in Regierung, Justiz und Parlament wurden, desto gründlicher griff man in der Meinungsbildung zu der vermeintlich sicheren metaphysischen Substanz eines höheren Rechts und einer höheren Politik. Zugleich einigte man sich aber immer schlechter über dieses Höhere und sah sich politisch immer mehr nur noch als Freund und Feind – dies die berühmte Formel Schmitts zum Wesen des Politischen. Das überrascht historisch nicht. Metaphysische Rechtslehren sind zunächst stabil, wenn sie selbst ein Prinzip festhalten. Aber die Konkretisierung und diese Prinzipien selbst geraten wegen ihrer unsicheren Struktur schnell unter Zweifel, Konkurrenz usw. Die Substanzlehren werden zu Predigten. Die Geschichte des naturrechtlichen Denkens wie des religiösen erweist diese Lage vielfach. Wie mehrfach betont, schmälert das nicht den eigenen Sinn dieser Bemühungen und Haltungen für die allgemeinen Weltanschauungen und die religiösen Überzeugungen. Aber etwa die konkret praktischen Men­ schenrechtsnormen damit zu vermischen und mit den Schismen der Religi­ on, Moral und Weltanschauungen zu belasten, erscheint gefährlich, weil es 62  Wie die philosophische Lage damals sich in hier wesentlichen Punkten gewan­ delten hatte, zeigt gut Lepsius (wie Fn. 26) 366–368; zum Freirecht jetzt J. Rückert, Vom „Freirecht“ zur freien „Wertungsjurisprudenz“ – eine Geschichte voller Legen­ den, in: Zs. der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abt. 125 (2008) S. 199–255.

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die Funktion des Rechts torpediert. Die Lehre lautet Arbeitsteilung. Savigny nutzt in seinen hier teilweise verwendeten allgemeinen Grundbegriffen die metaphysischen Denkformen als Legitimation, aber nicht als Revolution,63 und weniger oder gar nicht in seinen konkreten juristischen, dogmatischen Begriffen. Vielmehr richtet sich seine Metaphysik des Volksgeistes als we­ sentliches Fundament des Rechts, das im Prinzip hier von selbst entsteht, lediglich gegen die Dominanz von Gesetzgeber (und das hieß Fürsten wie französisches Parlament) und Justiz (und das hieß vom Fürsten abhängige Richter). Die Rechtswissenschaft war jedenfalls seinerzeit unabhängiger und im Ideal der deutschen Universität und Wissenschaft durchaus orientiert an qualitativer Argumentation und am Diskurs. Übrigens verwendet das Grundgesetz eine ähnliche Technik, indem es in der Präambel die „Verant­ wortung vor Gott“ anspricht und in Art. 1 naturrechtliche Formeln verwen­ det. Das dient ebenfalls nicht der Auflösung, sondern der Stärkung der Normen. Wo die völkische Rechtslehre und politische Ideologie des NS über plum­ pe Zweckpropaganda hinausging, und das tat sie wie erwähnt durchaus, zeigt sie erhebliche Parallelen zu dieser metaphysisch-poetischen Methode und Denkart. Die Doppelung im Objekt kehrt wieder. Das gilt für die Leh­ re vom gesunden Volksempfinden als Rechtsquelle (besonders im Straf­ recht), für die völkische Bindung des Richters, für die rechtliche Gliedstel­ lung jedes Volksgenossen, für die Gefahr der Verwirkung der Rechte bei Mißbrauch der subjektiven Rechte usw.64 Das Recht steht einerseits im Gesetz, aber eigentlicher im Volksempfinden, der Richter hat entsprechend beides zu beachten, der Volksgenosse hat individuelle Rechte, aber nur unter dem Vorbehalt der Rasse und der Gliedstellung usw. Im unvollende­ ten Entwurf eines Volksgesetzbuches von 1942 lautet unter den präambel­ haften Grundregeln die Nummer 20 für den Richter, er solle Recht sprechen „nach freier, aus dem gesamten Sachstand geschöpfter Überzeugung und nach der von der nationalsozialistischen Weltanschauung getragenen Rechts­ auslegung.“ Das gleiche gelte für Notar und Anwalt. Weltanschauung und Recht werden also zu einer besonderen Art von Recht gedoppelt. Dass all dies für die Rechtswelt katastrophal wirken muss, hat die Geschichte nicht nur nach 1933 bewiesen. Außerdem hat die Zerstörung einer Rechtsordnung durch derartige strukturelle Auflösung in der Regel erhebliche soziale Fol­ gen weit über das Rechtliche hinaus. Das sind die Gefahren dieser metho­ dischen Erbschaft. Dagegen waren die schon für sich gefährlichen Inhalte Rasse und biologisches Volk und Antisemitismus, bewusste Irreligiösität, 63  Siehe

Rückert, Savigny (wie Fn. 2) 240 f. zum gesamten Bereich mit etlichen Beispielen Rückert, Volksempfinden (wie Fn. 27). 64  Siehe



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strenges Führerprinzip und Gliederung in Gefolgschaften, jedenfalls in dieser Verbindung, ziemlich neu. Das geistige Erbstück wäre also identifiziert. Aber das bedeutet noch keine Kontinuität von der deutschen Romantik um 1800 bis ins deutsche Verbrechen nach 1933. Gerade bei einer derart metaphysisch ansetzenden Denkart und Methode kommt es für die konkreten Ergebnisse sehr auf den Kontext an. Noch einmal bietet Savigny ein hilfreiches Beispiel. Man kann ihn zwar nicht einfach als Romantiker einreihen. Für die Verknüpfung des positiven Rechts mit Grundlagenperspektiven verwendet er aber durchaus analoge metaphysische Denkfiguren. Doch bei ihm sind sie sorgfältig und klar abgesichert in einer christlichen und sittlichen Humanität. Das zeigt besonders die Analyse seiner religiösen Haltungen,65 aber auch seine Rechtstheorie. Denn: „Jene allgemeine Aufgabe alles Rechts66 nun lässt sich einfach auf die sittliche Bestimmung der menschlichen Natur zurück führen, so wie sich dieselbe in der christlichen Lebensansicht darstellt; denn das Christentum ist nicht nur von uns als Regel des Lebens anzuerkennen, son­ dern es hat auch in der Tat die Welt umgewandelt“. Und er fügt hinzu, dadurch werde das Recht keineswegs „in ein weiteres Gebiet aufgelöst und seines selbstständigen Daseyns beraubt … es erhält nur seine höhere Wahr­ heit durch jene Verknüpfung mit dem Ganzen.“67 Trotz aller metaphysischen Methode – von hier führt kein Weg zu Hitler. Das lässt sich auf die politi­ schen Romantiker verallgemeinern. V. Schluss Ich habe versucht, eine deutsche geistige Erbschaft zu erklären, die mir schön und gefährlich zugleich zu sein scheint. Weniger plausibel erscheinen mir Erklärungsmodelle wie Volkscharakter, Anfälligkeit, Verführbarkeit, ebenso wie steter Sonderweg oder Okkasionalismus, Irrationalismus, Kol­ lektivismus, latenter Präfaschismus und anderes mehr, was man an negati­ ven (Rückwärts)Teleologien aufbietet. Viel konkreter erklärt die Zusammen­ 65  Dazu jetzt Joachim Rückert, Religiöses und Unreligiöses bei Savigny, in: Kon­ fession und Recht. Auf der Suche nach konfessionell geprägten Denkmustern und Argumentationsstrategien in Recht und Rechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhun­ derts, hg. von Pascale Cancik u. a., Frankfurt am Main 2009, S. 49–69; ebenda auch der Aufsatz von Hans-Peter Haferkamp, Einflüsse der Erweckungsbewegung auf die „historisch-christliche“ Rechtsschule zwischen 1815 und 1848, S. 73–93. 66  D. h., einem individuellen und einem allgemeinen Element jedes Rechts zu­ gleich gerecht zu werden, dem individuellen, jedem Volk besonders angehörenden, und dem allgemeinen, gegründet auf das Gemeinsame der menschlichen Natur ­(Savigny, System [wie Fn. 37] I 52 f.). 67  Savigny, System (wie Fn. 37) 53 f.

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hänge eine gewisse metaphysisch-poetische Methode und Denkart, die die politische Romantik virtuos pflegte.68 Sie wirkte und wirkt aber keineswegs nur negativ. Sie kann sehr fruchtbar sein für Glaubensfragen, für Religion und Dichtung, für Kunst und Phantasie. Aber sie kann sehr schädlich sein für die Stabilität der fragilen, aber sozial fundamentalen Welt der gemein­ samen Normen und Regeln.

68  Ähnlich meinte jüngst Rüdiger Safranski im Resümee seines höchst anregen­ den Romantikbuches, „Die Romantik als Epoche ist vergangen, das Romantische als Geisteshaltung aber ist geblieben.“ (S. 392 in: Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007). Und: „Das Romantische gehörte zu einer lebendigen Kultur, ro­ mantische Politik aber ist gefährlich.“ (S. 393).

Das Unverstehbare verstehen: Der Holocaust und die Rechtsgeschichte* Von Michael Stolleis I. Die folgenden Überlegungen zu einem der schwierigsten Gegenstände der Geschichtswissenschaft seien mit einer persönlichen Bemerkung eingeleitet: Seit 1969 arbeite ich, mit großen Unterbrechungen und in immer wieder erneuten Anläufen, über das Rechts- und Unrechtssystem des Nationalso­ zialismus. Es war das Thema meiner Generation, die um 1960 auf die Universitäten kam und sah, dass hier etwas getan werden musste, was die akademischen Lehrer nicht tun konnten oder wollten. Es war weniger ein „linker“ als ein moralischer Impetus, der dazu antrieb. Zugleich sollte es aber keine moralisierende Geschichtsschreibung sein, die bei den Vätern nur das Versagen und bei den Zeitgenossen nur die Verdrängung erkennen konnte. Moralisierende Haltungen waren auf diesem Feld eine zu leichte Pflichtübung für jemanden, der vom Holocaust nichts miterlebt hatte und bis in seine Schulzeit davon auch fast nichts wusste. Es sollte also metho­ disch angeleitete, kritische, distanzierte Geschichtsschreibung sein. Distanz freilich nur bis zu einem gewissen Grad; denn die Empathie mit den Opfern blieb erhalten, es war gar nicht anders möglich. Der für dieses Thema un­ gleich berufenere Saul Friedländer hat vom „Primärgefühl der Fassungslo­ sigkeit“ gesprochen.1 Und: „… was uns angetan wird, ist nicht begreifbar“ heißt es in einem Brief aus Tarnopol vom 7. April 1943.2 Im Laufe der Jahre hat sich dieses Primärgefühl der Fassungslosigkeit weiter verstärkt und ist intensiver geworden. Je mehr das Wissen über die *  Eine frühere Fassung ist unter dem Titel „Comprendere l’incomprensibile: L’olocausto e la storia del diritto“ erschienen in: Pólemos. Rivista semestrale di diritto, politico e cultura, 1 / 2010, 193–206. 1  Saul Friedländer, „Das Primärgefühl der Fassungslosigkeit bewahren“, in: ders. Den Holocaust beschreiben, Göttingen 2007, 96–120 (104). Siehe auch Fritz Stern, Der Westen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2008, 26: „Der Mord an den europäi­ schen Juden und der Vernichtungskrieg im Osten bleiben im kollektiven Gedächtnis – und bleiben erschütternd unverstehbar“. 2  Walter Zwi Bacharach (Hrsg.), „Dies sind meine letzten Worte“. Briefe aus der Shoah, Göttingen 2006, 112 ff.

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Details anwächst, je mehr die Zeit vergeht und man selbst älter wird, desto schwerer verständlich und „fremder“ wird das Geschehen. Wir sehen die reale Hölle der Konzentrationslager, die Berge von Toten und die endlosen Namenslisten wie auf den Schwarz-Weiß-Fotos unserer Jugend. Die Chiff­ ren des Grauens scheinen immer schwerer lesbar zu werden. Wir alle wis­ sen, es war Realität, unendlich viel schlimmer noch als auf diesen SchwarzWeiß-Bildern. Aber wir müssen auch hinnehmen, dass die Stimmen der Opfer leiser werden. Diejenigen, die alles noch miterlebt haben und im Rahmen ihrer Möglichkeiten davon „Zeugnis ablegen für alle Zeit“, spre­ chen manchmal mit Melancholie und Furcht von einer Zukunft, in der niemand mehr „authentisch“ davon wird berichten können. Doch bleiben die Briefe unvergängliche Texte der Menschheit.3 Schließlich gibt es „ge­ genläufige Gedächtnisse“ der Opfer und der Täter (samt ihrer Nachkom­ men), der Beteiligten und Unbeteiligten, der Nähe und der Distanz.4 Es ist kein Widerspruch hierzu wenn ich sage: Der wissenschaftliche Impetus, endlich zu „verstehen“, warum es zur massenhaften Tötung von Juden, sog. Zigeunern, Homosexuellen, Geisteskranken, Asozialen, politi­ schen Feinden und Unschuldigen in so aberwitzig großen Zahlen kommen konnte, wird gleichzeitig stärker.5 Es kann, so denkt man, nicht möglich sein, sich jahrzehntelang mit diesen Ereignissen zu befassen und sie den­ noch nicht zu verstehen. Das berührt das Selbstverständnis der Wissenschaf­ ten, in denen man einen kleinen (sehr kleinen) Beitrag zu liefern hofft. Sollen alle diese Anstrengungen, durch Lektüre von Quellen und durch Nachdenken endlich zu „verstehen“, was der Holocaust gewesen ist, was ihn aus dem damals noch harmlos scheinenden gewöhnlichen bürgerlichen 3  „(…) Ich könnte Euch so viel erzählen, doch wie kann man diesen Alptraum, diese Qualen beschreiben, die wir erleben. Der Stift kann die Tragödie unseres Vol­ kes in diesem blutgetränkten Land nicht wiedergeben. Die wohlgeplanten Qualen und die Grausamkeiten, um Menschen einzuengen, gegen sie zu hetzen, sie zu ver­ folgen, zu erniedrigen und zu guter Letzt zu töten. Zuerst wurden wir wie Zitronen ausgepresst, unser Blut wurde bis zum letzten Tropfen ausgesaugt, zuletzt wurden wir in den Abflusskanal geworfen. Zuerst wurde uns das Herz ausgerissen, nahm man uns alle menschlichen Gefühle und alle menschlichen Züge, und als wir zu Tieren wurden, die nur noch mechanisch ihre Tätigkeit verrichteten, wurden wir in Massen ermordet. Ihr könnt dies nicht begreifen, Ihr könnt nicht fühlen, was wir gefühlt haben. Ein normal denkender Mensch könnte niemals glauben, dass man solche Foltern überstehen kann und dass im zwanzigsten Jahrhundert solche Gräuel­ taten möglich sind“, in: Bacharach (Anm. 2) 112 ff. 4  Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse. Über Wirkung und Geltung des Holo­ caust, Göttingen 2007. 5  Jörn Rüsen, Den Holocaust erklären – aber wie? Überlegungen zu Daniel J. Goldhagens Buch „Hitlers willing executioners“, in: Frankfurter Rundschau v. 25.6.1996; Klaus Lüderssen, Der Auschwitz-Prozess – Geschichte und Gegenwart, in: Festschrift für Egon Müller, Baden-Baden 2008, 424–438.



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Antisemitismus der zwanziger Jahre in die Gesetzgebung und in die diskri­ minierende Praxis trieb, bis er sich am Ende ins Wahnsinnige vergrößerte und erst im Zusammenbruch des ganzen Systems zum Stillstand kam, sollen alle diese Anstrengungen vergeblich gewesen sein? II. Wie kann man also den Holocaust „verstehen“? Zunächst muss man sich darauf verständigen, was mit „Holocaust“ gemeint ist – so überflüssig dies klingen mag. Normalerweise verwenden wir „Holocaust“ oder „Shoa“ oder (pars pro toto) „Auschwitz“ als allgemeine Chiffre für eine von Deutschland ausgehende politische Bewegung zur Verdrängung, Entrechtung und schließ­ lich systematischen Vernichtung der jüdischen Minderheit aus dem gesell­ schaftlichen und politischen Leben, zunächst in Deutschland, dann in ganz Europa, soweit sich der Machtbereich Hitlers erstreckte. Aber das ist in mehrfacher Hinsicht zu eng gesehen. Es waren nicht allein die Juden, sondern mit ihnen alle Minderheiten, die das Regime mit Hass verfolgte: an der Spitze natürlich politische Gegner (Sozialisten, Kommunisten, Christen, aber auch Konservative, die sich nicht vereinnahmen ließen), „Zigeuner“ (Sinti und Roma), Homosexuelle, Aso­ ziale, sog. Berufsverbrecher, geistig oder körperlich Behinderte als „unnütze Esser“, ernste Bibelforscher und sonstige Verweigerer des Militärdienstes.6 Man muss also, um das Phänomen insgesamt zu erfassen, alle Begrenzun­ gen von Gruppenidentitäten, alles Rivalisieren um den angemessenen Platz in der Geschichte des Erinnerns zunächst beiseite lassen. Natürlich war Hitler seit seiner Wiener Zeit besessener Antisemit, ebenso die meisten der führenden Leute in „Staat“ und „Bewegung“. Natürlich war die „Vernich­ tung der europäischen Juden“ (R. Hilberg) spätestens seit der WannseeKonferenz das zentrale Ziel. Aber der zugleich politisch und biologistisch gespeiste Wahn nach „Reinigung des Volkskörpers“ umfasste alle genannten Gruppen, und dieser Zusammenhang muss als Ausgangspunkt zugrunde gelegt werden. Eine zweite Begrenzung muss man ebenfalls aufgeben. Die in vielen west- und osteuropäischen Gesellschaften latent oder offen vorhandenen Antisemitismen wurden durch den Nationalsozialismus und die ihn beglei­ tenden Mordaktionen geweckt, ermutigt und unterstützt. Das reicht von der Kollaboration westeuropäischer Gruppen oder Politiker bei der Verschlep­ 6  Die Literatur ist unübersehbar. Die wichtigsten Referenzwerke sind Raul Hil­ berg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt 1990; Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Bd. I, Die Jahre der Verfolgung 1933–1939, 2. Aufl. München 1998, Bd. II, Die Jahre der Vernichtung 1939–1945, München 2006.

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pung von Juden in die Vernichtungslager bis zu den Massenmorden in Li­ tauen, Ungarn oder in Galizien,7 umschließt aber auch die italienische Rassengesetzgebung und Diskriminierungspraxis. Um das Phänomen als Ganzes zu fassen, muss man aber nicht nur von einem weiten Begriff von „Holocaust“ ausgehen, muss die von der NSHerrschaft angeregten Gehilfen und Mittäter außerhalb Deutschlands ein­ beziehen, sondern bei der Erklärung des ganzen Komplexes auch offen sein für alle methodisch ernsthaften wissenschaftlichen Hypothesen. Auch hier müssen die für Wissenschaftler nicht untypischen Tendenzen, die ei­ gene These in den Vordergrund zu schieben oder sogar für die einzige zu erklären, möglichst zurückgehalten werden. Ohne irgendeinen Primat sind für ihre jeweiligen Sektoren alle zuständig: Die Psychoanalyse und die „Psychologie der Massen“, wenn es um Phänomene der affektiven Identi­ fikation, aber auch der Angst und der Unterordnung geht. Weiter: Die Wis­ senschaftsgeschichte der Biologie, insbesondere der Evolutionstheorien und der Rasselehren, der Eugenik, auch der Rechtswissenschaft (im Zusam­ menwirken mit der Eugenik). Sie können uns zeigen, dass die brillante Erfolgsgeschichte der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert auch ihre monströse Rückseite hatte. Von herausragender Bedeutung ist ohne Zweifel auch die Soziologie, die sowohl die Institutionen und ihre internen Dyna­ miken untersucht als auch die Phänomene der Aufteilung von Verantwor­ tung in viele kleine, fast nicht mehr wahrnehmbare Teilchen, die Phäno­ mene der Identifikation mit Leitbildern, „Führern“ oder vagen, nur intuitiv erfassbaren Zielen. Vielleicht sind künftig sogar die Hirnforscher ein Teil dieses Teams von Wissenschaftlern, wenn sie herausfinden sollten, wie „Mordlust“ oder „Blutrausch“ im Gehirn ihre Spuren hinterlassen, und für die Zeit nach 1945 könnte uns die Hirnforschung belehren, wie Erinnerung kreativ verformt und umgebogen wird, damit sie (so sagt die Psychologie) für den Einzelnen psychisch erträglich bleibt. Schließlich spielte die ­Ökonomie eine erhebliche Rolle für die Eroberungspolitik und die Kriegs­ führung insgesamt, sei es im Zugriff auf Rohstoffe und Finanzen, sei es als Mittel zur „Belohnung“ der Heimatfront.8 Für den Holocaust ist die 7  Thomas Urban, Der Verlust. Die Vertreibung der Deutschen und Polen im 20. Jahrhundert, München 2004. 8  Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt 2005 hat stark betont, dass das ganze deutsche Volk vom Krieg profitier­ te. So wichtig dies zur Erklärung der Stimmungslage in Deutschland sein mag, es trägt zur Erklärung des Holocaust nichts bei. Irgendein ökonomischer, militärischer, taktisch-politischer Sinn lässt sich in dem Geschehen nicht finden. Es wurde sozu­ sagen gegen jede utilitaristische Überlegung durchgeführt. Die völkerrechtlichen und moralischen „Kosten“ des Holocaust, nebenbei auch die logistischen und finanziel­ len, überwogen die nebenbei gemachten materiellen Gewinne bei weitem, und man darf annehmen, dass dies selbst der NS-Führung bewusst war.



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Ökonomie dagegen unwesentlich; denn er traf Menschen, die militärisch, ökonomisch oder politisch ohne zentrale Bedeutung waren. Er band erheb­ liche logistische Kräfte, arbeitete der Kriegspropaganda der Alliierten in die Hände und musste zudem vor der eigenen Bevölkerung möglichst ver­ borgen bleiben. 1.  Um das Unverstehbare zu verstehen, sollte man mit dem dominanten Zug, dem biologisch begründeten Antisemitismus beginnen. Viele bürger­ liche Deutsche glaubten bei den Maßnahmen gegen die Juden nach 1933 zunächst, es gehe um eine maßvolle Reduzierung des Einflusses von Juden im öffentlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Leben. Man war sich im traditionellen bourgeoisen Milieu weithin einig: Es gebe im Verhältnis zu den absoluten Zahlen zu viele jüdische Schriftsteller, Schauspieler, Künstler, Musiker, Frauenärzte, Rechtsanwälte, Fabrikanten, Beamte – das wollte man „reduzieren“, und zwar möglichst in Bahnen des Rechts.9 Spä­ testens mit den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 zeigte sich aber, dass dies nur ein für die bürgerlichen Kreise inszeniertes Vorspiel gewesen war, deren Neidinstinkte und Aversionen allmählich befriedigt waren. Nun schob sich die biologistische Argumentation nach vorne, die des „Blutes“. Niemand verstand exakt, was das bedeuten sollte, obwohl es Hitler in „Mein Kampf“ klar gesagt hatte.10 Nun wollte man eine religiöse Minder­ heit, die seit dem Mittelalter in Deutschland gelebt hatte, nicht mehr nur „reduzieren“, sondern als rassisches Element in irgendeiner Form „beseiti­ gen“. Eine Wahnidee, gewiss, widersinnig zumal in einem geographischen Raum, in dem sich seit über tausend Jahren die Völker vermischt hatten. Aber sobald sich Wahnideen im Zentrum der Macht festsetzen, verwandeln sie sich in furchtbare Realität. Nun begannen das Forschen nach der „jü­ dischen Großmutter“ und der staatliche Zwang, Ahnenlisten zu erstellen, nun ging die Angst gerade in bürgerlichen, großbürgerlichen und adeligen Familien um, auf der falschen Seite zu sein. Die Radikalen unter den Na­ tionalsozialisten waren Pseudobiologen, um es milde auszudrücken. Sie glaubten an das „Blut“ und verachteten alle Versuche rechtlicher Begren­ zung, eben weil sie das „Blut“ absolut setzten. Wer an das „Blut“ glaubte, musste ausrotten. Selbst alte Menschen, von denen biologisch nichts mehr zu fürchten war, kamen nun unter die Räder.11 Weil nur die Tötung die 9  Zu den antisemitischen Gewaltakten außerhalb des Rechts siehe Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007. 10  Barbara Zehnpfennig, Hitlers „Mein Kampf“. Eine Interpretation, 3. Aufl. München 2006. 11  Als ein Beispiel unter unzähligen sei der Frankfurter Wissenschaftler, Unter­ nehmer und Mäzen Arthur von Weinberg (1860–1943) genannt, der 1942 im Alter von 82 Jahren in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt wurde, wo er

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eigentliche „Erlösung“ bringen konnte, wurden auch andere, weniger radi­ kale Wahnideen, wie etwa die Verpflanzung aller Juden nach Madagaskar, sofort verworfen. Diese biologistische Vorstellungswelt ist im späten 19. Jahrhundert ent­ standen. Sie ist ein Produkt des in ganz Europa verbreiteten Sozialdarwi­ nismus, der Vererbungslehren und der populären Rassetheorien, die ihrer­ seits in die Naturwissenschaften des 18. Jahrhunderts zurückreichen.12 Das Wissen um die Hauptrassen der Menschheit gehörte zum Standardwissen; in jedem Konversationslexikon war es nachzulesen. Man glaubte – wohl in ganz Europa – an die Zusammenhänge von Aussehen, Schädelform und Charakter. Zur Wahnidee, eine Weltverschwörung des semitischen Juden­ tums zur Zerstörung des Ariertums zu erkennen und diese nun in letzter Minute aufdecken zu müssen, war es nur noch ein kleiner Schritt. Ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert stammte die Vorstellung, der biologi­ sche „Volkskörper“ weise gesunde und kranke Elemente auf. Im Gefolge der „Sozialen Frage“ forschte man über Alkoholismus, Kriminalität, Unter­ ernährung und Erbkrankheiten. Bürgerlichen Kreisen, aber auch Sozialisten erschien es plausibel, in diesen dunklen Nischen der vom „Fortschritt“ be­ herrschten Gesellschaft regulierend einzugreifen: Nicht nur durch positive Hilfen, sondern auch durch Erleichterung der Abtreibung, durch Sterilisation und letztlich durch Tötung „lebensunwerten Lebens“. Diese Formel, populär gemacht durch den Mediziner Hoche und den Juristen Binding, fasste nur zusammen, was man längst diskutierte.13 Der wahnhafte rassistische Antisemitismus des Ariertums und die selbst­ ernannten Ärzte am Sozialkörper der Nation waren sich darin einig, dass einzig der „Nutzen“ für das Volk, die Nation, die Gesamtheit entscheidend sei. Damit wurden alle Sperren der Zivilisation und Kultur, der Moral und des Rechts durchbrochen. Das Recht war als Sperre nicht mehr verstarb, während die von ihm aufgebaute IG-Farben, ein Weltkonzern, zusammen mit der SS das KZ Buna-Monowitz betrieb und Kriegsgewinne machte. Hierzu ­Joseph Robert White, IG Auschwitz: The Primacy of Racial Politics. Diss. Univ. of Nebraska at Lincoln NE, 2000. 12  H. Walser Smith, The Continuity of German History. Nation, Religion, and Race Across the Long Ninteenth Century, Cambridge 2008 behauptet die Ausgren­ zung von Juden als Spezifikum der langen deutschen Geschichte, zeigt aber gerade für das 19. Jahrhundert die europäische Dimension des Phänomens. Welche Faktoren nun genau die Dynamisierung der Ausgrenzung bis hin zur Vernichtung bewirkten, kann mit der fragwürdigen Konstruktion von „Continuities“, wenn auch auf höherem Niveau als Goldhagen, nicht verstanden werden. So mit Recht Dieter Langewiesche, FAZ v. 14.11.2008, S. 9. 13  Karl Binding – Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form (1920), mit einer Einführung von Wolfgang Naucke, Berlin 2006.



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brauchbar, seit es als „bloßes Gesetzesrecht“, das jederzeit geändert wer­ den konnte, diffamiert war. Die Moral war durch Nietzsche als Instrument der Schwachen verhöhnt worden; der Starke brauche sich nicht an sie zu halten. 2.  Ein zweiter wesentlicher Grund, der nach 1933 zur Jagd auf Minder­ heiten führte, war die halb unbewusste, halb zynisch-bewusste Mobilisie­ rung der „Volksgemeinschaft“. Hitlers Urerlebnis war die Gemeinschaft der Soldaten an der Front. Viele der Soldaten setzten diese Lebensform in den Freicorps fort – sie waren als „Landsknechte“ für eine Rückkehr in die Zivilgesellschaft oft verdorben. Nun, nach dem Ersten Weltkrieg, redeten alle von Gemeinschaft. Das Bürgertum sehnte sich nach einer Überwindung der Klassenkämpfe in einer „Volksgemeinschaft“. Die Sozialisten träumten ebenfalls von einer die Klassen übersteigenden Gemeinschaft. Die bürger­ liche und die sozialistische Jugendbewegung hatten nebeneinander und gleichzeitig ihre Lieder gesungen und an den Lagerfeuern gesessen. Staats­ theoretiker wie Rudolf Smend hofften auf Überwindung der permanenten Staatskrise durch „Integration“. Aber auch Carl Schmitt, Erich Kaufmann und Hermann Heller suchten, jeder auf seine Weise, nach einer „Einheit“ des Gemeinwesens, und es war klar, dass der bürgerliche Liberalismus des 19. Jahrhunderts sie nicht mehr leisten konnte. Diese in der Weimarer Zeit unablässig wiederholten Reden von Einheit, Volksgemeinschaft und Integration wurden nun nach 1933 von den Natio­ nalsozialisten aufgenommen und radikalisiert. Da Hitler die Parteien verach­ tete und so schnell wie möglich zerstören wollte, brauchte er eine Zielpro­ jektion, die Einheit der (nun rassisch definierten) Nation. Nach seinen Front- und Kampferfahrungen war es nur möglich, machtvoll aufzutreten, wenn man die Massen hinter sich vereinte. Als Leitbild und Leitmotiv zu­ gleich diente dazu nun die „Volksgemeinschaft“ mit ihren Einheitsritualen. Es schmeichelte der Arbeiterschaft mit der Diskreditierung der Intelligenz­ berufe, es demütigte das Bürgertum und forderte es zugleich auf, sich ein­ zugliedern, es verhöhnte die Eliten der Wissenschaft, des Adels, der Kirche als „lebensfremd“, „verkalkt“, „klerikal“. Auf dieser Grundlage war es relativ einfach, in einem nächsten Schritt die Volksgemeinschaft als „rassische“ Einheit zu definieren. Von da an gab es also nur die homogene Gesamtheit der Arier und eine Reihe von Grup­ pen, die nicht „integrierbar“ waren: die verhassten Juden, die Sozialisten, die unverbesserlichen Liberalen, die gegenüber der Gemeinschaft reservier­ ten Christen und andere religiöse Gruppen, die unheilbar Kranken und die ihnen gleichgestellten Homosexuellen. Sie alle waren durch Exklusion „gemeinschaftsfremd“. Es ist bezeichnend, dass das Justizministerium unter dem radikalen Nationalsozialisten Thierack mitten im Krieg noch ein Ge­

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setz gegen „Gemeinschaftsfremde“ plante. Bestraft bzw. eliminiert werden sollte generell, wer sich gegen die Volksgemeinschaft stellte.14 Mit anderen Worten, die Kampfgemeinschaft des Ersten Weltkriegs und des politischen Akteurs Hitler wurde nun zur rassisch definierten Volksge­ meinschaft. Sie war nur herstellbar durch Jagd auf Minderheiten; denn erst diese Jagd erzeugte das Gefühl, in der Gemeinschaft auf der richtigen Seite zu sein.15 Dieser psychologische Aspekt erklärt auch, dass die radikalsten Täter des Holocaust typischerweise kleinbürgerlicher oder bäuerlicher Her­ kunft waren. Sie konnten am stärksten die Gefühle permanenter sozialer Benachteiligung durch das nun mögliche Auftreten als „Herrenmenschen“ kompensieren. Bekanntlich kann sich ein Mensch mit Minderwertigkeits­ komplexen dramatisch wandeln, wenn man ihn mit einer Uniform, mit Reitstiefeln, Peitsche und vor allem mit der Macht zu töten ausstattet. 3.  Ein dritter Grund für die Entwicklung von 1933 bis in das Ende des Holocaust liegt m. E. darin, dass es einen fast gesetzmäßigen Verlauf von Revolutionen zu geben scheint. Es ist oft beobachtet worden, dass revolu­ tionäre Brüche mit der bisherigen sozialen Ordnung und Rechtsordnung eine ihnen eigene Dynamik entfalten. Exemplarisch sieht man dies bei der wohl berühmtesten Revolution, der französischen von 1789. Sie beginnt als systemimmanente Revolte, Reformen werden angeboten, die Forderungen erhöhen sich, die Radikalen setzen sich durch, die Temperatur steigt, und zwar so sehr, dass schon der kleinste Verdacht oder die haltloseste Verleum­ dung tödliche Folgen hat. Dann frisst die Revolution ihre Kinder, die Welle überschlägt sich und geht in eine neue Ordnung über. Sie heißt dann „Re­ aktion“ oder „Restauration“. Nun war die Machtübergabe an die Nationalsozialisten kein Staatsstreich oder Putsch, sondern eine zunächst noch legale Regierungsbildung. In we­ nigen Wochen wuchs sie sich aber zu einer Revolution aus – vorausgesetzt man reserviert diesen Begriff nicht nur für die „moralisch guten“, vom Volkswillen getragenen Umwälzungen.16 Diese NS-Revolution begann lega­ 14  Patrick Wagner, Das Gesetz über die Behandlung Gemeinschaftsfremder, in: Feinderklärung und Prävention. Kriminalbiologie, Zigeunerforschung und Asozialen­ politik, Berlin 1988; Wolfgang Ayass, „Gemeinschaftsfremde“. Quellen zur Verfol­ gung von „Asozialen“ (Materialien aus dem Bundesarchiv, 5), Koblenz 1998; Mat­ thias Willing, Das Bewahrungsgesetz (1918–1967) Tübingen 2003, 187 ff.; Sarah Schädler, ‚Justizkrise‘ und ‚Justizreform‘ im Nationalsozialismus. Das Reichsminis­ terium unter Reichsminister Thierack (1942–1945), Tübingen 2009, 280 ff. zum „Gemeinschaftsfremdengesetz“. 15  Zygmunt Baumann, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 2005. 16  Michael Stolleis, Revolution, in: Erler-Kaufmann (Hg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte Bd. IV (1990) 961–965.



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listisch, sie nutzte das vertraute Instrument der Gesetzgebung und der Ver­ ordnungen. Ein Gesetz folgte dem anderen. Die Juristen kommentierten diese Gesetze, die Gerichte wandten sie an. Man blieb formal im Rahmen des Gewohnten. Das Regime baute eine Fassade des Rechts auf, um sich die Loyalität des bürgerlichen Beamten- und Justizapparats zu sichern. Der Justizminister Gürtner war kein Nationalsozialist, er konnte vielmehr als Garant der deutschnationalen Tradition gelten.17 Die Einrichtung der ersten „wilden“ Konzentrationslager wurde eingedämmt, die Revolution wurde als beendet erklärt, die auf ihrem Anteil an der Beute beharrenden SA-Führer wurden im Juni 1934 erschossen. Das war zwar ohne Zweifel rechtswidrig, beruhigte aber dennoch die bürgerlichen Kreise. Auf deren Zustimmung war Hitler noch angewiesen. Sobald dies aber nicht mehr der Fall war, etwa seit 1935 und 1936, setzte eine neue Radikalisierung ein: Eine aggressive Au­ ßenpolitik, eine forcierte Aufrüstung, Wachstum des inoffiziellen SS-Impe­ riums und der Gestapo. Der Machtkampf zwischen Staat und NSDAP ent­ brannte auf allen Ebenen. Auch die nützlichen Idioten des Systems, ein­ schließlich des „Kronjuristen“ Carl Schmitt 1936, wurden nun abgestoßen.18 In diesem Rhythmus entwickelten sich auch die Entrechtung und Aus­ grenzung der Juden und anderer Minderheiten sowie die Verfolgung der Gegner. Einer wilden ersten Phase folgte eine Phase der Beruhigung und der Legitimierung, vor allem durch die Nürnberger Rassegesetze von 1935, die man in bürgerlichen Kreisen auch deshalb akzeptierte, weil nun Klar­ heit, Abgrenzung und Rechtssicherheit erreicht schienen. Deren Umsetzung ging aber gerade den radikalen Kräften viel zu langsam, und sie erschien ihnen auch zu milde, zu „juristisch“. Man wartete auf eine Gelegenheit. Sie kam im November 1938 und führte zu dem großen Pogrom, dessen Folgen als Signal für den moralisch-rechtlich-politischen Dammbruch noch viel einschneidender waren als die materiellen. Jetzt nutzte man jede Gelegen­ heit zur Erpressung, verlangte „Kontributionen“, ließ sich die Transporte jüdischer Kinder ins Ausland bezahlen, raubte jüdisches Vermögen in gro­ ßem Stil. Aber die innere Dynamik trieb weiter. Die noch größere Gelegen­ heit bot sich im Krieg. Nun konnte man im Vorfeld und im Hinterland der Kampfhandlungen beginnen „wirklich“ zu töten, erst ohne rechten Plan,19 dann immer konsequenter und mit einer Effizienz, für die Deutschland be­ rühmt und berüchtigt ist. 17  Grundlegend Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940, München 1988. 18  Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten Reiches“, Darmstadt 1995; Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009, Dritter Teil, 304 ff. 19  Klaus-Michael Mallmann – Bogdan Musial (Hg.), Genesis des Genozids. Polen 1939–1941, Darmstadt 2004.

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Mit anderen Worten: Es gab zwar keinen von Anfang an verfolgten Ge­ neralplan der Judenvernichtung, weder bei Hitler noch bei einem der Mäch­ tigen in seiner Umgebung. Aber es gab Dispositionen zu Gewalt, zur Ver­ achtung von bürgerlichen „Hemmungen“ und von rechtlichen und morali­ schen Schranken. Diese Dispositionen lagen bereit, wurden aus politischen Gründen immer wieder aufgeladen, nicht zuletzt von Hitler selbst und sei­ nem Einpeitscher Goebbels.20 Die Bereitschaft zum Rechtsbruch, zu Erpres­ sung und Gewalt, letztlich zum Mord, fand sich oben und unten, bei Füh­ rungspersonal und Mannschaften gleichermaßen. Die Führung versicherte sich ständig, sie sei „ohne Skrupel“, sie werde „gnadenlos“ durchgreifen und sich nicht von juristischen Zwirnsfäden die Hände binden lassen. Weder moralische noch rechtliche Einwände sollten greifen. Die ehemaligen Sol­ daten, die Mitglieder der Freicorps und die Schläger der SA hatten nur Gewalt erlebt, und sie gedachten, sie fortzusetzen. In diesem Klima der Selbstberauschung durch Sprache in einem Vokabular der Gewaltsamkeit steigerte sich das Geschehen stufenweise. Was zunächst aus Rücksicht auf das bürgerliche Ambiente noch formal „rechtsförmig“ ablief, wurde bald offene Gewalt, die dann, als alle Welt auf das Kriegsgeschehen starrte, auch kaum noch kaschiert werden musste. Der Holocaust ist deshalb ein sehr komplexer, stetig eskalierender Prozess, in dem sich schrittweise die Radi­ kalen durchsetzten, während Gegner oder „Gemäßigte“ schrittweise ver­ stummten. Zu diesem Verstummen trug wesentlich bei, dass der eigentliche Durchbruch zu Massentötungen (Euthanasie, Einsatzgruppen, Arbeits- und Vernichtungslager) im Schatten des Krieges erfolgte, teils im Verborgenen,21 teils in weiter Entfernung von der „Heimat“. 4.  Dass die Eskalation sich von den Worten zu einzelnen Taten und von da zu einer systematischen Ausrottung „aufschaukeln“ konnte, hat einerseits mit der technischen Moderne an sich, aber auch mit deutschen Eigentüm­ lichkeiten zu tun. Mit „technischer Moderne“ ist die Entwicklung der Tech­ nik seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gemeint. Sie bringt zum einen nicht nur immer komplexere Maschinen, sondern mechanisiert auch den Krieg, etwa durch die Erfindungen des Maschinengewehrs, der fahrenden Tanks, der Unterseeboote, der immer größeren Bomben.22 Zum anderen ist sie 20  Besonders deutlich beim instrumentellen Einsatz des Novemberpogroms 1938 zur Formierung einer kampfbereiten „Volksgemeinschaft“ im Vorfeld des Krieges. Wie beim „Reichstagsbrand“ von 1933 nutzten die Nationalsozialisten die sich bietende Ge­ legenheit zur Stimmungsmache gegen Gruppen, deren Stilisierung als „Todfeinde“ dazu diente, die Mehrheit durch Erzeugung von Angst hinter der Führung zu versammeln. 21  Zur Verbreitung des Wissens siehe Frank Bajohr – Dieter Pohl, Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten, München 2006. 22  Siegfried Giedion, Mechanization Takes Command. A contribution to anony­ mous history, Oxford 1948 (New York 1969, 240 ff.: The Mechanization of Death.



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durch jene Entwicklung zur Arbeitsteilung gekennzeichnet, die es dem In­ dividuum immer schwerer macht, die konkreten Folgen seines Handelns zu erkennen. Die Produktion am Fließband (Fordismus, Taylorismus) erlaubte auch das industrielle Töten am Fließband. In den gigantischen Schlachthäu­ sern von Chicago wurden erstmals in der Geschichte täglich Zehntausende von Tieren getötet und am Fließband verarbeitet.23 Jeder Arbeiter war nur für einen einzelnen Handgriff verantwortlich. Die „Schuld“ der Massentö­ tung löste sich in individuelle Verrichtungen auf. Das war ein unheildrohen­ der Vorbote für die Massentötung von Menschen. Ich bin überzeugt, dass hier keine kausalen, aber strukturelle Zusammenhänge bestehen. Auch die SS experimentierte, welche Technik des Tötens die effizienteste sei, das Maschinengewehr, das Kohlenmonoxyd von Autos, das Giftgas oder die Vernichtung durch Arbeit.24 Der Holocaust war nicht nur rassistischer Massenmord im Krieg oder bei Gelegenheit eines Krieges, sondern auch Produkt einer riesigen Administra­ tion und einer ausgefeilten Logistik. Die oberen dirigierten die unteren Täter, aber sie dirigierten auch das Personal der Eisenbahnen und der Post, der Versorgung mit Material und Verpflegung. Ihre Leitfigur war der NSFunktionär und Schreibtischtäter Adolf Eichmann. Hannah Arendt traf den Kern, wenn sie in ihm die Inkarnation der „Banalität des Bösen“ sah.25 In diesen Apparaturen verliert sich die persönliche Verantwortlichkeit. Sie wird so weit zerkleinert, dass der Handelnde jeweils nur einen Sektor des Ge­ schehens wahrnimmt und auf diese Weise nicht mehr zu reflektieren braucht, was insgesamt geschieht. Insofern waren es „ganz normale Männer“, die da mordeten – mit allen Ambivalenzen, die dieser furchtbaren Formulierung innewohnen.26 23  Upton Sinclair, The Jungle, New York 1906. – Siehe auch D. Pick, War Ma­ chine. The Rationalisation of Slaughter in the Modern Age, Yale Univ. Press 1993. 24  Wolf Gruner, Der Geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden. Zur Zwangs­ arbeit als Element der Verfolgung 1938–1943, Berlin 1997; ders., Jewish Forced Labor Unter the Nazis Economic Needs and Racial Aims, 1938–1944, Cambridge 2006, 3–137. 25  H. Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, 1964 (München / Zürich 1995, 299 f.). Zur Herkunft der berühmten und umstrittenen Formel siehe Ernst Vollrath, Vom „radikal Bösen“ zur „Banalität des Bösen“. Über­ legungen zu einem Gedankengang von Hannah Arendt, Rede zur Verleihung des Hannah Arendt-Preises für politisches Denken, 2001. Nunmehr Rolf Pohl – Joachim Perels (Hg.), Normalität der NS-Täter? Eine kritische Auseinandersetzung, Hannover 2011. 26  Christopher R. Browning, Ordinary Men, 1992 (deutsch: Ganz normale Män­ ner. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die ‚Endlösung‘ in Polen, Reinbek 1993; ders., Die Entfesselung der Endlösung. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939– 1942, Berlin 2006.

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In Eichmann, Heydrich, Kaltenbrunner und Himmler, um nur diese zu nennen, erkennt man aber auch einen spezifisch „deutschen“ Typus.27 Es ist gewiss an der Grenze dessen, was man wissenschaftlich aussagen und be­ legen kann, es ist auch gefährlich nahe an den alten, seit Jahrhunderten überlieferten Klischees, aber ich wage doch die Behauptung, dass der Typus des gehorsamen und überaus effizienten Funktionärs in den zentralistischen großen Staaten Preußen und Österreich mit besonderer Konsequenz ausge­ bildet wurde. Gesetz ist Gesetz, Befehl ist Befehl, aber auch: die Erreichung des Ziels – gleich mit welchen Mitteln – ist entscheidend. Dieser Typus entspricht nicht dem selbstverantwortlichen freien Bürger, der sich seine eigenen politischen, moralischen und rechtlichen Gedanken macht und das Risiko seines Handelns selbst trägt. Preußen und Österreich haben, trotz aller Unterschiede, nicht auf das liberale Bürgertum, sondern auf die Kaste der Beamten und der Militärs gesetzt und dort bestimmte Verhaltensformen ausgebildet. Anders ausgedrückt: Das Bürgertum regierte nicht, es wurde regiert. Es hielt sich von der Politik fern; gerade seine besten Vertreter waren stolz darauf, Abstand zur „schmutzigen“ Politik zu halten. Dass der Nationalsozialismus den alltäglichen Durchschnitt dieses Typus des Staatsdieners ohne große Schwierigkeiten für seine Verbrechen instru­ mentalisieren konnte, ist die eine Seite. Dass gleichzeitig gerade aus dem höheren Beamtentum und dem Offizierscorps der bedeutende und ehrenhaf­ te Widerstand des 20. Juli 1944 erst nach langen inneren Kämpfen aufbrach, ist die andere. Beides widerspricht sich nicht, sondern zeigt nur die tradi­ tionelle Schwäche der deutschen Zivilgesellschaft. 5. Das hier skizzierte Bild wäre nicht vollständig ohne einen Blick auf das Verhältnis des NS-Regimes zum Recht. Bei den wichtigsten Akteuren des Regimes war das „Recht“ nicht mehr als eine negative Chiffre: Hemm­ nisse, Bedenken, juristische Sophistik, Schwierigkeiten. Das Recht war Herrschaftsinstrument, dessen man sich so lange bediente, wie man nolens volens noch ein Bürokratentum und Gerichte brauchte. Auch in den besetz­ ten westlichen Ländern bemühte man sich, den positiven Schein von rechts­ förmigen Verfahren möglichst zu nutzen, wie etwa neuere Untersuchungen zum Vichy-Regime zeigen.28 Im Osten war dies anders. Hier glaubte man an das Recht des Stärkeren und praktizierte es ohne Hemmungen, vor allem im Umgang mit Juden oder slawischen „Untermenschen“. 27  Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungscorps des Reichs­ sicherheitshauptamtes, Hamburg 2003; Peter Longerich, Heinrich Himmler. Biogra­ phie, München 2008. 28  Exemplarisch für Verfahren und Juristentypus die Studie von M. Jungius – W. Seibel, Der Bürger als Schreibtischtäter. Der Fall Kurt Blanke, in: Vierteljahres­ hefte für Zeitgeschichte 2008, 265–300.



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Was die Tausende von Richtern und Staatsanwälten angeht,29 so kann man über deren Vorstellungen von „Recht“ keine generellen Aussagen tref­ fen. Es gibt auf allen Rechtsgebieten vom Geist des Nationalsozialismus erfüllte Urteile, es gibt ebenso zahllose Urteile, in denen die Maschinerie der Gerichte „normal“ funktionierte, wie zuvor auch, und es gibt Urteile, in denen hier und da ein Widerspruchsgeist gegen das Regime aufblitzt.30 Die Analyse solcher Urteile und der Funktionsweise der Justiz insgesamt (ein­ schließlich des Volksgerichtshofs, der Sondergerichte und der Wehrmachts­ gerichtsbarkeit) ist Gegenstand intensiver Forschungen. Das Gesamtbild ist heute sehr viel differenzierter geworden. Aber zum Thema Holocaust gehö­ ren diese Forschungen nicht; denn was in den KZ’s geschah, was die Fol­ terer der Gestapo verübten, was die SS in Maidanek oder Auschwitz tat, war unerreichbar für die Justiz, teils weil die Handlungen der Gestapo per Gesetz von der Kontrolle der Gerichte freigestellt waren, teils weil im Herr­ schaftsbereich der SS ohnehin „Anomie“ herrschte, also nicht nur ein Va­ kuum des Rechts, sondern eine Attitüde der Überheblichkeit, sich um ir­ gendwelche „Vorschriften“ nicht kümmern zu müssen. Ob die von aller europäischen Tradition des Rechts und aller ethischen Bindung gelöste, nackte Lagerordnung eines KZ eine „normative Ordnung“ darstellt, mag als Grenzfall der Rechtstheorie gelten. Mehr als die „Regelhaftigkeit“ des Mor­ dens garantierte sie jedenfalls nicht. 6. Diese Hybris des vermeintlichen Herrenmenschen hat viele Wurzeln, sei es in der beschädigten individuellen Biographie, sei es in bestimmten Milieus (etwa des Auslandsdeutschtums), sei es in der Lektüre sektiereri­ scher Literatur oder von Autoren wie Paul de Lagarde (1827–1891), Hous­ ton Steward Chamberlain, Julius Langbehn (1851–1907), des sog. „Remb­ randtdeutschen“, oder eben von Nietzsches „Zarathustra“, der in den dafür disponierten Köpfen wahre Verheerungen anrichten konnte.31 Um 1900 wimmelte es in Europa von Philosophen und Pseudophilosophen, Religions­ stiftern und Scharlatanen, halbgebildeten Politikern und Militärs, die sich 29  Hubert Rottleuthner, Karrieren und Kontinuitäten deutscher Justizjuristen vor und nach 1945, Berlin 2010. 30  Michael Stolleis, Furchtbare Juristen, in: Etienne François – Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. II, München (C. H. Beck) 2002, 535–548. 31  Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern / Stuttgart 1963 (Ta­ schenbuchausgabe München 1989; Neuaufl. Mit einem Vorwort von Norbert Frei, Stuttgart 2005) zu Lagarde, Langbehn und Moeller van den Bruck. Er legte Wert darauf, Nietzsche nicht in dieser Reihe zu sehen. Das ist gut vertretbar, wenn man den qualitativen Unterschied der Philosophien markiert. Aber es gab auch eine vul­ gäre, selektive und im Bürgertum sehr verbreitete Nietzsche-Rezeption, die sich auch mit dem „heroischen Nihilismus“ der Konservativen Revolution amalgamieren ließ. Für die geschichtliche Wirksamkeit kommt es auf die Rezeption, nicht auf die Intention des Autors an.

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nur darin einig waren, dass sie den bürgerlichen Rechtsstaat und die parla­ mentarische Demokratie verachteten. Solange sich diese Haltung in den li­ terarischen Cafés und Salons, in geheimnisvollen „Orden“ und Landkom­ munen auslebte, war sie Ausdruck des Krisengefühls im Fin de Siècle des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Es waren Zerfallsprodukte der bürgerlichen Welt. Sie wären – unter glücklicheren politischen Umständen – ohne weitere Wirkung geblieben. Aber der Weltkrieg und die politische Torheit von „Versailles“ spülten diese Elemente in die Zentralen der Macht, und von da an konnten individuelle Wahnideen zur Staatsideologie aufstei­ gen. Am Ende schloss man von der Größe des Verbrechens auf die Größe der weltpolitischen Aufgabe, die gerade den Deutschen gestellt sei. Himm­ ler, diese triste Inkarnation aller dieser Züge,32 predigte seinen SS-Leuten den Heroismus der Brandstifter und Mörder, weil ihm dieser ein Indiz für ihre weltgeschichtliche Sendung zu sein schien. Und Hitler selbst sah am Ende ein brennendes Walhall vor sich, in das er sein Volk, das sich seiner nicht würdig erwiesen hatte, hineinzustürzen gedachte.

32  Peter

Longerich, Heinrich Himmler. Biographie, München 2008.

Philosophie und Recht in der rechtsstaatlichen Demokratie – gestern und heute Ein Essay Von Ada Neschke-Hentschke Einleitung1 Die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Demokratie ist so alt wie die Philosophie selber; entstand doch die Philosophie in der attischen Demokratie und fand dort keineswegs nur Freunde, wie es sich am Tode des Sokrates gezeigt hat. Platon sah sich daher veranlasst, eine große Ver­ teidigung der Philosophie zu entwickeln, um seine Forderung geltend zu machen, dass man den Philosophen die Leitung der Polis übergeben sollte.2 Seit jedoch gilt: „Das Volk ist der Souverän“ kann weder eine Einzelperson noch eine Teileinheit des Volkes einen solchen Anspruch stellen. Wozu taugt dann die Philosophie? Die Frage ist jedoch nicht nur alt, sondern auch hoch aktuell: der Bonner UNESCO-Kongress von 2008 „Wozu Philosophie“ stellt auf „globalisierter“ Ebene die Frage nach der Rolle der Philosophie in unserer Zeit. Dieses Faktum lässt sich als ein Erfolg Platons und seiner Nachfolger insofern betrachten, als es einer weltweiten Öffentlichkeit, jenseits der Mauern der „Schulen“, unumgänglich erscheint, über die Rolle der Philosophie in der modernen Welt nachzudenken. Die in den 2011 erschienenen Akten des Kongresses3 gegebenen Antworten sind so vielfältig, wie es bei der Eigenart der Philosophie, Ausdruck freien Suchens nach selbstgewissem Wissen zu sein, nicht anders erwartet werden kann. Ein breiter Fächer von Weisen, Philosophie zu betreiben, tut sich auf; alle laufen darauf hinaus zu betonen, dass vertieftes Nachdenken in vielen verschiedenen Bereichen theoretischen und praktischen Bemühens sich als wichtig erweist. 1  Die folgenden Gedanken wurden im Grundriss zuerst in einem Vortrag auf der Unesco-Tagung zur Philosophie im Herbst 2009 in Bonn entwickelt. 2  Platon, Politeia (Der Staat) VI, 487 b1–497 a9. 3  M. v. Ackeren  / T. Kobusch / J. Müller (Hg.), Warum noch Philosophie, Berlin /  New York 2011.

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Man hat aber vergessen, die Frage zu stellen, ob dem Philosophen als Bürger (civis, citizen, citoyen) in einer die freie Meinungsäußerung schüt­ zenden Demokratie eine besondere Verantwortung zufällt. Wieder muss an Platon erinnert werden, der uns heute direkt anspricht, wenn er die Situa­tion des demokratischen Menschen als eines Höhlenbewohners in seinem be­ rühmten Gleichnis beschreibt.4 Wer denkt nicht bei dem plastischen Bilde der doppelt „mediatisierten“ Welt, wie sie Platons Höhle darstellt, an die moderne Fernsehgesellschaft, derer ein nächtlicher Spaziergänger gewahr wird, wenn aus allen verdunkelten Häusern irgendwo blaues Licht hervor­ leuchtet, in dessen Schein die Mehrzahl der Bevölkerung sich von gelenkten Informationen und Bildern beeindrucken und beeinflussen lässt. Die Rolle der Medien, mit Bild und Wort „Seelenlenkung“ (psychagogia) und damit „Meinungsbildung“ zu betreiben, fiel zu Platons Zeiten den politischen Rhetoren zu, die laut der Öffentlichkeitswerbung des großen Redners Gor­ gias die unwiderstehliche Macht besaßen, den Menschen zu allem, was sie wollten zu überreden (peithein).5 Angesichts der Warnung Platons vor der Verführung durch die veröffent­ lichten Meinungen (doxai) wird der durch das Studium der philosophi­ schen Tradition sensibilisierte und zum Nachdenken angeregte Mensch – nennen wir ihn den Philosophen – diese Lehre auf sich selber anwenden und das kritische Potential der Reflexion, wie es von Sokrates und Platon vorgeführt wurde, auf die eigene Lebenssituation als Bürger in einer De­ mokratie anwenden. Welche Verantwortung fällt dem Philosophen zu, wenn er Mitglied einer sich als freiheitlich verstehenden politischen Gemein­ schaft ist und man ihn fragt, was das kritische Reflexionspotential seiner „Disziplin“ dazu beitragen kann, den Nebel der Meinungen „lichten“ zu helfen – das heißt aufzuklären? Diese Frage kann man allerdings nur stel­ len, wenn man nicht wie Wolfgang Kersting in seinem Kommentar zu Platons „Staat“ die Meinung vertritt, es gebe keinen Platz außerhalb der Höhle.6 Das kommt der Behauptung gleich, dass es im Politischen immer nur um Meinungen und nicht auch um Wahrheit gehen könne, eine Be­ hauptung, die sich wie die allgemeinere der Skeptiker, es gäbe grundsätzlich keine Wahrheit, selbst widerspricht, da sie ja Wahrheit beansprucht. Was die Wahrheit des Politischen angeht, ist diese Frage bereits von Hans Barth und Karl Mannheim als das aktuelle Problem gestellt worden, ob es in einer durch die Parteidemokratie total ideologisierten Gesellschaft wie 4  Platon,

Politeia, VII, 514 a–517a. Lobpreis der Helena §§ 8–10 in: Gorgias von Leontinoi, Reden, ­Fragmente und Testimonien (T. Buchheim Hg., Übers. u. Komm.), Hamburg 1989, S. 9. 6  W. Kersting, Platons „Staat“, Darmstadt 2000, 246–249. 5  Gorgias,



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der modernen nur mehr partielle Weltsichten und nicht auch Wissen und Wahrheit geben könne.7 Die Wahrheit, um die es dem Philosophen als Bürger gehen muss, betrifft den Begriff des demokratischen Rechtsstaates als der im allgemeinen Ver­ ständnis akzeptierten aktuellen Staatsform. Somit steht weniger die Demokra­ tie als die Rechtsstaatlichkeit und damit das Recht in Frage und dies aus histo­ rischer Notwendigkeit, da es nur wenige Jahrzehnte her ist, dass die Europäer die leidvollen Erfahrungen totalitärer Demokratien gemacht haben. Demo­ kratie als klarer Begriff bezeichnet eine Regierungsform und ist ein wertneu­ traler Term, entscheidend ist nicht dass, sondern wie „das Volk“ regiert. Das wussten bereits die alten Athener, die alle Regierungs- und Amtsfunktionen an die gemeinsamen Gesetze gebunden haben8 und denen Platon folgte, als er eine Gesetzesdemokratie in den Nomoi („Gesetze“) entwarf. Um die Arbeit des Philosophen am Rechtsbegriff vorzustellen, bieten sich zwei Möglichkeiten an: Die erste besteht darin, die „Hermeneutik“ des Rechts und des Rechtsstaates, welche die philosophische Tradition erarbeitet hat, nachzuzeichnen, d. h. die wechselnden Interpretationen vorzustellen, denen die Philosophen das jeweils bestehende Recht als Grund-Phänomen des menschlichen Zusammenlebens unterzogen haben; von Platon über Aristoteles, Cicero, Thomas von Aquin, Suarez, Kant und Hegel bis zu Hart und Dworkin wurden auf diesem Wege bedeutende Erkenntnisse zutage gefördert.9 Es ist evident, dass die reine Erkenntnis dessen, was Recht ist, im aktuellen politischen Selbstverständnis der Rechtsstaatlichkeit eine fun­ damentale Bedeutung hat. Seit dem 19. Jahrhundert, seit Robert von Mohl den Begriff des Rechtsstaates geprägt hatte,10 arbeiten Philosophen, Rechts­ historiker, Juristen und politische Wissenschaftler an der Aufgabe, diesen Begriff zu klären. Dennoch, um das Verhältnis von Philosophie und Recht zu erhellen, soll hier nicht Philosophie als Rechtsphilosophie – letztere bringt das rein theo­ 7  H. Barth, Wahrheit und Ideologie, Zürich 21961; K. Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt am Main 81995. Ich gebrauche „Ideologie“ wie Mannheim, der jede von einem bestimmten gesellschaftlichen Standpunkt aus formulierte Theorie eine Ideologie nennt (S. 53–70). 8  M. Hansen, Det Atenske Demokratii im 4. Jahr. f. Kr., 6 Bde., Kopenhagen, 1977–1981. Franz. Zusammenfassung dieses Werkes: M. Hansen, La démocratie d’Athènes à l’époque de Démosthène. Structures, principes et idéologies. Paris 1993 (Engl.: The Athenian Democracy in the Age of Demosthenes. Structures, principles and ideology, Oxford 1991). 9  M. Kaufmann, Rechtsphilosophie, Freiburg 1996, S. 30–219. 10  R. v. Mohl, Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg, Bd. 1 Tübingen 1829, S. 8. Dazu E.-W. Boeckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatbe­ griffes, in: ders. Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt am Main 1991, S. 143–169.

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retische Erkenntnispotential der Philosophie zur Geltung – gewählt werden. Vielmehr sei auf eine andere, ursprünglichere Rolle der Philosophie verwie­ sen, nämlich ihre Rolle als Führerin des menschlichen Wollens und Han­ delns; in der Tat besteht ihr Lebensbezug darin, die praktischen Normen und Werte der eigenen politischen Gemeinschaft zu reflektieren.11 Diese Rolle der Philosophie wird dann sichtbar, wenn nach der Rechtsschöpfung, der Gesetzgebung, gefragt wird. Der Philosophie fiel und fällt dank ihres auf­ klärerischen Reflexionspotentials eine wichtige Funktion da zu, wo der Mensch gehalten ist, sich Regeln seines Handelns, seien es Maximen oder Gesetze, zu geben. Die Notwendigkeit, Handeln auf Regeln zu stellen, be­ trifft den Menschen insofern, als er kein autarkes Wesen ist, sondern darauf angewiesen ist, in einer Autarkie ermöglichenden Gemeinschaft, also einer politischen Gemeinschaft (polis, civitas, république), zu leben; durch Ko­ operation und gegenseitige Anerkennung tritt er hier in ein rational gesteu­ ertes synallagmatisches Verhältnis zu seinem Nächsten jenseits der Familie. Handeln nach rational nachvollziehbaren Regeln betrifft ihn vorerst als Bürger (polites, civis, citoyen, citizen); dank solcher Regeln werden die Verhaltensweisen und Reaktionen der anderen abschätzbar, und ein gegen­ seitiges Vertrauen kann sich einstellen – man denke an den Grad des Ver­ trauens, den wir täglich den Mitmenschen im Straßenverkehr entgegenbrin­ gen. Die Philosophie als Gesetzgeberin des Handelns ist aber der Archetyp der Philosophie überhaupt; genau mit dem Anspruch auf diese Rolle ist sie im Athen des 4. Jahrhunderts dank Platon und Aristoteles entstanden. Bei Platon, gefolgt von allen antiken Philosophenschulen, steht die Philosophie im Dienste des Lebens und konnte daher von den Stoikern die „Wissen­ schaft der Lebensführung“ (epistémé toû bioûn) genannt werden.12 Dass sie in dieser Funktion bis heute eine fundamentale Bedeutung für die Rechts­ schöpfung besitzt, soll im Folgenden gezeigt werden. Daraus ergibt sich aber eine Aufgabe für den Philosophen als Bürger, im Rahmen der öffent­ lichen Diskussionen darüber aufzuklären, welche Prinzipien der Rechts­ schöpfung zugrunde liegen und welche Werte die rechtsstaatliche Demokra­ tie verfolgt. Diesem Ziel sollen die drei folgenden Schritte dienen: •• In einem ersten Anlauf betrachten wir die Rolle, die das Recht de facto im Leben der Bürger in einer Demokratie spielt. 11  Diese Beziehung ist ihr dank Sokrates ursprünglich. Vgl. Verf., Warum Philo­ sophie? Die Antwort Platons im Lichte von Theorie und Praxis, in: M. v. Ackeren /  T. Kobusch / J. Müller (Hg.), Warum noch Philosophie, Berlin / New York 2011, 39– 63. 12  Epictète, Entretiens, IV, I, 64 ( Texte établi et traduit par Joseph Souilhé, Paris 1965) IV, 1, 65.



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•• Anschließend analysieren wir das Recht als einen Gegenstand der Er­ kenntnis, nämlich der Erkenntnis der Rechtsgeschichte. Wir werden durch sie auf die Rationalisierung des Rechtes im „Gesetzes“recht ver­ wiesen und damit auf die Aufgabe des Gesetzgebers, seine Entschei­ dungen auf Erkenntnis zu stellen. Dabei werden wir unterstreichen, dass Gesetzgebung auf praktischen Urteilen über das Gute beruht, welche die Erkenntnis eines höchsten Gutes voraussetzen und daher wahrheitsfähig sind. Dies ist eine Entdeckung der Philosophie. Ihr Postulat, das Recht an ein höchstes Gut zu binden, bildet den systematischen Beitrag der Philosophie zur Grundlegung des aktuellen Rechts- und Verfassungs­ staates.13 •• Schließlich sei anhand eines historischen Rückblicks daran erinnert, wie es zu diesem Beitrag kam und welches „Gute“ er zur Geltung gebracht hat. Vorwegnehmend sei gesagt: Dieses Gute ist die menschliche „Frei­ heit“, verstanden als „Selbsteigentum“ – esse sui iuris; es geht darum zu unterstreichen, dass die Philosophie, die seit Sokrates Hüterin der Freiheit war,14 diese Rolle gegenüber den aktuellen Gefährdungen der Freiheit bewusst wahrnehmen soll. I. Das Recht im Leben des heutigen Menschen Wenn der platonische Sokrates auf der Straße einen Passanten mit der Bitte belästigte, ihm doch zu sagen, was das „Recht“ sei, würde dieser, wenn er kein Jurist ist, in Verlegenheit geraten. Zu sagen, was das Recht oder auch was Recht sei, verlangt, das Recht zu vergegenständlichen, es vor das geistige Auge zu bringen. Dies zu tun, ist schwierig, weil uns im Alltag das Recht nie als diskreter Gegenstand begegnet. Dennoch ist es uns zutiefst vertraut; denn wir leben immer schon im Recht dank unseres gewohnheits­ mäßigen Verhaltens und Handelns; das Recht steht uns sozusagen im Rü­ cken und wird als das, was sich von selbst versteht, kein Gegenstand einer Frage. Daher verhält es sich mit dem Recht wie mit der Sprache: beide bilden nicht Gegenstände unseres Denkens, sondern sind das Milieu unseres Tuns, sei dieses symbolisch wie das Sprechen oder psychisch-physisch wie das Handeln, wo wir unseren Körper einsetzen, um einen Willensakt zu realisieren. Die Regeln des Sprechens heißen seit den Griechen Grammatik, das Recht, sofern es die Regeln des Handelns bestimmt, könnte man analog eine Grammatik des Handelns nennen. 13  Dazu genauer Verf., Fünf Thesen zu einer Philosophie der Verfassung, Archiv f. Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 105, Stuttgart 2006, 18–27. 14  Den radikalsten Beitrag lieferten die Stoiker, vgl. den in Anm. 12 zitierten Traktat des Epiktet, Gespräche, IV, 1: Über die Freiheit.

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So wie wir korrekt sprechen können, ohne das grammatische Wissen er­ lernt zu haben, können wir auch recht handeln, ohne das Recht, die Regeln des Handelns in der Form des Wissens gelehrt worden zu sein. In beiden Fällen vollzieht sich die Assimilation der Regeln durch Resonanz und Imi­ tation, d. h. durch wiederholtes Handeln selber, durch die Gewohnheit, zu der uns die Eltern anhalten. Jedoch als Milieu unseres Denkens und Han­ delns entziehen sich Sprache und Recht unserer Fähigkeit, über sie Rechen­ schaft zu geben. Das hieße nämlich, sie aus einem Milieu in ein Objekt der Erkenntnis zu verwandeln. Merkwürdigerweise geschieht dies in unserer Gesellschaft nur für die Grammatik des Sprechens; die Schule lehrt die Grammatik des Sprechens, nicht die Grammatik des Handelns, das Recht. Man betrachtet es dagegen als ein Kuriosum, wenn Platon in seinem Geset­ zesstaat das Gesetzbuch zur Grundlage des Lese- und Schreibunterrichts bestimmt hat; denn er verlangt von seinen Bürgern eine aktive Kenntnis des geltenden Rechts. Es handelt sich bei diesem Vorschlag Platons aber keineswegs um eine Marotte des alt gewordenen Philosophen, sondern um die Grundlage einer lebendigen Demokratie. Die attische Demokratie, die sich Platon in seinem Gesetzesstaat zum Vorbild nahm, war darauf angewiesen, dass alle Bürger mit den geltenden Gesetzen vertraut waren. Diese waren öffentlich ange­ schlagen, d. h. promulgiert, und damit allen zur Kenntnis gebracht. Grund ist, dass in der direkten Demokratie jeder Bürger (polités) d. h. das vollgül­ tige Mitglied der politischen Gemeinschaft (politeia), lebenslang Mitglied der Volkversammlung war und mehrfach an einem Laiengericht als Richter amtierte; dabei war er, da es keinen Juristenstand gab, auf seine eigenen Rechtskenntnisse angewiesen; musste er doch bald als Glied einer gesetzge­ benden und -prüfenden Kommission fungieren, bald in der Rolle des Rich­ ters geltendes Recht anwenden.15 Die direkte Demokratie ist jedoch kein Fossil der Vergangenheit; sie lebt in der direkten Demokratie der Schweiz auf neue Weise weiter; hier kann jeder Bürger eine Gesetzesinitiative (Referendum) ergreifen oder im Zuge dieses Verfahrens an der Schaffung neuen Rechts mitwirken. Darüber hinaus ist er, schon als bloß beratendes Mitglied des Gemeinderats und selbst noch ohne Aufgabe in der kommunalen Verwaltung, verpflichtet, mindestens die Verfas­ sung seines Kantons genau zu kennen, da er auf diese vereidigt wird. Die Ver­ fassung und die verfassungsgemäß geltenden Gesetze bilden den tatsächlich allgemein akzeptierten Bezugsrahmen kollektiver Meinungsbildungen und Neuschöpfungen von Recht; in der Schweiz als einer aus verschiedenen Eth­ nien zusammengesetzten „Willensnation“ – der Name der Eid-genossenschaft zeugt davon bis heute – besteht das schon in der Antike formulierte Wissen 15  Zum

Funktionieren der attischen Demokratie vgl. Hansen (o. Anm. 8).



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fort, dass eine politische Gemeinschaft sich durch die gemeinsame Verfassung und dem ihr folgenden Recht definiert. Es sei an die klassische Defini­tion der res publica durch den Römer Cicero erinnert: „Es ist die öffentliche Sache (res publica) die Sache des Volkes, Volk aber ist nicht jede beliebige Menschenansammlung, sondern eine solche, die sich auf Grund der Übereinstimmung über das Recht (consensu iuris) und zum Zweck, die Vorteile der Gemeinschaft zu teilen (communione utilitatis), zusammengefunden hat“.16

Diese Definition des Gemeinwesens ist in ihrer Allgemeinheit eine abs­ trakte, aber in sich klare Norm, welche das Wesen der Republik (polis, d. h. politische Gemeinschaft) als einer besonderen Gemeinschaftsform deutlich macht. Es besteht darin, dass man gemäß dem Recht zusammenleben will und jeder an dem Nutzen, den die Gemeinschaft erbringt, teilhat. Letzterer besteht gemäß der klassischen politischen Theorie des Okzidents seit weit über zweitausend Jahren darin, dass die Gemeinschaft das Überleben eben­ so wie das gute Leben möglich macht. Wie dagegen dieses Recht zu gestal­ ten ist und welche Vorteile der Einzelne aus der Gemeinschaft ziehen kann, wird je nach den konkreten historischen Lagen der Wirtschaftsformen und der gesellschaftlichen Ordnung verschieden aussehen. Für Cicero war die republikanische soziale Ordnung Roms ein Bestfall, da die römische Füh­ rungsschicht dank echter, durch die vorgeschriebene Ämterlaufbahn erwor­ bener militärischer, administrativer und juridischer Kompetenz17 für äußeren Frieden und innere Rechtssicherheit sorgte und die römischen Juristen dank eines subtil ausgedachten Privatrechts die Stabilität der Eigentumsverhält­ nisse garantierten. Der Erfolg des römischen Reiches, über fünfhundert Jahre zu bestehen, kann darauf zurückgeführt werden, dass es für die Bewohner des Reiches erstrebenswert war, den Rechtsstatus eines römischen civis zu erhalten; das bedeutete Gewaltfreiheit (innerer Frieden) und Sicherung der eigenen Person – Person ist ein römischer Rechtsbegriff –, da man als Bür­ ger beim Prätor und Volkstribunen Rechtshilfe erhalten konnte. Die Hoff­ nung auf diese Sicherheit hat Cicero in seiner Schrift „De officiis“ zur tieferen Motivation der Bildung der res publica formuliert: „Gemeinwesen (res publicae) und Bürgerschaften (civitates) entstanden aus dem vornehm­ lichen Grund, dass jeder, was ihm zu eigen war, bewahren konnte“ (ut „sua“ tenerentur).18 Das „suum“ definierte insbesondere das Privatrecht, 16  Cicero, De re publica I, 25.39: „Est res publica res populi, populus non omnis multitudo, sed consensu iuris et communicatione utilitatis congregata.“ (Cicero, Der Staat, K. Büchner (Hg.), München 31993 (Übersetzung: A. N-H.) 17  Die Einsetzung von partei-ideologisch vorgeprägten Fachministern ohne echte Sachkompetenz hätte den Römern nur ein Kopfschütteln verursacht! 18  Cicero, De officiis (Über die Pflichten), rec. C. Atzert, Leipzig 1963, II, 21, 73.

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aber auch die ungeschriebene Verfassung Roms; Ciceros Definition der Republik als Rechtsgemeinschaft spielt unter anderem darauf an. Die attische Gesetzes-Demokratie, die römische Republik und die Schwei­ zer Eidgenossenschaft sind ein Beispiel für den „Rechtsstaat“ im weiten Sinne19, die deutlich werden lassen, was einen solchen auszeichnet; er eint eine Menge zu einem Staatsvolk (der populus bei Cicero) durch das ge­ meinsame Recht. In der Demokratie ist darüber hinaus das Staats-Volk der Souverän, d. h. es besitzt die gesetzgebende Gewalt, die potestas legis ferendae.20 Die Gesetze, denen er folgen soll, hat er selber oder sein Reprä­ sentant geschaffen; in der direkten Demokratie kann sich jeder Bürger in der Situation des Gesetzgebers wiederfinden. Daher ist er im politischen Sinne frei, da er den selbst gegebenen Gesetzen bzw. – in Rom – dem selbst anerkannten Recht folgt. Kant hat diesen Zustand als den „republikanischen“ ausgezeichnet und die freiheitsgarantierende Republik als Staatsgattung (genus) der Despotie entgegengestellt.21 Sie kann durch die Staatsformen (species) von Demokratie, Aristokratie und Monarchie verwirklicht werden. Garant der Rechtsstaatlichkeit ist die Gewaltenteilung, bei Kant die Tren­ nung von Exekutive und Gesetzgebung mit Bindung der Exekutive an die Gesetze. In Kants Diktion ist also eine rechtsstaatliche Demokratie eine „republikanische“ Demokratie. In einer solchen entsteht auch eine besonde­ re Verantwortung des Staatsvolkes; ob das gemeinsam geschaffene oder anerkannte Rechtssystem ein Rechts- oder Unrechtssystem ist, fällt auf den Souverän zurück. In der Rechtsschöpfung dank Gesetz langt es daher nicht mehr aus, im Milieu des Rechtes zu verharren, indem man konform zu den Gesetzen aus Gewohnheit handelt; dank Gesetz ein neues, vor allem gerech­ tes Recht zu schaffen, verlangt Erkenntnis. Welche Erkenntnis jedoch ver­ langt die Rechtsschöpfung?

19  Zur Charakteristik des aktuellen Rechtsstaats vgl. weiter unten Forsthoffs Cha­ rakteristik. 20  So wird die Souveränität seit und dank Jean Bodin definiert, vgl. Jean Bodin, Les six livres de la République, Paris 1583 (ND, Aalen 1977), Buch I, Kap. 8. Die sogenannten modernen Auto-nomen kündigen zwar den consensus iuris auf, machen aber, da sie nicht auswandern, um eine eigene Republik zu gründen, von der communio utilitatis täglich Gebrauch! In dem Maße, wie sie die gemeinsame Rechtsord­ nung ablehnen und einen neuen Souverän neben dem echten Souverän darstellen wollen, müssten sie konsequenter Weise ihrer Staatbürgerschaft entkleidet werden. 21  I. Kant, Zum Ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt B / A 18–B / A 29 ( = I. Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik [W. Wei­ schedel Hg.] Darmstadt 1983, S 203–208).



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II. Das Recht als Gegenstand der Erkenntnis des Gesetzgebers Vom Recht als Gegenstand der Erkenntnis haben wir bereits gehandelt, als wir auf die Rechtsphilosophie hingewiesen haben, die eine rein begriffliche Theorie des Rechtes entfaltet. Das Recht kann daneben auch Gegenstand empirischen Wissens werden, wenn man seine Geschichte und Entwicklung be­ trachtet. Eine unverkürzte begriffliche Rechtstheorie wird immer auch die ge­ samte Geschichte des Rechts in den Blick nehmen müssen, denn diese erwei­ tert den aktuellen Horizont und macht auf Elemente im Recht aufmerksam, welche heute verdrängt sind, sie zeigt darüber hinaus auf, was sich in unserer Rechtstradition mit Hartnäckigkeit festgehalten hat. Daher erlaubt ein kurzer Ausflug in die Rechtsgeschichte, besser zu erkennen, was traditionsgemäß unter Recht verstanden wird, und auf die Erkenntnisleistung des Gesetzgebers hinzuführen, an der die Philosophie wesentlich beteiligt ist. Alle Erkenntnis des Rechts beginnt mit der Frage: „Was ist Recht?“ Auf diese Frage gab die Metapher der Grammatik des Handelns eine vorläufige Antwort. In einer direkten Ausdruckweise lässt sich das Recht wie folgt definieren: Unter Recht, als Übersetzung des lateinischen ius, verstehen wir vorwiegend die Summe aller Regeln, welche die Interaktion einer zu einem Staatsvolk (populus, d. h. die Summe der als Bürger (cives) definierten Be­ wohner eines Territoriums) zusammengeschlossenen Menge lenken, damit sie möglichst reibungslos und gewaltfrei ablaufen können. Das Recht ist daher, in einer ersten Bedeutung, Recht eines Staatsvolkes (ius civile), zu scheiden von dem Recht zwischen den Völkern (ius gentium). Dieses Staatsvolk verleiht dem Recht Nachdruck, indem es die Verletzungen mit einer Sanktion belegt; daher kann man das Recht näher fassen als die Sum­ me derjenigen Verhaltensregeln, deren Verletzung eine Sanktion der staat­ lichen Gemeinschaft zwecks Wiederherstellung des Rechts hervorruft. Diese Wiederherstellung wird von Kant als die Negation der Negation des Rechtes bezeichnet.22 Moralische Regeln unterliegen bekanntlich dieser Folge nicht. Kurz: Recht besteht in den staatlich sanktionierten Verhaltensregeln der Bürger. Die bereits evozierten Regeln des Straßenverkehrs liefern ein allen vertrautes Beispiel. An ihnen zeigt sich deutlich, dass solche Regeln teils dem Schutz des Lebens der Bürger, teils dem hindernisfreien Ablauf ihrer Interaktionen dienen, also einem „Gut“. Wir haben es bei dieser Definition mit dem zu tun, was man das positive Recht nennt. Der Ausdruck „positives“ Recht ist ausgrenzender Begriff. Das 22  I. Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, Einleitung § D (A  /  B 31–32) (= I. Kant, Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie [W. Weischedel Hg.] Darm­ stadt 1963, 336).

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zeigt der berühmte Ausspruch des Juristen Karl Bergbohms am Ende des 19. Jahrhunderts, der lautet: „Alles Recht ist positives Recht, nur positives Recht ist Recht.“23 Gemeint ist von Bergbohm, dass die Begriffe Recht und positives Recht ko-extensiv sind, was besagt, dass außerhalb des staatlich sanktionierten Rechts kein Recht existiert. Warum diese Emphase? Weil man von Platon bis zu Hegel die Meinung vertreten hatte, dass es außer­ halb, besser oberhalb des positiven Rechtes ein natürliches Recht gebe, dessen Maßstab die Gerechtigkeit sei. Diese Einsicht war allerdings keine Erfindung der Philosophie: bereits der Dichter Hesiod im 7. Jahrhundert v. Chr. unterstreicht einerseits die schon erwähnte lebensbewahrende – und konfliktverhindernde – Funktion des Rechts –, Letzteres aktualisiert in der „Weisung“ (diké) bzw. dem Spruch der Richter;24 andererseits stellt er auch fest, dass die Weisungen krumm (skolié diké, später lat. iniquum ius) oder gerade (itheia diké oder aequm ius) sein können, also „ungerecht oder ge­ recht“.25 Maßstab solcher Richtigkeit war bei Hesiod die göttliche Diké, die Gerechtigkeit des Zeus. Aus dieser wurde bei Platon „die Idee“, bzw. der Begriff des „von Natur Gerechten“, und da es ab Platon immer die Philo­ sophen waren, die auf einem solchen Gerechtigkeit anzielenden natürlichen Recht bestanden, hat im 17. Jahrhundert der Philosoph und Jurist G. W. Leibniz die Philosophen schlechterdings als die Verwalter des Naturrechts von den Juristen als Verwalter des positiven Rechtes abgegrenzt. Diese von Platon begründete Rolle der Philosophen hat im 20. Jahrhundert der zweite berühmte Rechts-Positivist, Hans Kelsen, mit seinem Buch „Die Illusion der Gerechtigkeit“26 bekämpft. Er hat sich also gegen eine über zweitausendsie­ benhundertjährige Tradition gewandt, die immer schon gerechtes Recht von ungerechtem Recht unterschieden hat. Wieso jedoch bestand Platon auf der Idee des Gerechten als Maßstab allen Rechts? Das wird verständlich, wenn man die politischen Gegner Platons benennt: das waren einmal die aufgeklärten Oligarchen, die sich einer sophistischen Lehre vom Naturrecht des Stärkeren bedienten – der berühmte Kallikles in Dialog Gorgias,27 zum anderen die attischen Demo­ kraten, die einem praktischen Rechtspositivismus das Wort redeten.28 Ge­ mäß den Verfechtern der attischen Demokratie galt alles vom Volk als Ge­ 23  K.

Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Leipzig 1892, S. 240. Werke und Tage (Erga kai Hémerai), vv. 274–285 (Hesiod, Carmina, rec. A. Rzach, Stuttgart 1958). 25  Hesiod, Werke und Tage, vv. 203– 287. 26  H. Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit. Untersuchungen zu Platons Sozial­ philosophie, Wien 1985. 27  Platon, Gorgias, 483 a7–e4. 28  Der Begriff wurde durch H. J. Wolff geprägt, vgl. H. J. Wolff, Normenkon­ trolle und Gesetzesbegriff in der attischen Demokratie, Heidelberg 1970, S. 68 ff. 24  Hesiod,



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setzgeber oder Richter geschaffene Recht zugleich als gerechtes Recht – unter anderem die Verurteilung des Sokrates. Besonders dieses Ereignis hat das Denken Platons in Bewegung gebracht: Platon hat den attischen Rechts­ positivismus verurteilt und in einem wirkungsmächtigen Schritt alles positi­ ve Recht, d. h. das staatliche Gesetz, an die Norm der natürlichen Gerech­ tigkeit gebunden. In seiner Nachfolge stehen sowohl die römischen Philo­ sophen und Juristen, Cicero und Ulpian wie der große Staatsdenker und Jurist der Renaissance, Jean Bodin im 16. Jahrhundert, der von der Gerech­ tigkeit, immer noch platonisch verstanden, behauptet, dass sie finis iuris, das Ziel allen Rechts, sei.29 Mit dem gesamten Recht meint Bodin nicht nur das Recht, das aus dem Gesetz fließt, das Gesetzesrecht, sondern auch das Gewohnheits- und Naturrecht.30 Während nun das antike Rom kaum Gesetzesrecht kannte – das machte seine Stärke und Dauer aus –, bildet dieses die einzige Form des attischen Rechtes. Ein vergleichbarer Zustand herrscht in den modernen Demokratien, wo das Recht vorwiegend durch den Gesetzgeber, das Parlament, und nur teilweise durch den Richter geschaffen wird. Der Tatbestand, dass es in Athen fast ausschließlich Gesetzesrecht gab, hat nun eine philosophiege­ schichtlich bedeutsame Nebenwirkung; denn das Gesetzesrecht ist die am meisten rationale Form des Rechts. Im Gewohnheitsrecht, welches in Reli­ gion, Sitte und Brauch verankert ist, müssen die Regeln des Verhaltens nicht verbalisiert werden; es ist der sprachlichen Kommunikation entzogen. Dagegen wird im Gesetzesrecht die Verhaltensregel in der Form einer An­ weisung ausgesprochen; die Gesetzesformel ist dabei, wenn das Gesetz nicht das Werk eines einzelnen Gesetzgebers, sondern einer gesetzgeberi­ schen Versammlung ist, das Endprodukt einer Debatte. Dieser Ausflug in die Rechtsgeschichte erlaubt nun, die Rolle der Philo­ sophie für die Rechtsschöpfung dank der Gesetzgebung näher zu bestim­ men; dabei kann die einleitende Formel eines vom Volk Athens beschlosse­ nen Gesetzes als ein Hinweis dienen: sie lautet nämlich „édoxe tô démô“: zu deutsch: „es dünkte dem Volk gut, folgende Vorschrift zu geben“. Das Gesetz, das eine bestimmte Handlungsregel vorschreibt, zeich­ net diese als „gut“ vor konkurrierenden oder konträren Handlungsreglungen aus, es trifft eine „Vorzugswahl“ (griech.: prohairesis)31. Um zu diesem Urteil zu gelangen, muss die betreffende Handlungsregel in ihrer Eigenart 29  Jean Bodin, Exposé du droit universel (Iuris universi distributio), übers. v. L. Jerphagnon, Paris 1985. 30  Seit den römischen Juristen galt die Lehre der drei Rechtsquellen: geltendes Recht kann auf das Gesetz, aber auch auf die Gewohnheit und die Natur zurückge­ führt werden. 31  Dieser aristotelische Begriff macht deutlich, dass Handeln immer vor Alterna­ tiven steht, von denen einer der Vorzug gegeben werden muss.

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und in ihrer Bedeutung für den Bürger und die Beziehung der Bürger zu­ einander analysiert sein, sie muss ein Gegenstand der Erkenntnis sein; vor allem aber muss es einen Maßstab geben, an dem die in ihrer Eigenart bestimmte Handlung als „gut“ gewertet werden kann. Nur wenn es einen solchen Maßstab gibt, kann man durch den Verweis auf ihn die Wahrheit des Urteils „diese Handlung ist gut“ argumentativ vertreten; die gemeinte Wahrheit beruht dabei auf der inneren Übereinstimmung von Maß und Ge­ messenem. Genau an diesem Punkt setzte das Fragen der Philosophie ein. Platon und Aristoteles fragten nämlich: Gibt es ein absolutes oder höchstes Gutes, an dem gemessen festgestellt werden kann, ob eine einzelne Handlung gut ist oder nicht? Ferner, wie lässt sich dieses Gute argumentativ und wahrheits­ gemäß aufzeigen, wenn es als absolutes oder höchstes nicht seinerseits an einem noch höheren Guten gemessen werden kann? Diese Frage entsprang keineswegs einer leeren Spekulation, sondern der wachen Beobachtung des Verhaltens der Menschen. Beide Philosophen bemerken nämlich, dass sich bei einem rationalen Wesen wie dem Menschen der Wille und Entschluss zu einer Handlung oder einer Handlungsmaxime je auf ein Urteil in der Form: „dies zu tun, ist gut für mich“ stützen. Sie haben daraus den Schluss gezogen, dass das menschliche Handeln von einem dem Menschen zutiefst einwurzelnden Streben geleitet ist, sich sein Gutes zu verschaffen (erôs bei Platon, orexis bei Aristoteles). Sie konnten darüber hinaus feststellen, dass dieses Gute in vielerlei Gestalten verfolgt wird, ja, dass die Menschen in keinem Punkt so verschiedener Meinung sind wie im Fall des Guten. Dar­ aus ergab sich ihnen notgedrungen die Frage, ob die vielen Meinungen der Menschen, worin das Gute bestehe – sie alle zusammen schaffen das „Höh­ lenklima“ nach Platon –, gleichen Ranges sind, ob sie alle wahr sind oder ob man zwischen einem wahren und einem scheinhaften Guten zu unter­ scheiden hätte. Um dies herauszufinden, durfte die Frage nach dem Guten nicht okka­ sionell, sondern musste prinzipiell gestellt werden. Statt zu fragen, was jetzt für die Person x in der Situation y gut sei, musste gefragt werden, was denn für den Menschen überhaupt als gut zu gelten habe. Erst die Antwort auf diese Frage liefert eine solide Grundlage, auf der entschieden werden kann, ob eine Handlung gut und daher auszuführen sei. So haben sich Platon und Aristoteles erstmals und wegweisend daran gemacht, die Frage nach dem obersten Gut des Menschen zu stellen. Diese Fragestellung war die Geburts­ stunde der praktischen Philosophie, die Ethik und Politik als Teildisziplinen umfasst, die Politik aus dem Grunde, weil die Frage nach dem obersten Guten nicht nur das handelnde Individuum, sondern auch den Souverän, d. h. den Gesetzgeber leiten muss. Daher kann der Gesetzgeber erst, wenn er sich über das oberste Gut des Menschen im klaren ist, gerechtes Recht



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schaffen, kann er Handlungen vorschreiben, deren Teilziele auf die Verwirk­ lichung dieses obersten Guten bzw. Handlungszieles hinwirken. Dem Platon als Verfasser der Nomoi zufolge ist solches mittels der Gesetze geschaffene Recht dann gerecht, wenn es dem Menschen angemessen ist (prépon), das heißt, wenn es sein oberstes Gut sichert und fördert.32 Dieses oberste Gut ist nun gemäß Platon der Mensch selber, seine moralische Natur, die ihn befähigt, eine Person (gemäß dem Ausdruck des römischen Rechts) zu sein, d. h. in Platons Sprache ein vernunftgesteuerter, damit selbstbestimmter und folglich freier Mensch zu sein. Nur solche Menschen bewähren sich als Bürger und vor allem als Inhaber eines Amtes, da sie, in ihrer eigenen Vernunft durch das Gesetz bestätigt und gelenkt,33 den Verführungen der Macht entgehen und Diener der allgemein anerkannten Gesetze sind.34 Die Verteilung der Ämter auf solche Personen nennt Platon in den „Gesetzen“ die politische Gerechtigkeit.35 Dieser Ausdruck wendet den allgemeinen Begriff (die „Idee“ der Gerech­ tigkeit bzw. das „Von-Natur-Gerechte“) auf die Polis und die Verteilung der Macht an. Die Idee der Gerechtigkeit selber, noch ohne Rücksicht auf ihre Anwendung, wird von Platon als die proportionale bzw. geometrische Gleichheit definiert.36 Auf das Individuum angewandt, führt letztere zur Definition der Gerechtigkeit als „Das-Seine-Tun“ (to heautou prattein, la­ teinisch: suum agere). Gemeint ist damit, dass der Mensch als rationales Wesen seine Vernunft das „Ihre“ tun lässt; es besteht darin, dass sie die friedliche, auf gegenseitiger Anerkennung beruhende Koexistenz und Ko­ operation der verschiedenen vitalen Kräfte gemäß der proportionalen Gleichheit steuert. Entsprechend wird der gute Gesetzgeber die friedliche Kooperation der Menschen in der Polis herzustellen suchen,37 indem er den Bürgern, gemäß der Proportion ihrer moralischen und intellektuellen Kom­ petenz, den Gesetzen zu dienen, die Verantwortung überträgt. Zwei Aussagen sollen durch diese Erinnerungen unterstrichen werden: •• Die Frage nach dem obersten Gut bzw. Handlungsziel ist eine rein philo­ sophische Frage; ja die Philosophie entstand als die Frage nach dem obersten Gut. 32  Platon,

Gesetze, III, 693 a5–d1 ( die Ziele der Polis). Verhältnis von Vernunft und Gesetz vgl. B. Zehnpfennig, Die Abwesen­ heit des Philosophen und die Gegenwärtigkeit des Rechts, in: Politisches Denken, Jahrbuch 2008, S. 265–284, und Verf., Platons politische Theorie in den Nomoi – Geltung und Genese, in: Politisches Denken, Jahrbuch 2008, S. 43–64. 34  Platon, Gesetze, IV, 715 c–715 e. 35  Platon, Gesetze VI, 756 e–758 a. 36  Platon, Gesetze, loc. cit. 37  Platon, Gesetze, I, 627 e–628 a. 33  Zum

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•• Die Frage nach dem obersten Gut gehört zu den kognitiven Aufgaben des Gesetzgebers, wenn er gerechtes Recht, Recht, das dem Menschen er­ laubt, das Seine (suum) zu tun, schaffen will. Die Idealstaatsentwürfe der antiken Philosophen, Platon, Aristoteles und Zenon, begannen daher immer mit der Frage nach dem obersten Gut, welches in der politischen Gemeinschaft verwirklicht werden soll.38 Sie zeigten der Öffentlichkeit die Kompetenz des Philosophen als Gesetzgeber, so dass sich im antiken Griechenland die Städte an die Philosophen wandten, wenn es galt, ein Gesetzeswerk, eine neue „Verfassung“ (politeia) zu schaffen. Zwar sind die uns bekannten Vorschläge der Alten, wie ein ganz gerechter Staat einzu­ richten sei, im Entwurf stecken geblieben, nicht dagegen ihr Postulat, das Recht eines Staates auf die Gerechtigkeit und die Verwirklichung des höchs­ ten Gutes zu stellen. Dieses Postulat hat weiter gewirkt und steckt noch im gegenwärtigen Rechtsstaat als dessen systematische Grundlage. Damit soll behauptet sein, dass die Philosophie als praktische Philosophie an der Grund­ legung des heutigen Rechtsstaates entscheidend mitgewirkt hat. Diese Be­ hauptung sei abschließend historisch untermauert, um aus ihr die Folgen für die aktuelle Aufgabe der politischen Philosophie zu ziehen. III. Freiheit als höchstes Gut39 Der aktuelle Rechtsstaat wird durch den Verfassungsrechtler Ernst Forst­ hoff 1954 wie folgt charakterisiert: „ ist durch einen hohen Grad der Formalisierung gekennzeichnet […] Gewaltenteilung, der Geset­ zesbegriff, das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Gewährleis­ tung der Grundrechte und die Unabhängigkeit der Gerichte tragen die Be­ dingungen ihrer Wirkungsweisen in sich“.40 Nun wäre diese Formalisierung leer, wäre sie nicht an einen obersten Wert bzw. ein Gut gebunden. Die Verfassung selber unterliegt einer höchsten Norm. Diese Norm bzw. das höchste Gut ist nach dem deutschen Grundgesetz die Freiheit. So bestimmt es auch Forsthoff: „Der Rechtsstaat hat seine eigenen Institutionen, Formen und Begriffe hervorgebracht. Sie sind auf Freiheit angelegt.“41 Dem steht 38  Verf., Recht und politische Kultur. Der Entwurfscharakter des Rechts als Ideal einer Form des Zusammenlebens. Die Perspektive der Rechtsphilosophie in der Antike, in: D. Puskas / M. Senn (Hg.), Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft. ­ Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 115, 2007, S. 33–48. 39  Zur Freiheit als Rechtsbegriff vgl. weiterführend M. Kaufmann a.  a.  O., S. 267 ff. 40  Ernst Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, in: ders., Rechts­ staat im Wandel: verfassungsrechtliche Abhandlungen 1950–1964, Stuttgart 1964, S. 36. 41  E. Forsthoff, a. a. O., S. 39.



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der Sozialstaat gegenüber, dessen Norm, gemäß Forsthoff, die Teilhabe ist. Daher sind Rechtsstaat und Sozialstaat, versteht man sie als Staatsgattungen, welche sich in verschiedenen Staatsformen verwirklichen, ihrer Inten­ tion nach „Gegensätze“.42 Diese Feststellung wird plausibel, wenn man den Namen „Sozialstaat“ durch die Namen „Wohlfahrtsstaat“ oder, französisch, „Etat de providence“ bezeichnet. Der Wohlfahrtsstaat ist die säkularisierte Form eines „Gottesstaates“; hier macht sich der Staat wie der alles voraus­ schauende Gott – an seiner Stelle traten die Fürsten z. Zt. des Absolutismus – für das Glück der Bürger verantwortlich. Ihn zu akzeptieren, heißt verges­ sen, dass der Staat die Summe der Bürger (cives-civitas oder der populus) darstellt, die in „selbstverschuldeter Unmündigkeit“ verharren, wenn sie nicht darauf bestehen, selbstbestimmt festzulegen, was das Ihre ist, m. a. W. auf eigene Faust ihr Glück zu bestimmen und zu suchen. Die amerikani­ schen Unabhängigkeitserklärung garantiert die Freiheit der eigenen Glücks­ suche („pursuit of happiness“); Forsthoff hält daher zu Recht die Verschmel­ zung von Rechts- und Sozialstaat auf der Verfassungsebene, die den obers­ ten Wert des Staates formuliert, für unmöglich. Ist die Trennung auf der Ebene des Verfassungsbegriffs klar, werden die Linien auf der Ebene der Gesetze, die der Wirklichkeit näher stehen, unscharf. Sowohl Forsthoff als auch der ehemalige Verfassungsrichter ­ E.-W. Boeckenförde halten den Rechtsstaat für das Erbe des Klassischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts, was bedeutet, dass er an eine nicht mehr aktuelle historische Bedingung geknüpft ist, nämlich als Formulierung der bürgerlichen Freiheit, „Bürger“ von beiden im Sinne einer gesellschaft­lichen Schicht (bourgeois) verstanden, nicht dagegen als Staatsbürger (civis, citoyen).43 Was dieses Urteil betrifft, sitzen Forsthoff und Böckenförde einer Zweideutigkeit der deutschen Sprache auf, derer sich vor allem Marx be­ dient hat, und die darin besteht, dass man mit dem einen Wort „Bürger“ den citoyen und den bourgeois zu bezeichnen pflegt. Marx verstand „Bürger“ nur als bourgeois, nicht als citoyen (civis), da er ja den Staat als solchen und damit den citoyen abschaffen wollte. Mit dem „Ende der bürgerlichen Gesellschaft (der bourgeoisie)“44 hätte sich auch der Rechtsstaat verabschiedet und hätte sich bzw. sollte sich in den Sozialstaat verwandeln? Die Position der beiden Verfassungsrechtler in dieser Frage ist ambivalent und spiegelt das gebrochene deutsche Verhältnis 42  E.

Forsthoff, a. a. O., (Anm. 40), S. 39. Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatbegriffs, in: ders.: Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt am Main 1991, S. 156 ff. 44  P. Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform, Wein­ heim 1991. Auch Kondylis besitzt keinen politischen Begriff des Bürgers. Die Ebe­ ne von Recht und Staat fehlen gänzlich in seiner Denkweise. 43  E.-W.

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zur citoyenneté wider. Klarheit kann man nur gewinnen, wenn man nicht, wie die Mehrzahl der Zeitgenossen, die Geschichte der politischen Gemein­ schaft in der Französischen Revolution oder gar bei Karl Marx beginnen lässt, sondern an ihrem Beginn in der polis und der civitas romana. Dann erst erfasst man die Grundlagen des klassischen politischen Liberalismus. Als politische Theorie wurde er vor allem von John Locke begründet, ­Locke aber ist ein Schwellendenker, der die (staats)-bürgerliche Freiheit in einem noch ganz christlichen Horizont konzipiert hat. Die Freiheitsgeschichte von der Antike bis zu ihm lässt sich am roten Faden des römischen suum, Pla­ tons eautou nachzeichnen. Als „Kurzgeschichte“ erzählt sie sich so:45 Die Geschichte des noch im deutschen Grundgesetz wirksamen Freiheitsbegriffs nimmt ihren Ausgang von der römisch ulpianischen Gerechtigkeitsformel des suum cuique ius tribuere: „Gerechtigkeit ist der feste und beständige Wille, einem jeden das ihm eigene Recht (suum ius) zuzuteilen“ (iustitia est constans et perpetua voluntas suum cuique ius tribuendi)“. Sie führt zunächst zu den christlichen Juristen (Legisten und Kanonisten). Letztere haben das suum ius des römi­ schen civis auf den Menschen überhaupt bezogen, dem von Gott sein, dem Menschen eigenes ius, sein spezifisch menschlicher Handlungsspielraum zugeteilt wurde. Ergebnis waren die subjektiven Rechte des Menschen, Rechte, die der Mensch als die „seinen“ beansprucht. Diese bestanden ur­ sprünglich in einer Trias: dem Recht auf Leben und Unversehrtheit des Körpers (membra), auf Freiheit (libertas) und auf Eigentum (dominium). Nach dem antiken und mittelalterlichen Vorspiel ging in der Neuzeit die Trias der drei ursprünglichen Menschenrechte aus der Interpretation hervor, die der holländische Rechtsgelehrte Grotius im Jahre 1625 der klassischen Gerechtigkeitsformel gegeben hatte. Das suum ius legt auch Grotius in der Nachfolge der christlichen Juristen und spanischen Scholastiker anders als der Römer nicht als Recht des Bürgers, sondern als das Recht des Menschen aus, das ihm als Menschen eigen ist. Dabei gingen Grotius und seine spanischen Vorgänger von der Annahme aus, dass der Mensch schon vor seinem Eintritt in den Staat Rechte besitzt, natürliche Rechte genannt, da sie dem Menschen von Gott, der natura naturans, bei der Schöpfung ver­ liehen wurden. Allerdings glaubte Grotius, dass der Mensch auch frei ist, auf seine Rechte zu verzichten. Dem ist John Locke entgegengetreten; Lo­ cke hat hundertfünfzig Jahre nach Grotius die klare politische Theorie ent­ 45  Statt vieler Einzelnachweise vgl. Verf., Platonisme politique et théorie du droit naturel. Contributions à une archéologie der la culture politique européenne, 2 Bän­ de, Leuven / Paris 1995 und 2003. Im 2. Band wird die Geschichte des politischen Denkens von Augustin bis John Locke rekonstruiert. Eine andere Geschichte bzw. Archäologie der Freiheit bei M. v. Gelderen / Qu. Skinner, Republicanism. A Shared European Heritage, 2 vls., Cambridge 2002.



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wickelt, dass der Staat dazu da sei, das suum ius des Menschen, d. h. seine drei fundamentalen Güter, sein Leben, seine Freiheit und sein durch Arbeit erworbenes Eigentum, zu schützen, ferner, dass diese Güter bzw. Rechte unveräußerlich sind, da sie von Gott gewollt sind.46 So will es auch die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Hierbei handelt es sich um die neuzeitliche, christlich inspirierte Form des antiken Republikanismus: ge­ meinsam ist beiden eine Trennung der res privata, des Bereichs der Familie, und der res publica, des öffentlichen Bereichs der gemeinsamen Sachen (res publicae). Der Staat ist dazu da, die gemeinsamen „öffentlichen“ Sachen und nur diese zu verwalten; er hat noch, selbst in der absoluten Monarchie eines Bodin, der als Jurist das römische Recht mit seiner Trennung von res privata und res publica voll in sein Denken integriert hatte, „an der Schwel­ le des Hauses“ halt zu machen. Auf dieser Grundlage wurde dann dank der amerikanischen und der fran­ zösischen Revolution die Wirklichkeit des modernen und zeitgenössischen Verfassungs- bzw. Rechtsstaates geschaffen. Dieser verpflichtet dank des Bezugs auf die Menschenrechte die Verfassung mitsamt den ihr folgenden Gesetzen auf das oberste Gut des Menschen und macht damit mit der An­ weisung der Philosophen ernst, Gesetzgebung am obersten Gut zu orientie­ ren und dadurch gerechtes Recht zu schaffen. Die Mitglieder der franzö­ sischen Nationalversammlung machten in ihrer bekannten Erklärung vom 26. August 1789 den Namen des Verfassungsstaates davon abhängig, dass er die Rechte des Menschen ausdrücklich dem Staatsbürger gewährte: Art. 2. „Le but de toute association politique est la conservation des droits natu­ rels et impréscriptibles de l’homme. Ces droits sont la liberté, la propriété, la sûreté et la résistance à l’oppression.“

Frei über sein Leben entscheiden und über sein Sach-Eigentum verfügen zu können, bilden gemäß einer gemeineuropäischen Freiheitstradition somit die obersten Güter des Menschen; denn sie stellen genau das dar, was als das „Ei­ gene des Menschen“, sein Suum zu gelten hat, seinen Körper, seine Vernunft­ natur, welche den freien / selbstverantwortlichen Gebrauch von Körper und rechtmäßig erworbenen Sachen ermöglicht. Diese Güter als Rechte interpre­ tiert besagen, dass jeder Mensch sich selbst besitzen soll und keines anderen Eigentum sein noch von diesem beherrscht werden darf. Daher hat jeder staat­ liche Eingriff vor diesen Gütern halt zu machen. Nach dem nationalsozialisti­ schen Totalitarismus ist das deutsche Grundgesetz auf die europäische Frei­ heitstradition eingeschwenkt; insbesondere ist es in seinem Geist und Worten dem deutschen Freiheitsdenker Kant verpflichtet, wenn es heißt: 46  Verf.: Menschenrechte – Menschenrechtsdoktrin – natürliche Gerechtigkeit, in: K. M. Girardet / U. Nortmann (Hg.), Menschenrechte und europäische Identität, Stutt­ gart 2005, S. 123–134.

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„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz verstößt.“ (Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, Abschnitt 1 (Deutsche „Gesetze“ 1952, 1: Grundrechte, Artikel 2.).

Das Grundgesetz reagiert damit auf die Aufhebung der Trennung von Staat und Gesellschaft, von res publica und res privata, die das Kennzei­ chen totalitärer Systeme ist, da hier die Freiheit der Person, selbstbestimmt ihr Leben zu führen, verletzt wird.47 Im Ansatz totalitär ist jede ParteiIdeologie, sofern sie den einzelnen Menschen in Hinblick auf sogenannte „gesellschaftliche oder ökonomische“ Ziele hin entweder als Sozialleis­ tungsempfänger in die Abhängigkeit staatlicher Fürsorge bringt und ihn so auf sanfte Weise entmündigt oder als „Marktteilnehmer“ funktionalisiert (das Bologna-Modell zur Funktionalisierung der Universitäten) und dies zur Rechtfertigung nimmt, dass der Staat in die Lebensverhältnisse der Einzel­ nen direkt oder indirekt eingreift. Wie unsere Erinnerung an Forsthoffs Analyse der deutschen Verfassung und des Grundgesetzes aus dem Jahre 1954 betonen sollte, will also das deutsche Grundgesetz den Rechtsstaat garantieren; denn seine Väter be­ stimmten nach der Erfahrung totalitärer Ideologien, dass die Bundes-Republik ein Staat der Freiheit sein soll. Der Philosoph muss dem hinzufügen: eine Republik im Sinne Kants, da Kant den Staat wie Locke von einem starken Eigentumsbegriff aus, d. h. aus dem Miteinander von Mein und Dein als dem „Eigenen“ suum eines jeden, hervorgehen lässt. Der Gedanke der res publica als Garant des suum oder der res privata ist, wie unsere Er­ innerung an Rom und die frühe Neuzeit (Bodin) und schließlich Locke zeigen konnte, eine die okzidentale Geschichte umfassende Idee. Daher ist die der Republik verpflichtete Idee des Rechtstaates keine Erfindung des „Bürgertums“, der Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts, sondern eine von die­ ser aufgegriffene modernisierte Formulierung der politischen Freiheits-Tra­ dition, der Tradition des citoyen.48 Wenn schon soviel Philosophie im modernen Rechtsstaat steckt, stellt sich die Frage, ob die praktische Philosophie noch eine Aufgabe hat? Die Antwort auf diese Frage hängt von der anderen Frage ab, ob das oberste Gut des Men­ schen, Eigentümer seiner selbst und daher frei zu sein, einen gesicherten Be­ sitz darstellt und ob der Rechtsstaat selber diesen Besitz garantieren kann. Hier muss geantwortet werden, dass die Freiheit heute ebenso wie in der Vergangenheit ständig gefährdet ist. Darauf verweisen die ganz heterogenen 47  E.-W. Böckenförde, Die Bedeutung der Trennung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: Böckenförde. a. a. O., Anm. 43, S. 220–221. 48  Vgl. o. Anm. 43.



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Angriffe, denen sie in unseren Tagen ausgesetzt ist. Kürzlich erst, 2006, er­ folgte ein spektakulärer Angriff von Seiten der Neurowissenschaften, die auf Grund einer unbeweisbaren Determinismus-Theorie die menschliche Freiheit leugneten. Hier wurde bereits eine heftige Diskussion in Gang ge­ setzt, in der die Philosophen neben den Juristen ihre Stimme erhoben ha­ ben.49 Gefährlicher aber, weil von der Öffentlichkeit am wenigsten wahrge­ nommen ist derjenige Angriff auf die Freiheit, der, wie Böckenförde in seinem Aufsatz „Begriff und Wesen des modernen Rechtsstaates“ gezeigt hat, in der Bundes-Republik vom Staat der Freiheit selber ausgeht.50 Die Verfassungsrechtler, die doch die Hüter der Freiheit sein sollten, haben es fertig gebracht, das Grundgesetz durch subtile Uminterpretation nicht als Dokument des freiheitlichen Rechts- sondern des wohlmeinenden, aber freiheitsfeindlichen Sozialstaates zu lesen.51 Der Sozialstaat behält sich nämlich die totale Steuerhoheit vor, was es ihm möglich macht, tief in die Eigentumsverhältnisse der Bürger einzugreifen – damit hebt er die Trennung von Staat res publica und Gesellschaft res privata auf. Die meinungsbilden­ den deutschen Philosophen der Nachkriegszeit, insbesondere die Vertreter der Frankfurter Schule, haben diesen Vorgang der Verfassungsumdeutung, wenn sie ihn überhaupt wahrgenommen haben, schweigend akzeptiert; denn als Neomarxisten wollten sie wie Marx vom Begriff des Bürgers als citoyen und der res publica als Vereinigung freier Bürger (citoyen) nichts wissen; das Wort „Bürger“ wurde von ihnen mit Marx als reiner Klassenbegriff nur als bourgeois und zugleich als Vertreter des Kapitalismus verstanden. Da­ durch wurde er in Deutschland bis heute negativ besetzt, was nach 1968 soweit ging, dass es zu terroristisch-revolutionären Umsturzversuchen der „bürgerlichen Gesellschaft“ kam.52 Dagegen wurden auf Seiten der Juristen, wie bereits dargestellt, die Begrif­ fe von Rechts- und Sozialstaat dem differenzierenden Denken des Verfas­ sungsrechtlers Ernst Forsthoff unterworfen und die Umdeutung der Verfas­ sung der Freiheit in ihrer Gefährlichkeit denunziert. Forsthoff besteht nicht nur darauf, dass Rechtsstaat und Sozialstaat sich einander als Verfassungs­ begriffe ausschließen, sondern auch, dass der Wortlaut des Grundgesetzes nicht zur Begründung des Sozialstaats missbraucht werden kann.53 Er erin­ nert vielmehr daran, dass die sozialstaatliche Entwicklung in Deutschland eine Folge der deutschen Nachkriegszeit war, wo sozialstaatliche Maßnah­ 49  Vgl. M. Senn / D. Puskas, Gehirnforschung und rechtliche Verantwortung, Arch. f. Rechts- und Sozialphilosophie Beiheft Nr. 111, 2006, bes. S. 117 ff. 50  Boeckenförde a. a. O., (Anm. 4) S. 162 ff. 51  Vgl. Forsthoff, a. a. O., (Anm. 40) S. 47 ff. 52  Vgl. C. Albrecht u. a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a. Main 1999. 53  Forsthoff, a. a. O., (Anm. 40) S. 42 ff.

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men auf der tieferen Rechts-Ebene von Gesetzgebung und Verwaltung not­ wendig waren, um dem Elend vieler Bevölkerungsteile – etwa für die Vertriebenen und Kriegerwitwen der Nachkriegszeit – abzuhelfen. Diese Maßnahmen haben ihr Früchte getragen, und die Bundesrepublik könnte heute in ihrer Folge als Republik ein Staat der Freiheit sein, da man jahre­ lang mittels des Bemühens, gleiche Chancen für den Freiheitsgebrauch zu schaffen, dafür gesorgt hat, Hindernisse abzubauen, die dem Werden der jungen Deutschen zu selbstbestimmten und selbständigen Bürgern (ci­ toyens) hätten im Wege stehen können. Die Entwicklung verlief jedoch anders: mit der falschen Extension des Begriffs der Demokratie auf die Gesellschaft dank des Zauberworts der „Demokratisierung“54 und des politischen Schlagwortes „sozialer Gerechtig­ keit“ – wer diesen Ausdruck als leer bzw. nebulös kritisiert, gilt als „unso­ zial“ – haben es sich alle deutschen Parteien zum Programm gemacht, die Gesellschaft zu verändern, d. h. in das Leben der Menschen einzugreifen, um „soziale Gerechtigkeit“ zu erzeugen. Diese Politik ist im Ansatz totali­ tär, wie es Bemerkungen deutscher Politiker der Art zeigen, sie wünschten „die Lufthoheit über den Kinderwiegen“, d. h. die Beherrschung der Men­ schen von der Wiege an! Nach der okzidentalen Freiheitstradition ist es Sache jedes einzelnen zu bestimmen, wie er sich als Persönlichkeit entfalten will und was er als das „Seine“ betrachtet. Der politische Begriff des Bür­ gers (citoyen) ist nicht an bestimmte Besitzverhältnisse noch an den der materiellen Selbständigkeit gebunden. Heute, in einer verwissenschaftlichten und hoch technisierten Welt, in der alle ihr Leben durch intelligente Arbeit erhalten müssen, spielt die Berufswahl bzw. die Kraft, sich berufliche Kom­ petenzen und dank ihrer materiellen Besitz zu erwerben, die Schlüsselrolle für die Lebenswahl und den Lebensstil als Mittel der Verfolgung des eige­ nen Glücks. Der Staat soll es möglich machen, dass jeder das „Seine“ be­ stimmen und erwerben kann. Das suum ist ein Reflexivbegriff; jedes den­ kende Subjekt wird es selbst bestimmen müssen, und der Staat hat die Rolle, darüber zu wachen, dass nicht eine Gruppe der Gesellschaft ihr suum für andere verbindlich machen will, sondern dass alle frei sind, das Ihre zu bestimmen, also frei in ihren Handlungen, aber auch frei vor dem Übergriff anderer Bürger oder gesellschaftlicher Gruppierungen. Soziale Gerechtigkeit bestünde eben darin: dass die gesamte Bürgerschaft, insofern sie eine staats­ freie Gesellschaft bildet, spontan aus sich eine Ordnung dank ihrer koope­ rativen Interaktionen hervorbringt. In der sogenannten sozialen „Gerechtig­ keit“ geht es aber gar nicht um Gerechtigkeit, also darum, dass jeder selbst bestimmen kann, was das Seine ist, sondern darum, dank materieller Um­ verteilung die materiellen Lebensverhältnisse der verschiedenen Menschen 54  Dessen

Missbrauch stigmatisiert auch Böckenförde (a. a. O., Anm. 43, S. 227).



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so gleich wie möglich zu machen. Das abschreckende Beispiel einer konse­ quenten freiheitsfeindlichen Gleichheitspolitik haben die realen Sozialismen geliefert – man kann durchaus aus der Geschichte lernen! Wie es Böckenförde betont, ist der Hebel des Staates für dieses freiheits­ feindliche Ziel die alleinige Steuerhoheit des Staates; diese wird von den jeweils regierenden Parteien somit im Sinne der Veränderung der Gesell­ schaft missbraucht. Es sei daran erinnert, dass nicht einmal der absolute französische König nach damaligem Recht die alleinige Steuerhoheit besaß, sondern bei Sondersteuern die Stände befragen musste.55 In der Schweiz verteilt sich die Steuerhoheit auf Bund, Kanton und Gemeinde; auf der Gemeindeebene sind es die Bürger selber, welche die Höhe der Kommunal­ steuern bestimmen.56 Der zweite Hebel ist in Deutschland die Bildungs­ politik; die angezielte Gleichschaltung der Schulen und damit die Aufhebung eines differenzierten Schulwesens, das den Begabungsunterschieden und den Wünschen der Eltern gerecht wird, geht in die gleiche Richtung. Immer wird das Recht der Bürger (citoyen) aufgehoben, das „Ihre“, d. h. ihrer selbst und ihrer Kinder, auf durchaus ungleiche Weise selber im Rahmen der Verfassung und der Gesetze zu bestimmen und zu bewahren, wie es der Rechtsstaat bzw. die Republik garantieren sollte.57 In der Republik der Frei­ heit gilt: das gleiche Recht auf Ungleichheit. Soziale Hilfe ist, wie längst von Wolfgang Kersting herausgearbeitet wurde, keine Frage der Gerechtigkeit, sondern der Solidarität.58 Wie im Rahmen eines auf Freiheit verpflichteten Staatswesens die Sozialstaatlich­ keit allein wirken darf, haben nicht die Philosophen, sondern die Juristen erkannt. Sie vor allem scheinen noch zu wissen, was es bedeutet, ein auf das Prinzip der Freiheit gebautes Rechtssystem zu besitzen, und erinnern sich dessen besten Vertreters, des Philosophen Kant. So hat 2006 der Frank­ furter Rechtshistoriker Joachim Rückert in seiner Arbeit „Frei und sozial als Rechtsprinzip“ nachdrücklich an Kants Rechtsbegriff („eine Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“) erinnert und unterstrichen, dass das von Kant in diesem Begriff 55  Bekanntlich

löste die Nicht-Einberufung der Stände die Revolution aus. ist hier eine mentale und institutionelle Gegebenheit; sie ent­ zieht sich dem Horizont eines deutschen Bürgers, der als Steuerzahler die Rolle des bloßen Untertans (sujet) beibehalten hat. 57  Zur Entmündigung des civis in seiner ihm zugehörigen Rolle als Erzieher sei­ ner Kinder durch eine durch Soziologen und Pädagogen inspirierte Politik vgl. Konrad Adam, Bildung lässt sich nicht umverteilen, Merkur 747, 2011, 682–691. 58  Wolfgang Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart, Weimar 2000, 376–403. 56  „Steuerparadies“

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angesprochene allgemeine Gesetz ein Gesetz sein soll, das Freiheit ermög­ licht, nicht aber Freiheit einschränkt; daher darf auch soziale Hilfe nur der Förderung der Freiheit dienen, d. h. muss den Bürger emanzipieren.59 Rückerts Verbindung von „frei und sozial“ als Rechtsprinzipien meint nichts anderes als die oben vertretene Idee, dass die Freiheit auf die gesamte Gesellschaft (societas) auszudehnen ist und es nur darum gehen kann, ge­ zielt Hindernisse dort zu beseitigen, wo sie entstehen, anstelle den Sozial­ leistungsempfänger zum Leitbild der Politik zu machen. Es sollen Bedin­ gungen der Emanzipation, also Chancen bereit gestellt werden; dabei muss jedoch damit gerechnet werden, dass die Freiheit eines jeden, der unter der Praesumtion steht, ein vernünftiges Wesen zu sein, auch darin besteht, diese Chancen nicht zu ergreifen; die Folgen hat dann aber nicht Staat, sondern der Einzelne zu tragen. Emanzipation zum Bürger (citoyen) geschieht vor allem durch die Förde­ rung moralischer und intellektueller Selbständigkeit durch Erziehung, Bil­ dung und Ausbildung.60 Dies gilt aber in der heutigen Zeit um so mehr, weil alle Formen des Sachbesitzes (mit dem alten Wort des dominium be­ zeichnet) durch weltweite Krisen ins Schwanken geraten. Das eigentliche Kapital des Menschen ist seine eigene Person. Nur das, was der Mensch als Person darstellt, also was er moralisch ist, was er kann und weiss, ist ihm wirklich zu eigen. Das wusste vor allem John Locke, der „Eigentum“ (property) auch auf die eigene Person bezog und damit darauf aufmerksam machte, dass der Mensch weder durch seinen Sachbesitz noch durch seine Beziehung zur Gesellschaft – das glauben nur die Soziologen –, sondern zuerst durch seine Beziehung zu sich selbst geprägt ist. Mit sich selber angemessen umzugehen, lehrt ihn eine richtige Erziehung, was eben dersel­ be Locke, aber auch schon die antiken Klassiker der Politik verstanden hatten. Erst dann kann ein Leben selbstbestimmt, also in Freiheit, geführt werden.

59  J.

Rückert, Frei und Sozial als Rechtsprinzip, Baden-Baden 2006. betonen, dass beides notwendig ist, da in der „Bildung“ die politische Bildung mitumfasst ist, nicht in der „Ausbildung“. Das kontraproduktive BolognaModell vergisst, dass die angestrebten effizienten „Marktteilnehmer“ auch selbstän­ dige und kritische Staatsbürger sein sollen, was nur durch Bildung erreicht werden kann. 60  Wir

II. Aufsätze

Praktische Philosophie als Lebenskunst? Überlegungen aus aristotelischer Sicht1 Von Walter Mesch Über Lebenskunst wird seit einiger Zeit viel geschrieben. Dabei geht es um eine große Bandbreite von Themen, die auf ganz unterschiedliche Weise in den Blick rücken können. Neben allgemeinen Fragen der Lebensgestaltung, mit denen sich letztlich jeder konfrontiert sieht, stehen einzelne Ziele aus dem Berufs- und Privatleben, die nur bei entsprechenden Lebensumständen oder einschlägigen Lebensauffassungen verfolgt werden. Ebenso vielfältig wie die behandelten Themen sind die Formen ihrer Behandlung. Neben grundsätz­ lichen Reflexionen, die philosophische Perspektiven entwickeln, finden sich populärwissenschaft­liche Ratgeber, die entweder alte Weisheiten zu mobili­ sieren oder neue Erkenntnisse zu formulieren versuchen. Der Buchmarkt zeigt eine Flut von Texten, die Managern, Arbeits­losen oder Bewerbern Erfolg ver­ sprechen, wenn man die gegebenen Ratschläge befolgt. Dasselbe gilt für an­ dere Lebensbereiche, von Ernährung und Sport über Beziehungen und Gefüh­ le bis zur Kommunikation und Rhetorik oder zum Umgang mit der Zeit. Die Beispiele ließen sich leicht vermehren. Kaum ein Lebensbereich wird nämlich ausgespart, wenn es darum geht, Probleme der Lebensgestaltung zu erörtern und Lösungsmöglichkeiten aufzuweisen. Auch wer viele Ergebnisse dieser Massenproduktion mit Skepsis betrachtet, mag einräumen, dass sie – zumin­ dest unter anderem – auf ein Bedürfnis nach Orientierung reagiert und dass ein derartiges Bedürfnis mit dem Individualismus, dem Traditionsverlust und der Unübersichtlichkeit moderner Gesellschaften gewachsen sein dürfte. Eine ganz andere Frage ist jedoch, ob die Philosophie etwas zu seiner Befriedigung beizutragen vermag. Kann Philosophie Lebenskunst sein oder sie in irgendei­ ner Weise fördern? Ich möchte im Folgenden eine Antwort skizzieren, die zwei Teile aufweist, einen affirmativen und einen kritischen. Für beide Teile spielt Aristoteles eine wichtige Rolle. Denn, wie unschwer zu erkennen ist, versucht die neue Philo­ sophie der Lebenskunst wenigstens zum Teil auf antike Perspektiven zurück­ 1  Es handelt sich um die überarbeitete Fassung der Antrittsvorlesung, die ich am 4. Januar 2010 in Münster gehalten habe.

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zugreifen, indem sie die moderne Tendenz, Ethik auf Moralphilosophie zu verkürzen, hinterfragt. Es geht ihr – ähnlich wie der antiken Ethik – nicht nur um Moral, sondern um ein gutes Leben im umfassenden Sinne, das Moral und Glück möglichst dauerhaft verbindet. Wie diese Verbindung zu denken ist, wird von Aristoteles besonders ausführlich und meines Erachtens auch beson­ ders einleuchtend erläutert. Ich werde darauf später genauer einzugehen ha­ ben. Zu Beginn möchte ich nur auf einen ganz allgemeinen Zusammenhang verweisen: Wer mit Aristoteles davon ausgeht, dass Ethik als praktische Phi­ losophie zu konzipieren ist, weil sie nicht nur auf die Erkenntnis des Guten, sondern auch auf seine praktische Realisierung zielt, wird den philosophi­ schen Anspruch der neuen Lebenskunst nicht pauschal zurückweisen können. Dies liegt einfach daran, dass sich die aristotelische Bezugnahme auf das gute Leben direkt aus seinem Verständnis menschlicher Handlungen ergibt. Gleich­ wohl zeigt Aristoteles auch, weshalb der Titel der Lebenskunst irreführend ist, wenn es um eine philosophische Anleitung zum guten Leben geht. Denn Aris­ toteles diskutiert praktische Probleme in seiner Ethik zwar häufig, indem er sie mit technischen Problemen vergleicht. Aber eine philosophische Lebenstechnik, deren Anwendung zum guten Leben führen könnte, scheint ihm aus guten Gründen ausgeschlossen zu sein. Auch den ästhetischen Dimensionen einer solchen Lebenstechnik vermag er wenig abzugewinnen. Im Anschluss an Aristoteles wird man auf die aktuelle Konjunktur der Lebenskunst also zwiespältig reagieren müssen. Es sieht so aus, als hätte man einleuchtende praktische Aspekte von weniger einleuchtenden technischen oder ästhetischen Aspekten zu unterscheiden.2 Bevor ich dies ausführen kann, muss ich zu­ nächst Grundzüge der antiken Ethik und den Epochenbruch erläutern, auf den die gegenwärtige Philosophie der Lebenskunst, sofern sie mir nachvollziehbar erscheint, reagiert. I. Im Zentrum der antiken Ethik stand durchgängig die Frage nach dem guten Leben. Beim Versuch, diese Frage zu beantworten, ging man zwar sehr verschiedene Wege. Nicht nur das Verhältnis von Vernunft, Tugend 2  Meine Analyse berührt sich in manchen Punkten mit der kritischen Beleuchtung der Lebenskunst, die Wolfgang Kersting vorgelegt hat, ist aber im Einzelnen ganz anders angelegt. Kersting zielt nämlich vor allem auf einen Überblick über die Le­ benskunstphilosophie der Gegenwart und unterscheidet dabei vor allem drei ver­ schiedene Individualitätsmodelle, mit denen in dieser gerechnet wird, nämlich das heroische, das postmoderne und das kapitalistische Individuum. Während für das heroische Individuum eher ästhetische Aspekte wichtig sind, stehen für das postmo­ derne und das kapitalistische Individuum eher technische Aspekte im Vordergrund. Vgl. die lange Einleitung des von ihm herausgegebenen Bandes Kritik der Lebenskunst, Frankfurt am Main 2007, 10–88.



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und Lust war umstritten. Auch das gute Leben selbst wurde recht unter­ schiedlich aufgefasst, indem man es im Rückgriff auf diese konkurrieren­ den Leitbegriffe artikulierte. Aber dass es in der Ethik vor allem um Fra­ gen der Lebensgestaltung geht, wurde in der Antike von niemandem be­ stritten, und diese Grundüberzeugung blieb über das Mittelalter bis in die frühe Neuzeit unangefochten. Im Wesentlichen konkurrierten ein theore­ tisch-philosophisches Leben, das auf Vernunft und Wissen gegründet ist, ein praktisch-politisches Leben, das auf traditionelle Tugenden setzt, und ein hedonistisches Leben, das Lust zu erlangen oder Unlust zu vermeiden sucht.3 Dabei verlief die eigentliche Konfliktlinie zwischen Vernunft- und Tugendkonzeptionen einerseits und Lustkonzeptionen andererseits. Aller­ dings lässt sich auch diese Konkurrenz nicht auf gegenläufige Reduktio­ nismen festlegen. Wie gleich erläutert werden soll, akzeptierten die antiken Vernunft- und Tugendtheoretiker meist, dass das gute Leben auch in ir­ gendeinem Sinne lustvoll sein muss; und die antiken Hedonisten akzeptier­ ten meist, dass ein lustvolles Leben ohne Vernunft oder Tugend kaum zu realisieren ist. Sieht man von selten vertretenen Extrempositionen ab, ging ihre Konkurrenz weniger um ein „Entweder-oder“ als um ein „Sowohl-als auch“, bei dem die Frage entscheidend war, was in der Verbindung unter­ schiedlicher Ansprüche als maßgeblich gelten kann. Die antiken Ethiken verfuhren insofern weitgehend integrativ, obwohl sie ihre Integrationsver­ suche auf unterschiedliche Grundlagen stellten und in ihrer Umsetzung verschieden weit gingen. Es soll nicht bestritten werden, dass es auch in der Antike schon einen so­ phistischen Immoralismus gab, der von hedonistischen Prämissen ausging, das Recht des Stärkeren unverhohlen propagierte und die traditionelle Moral zur bloßen Konvention degradierte. Vor allem in Platons Darstellung der So­ phistik lässt sich diese radikale Auffassung deutlich greifen.4 Aber dabei han­ delt es sich um eine schon vom platonischen Sokrates schonungslos kritisierte und damit früh marginalisierte Minderheitenposition, die über viele Jahrhun­ derte hinweg keine wichtigen Fürsprecher fand. Im Grunde hat erst Machia­ velli das alte sophistische Modell revitalisiert, indem er es zu einem Ratgeber 3  Aristoteles erwähnt neben dem Genussleben (bios apolaustikos), das Lust an­ strebt, dem politischen Leben (bios politikos), das auf Anerkennung (time) oder Tu­ gend (arete) setzt, und dem theoretischen Leben (bios theoretikos), das der Philosophie gewidmet ist, bekanntlich auch das Leben eines Geschäftsmanns (chrematistes), der nach Reichtum strebt. Allerdings stellt er dieses Streben nicht auf dieselbe Stufe wie die drei zuerst genannten Lebensformen, die als wichtigste betrachtet werden (treis gar eisi malista hoi proychontes, 1095 b 17–18). Dies liegt wohl daran, dass Lust, An­ erkennung, Tugend und Vernunft (auch) um ihrer selbst willen gewählt werden, wäh­ rend Reichtum (nur) als Mittel zu anderen Zwecken dient (EN I 3, 1096 a 5–10). 4  Einschlägig sind primär die Äußerungen des Thrasymachos aus der Politeia (336 b ff.) und des Kallikles aus dem Gorgias (481 b ff.).

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für erfolgreiche Fürsten ummünzte.5 Die antiken Hedonisten waren hierin meist versöhnlicher, obwohl sie Vernunft und Tugend nur als Mittel zur Lust­ gewinnung betrachteten. Denn auch eine bloß instrumentelle Tugend ist mehr als eine äußere Konzession an konventionelle Normen. Sie dient nicht nur dazu, andere durch die Vorspiegelung falschen Scheins zum eigenen Vorteil zu überreden. Und erst recht geht es nicht um eine Umdeutung der traditionel­ len arete, die aus einer moralischen Bestheit eine technische Überlegenheit macht. Vielmehr wird der angestrebte Lustgewinn vom Erwerb und von der Ausübung einer Tugend abhängig gemacht, die für die Lust zugleich ermögli­ chend und begrenzend wirkt. Im Hintergrund steht das Grundproblem des He­ donismus, wie die flüchtige Lustempfindung möglichst auf Dauer gestellt werden kann. Auch wenn es streng genommen immer nur um die gegenwärti­ ge Lust geht, weil sich nur diese empfinden lässt, wie nicht erst Epikur, son­ dern bereits Aristipp von Kyrene betont haben dürfte,6 ist es dabei für den Hedonisten entscheidend, möglichst solche Lüste zu meiden, die vergleichs­ weise wenig Lust oder gar Unlust nach sich ziehen, und statt dessen andere zu bevorzugen. Denn ohne kalkulierenden Blick auf die Folgen wird offenkun­ dig die Lust einer späteren Gegenwart gefährdet. Schon um diese Kalkulation erfolgreich zu bewältigen, ist die Tugend der Klugheit oder Einsicht (phronesis) erforderlich.7 Wichtig ist auch, dass sie erlaubt, unnötige Schmerzen, die auf Trugvorstellungen und falschen Meinungen beruhen, ganz zu vermeiden.8 Es sieht deshalb so aus, als wäre es für einen reflektierten Hedonismus kaum möglich, Lust radikal gegen jede Form von Tugend auszuspielen. Für die Gegenseite, die Vernunft- und Tugendtheoretiker, gilt erst recht, dass sie den konkurrierenden Hedonismus zu entschärfen versuchten, indem sie die Ansprüche der Lust angemessen berücksichtigten. Schon bei Platon 5  Zur politischen Marginalisierung der Tugend, die vor allem die kurze Abhand­ lung Il Principe propagiert, vgl. Wolfgang Kersting, Niccolò Machiavelli, München 20063. 6  Vgl. zu den Kyrenaikern vor allem Diogenes Laertios, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, II 87 ff. Wie hier ausgeführt wird, geht es diesen um eine Lust in der Bewegung, die nur in der jeweiligen Gegenwart zu erleben ist. Der Zeitverlauf bringt sie dagegen zum Verschwinden, weshalb Erinnerung (an das Gute) und Hoffnung der Lust nichts hinzufügen können (DL 89). Anders als den Kyrenai­ kern geht es Epikur nur insofern um Lusterwerb, als Unlust zu vermeiden ist. Aber auch dabei ist die Zeit äußerlich, weil sie dieser Aufhebung nichts Neues hinzufü­ gen, sondern nur wieder dasselbe Ziel erreichen kann (Hauptlehren XVIII, XIX). 7  Vgl. für die Kyrenaiker DL 91, für Epikur Men. 132. 8  Bei Epikur rückt dieser Gesichtspunkt stark in den Vordergrund, wie schon der Aufbau des Briefes an Menoikeus zeigt. Denn als Ausgangspunkt dient hier die Entlarvung der unnötigen Furcht vor den Göttern und vor dem Tode (Men. 123– 126). Bereits die Kyrenaiker gingen jedoch davon aus, dass sich der Weise weniger von „Neid, Liebesleidenschaft und Aberglauben“ beherrschen lasse (DL 91).



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ist dieses Integrationsstreben deutlich zu sehen. Der berühmte Lustkalkül, den Sokrates im Protagoras entwickelt, dürfte zwar kaum als Hinweis auf einen sokratischen oder platonischen Hedonismus zu betrachten sein.9 Dafür ist die Hedonismuskritik anderer Dialoge, die wie der Gorgias detailliert herausarbeiten, warum die Lust nicht das Gute sein kann, zu prominent.10 Außerdem wird die Distanz, die gerade Philosophen aufzubieten haben, wenn es um die Ansprüche körperlicher Lust geht, allzu sehr betont.11 Aber dies bedeutet keineswegs, dass Platons Hedonismuskritik eine positive Be­ zugnahme auf die Lust unmöglich machen würde. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung geht bereits die Politeia, die jedem Stand in der Polis und entsprechend auch jedem Seelenteil eine eigene Art von Lust zuschreibt und dabei die Lust des Philosophen bzw. der Vernunft qualitativ favorisiert.12 Noch weiter geht der Philebos, der danach fragt, ob das gute Leben eher auf Lust oder auf Vernunft zu setzen habe und die Vernunft nur insofern vorzieht, als sie den Erfolg eines gemischten Lebens zu gewährleisten ver­ mag. Auch bei Aristoteles hat man es – ähnlich wie bei Platon – mit der Verbindung einer Vernunft- und einer Tugendkonzeption zu tun, die gegen hedonistische Auffassungen stark gemacht wird, ohne irgendeine Lustfeind­ lichkeit zu zeigen. Im Bestreben, Lust zu integrieren, geht Aristoteles sogar weiter als Platon, weil er es als Kennzeichen erfolgreicher Charakterbildung betrachtet, dass ethische Tugend lustvoll ausgeübt wird.13 Außerdem steht bei Aristoteles die ethische Tugend deutlicher im Vordergrund als bei Pla­ ton, weil er anders als sein Lehrer weder eine Einheitskonzeption von Theorie und Praxis noch eine Konzeption abgetrennter Ideen vertritt. Dabei liefern ethische Tugenden wie Besonnenheit, Tapferkeit oder Gerechtigkeit eine Basisvariante des Glücks, die für jeden zu realisieren ist, während die dianoetische Tugend der Weisheit (sophia) eine Vollendungsstufe darstellt, die dem Philosophen vorbehalten bleibt. Nimmt man beide Aspekte zusam­ men, wird man wohl sagen dürfen, dass die aristotelische Konzeption den integrativen Grundzug der antiken Ethik besonders deutlich erkennen lässt. Nicht nur Lust und Tugend sind hier besonders eng verbunden, sondern 9  Prot.

351 b ff. kann demnach nicht das Gute sein, weil es gute und schlechte Lüste gibt, weil (körperliche) Lust mit Unlust verbunden ist und weil sowohl gute als auch schlechte Menschen grundsätzlich auf gleiche Weise Lust empfinden (Gorg. 495 b ff.). 11  Man denke etwa an die berühmte Passage aus dem Phaidon, in der Sokrates nachzuweisen versucht, dass Philosophieren bedeute, Sterben zu lernen, weil es sowohl für die wahre Erkenntnis als auch für das richtige Handeln darauf ankomme, die Seele von den verderblichen Einflüssen des Körpers zu reinigen (64 a–69 e). 12  Ausgeführt wird dies vor allem Rep. IX, 580 c ff. Im Zentrum steht der Ge­ danke, dass die Lust am Wahren die lustvollste und dauerhafteste Lust ist. 13  Vgl. EN II 2, 1104 b 3–8. 10  Lust

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auch Tugend und Vernunft, und zwar ohne intellektualistische Verkürzung. Vielmehr erlaubt die Unterscheidung ethischer und dianoetischer Tugenden die Unterscheidung zweier Realisierungsstufen des guten Lebens, die einer­ seits das Glück des theoretischen Lebens über das Glück des politischen Lebens stellt und andererseits den Vollzug dieser philosophischen Vollen­ dungsstufe von der praktischen Basisvariante abhängig macht und deren Eigenrecht anerkennt.14 Anders als Aristoteles setzen die hellenistischen Schulen wieder auf eine Einheitskonzeption von Theorie und Praxis, verstehen diese aber nicht so sehr politisch wie Platon, sondern wesentlich individualistischer und ver­ binden sie mit einer materialistischen Naturphilosophie. Sieht man vom Skeptizismus ab, der die Möglichkeit philosophischen Wissens und damit auch die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Ethik bezweifelt, befehden sich vor allem die Stoa und der Epikureismus. Allerdings stehen sich die­ se konkurrierenden Schulen näher, als man zunächst vermuten mag, weil sie in ihrer Ethik gleichermaßen individualistisch und asketisch orientiert 14  Man hat die beiden Stufen der eudaimonia, mit denen Aristoteles rechnet, ge­ legentlich gegeneinander auszuspielen versucht, indem man seine Konzeption ent­ weder auf eine sogenannte „inklusive“ oder auf eine „dominante“ Interpretation festzulegen versuchte. Dies ist jedoch unangemessen, weil es ignoriert, dass der aristotelische Ansatz eine praktisch-politische Basisvariante des Glücks mit einer theoretisch-philosophischen Vollendungsstufe zu verbinden versucht. Natürlich kön­ nen nach Aristoteles nicht alle Bürger Philosophen werden. Sie müssen es aber auch nicht, um ein gutes Leben zu führen, weil dieses auch als politische Praxis zu rea­ lisieren ist. Umgekehrt hören Philosophen keineswegs auf, Bürger zu sein, indem sie sich auf Theorie einlassen. Stattdessen geht es einfach um den Nachweis, dass Phi­ losophen eine zusätzliche und höhere Ebene des Glücks zu erreichen vermögen. Außerdem müssen die Begriffe, mit denen die konkurrierenden Interpretationen ar­ beiten, zumindest als missverständlich betrachtet werden. Weder ist das politische Glück nach Aristoteles insofern inklusiv, als es eine simple Summe aller praktischen Güter wäre (vgl. EN I 5, 1097 b 14–21), noch ist das theoretische Glück insofern dominant, als es ein schlechthin absolutes, überall anzustrebendes und ganz zu rea­ lisierendes Gut wäre. Es handelt sich vielmehr um etwas Göttliches in uns, das wir zwar so weit, wie es uns möglich ist, verwirklichen sollen, aber niemals ganz ver­ wirklichen können (EN X 7, 1177 b 25 ff.). Und deshalb werden auch in diesem Kontext die Ansprüche des menschlichen Glücks, das durch ethische Tugend den „zweiten Platz“ belegt, ausdrücklich aufrechterhalten (1178 a, 9 ff.). Um eine grund­ sätzliche Entscheidung zwischen Politik und Theorie geht es Aristoteles also gar nicht. – Aus der breiten Literatur verweise ich nur auf W.F.R. Hardie, „The Final Good in Aristotle’s Ethics“, Philosophy 40 (1965), 277–295, der die angeführten Begriffe geprägt und sich entschieden für eine dominante Interpretation stark ge­ macht hat, und auf John L. Ackrill, „Aristotle on Eudaimonia“, in: Otfried Höffe (Hrsg.), Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, Berlin 1995, 39–62 (zuerst 1974), der eine inklusive Interpretation vertrat. Eine wesentlich überzeugendere Vermittlungs­ position vertritt dagegen z. B. David Charles, „Aristotle on Well-Being and Intellec­ tual Contemplation“, The Aristotelian Society, Suppl. Vol. 73 (1) 1999, 205–223.



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sind.15 Es geht vor allem darum, Beunruhigung, Aufregung und Enttäu­ schung zu vermeiden, indem man nichts zu erreichen versucht, das nicht in der eigenen Macht liegt. Und da streng genommen nichts in der eigenen Macht liegt als die eigene Einstellung, ergibt sich aus diesem Ansatz eine neue Tendenz zur Innerlichkeit. Diese Verschiebung zeigt sich auch darin, dass der alte Begriff der eudaimonia im Hellenismus weithin, wenn auch nicht vollständig, durch die neuen Begriffe der ataraxia und apatheia er­ setzt wird.16 Im Wort „eudaimonia“ steckt die archaische Vorstellung, dass ein Leben dann gut wird, wenn es von einem guten Geist oder Dämon geleitet wird. Bei Platon und Aristoteles ist diese Vorstellung allerdings ganz in den Hintergrund getreten. Vor allem bei Aristoteles steht „eudaimonia“ einfach für das gute oder gelingende Leben im Ganzen. „Ataraxia“ bedeutet dagegen Unaufgeregtheit und „apatheia“ Freiheit von Affek­ ten. Gemeint ist in beiden Fällen eine Ausgeglichenheit oder Seelenruhe, die sich ergibt, wenn man unnötige Irritationsquellen meidet und sich statt­ dessen auf das Erforderliche und Erreichbare konzentriert. Und auf dieses Ziel beziehen sich Stoiker und Epikureer gleichermaßen. Trotzdem ist die Differenz offenkundig. Die Stoiker betrachten Tugend als notwendige und hinreichende Glücksbedingung, weshalb die Lust keine allzu große Bedeu­ tung besitzt. Dabei müssen sie keineswegs fordern, dass Lust keinerlei Rolle spielen darf. Denn schon in der alten Stoa, die das Modell der Apa­ thie entwickelt, wird die Tugend auch als Grundlage für einen affektiven Selbstbezug gesehen, der prinzipiell bejahend und lustvoll ist.17 Die mitt­ lere Stoa baut diesen Gesichtspunkt weiter aus, indem sie sich zumindest im Blick auf Anwendungsfragen dem aristotelischen oder peripatetischen Modell annähert.18 Dennoch setzen die Stoiker primär auf Tugend, und zwar vor allem auf Weisheit, während Epikur davon ausgeht, dass Glück 15  Diese Gemeinsamkeit ist häufig betont worden. Vgl. etwa Malte Hossenfelder, Epikur, München 20063, 52–57. 16  Der Begriff der Ataraxie findet sich vor allem bei Epikur, wird aber auch von Stoikern wie Epiktet benutzt und dürfte aus dem pyrrhonischen Skeptizismus stam­ men. Vgl. den Bericht des Aristokles bei Eusebius, der ihn Pyrrhons Schüler Timon zuschreibt (Praep. ev. XIV, 18, 2–4). Der Begriff der Apathie ist in der alten Stoa besonders prominent (von Arnim, SVF III, Fr. 144), hat aber wohl eine kynische Vorgeschichte, auf die bereits Aristoteles reagiert (EN VII 14, 1153 b 19–21). 17  Immer wieder wird betont, dass der Weise zwar affektlos, aber nicht hartherzig oder gefühllos sein dürfe. Es gibt nämlich schon nach Zenon und der älteren Stoa nicht nur pathe, die als Krankheiten der Seele zu betrachten sind, sondern auch eupatheiai, also gute Affekte, die zu einem gesunden Seelenleben gehören (DL VII 115–17). Vgl. dazu Maximilian Forschner, Die stoische Ethik, Darmstadt 19952, 139–141. In denselben Zusammenhang gehört die Auffassung, dass sich das Tugend­ glück in einem „guten Fließen“ des Lebens (euroia biou, von Arnim SVF I, Fr. 84) zeigt. Vgl. Max Pohlenz, Die Stoa, Göttingen 19927, 116. 18  Zu verweisen ist vor allem auf Panaitios. Vgl. Cicero, De off., z. B. I, 107 ff.

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in einer Freiheit von Unlust liegt, die als solche schon Ataraxie und Lust bedeutet. Anders als die Kyrenaiker zielt er nämlich nicht auf einen posi­ tiven Hedonismus, der Lust zu maximieren versucht, sondern auf einen negativen Hedonismus, der primär auf Schmerzvermeidung setzt.19 Auch darin bleibt Tugend ein entscheidendes Mittel zur Verwirklichung des Glücks. Epikur betont jedoch, dass eine Tugend, die keine Lust verschafft, sofern sie Unlust vermeidet, für ihn keinerlei Bedeutung besitzt.20 Halten wir also fest: Weder die stoische noch die epikureische Ethik versuchen Vernunft, Tugend und Lust so umfassend zu integrieren wie Aristoteles. Vielmehr wird der zentrale Glücksinhalt des konkurrierenden Ansatzes nur eingeschränkt und an untergeordneter Stelle berücksichtigt. Dies ändert aber nichts daran, dass die alte Frage nach dem guten Leben auch in der hellenistischen Ethik von zentraler Bedeutung bleibt. Sogar die Skeptiker sind ihr insofern verpflichtet, als ihre Kritik an den dogmati­ schen Schulen Ataraxie zu befördern versucht. Vor allem der pyrrhonische Skeptizismus lässt die Tendenz erkennen, den aufwändigen, mühsamen und gelegentlich selbstquälerischen Prozess der philosophischen Erkenntnis­ suche als glücksgefährdende Irritationsquelle auszuschalten. Erforderlich ist dazu eine therapeutische Technik, die der Skeptiker gewissermaßen als menschenfreundlicher Arzt einsetzt, um die Krankheiten des vorschnellen Urteils und des dogmatischen Dünkels zu heilen.21 Jedenfalls soll auch der Skeptizismus dem guten Leben dienen. Das eigentliche Ziel der logischen Technik, die durch Nachweis der Unentscheidbarkeit von Wahrheitsfragen Urteilsenthaltung nahezulegen versucht, ist nämlich eine Seelenruhe, die zusammen mit dieser eintritt.22 Sieht man von den angedeuteten Differen­ zen der konkurrierenden Ansätze ab, hat man es hier also mit einer bemer­ kenswerten Übereinstimmung zu tun. Alle antiken Schulen gehen überein­ stimmend davon aus, dass sich die Philosophie, sofern sie es mit prakti­ schen Fragen zu tun hat, auf den Gesichtspunkt des guten Lebens beziehen muss. Und gerade diese Übereinstimmung liefert den Fokus, der ihre Kon­ kurrenz ermöglicht.

19  Die größtmögliche Lust ist nach Epikur nicht eine maximierbare Lust in der Bewegung, sondern eine Aufhebung alles Schmerzenden (Hauptlehren III), die als „zuständliche“ Lust (katastematike hedone) aufgefasst werden soll (Usener, Epicu­ rea, Fr. 2). 20  Usener, Epicurea, Fr. 519. 21  Ich orientiere mich hier an der prägnanten Darstellung von Friedo Ricken, Antike Skeptiker, München 1994, 101–110. 22  Sextus Empiricus, PH I 10 und 25.



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II. Wie aber kam es zu jener Verabschiedung der antiken Ethik, auf die man mit einer neuen Lebenskunst zu reagieren versucht? Auch in diesem Fall ist eine eindeutige historische Grenze natürlich schwer zu ziehen. Es dürfte aber wohl keine allzu grobe Vereinfachung sein, wenn man sagt, dass von der Spätantike bis zur frühen Neuzeit, trotz vielfältiger Innovationen und Transformationen, eine grundlegende Kontinuität dominiert. So trat in der christlichen Patristik zu den alten Modellen des guten Lebens zwar ein re­ ligiöses Lebensmodell, und dieses konnte auf der Grundlage biblischer Of­ fenbarung gegen die alte philosophische Ethik, vor allem gegen den Plato­ nismus, der sich im 2. und 3. nachchristlichen Jahrhundert zur dominieren­ den Schule entwickelt hatte, ausgespielt werden. Aber dies war nur eine Seite. Denn eine christliche Auffassung des guten Lebens konnte mit den alten Ansätzen natürlich auch verbunden werden, und eben darin artikulier­ ten sich wichtige Grundzüge der christlichen Ethik.23 Verbindungsmöglich­ keiten ergaben sich vor allem für das Vernunft- und das Tugendmodell, die bereits in der Antike religiöse Vorstellungen aufgegriffen, überformt und ersetzt hatten. Im Mittelalter werden diese Verbindungsmöglichkeiten inten­ siv diskutiert, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sie hier schwerer zu realisieren waren als in der Antike. Ein Offenbarungsglaube, der sich auf einen autoritativen Text stützt, lässt sich nicht ebenso leicht mit Philosophie verbinden oder gar in Philosophie überführen wie eine religiöse Vorstel­ lungswelt, die vor allem auf mündlich tradierten Mythen beruht. Und doch lebten die antiken Ethikmodelle gerade dadurch weiter, dass sie teils kritisch teils affirmativ rezipiert und auf christliche Perspektiven bezogen wurden. In der Renaissance trat ein stärkerer ästhetischer Akzent hinzu. Aber auch dieser konnte mit dem alten Vernunft- und Tugendmodell verbunden wer­ den. Denn zum einen ist die Aufwertung der Ästhetik durch die mittelalter­ liche Verbindung der Schöpfungstheologie mit der Künstlerthematik vorbe­ reitet, zum anderen besitzt diese Verbindung eine Vorgeschichte, die bis zum platonischen Demiurgen, jenem göttlichen Handwerker, der den sicht­ baren Kosmos gestaltet, zurückreicht.24 Wer davon überzeugt war, dass

23  Besonders wirkungsmächtig, aber auch besonders spannungsreich geschieht dies bei Augustinus, der antike Ansätze sowohl aus christlicher Sicht kritisiert und zurückweist als auch an entscheidender Stelle rezipiert und aneignet. Während Früh­ schriften wie De beata vita oder De vera religione noch eine christlich transformier­ te Fassung des antiken Weisheitsideals bieten, distanzieren sich spätere Schriften wie die Confessiones davon deutlich. Vgl. Kurt Flasch, Augustin, Stuttgart 20033, 127– 154. 24  Auf diesen Zusammenhang verweist zu recht schon Ernst Panofsky, Idea. Ein Beitrag zur Geschichte der älteren Kunsttheorie, Berlin 19602 (zuerst Leipzig 1924).

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Kunst und ästhetische Erfahrung für das gute Leben wichtig sind, musste sich deshalb nicht zwangsläufig einer Spielart des Hedonismus zuwenden, sondern konnte durchaus an einem platonischen, aristotelischen oder neu­ platonischen Philosophieverständnis festhalten.25 Zu einem wirklichen Epochenbruch kam es auch in der praktischen Phi­ losophie erst im 17. und 18. Jahrhundert. Erst hier entstand nämlich eine Moralphilosophie, die sich nicht mehr als Philosophie des guten Lebens verstand. Dabei wirkten vor allem zwei Faktoren zusammen: einerseits eine entschiedene Subjektivierung des Glücks, die es eindeutig auf hedonistische Voraussetzungen bezieht,26 andererseits wachsende Begründungsansprüche gegenüber der Moral, die sie in die Spannung zwischen emotivistisch-affek­ tiven und rationalistisch-transzendentalen Konzeptionen geraten lässt.27 Besonders deutlich zeigt sich dies an der Differenzierung von Moral und Glück, die von Kant herausgearbeitet wurde, weil sie beide Faktoren in äußerster Zuspitzung enthält. Wer verstehen möchte, was objektive Morali­ tät ist, muss demnach grundsätzlich vom subjektiven Glücksstreben absehen. Kant geht zwar davon aus, dass wir als sinnliche Wesen immer nach Glück streben. Aber worin wir unser Glück sehen, hängt von unserer empirischen Beschaffenheit ab, weil Glück nichts anderes als auf Dauer gestellte Lust und Lust nur quantitativ, nicht aber qualitativ zu differenzieren ist.28 Jedes Subjekt hat insofern sein eigenes, empirisch bestimmtes Glücksverständnis. Schon deshalb kann ein Sittengesetz, das objektiv, allgemein und notwendig gilt, nicht von unserem Glücksstreben abhängen, sondern nur von unserer Vernunftnatur, die unabhängig von subjektiven Setzungen praktisch zu wer­ den vermag.29 Kant hat mit dieser einflussreichen Differenzierung von Moral und Glück entscheidend zur modernen Abwendung von der Philoso­ phie des guten Lebens beigetragen. Trotzdem ist gar nicht leicht zu ent­ scheiden, ob sie ganz und gar durch ihn gerechtfertigt werden könnte. Denn die Differenzierung von Moral und Glück ist für ihn nur ein erster grund­ 25  Ein wichtiges Beispiel liefert etwa der florentiner Neuplatonismus Marsilio Ficinos. Vgl. nicht nur De amore, sondern auch die monumentale Theologia platonica. 26  Diese zeigt sich schon bei Locke sehr deutlich. Vgl. An Essay concerning Human Understanding, Buch II, Kap. XXI. 27  Als Hauptexponenten im 18. Jahrhundert stehen sich Hume und Kant gegen­ über. Zum Zusammenwirken der angesprochenen Faktoren bei der Abwendung vom guten Leben vgl. Holmer Steinfath (Hrsg.), Was ist ein gutes Leben? Philosophische Reflexionen, Frankfurt am Main 1998, 7–10 (in der Einführung des Herausgebers). 28  Kants Glücksverständnis hat wesentlich weniger Beachtung gefunden als sein Moralverständnis. Vgl. inzwischen aber Beatrix Himmelmann, Kants Begriff des Glücks, Berlin 2003. 29  Die kompakteste Darstellung dieses Zusammenhangs gibt Kant im berühmten ersten Hauptstück der Analytik seiner Kritik der praktischen Vernunft, §§ 1–8.



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legender Schritt, der erlauben soll, das Prinzip der Moralität trennscharf herauszuarbeiten. In einem zweiten Schritt fragt er nach dem höchsten Gut und diskutiert dabei eine notwendige Verbindung von Glück und Moral, weil Tugend als dauerhafte Orientierung am Moralprinzip zwar noch kein Glück bedeutet, aber immerhin Glückswürdigkeit. Und damit versucht er, Perspektiven der alten Ethik auf der Grundlage der Moralphilosophie einzu­ arbeiten. Allerdings werden die Vermittlungsmöglichkeiten dadurch beschränkt, dass die sekundäre Verbindung von Moral und Glück den Vorrang der Mo­ ralität nicht gefährden darf. Wo immer Neigung und Pflicht kollidieren, muss der Pflicht gefolgt werden. Und die Pflicht lässt sich, wie Kant im ersten Schritt gezeigt hatte, weder auf Neigung gründen, noch Neigung als Teil der Pflichterfüllung betrachten. Aus diesem Grund weist Kant die Iden­ titätskonzeptionen von Tugend und Glück, die er in der hellenistischen Ethik ausmacht, mit Entschiedenheit zurück. Tugend kann nicht darin lie­ gen, dass man sich epikureisch seines Glücksstrebens, und Glück nicht darin, dass man sich stoisch seiner Tugend bewusst ist.30 Eine umfassende Vermittlung ist für Kant deshalb nicht analytisch, d. h. durch Aufdeckung einer verborgenen Identität, sondern nur synthetisch, d. h. durch die Er­ schließung eines Kausalverhältnisses, herzustellen, und zwar nur derart, dass Tugend Glück bewirkt, nicht aber umgekehrt.31 Möglich ist dies frei­ lich nur im Rückgriff auf ein theologisches Postulat. Gott muss einspringen und dem Tugendhaften ein Glück zuteilen, für das er selbst gerade als Tu­ gendhafter nicht ausreichend zu sorgen vermag.32 Kant räumt zwar ein, dass es in gewisser Hinsicht Pflicht sein kann, für die eigene Glückseligkeit zu sorgen, teils um Mittel zur Pflichterfüllung bereit zu stellen, teils um Ver­ suchungen zu verringern. Aber vor allem betont er, dass das eigene Glück unmittelbar keine Pflicht sein kann.33 Auch Neigung zur Pflicht lasse sich nicht als Pflicht betrachten.34 Der Tugendhafte kann zu seinem eigenen Glück allenfalls auf Umwegen beitragen, weil in der Tugend des einen in 30  Ebd.,

A 200. A 204 f. 32  Den entscheidenden Ausgangspunkt liefert die Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft in ihrem zweiten Hauptstück: „Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche denken, gar nicht zusammen bestehen.“ (A 199). Dieser Gedanke ist bereits in der Kritik der reinen Vernunft vorgezeichnet, und zwar im berühmten Kapitel über das „Ideal des höchsten Guts“ (A 808 ff. / B 836 ff.). 33  Kritik der praktischen Vernunft, A 166 f. 34  Ebd., A 148 f. 31  Ebd.,

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gewisser Weise das Glück des anderen liegt. Wer in Konfliktfällen auf die unmittelbare Realisierung seines eigenen Strebens verzichtet, mag gerade dadurch das Streben des anderen unterstützen. Besonders deutlich wird dies, wenn man die kontrafaktische Idee voraussetzt, dass jeder tut, was er soll.35 Vor diesem Hintergrund arbeitet Kant in seiner Tugendlehre heraus, dass es für uns ebenso Pflicht ist, die fremde Glückseligkeit zu fördern wie die eigene Vollkommenheit. Dabei denkt er bei der eigenen Vollkommenheit nicht nur an die „Kultur der Moralität“, sondern auch an die „Kultur aller Vermögen überhaupt“, und bei der fremden Glückseligkeit nicht nur an das „moralische Wohlsein“, sondern auch an die „physische Wohlfahrt“.36 Es ist also einzuräumen, dass Kant zur Vermittlung von Moral und Glück mehr zu sagen hat, als die Grundlegung seiner Moralphilosophie zunächst erkennen lässt. Allerdings hat er wesentlich stärker durch seine innovative Grundlegung gewirkt als durch die spätere Vermittlung. Und dies hat wohl auch damit zu tun, dass viele Kantleser den späteren Einbezug des Glücks nicht ebenso überzeugend fanden wie den moralphilosophischen Auftakt. In der Tat ist schwer zu sehen, wie es eine überzeugende Vermittlung von Moral und Glück geben soll, nachdem das Glück bereits eindeutig hedonis­ tisch aufgefasst und damit im Licht des aufgewiesenen Moralprinzips ent­ wertet wurde. Kants hedonistische Reduktion des Glücks, die zu einem abstrakten Gegensatz von Moral- und Lustprinzip führt, ist aus verschiede­ nen Gründen problematisch. Vor allem sieht es so aus, als ließen sich Moral und Glück nur vermitteln, wenn Glück und Lust stärker differenziert wer­ den. Glück scheint einerseits mehr zu sein als eine dauerhafte Lust, die im Idealfall das ganze Leben erfüllt, und andererseits weniger. Glück ist schon deshalb weniger als dauerhafte Lust, weil diese streng genommen eine reine Unmöglichkeit darstellt. Wenn wir dauerhaft Lust empfinden müssten, um glücklich zu sein, wären wir alle grundsätzlich unglücklich. Und ganz so schlimm scheint unsere Lage, selbst nüchtern und ohne Überschwang be­ trachtet, dann doch nicht zu sein. Glück ist aber auch mehr als dauernde Lust, nämlich eine Struktur des Lebens, in der es als Ganzes gelingt, ob­ wohl Lust nicht durchgängig dauern kann. Zumindest gilt dies, wenn mit „Glück“ nicht günstige Zufälle, herausragende Momente oder Episoden gemeint sind, sondern das gute Leben im Ganzen, das solche Aspekte bein­ halten mag, ohne auf sie reduzierbar zu sein. Wer sich an Aristoteles orien­ tiert, wird ein solches Verständnis des Glücks, das nicht hedonistisch und momentaristisch, sondern integrativ angelegt ist, für erforderlich halten müssen. Wie wir gesehen haben, ist es in der modernen Moraldebatte an 35  Kritik

der reinen Vernunft, B 837 f. der Sitten (Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre), A 24–

36  Metaphysik

29.



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den Rand gedrängt worden, und zwar nicht nur bei Kant. Dennoch gibt es auch hier durchaus Autoren, bei denen es bedeutsam blieb.37 Es braucht deshalb nicht befürchtet zu werden, dass ein integratives Glücksverständnis mit modernen Perspektiven und Prämissen grundsätzlich inkompatibel sein könnte. An Aristoteles aus moderner Sicht anzuknüpfen, scheint für das gute Leben vielmehr durchaus möglich zu sein. Doch bevor ich dies versuche, möchte ich noch einen anderen Aspekt des kantischen Glücksverständnisses ansprechen, der problematisch er­ scheint, nicht nur, aber vor allem, wenn man die aristotelische Alternative berücksichtigt. Es sieht nämlich so aus, als müsste die Lust qualitativ dif­ ferenziert werden, wenn eine beständige und verlässliche Ausübung der Moral, die als Tugend zu betrachten ist, überhaupt möglich sein soll. Kant versucht dagegen zu zeigen, dass Zwecke, zu denen man nicht aus reiner Vernunft genötigt wird, lediglich sinnlich bestimmt sein können, und zwar durch eine Lust, die nur quantitativ differenzierbar ist. Lüste unterscheiden sich voneinander nur durch die quantitative Bestimmtheit ihrer Extension und Intensität. Qualitativ bessere und schlechtere Lüste gibt es nach Kant nicht.38 Neben der moralisch gebotenen Pflicht steht ein qualitativ undiffe­ renzierter Bereich sinnlicher Pathologie. Und deshalb ergibt sich für die kantische Moralphilosophie, wie bereits Schiller erkannte, ein Motivations­ problem.39 Man muss nicht bestreiten, dass die bloße Achtung vor dem Sittengesetz ausreichen kann, um als Triebfeder für eine moralische Wil­ lensbestimmung zu dienen.40 Aber eine beständige Motivation, die verläss­ lich zur Ausbildung von Tugend führt, scheint kaum möglich zu sein, oh­ ne dass der moralischen Anforderung in der Charakterbildung mehr Unter­ stützung entgegen kommt. Schiller hat an dieser Stelle bekanntlich davon gesprochen, dass eine Neigung zur Pflicht entwickelt werden müsse, und die dabei erforderliche Erziehung nicht zuletzt im Rückgriff auf die kanti­ sche Ästhetik entwickelt. Der ästhetische Hintergrund ist schon deshalb interessant, weil Kant im interesselosen Wohlgefallen, das nicht mit Lust im Sinne des Angenehmen identifiziert werden darf, einer qualitativen Dif­ ferenzierung der Lust, wie er sie in seiner Moralphilosophie bestreitet, 37  Wichtig

ist dabei vor allem John St. Mill, Utilitarianism, Kap. II. der praktischen Vernunft, § 3, Anm. I. 39  Einschlägig ist hier nicht nur das bekannte Distichon, das Kants rigorose Mo­ ral ironisiert, sondern vor allem Schillers teils ästhetische, teils pädagogische Ab­ handlung Über Anmut und Würde. Der Gedanke einer Harmonie von Neigung und Pflicht, die sich in der Schönheit des Spiels zeigt, wird auch in der späteren Ab­ handlung Über die Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen aufgegriffen. Vgl. vor allem den Vierten Brief. 40  Kant entwickelt dieses intellektualistische Motivationsmodell im dritten Haupt­ stück der Analytik seiner Kritik der praktischen Vernunft, A 126 ff. 38  Kritik

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durchaus nahekommt.41 Außerdem braucht man nur auf Kants Erläuterung der Schönheit als „Symbol der Sittlichkeit“ zu blicken, um sich verständ­ lich zu machen, dass Schillers ästhetisch-pädagogische Konzeptionen durchaus eine kantische Basis besitzen.42 Doch die kantische Moralphilo­ sophie selbst entwickelt diese nicht. Stattdessen arbeitet Kant die reine Vernunft als Quelle der Moral auch im Kontext der Motivationsfrage her­ aus, indem er bloß pflichtmäßige Handlungen von Handlungen aus Pflicht unterscheidet.43 Des Weiteren betont er in diesem Zusammenhang mehr­ fach, dass der Begriff der Pflicht eine moralische Verbindlichkeit enthält, die für endliche Vernunftwesen eine praktische Nötigung bedeutet. Und eine solche Nötigung versteht er als eine Bestimmung zu Handlungen, die ungern geschehen. Pflicht ist deshalb nicht als „eine von uns selbst schon beliebte oder beliebt werden könnende Verfahrensart vorzustellen“.44 Ich kann dem hier nicht weiter nachgehen, weil es mir ja nur darum ging, mit Kant auf einen zentralen Epochenbruch zu verweisen und von hieraus Probleme in den Blick zu bringen, auf die eine neue Lebenskunst zu ant­ worten hätte. Bei einer ausführlicheren Betrachtung müssten natürlich auch andere Konzeptionen berücksichtigt werden. Wichtig wäre vor allem der klassische Utilitarismus von Jeremy Bentham und John Stuart Mill, die Moral konsequentialistisch, also im Blick auf die Folgen unserer Handlun­ gen, zu erläutern versuchen. An dieser Stelle muss ich mich mit ganz knap­ pen Hinweisen begnügen. Als Maßstab dient im klassischen Utilitarismus bekanntlich das Gemeinwohl als größtes Glück der größten Zahl.45 Auf den ersten Blick sieht es deshalb so aus, als stünde diese Moralphilosophie der antiken Ethik wesentlich näher als die kantische, zumal Glück auch hier eindeutig hedonistisch aufgefasst wird. Doch bei genauerer Betrachtung erweist sich dieser Eindruck als trügerisch. Vom Glück des Einzelnen ist auch im klassischen Utilitarismus weniger die Rede, als der hedonistische Konsequentialismus suggeriert. Denn auch hier geht es primär um Moral. Diese Moral wird in ein Gemeinwohl gesetzt, das gewissermaßen sozial­ technisch befördert werden soll, und dem Gemeinwohl hat sich der Einzel­ ne unterzuordnen, obwohl er zugleich an ihm partizipiert. Fragt man danach, wie eine moralische Handlungsbestimmung möglich sein soll, ergibt sich interessanterweise auch hier ein Motivationsproblem. Was zum größten Glück der größten Zahl beitragen mag, muss nämlich nicht unbedingt mein 41  Kritik

der Urteilskraft, §§ 1–5. § 59. 43  Kritik der praktischen Vernunft, A 144. 44  Ebd., A 145. 45  Bentham, An Introduction into the Principles of Morals and Legislation, Kap. I; Mill, Utilitarianism, Kap. II. 42  Ebd.,



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eigenes Glück maximieren. Schwierigkeiten bereitet dies vor allem dann, wenn man wie Bentham einen rein quantitativen Hedonismus propagiert. Motivierend wirken kann hier nämlich nur die kalkulatorische Einsicht, welche Handlung die Gesamtbilanz des Gemeinwohls am meisten fördern dürfte.46 Und wenn ich mich als Einzelner im Gemeinwohl nicht – oder zumindest nicht ganz – wieder finden kann, wird es mir wohl schwer fallen, dauerhaft moralisch zu handeln. Besser ist die Lage, wenn man Lust wie Mill qualitativ differenziert. Denn damit lässt sich einräumen, dass man sich an moralisches Handeln gewöhnen kann, und zwar derart, dass eine Tugend, die zunächst nur als Mittel zur Erreichung des Gemeinwohls ausgeübt wur­ de, schrittweise zum Selbstzweck aufrückt, und damit gewissermaßen zum Teil meines eigenen Glückes wird.47 Diese Perspektive kommt der aristote­ lischen Tugendkonzeption tatsächlich recht nahe. Dafür bereitet es Mill große Schwierigkeiten, sie mit seinem konsequentialistischen Ansatz zu vereinbaren. III. Ich komme damit zu Aristoteles zurück und frage zunächst einmal da­ nach, was an seiner Konzeption aus heutiger Sicht attraktiv erscheinen mag, und zwar derart, dass es als Anknüpfungspunkt für eine neue Philosophie der Lebenskunst dienen könnte. Es geht mir nun also um den affirmativen Teil meiner angekündigten Antwort. Attraktiv an der aristotelischen Kon­ zeption erscheint mir vor allem, dass sie eine Vermittlung von Moral und Glück erläutert, die einerseits ohne fragwürdige moralische Entwertung des Glücks auskommt und andererseits Moral ebenso wenig als bloßes Mittel zur Erreichung des Glücks unterschätzt. Weder wird Glück deontologisch disqualifiziert noch Moral instrumentalistisch verkürzt. Wie sich bereits abgezeichnet hat, wäre beides problematisch. Und die aristotelische Kon­ zeption lässt deutlicher erkennen, warum dies so ist. In ihrem Zentrum steht der Begriff der eudaimonia. Gemeint ist das höchste Handlungsziel, das ariston, um das es uns in all unseren Handlungen geht. Die eudaimonia ist höchstes Handlungsziel, weil sie als schlechthin selbstzweckhaft betrachtet werden muss. Alles, was wir tun, tun wir, zumindest letzten Endes, um der eudaimonia willen. Die eudaimonia ist aber nicht wieder auf ein weiteres, höheres Ziel bezogen. Denn sie ist das gute oder gelingende Leben im Ganzen. Und deshalb hat es in Bezug auf sie keinen Sinn, nach einem höheren Ziel zu fragen.48 Man kann z. B. fragen, warum jemand aufhört zu 46  Bentham,

Introduction, Kap. IV. Utilitarianism, Kap. II und Kap. IV. 48  EN I 1, 1094 a 18–22. 47  Mill,

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arbeiten, um sich mit Freunden zu treffen. Und der Betreffende mag sagen, dass er dies tut, weil er sich davon einen angenehmen Abend verspricht. Warum ein angenehmer Abend motivierend wirken sollte, ist so wenig er­ staunlich, dass man an dieser Stelle wohl kaum mehr weiter fragen wird, es sei denn im Sinne der Abwägung. Nicht jeder Abend mit Freunden muss notwendig angenehmer sein als etwa ein in Arbeit investierter. Trotzdem gibt es nach Aristoteles auch die Möglichkeit zu fragen, warum die erwar­ tete Lust grundsätzlich motivieren sollte. Und als einzig mögliche Antwort erscheint ihm: Ich strebe diese Lust an, weil sie mir zur eudaimonia, zum guten Leben, beizutragen scheint. Wer an dieser Stelle auch noch weiter fragt, warum denn ein gutes Leben angestrebt werden sollte, kann keine sinnvolle Antwort mehr erwarten. Ebenso wie Anerkennung, Vernunft und Tugend streben wir Lust, wie Aristoteles ausführt, zwar teils um ihrer selbst willen an, also auch, wenn wir keinen weiteren Gewinn von ihr erwarten, teils um der eudaimonia willen, weil wir glauben, durch sie glücklich zu werden. Aber die eudaimonia wählt niemand um anderer Ziele willen. Es handelt sich hier um das höchste Ziel, bei dem mögliche Rückfragen an ein definitives Ende kommen.49 Schon diese Differenz zu möglichen Glücks­ inhalten wie Lust, Anerkennung, Tugend und Vernunft legt nahe, dass die eudaimonia nicht als ein weiterer, noch wichtigerer Glücksinhalt aufzufas­ sen ist, sondern als eine formale Struktur, die das gute Leben insgesamt auszeichnet. Außerdem ergibt sich für jeden denkbaren Glücksinhalt, den man als höchstes Gut betrachten mag, die Möglichkeit, einen weiteren In­ halt zu addieren, und zwar derart, dass die Summe besser wäre als das angeblich höchste Gut. Und eine solche Möglichkeit schließt Aristoteles im Blick auf die beanspruchte Autarkie der eudaimonia explizit aus.50 Aber wie ist dieses gute Leben aufzufassen? Aristoteles betont bekannt­ lich, wir wären uns zwar alle darin einig, dass die eudaimonia das höchs­ te Ziel ist, nicht aber darin, worin sie besteht. Er rechnet nur mit einem Minimalkonsens, wonach sie sowohl das Wohlergehen (eu zen) als auch

49  EN

I 5, 1097 a 30–1097 b 6. I 5, 1097 b 14–21. Nimmt man diesen Gesichtspunkt ernst, scheint mir die beliebte Frage, ob es tatsächlich nur ein höchstes Gut gibt, und nicht etwa mehrere, die bei unterschiedlichen Präferenzen verschiedener Subjekte oder in unterschied­ lichen Lebensphasen desselben Subjekts einschlägig sind, ins Leere zu laufen. Denn diese Frage setzt eine inhaltliche Perspektive voraus, die Aristoteles in der Kenn­ zeichnung der eudaimonia als ariston gerade nicht einnimmt. Natürlich versucht Aristoteles später, von seiner formalen Bestimmung der eudaimonia zu einer kon­ kreteren Bestimmung überzugehen, die auch inhaltliche Aspekte enthält. Aber es ist von entscheidender Bedeutung, die formale Ausrichtung seiner Grundlegung zu be­ rücksichtigen, weil die weiteren Schritte sonst wie dogmatische Setzungen erschei­ nen müssen. 50  EN



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das gute Handeln (eu prattein) beinhalten muss.51 Aber wie Wohlergehen und Handeln zu verbinden sind, ist alles andere als offensichtlich. Und vor dem Hintergrund dieser Unklarheit konkurrieren verschiedene Lebensfor­ men, die entweder auf Lust, auf Anerkennung, Tugend oder Vernunft set­ zen.52 Aristoteles selbst versucht bekanntlich nachzuweisen, dass eudaimonia nichts anderes sein kann als eine Tätigkeit der Vernunft gemäß der Tugend oder Bestheit (arete), wobei er mit verschiedenen Tugenden gemäß verschiedenen Ebenen der Vernunft (logos) rechnet.53 Die Vernunft wird als Grundlage dieses sogenannten Ergon-Arguments herangezogen, weil sie uns grundsätzlich von anderen Lebewesen unterscheidet. Dabei tritt sie al­ lerdings auf zwei Ebenen auf, nämlich einmal als hinhörende und einmal als leitende Vernunft. Die hinhörende Vernunft gehört zum affektiven See­ lenteil, der zwar nicht von vornherein als vernünftig zu betrachten ist, aber durch Vernunft bestimmt werden kann, indem er auf die leitende Vernunft hört. Die leitende Vernunft besteht aus jenen Vernunftvermögen, die sich darin als bestimmend erweisen können.54 Entscheidend ist in diesem Zu­ sammenhang, dass sowohl die hinhörende als auch die leitende Vernunft besser oder schlechter betätigt werden können. Denn die zentrale These des Aristoteles besteht darin, dass der Mensch nur gut wird und die eudaimonia als sein höchstes Gut zu verwirklichen vermag, wenn er die Ver­ nunft auf ihren beiden Ebenen gut bzw. gemäß der arete betätigt. „Arete“ bedeutet ja, allgemein gefasst, nicht Tugend, sondern Bestheit. Die These liegt zunächst also einfach darin, dass der Mensch das, was die Vernunft an Möglichkeiten enthält, möglichst gut verwirklicht, wenn er diese Ver­ nunft möglichst gut betätigt. Wie ein Flötenspieler durch gutes Flötenspiel ein guter Flötenspieler wird, soll auch der Mensch durch gute Betätigung der Vernunft ein guter Mensch gemäß den vorausgesetzten Vernunftmög­ lichkeiten werden. Und eben darin liegt die Aufgabe (ergon), die seine Natur für ihn bereithält. Es geht also nicht um die Realisierung irgend­ welcher vorgegebenen Naturzwecke, wie gegen Aristoteles geltend gemacht wurde,55 sondern darum, dass man als Mensch die Möglichkeiten, die in

51  EN

I 2, 1095 a 19 f. I 3, 1995 b 14 – 1096 a 10. 53  EN I 6, 1098 a 16. 54  Zu denken ist wohl primär an den überlegenden Seelenteil (logistikon) und die praktische Vernunft (dianoia praktike). Vgl. EN VI 2. Klugheit (phronesis) und Weisheit (sophia) können dagegen nicht gemeint sein, weil sie dianoetische Tugen­ den sind, die sich nicht besser oder schlechter gebrauchen lassen, sondern selbst schon Bestheiten des Vernunftgebrauchs darstellen. 55  Vgl. etwa Peter Stemmer, „Was es heißt, ein gutes Leben zu leben“, in: H. Steinfath (Hrsg.), Was ist ein gutes Leben? Frankfurt am Main 1998, 47–72, bes. 49 ff. 52  EN

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der eigenen Vernunftnatur liegen, möglichst gut entfaltet, um das Ziel ei­ nes guten Lebens zu verwirklichen. Es gibt freilich auch Schwierigkeiten des Ergon-Arguments, auf die mit größerem Recht hingewiesen wurde.56 So lässt eine gute Betätigung der Vernunft, die arete als bloße Bestheit ins Spiel bringt, noch nicht wirklich erkennen, inwiefern es hier zumindest auch um eine ethische Tugend geht. Und erst recht kann nicht klar sein, dass eine solche Tugend ein gutes Leben ermöglicht. Wieso sollte ein Mensch, der gemäß einer ethischen Tugend als gut zu betrachten ist, auch als glücklich (im Sinne der eudaimonia) betrachtet werden? Meines Erachtens muss man zugeben, dass das Ergon-Argument allein dies nicht wirklich zu zeigen vermag. Aber daraus folgt keineswegs, dass der aristotelische Ansatz nicht überzeugend wäre. Das Argument lässt sich im Blick auf die angesprochene Problematik näm­ lich auch als Vorgriff auf spätere Ausführungen lesen, die es an entschei­ denden Stellen ergänzen. Wichtig ist dabei vor allem die Konzeption der ethischen arete, die verständlich macht, wie die hinhörende Vernunft cha­ rakterlich gebildet werden kann. Dabei betont Aristoteles selbst, dass diese arete uns nicht von Natur aus zukommt. In unserer Natur liegt vielmehr nur die Fähigkeit, sie aufzunehmen, und zwar durch die Gewöhnung an gutes Handeln.57 Die Basisvariante der eudaimonia ergibt sich nämlich da­ raus, dass wir uns ethische aretai, Charaktertugenden, aneignen, indem wir durch wiederholte Ausübung tugendhafter Handlungen die Verfassung un­ serer Affekte günstig beeinflussen. Es ist dieser Zusammenhang, der in der Nikomachischen Ethik am ausführlichsten erläutert wird und der die Ge­ samtkonzeption trägt. Über dem praktisch-politischen Leben steht nach Aristoteles zwar ein theoretisches Leben, das eine höhere Vollendungsstufe erreichen soll, ohne von ihrer bürgerlichen Basis vollständig abtrennbar zu sein. Aber dieses theoretische Leben spielt im modernen Aristotelismus, wie sich leicht nachvollziehen lässt, keine große Rolle. Auch wer nicht bestreiten möchte, dass es ein Glück der Erkenntnis gibt, mag bezweifeln, dass Philosophen die glücklichsten Menschen sind. Nicht nur die moderne Wissenschaft, sondern auch die universitäre Philosophie unserer Zeit hat sich wohl zu weit vom kontemplativen Ideal der Theorie entfernt, um Aristoteles in diesem Punkt emphatisch folgen zu können. Außerdem setzt seine aristotelische Fassung eine Ontologie voraus, die aus heutiger Sicht wesentlich schwerer anzueignen ist als die Grundzüge seiner Ethik. Besser steht es mit dem praktisch-politischen Leben, das diese Grundzüge zu ent­ wickeln erlaubt, obwohl es natürlich auch hier wesentliche Differenzen zu 56  Vgl. zum Folgenden Ursula Wolf, Aristoteles’ ‚Nikomachische Ethik‘, Darm­ stadt 20072, 37 ff. 57  EN II 1, 1103 a 23 ff.



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berücksichtigen gilt. Weder die naturphilosophische Teleologie, die Aristo­ teles voraussetzt, noch die zeitbedingten Einzelheiten seiner Tugendkon­ zeption, die z. B. wenig zu inneren Zwängen sagt, oder das gesellschaft­ liche Anwendungsfeld seiner Ethik, das durch die antike Polis bestimmt ist, können für uns noch bruchlos maßgeblich sein. Dies ändert aber nichts daran, dass wichtige Aspekte seiner Konzeption nach wie vor einzuleuch­ ten vermögen. Von entscheidender Bedeutung ist, dass die Vernunft nicht als vorgegebe­ ner Inhalt des Glücks eingeführt wird, sondern als seine menschliche Rea­ lisierungsform. Und ebenso wenig ist Tugend für Aristoteles ein vorgegebe­ ner Glücksinhalt, sondern die beste Form, in der wir unsere Vernunft handlungsleitend betätigen können. Wäre dies nicht so, würde es sich beim Rückgriff auf Tugend und Vernunft im Grunde nur um die dogmatische Setzung einer bestimmten Glücksauffassung handeln. Und diese Setzung bliebe schon deshalb unbefriedigend, weil man stattdessen eben auch auf Lust, Anerkennung oder etwas anders setzen könnte. Schon angesichts der verschiedenen Lebensformen, mit denen Aristoteles rechnet, sind Vernunft und Tugend anders einzuführen, um als notwendige Grundlage des Glücks einsichtig zu werden. Und angesichts späterer Entwicklungen, die bis zum modernen Individualismus geführt haben, gilt dies erst recht. Aristoteles kann nur noch anschlussfähig sein, wenn sich zumindest ein Kernbestand seiner Ethik als eine formale Theorie des guten Lebens verstehen lässt. Aber genau dies scheint mir, anders als häufig behauptet wird, durchaus der Fall zu sein. So betont Aristoteles, wie ich bereits angedeutet habe, dass die ethische Tugend nicht von Natur aus besteht, sondern in einem sozialen Prozess der Gewöhnung erworben wird. Dabei handelt es sich nicht um eine äußerliche Konditionierung oder Abrichtung, sondern um eine Soziali­ sierung, die durch Lob, Tadel und Vorbilder zwar äußerlich begleitet wird, im Kern aber als ein Vorgang der charakterlichen Selbstprägung aufzufassen ist. Durch tugendhafte Handlungen werden wir tugendhaft, durch schlechte werden wir schlecht. Um solche tugendhaften Handlungen ausüben zu kön­ nen, benötigen wir zwar noch nicht die Vollgestalt der Tugend, die im Prozess der Gewöhnung ja erst erworben werden soll, wohl aber müssen wir zumindest im Umriss wissen, um welche Tugend es geht, uns dann für ihre Realisierung entscheiden und schließlich auch für eine gewisse Zeit bei dieser Entscheidung bleiben.58 Es gibt also nach Aristoteles keine Charak­ tertugend ohne Entscheidung, Überlegung und praktische Vernunft. Dabei erwirbt man im Idealfall zusammen mit der Charaktertugend auch die Ver­ nunfttugend der Klugheit (phronesis), die zu guten Überlegungen und Ent­ scheidungen disponiert. Aber auch, wo dies nicht oder nicht ganz gelingt, 58  EN

II 3, 1105 a 28–33.

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bleibt immerhin die Möglichkeit, sich an Vorbildern zu orientieren und beraten zu lassen.59 Aristoteles setzt also nicht – oder wenigstens nicht ausschließlich deshalb – auf Tugend und Vernunft, weil diese Güter aus den besten Seiten unserer Natur folgen und damit anthropologisch, ontologisch oder gar theologisch geadelt sind. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass wir alle Güter, die für unser gutes Leben relevant sind, seien es nun äußerliche, körperliche oder seelische, mit Tugend und Vernunft besser zu erwerben oder zu verwirk­ lichen vermögen als ohne. Als Grundlage dient dabei zum einen ein Ver­ ständnis der eudaimonia, wonach diese ein gutes oder gelingendes Leben meint. Wenn man will, kann man hier auch von Glück sprechen, allerdings nur, wenn man es als Lebensglück in einem umfassenden Sinne versteht. Nicht gemeint ist dagegen ein vorübergehender Gemütszustand, der mit angenehmen, befriedigenden oder erfreulichen Gefühlen einhergeht oder ein zufälliges Ereignis, das zu einem solchen Zustand beiträgt. Das Glück, um das es geht, meint unser ganzes Leben und ist deshalb nicht auf Zufälle, Güter, Emotionen oder Episoden zu reduzieren. Als weitere Grundlage dient Aristoteles ein Verständnis der arete, wonach diese eine Mitte zwischen schlechten Extremen darstellt. So liegt etwa Besonnenheit in der Mitte zwi­ schen einer Stumpfheit, die jede Lust meidet, und einer Ausschweifung, die von Lust nie genug bekommt. Und Tapferkeit liegt in der Mitte zwischen einer Feigheit, die keine Furcht erträgt, und einer Tollkühnheit, die sich von keiner Furcht bremsen lässt. Dabei betont er, dass es sich hier nicht um eine arithmetische, sondern um eine Mitte für uns handelt. Denn zum einen liegt die Mitte einem Extrem meist näher als einem anderen, die Besonnen­ heit etwa näher an der Stumpfheit als an der Ausschweifung und die Tap­ ferkeit näher an der Tollkühnheit als an der Feigheit. Zum anderen neigen wir von Natur aus meist eher zum ferneren Extrem, also zur Ausschweifung und Feigheit.60 Jedenfalls ist es für den Einzelnen wichtig zu wissen, wo er steht, um in die erforderliche Richtung korrigieren zu können.61 Diese Maßkonzeption ist im Kern sehr alt. Aber Aristoteles verleiht ihr eine neue Pointe, indem er ihren Erwerb als einen sozialen Prozess der Charakter­ bildung deutet. Solange dieser Prozess nicht abgeschlossen ist, steht die Ab­ wehr unangemessener Lust im Vordergrund. Aber je weiter er voranschreitet, 59  Jedenfalls reicht es für die ethische Tugend aus, die Mitte so zu treffen, wie sie ein Kluger treffen würde. Man muss dazu also nicht notwendig selbst klug sein. Vgl. EN II 6, 1106 b 36–1107 a 2. 60  Vgl. dazu vor allem EN II 5 und 8. 61  In diesem Zusammenhang empfiehlt Aristoteles eine „zweitbeste Fahrt“, die zumindest das geringste Übel wählt, wenn sie schon nicht das beste Gut zu treffen vermag. Vgl. EN II 9. 1109 a 35 ff.



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desto integrativer wirkt die erworbene Tugend. Denn nun wird nicht nur un­ angemessene Lust abgewehrt, sondern auch angemessene Lust empfunden. Ja Aristoteles behauptet sogar, dass man erst dann wirklich besonnen oder tapfer ist, wenn man die entsprechenden Handlungen gerne oder doch ohne Schmer­ zen ausübt.62 Man hat viel daran herumgerätselt, was dies bedeuten soll. Da­ bei ist die aristotelische Auffassung verhältnismäßig leicht nachzuvollziehen, wenn man Lust nicht nur als Befriedigung vorgegebener Begierden, sondern auch als eine perfektionierbare Tätigkeitslust betrachtet.63 Die Charakterbil­ dung ist abgeschlossen, wenn man unangemessene Lust nicht mehr schmerz­ lich zurückzuweisen braucht und stattdessen angemessene Lust an der Aus­ übung tugendhafter Tätigkeiten empfindet. Je besser man etwas Schwieriges kann, desto eher bereitet es Freude. Gemeint ist gewissermaßen die aristoteli­ sche Urvariante der schillerschen Neigung zur Pflicht. Und so wenig man beim Kantianer Schiller befürchten muss, dass jene Pflicht, zu der man eine Neigung entwickelt hat, keine wahre Pflicht mehr sein kann oder ihren nor­ mativen Rang zu verlieren droht, so wenig braucht man bei Aristoteles zu be­ fürchten, dass eine Tugend, die lustvoll ausübt wird, nur noch um der Lust willen ausgeübt werden könnte.64 Die Lust ist hier nur ein angenehmer Ne­ beneffekt. Allerdings trägt ihre Integration entscheidend zur charakterlichen Stabilisierung bei. Ähnliches gilt für die Anerkennung, für die nach Aristote­ les ebenfalls damit zu rechnen ist, dass sie sich nur auf der Grundlage der Tu­ gend einigermaßen stabil erzielen lässt. Aus all dem folgt natürlich nicht, dass wir uns in der modernen Moral­ philosophie darauf beschränken könnten, tugendethische Ansätze nach aris­ totelischem Vorbild zu entwickeln. Wer etwa in der Bioethik nach Prinzi­ pien fragt, die in hochspeziellen Konfliktfällen Entscheidungen ermöglichen, wird mit einem Modell tugendethischer Charakterbildung wenig anfangen können. Wenigstens wird dieses Modell allein nicht ausreichen, sondern mit weiteren Gesichtspunkten zu verbinden sein, die im Konfliktfall moralische Entscheidungen ermöglichen, seien diese nun „erste Prinzipien“ wie Kants Imperativ oder eher „sekundäre Prinzipien“, wie sie in der bioethischen Debatte ebenfalls häufig favorisiert werden.65 Den damit verbundenen mo­ 62  EN

II 2, 1104 b 3–11. dazu vor allem in der zweiten Lustabhandlung der Nikomachischen Ethik, X 5, 1175 a 20 ff. 64  So betont Aristoteles im Blick auf Sehen, Erinnerung, Wissen und den Besitz der Tugend, dass wir uns um vieles bemühen, ohne dass Lust ausschlaggebend wäre. Dabei sagt er sogar, dass es keinen Unterschied macht, wenn diesen „notwendiger­ weise Lust folgt“, wie er es an anderen Stellen geltend macht. „Denn wir würden es wählen, auch wenn keine Lust folgte.“ (EN X 2, 1174 a 4–8). 65  Vgl. Tom L. Beauchamp / James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, Oxford 20015. 63  Vgl.

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ralphilosophischen Fragen kann ich hier gar nicht nachgehen. Ich brauche es aber auch nicht, da ich mit meinem Rückgriff auf Aristoteles keinerlei eudämonistischen Reduktionismus verbinde. Es geht keineswegs darum, moralphilosophische Fragen auf Glücksfragen zurückzuführen. Wie wir gesehen haben, ist dies bereits bei Aristoteles nicht der Fall. Das kantische Bedenken, dass die Verbindlichkeit der Moralität nicht von der Beförderung des Glücks abhängig gemacht werden darf, kann aus aristotelischer Sicht durchaus ernst genommen werden. Allerdings wird man umgekehrt darauf bestehen müssen, dass selbst eine verwirklichte Moralität das Glücksstreben weder zu erfüllen noch zu ersetzen erlaubt. Dies räumt sogar Kant ein, ohne selbst jedoch eine überzeugende Vermittlung von Moral und Glück bieten zu können. Vor diesem Hintergrund habe ich zu zeigen versucht, warum ich der Meinung bin, dass die antike Frage nach dem guten Leben auch heute Beachtung verdient, und warum ich glaube, dass die aristoteli­ sche Konzeption mit ihrem integrativen Verständnis von Tugend und Glück besonders attraktiv ist. Aber sollte man den Rückgriff auf die antike Ethik als Lebenskunst auffassen, wie dies in neueren Beiträgen häufig geschieht? Ich habe bereits angedeutet, dass mir hier eher Zurückhaltung angebracht erscheint. Und mit diesem kritischen Teil meiner Überlegungen will ich nun schließen. IV. Bereits die antiken Sophisten propagierten eine Lebenskunst, die sie vor allem durch überredende Rhetorik, aber auch durch eine widerlegende Dia­ lektik zu erreichen versuchten. Dies zumindest geht aus Platons Darstellung hervor, der den sophistischen Ansatz radikal zu widerlegen versucht. Rhe­ torik und Dialektik helfen demnach nicht viel, wenn sie nur das Wie des Redens betreffen und nicht auch dessen Was. Der Umgang mit der Sprache muss in Wissen fundiert werden. Nur Wissen kann tatsächlich zu einem guten Leben anleiten. Und eben hierin liegt seine eigentliche Bedeutung. Auf diese Weise kommt Platon zu jenem Einheitsmodell von Theorie und Praxis, von dem ich vorhin sprach. Wie er zu zeigen versucht, ist die so­ phistische Lebenstechnik verfehlt, weil sie nicht über das erforderliche Wissen verfügen, das nur im Rückgriff auf transzendente Ideen zu erzielen wäre.66 Ob die Annahme einer Lebenstechnik auch in anderer Hinsicht problematisch ist, wird bei Platon nicht ganz klar. An verschiedenen Stellen 66  Dies zeigt sich freilich nur, wenn man die frühe Sophistikkritik des Protagoras, Menon oder Gorgias mit der späteren ideentheoretischen Fundierung der ­Erkenntnis, wie sie vor allem in der Politeia und im Phaidon entwickelt wird, ver­ bindet.



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klingt es freilich so, als sei die philosophische Dialektik, die seine Dialoge entwickeln, zumindest die Grundlage für eine Art Lebenstechnik, die Grundzüge der Praxis auf verschiedenen Ebenen ähnlich zu strukturieren erlaubt, wie der göttliche Demiurg, der den sichtbaren Kosmos herstellt, die ungeordnete Bewegung strukturiert.67 Ähnlich ist die Lage bei den hellenis­ tischen Schulen, die nach Aristoteles erneut ein Einheitsmodell von Theorie und Praxis vertreten, wenn auch nicht mehr auf der Grundlage platonischer Ideen, sondern auf der Grundlage materialistischer Konzeptionen. Sowohl für die Stoiker als auch für die Epikuräer ist praktische Philosophie Lebens­ kunst. Und auf diese hellenistischen Anregungen greift auch die heutige Debatte zumeist zurück, wenn auch nicht immer explizit. Aber wie ist die Situation bei Aristoteles? Man könnte es sich leicht machen und darauf verweisen, dass er zwei Formen von Praxis oder Tätig­ keit im weiteren Sinne unterscheidet, nämlich eine Praxis im engeren Sinne, die als bloßer Tätigkeitsvollzug aufzufassen ist, und eine Produktion (poiesis), deren Tätigkeit zu einem selbständigen Werk (ergon) führt.68 Der Schuster macht Schuhe, die nach seiner Tätigkeit als fertige Dinge vorlie­ gen. Aber wenn man spazierengeht, kommt es auf den bloßen Vollzug an, nicht auf irgendein produziertes Ding. Demnach könnte die Praxis im enge­ ren Sinne, auf die es im guten Leben ankommt, schon deshalb nicht tech­ nisch angeleitet werden, weil sich Techniken nur auf Dinge beziehen und deren Herstellung methodisch anleiten. Doch offenkundig ist dieses einfache Bild unzureichend, und zwar nicht nur aus heutiger Sicht. Denn klarerweise gibt es auch nach Aristoteles Techniken, deren Werke keine selbständigen Dinge sind. Man denke nur an seine Standardbeispiele Reitkunst, Flöten­ kunst und Medizin. Auch Dialektik, Rhetorik und Poetik sind nach Aristo­ teles Techniken, ohne viel mit handgreiflicher Produktion zu tun zu haben. Techniken zielen für ihn also nicht immer auf die Herstellung selbständiger Dinge, sondern häufig nur auf eine günstige Veränderung bestehender Ver­ hältnisse. In Fällen wie der Reit- und Flötenkunst scheint es dabei – zumin­ dest unmittelbar – sogar nur um die Verbesserung unseres eigenen Könnens zu gehen. Auf der anderen Seite wird man sagen müssen, dass nicht jede Praxis im engeren Sinne ausschließlich auf den Vollzug zielen kann. Eine 67  Man denke etwa an die Erläuterung der Erziehung aus der Politeia, in der sie als „Kunst der Umlenkung“ bezeichnet wird (Resp. 518 d), oder an die Parallelisie­ rung der praktischen und der göttlichen Vernunft aus dem Philebos, in der die techne ebenfalls eine wichtige Rolle spielt (Phil. 28 d ff.). Als Grundlage dient dabei das sokratische Verständnis eines Tugendwissens, das von den frühen bis zu den späten Dialogen maßgeblich bleibt, obwohl es in wichtigen Hinsichten modifiziert wird. Vgl. dazu etwa Marcel van Ackeren, Das Wissen vom Guten. Bedeutung und Kontinuität des Tugendwissens in den Dialogen Platons, Amsterdam 2003. 68  EN I 1, 1094 a 3–5.

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Tätigkeit wie das Spazierengehen darf hier sicher nicht als Paradigma gel­ ten. Freizeitaktivitäten und Spiele sind für das aristotelische Praxisverständ­ nis peripher.69 Denn ein gutes Leben wird durch andere Tätigkeiten getra­ gen. Es geht hier primär um ernsthafte Handlungen, die Anstrengung und Arbeit bedeuten, nicht um spielerischen Ausgleich, durch den wir uns erho­ len. Und mit ernsthaften Handlungen wollen wir auf etwas hinaus, das auch als Veränderung in der Welt aufzufassen ist. Wir wollen Ziele erreichen, die sich für uns positiv auswirken, und uns selbst so gestalten, dass wir dazu gut in der Lage sind. Das Handeln im engeren Sinne scheint nach Aristote­ les also durchaus eine technische Seite zu haben. Und wenn dies nicht so wäre, könnte man auch kaum verstehen, weshalb seine Ethik so häufig auf Bespiele aus dem Bereich der Technik zurückgreift. Aber wieso ist mit Aristoteles dann überhaupt zu bestreiten, dass sich praktische Philosophie als Lebenskunst betrachten lässt? Wenn ich recht sehe, macht er vor allem drei Gesichtspunkte geltend. Erstens ist Technik immer die methodische Perfektionierung eines Mit­ tels, das auf einen vorausgesetzten Zweck zu beziehen ist. Dabei lässt sich der Mittel-Zweck-Bezug zwar iterieren. Was im Bezug zu einem höheren Zweck Mittel ist, kann in Bezug zu einem niederen Mittel selbst Zweck sein. So ist die Reitkunst zugleich Mittel der übergeordneten Strategik und Zweck der untergeordneten Sattlerei.70 Das ändert aber nichts daran, dass alle Mittel letztlich auf einen Gebrauch zielen, der nicht in eine Technik gehören kann. Zumindest jene Handlungen, in denen sich das gute Leben verwirklicht, können als solche nicht technisch angeleitet werden, weil sie sich auf keinen höheren Zweck beziehen lassen. Als höherer Zweck käme hier allenfalls das gute Leben in Frage. Aber zu diesem gehören jene Hand­ lungen selbst, weil es sich sukzessive realisiert, indem sie zu seinem Teil werden. Zweitens setzt technische Anleitung voraus, dass der vorausgesetzte Zweck genau genug erkannt werden kann, um die beabsichtigte Verbesse­ rung methodisch erreichen zu können. Und ein solches Wissen ist nach Aristoteles im Bereich der Praxis nicht möglich, weil wir es hier mit einer konstitutiven Unbeständigkeit und Unübersichtlichkeit zu tun haben.71 Nicht 69  Besonders deutlich wird dies in EN X 6. Vgl. vor allem 1176 b 27 ff.: „Das gute Leben besteht also nicht im Spiel (paidia). Es wäre ja unsinnig, wenn unser Ziel das Spiel wäre und wenn die Mühe und das Leid eines ganzen Lebens das bloße Spiel zum Zweck hätte. … Das Spiel ist nämlich eine Art von Erholung, und der Erholung bedürfen wir, weil wir nicht ununterbrochen arbeiten können. Also ist die Erholung (anapausis) nicht Zweck. Der Tätigkeit wegen wird sie gepflegt.“ 70  EN I 1, 1094 a 6 ff. 71  Vgl. dazu EN I 1, 1094 b 14 ff.



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nur gelten viele ethische Normen, die das „Edle und Gerechte“ betreffen, nicht immer und überall, weshalb man zu Unrecht meinen könnte, sie be­ ruhten gänzlich auf bloßer Konvention. Vielmehr weisen auch die Güter eine so große Unbeständigkeit auf, dass man durch sie sogar zugrunde ge­ hen kann. Und dies gilt nicht nur für untergeordnete Güter wie den Reich­ tum, sondern auch für Tugenden wie die Tapferkeit. Die Ethik arbeitet zwar mit praktischen Begriffen. Aber diese liefern nach Aristoteles nur ein Um­ risswissen, das erst durch Erfahrung artikuliert und durch Klugheit reflek­ tiert werden muss, um im Einzelfall angewandt werden zu können. Dabei zielt die praktische Philosophie letztlich auf eine Verbesserung unserer Handlungen. Trotzdem liegt ihre philosophische Aufgabe nicht in einer unmittelbaren Handlungsanleitung, die technisch umzusetzen wäre, sondern darin, ethische Begriffe praxisfördernd zu untersuchen. Drittens kommt es in der Technik nur darauf an, was man tun muss, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Und dabei zeigt sich die Qualität der Tätigkeit nach Aristoteles ausschließlich an der Qualität des Produkts, sei dieses nun ein selbständiges Ding oder eine bloße Verbesserung bestehender Verhältnisse. In welcher charakterlichen Verfassung z. B. ein Mediziner ge­ heilt hat, ist medizinisch irrelevant. Relevant ist nur, dass er geheilt hat oder – vorsichtiger gesagt – dass er Regeln der Kunst angewandt hat, die Hei­ lung, Stabilisierung oder Linderung erwarten ließen. Für die Praxis im en­ geren Sinne gilt diese Einschränkung nach Aristoteles grundsätzlich nicht. Hier kommt es keineswegs nur darauf an, was man tut, sondern auch und nicht zuletzt darauf, wie man es tut, und zwar im Sinne der charakterlichen Verfassung. Dies gilt bereits beim Erwerb der Tugend, der neben einschlä­ gigem Wissen vor allem einschlägige Entscheidungen und affektive Ent­ schiedenheit voraussetzt.72 Nur weil bereits hier eine teils kognitive, teils affektive Minimalbedingung für die Verfassung des Handelnden vorausge­ setzt ist, können Einzelhandlungen überhaupt auf die Ausbildung seines Charakters zurückwirken. Und dieser Zusammenhang bleibt natürlich auch dann maßgeblich, wenn die Tugend bereits erworben ist. Denn die Tugend liegt weniger in den tugendhaften Handlungen, als in der charakterlichen Haltung, die zu ihnen disponiert. V. Ich ziehe abschließend ein kurzes Fazit: Wer von Aristoteles ausgeht, hat keinen guten Grund zu der Annahme, praktische Philosophie könne als Lebenskunst verstanden werden. Ein ästhetisches Leben, das sich primär an Erfahrungsmöglichkeiten der Kunst orientiert oder sich gar selbst zum Ge­ 72  EN

II 3, 1105 a 30–33.

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samtkunstwerk zu entfalten versucht, wäre ihm sicher abwegig erschienen. Allerdings wird man einräumen müssen, dass sich die ästhetischen Konno­ tationen der Lebenskunstphilosophie modernen Traditionen verdanken, die von Aristoteles nicht diskutiert werden konnten. Deutlich ist für ihn ledig­ lich, dass der Ernst des Lebens nicht nur auf den Zweck des Spiels bezogen werden darf, sondern spielerische Erholung letztlich umgekehrt der ernst­ haften Verwirklichung eines guten Lebens zu dienen hat. Anders ist dies bei den technischen Konnotationen der Lebenskunst. Denn hier ist die aristote­ lische Ablehnung eindeutig. Technische Beiträge zum guten Leben muss man deshalb nicht pauschal zurückweisen. Dies gilt nicht nur für äußere Voraussetzungen, Erleichterungen und Hilfsmittel, die auf unterschiedlichste Weise zur Veränderung unserer Lebenswelt beitragen, sondern auch für jene Handlungsbereiche, in denen wir unser gutes Leben zu realisieren versu­ chen. Ernährung, Sport, Musik und Kommunikation liefern eindeutige Bei­ spiele, für die man im Anschluss an Aristoteles mit einem technischen Beitrag zum guten Leben rechnen darf. Aber hierfür ist nicht auf Philoso­ phie, sondern auf andere Disziplinen zurückzugreifen. Außerdem liegen die entscheidenden Aspekte, die das gute Leben insgesamt zu tragen vermögen, aus aristotelischer Sicht anderswo. Entscheidend ist vor allem eine gelunge­ ne Charakterbildung, die moralischen Anforderungen gerecht zu werden erlaubt, ohne zu affektiven Zerreißproben zu führen. Für eine solche Cha­ rakterbildung gibt es keine technische Anleitung. Methodische Übungen und antizipierende Exerzitien der Affektsteuerung oder Ähnliches mögen einen gewissen Beitrag leisten. Aber am Ende helfen sie wohl nicht mehr als Schwimmübungen an Land, bevor man ins Wasser steigt. Es liegt nahe, auf Perspektiven aus der antiken Ethik des guten Lebens zurückzugreifen. Doch auf den irreführenden Titel der Lebenskunst sollte man besser verzichten.

„Das Werk eines einzigen allmächtigen und unendlich weisen Schöpfers“ Zur religiösen Fundierung der Staatsphilosophie John Lockes Von Johannes W. Müller1 I. Einleitung Das Werk John Lockes (1632–1704) gehört zu den wirkmächtigsten in der neuzeitlichen philosophischen Tradition. Dieses gilt für seine theoreti­ sche Philosophie, wie er sie vor allem im Essay Concerning Human Understanding dargelegt hat, ebenso wie für seine politische Philosophie. Lockes Begriff vom Staat als eine die Rechte des Individuums sichernde Institution, seine Theorie der Grundrechte, die Unterscheidung der staatlichen Gewalten und die Formulierung des Widerstandsrechts wurden vielfach rezipiert und hinterließen ihre Spuren in der Entwicklung des politischen Denkens genau­ so wie in der „Realgeschichte“: Die amerikanische Unabhängigkeitserklä­ rung vom 04.07.1776 lehnt sich an Locke ebenso an wie zahlreiche Prota­ gonisten der französischen Revolution. Im 20. Jahrhundert waren Gedanken über die Legitimität des Widerstandes im Angesicht des Novums totalitärer Diktaturen von zentraler Bedeutung; genau wie in der Debatte um die Men­ schenrechte wurde auf Überlegungen Lockes zurückgegriffen. Der englische Liberalismus gründet sich auf sein Denken, die Tradition der kontinentalen Aufklärung von Voltaire über Rousseau bis hin zu Kant zeigt sich von ihm beeinflusst.2 Der moderne Verfassungsstaat westlicher Prägung hat zentrale Aspekte der Theorie Lockes längst zum Bestandteil seiner Staatsräson erho­ ben. Diese hohe Anschlussfähigkeit der Lockeschen Überlegungen – auch im Rahmen gegenwärtiger Debatten – führt zwangsläufig zu einem gesteigerten Interesse an den Grundlagen seines politischen Denkens. Genau diese Grundlagen bereiten einer jeden modernen Interpretation enorme Schwierigkeiten. Unverkennbar wurzeln Lockes Gedanken in christ­ 1  Für wertvolle Hinweise und anregende Diskussionen, welche die Entstehung dieses Textes begleitet haben, möchte ich mich bei meinen akademischen Lehrern Ludwig Siep und Reinold Schmücker bedanken. 2  Vgl. zu diesen Ausführungen: Horn 2003: 72 f.; Siep 2007: 308 ff.; Specht 2007: 167 ff.; Brandt 1981: 376.

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lichen Überzeugungen und theologischen Überlegungen. Seine Werke stüt­ zen sich immer wieder auf biblische Belege, Lockes strikte Ablehnung des Atheismus ist bekannt. Wie kann ein Autor mit einem solchen partikula­ risch-religiösen Gedankengerüst für heutige Diskussionen herangezogen werden? Diese Frage kann nur auf der Basis einer systematischen Untersu­ chung entschieden werden, welche sowohl die einzelnen, von Locke in Anspruch genommenen religiösen Annahmen benennt und analysiert, als auch die zwischen diesen Annahmen bestehenden Verbindungen aufzeigt und im Rahmen des Lockeschen Gesamtwerkes, keineswegs, wie oftmals geschehen, nur unter Bezug auf die politischen Schriften, interpretiert. Mithilfe der folgenden zweistufigen These soll diese Aufgabe genauer um­ rissen und bewältigt werden: Erstens entwickelt Locke in seinen Werken ein zentrales Argument, welches er auf unterschiedliche Fragestellungen anwen­ det und dadurch seiner gesamten politischen Theorie eine bemerkenswerte Geschlossenheit verleiht. Dieser zentrale Gedanke, welcher hier als „Argu­ ment des natürlichen Gesetzes“ bezeichnet wird, verleiht dem Werk nicht nur Einheitlichkeit, sondern ist auch der wichtigste Grund für die bis heute fest­ stellbare Attraktivität und Aktualität der Lockeschen Staatslehre. Dieses Ar­ gument wird zunächst rekonstruiert (Abschnitt II), daran anschließend werden einige bedeutende Theorieabschnitte skizziert, in welchen dessen Grundge­ danke von Locke zur Anwendung gebracht wird (Abschnitt III). Die zentralen Prämissen des Argumentes des natürlichen Gesetzes beru­ hen zweitens auf einem theologischen Fundament, welches sich im Rahmen einer säkular argumentierenden Philosophie nicht halten lässt und zudem auf systemimmanente Widersprüche stößt. Ein Verzicht auf dieses Funda­ ment führt jedoch zwangsläufig zum Zusammenbruch des gesamten Argu­ mentes. Die Analyse und Kritik dieser religiösen Voraussetzungen macht den Schwerpunkt der Untersuchung aus (Abschnitt IV). Abschließend wer­ den die gewonnenen Ergebnisse zu einer Positionierung im Rahmen der Diskussionen der historischen Locke-Forschung genutzt (Abschnitt V). II. „Ein Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur“3 – Lockes Argument des natürlichen Gesetzes Im zweiten Kapitel seiner Zweiten Abhandlung über die Regierung prä­ sentiert John Locke die Thesen, welche ihm als Fundament seiner Staats­ konzeption dienen. Mit der Schilderung des Naturzustandes greift er auf ein 3  Locke 2007: 13,6–7. Im Folgenden wird die Zweite Abhandlung als Zw. Abh. mit Seiten- und Zeilenzahl der angegeben Ausgabe zitiert.



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der damaligen Leserschaft spätestens seit Thomas Hobbes und dessen Schrift Leviathan bekanntes Modell zurück, wenngleich er dieses Konzept an entscheidenden Punkten verändert. Doch zunächst zu den Parallelen: Wie Hobbes sieht Locke den Naturzustand zunächst und vor allem als ein theo­ retisches Modell, welches anschaulich eine Antwort auf die Frage nach den Ursprüngen staatlicher Gemeinschaft und der Legitimation staatlicher Macht geben soll.4 Nach Locke ist dieser Zustand „ein Zustand vollkommener Freiheit“, und „es ist darüber hinaus ein Zustand der Gleichheit.“5 Diese Aussage darf nicht rein deskriptiv gelesen werden. Wenngleich Locke prinzipiell den Naturzustand für zwar fragil, aber möglich hält, sieht er dennoch die Gefahren, die etwa durch Gewalt und daraus resultierende Selbstjustiz entstehen.6 De facto gibt es Menschen, die anderen Leben und Besitz nehmen können – und diese Gefahr wird spätestens mit der Einfüh­ rung der Geldwirtschaft auch virulent.7 Es handelt sich beim Naturzustand für Locke also nicht um die Beschreibung eines Ist-Zustandes, der einem vorzivilisatorischen Paradies gleicht, wie etwa Rousseau es im Zweiten Discours bei der Beschreibung der langen Übergangsphase am Ende des Naturzustandes vor Augen hatte.8 Ebenso ist eine zweite, hobbessche Lesart ausgeschlossen: Nach Hobbes beinhaltet das natürliche Gesetz nur eine zentrale Norm: Jeder hat das gleiche Recht, zu tun und zu lassen, was er will, ohne dass ihm irgendjemand irgendwelche Vorschriften machen kann. „Das Naturrecht […] ist die Freiheit, die jeder Mensch besitzt, seine eigene Macht nach Belieben zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Le­ bens, zu gebrauchen und folglich alles zu tun, was er nach seiner eigenen Urteils­ kraft und Vernunft als das hierfür geeignetste Mittel ansieht.“9 4  Die Frage, in welchem Umfang Locke den Naturzustand auch als historisch aufgefasst hat, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Seine prinzipielle Mög­ lichkeit legt Locke jedoch in den §§ 14–15 eindeutig dar. Eine ausführliche Diskus­ sion dieser Frage findet sich bei Ashcraft 1991: 212–242. Vgl. dazu auch Laslett 1988: 98 f.; Dunn 1969: 97. 5  Zw. Abh.: 13, 6; 11. 6  Vgl. dazu Zw. Abh., etwa § 11 (17,33–19,2), §§ 16–19 (22,9–25,8). 7  Zu den Ursachen der Gewalt im Naturzustand vgl. Macpherson 1973: 270 f.; Hahn 1984: 49; Dunn 1969: 165. Euchner nennt es eine „falsche Annahme,“ „die erste Phase des Lockeschen Naturzustandes als ausschließlich friedlich zu bezeich­ nen.“ Euchner 1977: 36. 8  Die Skizzierung einer „Hirtenkultur“ findet sich in Rousseau 1998: 78–86, die­ se Phase sei „wohl die glücklichste und dauerhafteste Epoche“ (83) in der Geschich­ te der Menschheit gewesen. 9  Hobbes 1996: 107. Diese Freiheit ist nicht nur naturrechtlich abgesichert, son­ dern wird durch die Annahme Hobbes’, die Menschen seien hinsichtlich ihrer phy­ sischen und geistigen Fähigkeiten annähernd gleich ausgestattet, in ihrer praktischen Dimension gestärkt. Vgl. Hobbes 1996: 102 f.

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Locke übernimmt die Vorstellung eines durch ein normatives Gesetz ge­ prägten Naturzustandes, dessen inhaltliche Bestimmung unterscheidet sich jedoch deutlich von der hobbesschen Konzeption. Das Lockesche natürliche Gesetz kennt kein Recht eines jeden auf alles, vielmehr dient es zur Quali­ fizierung dessen, was sinnvoll unter „vollkommener Freiheit“ verstanden werden kann. „Im Naturzustand herrscht ein natürliches Gesetz, das jeden verpflichtet.“10 Das Gesetz ermöglicht es den Menschen, „ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre Persönlichkeit so zu verfügen, wie es ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein.“11 Da dieses für alle Menschen gilt, ist ein Verbot mit inbegriffen, so dass „niemand einem an­ deren, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll.“12 Locke lässt keinen Zweifel an seiner Haltung: Sein Konzept der Freiheit ist normativ bestimmt und bedeutet keinen „Zustand der Zügellosigkeit.“13 Dass wirkliche Freiheit nur dort existieren kann, wo sie durch Gesetze abgesichert wird, ist ein Gedanke, den etwa auch Kant aufgreift, wenn er schreibt, dass Freiheit das einzige angeborene Recht des Menschen sei, allerdings nur Freiheit, „sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.“14 Aus der Logik dieses Freiheitsverständnisses folgt für den Naturzustand, der gerade durch die Abwesenheit jeglicher irdischer, rechtssetzender Ins­ tanz gekennzeichnet ist, dass das natürliche Gesetz göttlichen Ursprungs ist und aus der Schöpfungstätigkeit Gottes seine verpflichtende Kraft und Le­ gitimation bezieht: „Denn alle Menschen sind das Werk eines einzigen allmächtigen und unendlich weisen Schöpfers, die Diener eines einzigen souveränen Herrn, auf dessen Befehl und in dessen Auftrag sie in die Welt gesandt wurden. Sie sind sein Eigentum, da sie sein Werk sind, und er hat sie geschaffen, so lange zu bestehen, wie es ihm, nicht aber wie es ihnen untereinander gefällt.“15

Eine mögliche Rekonstruktion der bisherigen Ausführungen in einem formal gültigen Argument lautet wie folgt:16

10  Zw.

Abh.: 14,25–26. Abh.: 13,7–10. 12  Zw. Abh.: 14,28–30. 13  Zw. Abh.: 14,20. 14  Kant, Akad.-Ausg., Bd. VI: 237, 29–31. 15  Zw. Abh.: 14,31–15,2. 16  Zu dieser Rekonstruktion vgl. Laslett 1988: 93; Yolton 1970: 166 ff.; Colman 1983: 46 f. 11  Zw.



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P1: Wenn jemand etwas geschaffen hat, dann besitzt er ein Eigentumsrecht an dieser Sache, welches von niemand anderem verletzt werden darf. P2: Gott hat die Menschen geschaffen. K1: Gott hat ein Eigentumsrecht an den Menschen, welches von niemand anderem verletzt werden darf, da er sie geschaffen hat. P3: Wenn ein Mensch sich umbringt oder andere umbringt oder so in ihren Rechten und ihrem Besitz beschränkt, dass ihr Überleben gefährdet ist, dann verletzt er das Eigentumsrecht Gottes an den Menschen. K2: Niemand darf das Eigentumsrecht Gottes an den Menschen verletzen, in dem er sich umbringt oder andere umbringt oder so in ihren Rechten und ihrem Besitz beschränkt, dass ihr Überleben gefährdet ist.

K2 aber ist nichts anderes als der Inhalt des natürlichen Gesetzes, wie Locke es in den bereits erwähnten Textstellen formuliert. Es ist unschwer zu erkennen, dass sich Locke mit diesem Argument in die große, von der Stoa über Cicero bis hin zu Grotius und Pufendorf reichende Tradition des Naturrechts einreiht. Die genaue Naturrechtskonzeption Lockes kann hier nicht rekonstruiert werden, sie ist an anderen Stellen intensiv disku­ tiert worden.17 Locke hat seine Konzeption des natürlichen Gesetzes im Laufe seines Lebens verändert;18 dessen ungeachtet sei lediglich auf einen zentralen Aspekt verwiesen, welcher sich mit Hilfe der frühen Essays on the Law of Nature rekonstruieren lässt: Das natürliche Gesetz verfügt für Locke über alle für ein Gesetz notwendigen Komponenten:19 Es entspringt erstens einem übergeordneten Willen, worin der formale Grund eines Gesetzes besteht. Zweitens legt es den dem Gesetz Unterworfenen klare Handlungsregeln auf: „It lays down what is and what is not to be done, which is the proper function of a law.“20 Drittens bindet es die Menschen, da es alles für das Entstehen ei­ ner Verpflichtung Notwendige in sich enthält.21 Viertens kann jeder Mensch durch seine natürliche Vernunft über dieses Gesetz informiert sein, denn: „It can be perceived by the light of nature alone.“22 In noch größerer Klarheit, je­ 17  Zur Bedeutung der Naturrechtsdebatte zu Lebzeiten Lockes und seiner Beein­ flussung durch etwa Richard Hooker, Robert Sanderson, James Usher und Nathaniel Culverwell vgl. Von Leyden 1954: 33 f., 39 f. Zu den naturrechtlichen Traditionslinien vgl. Oakley / Urdang 1991: 73–77; Tuck 1979: 168–173; Euchner 1979: 173–191. 18  Vgl. hierzu Specht 2007: 156 f.; Yolton 1970: 176 f.; Dunn 1969: 187. 19  Locke 1954: 111: „Hence it is pretty clear that all the requisites of a law are found in natural law.“ Im Folgenden werden die Essays on the Law of Nature als ELN mit Seitenzahl der angegebenen Ausgabe zitiert. 20  ELN: 113. 21  ELN: 113. 22  ELN: 113. „Light of nature“ ist ein in den Werken Lockes mehrfach erwähnter Begriff, der die Vernunft bezeichnet. Allerdings wird Vernunft in diesem Sinne nicht nur als Fähigkeit zu rationalen Schlussfolgerungen, sondern vielmehr als „Gesamt­

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doch ohne eine inhaltliche Veränderung, lässt sich das natürliche Gesetz gleich­ zeitig auch durch die Offenbarung in der Heiligen Schrift erkennen.23 Diese grundlegenden Gedanken zum natürlichen Gesetz machen eines deutlich: Seine Gültigkeit und sein normativer Anspruch hängen unmittelbar von der Existenz Gottes ab. Locke weist ausdrücklich darauf hin: „This law of nature can be described as being the decree of the divine will.“24 Bevor der Frage nachgegangen wird, welche konkreten religiösen Vorstel­ lungen von Locke in seinem Argument in Anspruch genommen werden, soll begründet werden, warum die von mir rekonstruierte Überlegung Lockes im Zentrum seines politischen Denkens steht und in welch unterschiedlichen Kontexten auf sie zurückgegriffen wird. Im Folgenden stehen Fragen der staatlich-gesellschaftlichen Ordnung im Vordergrund, welche mit Hilfe der eben am Naturzustand entwickelten Argumente beantwortet werden. Diese Übertragung erscheint aufgrund der Gesamtkonzeption Lockes legitim: Das natürliche Gesetz gilt im Gesellschaftszustand fort und ermöglicht dort eine moralische Bewertung der jeweiligen Rechtsordnung. Der Naturzustand markiert diejenigen Grenzen, die positives Recht zu keinem Zeitpunkt über­ schreiten darf.25 III. Zur Konsistenz und Attraktivität der praktischen Philosophie Lockes: Anwendungsfelder des Argumentes des natürlichen Gesetzes K2 aus dem im vorherigen Abschnitt entwickelten Argument besagt, dass sich – auf Grund bestimmter religiöser Überlegungen – niemand umbringen oder andere umbringen oder so in ihren Rechten und Freiheiten beschränken darf, dass ihr Überleben gefährdet ist. Daraus folgt unmittelbar, dass alle Handlungen, welche gegen dieses Gebot verstoßen, verboten sind und jeder aufgerufen ist, solchen Taten entgegenzutreten. Die Attraktivität der Locke­ schen praktischen Philosophie resultiert aus der in ihr angelegten Möglich­ keit, auf der Basis dieser gerade geschilderten Überlegung Regeln für so unterschiedliche Bereiche des staatlich-moralischen Lebens wie das Straf­ recht, das Notwehrrecht, die Grenzen der väterlichen Gewalt und die allge­ meine elterliche Erziehungspflicht, das Eigentum, das Selbstmordverbot, das Widerstandsrecht – und indirekt auch die Notwendigkeit der Gewalten­ heit unserer Vermögen der Wahrnehmung, des Denkens, des Urteilens und des Schließens“ (Specht 2007: 143) verstanden. Zum Begriff des „light of nature“ vgl. auch Colman 1983: 49 und Aarsleff 1969: 108. 23  ELN: 189; vgl. Specht 2007: 157. 24  ELN: 111. 25  Vgl. dazu auch Siep 2007: 220 f.



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teilung – einheitlich und mit großer innerer Konsistenz zu begründen. An­ hand dreier Beispiele möchte ich diesen Begründungsprozess darstellen.26 1. Das erste Beispiel: Das Strafrecht „Damit nun alle Menschen davon abgehalten werden, die Rechte anderer zu be­ einträchtigen und sich einander zu benachteiligen, und damit das Gesetz der Natur, das den Frieden und die Erhaltung der ganzen Menschheit verlangt, beobachtet werde, so ist in jenem Zustand die Vollstreckung des natürlichen Gesetzes in je­ dermanns Hände gelegt.“27

Die an dieser Stelle formulierte Grundidee lautet: Wenn es im Naturzu­ stand ein Gesetz gibt, welches zu befolgen eines jeden Pflicht ist, dann muss es auch legitime Wege geben, die Einhaltung dieses Gesetzes zu er­ zwingen.28 „Denn das Gesetz der Natur wäre […] nichtig, wenn im Natur­ zustand niemand die Macht hätte, dieses Gesetz zu vollstrecken.“29 Wer aber hat die Macht? Es liegt in der Logik der Lockeschen Argumentation, dass nur eine einzige Antwort möglich ist: Jeder. „Wie ein jeder verpflichtet ist, sich selbst zu erhalten und seinen Platz nicht vorsätzlich zu verlassen, so sollte er aus dem gleichen Grunde […] nach Möglichkeit auch die übrige Menschheit erhalten.“30 In dieser Verpflichtung liegt die Basis des Straf­ rechtes, es beruht auf dem Geltungsanspruch des natürlichen Gesetzes. Dieses Recht kennt seine Grenzen: Es ist verboten, das natürliche Gesetz als Berechtigung zu Selbstjustiz und Willkür zu verstehen. Locke wendet sich hier gegen eine in der Tradition wirkmächtige Auffassung, wonach im Naturzustand jeder die ihm zugefallene richterliche Gewalt für seine Zwe­ cke gebrauchen könne. Im Leviathan heißt es dazu: „Und da man annimmt, daß jeder alle Dinge zu seinem eigenen Vorteil tut, ist niemand in eigener Sache ein geeigneter Schiedsrichter […]; doch da das Billig­ keitsrecht jeder Partei den gleichen Vorteil zugesteht, muß, wenn eine als Richter 26  Die Auswahl ist vor allem vor dem Hintergrund der Prominenz dieser Bestand­ teile der Theorie Lockes getroffen worden, ich halte es jedoch für möglich, eine solche Darstellung auch für die anderen genannten Bereiche der Lockeschen Kon­ zeption zu entwerfen. Die zentralen Textstellen der Zweiten Abhandlung hierfür sind §§ 6 und 23 für das Selbstmordverbot; §§ 16–19 für das Notwehrrecht sowie §§ 54, 56, 60, 61, 63 und 66 für die Grenzen und Pflichten der väterlichen / elterlichen Gewalt. 27  Zw. Abh.: 15,16–21. Zum Verständnis der Lockeschen Strafrechtstheorie vgl. Waldron 2002: 143 ff. 28  Tuck 1979: 62 f. weist darauf hin, dass diese von Locke selbst als „sehr selt­ same Lehre“ (Zw. Abh.: 16,31) bezeichnete Strafrechtstheorie in ihrer Form auch schon bei Grotius in dessen De Iure Praedae zu finden ist. 29  Zw. Abh.: 15,24–27. 30  Zw. Abh.: 15,7–12. Vgl. dazu Laslett 1988: 97; Dunn 1969: 169.

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zugelassen wird, die andere auch zugelassen werden, und so bleibt der Streit, das heißt die Ursache des Krieges, bestehen […].“31

Wenn jeder zum Richteramt befugt ist und dieses nur zu seinem eigenen Vorteil ausübt, dann erscheint die Lösung eines Streitfalls in der Tat unmög­ lich. Locke vermeidet diese Konsequenzen durch einen Verweis auf die Grenzen des Strafrechts: Wer einen Verbrecher richtet, „hat jedoch keine absolute und willkürliche Gewalt, [den Verbrecher] so zu behandeln, wie es seiner hitzigen Leidenschaft und der Zügellosigkeit seines Willens vielleicht entspricht.“32 Vielmehr muss sich die Strafe an zwei Prinzipien orientieren: Wiedergutmachung und Abschreckung, „denn das sind die einzigen Gründe, aus denen ein Mensch einem anderen rechtmäßig Schaden zufügen kann.“33 Das Wahren des Maßstabes, welches dem Richtenden abverlangt wird, ist unmittelbar im natürlichen Gesetz begründet: Die Gattungserhaltung ist göttliches Gebot, eine Strafe darf folglich nicht über das Notwendige hin­ ausgehen, da sie sonst selbst wieder eine Verletzung des natürlichen Geset­ zes darstellt.34 2. Das zweite Beispiel: Das Eigentum Bezüglich der Eigentumstheorie Lockes lassen sich zwei Themenkomple­ xe unterscheiden: Zum einen begründet Locke die generelle Möglichkeit von Privateigentum im Naturzustand, zum anderen zeigt er deutlich Grenzen möglicher Besitzansprüche auf. Das natürliche Gesetz verlangt vom Menschen die Selbsterhaltung sowie die gleiche Berücksichtigung der Ansprüche aller Menschen. Verbindet man diese beiden Ideen mit dem Bibelwort aus der Genesis, welches den Men­ schen auffordert, sich die Erde untertan zu machen,35 so gelangt man zu dem Ergebnis, dass „die Erde und alles, was auf ihr ist, den Menschen zum Unterhalt und zum Genuß ihres Daseins gegeben [ist].“36 31  Hobbes

1996: 131. Abh.: 16,2–6. 33  Zw. Abh.: 16,10 f. 34  Sparks 1991: 121, sieht in dieser Beschränkung einen weiteren Hinweis auf das teleologische Denken Lockes. So sei die Grenze der Strafe im Hinblick auf das göttliche telos der Gattungserhaltung gezogen. 35  Gen. 1,28: „Und Gott segnete sie [d. h. „Mann und Weibe“, vgl. Gen 1,27] und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und macht sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.“ 36  Zw. Abh.: 30,2 f. Auch Grotius und Pufendorf sehen das „göttliche Geschenk“ der Erde an die Menschen als Begründung für Eigentum an, vgl. dazu Olivecrona 1991: 313. 32  Zw.



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Von dieser Basis aus argumentiert Locke für das Privateigentum: Wenn die Erde allen gemeinsam gehört, dann muss jeder Einzelne die Möglich­ keit haben, aus diesem Gemeineigentum etwas persönlich zu erwerben, nur so kann er der Pflicht zur Selbsterhaltung Genüge tun. Dieses erreicht er durch seine Arbeit. Wenn er nun arbeitet, um etwas zu erwerben, dann entzieht er die Objekte, mit denen bzw. an denen er arbeitet, dem Gemein­ schaftsbesitz. Denn diese Objekte sind nicht mehr nur im Zustande der Natur und damit im Besitz aller; vielmehr wurde ihnen durch die Arbeit etwas dem Arbeitenden Eigenes hinzugefügt, welches sein Privateigentum begründet.37 So gelingt Locke eine Begründung des Rechtes, ja vielleicht sogar der Pflicht zum Privateigentum auf Grundlage des natürlichen Ge­ setzes.38 Die Grundlegung eines Rechts geht für Locke nicht einher mit der Er­ laubnis zur exzessiven Anwendung und Ausnutzung desselben. In diesem Sinne unterliegt auch das Recht auf Privateigentum zwei Beschränkungen.39 Zum einen nennt Locke das Verbrauchsgebot. Wie weit, so fragt er, hat Gott den Menschen Eigentum gegeben? „Es zu genießen. So viel, wie jemand zu irgendeinem Vorteil seines Lebens gebrauchen kann, bevor es verdirbt, darf er sich durch seine Arbeit zum Eigentum machen. Was darüber hinausgeht, ist mehr als sein Anteil und gehört anderen.“40 Mindestens genauso wichtig ist das Monopolverbot: „Denn wenn jemand einem anderen so viel übrig läßt, wie er nutzen kann, handelt er so, als nähme er überhaupt nichts. Niemand kann sich durch das Trinken eines anderen, auch wenn er einen guten Schluck genommen, für geschädigt halten, wenn ihm ein ganzer Fluß desselben Wassers bleibt, um seinen Durst zu stillen.“41

Die Erlaubnis zum Besitz von Eigentum endet dort, wo andere in ihren Rechten geschädigt werden und somit die Pflicht zur Gattungserhaltung ohne Not verletzt wird.

37 

Zw. Abh.: 30,20–36. betont immer wieder, dass Eigentum und Arbeit das Ziel haben, eine dem Menschen von Gott auferlegte Pflicht zu erfüllen. In den Worten Tucks: „Pro­ perty is explained in terms of a right necessary to the fulfilment of a duty to pre­ serve and benefit mankind as a whole, a duty, which men are under naturally as well as civilly.“ Tuck 1979: 171; vgl. auch Waldron 2002: 160. 39  Zu den natürlichen Grenzen des Eigentums vgl. Siep 2007: 235; Snyder 1991: 373 ff.; Hahn 1984: 67–73. 40  Zw. Abh.: 33,9–13. 41  Zw. Abh.: 34,17–22. 38  Locke

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3. Das Dritte Beispiel: Das Widerstandsrecht Dem Widerstandsrecht misst Locke einen derart hohen Stellenwert bei, dass sich diese Thematik durch die gesamte Zweite Abhandlung zieht.42 Während erst das letzte Kapitel dezidiert die konkreten Umstände des Wi­ derstandes innerhalb einer bestehenden Gesellschaft thematisiert, werden die Grundlagen hierfür bereits im dritten Kapitel Der Kriegszustand gelegt, die dort dargelegte Argumentation betont den engen Zusammenhang zwi­ schen Widerstandsrecht und natürlichem Gesetz. Für Locke entsteht ein Kriegszustand, wenn jemand versucht, „einen anderen Menschen in seine absolute Gewalt zu bekommen.“43 Durch seine Handlung mache dieser Mensch deutlich, dass er sich nicht an das natürli­ che Gesetz gebunden fühle und deswegen wie ein „Raubtier“44 behandelt werden dürfe. Dieses verstößt nicht gegen die Pflicht zur Gattungserhaltung: „Denn da das Grundgesetz der Natur verlangt, daß die Menschheit soweit wie möglich erhalten werden soll, ist die Sicherheit des Unschuldigen vor­ zuziehen, wenn schon nicht alle erhalten werden können.“45 Die Darstellung des Kriegszustandes erfolgt nach der Skizzierung des Naturzustandes. Den­ noch darf man die Aussagen Lockes nicht nur auf Verletzungen der Freiheit im Naturzustand beziehen, vielmehr führt er unmissverständlich aus, dass in jedem Fall ein Kriegszustand entsteht, wo Freiheit verletzt wird: Man müs­ se annehmen, „daß derjenige, der im Gesellschaftszustand den einzelnen Gliedern dieser Gesellschaft oder dieses Gemeinwesens die ihnen gebühren­ de Freiheit raubt, auch beabsichtigt, ihnen alles übrige zu nehmen, und daß man ihn daher als in einem Kriegszustand betrachten muss.“46 Der Widerstandsfall tritt nun im Gesellschaftszustand in dem Moment ein, wo staatliche Instanzen keine ausreichende Rechtssicherheit gewähren können47 und drei Kriterien erfüllt sind: Zunächst einmal muss es eine Fül­ le massiver Rechtsverletzungen geben oder zumindest die allgemeine Er­ wartung solcher Vorgänge vorhanden sein: „Die Beispiele vereinzelter Ungerechtigkeiten oder die Unterdrückung eines un­ glücklichen Menschen hier und dort berühren es [= das Volk] nicht weiter. Wenn das Volk aber eine allgemein verbreitete und auf deutliche Beweise begründete Überzeugung hat, daß Anschläge gegen seine Freiheit im Gange sind, und wenn 42  Vgl. dazu Terrel 2009: 17. Ausführliche Diskussionen des Lockeschen Wider­ standsrechtes finden sich bei Ashcraft 1987: 196–230 und Siep 2007: v. a. 297–307. 43  Zw. Abh.: 23,1 f. 44  Zw. Abh.: 22,29. 45  Zw. Abh.: 22,20–23. 46  Zw. Abh.: 23,24–27. 47  Zw. Abh.: 25,24–30.



„Das Werk eines einzigen allmächtigen und unendlich weisen Schöpfers“ 217 der allgemeine Lauf und die Tendenz der Dinge es mit starkem Verdacht gegen die schlimmen Absichten seiner Herrscher erfüllen müssen, wer ist dann dafür zu tadeln?“48

An dieser Stelle ist zweitens jeder zur Prüfung des eigenen Gewissens verpflichtet. Er muss für sich entscheiden, ob er den Widerstand jetzt für gerechtfertigt hält.49 Die Bedeutungsschwere dieses Vorganges lässt sich nur vor dem religiösen Hintergrund erklären: Wer sich zum gewaltsamen Wider­ stand entscheidet und den Himmel anruft, bemüht sich um ein im Kampf herbeizuführendes Gottesurteil. Wie auch immer dieser Kampf ausgeht, muss sich jeder einzelne dessen bewusst sein, dass er auch falsch entschie­ den haben könnte und kein Grund zum Widerstand gegeben war. Genau aus diesem Grunde heraus „kann ich nur allein mit meinem eigenen Gewissen entscheiden, da ich es an dem großen Tage vor dem höchsten Richter aller Menschen zu verantworten haben werde.“50 Wer den Himmel anruft, macht deutlich, „that he is ready to take the consequences at God’s hands if it turns out that he is disturbing the peace and order of the realm for no good reason.“51 Es geht um nichts weniger als die elementare individuelle Frage nach dem eigenen Seelenheil.52 Die dritte Bedingung, die Locke für legitimen Widerstand aufstellt, ist diejenige, dass das Volk gemeinsam handeln müsse. Sie ist gewissermaßen die direkte Schlussfolgerung aus den ersten beiden Bedingungen: Wenn viele sich in ihren Rechten massiv verletzt fühlen und jeder von ihnen in­ dividuell zu dem Ergebnis kommt, Widerstand sei gerechtfertigt, liegt ein gemeinsames Handeln als Konsequenz nahe.53 Die Formulierung des Widerstandsrechtes ist bei Locke nur auf der Basis des natürlichen Gesetzes möglich. Dieses verleiht dem Menschen individu­ elle, unveräußerliche Rechte, die göttlich zugesichert sind und somit von keiner irdischen Macht beschnitten werden dürfen. Erst dieses Bild vom Menschen als einer Person, die jenseits jeglicher Staatlichkeit über Rechte verfügt, setzt der staatlichen Willkür einen Rahmen: Es gibt ein ewiges 48  Zw.

Abh.: 181,11–18. kann hier nicht auf die wichtige Frage eingegangen werden, inwiefern Lo­ cke hier ein genuin protestantisches Widerstandsrecht konzipiert. Dieses erscheint zutreffend; gleichzeitig ist Locke jedoch theoretisch nicht darauf festgelegt; so könn­ te eine Prüfung des Widerstandsfalls etwa durch die katholische Autorität in Rom dieselbe Plausibilität aufweisen. Vgl. zu dieser breit geführten Diskussion u. a. Wald­ ron 2002: 215 f., 228–231; Dunn 1969: 99 f.; Euchner 1979: 60 f.; Pearson 1991: 146; Ashcraft 1969: 123, 197; Woolhouse 2007: 458 ff. 50  Zw. Abh.: 26,33–35. 51  Waldron 2002: 226. 52  Vgl. dazu Dunn 1969: 186; Terrel 2009: 25. 53  Zw. Abh.: 191,21–192,2; 192,12–31. Vgl. dazu Siep 2007: 306. 49  Es

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Gesetz, an welchem sich jeder Staat in seiner Gesetzgebung messen lassen muss.54 Dieser Gedanke kann als religiöse Fundierung moderner Menschen­ rechte verstanden werden. IV. Die theologische Basis der Lockeschen Argumentation Die im letzten Abschnitt dargestellten Überlegungen Lockes belegen die zentrale Bedeutung des Argumentes des natürlichen Gesetzes. Es ist daher auch methodisch gerechtfertigt, die innere Struktur dieses Argumentes als Leitfaden der Diskussion der theologischen Grundlagen Lockescher politi­ scher Philosophie zu betrachten. Wird das im zweiten Abschnitt strukturiert formulierte Argument in Be­ tracht genommen, so scheint der Schritt von K1 und P3 zu K2 unproblema­ tisch. P2 dagegen wirft mindestens zwei umfassende Fragen auf: Erstens, wie argumentiert Locke für die Existenz Gottes? Und zweitens, wie begrün­ det er, dass Gott „die Menschen“ und nicht „den Menschen Adam“ geschaf­ fen hat? Letztere Frage ist insofern von Bedeutung, als dass Lockes Oppo­ nent Robert Filmer in seiner Patriarcha die Existenz natürlicher Herr­ schaftsbeziehungen zwischen den Menschen durch Gottes Adamsschöpfung begründet. Die beiden Aspekte sind Gegenstand der Erörterung in IV.1 und IV.2. In P1 greift Locke mit der Formulierung, der Mensch sei Eigentum seines Schöpfers, auf die Arbeitstheorie zurück, wie er sie im fünften Kapitel der Zweiten Abhandlung formuliert.55 Dieses Modell wird in einer als anthro­ pomorphistisch zu charakterisierenden Argumentation auf den göttlichen Schöpfer übertragen, dessen Tätigkeit im Schöpfungsakt seinen Eigen­ tumsanspruch begründet. Diese Tätigkeit sei jedoch auf eine bestimmte Absicht hin vollzogen worden, eine teleologische Deutung der Welt und der Position des Menschens innerhalb ihrer möglich. Abschnitt IV.3 beschäftigt sich mit Lockes Konzeption göttlicher Zielsetzung in der Welt. 1. „Die Existenz eines Gottes läßt uns […] die Vernunft klar erkennen“:56 Lockes theoretischer Gottesbeweis Auch bei der Diskussion möglicher Beweise für die Existenz Gottes bleibt Locke seiner berühmten epistemologischen Hauptthese treu, wonach 54  Vgl.

Laslett 1988: 109; Siep 2007: 354. Siep 2007: 220. 56  Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. II, (Essay Buch 4, Kap. XI, § 1): 310. 55  Vgl.



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auf die Frage nach der Herkunft all unserer Erkenntnis nur eine Antwort gegeben werden kann: „To this I answer, in one word, from Experience.“57 „[…] God has given us no innate Ideas of himself; […] he has stamped no original Characters on our Minds, wherein we may read his Being.“58 Den­ noch sieht Locke keinen Grund zum Zweifel an der göttlichen Existenz, vielmehr versucht er mit Hilfe eines Gottesbeweises zu plausibilisieren, dass wir hierüber ein begründeteres Wissen haben als über die Existenz von Dingen, welche außerhalb von uns selbst existieren.59 Ausgangspunkt der Argumentation ist die intuitive Selbsterkenntnis des Menschen. In Anlehnung an Descartes sagt Locke, dass der Mensch zwar an seinen Gedanken und Empfindungen zweifeln kann, der Zweifel ihn je­ doch wiederum zur Wahrnehmung der eigenen Existenz führt.60 Diese Wahrnehmung ist so stark, „that it neither needs nor is capable of any proof.“61 Der Mensch weiß ferner – und ebenfalls intuitiv –, dass ein Nichts kein reales Seiendes hervorbringen kann (ex nihilo nihil fit); da aber etwas real existiert, muss es folglich ein zunächst unbestimmtes Ewiges geben. Auch im nächsten Schritt greift Locke auf eine These zurück, „die für beinahe alle seine Leser noch selbstverständlich [ist]“:62 Dieses Wesen, dessen Ewigkeit gezeigt wurde, muss auch das mächtigste Wesen sein, denn: „it is evident, that what had its Being and Beginning from another, must also have all that which is in, and belongs to its Being from another too. All the Power it has, must be owing to, and received from the same Source.“63 Das mächtigste Wesen muss zugleich auch das Wissendste sein. Locke begründet dieses mit der Wahl zwischen zwei alternativen Vorstellungen: Entweder gab es eine Zeit, in der noch kein wissendes Wesen existiert hat, 57  Locke 1979: 104, 20. Im Folgenden wird der Essay concerning Human Understanding als Essay mit der Seiten- und Zeilenzahl der angegebenen Ausgabe zitiert. 58  Essay: 619, 4–6. 59  Essay: 621, 27–29: „Nay, I presume I may say, that we more certainly know that there is a GOD, than that there is any thing else without us.“ Zu der folgenden Darstellung des Gottesbeweises vgl. auch Pearson 1991: 137; Euchner 1979: 47 ff. 60  Essay: 618, 22–30. Vgl. dazu auch Descartes, Meditationes, v. a. die Zweite Meditation: „Über die Natur des menschlichen Geistes; daß seine Erkenntnis ur­ sprünglicher ist als die des Körpers“, 1992: 41–51. 61  Essay: 618,21. Um die Absurdität des skeptischen Gedankens zu unterstrei­ chen, verzichtet Locke auf eine weitere Beweisführung und bemerkt nur voller Ironie: „He that can doubt, whether he be any thing or no, I speak not to, no more than I would argue with pure nothing, or endeavour to convince Non-entity, that it were something.“ Essay: 619,26–28. 62  Specht 2007: 115. 63  Essay: 620,17–20.

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oder es gibt ein ewiges wissendes Wesen. Nun führt Locke eine weitere, zu seiner Zeit allgemein akzeptierte These an: Eine Ursache muss immer min­ destens so vollkommen sein wie ihre Wirkung.64 Da der Mensch intuitiv sich selbst als denkendes Wesen erkennen kann, muss es also ein ewiges, denkendes und wissendes Wesen geben. Andernfalls wäre aus nicht-denken­ der Materie zu einem Zeitpunkt etwas Denkendes entstanden, das aber ist unmöglich.65 Nach dieser Argumentation zieht Locke den Schluss: „Thus from the Consideration of our selves, and what we infallibly find in our own Cons­ titutions, our Reason leads us to the Knowledge of this certain and evident Truth, that there is an eternal, most powerful and most knowing Being; which, whether any one will please to call God, it matters not.“66 Von die­ sen demonstrierten Eigenschaften ließen sich, wie Locke mehrfach betont, alle anderen Eigenschaften ableiten, die man diesem ewigen Wesen zu­ schreiben müsse.67 Zunächst einmal ist dieser Beweis – wenn überhaupt – nur aus der Sicht der ersten Person zwingend. Er beruht auf der intuitiven Selbsterkenntnis des Menschen als existierendem und denkendem Wesen. Seine Über­ tragbarkeit auf andere Personen kann laut Locke aber nicht mit Notwen­ digkeit angenommen werden.68 Nur durch unsere Sinne können wir von der Existenz anderer Personen erfahren. Das Sensationswissen kann zwar mit guten Gründen als zuverlässig gelten, die notwendige Existenz anderer Menschen mit ähnlichen Intuitionen kann so allerdings nicht streng bewie­ sen werden.69 Dieses erkenntnistheoretische Problem ist eine grundlegende Schwierig­ keit für verschiedene philosophische Theorien. Eine andere Frage jedoch stellt speziell für Lockes Konzeption eine große Herausforderung dar: Von den Eigenschaften ewiger Existenz, Allmacht und Allwissenheit könne man auf alle anderen Attribute Gottes schließen.70 Wie genau eine solche Über­ legung aussieht, schildert Locke nicht. Zum ersten kann man den Schluss 64  Essay:

620,32–621,3; vgl. auch Specht 2007: 115. 623,10–14. 66  Essay: 621,3–8. 67  Diese Aussage findet sich z. B. im Essay: 621,8–10 und 625,11–14. 68  Essay: 630,12–24. 69  Zu Lockes Position bezüglich der Zuverlässigkeit des Sensationswissens vgl. Essay: 630,12–639,8. s. a. Specht 2007: 116 ff. 70  Dunn 1969: 94 macht auf eine prinzipielle Inkonsistenz des Gottesbeweises aufmerksam, welche dadurch entstehe, dass Locke versuche, die aposteriorische Begründung für die Existenz Gottes mit der aprioirischen Deduktion der Attribute Gottes zu vermengen. 65  Essay:



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von einem Wesen, das mehr weiß und mehr kann als alle anderen existie­ renden Entitäten, auf seine Allmacht und Allwissenheit als eine unzuläs­ sige Verallgemeinerung ansehen. Entscheidender jedoch ist die Frage nach der Allgüte Gottes.71 Für sein Konzept des natürlichen Gesetzes braucht Locke einen moralisch zumindest interessierten Gott. Aus der Seinsebene von Allmacht und Allwissen folgt zunächst einmal jedoch überhaupt nichts für die Sollensebene: Gott könnte unmoralisch sein oder sich auch für Moral überhaupt nicht interessieren. Der Beweis ist also nicht hinreichend, um dem göttlichen Schöpfungswerk bestimmte Absichten zu unterstel­ len, wie sie im Second Treatise in Anspruch genommen werden.72 Auch geht Locke ohne Begründung voreilig von einem theistischen Gottesbild zu konkreten christlichen Vorstellungen über; in Dunns Worten: „He [= Locke] feels it necessary only to demonstrate the existence of a God to feel that he has established the existence of a substantially Christian God.“73 Weitere Einwände gegen den Gottesbeweis können geltend gemacht wer­ den: Sowohl die These, aus dem Nichts könne nichts Seiendes entstehen als auch die Behauptung, aus etwas Nicht-Denkendem könne unmöglich etwas Denkendes hervorgehen, bedürfen einer ausführlicheren Begründung, wenn man sie angesichts des Standes der modernen Naturwissenschaften aufrecht erhalten will. Die erste These wird durch die moderne Kosmologie, die zweite durch die Evolutionsbiologie massiv in Frage gestellt. Man wird dem Gottesbeweis Lockes bescheinigen müssen, theoretisch unzureichend und darüber hinaus antwortlos auf das gestellte Problem einer moralischen Normsetzung durch das Göttliche zu sein. 2. Das Problem der Schöpfung der menschlichen Gattung Lockes Gegenspieler Robert Filmer vertritt in seiner Patriarcha die The­ se vom Königtum Adams, d. h. der direkten Übertragung der Regentschaft und irdischen Macht von Gott an Adam. Um diese Theorie zu widerlegen, bemüht sich Locke um eine Verteidigung der Auffassung, dass Gott den Menschen als Gattung und keineswegs das Individuum Adam geschaffen hat und folglich alle Menschen von Natur aus gleich sind. Locke stellt sich somit die anspruchsvolle Aufgabe, eine bestimmte Art und Weise des Schöpfungsvorganges nachweisen zu wollen. Die aufwendige Begründung dieser These leistet er in seiner Ersten Abhandlung: Aufdeckung der fal71  Vgl.

Schneewind 1999: 207. Siep 1992: 89. 73  Dunn 1969: 194. 72  Vgl.

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schen Prinzipien und Widerlegung der Begründung der Lehre Sir Robert Filmers und seiner Nachfolger. Den Kern der Thesen Filmers bilden zwei grundlegende Überzeugungen, welche beide von Locke ausführlich diskutiert werden.74 Erstens behauptet er unter Berufung auf Gen 1, 28,75 dass Gott Adam durch Schenkung ein persönliches Besitzrecht an allen Dingen der Welt verliehen habe.76 Zum zweiten gelten weitere Bibelstellen für den Verteidiger der Stuart-Herrschaft als Beleg für eine absolute Befehlsgewalt Adams sowohl über Eva als auch über seine Nachkommen.77 Adams Recht sei in Bezug auf seine Kinder noch größer gewesen, da ihre Zeugung durch ihn seine Ansprüche steige­ re.78 Diese Thesen Filmers gewinnen erst in Verbindung mit bestimmten Erbrechtsvorstellungen ihre Bedeutung: Adam habe diese unumschränkte, unmittelbar von Gott empfangene Gewalt an seinen ältesten Sohn vererbt, dieser Prozess habe sich von Generation zu Generation fortgesetzt – die Konsequenz: „It is a truth undeniable, that there cannot be any multitude of men whatsoever, either great or small, though gathered together from several corners and remotest regions of the world, but that same multitude, considered by itself, there is one man amongst them that in nature hath a right to be the King of all the rest, as being the next heir to Adam, and all the others subject unto him.“79

Locke begegnet diesen Argumenten vor allem mit weit ausholenden In­ terpretationen der von Filmer verwendeten Bibelstellen, so schreibt er gegen das erste Argument: „Nach meiner Ansicht ist es für einen nüchternen Leser unmöglich, dort [d. h. in Gen 1,28; J.M.] etwas anderes zu finden als daß die Menschheit über alle anderen Arten von Geschöpfen auf unserer bewohnbaren Erde gesetzt worden ist. Der Segen besagt nichts anderes, als daß dem Menschen, der ganzen Gattung Mensch, dem wichtigsten Bewohner auf Erden, der das Ebenbild seines Schöpfers ist, die Herrschaft über alle übrige Kreatur gegeben wurde.“80 74  Eine kompetente Diskussion der Thesen Filmers und Lockes Gegenthesen fin­ det sich in Ashcraft 1987: 60–80. Vgl. zu der folgenden Darstellung der FilmerArgumentation auch: Euchner 1977: 25 ff.; Woolhouse 2007: 182–184. 75  s. o. S. 8 Fn. 35. 76  Filmer, Observation upon Aristotles Politiques: 187 f. 77  Grundlegende Bibelstellen sind hier für Filmer etwa Gen 3,16 und Ex 20,12. Vgl. dazu etwa Filmer, Patriarcha: 62; The Anarchy of a Limited or Mixed Monar­ chy: 283; 289. 78  Vgl. Filmer, Directions for Obedience to Government in Dangerous or Doubt­ ful Times: 232. Vgl. auch Euchner 1977: 26. 79  Filmer, The Anarchy of a Limited or Mixed Monarchy: 288 f. 80  Locke 1977: 97 § 40. Die Erste Abhandlung wird im Folgenden als Erste Abh. mit der Seitenzahl sowie der Paragraphennummer der angegebenen Ausgabe zitiert. Vgl. auch: Erste Abh.: 88 § 29; 90 § 31; dazu Waldron 2002: 24 f.



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Als „Kronzeugen“ für seine Lesart verweist Locke dabei auf Psalm 115,16: „Der Himmel ist der Himmel des Herrn, aber die Erde hat er den Menschenkindern gegeben.“81 Auch in Filmers zweiter These vermag Locke vor allem eine Missinter­ pretation zu erkennen: In den von Filmer angeführten Bibelstellen gehe es um die Bestrafung der Frau nach dem Sündenfall und die allgemeine Pflicht der Kinder zur Achtung der Eltern, nicht aber um grundlegende Fragen politischer Herrschaft.82 Mit beißendem Spott, der für den Stil der gesamten Ersten Abhandlung kennzeichnend ist, schreibt Locke über Filmers verkürz­ te Wiedergabe des fünften Gebotes: „Ich hoffe, es ist keine Beleidigung, wenn ich von einem halben Zitat auf einen halben Verstand schließe. Denn Gott sagt: Ehre Deinen Vater und Deine Mutter! Unser Autor aber begnügt sich mit der Hälfte und läßt Deine Mutter als wenig brauchbar für seinen Zweck einfach unter den Tisch fallen.“83

Die einzelnen weiteren Thesen sollen an dieser Stelle nicht näher interessie­ ren, sie hängen allesamt von mit Hilfe zahlreicher Bibelstellen belegten Prä­ missen ab und bilden eine theoretische Auseinandersetzung mit unterschied­ lichsten denkbaren Varianten des adamitischen Herrschafts- und Erbrechts.84 Die knappe Skizzierung der Argumentation Filmers lässt diesen als Vertre­ ter einer philosophisch kaum zu verteidigenden Position erscheinen.85 Getreu seiner Argumente dürfte es auf der Welt nur einen König geben, dieser äußerst problematischen Konsequenz entzieht er sich durch einen „logischen Salto mortale“,86 wenn er schreibt: „All Kings […] are, or are to be reputed [!] as the next heirs of those progenitors who were at first the natural parents of the whole people.“87 Ein solcher Gegner stellte keine überragende theoretische Herausforderung dar, und man ist geneigt, mit Euchner zu fragen, weshalb Locke „immerhin 150 Seiten zur Widerlegung Filmers für nötig hielt.“88 Dennoch ist das Ergebnis dieser Analyse ernüchternd: Die These der Schöpfung der menschlichen Gattung wird nur ex negativo begründet – und das ausschließlich auf der Basis biblischer Belege und der darauf ruhenden 81  Locke greift mehrfach auf diesen Psalm zurück, so in der Ersten Abh.: 90 § 31 und in der Zw. Abh.: 29,12–15 (§ 25). 82  Erste Abh.: 101 § 44; 102 § 47; 107 § 52; 108 § 53; 109 § 55. 83  Erste Abh.: 70 § 6. Vgl. dazu Waldron 2002: 39 f. 84  Vgl. hierzu auch Euchner 1977: 27 f.; Olivecrona 1991: 316 f. 85  Dagegen allerdings Tarlton 1991, welcher der Ersten Abhandlung einen deut­ lich höheren Stellenwert beimisst und die durchgängige Forschungsmeinung als zu geringschätzend kritisiert. 86  Euchner 1977: 26. 87  Filmer, Patriarcha: 60 f. 88  Euchner 1977: 27.

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Hilfskonstruktionen, wobei die Frage der Plausibilität der Lockeschen Bi­ bel­exegese nicht einmal aufgeworfen wurde. Ein weiteres Problem kommt hinzu: Im Essay beschäftigt sich Locke ausführlich mit dem Speziesbegriff89 – und kommt zu dem Schluss, dass es sich dabei lediglich um „nominal Essences“ handelt,90 in Waldrons Worten: „Locke comes very close to saying that there are no such things as species. He says that species-classification is just a matter of words, and that dis­ tinctions between species are at best just human conventions.“91 Wenn dem so ist und Gattungen auf menschlichen Konventionen beruhen, was ist dann unter Gattungsschöpfung überhaupt sinnvoll zu verstehen? Die These der Gattungsschöpfung ist völlig unzureichend begründet und wirft darüber hinaus große Konsistenzprobleme für die Lockesche Philoso­ phie auf. Eine Verteidigung erscheint – wenn überhaupt – nur mit Hilfe einer indirekten Strategie möglich: Die Welt ist Locke zu Folge von Gott mit Blick auf ein bestimmtes Ziel erschaffen worden. Wenn dieses plausibel gemacht werden kann, könnte man Locke dahingehend auslegen, dass zum Erreichen jener Absicht die Gattungsschöpfung eine notwendige Bedingung sei. Im nächsten Abschnitt wird dieser Möglichkeit nachgegangen. 3. „Auf dessen Befehl und in dessen Auftrag“92 – Die göttliche Absicht der Schöpfung An verschiedensten Stellen in seinem Werk äußert Locke seine Überzeu­ gung, wonach hinter der Schöpfung eine göttliche Absicht stehe und diese auch für den Menschen erkennbar sei. Hierbei ist zweierlei zu unterschei­ den. Einmal geht es um die Schöpfung der Natur als Ganzer und den Nach­ weis einer hierbei wirkenden göttlichen Zielsetzung. Zum anderen geht es speziell um die Rolle des Menschen in dieser Schöpfung, wobei in beiden Fällen die Plausibilität der Argumentation zu überprüfen sein wird. In seinen frühen Essays on the Law of Nature trägt Locke ein Argument vor, welches als eine Variante des argument from design verstanden werden kann.93 Dort heißt es: 89  Die Argumentation findet sich im Essay, Buch III, Kap. VI, 438–471; v. a. 439 bis 443. 90  Vgl. dazu Brandt / Klemme 1997: 174 ff. 91  Waldron 2002: 49. Vgl. dazu auch Locke, z. B. Essay: 443,15 ff.: „And […] the Species of Things to us are nothing but the ranking them under distinct Names, according to the complex Ideas in us; and not according to precise, distinct, real Essences in them […].“ 92  Zw. Abh.: 14,33–34. 93  Vgl. dazu Aarsleff 1969: 105; Tully 1980: 37 ff.; Euchner 1979: 46 f.



„Das Werk eines einzigen allmächtigen und unendlich weisen Schöpfers“ 225 „We say that the mind, after […] contemplating the beauty of the objects to be observed, their order, array, and motion, thence proceeds to an inquiry into their origin, to find out what was the cause, and who the maker, of such an excellent work, for it is surely undisputed that this could not have come together casually and by chance into so regular and in every respect so perfect and ingeniuosly prepared a structure.“94

Die Harmonie und Schönheit in der Welt und die Zweckmäßigkeit ihrer Einrichtung führt Locke an, um einen mächtigen und weisen Urheber hinter dieser Ordnung zu vermuten. Dies begründet die Annahme einer Absicht hinter der Schöpfung, denn „it is contrary to such great wisdom to work with no fixed aim,“95 eine Position, welche Locke auch im Essay noch verteidigt.96 Berechtigt diese uns Menschen erscheinende Zweckmäßigkeit zum Schluss auf das Vorhandensein einer göttlichen Absicht hinter der Schöp­ fung, unabhängig davon, wie diese inhaltlich gedeutet wird? Einen gewich­ tigen Einwand gegen eine solche Auffassung trägt Kant in seinen Ausfüh­ rungen zur Teleologie in der Kritik der Urteilskraft vor. Wenn man die äußere Zweckmäßigkeit der Natur betrachte, so liefere das keinerlei Berech­ tigung, sie „zu Erklärungsgründen […] ihres Daseins nach dem Prinzip der Endursachen zu brauchen.“97 Vielmehr warnt Kant vor einem Zirkelschluss: „Wenn man also für die Naturwissenschaft und in ihrem Kontext den Begriff von Gott hereinbringt, um sich die Zweckmäßigkeit der Natur erklärlich zu machen, und hernach diese Zweckmäßigkeit wiederum braucht, um zu beweisen, daß ein Gott sei: so ist in keiner von beiden Wissenschaften innerer Bestand.“98

Es ist genau dieser Zirkel, welcher sich in Lockes Argument finden lässt. Die allgemeine Absicht hinter der Schöpfung ist unzureichend bewiesen. Wie aber steht es um den Menschen? Der Mensch, so Locke, kann mehrere Absichten Gottes, die sich auf die menschliche Stellung in der Welt beziehen, erkennen. Hierbei geht es zu­ nächst um sein Verhältnis zu den anderen Lebewesen: Ganz im Duktus der bereits zitierten Bibelstelle aus Gen 1,28 heißt es in der Zweiten Abhandlung: „Die Erde und alles, was auf ihr ist, ist den Menschen zum Unterhalt und Genuß ihres Daseins gegeben.“99 Da die Menschen zu ihrer Erhaltung nicht nur auf die Gaben der Natur, sondern auch, da sie diese sonst nicht verwenden dürften, auf den Besitz derselben angewiesen sind, ist ebenfalls 94  ELN:

153.; s. a. 151. Vgl. dazu auch Parry 1991: 28. 157. 96  Essay: 447,18–20. 97  Kant: Akad.-Ausg., Bd. V, 377,29–31. 98  Kant: Akad.-Ausg., Bd. V, 381,25–29. 99  Zw. Abh.: 30,2–3; vgl. dazu Dunn 1969: 87. 95  ELN:

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die göttliche Absicht erkennbar, dass der Mensch Privateigentum erwerben darf. „Gottes Gebot und seine eigenen Bedürfnisse zwangen ihn zu arbeiten. […] Gott gab also durch das Gebot, sich die Erde zu unterwerfen, die Voll­ macht, sie sich anzueignen.“100 Eine zweite göttliche Absicht zeigt sich dem Menschen in seiner Ver­ nunft; diese dient nicht nur dem menschlichen Eigennutz. Sie soll den Menschen auch anhalten, sich moralisch zu verhalten, „seine Handlungen nach der Vorschrift des Vernunftgesetzes zu lenken, welches Gott ihm ein­ geimpft hatte.“101 In diesem Sinne ist sie Erleichterung und Forderung zu­ gleich. Ein dritter Punkt betrifft den Bedürfnischarakter des menschlichen Le­ bens. In ihm sei die göttliche Absicht der menschlichen Sozialnatur zu er­ kennen: „Gott hat den Menschen so geschaffen, daß es nach seinem eigenen Urteil nicht gut für ihn war, allein zu sein. Er stellte ihn unter den starken Zwang von Bedürf­ nis, Zweckmäßigkeit und Neigung, um ihn in die Gesellschaft zu lenken, und stattete ihn zugleich mit Verstand und Sprache aus, um in ihr zu verbleiben und sie zu genießen.“102

Dass wir Menschen bezüglich der Erkenntnis vieler grundlegender Dinge im „Dämmerlicht der Wahrscheinlichkeit“103 tappen, soll uns zum einen vor Selbstüberschätzung bewahren, uns zugleich aber auch beständig an unseren göttlichen Auftrag erinnern: „[This] might be a constant Admonition to us, to spend the days of our Pilgrimage with Industry and Care, in the search and following of that way which might lead us to a State of greater Perfection.“104 In ihrer Mangelhaftigkeit, aber auch Verbesserungsfähigkeit zeigt Gott der Menschheit ihre größte Aufgabe – die Vollendung der Schöp­ fung.105 Schließlich kann an dieser Stelle betont werden: Da die Menschen ge­ meinsam eine Gattung bilden und dieselben Fähigkeiten besitzen, müssen sie als Geschöpfe von gleichem Rang angesehen werden.106 Eine auf Un­ gleichheit beruhende Ordnung sei nur dann von Gott beabsichtigt, wenn dieser „durch eine deutliche Willensäußerung den einen über den anderen 100 

Zw. Abh.: 35,27 f.; 33 f. Zw. Abh.: 50,15 f. 102  Zw. Abh.: 67,18–23; s. a. Zw. Abh.: 34,1–4; Essay: 252,14–19. Vgl. dazu auch Schneewind 1999: 216. 103  So die Übersetzung von Winckler, Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. II, (Essay Buch 4, Kap. XIV, § 2): 341. 104  Essay: 652,22–25. 105  Vgl. Siep 2007: 331. 106  Zw. Abh.: 13,11–17. 101 



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stellen und ihm durch eine überzeugende, klare Ernennung ein unzweifel­ haftes Recht auf Herrschaft und Souveränität verleihen [würde].“107 Was die Erkenntnisquellen dieser verschiedenen göttlichen Absichten betrifft, so bleibt Locke unentschieden:108 An einigen Stellen betont er die Rolle der Vernunft, betrachtet sie manchmal sogar als hinreichend, an ande­ ren Stellen wiederum, insbesondere in seiner Spätschrift The Reasonableness of Christianity verschiebt sich das Gewicht auf die Offenbarung als wichtigstem Herkunftsort dieses Wissens über Gottes Auftrag an die Mensch­ heit.109 Auch hier jedoch gilt: Der Schluss auf göttliche Absichten funktio­ niert erst dann, wenn man einen Gott, der absichtsvoll und schöpferisch tätig wird, voraussetzt. Die Wahrheit der theistischen Grundannahmen lässt sich so nicht bestätigen. Lockes Versuch der Plausibilisierung einer teleolo­ gischen Grundstruktur der Welt ist aus heutiger Sicht gescheitert, er lässt auch keinen Raum für die am Ende von IV.2 erwähnte Möglichkeit einer indirekten Rechtfertigung der These der Gattungsschöpfung. V. Die Debatte um Locke – Konsequenzen der Untersuchung In den vorhergehenden Abschnitten ist das Argument des natürlichen Gesetzes auf seine theologische Fundierung und deren Plausibilität hin un­ tersucht worden. Der Gang der Analyse hat zum ersten die Unzulänglichkeit der Begründung, wie Locke sie in der Zweiten Abhandlung vorträgt, deut­ lich gemacht: Ohne Rückgriff auf seine theoretische Philosophie, wie sie vor allem im Essay Concerning Human Understanding zu finden ist, wäre schon der Versuch einer Begründung der theologischen Prämissen auf un­ überwindbare Probleme gestoßen. Aber auch die Berücksichtigung der the­ oretischen Abhandlungen stößt bald an ihre Grenzen. Die beiden zentralen Voraussetzungen der Naturzustandsbegründung Lockes, der Nachweis der Existenz eines absichtsvoll handelnden Schöpfergottes und die Schöpfung der Menschheit als Gattung, können nicht ohne Rückgriff auf die christliche Offenbarung bewiesen werden, wobei selbst diese in ihrer Auslegung unge­ wiss bleibt. Weitere Schwierigkeiten ergeben sich aus dem in der heutigen 107  Zw. Abh.: 13,18–22. Locke verlangt hier also einen eindeutigen (biblischen) Beleg für eine natürliche Vormachtstellung einzelner. 108  Vgl. dazu Yolton 1970: 171–180; Sprute 1997: 232–237; Strauss 1977: 211 ff. 109  Angaben über die Herkunft dieses Wissens finden sich etwa im Essay: 352,13–15; Erste Abh.: 147 § 101; Zw. Abh.: 14,25–28; 112, 18 f. Vgl. dazu auch Pearson 1991: 140 ff.; Woolhouse 2007: 340–344; Waldron 2002: 99 ff.; Byrne 1991: 56 f.; Dunn 1969: 188 ff.

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Forschung umstrittenen Status der natürlichen Theologie sowie aus den von Locke in Anspruch genommenen teleologischen Argumenten. Die gewonnenen Untersuchungsergebnisse und die damit einhergehende Bestätigung der Ausgangsthese können dazu beitragen, die historische Lo­ cke-Interpretation der vergangenen Jahrzehnte kritisch zu hinterfragen. Im Kern der Diskussion steht dabei folgende Frage: Wie ist die Grundlage des politischen Denkens Lockes angemessen zu verstehen? Handelt es sich um eine pragmatisch orientierte Philosophie, welche in erster Linie eine kon­ zeptionelle Antwort auf zeitgebundene und drängende gesellschaftliche Fragen zu geben versucht? Oder ist Locke ein Autor, dessen politische Theorie bewusst an metaphysisch-theologische wie auch epistemologische Konzeptionen gebunden ist? Prominent ist die erste Interpretation von Peter Laslett und Walter Euch­ ner vertreten worden. So schreibt Euchner über den Lockeschen Staat, dass „diesem Staat die ontologische Verankerung in der von der lex aeterna strukturierten Schöpfungsordnung“110 abgehe; „bei Locke ist die Einbettung der staatlichen Gemeinschaft in die teleologisch strukturierte Ordnung des Kosmos aufgehoben.“111 Locke entwickele anders als Hobbes keine fundier­ te Theorie des Menschen im Naturzustand, „sondern er stützt sich auf plausible Analogieschlüsse und die Lehren der Geschichte.“112 Somit habe Lockes Theorie einen Ratschlagscharakter, „zu einer exakten Sozialtechnik im Sinne von Hobbes konnte und wollte Locke seine politische Theorie nicht ausbilden.“113 Und auch Laslett ist vom pragmatischen Charakter der Lockeschen politischen Theorie überzeugt: „Empirical medicine, rather than philosophy, seems to be the model for the man who sets out to comment on political matters. Locke the doctor rather than Locke the epistemologist is the man we should have in mind when we read his work on Government. To call it ‘political philosophy’, is inappropriate. He was, rather, the writer of a work of intuition, insight and imagination, if not of profound original­ ity, who was also a theorist of knowledge.“114

Die Gegenposition wurde in der Vergangenheit durch Autoren wie Rein­ hard Brandt, Richard Ashcraft und jüngst Jeremy Waldron entwickelt. Ash­ crafts zentrales Anliegen besteht im Nachweis der engen Verbindungen zwischen Lockes theoretischer und praktischer Philosophie. Locke sehe in der Moraltheorie den wichtigsten Bestandteil eines jeden philosophischen Systems. Infolgedessen könne der Essay interpretiert werden als Begrün­ 110  Euchner

1979: 205. 1979: 207. 112  Euchner 1979: 208. 113  Euchner 1979: 209. 114  Laslett 1988: 85. 111  Euchner



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dung der These, wonach unsere menschlichen Fähigkeiten ausreichen, den Ansprüchen einer in Gott ihren Ursprung findenden Moral zu genügen:115 „What we should expect to find in the Essay is a statement of the basic presup­ positions that are essential to the moral dimensions of the practical action being urged by Locke in the Two Treatises, as well as some description of the powers of human beings that enable them to perform the recommended actions.“116

Seine Erkenntnistheorie sei entgegen der geläufigen Interpretation keine reine empirische Beschreibung des menschlichen Geistes, vielmehr gebe uns Locke „a moral portrait of ourselves which, though empirically groun­ ded, is justified in terms of the way in which God has created us and the moral world around us.“117 Jeremy Waldron kommt in seiner großen Locke-Studie, welche von dem Interesse an einer Begründung des egalitären Prinzips geleitet ist, zu dem Ergebnis, dass Lockes zentrale Thesen nur auf der Basis des metaphysischreligiösen Hintergrundes zu verstehen sind. Die These der pragmatischen Interpretation, „that we might be able to bracket out the religious content and concentrate upon equality itself presupposes that the religious content has a purely external relation to the equality principle,“118 und lasse sich nicht halten, vielmehr entwickele Locke eine Theorie „that makes no sense expect in the light of a particular account of the relation between man and God.“119 „For Locke the religious foundation is indispensable: we have seen it do important work in political theory as a premise and as a constraint.“120 Dieses religiöse Fundament versteht Waldron nicht nur als ein aus einer natürlichen Theologie heraus entwickeltes theistisches, son­ dern speziell auf der christlichen Offenbarung beruhendes Konzept.121 Seine Interpretation kann daher als schärfste Antithese den Ausführungen Euch­ ners und Lasletts gegenüber gestellt werden. Die Untersuchung der religiösen Grundlagen in Lockes Argument des natürlichen Gesetzes unterstützt diejenige Interpretationslinie, welche einen starken Zusammenhang zwischen der theoretischen und der politischen Phi­ losophie Lockes gegeben sieht. Die zentrale These des natürlichen Gesetzes baut auf Argumenten auf, die sowohl einer metaphysischen natürlichen Theologie als auch der biblischen Offenbarung entstammen. Diese doppelte Grundlegung kann erweitert werden um die Perspektive einer empiristischen 115  Ashcraft 116  Ashcraft 117  Ashcraft 118  Waldron 119  Waldron 120  Waldron 121  Waldron

1987: 1987: 1987: 2002: 2002: 2002: 2002:

233. 234. 245. 45. 82. 240. 12 f.

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Erkenntnistheorie, welche deutlich macht, dass der Mensch aufgrund der Struktur seines Geistes zu einem praktischen Handeln, das im Einklang mit dem natürlichen Gesetz steht, befähigt ist. Der freie Stil und die zahlreich in den Lockeschen Texten verwendeten empirischen Beispiele dürfen nicht über diesen metaphysisch-theologischen Hintergrund hinwegtäuschen. Das religiöse Fundament ist kein schmückendes, der Zeit geschuldetes Beiwerk, sondern eben ein Fundament, welches die Argumentation trägt. Der Gesell­ schaftsvertrag Lockes ist somit kein voraussetzungsloser, nur die Eigeninte­ ressen der Vetragsparteien kalkulierender Kontrakt, sondern in seiner Aus­ richtung wie in seinen Grenzen vorbestimmt. Die pragmatische Interpreta­ tionstradition kann diese Einsicht zwar als nebensächlich herunterstufen, sich ihr aber offensichtlich nicht ganz entziehen. So schreibt Euchner: „Locke hat nie Zweifel an der traditionellen Lehre geäußert, daß die Geset­ ze der Natur auch im Staate gelten, daß die Obrigkeit dem natürlichen Gesetz untersteht und daß die positiven staatlichen Gesetze von ihm ihre Geltungskraft erhalten.“122 Die Konsequenzen für weitere, über diesen Text hinausgehende Fragestel­ lungen können hier nur angedeutet werden: Eine jede Locke-Interpretation, welche sich zum Ziele setzt, dessen Theorie anschlussfähig für die gegen­ wärtige Debatte zu deuten, muss die tragende Rolle der religiösen Annah­ men berücksichtigen. Wer dem Lockeschen Argument des natürlichen Ge­ setzes eine andere, säkulare Basis geben möchte, wird dieses Vorhaben kaum ohne eine Umdeutung des natürlichen Gesetzes selber ausführen können. Wie auch immer das Resultat einer solchen Reformulierung ausse­ hen mag, ist es kaum wahrscheinlich, dass ein derartiges Argument in ein solch umfassendes und in seinen praktischen Ergebnissen vielen Theoreti­ kern der Gegenwart hochwillkommenes System münden kann, wie Locke es entwickelt hat. Ohne sein religiöses Fundament bricht das Argument des natürlichen Gesetzes in sich zusammen. Abschließend sei auf eine weitere Folgerung aus dieser Analyse hinge­ wiesen: Die Behandlung der religiösen Grundlagen seiner politischen Philo­ sophie zeigt Locke als einen Systematiker, der auch in seinem praktischen Denken von metaphysisch-theologischen Theoremen geleitet ist. Auf dieser Basis kann jene interpretatorische Tradition zurückgewiesen werden, welche in Locke, sei es in kritischer, marxistisch motivierter Ablehnung oder in einer durch die Suche nach Vordenkern des eigenen Ansatzes begründeten Zustimmung, nicht mehr als einen Vorläufer eines radikalliberalen Kapita­ lismus erblickt. Beispielhaft sei an dieser Stelle auf C. B. Macpherson verwiesen. Für Macpherson ist Lockes natürliches Gesetz nur ein Versuch, 122  Euchner

1979: 209.



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die auf Klassenunterschieden beruhenden extremen Ungleichheiten in einer Gesellschaft zu legitimieren, den Reichen ein „gutes Gewissen“ zu ver­ schaffen.123 So lange wie man noch nicht offen einer egoistischen Nützlich­ keitslehre anhängen konnte, „war es nötig, die natürliche Gleichheit der Menschen zu bekennen und diese Gleichheit in das Gewand des Naturrechts zu kleiden.“124 Man könne den Lockeschen Staat als eine „Aktiengesell­ schaft“ verstehen, in denen gleiche Rechte lediglich als eine „formale Annahme“125 gelten; eine Gesellschaft der Besitzenden, die Locke dadurch rechtfertige, dass er „die Ausstattung dieser Konstruktion mit einer Fassade traditionellen Naturrechts“126 besorgte. Tatsächlich jedoch gelte: „Kein indi­ viduelles Recht ist in Lockes Staat ausdrücklich geschützt.“127 Eine solche Interpretation ist, um mit Ashcraft zu sprechen, „a reductio­ nist levelling of the structure of his thought to the single-minded defence of capitalist exploitation,“128 und verkennt, dass Locke in seiner Theorie einen Staat begründet, der im Kern aufgrund der Pflicht zur Einhaltung eines göttlichen Gebotes errichtet und an diesem gemessen wird. Es ist Gott, auf den sich der Einzelne berufen kann, wenn er seine Rechte einfor­ dert – aber es ist eben auch Gott, an den er erinnert wird, wenn er die ei­ genen Pflichten und die Rechte der anderen verletzt. Locke ist einer der Stammväter des politischen Liberalismus, seine Vor­ stellungen von der Legitimation und den Grenzen staatlicher Macht treffen in großen Teilen auch heutzutage auf breite Zustimmung. Aus diesem Grun­ de sollten die aufgezeigten Schwierigkeiten der Lockeschen Argumentation als Anlass dazu dienen, über die Begründung von individueller Freiheit und Menschenrechten in einer modernen, säkularen Gesellschaft weiterhin inten­ siv nachzudenken. Die Ziele der Lockeschen Staatsphilosophie beanspru­ chen bis heute ihre Gültigkeit; es ist der Weg zu diesen Zielen, der frag­ würdig geworden zu sein scheint. Literatur Aarsleff, Hans (1969): The State of Nature and the Nature of Man in Locke, in: Yolton, John W. (Hrsg.): John Locke – Problems and Perspectives. A Collection of New Essays, Cambridge, S. 99–136.

123  Vgl.

dazu Macpherson 1973, v. a.: 268–303. 1973: 278. 125  Macpherson 1973: 279. 126  Macpherson 1973: 302. 127  Macpherson 1973: 289. 128  Ashcraft 1987: 262. 124  Macpherson

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Abstract Der Aufsatz verfolgt eine doppelte Zielsetzung: Zum einen wird gezeigt, dass das Argument des natürlichen Gesetzes im Zentrum der Lockeschen Staatstheorie steht; ein Argument mit überzeugender Konklusion, welches von Locke zur Fundierung verschiedener Bestandteile seiner politischen Theorie herangezogen wird. Zum an­ deren wird die Abhängigkeit dieses zentralen Argumentes von religiösen Prämissen erläutert, welche sich nach eingehender Untersuchung als philosophisch nicht hin­ reichend begründet und zudem mit systemimmanenten Widersprüchen behaftet er­ weisen. Die Analyseergebnisse werden abschließend eingeordnet in die Diskussionen der gegenwärtigen Locke-Forschung und dienen als Grundlage eines Plädoyers für diejenige Interpretationslinie, welche die Lockesche Theorie als auf metaphysischen, theologischen und epistemologischen Grundsätzen aufbauend begreift und damit die Deutungen der pragmatischen Interpretationstradition zurückweist.

Die Rationalität des Anarchismus Von Clemens Kauffmann I. „Rebellion gegen die Vernunft“ Max Stirner, der Gedankenlose, der Undenkbare, Unbegreifliche und Unnennbare, hat von sich gesagt, er sei „weder der Champion eines Gedan­ kens, noch der des Denkens; denn ‚ich‘, von dem ich ausgehe, bin weder ein Gedanke, noch bestehe ich im Denken. An mir, dem Unnennbaren, zersplittert das Reich der Gedanken, des Denkens und des Geistes“ (Stirner, 1927, 131). In Stirners Formulierungen kommt das „Denken“ der Moderne zu seiner Konsequenz – zu seiner alles in die instantane Spontaneität des Einzelnen auflösenden Konsequenz. Das „allmächtige Ich“ tritt bei Stirner in den Mittelpunkt. Die „Selbstoffenbarung“ der Persönlichkeit wird zum Zentrum des Lebens. Aus der Sicht aller Liberalen ist Stirners egoistisches Ich der „UnMensch“, der sich von der Verbundenheit der Gattung im vernünftigen Selbstverständnis des Miteinanders gelöst hat. Der Egoismus und die Freu­ de am wirklichen Selbstgenuß beginnen, mit dem Denken im Allgemeinen auch die politische Vorstellungswelt zu bestimmen. Der Egoist betrachtet andere Menschen als Gegner. Das eigene „Ich“ tritt gegen ein feindliches „Du“ und „Ihr“ auf. Die ganze Gemeinschaft der Menschen im Staat er­ scheint dem Egoisten als Feind: „Darum sind wir beide, der Staat und ich, Feinde. Mir, dem Egoisten, liegt das Wohl dieser ‚menschlichen Gesell­ schaft‘ nicht am Herzen, ich opfere ihr nichts, ich benutze sie nur; um sie aber vollständig benutzen zu können, verwandle ich sie vielmehr in mein Eigentum und mein Geschöpf, d. h. ich vernichte sie und bilde an ihrer Stelle den Verein von Egoisten“ (Stirner, 1927, 156 f.). Max Stirners Egoismus ist ein anarchisches und extremes Symptom jener „Rebellion gegen die Vernunft“, die nach Hannah Arendt von Jean-Jacques Rousseau angezettelt wurde (Arendt, 1994, 102). Die von Brüchen, Revo­ lutionen, Kriegen und humanen Katastrophen gekennzeichnete politische Moderne entfaltete sich auf der Grundlage eines zweischneidigen Verhält­ nisses zur Vernunft. Während die bürokratisch-instrumentell-technische Rationalität die Menschheit zu Triumphen des Fortschritts führte, wuchs sich die Skepsis gegenüber einer allgemeineren Vernünftigkeit menschlichen

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Handelns zu einer verbreiteten Feindschaft gegen die Vernunft aus. Für den Bereich des Politischen bedeutete dies eine folgenreiche Entwicklung. Eine Orientierung über die Besonderheiten der politischen Moderne und des in der Gegenwart vorherrschenden Politikverständnisses wird der Parallelität zwischen der „Rebellion gegen die Vernunft“ und den politischen Irrwegen der Moderne, die eben nicht nur den demokratischen Verfassungsstaat, son­ dern auch Unfreiheit und millionenfache Vernichtung hervorgebracht hat, einige Aufmerksamkeit schenken. Ohne die Parallelität dieser geistig-kultu­ rellen Entwicklung und der Ereignisgeschichte kausal näher klassifizieren zu müssen, kann man davon ausgehen, daß die Beziehung zwischen beiden Phänomenen nicht rein zufällig ist. Die schwierige Relation zwischen Ver­ nunft- und Politikverständnis ist ebenso schillernd wie verschlungen. Sie läßt sich nicht auf eine spezifische Art politischen Denkens beschränken, sondern zeigt sich in allen ideologischen Hauptströmungen des 19. und 20. Jahrhunderts – im Liberalismus ebenso wie in Sozialismus und Konser­ vatismus, gleichermaßen in den totalitären Ideologien von Kommunisten und Nationalsozialisten. Der Konservatismus, der sich als moderne Form des politischen Denkens in Reaktion auf die Französische Revolution herausgebildet hat, spielt in dieser Entwicklung eine wichtige Rolle. Edmund Burke hat 1790 ein wir­ kungsvolles Plädoyer für ein pragmatisches Staatsverständnis abgelegt, das sich gegen die Idee natürlicher Rechte wendete und für eine rein erfah­ rungsbasierte Staatswissenschaft optierte. Nach Burkes konservativer Auf­ fassung ist jede wirksame politische Ordnung eine technisch-konstruktive Reaktion auf die komplexe Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens (vgl. Burke  /  Gentz, 1991, 137, 306). Politische „Weisheit“ zeige sich in der klugen, das heißt in der an Tradition und Religion orientierten Anpassung an die geschichtliche Entwicklung. Dabei erschien staatliche Organisation von Gesellschaft als etwas Künstliches und als „Gegenstand einer Berech­ nung nach Regeln der Zweckmäßigkeit“ (Burke  /  Gentz, 1991, 136). Die Zwecke, im Hinblick auf welche der erfahrene Politiker die gesellschaftliche Ordnung zu kalkulieren habe, seien die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse und ihre Ausbalancierung mit den Leidenschaften (Burke / Gentz, 1991, 134 f.). Erfahrung sei vor allem erforderlich im Umgang mit natür­ lichen Neigungen, menschlichen Bedürfnissen und fördernden und hinder­ lichen Umständen für das Funktionieren der „Maschine der bürgerlichen Gesellschaft“ (Burke / Gentz, 1991, 136). Für die politische Vernunft hatte Burkes Anschauung vor allem zwei Konsequenzen. Erstens wurde die politische bzw. die Staatswissenschaft durch Geschichts- und Rechtswissenschaft ersetzt. Die Staatswissenschaft könne „wie jede andere Erfahrungswissenschaft a priori nicht gelehrt wer­ den“; dies gelte umso mehr, als in Staatsdingen die notwendige Erfahrung



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die Möglichkeiten eines einzelnen Lebens übersteige und deshalb die Ge­ schichte als Hüterin kollektiver Erfahrung in das Zentrum der Staatswissen­ schaft einrücken müsse (Burke / Gentz, 1991, 136 f., vgl. 191). Zweitens wurde die politische Rolle der Vernunft auf instrumentelle Rationalität, auf ein erfahrungsbasiertes Kalkulieren reduziert. „Politische Vernunft“, schrieb Burke, „ist das Prinzip einer moralischen Rechenkunst, einer Wissenschaft, moralische Größen, nicht metaphysisch oder mathematisch, sondern mora­ lisch zusammenzusetzen und abzuziehen, zu vervielfachen und zu teilen“ (Burke / Gentz, 1991, 140). War das Paradigma der „Entwicklung“ einmal in das Zentrum der politi­ schen Analysen gerückt, wurde Geschichte zu dem Medium, in dem sich politische Vernunft auflösen sollte. Man begab sich einerseits daran, die naturwüchsigen und gesellschaftlichen „Kräfte“ ausfindig zu machen, die in der geschichtlichen Entwicklung Wirkung zeigten, und die „Prinzipien“ und „Gesetze“ zu identifizieren, denen das Spiel der Kräfte zu gehorchen schien – und denen sich folglich auch das Politische unterwerfen müßte. Von kon­ servativen, „katholischen Höhen“ aus betrachtet erschien die höhere Macht Gottes diejenige Kraft zu sein, der die physische Welt ebenso unterworfen ist wie die menschliche Gesellschaft (Donoso Cortes, 1948, 23–26, 31). Der Sozialismus setzte weniger Transzendenz voraus. Marx und Engels lokali­ sierten das Prinzip der Geschichte in dem gesellschaftlichen Antagonismus, den die ökonomischen Lebensbedingungen der menschlichen Reproduktion hervorbrachten, dem Klassenkampf (Marx / Engels, 1972, 462, 473). Das war ein Prinzip, das auch dem sozialen Konservatismus eines Lorenz von Stein zugrunde lag (Stein, 1959, I 24). Adolf Hitler erklärte schlicht „die fundamentale Notwendigkeit des Wal­ tens der Natur“ zum Prinzip des geschichtlichen Werdens und verlangte, die Geschicke des Volkes „diesen Gesetzen des ewigen Kampfes und Ringens nach oben“ zu unterwerfen (Hitler, 1939, I 10, S. 267). Neben der doktrinären Prinzipiensetzung wollte man Mittel aufzeigen, wie sich der Mensch und seine Verbände im geschichtlichen Spiel der Kräf­ te behaupten könnten. Der Vernunft wurde im Angesicht der rauhen Lebens­ wirklichkeit nicht viel zugetraut. An ihre Stelle trat zunächst die „kalte“ instrumentelle Rationalität, der Verstand. Für den Konservatismus nach dem Ersten Weltkrieg hat Moeller van den Bruck diese Überzeugung auf den Punkt gebracht: „Der Verstand ist eine Kraft des Menschen, während die Vernunft eher eine Schwäche ist. Der Verstand ist der Herr. Sein Wesen ist Männlichkeit. Und es gehört Charakter dazu, sich keinen Selbsttäuschungen hinzugeben. Der konservative Mensch besitzt diesen Charakter nebst der körperlichen Tüchtigkeit und der sittlichen Entschlußkraft, aus dem Charak­ ter zu handeln, sobald es von ihm verlangt wird“ (Moeller van den Bruck, 1931, 199). Verstand und Rationalität sind Mittel zum vorausgesetzten

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Zweck und zur Maximierung des individuellen und gemeinschaftlichen Nutzens im geschichtlichen Kampf. Rationalität ist wirkungsvoll, am Erfolg überprüfbar und universell. Sie kalkuliert, ohne zu verstehen, aber ihre Ar­ beitsweise läßt sich in Skalen denjenigen vor Augen führen, denen das Denken fremd geworden ist. Als eine dem Menschen eigentümliche Kraft für die Bewährung in der natürlichen Entwicklung wurde wiederum nicht die Vernunft, sondern der Wille angesehen (vgl. Stein, 1959, I 15). Seit dem späten 18. Jahrhundert haben natürliche „Kräfte“ die „Vernunft“ als Kernelement des Politischen verdrängt. Politische Wirklichkeit wurde demnach als ein Spiel von „Kräften“ aufgefaßt, in dem Menschen durch ihren „Willen“ und ihre individuelle „Entscheidung“ mitwirken könnten. Genau genommen „könnten“ sie nicht nur mitwirken, sondern sie würden sich zu ihren Gunsten gestaltend in das Geschehen einschalten müssen, wenn sie überleben wollten. In der Folge begann ein Politikverständnis an Bedeutung zu gewinnen, das Politik als „Kampf“ begriff. Die Politik er­ schien als das Feld des Kampfes, auf dem der Einzelne, das Volk oder die Nation sich „durchzusetzen“ hätten. II. Was ist „politische Vernunft“? Angesichts der ambivalenten politischen Konsequenzen der „Rebellion gegen die Vernunft“ erscheint es sinnvoll, den Raum des Politischen wieder für die Vernünftigkeit verantwortlich handelnder Personen zu öffnen. Es war Hannah Arendts Überzeugung, daß überhaupt nur ein solcher öffentlicher Raum, in dem Personen miteinander vernünftig handeln, das Politische er­ möglichen könne. Ein Feld, in dem vernünftig Handelnde durch kollektive Strukturen wie „Diskurse“, „Geschichte“, „Gesellschaft“ oder „Entwick­ lung“ ersetzt würden, wäre dem gegenüber unpolitisch. Die „Rebellion gegen die Vernunft“ als Verdrängung des Politischen selbst zu beschreiben, kann historisch an ein klassisches Politikverständnis anknüpfen. Aristoteles hatte einen Politikbegriff expliziert, demzufolge der Mensch deswegen von Natur aus ein politisches Lebewesen wäre, weil er vernünftig sei. Der „Logos“ befähige den Menschen, sich mit Seinesglei­ chen darüber, was in einer Gemeinschaft als richtig und gerecht anerkannt werden solle, in einem vernünftigen sprachlichen Austausch friedlich zu verständigen und Regime zu entwickeln, die der Freiheit und Gleichheit der vernünftigen Bürger Rechnung trügen. Mit dem Ausdruck „Vernunft“ be­ zeichnete Aristoteles kein einheitliches politisches Prinzip, sondern eine Vielzahl noetischer Tugenden (wie Klugheit, Besonnenheit, Wissen, Weis­ heit, Geist und Rede) und mentaler Tätigkeiten (wie Beurteilen, Entschei­ den, Beraten und Überzeugen). Insbesondere in Abwehr eines ausschließlich



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am „Kampf“ orientierten Politikverständnisses wurden auch in der Moderne einflußreiche Ansätze entwickelt, die an das klassische Paradigma anknüp­ fen und eine diesbezügliche Rekonstruktion politischer Vernunft versuchen. Ungeachtet aller Unterschiede in der Durchführung liegt hier eine Gemein­ samkeit der Positionen von Hannah Arendt, Leo Strauss und Eric Voegelin, aber auch von John Rawls und weiteren mehr. Die Politische Theorie, die derartige Zusammenhänge expliziert und re­ flektiert, ist einem Begründungserfordernis hinsichtlich der Position der politischen Vernunft ausgesetzt. Es wird zumindest die Notwendigkeit aner­ kannt, anzugeben, was als „politische Vernunft“ und in welcher Funktion dies begründet werden soll. Vernunft ist insofern politisch, als sie Menschen befähigt, ihr latent von Konflikten belastetes Zusammenleben mit anderen Menschen kooperativ und friedlich zu regulieren, und eine dafür geeignete überpersönliche, institutionelle Ordnung zu errichten. Als „politische Ver­ nunft“ bezeichne ich im Folgenden (1) gegenständlich ein mentales Vermö­ gen, das dazu befähigt, die historisch und kulturell unterschiedlichen Formen menschlichen Zusammenlebens aus ihren Voraussetzungen und Bedingungen sowie im Hinblick auf ihre Folgen zu verstehen, kritisch zu beurteilen, zu vergleichen und hinsichtlich der Zwecke und der angemessenen Mittel menschlichen Zusammenlebens zu differenzieren. Das schließt die Frage nach der jeweils „richtigen“ Ordnung und Regierung ein. „Politische Ver­ nunft“ nenne ich (2) modal eine Form des Vernunftgebrauchs, welche die Bedingungen der kritischen Urteilsbildung, Artikulation und Kommunika­ tion der Vernunfttätigkeit versteht und integriert, die sich aus den Voraus­ setzungen, Formen und Folgen, den Zwecken und angemessenen Mitteln menschlichen Zusammenlebens ergeben. Zur Reflexionsleistung politischer Vernunft gehört ein Katalog von Einstellungen, Überzeugungen, Haltungen, Wertungen und Regeln, welche zusammen die Verfassung besonderer Ge­ meinschaftsformen bestimmen. „Politische Vernunft“ schließt (3) logisch ein Regelwerk ein, das für ihre eigene Tätigkeit maßgeblich ist. Dies sind be­ stimmte Regeln des Verstehens, der Begriffsbildung, des Schließens, des Argumentierens und des Dialogs. III. Zur Beziehung zwischen Anarchismus und Vernunft Die Selbstbegründung der politischen Vernunft setzt dort ein, wo sie be­ stritten wird. Wenn an Stirners „Verein von Egoisten“ das „Reich der Ge­ danken, des Denkens und des Geistes“ endgültig „zersplittert“, dann stellt diese anarchistische Position vielleicht die radikalste politische „Rebellion gegen die Vernunft“ dar. Nun wurde der Egoismus nicht immer und nicht generell als gegen die Vernunft gerichtet empfunden, auch wenn er antipolitisch ist – im Gegenteil gab es auch die andere Auffassung, der zufolge

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die Vernunft den Menschen erst egoistisch mache (vgl. Arendt, 1994, 101 f.). Zudem ist der Anarchismus keineswegs eine einheitliche Bewegung. Doch unabhängig von jeder historischen Konkretisierung formuliert der Anarchismus eine systematische Position, die einerseits die beschriebene politische Rolle und Funktionsweise der Vernunft negiert und die zugleich eine andersgeartete, anti-politische Vernünftigkeit für sich selbst reklamiert. Der Anarchismus stellt eine Negation des Politischen dar und – bemessen an der klassischen Position – eine Negation der Vernunft, insofern diese den Menschen zu einem von Natur aus politischen Wesen machen würde. Der Anarchismus richtet sich gegen alle Formen von Regularien innerhalb des­ sen, was oben als „politische Vernunft“ bezeichnet wurde: gegen die Idee einer richtigen politischen Ordnung und Regierung, gegen die Idee eines politischen Vernunftgebrauchs und gegen jegliche politische Logik. In glei­ cher Weise, wie bestimmte Ordnungsregeln oder Herrschaftsformen als Einschränkung individueller Freiheit gegenüber denen als gerechtfertigt ausgewiesen werden müssen, die ihnen unterliegen, müssen auch die Regeln vernünftigen Denkens und Schließens als notwendig und möglich gegenüber jenen nachvollziehbar dargestellt werden, die andere als vernünftig geregel­ te Formen der Handlungsführung befürworten – durch Gefühle, Instinkte oder Leidenschaften wie Ehrgeiz, Ruhmsucht, Gewinnstreben oder Mitleid. Regulierung des Denkens könnte als Ausübung von Autorität verstanden werden. Der Anarchismus kann sich nicht nur gegen die Wirksamkeit von Regeln im politischen Leben richten, sondern auch gegen autoritäre Struk­ turen im Denken. Der Anarchismus ist unabhängig von einer konkreten politischen Pro­ grammatik als Prüfstein für jegliches politische Ordnungs- und Regierungs­ denken von theoretischem Interesse. Das gilt trotz – oder gerade wegen – der vielbeschworenen „Theorielosigkeit der Anarchisten“ (vgl. Lösche, 1986, 416, 430). Jede politische Autorität bedarf einer Legitimation. Jedes politische Ordnungsdenken bedarf einer Begründung oder Rechtfertigung. Die politische Theorie hat sich von Beginn an der Begründungsaufgabe gestellt und eine Legitimationsfunktion übernommen. Bis heute scheint die Rechtfertigung von Legitimationsmustern und die Begründung von Ord­ nungsmodellen der selbstverständliche Hauptgegenstand der Politischen Philosophie und Theorie zu sein. Aus dem Legitimationserfordernis poli­ tischer Herrschaftsordnungen und der Begründungsbedürftigkeit politischer Theorie könnte man schließen, der Anarchismus markiere ihr gegenüber die quasi „ursprüngliche“ Einstellung. Wo es keine Herrschaft von Menschen über Menschen gibt und Menschen keine Ansprüche an ihresgleichen stel­ len, gibt es auch keine Begründungs- und Legitimationspflicht. Der Anar­ chismus gibt sich genau insoweit „vernünftig“, als er jede politische Ord­ nungsstruktur als willkürlich, überflüssig und unvernünftig bezeichnet. Vom



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Standpunkt des Anarchismus aus betrachtet wäre „Vernünftigkeit“ damit überhaupt unpolitisch. Daraus erwächst das Selbstbegründungserfordernis politischer Vernunft. Politische Vernunft muß sich selbst konstituieren, wenn keine Regierung von Menschen über Menschen legitim ist, die sich nicht auf vernünftige Gründe stützen und die Betroffenen von deren Geltung überzeugen könnte. Der Anarchismus gehört mithin zu denjenigen Positi­ onen, gegenüber denen politische Vernunft ihre primäre Begründungsfähig­ keit darzulegen hat. Die Rationalität des Anarchismus zeigt sich in der Antwort auf die Frage, unter welchen Voraussetzungen, mit welchen Argu­ menten und wie weitgehend die Begründungsfähigkeit politischer Ordnung durch den Anarchismus bestritten wird. Dies ist die Frage, die meine Über­ legungen zur Rationalität anarchistischer Konzepte leitet. Aus der Antwort lassen sich zugleich weitere Schritte für die Selbstbegründung politischer Vernunft gewinnen. Eine Antwort auf die Frage, ob Vernunft unfähig ist, politische Ordnung reflektiert zu begründen, beschäftigt sich in vier Feldern mit dem eigenen Anspruch des Anarchismus auf Rationalität im Sinne argumentativer Klar­ heit. In diesen Feldern werden verschiedene mögliche Beziehungen zwi­ schen Anarchie und Vernunft beschrieben. Sie thematisieren (1) die Anarchie als „ursprüngliche Einstellung“, (2) den Positivismus und den Konstrukti­ vismus als theoretische Formen des Anarchismus, (3) den erkenntnistheore­ tischen Anarchismus und schließlich (4) eine „trans-politische Anarchie“ als politische Form vollkommener Vernunfttätigkeit. IV. Anarchie als „ursprüngliche Einstellung“ Die Begründungspflicht, welcher die politische Theorie unterliegt, läßt den Anarchismus als die „ursprüngliche Einstellung“ der Vernunft erschei­ nen. Die „ursprüngliche Einstellung“ ist evident, sie leuchtet jedermann ein. Eine bestimmte, moderne Tradition hat die „Ursprünglichkeit“ des Anar­ chismus als die „natürliche“ Form menschlichen Lebens und Zusammenle­ bens aufgefaßt. Es bestehe eine unmittelbare Beziehung zwischen „Anar­ chie“ und „Natur“. Die „Natur“ des Menschen als anarchisch zu deuten, heißt zunächst, ihn als freies Wesen wahrzunehmen und anzuerkennen. Ursprüngliche menschliche Freiheit macht es erforderlich, jede Herrschaft von Menschen über Menschen, welche ihre Freiheit einschränkt, als etwas Unnatürliches in Frage zu stellen. Freie Menschen wollen sich der Herr­ schaft entziehen. Sie können nur durch Gewalt gezwungen werden, ihre Freiheit aufzugeben. Oder sie können durch eine vernünftige Begründung und Rechtfertigung dazu veranlaßt werden, Regierung zu akzeptieren und sich unter sie zu stellen. Insofern die Begründungspflicht demjenigen ob­ liegt, der einen Herrschaftsanspruch erhebt und damit von der Normalität

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gleicher Freiheit abweicht, ergeben sich Anforderungen an Rationalität und Vernünftigkeit im Bereich der politischen Argumentation. Was aber heißt in diesem Zusammenhang „Natur“? Was bezeichnen Ausdrücke wie „Naturzu­ stand“, „natürliche Einstellung“ oder „natürlicher Standpunkt“? Je nachdem, wie „Natur“ als vermittelndes Moment begriffen wird, stellt sich das Ver­ hältnis zwischen Anarchie und politischer Vernunft unterschiedlich dar. Wir wollen zunächst zwei Möglichkeiten betrachten, die ich als „Überwindung politischer Vernunft durch den Anarchismus“ und als „Kolonisierung der Anarchie durch den Rationalismus“ bezeichne. Der Anarchismus kann sich auf einen anthropologischen Naturalismus stützen. Der Mensch wird in dieser Variante als ein Stück Natur verstanden. Er hat im Laufe der Evolution die intellektuellen Vermögen aus seinen na­ türlichen Instinkten entwickelt und zu seinen spezifischen Lebensformen gefunden. Zwischen Tier und Mensch besteht nur ein gradueller Unterschied der Entwicklungsstufe. Die Entwicklung als solche folgte den einheitlichen Prinzipien einer natürlichen Sozialität. Das herrschaftsfreie Zusammenleben habe sich zwanglos aus dem „sozialen Genie und Instinkt“ des Menschen entwickelt (Peter Kropotkin), aus sozialen Gefühlen wie Wohlwollen und dem Mitleid mit Seinesgleichen (J.-J. Rousseau), aus der natürlichen Ten­ denz zu gegenseitiger Hilfe, aber auch aus dem Bedürfnis nach Unterstüt­ zung. Natürliche Neigung und natürliches Bedürfen motivieren gemeinsam soziales Verhalten. Herrschaftsfreies Zusammenleben entsteht aus ursprüng­ licher Friedfertigkeit, aus dem Bedürfnis freier Menschen nach Selbstorga­ nisation. Politische und ökonomische Organisationsformen, die mit Herr­ schaftsverhältnissen verbunden sind, gelten gegenüber dem naturalistischen Standard als Fehlentwicklungen. Sie werden historisch erklärt, wobei die historische Erklärung zugleich den Aufruf zur Überwindung von unfreiwil­ ligem Zwang enthält. Natürliche Sozialität hat im naturalistischen Anarchis­ mus einen normativen Gehalt, weil sie als das Prinzip der Evolution und der Selektion gilt. Sie wird zur Bedingung der Höherentwicklung von Le­ bewesen. Sie ist damit zugleich die Voraussetzung der Selektionsstufe, die der Mensch errungen hat, und die Grundlage für jeden weiteren Fortschritt. Politische Vernunft hat im naturalistischen Anarchismus keinen Platz. Wer mit Berufung auf politische Vernunft agiere, könne nur versuchen, eine naturfremde und freiheitsbegrenzende Herrschaftsordnung einzusetzen, die mit den Prinzipien natürlicher Sozialität nicht vereinbar wäre. Vom Stand­ punkt eines naturalistischen Anarchismus kann man eine erste Antwort auf die Frage nach der Begründungsfähigkeit politischer Ordnung geben. Ver­ nunft bleibt aus zwei Gründen politisch irrelevant und kann keine Herr­ schaftsordnung rechtfertigen: zum einen, weil dies der „Logik der Natur“ widerspricht, und zum anderen, weil die ursprünglichen und damit normativ maßgeblichen Kräfte Gefühle und Instinkte sind. Der Mensch muß in Kon­



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tinuität mit der Tierwelt verstanden werden. Folglich kann sich natürliche Sozialität auch nur auf solche Vermögen stützen, die Tieren und Menschen gemeinsam sind. Die natürliche Sozialität ist streng genommen unpolitisch und muß in Bedürfnissen und Instinkten, in Emotionen und Trieben, in allgemeinen Tendenzen und Strebungen der Natur gründen. Der naturalistische Anarchismus setzt sich bewußt in einen Gegensatz zu vertragstheoretischen Anarchie-Modellen. Während der naturalistische Anar­ chismus die Natur als Norm sozialer Ordnung begreift, konstruiert der Kontraktualismus einen negativ bewerteten Zusammenhang zwischen Anar­ chie und Natur. Zwar gehen auch kontraktualistische Anarchie-Modelle davon aus, daß der natürliche Zustand des Menschen ein Zustand ursprüng­ licher Freiheit und Gleichheit sei. Aber dieser Zustand sei kein Zustand ohne Zwangsstrukturen. Im Gegenteil, statt der Neigung zu gegenseitiger Hilfe bestimme der Kampf um Leben und Anerkennung die sozialen Bezie­ hungen von Menschen. Das führe zu gefährlichen Machtkonstellationen, zu Zwangs- und Bedrohungsszenarien. Im Kontraktualismus beschreibt nicht die humane, brüderliche Neigung zu gegenseitigem Beistand die Empfin­ dungen der Menschen. Machtstreben, Ehrgeiz und die Angst vor dem ge­ waltsamen Tod sind das Pathos der Vertragstheorie. Der Naturzustand wird im Kontraktualismus mit Bedacht negativ bewertet. Er gilt nicht als das normative Ideal, sondern nur als Prämisse in einer Argumentation, die den Naturzustand durch die Konstruktion eines politischen, von souveräner Ge­ walt durchherrschten Gesellschaftszustandes überwinden soll. Der Naturzu­ stand des Vertragsmodells ist kein Bereich diesseits politischer Vernunft. Jeder Naturzustand ist bereits auf einen erwünschten politischen Zustand hin konstruiert und insofern abhängig von den Strukturen politischer Ratio­ nalität, die das politische Leben ausmachen. In diesem Sinne kolonisiert der Ra­tionalismus die „natürliche“ Anarchie. Der Naturzustand ist durchzogen von natürlichen Rechten und natürlichen Gesetzen, die als Ausdruck einer Herrschaftsbedürftigkeit der Menschen gewertet werden müssen. Sie struk­ turieren den natürlichen Zustand vorab und leiten ihn über in die gewünsch­ te politische Struktur. Insofern ist der Naturzustand vertragstheoretischer Modelle keine Sphäre, die unabhängig von der politischen Rationalität oder ihr gerade entgegengesetzt gedacht werden könnte. Die Natur wird in ihrer Struktur bereits von der menschlichen Machtkultur, von abzuwehrenden Übeln und vom politischen Kalkül her gedacht. Man kann mit dem Blick auf den Kontraktualismus insofern von einer „Kolonisierung der Anarchie durch den Rationalismus“ sprechen.

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V. Positivismus und Konstruktivismus als theoretische Formen des Anarchismus Der naturalistische Anarchismus wendet sich zwar gegen politische Ver­ nunft. Er ist aber nicht schlechthin rationalitätsfeindlich. Am Beispiel Peter Kropotkins läßt sich zeigen, wie sehr sich der naturalistische Anarchismus vom Fortschrittsoptimismus eines naturwissenschaftlich-positivistischen Wissenschaftsverständnisses hat inspirieren lassen. Die Wissenschaft war zwar nicht Ursprung und Quell der anarchistischen Bewegung, aber der naturalistische Anarchismus hat versucht, für sich eine Grundlage in der jeweiligen Naturwissenschaft zu finden, sogar ein Teil von ihr zu werden und sich eine entsprechende theoretische, wissenschaftliche Form und Be­ gründung zu geben. Kropotkin hat dementsprechend alle Dialektik abgelehnt und die induktiv-deduktive Methode als das angemessene Verfahren in den Gesellschafts- bzw. den Humanwissenschaften bezeichnet. „Der Anarchis­ mus ist eine Weltanschauung, die auf einer mechanischen Erklärung der Phänomene beruht, welche die gesamte Natur umfaßt, miteingeschlossen das Leben der Gesellschaften. Seine Methode ist diejenige der Naturwissen­ schaften, bei welcher jede wissenschaftliche Schlußfolgerung verifiziert werden muß. Sein Ziel ist die Schaffung einer synthetischen Philosophie, welche alle Tatsachen der Natur, samt dem Leben der menschlichen Gesell­ schaften und ihren ökonomischen, politischen und sittlichen Problemen“ einschließt (Kropotkin, 1994, 58). Die rationale Struktur des naturalistischen Anarchismus ist demzufolge reflexiv. Als Grund und Quelle des Anarchis­ mus werden die irrationalen Prinzipien der Natur gesetzt. Es wird ferner angenommen, daß die Evolution, die auf diesen irrationalen Prinzipien be­ ruht, im Menschen intellektuelle Fähigkeiten ausbildet, die es ihm erlauben, sich der Zusammenhänge bewußt zu werden und diese mit wissenschaft­ licher Rationalität zu erforschen. Die Wissenschaft bildet eine universale Naturgeschichte aus, welche zur nachträglichen Selbstbegründung des An­ archismus führt. Der kontraktualistische Anarchismus beruht ebenfalls auf einer universell­ en Rationalität. Dies gilt zumindest für seine Gründungsfigur Thomas Hob­ bes. Aufgrund der negativen Konnotation der Natur verfällt der kontraktual­ istische Anarchismus jedoch nicht in eine reflexive Begründungsstruktur. Er setzt an ihre Stelle ein konstruktivistisches Rationalitätsparadigma. Weil der Mensch nur erkennen kann, wovon er selbst die Ursache war, besteht zwis­ chen Mensch und Natur keine Kontinuität (Hobbes, De Homine, 1959, 19). Der Mensch hat die Natur nicht gemacht. So muß er selbst eine „Natur“ konstruieren, was zur Folge hat, daß der Kontraktualismus die „natürliche“ Anarchie nur als logisches Moment in einem Argumentationszusammenhang begreifen kann, nicht aber als ein historisches Faktum. Insofern ist die Anar­



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chie im kontraktualistischen Denken bereits vom Rationalismus kolonisiert. Sie wird als das Ergebnis eines Systems von Axiomen und Definitionen, von Denomina­tionen und Kalkulationen, von Propositionen und verschiedenen Gesetzmäßigkeiten präsentiert. Insofern nach Thomas Hobbes etwas zu wis­ sen für den Menschen immer heißt, zu wissen, wozu man etwas gebrauchen kann, wenn man es hat, kommt zur konstruktivistischen eine pragmatische Komponente hinzu. Was wir konstruieren, konstruieren wir zu einem vorgege­ benen Zweck. Es dient als Mittel zur Macht.

VI. Der erkenntnistheoretische Anarchismus Wenn man Anarchie als „ursprüngliche Einstellung“ betrachtet und ihre rationale Struktur in den Blick nimmt, zeigt sich, daß politische Vernunft als Gegensatz zur Anarchie verstanden wird. Insofern sie als „politische“ Vernunft ins Spiel gebracht wird, als eine auf Herrschaft und Regierung ausgelegte Vernunft, erscheint sie gemäß dem naturalistischen Anarchismus als doktrinär und autoritär. Sie tritt auch gegenüber dem kontraktualistischen Anarchismus als doktrinär auf, insofern sie die „natürliche“ Anarchie nega­ tiv konnotiert und diese in eine rationale Konstruktion einläßt, die darauf angelegt ist, den Anarchismus zu überwinden. Von der ursprünglichen Ein­ stellung des Anarchismus her gedacht läßt sich der Gegensatz zwischen Anarchie und politischer Vernunft nur auflösen, wenn die Vernunft selbst als ein anarchisches Vermögen konzipiert wird. Dies ist die Position des er­ kenntnistheoretischen Anarchismus, die an der Position von Paul Feyer­ abend verdeutlicht werden kann. Der wissenschaftsgläubige politische Anarchismus wirkte auf Paul Feyer­ abend antiquiert. Der politische Anarchismus sei zunächst einmal gegen etwas gerichtet: gegen jede bestehende Ordnung, gegen den Staat, seine Institutionen und Ideologien. Positiv gewendet trete der Anarchismus für Spontaneität ein, für Freiheit, für Gewalt als notwendiges Mittel zur Über­ windung von Hindernissen. Er baue auf ein Vertrauen in die unverfälschte Wissenschaft und identifiziere diese mit „natürlicher Vernunft“. In seinem Vernunftverständnis erweist sich Feyerabend selbst als Szientist, insofern er einem methodologisch fixierten Paradigma verhaftet bleibt. Sein Unmut richtet sich gerade gegen ein solches Paradigma. Ein Vertrauen in die „Wis­ senschaft“ habe sich als naiv und beinahe kindlich erwiesen. Es sei brüchig geworden. „Unschön in ihrer Erscheinung, unzuverlässig in ihren Ergebnis­ sen, ist die Wissenschaft nicht mehr die Verbündete des Anarchisten, son­ dern ist zum Problem geworden. Sollte er sie aufgeben? Oder anwenden? Was soll er mit ihr anfangen? Das ist die Frage. Der erkenntnistheoretische Anarchismus gibt auf diese Frage eine Antwort. Sie entspricht den übrigen

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Thesen des Anarchismus und beseitigt seine letzten Verfestigungen“ (Feyer­ abend, 1976, 262). Der Anarchismus wendet sich im Interesse des Fortschritts und der Stei­ gerung des Glücks gegen Autorität und Zwang, gegen jede Form von Ge­ setzmäßigkeit und Einschränkung der Freiheit. Der erkenntnistheoretische Anarchismus bezieht dies in konsequenter Weise auch auf die Vernunft selbst. Ein Anarchist ähnele einem Geheimagenten, stellte Feyerabend fest, „der das Spiel der Vernunft mitspielt, um die Autorität der Vernunft (der Wahrheit, der Ehrlichkeit, der Gerechtigkeit usw.) zu untergraben“ (Feyer­ abend, 1976, 52). Eine auf Gesetzmäßigkeiten gebaute Wissenschaft als Produkt des Vernunftgebrauchs erscheint nicht als wünschenswert. Der Wert von Wissenschaft sei aus ihrer Funktion für unser Leben zu begründen, so wie sich eine methodologisch konzipierte Wissenschaft in einem moralischpolitischen Rahmen bemessen lassen müsse. Es gehe darum, daß Wissen­ schaft es uns ermögliche, frei und glücklich zu handeln. Der Vernunft-An­ archist legt sich auf keine Position fest, er ist gegen jedes Programm, er ist nicht für oder gegen etwas, sondern verhält sich beliebig, nach wechselnden Launen und Motiven. Er entscheidet sich „zeitweise“ für wechselnde Ziele. „Das einzige, wogegen er sich eindeutig und bedingungslos wendet, sind allgemeine Grundsätze, allgemeine Gesetze, allgemeine Ideen wie ‚die Wahrheit‘, ‚die Vernunft‘, ‚die Gerechtigkeit‘, ‚die Liebe‘ und das von ih­ nen hervorgerufene Verhalten“ (Feyerabend, 1976, 263). Die bedingungslose Wendung gegen alle allgemeinen Grundsätze ist selbst ein Grundsatz. Dies sei dieser einzige Grundsatz, der sich immer und unter allen Umständen vertreten lasse: „Es ist der Grundsatz: Anything goes.“ Sich grundsätzlich gegen alle Grundsätze zu wenden, spricht nicht gegen den Vernunft-Anarchisten, jedenfalls nicht im Sinne logischer Konsi­ stenz. Die interessiert ihn nicht. Der Vernunft-Anarchist ist nicht nur Ge­ heimagent der Feinde der Autorität, er ist zugleich Ideologe und Künstler. Er geht davon aus, daß jede angenommene Gesetzmäßigkeit und Ordnung der Vernunft täuscht. Sie entspräche einer „Sucht nach geistiger Sicherheit in Form von Klarheit, Präzision, ‚Objektivität‘, ‚Wahrheit‘ “, die nur unsere „niedrigen Instinkte zu befriedigen“ in der Lage wäre. Die Vernunft sei der „Sklave der Leidenschaften“. Der Vernunft-Anarchist stelle sich der Ver­ nunft folglich entgegen: „Ohne häufiges Abrücken von der Vernunft kein Fortschritt. Gedanken, die heute geradezu die Grundlage der Wissenschaft bilden, gibt es nur darum, weil es auch solche Dinge wie Vorurteil, Eitel­ keit, Leidenschaft und ähnliches gab; weil sich diese der Vernunft entgegenstellten; und weil man ihnen ihren Lauf ließ. Man muß also schließen, daß auch innerhalb der Wissenschaft der Vernunft keine Alleinherrschaft einge­ räumt werden kann und darf, daß sie oft zugunsten anderer Instanzen über­ spielt oder ausgeschaltet werden muß. Es gibt keine einzige Regel, die



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unter allen Umständen gültig bleibt, und keine einzige Instanz, auf die man sich immer berufen kann. […] Setzt man die Wissenschaft voraus, so kann die Vernunft nicht umfassend sein und die Unvernunft nicht ausgeschlossen werden. […] Und so schließt sich die Vernunft allen jenen abstrakten Ge­ spenstern an, wie Pflicht, Moral, Wahrheit und ihren konkreten Vorgängern, den Göttern, die einst zur Einschüchterung der Menschen und zur Beschrän­ kung ihrer freien und glücklichen Entwicklung dienten; sie stirbt ab …“ (Feyerabend, 1976, 250). „Und meine These ist, daß der Anarchismus zum Fortschritt in jedem Sinne beiträgt, den man sich aussuchen mag“ (Feyerabend, 1976, 44 f.). Feyerabend ging aus vom Fortschritt der Wissenschaft, meinte aber auch die Kultur im Ganzen. Im seinem utilitaristischen Fortschrittsoptimismus gleicht Feyerabends Position derjenigen von Peter Kropotkin. In seinem Wissen­ schaftsverständnis weicht er radikal von diesem ab. Wirklich betriebene Wissenschaft, die nicht im Banne der Methodologie stehe, sei viel „schlam­ piger“ und „irrationaler“ als ihr Positivismus und Konstruktivismus vorma­ chen wollten. „Schlampigkeit“, „Chaos“, „Opportunismus“, „Abweichun­ gen“, „Fehler“ hätten eine wichtige Funktion bei der Entwicklung von Theorien und sie seien damit geradezu „Vorbedingungen des Fortschritts“ (Feyerabend, 1976, 249). Feyerabends Position ist primär eine erkenntnistheoretische. Sie ist gleichwohl relevant für die Frage nach „politischer Vernunft“. Wissenschaft­ licher Vernunftgebrauch hat als solcher eine politische Dimension. Feyera­ bend spricht von „Vertuschungsversuchen“, Verstecken, einer „erkenntnis­ theoretischen Täuschung“ und anderem mehr in der Wissenschaft. Er be­ greift Wissenschaft als einen „Lebenskampf“ von Forschungsprogrammen, die durch gesellschaftlichen oder psychologischen Druck, durch Drohung, Einschüchterung, Täuschung durchgesetzt werden können und gewöhnlich werden. Gewöhnliche Wissenschaft sei ein Produkt von Dezisionismus, Konformismus und Ideologie. Dadurch erweist sich Feyerabend als konse­ quenter Vertreter eines naturalistischen Anarchismus. Sich den Regeln des Lebenskampfes der Wissenschaft zu unterwerfen, kann „vernünftig“ in Anführungszeichen sein, nämlich dann, wenn „vernünftig“ als „anarchisch“ verstanden wird. Der Anarchismus selbst wird dadurch zum Kriterium prak­ tischer Rationalität. Feyerabend selbst stellt der ideologischen Wissenschaft seine Anti-Regel entgegen, der zufolge man Hypothesen aufstellen solle, die wohletablierten Theorien widersprächen. Auf diese Weise führt er seinen „Kampf gegen die ‚Vernunft‘ “ (Feyerabend, 1976, 277).

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VII. „Trans-politische Anarchie“ als Folge vollkommener Vernunfttätigkeit Kehren wir noch einmal zur Anarchie als „ursprünglicher Einstellung“ und zu ihrem Verhältnis zum Begriff der Natur zurück. Der naturalistische und der kontraktualistische Anarchismus gehen beide davon aus, daß Anar­ chie der „natürliche“ Zustand wäre. Sie bewerten die Anarchie nur unter­ schiedlich. Beide Modelle sehen sich von einem Ansatz herausgefordert, dem die Auffassung zugrunde liegt, daß die menschliche Natur nicht anar­ chisch, sondern selbst schon politisch verfaßt ist (Platon, Rep. VIII, 558 c 4, 560 e 2 ff.; Ep. VIII 354 d; Hermokrates bei Thukydides VI 72, 4; Aristoteles, Pol. 1302 b 29, 31, 1319 b 28). „Natur“ ist in diesem Fall ein Ausdruck der Unterscheidung. Unterschieden werden die verschiedenen Naturen unterschiedlicher Lebewesen. Eine durchgehende Kontinuität zwi­ schen „niederen“ und „höheren“ Lebewesen besteht nicht. Die Anarchie soll dadurch überwunden werden, daß sie als nicht-menschliche Lebensweise gekennzeichnet wird. Wie oben dargelegt verbinden solche Positionen die politische Qualität des Menschen mit seiner Vernunftbegabung. Der Gegen­ satz zwischen Anarchie und politischer Vernunft wird indessen hier beson­ ders deutlich, weil die Vernunft das Politische konstituiert und folglich die Anarchie als das Unpolitische, das Vor- oder das Antipolitische begriffen wird. Insofern kann in diesem Fall von der Negation der Anarchie durch politische Vernunft gesprochen werden. Wer außerhalb des Politischen und seiner Vernünftigkeit steht, ist entweder ein Tier oder ein Gott (Aristoteles, Histor. animalium 488 a 11, 13, 553 b 17). In diesem Fall wäre die Anar­ chie nicht nur das Unvernünftige, sondern zugleich das Unnatürliche. Die Negation der Anarchie durch die Verbindung von wirklicher Vernünf­ tigkeit und politischer Natur des Menschen führt paradoxerweise zu einer erneuten Position der Anarchie. Dabei handelt es sich um eine trans-poli­ tische Form von Anarchie, die in den Begriffen von Autonomie und Selbst­ beherrschung das Politische mit dem Anarchischen verschmilzt. Vernunft und Anarchie sind dann kongruent, wenn auf Grund einer vollkommenen vernünftigen Selbstbeherrschung die Notwendigkeit von Herrschaft über Menschen entfällt. Dies ist das Modell der Anarchie als Autonomie und der selbstlosen Moralität. Ein vernünftiger Mensch bedarf keiner äußerlichen Autorität, keiner Gebote und Imperative, weil er die Ordnung der Vernunft als autoritative Ordnung seines Handelns akzeptiert und diese allgemein als gut akzeptiert wird. Das ist beispielsweise ein zentrales Merkmal der aristo­ telischen Auffassung von der Monarchie. Wenn einer oder einige alle ande­ ren an Tugend und politischem Können so sehr überragen, daß die Tugend aller anderen zusammengenommen nicht an die ihre heranreiche, dann dürfe man diese „nicht mehr als Teil des Staates einordnen. Es würde ihnen



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ja Unrecht angetan, wenn ihnen nur der gleiche Rang eingeräumt wird, während sie doch in einem solchen Maße durch ihre Qualität und ihre po­ litische Fähigkeit herausragen. Denn ein solcher Mann müßte ja wie ein Gott unter Menschen sein“ (Aristoteles, Politik 1284 a 4–15, vgl. 1288 a 15–29; vgl. Platon, Rep. 590 d). Bei Immanuel Kant ist es das Motiv des „heiligen Willens“. Für einen „heiligen Willen“ gebe es keine Imperative: „das Sollen ist hier am unrechten Orte“, schrieb Kant 1785 in der „Grund­ legung zur Metaphysik der Sitten“, „weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz notwendig einstimmig ist“ (Kant, GMS BA 39 = 1968, 43). Ein „heiliger, schlechterdings guter Wille“ wäre ein Wille, „dessen Maximen notwendig mit den Gesetzen der Autonomie zusammenstimmen“ (Kant, GMS BA 86 = 1968, 74). Heiligkeit wäre nach Auskunft der „Kritik der praktischen Vernunft“ die „völlige Angemessenheit des Willens […] zum moralischen Gesetze.“ „Heiligkeit“ wäre eine trans-politische und transzen­ dente Vollkommenheit, „deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkte seines Daseins; fähig ist“ (Kant, KpV A 220 = 1968, 252). Transzendenz macht politische Vernunft indessen nicht überflüssig, im Gegenteil: Vollkommenheit der Vernunfttätigkeit ist für Kant ein praktischnotwendiges Erfordernis, das einen Prozeß kontinuierlicher Annäherung an das Menschenmögliche in Gang setzt und damit ein zunehmend realisiertes Maß an Autonomie. John Rawls hat in dem Kantischen Konstruktivismus seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ eben dieses Motiv aufgegriffen, und zwar anläßlich der Behandlung der grundsatzorientierten, selbstlosen Mora­ lität. „Die selbstlose Moralität hat zwei Seiten, je nach der Richtung, in der über die Forderungen der grundsatzorientierten Moralität freiwillig hinaus­ gegangen wird. Einmal zeigt sich die Menschenliebe darin, daß man das Gemeinwohl auf Weisen fördert, die wesentlich über die natürlichen Pflich­ ten und Verpflichtungen hinausgehen. Das ist keine Moralität für gewöhn­ liche Menschen, und ihre kennzeichnenden Tugenden sind Alt­ruismus, er­ höhte Aufgeschlossenheit gegenüber den Empfindungen und Bedürfnissen anderer sowie eine angemessene Bescheidenheit und Selbstlosigkeit. […] Die selbstlosen Moralitäten, die des Heiligen und des Helden, widerspre­ chen also nicht den Normen des Rechten und der Gerechtigkeit; sie zeich­ nen sich aus durch die freiwillige Übernahme von Zielen, die mit diesen Grundsätzen im Einklang stehen, aber über das von ihnen verlangte hinaus­ gehen“ (Rawls, 1975, § 72 Ende, 520 f.). Die Verwendung des Motivs bei Rawls zeigt, daß auch in modernen Konzeptionen des politischen Liberalis­ mus Spielraum für trans-politische Vernünftigkeit bleiben kann, die das Politische aber nicht negiert. Die natürliche Ungleichheit von Menschen führt zu einer Gleichzeitigkeit von dem Bedürfnis nach politischer Ordnung und der Verwirklichung von Autonomie. Diese Form von Anarchie als ver­

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nünftiger Selbstbeherrschung ist nicht unpolitisch, vor- oder antipolitisch, sondern trans-politisch. VIII. Rationalität des Anarchismus und politische Vernunft Die Selbstbegründung politischer Vernunft vollzieht sich in Auseinander­ setzung mit der Rationalität des Anarchismus in einem Fächer von rele­ vanten Momenten. Sie betreffen unter anderem die anthropologischen Vo­ raussetzungen, die erkenntnistheoretischen Bedingungen und die sachhal­ tigen Fragen. Zu den anthropologischen Voraussetzungen gehören beispielsweise die Aufkündigung der Gattungssolidarität durch Stirners egoistischen RadikalAnarchismus. Dieser wird allerdings schon durch andere Formen des natu­ ralistischen Anarchismus konterkariert, die von einer instinktgesteuerten Soziabilität der Menschen ausgehen. Der naturalistische Anarchismus ist sich demnach historisch selbst uneins in anthropologischen Grundfragen und kommt gleichwohl zu dem einhelligen Ergebnis, daß Vernunft weder gattungs- noch ordnungsbildend ist. Wenn dem Menschen keine eigene Natur gegenüber den Naturen anderer Lebewesen zukommen und wenn zugleich die Behauptung des kollektivistischen Anarchismus Kropotkins gelten würde, daß die Natur irrationalen Prinzipien und Kräften unterliegt, dann wäre Vernunft nur ein sekundäres Phänomen ohne politische Qualität. Die Selbstbegründung politischer Vernunft wurzelt in der doppelten Funkti­ on der Vernunft, Lebewesen als politische zu konstituieren und sie gerade dadurch als Gattung zu bestimmen. Die klassische politische Philosophie hat ein breites Repertoire von Beobachtungen und Argumenten zugunsten dieses Zusammenhangs erarbeitet. Gegenüber dem kontraktualistischen Anarchismus und seiner skeptischkonstruktivistischen Rationalität wäre darzulegen, daß Menschen etwas von der gegebenen Natur verstehen und über sie etwas Wahres, zumindest in dem Sinne von etwas Richtigem, aussagen können. Diese Aufgabenstellung eröff­ net politischer Vernunft eine erkenntnistheoretische Dimension. Der erkennt­ nistheoretische Anarchismus hat demgegenüber die erkenntnistheoretische Aufgabenstellung erweitert. Ein radikaler Anarchismus, der sich selbst ernst nimmt, lehnt autoritäre Strukturen im Denken ebenso ab wie autoritäres Ver­ halten im Zusammenleben der Menschen. Das aber würde letztlich zu Stirners Modell zurückführen. Der erkenntnistheoretische Anarchismus bleibt indes­ sen einem methodologisch fixierten Szientismus verhaftet. Für politische Ver­ nunft ergibt sich daraus das Erfordernis, sowohl gegenüber der Position wie gegenüber der Negation des Szientismus die Hermeneutik als ihr angemes­ senes Medium zu etablieren. Zusammengenommen ergibt sich für politische



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Vernunft die Aufgabe einer Hermeneutik des menschlichen Wissens und des politischen Handelns. Damit wären aber nur die Voraussetzungen für die poli­ tischen Sachfragen, die Ordnungs- und Regierungsproblematik gegeben, die die objektive Dimension politischer Vernunft beschreiben. Die politische Qualität der Vernunft ergibt sich unter anderem daraus, daß sie eine Vernunft für den Umgang von Menschen mit Menschen ist. Ihre Struktur ist dialogisch. Der Gebrauch politischer Vernunft macht nur als öffentlicher Vernunftgebrauch Sinn. Öffentlicher Vernunftgebrauch, der sich an alle wendet, bedeutet Vernunfttätigkeit in einem politischen Raum und in einem politischen Modus. Dem trans-politischen Anarchismus, der die Position der Vernunft akzeptiert und diese von der empirischen Wirklichkeit der Vernunft abhebt, wird eine Einbindung in das gesellschaftlich-politische Ganze abverlangt. Mit dem Blick auf ihre verschiedenen Dimensionen kann die Vernunft ihren politischen Modus nicht durch eine Einschränkung der Gegenstände, der Bezugsgrößen und der angesprochenen Personen herstel­ len. Politische Vernunft ist ebenso demokratisch wie anspruchsvoll. Sie schließt nichts aus und spricht alle an. Aus der anspruchsvollen Perspektive der politischen Vernunft betrachtet stimmt der Anarchismus melancholisch. Stirner erkauft die Schöpferkraft des Eigenen um den Preis der Einsamkeit. Die Freiheit des Ich schlägt um in Isolation. Wer die Welt als souveräne Schöpfung seines Willens und seiner Vorstellung begreift, trennt sich von allem. Der Wille schwankt von Augenblick zu Augenblick. Ob der Grund trägt, ist zweifelhaft: „Stell ich auf mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt, und ich darf sa­ gen: Ich hab’ meine Sach’ auf Nichts gestellt“ (Stirner, 1927, 336). Literatur Arendt, Hannah (1994): Über die Revolution. 4. Auflage der Neuausgabe 1974. München; Zürich: Piper, 1994. (Serie Piper). Aristoteles: Politik. Übersetzt und eingeleitet von Eckhart Schütrumpf. Erläutert von Eckart Schütrumpf und Hans-Joachim Gehrke. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1991–2005. (Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung; Band 9 Teil I–IV). Burke, Edmund / Gentz, Friedrich (1991): Über die Französische Revolution: Be­ trachtungen und Abhandlungen. Herausgegeben und mit einem Anhang versehen von Hermann Klenner. Berlin: Akademie Verlag, 1991. (Philosophische Texte). Donoso Cortés, Juan (1948): Drei Reden: Über die Diktatur. Über Europa. Über die Lage Spaniens. Übertragen von Johannes Langenegger. Zürich: Thomas Verlag, 1948.

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Feyerabend, Paul (1976): Wider den Methodenzwang: Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie. Viertes bis sechstes Tausend. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976. Hitler, Adolf (1939): Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. Ungekürzte Aus­ gabe. 509.–513. Auflage. München: Zentralverlag der NSDAP. Frz. Eher Nachf., 1939. Hobbes, Thomas (1959): Vom Menschen. Vom Bürger (Elemente der Philosophie II/ III). Eingeleitet und herausgegeben von Günter Gablick. Hamburg: Verlag Felix Meiner, 1959. Kant, Immanuel (1968): Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie. Erster Teil. Werke in zehn Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Band 6. Darm­ stadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1968. Kropotkin, Peter (1994): Der Anarchismus: Ursprung, Ideal und Philosophie (= Mo­ derne Wissenschaft und Anarchismus 1904, 1913). Neu übersetzt, eingeleitet und herausgegeben von Heinz Hug. 2. Auflage dieser Neuübersetzung aus dem Fran­ zösischen von Heinz Hug. Grafenau / Württ.: Trotzdem Verlag, 1994. Lösche, Peter (1986): Anarchismus. In: Fetscher, Iring; Münkler, Herfried (Hrsg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen. Band 4: Neuzeit: Von der Französischen Revolution bis zum europäischen Nationalismus. München: R. Piper, 1986, S. 415–447. Marx, Karl / Engels, Friedrich (1972): Manifest der Kommunistischen Partei: In dies.: Werke, Band 4, Berlin: Dietz Verlag, 1972, S. 461–493. Moeller van den Bruck (1931): Das dritte Reich. Herausgegeben von Hans Schwarz. 3. Auflage. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt, 1931. Rawls, John (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Übersetzt von Hermann Vetter. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1975. Stein, Lorenz von (1959): Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage. In drei Bänden. Hildesheim: Georg Olms Buchhand­ lung, 1959. Stirner, Max (Joh. Caspar Schmidt) (1927): Der Einzige und sein Eigentum. Leip­ zig: Zenith-Verlag / Erich Stolpe, 1927.

Der politische Verrat Von der Dreyfus-Affäre bis Wikileaks Von Friedrich Pohlmann Ende des Jahres 2010 beherrschte wochenlang die Affäre um die Inter­ netplattform „Wikileaks“ die politischen Schlagzeilen und die Debatten im Feuilleton. Wikileaks verficht eine Ideologie der totalen politischen Trans­ parenz, eine Utopie der Weltverbesserung durch Publikation tendenziell aller politisch relevanten Daten im „Netz“, im ortlosen Raum des Internet. Wenn politische Geheimnisse, so Wikileaks, obsolet würden, verschwände der Schmutz aus der Politik und der Begriff des Verrats werde gegenstandslos. Auf dem Weg ins Endreich der total aufgeklärten Weltnetzbürgergesellschaft erscheint so der Verrat als ein moralisch hochstehendes Tun, dem Wikileaks, als Agentur der Wahrheit, eine Publikationsplattform zur Verfügung stellt, was – im Gegensatz zum Verrat selbst – nicht rechtswidrig ist. Diese Platt­ form ist Teil einer global intelligent verzahnten Netzwerk-Infrastruktur, die nicht nur ermöglicht, daß die Identität der undichten Stelle in der Sphäre des staatlichen Geheimnisses, des „leak“, des Verräters also, selbst gegen­ über Wikileaks verborgen bleiben kann, sondern auch, daß das Verratene kaum mehr durch Gegenangriffe der geschädigten politischen Akteure aus dem Netz entfernt werden kann. Nichts hilft ihnen, kein Lügen, Abstreiten, Schönreden, – der von ihnen produzierte Schmutz verharrt als eine gleich­ sam immobile Realität in der Virtualität, als ewiger Anstoß einer Empörung, die die Politik mehr und mehr auf die Bahn des Anstandes und der Mensch­ lichkeit zwingen wird. Das jedenfalls glauben oder hoffen die Aktivisten von Wikileaks. Tatsächlich ist, was sie bisher veröffentlicht haben, brisant. Selbst der Tratsch aus den sogenannten Hinterzimmern der Macht, auf den sich die Öffentlichkeit mit Spott und Häme stürzte, kann politische Folgen haben, die weit über die Peinlichkeiten für die unmittelbar Betroffenen hi­ nausgehen. Zwar weiß jeder – und an erster Stelle die Politiker selber –, von der Existenz derartiger „Hinterzimmer“ und der Differenz des dort Üblichen zu den Erwartungen auf der Vorderbühne diplomatischen Rollen­ handelns, aber daß dessen Publikation im politischen Machtkampf zu einer scharfen Waffe werden und politisch existenzgefährdende Image- und Glaubwürdigkeitsverluste nach sich ziehen kann, ist evident. Eine Waffe ungleich größeren Kalibers freilich stellten die Veröffentlichungen von De­

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tails und Interna vom irakischen und afghanischen Kriegsschauplatz durch Wikileaks dar. Sie bewirken die Erosion von Fundamenten des Glaubens an die Legitimität dieses Krieges, schmälern also Unterstützungspotentiale mit militärisch möglicherweise großer Relevanz – eine Wirkung, die man begrü­ ßen mag und die als Korrektiv einer vielleicht verfehlten Politik fungieren kann. Aber daß man sich dadurch Feindschaften zuzieht, verwundert nicht. Von den Reaktionen auf die Wikileaks Affäre seien nur die zwei kon­ trären Extremtypen erwähnt. Da war zum einen der lautstarke Chor der Wikileaks-Unterstützer, Internet-Enthusiasten jüngeren Alters zumeist, die die Affäre eher wie ein sportliches Event nahmen und die Meinung vertra­ ten, daß – so der Titel eines langen Beitrags in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – „das Zeitalter staatlicher Geheimnisse vorbei (sei)“. Staatsge­ heimnisse stünden im Widerspruch zum Postulat moderner Aufklärung und könnten unter Bedingungen der modernen Digitalisierung sowieso kaum mehr effektiv geschützt werden. Den Gegenpol bildeten Stimmen, die wie ein anachronistischer Nachhall aus der archaischen Phase moderner Natio­ nalstaatlichkeit wirkten. Einflußreiche ältere amerikanische Politiker brand­ markten Assange als „kriegführende Partei“ und „Informationsterroristen“ und forderten mit Berufung auf ein Spionagegesetz von 1917 seine Hinrich­ tung. Wie aber ist die Wikileaks Affäre im Rahmen einer Typologie des Phänomens des politischen Verrats angemessen zu verorten? Was ist das Neue an diesem Fall? Fast zeitgleich mit den Debatten um Wikileaks wurde bekannt, daß Oskar Pastior, der feinsinnige rumäniendeutsche Lyriker und enge Vertraute der Nobelpreisträgerin Herta Müller in den sechziger Jahren der rumänischen Geheimpolizei „Securitate“ Zuträgerdienste geleistet hat. Über Neubewer­ tungen des Menschen und seiner Lyrik wurde spekuliert. Spricht aus ihrer verrätselnden Artifizialität die Sehnsucht nach einer Flucht aus der verächt­ lichen eigenen Alltagsrealität? War es diese dunkle Seite der eigenen Ver­ gangenheit, die ihn als Menschen so scheu gemacht hat? Haben Pastiors Denunziationen das Leben anderer stark beschädigt? Haben sie womöglich den Selbstmord eines seiner Bekannten ausgelöst? Wie geriet Pastior ins Netz der „Securitate“? Spielte dabei auch die Erpreßbarkeit durch seine Homosexualität eine Rolle? Rumäniendeutsche Stimmen wurden hörbar, so verbittert, daß man spürte, daß der Zusammenhang von Terror, Angst und gegenseitigem Verrat bis in den engsten Freundeskreis im Ceaucescu-Re­ gime der sechziger Jahre, den Eginald Schlatterer in seinem Roman „Rote Handschuhe“ eindringlich beschrieben hat, Wunden hinterlassen hat, die niemals vernarben werden. Wem aber sind heute noch die politischen, ge­ sellschaftlichen und autobiographischen Kontexte, in denen Oskar Pastior damals lebte, emotional zugänglich? Die Folgen etwa seiner Verschleppung durch die Rote Armee im Jahre 1945 in ein Arbeitslager ins Innere der



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Sowjetunion – ein Schicksal, das er mit 70.000 anderen Rumäniendeutschen teilte –, in dem viele elend zugrundegingen? Der politische Verrat1 ist ein Sonderfall im allgemeineren Phänomen des Verrats, zu dem auch der Liebesverrat2 gehört – die wahrscheinlich häu­ figste Verratsform in der Gegenwart – oder der Verrat betrieblicher Geheim­ nisse, der vielfach ein kriminelles Delikt ist. Aber auch als Sonderfall eines allgemeineren Falles hat der politische Verrat, das lassen bereits unsere zwei anfänglichen Beispiele erahnen, viele Gesichter. Erschwerend kommt für die Analyse hinzu, daß manche dieser Gesichter in der historischen Wirklichkeit ineinander schillern und sich miteinander verbinden können, der Hoch- mit dem Landesverrat, die Kollaboration mit der Denunziation, und daß kaum ein Begriff sosehr der politischen Willkür und den wechselnden Schicksalen von Machtverhältnissen unterworfen war, wie der des politischen Verrats. In der Geschichte der Diktaturen des 20. Jahrhunderts wurde der Hochverrat zu einem puren Gesinnungsdelikt ausgeweitet und eine abfällige Äußerung über den Machthaber zu einem todeswürdigen Verbrechen. Solch absurder Willkür zum Trotz, bleiben die Bewertungen des Verrats ein manchmal heikles Unterfangen, und es werden aus der Retrospektive Eindeutigkeiten suggeriert, die für die Akteure selbst nicht bestanden. Für uns sind die Ver­ schwörer des 20. Juli Helden. Aber Klaus Graf Schenk von Stauffenberg hat sich expressis verbis auch als „Hochverräter“ gesehen, mit der ganzen Last der negativen Konnotation des Wortes. Für uns mag sich Stauffenberg be­ züglich des Verratsbegriffs getäuscht haben. Aber für ihn fungierte er als Bestandteil eines Selbstverständnisses, dem wir nicht die tragische Dimen­ sion absprechen dürfen. Bevor wir genauer den einzelnen Formen des Verrats in der jüngeren Geschichte nachgehen können, müssen in einem vorbereitenden Schritt die Komponenten des Begriffs schärfer in den Blick genommen werden. Was sind seine Grundmerkmale? Wie variieren sie in den einzelnen Formen? Fünf Aspekte werden angesprochen: die Figuration der Beteiligten; der 1  Zum politischen Verrat vgl. an erster Stelle noch immer Margret Boveris vier­ bändiges Werk „Der Verrat im zwanzigsten Jahrhundert“, Bd. 1 und 2 Hamburg 1956, Bd. 3 1957 und Bd. 4 1960. Das Werk verfolgt den politischen Verrat bis in die Hochphase des „Kalten Krieges“ und zeichnet sich durch seinen Willen zu einem umfassenden Verstehen der Motive der Verräter aus, weist aber in seiner ­theoretischen Konzeption viele Schwächen auf. Bernhard Schlink, Der Verrat, in: Michael Schröter (Hg.), Der willkommene Verrat, Göttingen 2007, hat zu einer be­ grifflichen Präzisierung des Verratsbegriffs beigetragen. Zu neuen Einsichten in den politischen Verrat im zwanzigsten Jahrhundert und vor allem seiner Behandlung in Literatur und Film verhilft: Eva Horn, Der geheime Krieg, Frankfurt a. M. 2007. 2  Zum Liebesverrat in der Literatur vgl. die außergewöhnliche Deutung von Peter von Matt, Liebesverrat, München / Wien 1989.

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Loyalitäts- und Feindaspekt; das Motiv für den Verrat; und das Geheimwis­ sen, das der Verrat verrät. Allen Einzelformen des Verrats gemeinsam ist eine dreipolige Grund­ struktur, das Verhältnis zwischen dem Verräter, dem Verratenen und einem interessierten Dritten, dem Nutznießer des Verrats.3 Dabei versteht sich von selbst, daß keiner dieser Pole sich auf Einzelpersonen zu beschränken braucht, Verräter, Verratene und Nutznießer können genausogut Organisa­ tionen und Institutionen mit sehr unterschiedlichem Komplexitätsgrad sein, politische Parteien beispielsweise oder Staaten. Konstitutiv für den allge­ meinen Begriff des Verrats ist die Unterstellung eines Treue- oder Loyali­ tätsverhältnisses zwischen Verräter und Verratenem, dessen Bruch den Verrat markiert. Aber nur für den politischen Verrat gilt die Annahme eines dem Verrat vorgelagerten Verhältnisses der Gegner- oder Feindschaft zwischen dem Verratenen und dem interessierten Dritten: Ohne den Begriff des feind­ lichen Dritten bleibt der politische Verrat undefinierbar, Loyalität und Feindschaft bezeichnen die Gegenpole, deren jeweils spezifische Struktur dem politischen Verrat sein jeweils spezifisches Gepräge einschreibt. Das impliziert, daß scharf ausgeprägte Freund-Feind-Polaritäten – man denke an die Ära nationalistischer Nationalstaatlichkeit oder die ideologischen Feind­ schaften im „Zeitalter des Totalitarismus“ – die politisch-existenzielle Bürde der Verratsthematik anwachsen lassen, während umgekehrt generelle Ab­ schwächungen von Feinddefinitionen und Loyalitätsbindungen bei einem gleichzeitigen Wachstum möglicher Zugehörigkeiten des Einzelnen – also jene Entwicklung, die als ein Kennzeichen der Postmoderne die letzten Jahrzehnte charakterisierte – ihre Entdramatisierung zur Folge hat, eine tendenzielle Auflösung der tragischen Dimension, die ihr früher nicht selten anhaftete. Wenn harmonisierende Weltbilder den Begriff des politischen Feindes im Nebelhaften verschwinden lassen und politische Zugehörigkeiten leicht kündbar werden, dann bekommt auch der politische Verrat, wie im Fall Wikileaks, einen ins Spielerisch-Unernste changierenden Touch. Wer genau ist hier der „interessierte Dritte“, wer der Feind? Der Bruch eines Loyalitätsverhältnisses ist nicht in jedem Fall Verrat. Die offene Aufkündigung der Loyalität schafft klare Verhältnisse und zeigt dem anderen, womit er rechnen kann. Deshalb ist auch der Renegat, der mit seinem Glauben gebrochen hat und diesen Bruch öffentlich rechtfertigt, kein Verräter. Verrat ist nur der Bruch jener Loyalität, deren Geltung der Verra­ tene mit guten Gründen unterstellen konnte. Der Verräter hat ihm dazu Anlaß gegeben. Er hat Treue simuliert, wo er Treue brach. Er hat sich verstellt, sich als Freund maskiert, dem man vertraute. Aber hinter der Mas­ ke verbarg sich der Feind. Es ist dieses Falschspiel des Verräters, das den 3  Vgl.

hierzu genauer: Schlink, Verrat, S. 14 ff.



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abgründigen Haß motiviert, der ihm oft nach der Aufdeckung des Verrats entgegenschlägt, ein Falschspiel, das ihn auch dem Dritten, dem Nutznießer, oft suspekt macht. Der Verräter hat nicht nur jenes profane Vertrauen gebro­ chen, das man allüberall im sozialen Verkehr ungeprüft voraussetzt, sondern er hat Nähe und Freundschaft vorgetäuscht, damit man ihm besonders ver­ traut. Und dann hat er den anderen preisgegeben, an dessen Feind. Die Motive für den Verrat lassen sich zu vier Grundtypen bündeln. Das ein­ deutigste, das als das verächtlichste gilt, ist der Verrat nur des Geldes, des sprichwörtlichen „Judaslohns“, der „dreißig Silberlinge“ wegen, während der zweite Grundtypus, die psychologische Motivierung, ein Spektrum ganz di­ vergenter Einzelfälle umfassen kann, von der puren Bosheit über den Genuss des Gefühls eigener Macht über den Verratenen bis hin zur Inten­tion, das Band einer unerträglich gewordenen psychischen Nähe mittels der extremsten Form der Distanzierung sprich: durch Verrat zu zerschneiden. Zentral im zwanzigsten Jahrhundert war das ideologische Motiv: Das Wachstum der ­ideologischen Nähe zum Dritten lockerte Loyalitätsgefühle und machte zum Verrat bereit, für den der Dritte oft auch als Anstifter fungierte; und schließ­ lich, viertens, das moralisch-ethische Motiv, die vom Gewissen diktierte Un­ vereinbarkeit einer weiteren Loyalität wegen der sich immer deutlicher offen­ barenden verbrecherischen Natur des Regimes, ein Motiv, das in der Tragödie der Verschwörung des 20. Juli unauflöslich mit dem Patriotismus verknüpft war, der Vaterlandsliebe. Es versteht sich von selbst, daß nur in den beiden letzten Motivtypen dem Verrat eine tragische Dimension anwachsen kann, die entsteht, wenn einander ausschließende Loyalitäten aufeinanderstoßen und dem Konflikt nicht ausgewichen werden kann. Das Loyalitätsverhältnis als Kern der Verratsproblematik hat vielfältige Schattierungen, und manchmal ist sogar schwer bestimmbar, ob ein solches Verhältnis überhaupt unterstellt werden darf, das allein die Rede vom Verrat rechtfertigt. Einige Stichpunkte: Überall wird ganz selbstverständlich von der Geltung einer besonderen Loyalität gegenüber familialen Angehörigen und Freunden ausgegangen, deren Verletzung in Diktaturen – besonders wenn es nur um Gesinnungen geht – eine der verächtlichsten Formen der Denunzia­ tion ist. Worin unterscheiden sich derartige Loyalitätsbande von der Loyalität zum unbekannten Mitbürger? Wann kann diese unterstellt werden und wann nicht? Manchmal, zum Beispiel bei der Verratsform der Kollaboration, gibt es einen großen Graubereich, für den eine willkürfreie Definition des Loyalitäts­ bruchs prinzipiell unmöglich ist. Kollaboration findet unter den Bedingungen des besetzten Landes aber auch beispielsweise im Gefangenenlager statt. Die oktroyierte Ordnung des siegreichen Feindes wird abgelehnt und bekämpft, aber gewisse Grundregeln müssen eingehalten werden, eine gewisse Koope­ ration mit ihm muß schon aus eigenen Interessen statthaben. Wer aber „zu viel“ kooperiert, bricht das Loyalitätsverhältnis zu seinen mitunterdrückten

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Mitbürgern, weil er der verhaßten Feindordnung Legitimität verschafft. Wo aber beginnt das „zu viel“? Wer definiert es? Die Definitionen im nachhinein, nach der Vertreibung des Okkupanten – und diese sind der historische Nor­ malfall – sind immer auch von vielfältigen Rache- und Selbstrechtfertigungs­ motiven mitbestimmt. In der Zeit des Triumphes triumphiert auch die nied­ rigste Bösartigkeit gegen eigene Mitbürger. Es wird „abgerechnet“, und nicht nur mit zweifelsfrei definierbaren Verrätern. Beim Landes- und besonders beim Hochverrat stellt sich das Loyalitätsproblem von vornherein anders als bei der Denunziation und der Kollaboration. Denn das Loyalitätsverhältnis, das der Denunziant oder Kollaborateur bricht, basiert auf Reziprozität, wäh­ rend dem Loyalitätsverhältnis zwischen Bürger und Staat ein asymetrisches Gepräge eignet: den Pflichten des Bürgers dem Staate oder der Herrscherper­ son gegenüber entsprechen keine gleichgewichtigen Verpflichtungen der letz­ teren ihm gegenüber. Kann also nur der Bürger dem Staate und seinen Reprä­ sentanten, diese aber nicht ihm gegenüber zum Verräter werden? Im National­ sozialismus wurde die Einseitigkeit auf die Spitze getrieben. Gefordert wurde eine verschärfte Form der Loyalität, die Treue, und zwar nicht nur dem ­abstrakten Gebilde „Staat“, sondern einer Person, dem „Führer“ gegenüber, die durch einen Schwur zu bekräftigen war. Die Verschwörer des 20. Juli, von denen manche ursprünglich Gesinnungsanhänger des Nationalsozialismus ge­ wesen waren, rechtfertigten vor sich den Bruch ihres Treuschwurs mit dem Verrat Hitlers an Deutschland. Wann aber hatte der begonnen und worin be­ stand er genau? Eine zentrale Komponente der Thematik des politischen Verrats muß noch gesondert angesprochen werden, jene, die die Grundbedingung der Möglichkeit des Landesverrats ist: das Staatsgeheimnis. Der Verrat von Staatsgeheimnissen an eine fremde Macht ist das einzige unzweideutige Kriterium für den Landesverrat, für ein Delikt, das in einigen Phasen des zwanzigsten Jahrhunderts – und nicht nur in den Diktaturen – mit grotesker Willkür ausgeweitet wurde. Umfang und Definition von Staatsgeheimnissen differieren je nach politischem Systemtyp stark, schließen aber immer einen Bezug auf drei Kernsphären staatlicher Macht ein. Sie sind zum einen un­ erläßliche Vorbedingungen und Garanten interner staatlicher Ordnungsfunk­ tionen und als solche defensiver Natur. Nur die Geheimhaltung bestimmter Wissensbereiche schützt vor Terrorismus und Sabotage, nur sie gewährleistet jene soziale Berechenbarkeit, die erst im Momente ihrer Störung den Cha­ rakter des Selbstverständlichen verliert. Die Prävention derartiger Störungen ist die Funktion dieses Geheimnistyps, dessen prinzipielle Berechtigung außer Frage steht. In Frage steht nur ein „Zuviel“ oder „Zuwenig“. Zweiter Bereich des Staatgeheimnisses ist militärisches Wissen, das gleichermaßen defensiven wie agressiven staatlichen Zielen dienstbar gemacht werden kann. Der dritte Bereich des Staatsgeheimnisses schließlich ist der – auch



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in den westlichen Demokratien – eigentlich prekäre, ein tendenziell rechts­ freier Raum mit unsicheren Übergängen zum politischen Verbrechen.4 Das ist jene Hinterbühne staatlicher Macht, auf der beispielsweise die verdeckten Aktionen der Geheimdienste – man denke an CIA und Mossad – mit ihren Eingriffen in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten spielen, der Be­ reich illegaler Polizeistrategien oder der staatlich gewollten politischen Korruption, kurz: die Sphäre eines auf Dauer gestellten Ausnahmezustandes mit tendenziell suspendierter Rechtsordnung und rechtsfreier Gewalt, des verdeckten latenten Krieges. Das moderne Staatsgeheimnis hat auch in den westlichen Demokratien ein Doppelgesicht, es ist schutzwürdiges Gut, ragt aber zugleich in die Sphäre des Verbrechens hinein. Dem „aufklärenden“ Verrat dessen, was in letzterer passiert, wird man in vielen Fällen die mo­ ralische Dignität kaum absprechen können, auch wenn er Ansehen und Glaubwürdigkeit eines Staates beschädigt und von feindlichen Dritten pro­ pagandistisch ausgenutzt werden wird. In der westlichen Moderne hat sich gegen das Staatsgeheimnis ein prinzipieller Verdacht formiert, der sich aus zwei Quellen speist: aus seinem unaufhebbaren Spannungsverhältnis zu den Parolen von Öffentlichkeit und Partizipation, mit denen das Bürgertum einst gegen die Arkanpraxis des absolutistischen Staates zu Felde gezogen ist und die konstitutive Bestandteile liberaler Bürgerlichkeit geblieben sind; und aus seiner Doppelnatur aus funktionaler Notwendigkeit und Verbrechen. Diese Quellen sorgen dafür, daß immer wieder, solange es noch liberale Bürger­ lichkeit gibt, auch jene ideologischen Übertreibungen entstehen werden, die Wikileaks verkörpert: der Ruf nach totaler Transparenz, gänzlicher Abschaf­ fung des Staatsgeheimnisses. Daß wir die Besprechung repräsentativer Verratsfälle in der jüngeren Geschichte mit der Dreyfus-Affäre in Frankreich beginnen, hat drei Gründe: ihre paradigmatische Bedeutung für den Begriff des Landesverrates in der Ära nationalistischer Nationalstaatlichkeit; ihre Katalysatorwirkung für die Genese neuartiger ideologischer Polarisierungen, interner Freund-FeindKonstellationen, deren langes Fortwirken in Frankreich, drittens, bis ins zentrale Trauma der französischen Geschichte hineinreicht, die Kollabora­ tion des Vichy-Regimes. Die Linien, die sich von der Dreyfus-Affäre bis hin zu Vichy ziehen lassen und sich in einem Manne, Charles Maurras, am klarsten personifizieren, bezeichnen ihr eigentliches Substrat.5 Vordergrün­ dig ist die Dreyfus-Affäre nur ein skandalöser Justizirrtum, die fälschliche Verurteilung eines Mannes wegen Landesverrates im Jahre 1894 durch ein außerordentliches Militärgericht und das lange beharrliche Sträuben, ihn, 4  Vgl.

Eva Horn, Der geheime Krieg, S. 117 ff. zu Charles Maurras ist noch immer: Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, München 1963, S. 90–183. 5  Unübertroffen

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auch nach zweifelsfrei erwiesener Unschuld, zu rehabilitieren. Die Unge­ wöhnlichkeiten an diesem Verratsdrama aber deuten sich schon mit dem Hinweis auf den Nutznießer des Verrates, den Feindstaat, und auf die Person des angeblichen Verräters an: der profitierende Feindstaat war Deutschland, das Frankreich 1870 die tiefe Wunde der Kriegsniederlage beigefügt hatte, für die der Wunsch nach Vergeltung zunehmend gewachsen war; und der angebliche Verräter war der aus dem Elsass stammende Hauptmann im Generalstab Alfred Dreyfus, dem wegen der kulturellen Nähe seiner Familie zu Deutschland und seiner jüdischen Herkunft eine quasi doppelte Disposi­ tion zum Landesverrat unterstellt wurde. Nur dieser Hintergrund erklärt die Härte seiner Bestrafung: seine öffentliche Degradation in einer entwürdi­ genden Prozedur vor einer vieltausendköpfigen Menge, die ihm antisemi­ tische Beleidigungen entgegengeschleuderte, während er seine Unschuld herausschrie; und seine Verurteilung zu Einzelhaft, Zwangsarbeit und le­ benslanger Verbannung auf die Teufelsinsel in Französisch-Guayana, auf die er in Ketten verbracht wurde. Einen weit über eine bloße Justizangelegen­ heit hinausgehenden Charakter bekam die Affäre aber erst, nachdem vier Jahre später im Zusammenhang mit der Verhaftung und dem Selbstmord des neuen Chefs des Nachrichtendienstes sich die Indizienlage unübersehbar zugunsten von Dreyfus verändert hatte, – das war übrigens nach dem be­ rühmten Zeitungsartikel „J’accuse“ von Emile Zola, dessen Bedeutung in der Affäre zumeist überschätzt wird. Als Dreyfus und seine Unterstützer, die sich besonders als Kritiker der Armee, des Inbegriffs und Bollwerks des französischen Nationalismus, exponiert hatten, Recht zu bekommen schie­ nen, veröffentlichte ein junger Rechtsintellektueller, Charles Maurras, eine haßerfüllte Gegenanklage gegen die Dreyfus-Unterstützer, die er als „Ver­ rätersyndikat“ titulierte, womit er dem Verratsbegriff eine ganz neue, prin­ zipielle Dimension gab, die die Frage nach Dreyfus’ individueller Schuld oder Unschuld als nebensächlich erscheinen ließ. Folge war die Spaltung der französischen Öffentlichkeit in zwei gegnerische Lager, und in dem einen von ihnen die Konstitution einer neuen rechten Bewegung, der Action francaise unter Führung von Maurras. Sie verkörperte eine neuartige Form des Nationalismus – eine Vorform des Faschismus – mit großer intellektu­ eller Ausstrahlungskraft, die in ihrer radikalen Gegnerschaft gegen die Pa­ rolen der französischen Revolution den großen Strom gegenrevolutionären Denkens in Frankreich zu einem konsequenten vorläufigen Abschluß brach­ te. Konstitutiv für diesen Nationalismus war die radikale Trennung der Begriffe von Vaterland und Menschheit, die in Frankreich – als Erbschaft der Revolution – davor zumeist miteinander eng verknüpft aufgetreten waren, und eine radikale Demokratiekritik mit einem hochideologisierten ­ Antisemitismus als ihrem Kern. Maurras betrieb eine Umdeutung des Lan­ desverratsbegriffs, seine im Sinne nationalistischer Freund-Feind-Polarität



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­ aheliegende Ausweitung von einem juristisch definierten zu einem Gesin­ n nungsdelikt: der Verratsvorwurf wurde nunmehr allen denen ins Gesicht geworfen, deren Handeln und Denken in den Augen der Action française zu einer Schwächung der französischen Nation und ihres wichtigsten Pfeilers – der Armee – beitrug. Damit konnte die Verratsanschuldigung gegen die Anhänger Dreyfus’, trotz seiner juristischen Unschuld, aufrechterhalten werden – der Begriff war zur wichtigsten Waffe in einem mentalen Bürger­ krieg geworden. Maurras’ Nationalismus war eine der großen Quellen, aus der sich die spätere weitverbreitete ideologische Bereitschaft zur Kollabora­ tion mit dem Nationalsozialismus unter dem Vichy-Regime speiste, und zwar eine besonders wichtige deshalb, weil sie originär französisch war. Auch einige der bekannteren unter den kollaborierenden Intellektuel­ len – Drieu La Rochelle, Robert Brasillach, Lucien Rebatet, Dominique Sordet – waren stark durch die Action Française geprägt. Daß für Maurras Deutschland der zentrale äußere Feind war, liegt auf der Hand, aber mit dem nationalsozialistischen Deutschland teilte sein Nationalismus doch anderseits soviele ideologische Affinitäten, daß eine Kollaboration mit diesem Feind – eine besonders verabscheuungswürdige Form des Verrats in den Augen der Resistance, des späteren Siegers – eher möglich wurde als die Zusammenarbeit mit seinen anderen Feinden, den Antifaschistischen, gegen ihn. Natürlich war das politisch-ideologische Fundament für die Vi­ chy-Kollaboration weitaus komplexer. In den dreißiger Jahren waren im Gegenzuge zum Erstarken der Kommunisten und Volksfrontanhänger viele genuin faschistische Gruppierungen entstanden, an erster Stelle die Parti Populaire Français unter der Führung Jacques Doriots, eines Renegaten des Kommunismus – Gruppierungen, aus denen sich später viele besonders aktive Kollaborateure rekrutierten. War aber auch Marschall Petain, der allseits verehrte Kriegsheld von Verdun, ein Kollaborateur im Sinne von „Verräter“? Vichy war ja anfangs keineswegs einem Quisling-Regime ver­ gleichbar, und der Marschall genoß als Garant staatlich-gesellschaftlicher Ordnung eine überwältigende, teils enthusiastische Zustimmung seitens der Bevölkerung. Weltanschaulich stand Petain dem demokratiefeindlichen au­ toritären Nationalismus Maurras’ nahe, aber in den begründeten Ruch des Verrats konnte Vichy doch erst kommen, als es nach dem Einmarsch der Deutschen in die unbesetzte Zone mehr und mehr zu einem MarionettenRegime herabsank und als es durch Erlaß seiner Judengesetze die ideolo­ gische Annäherung an den Okkupanten verstärkte. Gewiß, das Todesurteil gegen den 89jährigen Marschall nach der „Liberation“ wurde – nicht zuletzt dank des Votums seines früheren Lieblingsschülers und jetzigen Triumpha­ tors der „Resistance“, des General de Gaulle – nicht vollstreckt, aber nun setzte im ganzen Land eine „Abrechnung“ mit allen wirklichen und ver­ meintlichen Verrätern ein, in der sich neben dem Ruf nach Gerechtigkeit

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auch die niedrigsten Instinkte auslebten.6 Der 75jährige Charles Maurras aber, zu lebenslanger Festungshaft verurteilt, rief nach der Urteilsverkün­ dung aus: „C’est la Revanche de Dreyfus“,7 damit die Verknüpfung der Freund-Feind-Polaritäten in den zwei zentralen Verratsfällen der neueren französischen Geschichte auf den Punkt bringend. Die Tragödie des 20. Juli, des deutschen Widerstandes gegen Hitler, wird in ihrer ganzen Größe erst dann sichtbar, wenn man zweierlei genauer kon­ turiert: die Motive der Verschwörer und das „mentale Klima“ in Deutsch­ land und bei den Führern der Feindstaaten in der Endphase des Krieges. Natürlich fanden sich in dem Riesennetz der Verschwörung sehr divergente individuelle Motivlagen, aber man wird doch behaupten können, daß zwei Grundmotive dominierten: das moralisch-ethische Gewissenspostulat und der Patriotismus, und zwar in einer Form, die nur das Wort „Vaterlands­ liebe“ angemessen bezeichnet. Die Bedeutungsdimensionen dieses Wortes samt ihrer emotionalen Färbung sind den postnationalen und postheroischen Denkattitüden unserer Gegenwart völlig fremd geworden, aber wem Stauf­ fenbergs Ruf vom „heiligen Deutschland“ vor seiner Hinrichtung nichts sagt, wird das Drama des deutschen Widerstandes nicht verstehen können. Die Vorstellungen von wiederherzustellender nationaler „Ehre“, „Würde“ 6  Der „Liberation“ 1945 / 46 in Frankreich fielen nach amerikanischer Schätzung über 100.000 Menschen zum Opfer – mehr Tote, als Frankreich auf dem Schlacht­ feld oder in der Gefangenschaft zu verzeichnen hatte. Vgl. Boveri, Verrat, Bd. 1, S. 8. Besonders abstoßend in diesen Racheorgien war die Behandlung der Freun­ dinnen deutscher Soldaten und Mitarbeiterinnen bei deutschen Dienststellen, die, kahlgeschoren, mit ihren Kindern – den „Batards de Boches“ – vom Mob durch die Straßen getrieben wurden. Diese Kinder, ca. 60.000, sind in Frankreich lange wie Aussätzige behandelt worden. Erst vor einigen Jahren hat man verstärkt begonnen, sich mitfühlend auf ihr Schicksal einzulassen. Erwähnenswert im Zusammenhang mit der französischen Kollaboration ist der berühmte Text mit der Aufforderung zur Kollaborationsverweigerung, Vercors Erzählung „Le Silence de la Mer“ von 1941, die – von Flugzeugen der Royal Air Force über Frankreich abgeworfen – den fran­ zösischen Widerstandswillen gegen die deutschen Besatzer ohne Schürung primitiver Haßgefühle stärken sollte. Der deutsche Offizier, der in einer französischen Familie einquartiert wird, ein Musiker, liebt aufrichtig Frankreich und seine Kultur, und die Mauer des Schweigens, die die Familie ihm gegenüber von Anfang an errichtet hatte, aufrechtzuerhalten, wird für sie selbst zunehmend unerträglicher, weil ihr sein Adel der Gesinnung immer deutlicher wird und das geistige Liebeswerben des Deut­ schen mehr und mehr Liebesgefühle für seine Person in ihnen weckt. Schließlich ist es dann der Deutsche selbst, der ihrem „Schweigen des Meeres“ nachträglich eine Rechtfertigung verschafft, nachdem er als ein vollkommen Veränderter aus dem Osten zu ihnen zurückgekehrt ist, wo durch deutsche Greueltaten sein Bild von Deutschland zerstört wurde. Aber ihm gegenüber als Person bricht die Familie bei seinem Abschied dann doch durch ein kaum vernehmbares „Adieu“ den Bann des großen Schweigens. 7  Vgl. in Nolte, Faschismus, S. 125.



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und „Größe“, die dabei leitend waren, schloß für die Verschwörer auch den Gedanken an eine bedingungslose Kapitulation aus und zwang zur Vorsorge für das Schicksal der deutschen Soldaten unter den Bedingungen der radikal neuartigen Konstellation, die das gelungene Attentat zur Folge haben wür­ de.8 Freilich: Durch einen vernichtenden Schlag gegen den Nationalsozia­ lismus zur Restitution der nationalen Ehre beizutragen ohne gleichzeitig die militärische Machtposition des Reichs zu schwächen, war faktisch ein an­ gesichts der inneren und äußeren Bedingungen unauflösbares Dilemma. Daß sich die Verschwörer selbst als „Hochverräter“ begriffen – als „Hochverrä­ ter“ im Dienste Deutschlands und des eigenen Gewissens –, wurde bereits erwähnt, aber das Gewicht der damit verbundenen existenziellen Bürde wurde noch durch zweierlei verschärft: Manche zumal der älteren Ver­ schwörer wie General Beck hingen der Dolchstoß-Legende zum Ende des ersten Weltkrieges an und fürchteten nichts so sehr wie daß sich ihre Tat gegen den Nationalsozialismus zum „Dolchstoß in den Rücken Deutsch­ lands“ wenden könnte, zur völligen militärischen Selbstaufgabe; und sie hatten einen Eid auf Hitler geschworen, einen Eid zum „unbedingten Ge­ horsam“, und der bedeutete in der deutschen Militärtradion viel. Man kann im übrigen dem Schicksal nur danken, daß die Verschwörer nichts von der Einstellung ahnten, die die Führer der feindlichen Mächte ihnen gegenüber nach dem Attentat hegten: in England sprach man von einer „reaktionären Offiziersclique“, und bis in den Sommer 1946 durften amerikanische Repor­ ter in Europa nicht an den 20. Juli erinnern, um die Behauptung von der Kollektivschuld der Deutschen nicht zu gefährden.9 Die Tragik und Größe des vieltausendfachen vaterländischen Opfers der Verschwörer hat treffend Gösta von Uexküll in einem Vergleich mit der Siegfried-Sage verdeutlicht: „Der Drache war ja, teilweises jedenfalls, Deutschland selbst, seine Solda­ ten im Felde und die Menschen in den bombendurchflügten Städten. Sieg­ fried konnte den Drachen nicht treffen, ohne – sich selbst zu treffen. … Gewiß, Siegfried hat den Drachen nicht getötet, aber er hat gezeigt, dass beide nicht identisch sind“.10 Der Feind desjenigen Deutschland, für das sich die Verschwörer opferten und das sie verkörperten, trat ihnen im Pro­ zeß vor dem Volksgerichtshof als ein schreiender und geifernder Roland Freisler gegenüber. Über diesen Ankläger und die Angeklagten äußerte sich Hitler so: „Diese Kreaturen, … dieses Gesindel, … Die müssen sofort hän­ gen ohne Erbarmen. Aber Freisler wird das schon machen. Das ist unser Wyschinskij“.11 Die Nähe Freislers zu Wyschinskij, dem Chefankläger bei

8  Vgl.

Boveri, Verrat Bd. 2, S. 9–109. Boveri, Verrat Bd. 2, S. 91 f. 10  In: Boveri, Verrat, Bd. 2, S. 10. 11  Vgl. Hans Joachim Schädlich, Vertrauen und Verrat, Göttingen 1997, S. 32. 9  Vgl.

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den Moskauer Schauprozessen 1937 / 38, erschöpft sich aber keineswegs in der Ähnlichkeit ihrer Prozeßführung, sondern geht viel weiter, denn beide verkörperten in dieser Arä der ideologischen Extreme selbst eine besondere Nähe zum Verrat: Freisler geriet im ersten Weltkrieg in russische Kriegs­ gefangenschaft, wurde nach der Oktoberrevolution bolschewistischer Kom­ missar und kehrte 1920 als gläubiger Kommunist nach Deutschland zurück, bis er 1925 die Fronten wechselte und zur NSDAP übertrat – ein Renegat also.12 Und Wyschinskij war polnischer Abstammung und ursprünglich Menschewik, war also im Verständnis der Bolschewiki und Stalins gleich zweifach für den Verrat prädisponiert. Freilich, niemand von denen – und das war die gesamte alte bolchewistische Führungsspitze –, die Wyschinskij in den Schauprozessen als Hoch- und Landesverräter anklagte, die wie „räudige Hunde erschossen“, wie ein „verfluchtes Otterngezücht“ zertreten werden müßten, war ein Verräter. Aber sie hatten vor Gericht Schuld­ bekenntnisse abgelegt – durch Folter und Angst vor dem Schicksal ihrer Familienangehörigen erpreßte Schuldbekenntnisse –, deren Außenwirkung es gläubigen Sympathisanten des Bolschewismus, einem Bertolt Brecht, einem Ernst Bloch, einem Lion Feuchtwanger ermöglichte, ihre hymnischen Gesänge auf die Sowjetunion und ihren „großen Steuermann“ weiterzusin­ gen.13 Die Verratsanschuldigung traf in der Ära des Hochstalinismus und insbesondere in der „großen Säuberung“ zwischen 1936 und 1938 freilich keineswegs nur die ehemalige bolschewistische Prominenz, sondern poten­ tiell jeden, die Paranoia hatte sich bis in die privaten Winkel des Systems eingenistet, und der „Beweis“ eigener Regimetreue hing im wesentlichen nur noch am Faden der Denunziation. Die Denunziation des eigenen Vaters als angeblichen Verräters durch den 14jährigen Pawel Morozow wurde als vorbildlicher nationaler Heroismus gerühmt,14 und im berüchtigten Moskau­ er Hotel „Lux“ lieferten sich die dort untergebrachten kommunistischen Emigranten, um den eigenen Kopf zu retten, gegenseitig ans Messer.15 Auch 12  Vgl.

ebda., S. 32. den Renegaten und Sympathisanten des Kommunismus in der Ära des Hochstalinismus vgl. Michael Rohrwasser, Der Stalinismus und die Renegaten, Stuttgart 1991, und Mark-Christian von Busse, Faszination und Desillusionierung, Pfaffenweiler 2000. 14  Zu Morozow vgl. Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg Frankfurt  / Berlin 1987, S. 380. 15  Im Hotel Lux waren alle führenden Mitglieder der Kommunistischen Interna­ tionale einquartiert, mit ihren Frauen und teilweise auch Kindern, in scheinbar pri­ vilegierten Verhältnissen. Auch alle prominenten deutschen Kommunisten waren hier, von Heinz Neumann und Margarete Buber-Neumann bis hin zu Herbert Weh­ ner, Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht. Ab Beginn der „Großen Säuberung“ bis Ende des Krieges wurden hier fast jede Nacht Menschen von der NKWD abgeholt, und das geschah keineswegs lautlos, sondern war von vielen zu hören. Die Angst13  Zu



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an der systematischen Denunziantentätigkeit Herbert Wehners kann mittler­ weile, nach den Aktenforschungen Reinhard Müllers, nicht mehr gezweifelt werden.16 Was unterschied die Denunziation im Nationalsozialismus von der in der DDR? Gemeinsam war beiden Systemen, daß der Bevölkerung umfassende Denunziationsangebote gemacht wurden und man den Unterschied zwischen „Denunziation“ und „Anzeige“ durch Leugnung einer vorrangigen zwi­ schenmenschlichen Loyalität vor der Regimetreue zu nivellieren suchte und die Denunziation, auch von Familienangehörigen und Freunden, in den Rang einer Tugend und manchmal einer heroischen Tat erhob. Der große Unterschied war, daß im Nationalsozialismus die Bevölkerung selbst das staatliche Denunziationsangebot ausgiebig und aus freien Stücken nutzte und dabei viele vollkommen unverdeckt agierten, also das öffentliche Be­ kanntwerden ihres Loyalitätsbruchs in Kauf nahmen, während das System der informellen Stasi-Mitarbeiter in der DDR auf Heimlichkeit beruhte17 und einen historisch singulären Umfang hatte: Ein Prozent der Bevölkerung, zuletzt ca. 174.000 Personen ließen sich als informelle Mitarbeiter der Staatssicherheit mißbrauchen, wobei für die wenigsten eine wirkliche Loya­ lität gegenüber dem Regime bestimmend war, sondern eher Motive wie Furcht, aber vor allem die Hoffnung auf persönliche Vorteile etwa in Form von Karrierehilfen. Besonders stark waren natürlich die Oppositionsgruppen der siebziger und achtziger Jahre von Spitzeln durchsetzt. Die Stasi und ihre informellen Mitarbeiter waren hier überall dabei, unter den schutzspen­ denden kirchlichen Amtsträgern, in der Oppositionsgruppe und – nach Verhaftungen – unter den Rechtsbeiständen. So wurde dasjenige, was effek­ tive Opposition unter Bedingungen der Diktatur allererst möglich macht – das Vertrauen in den anderen als Freund und Genossen – im Verhaltens­ Atmosphäre im „Hotel Lux“ ist öfter beschrieben worden, die soziale Isolation, die Denunziation, die Bedeutung von Blicken, Grüßen und Nicht-Grüßen, von jenen vielfältigen sozialen Zeichen zwischen den Insassen, die Aufschluß darüber gaben, wie man den Status des anderen auf einer imaginären Skala von Bedrohungsgraden taxierte. Daß auf ihr diejenigen, deren Angehörige – d. h. in der Regel: Ehemänner – bereits verhaftet worden waren, ganz unten rangierten, versteht sich von selbst, denn als Angehörige von Verrätern waren sie selber durch den Virus des Verrats infiziert und damit ihre eigene Verhaftung nur noch eine Frage der Zeit. So wurden sie für die meisten anderen Insassen des Hotels zu Aussätzigen, deren Nähe zu meiden der eigene Überlebenswunsch diktierte, wobei man wissen sollte, daß ca. siebzig Prozent der in die Sowjetunion emigrierten deutschen Kommunisten dort umgekommen sind. 16  Vgl. Reinhard Müller, Herbert Wehner – Moskau 1937, Hamburg 2004, Ders.: Menschenfalle Moskau, Hamburg 2001, Ders.: Die Akte Wehner Berlin 1993. 17  Vgl. Arnd Koch, Denunziation als Straftat nach 1945 und 1989, in: Michael Schröter (Hg.) Der willkommene Verrat, a. a. O., S. 185 ff.

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dreiklang von Verstellung, Verheimlichung und Verrat in einem System sich gegenseitig bespitzelnder Spitzel systematisch zerstört. Daß der Mißbrauch von Vertrauen noch steigerungsfähig war, zeigt der Fall der späteren Bun­ destagsabgeordneten Vera Lengsfeld, deren Ehemann als Spitzel in den Oppositionsgruppen, denen beide angehörten und darüberhinaus als Spitzel seiner eigenen Frau wirkte. Dabei braucht ein derartiger Verrat keineswegs auf dem Boden einer negativen Gefühlsbeziehung dem Intimpartner gegen­ über gewachsen zu sein. Man kann auch sehr weitgehend ausschließen, was sich als erstes aufdrängt: Daß ein solcher Verrat den Verräter mit einem permanenten tiefen Gewissenskonflikt belastete. Unsere Kenntnisse über die Mechanismen der kognitiven Dissonanzreduktion legen vielmehr die An­ nahme nahe, daß es zu konfliktbegradigenden Uminterpretationen kommt, die die Selbstachtung aufrechtzuerhalten helfen. Massive, die Selbstachtung erschütternde Schuldgefühle entstehen normalerweise erst nach der Auf­ deckung des Verrats und dem Zusammenbruch des bisherigen Gefüges so­ zialer, psychischer und ideologischer Integrationsmechanismen, aus denen man die Stützen der Dissonanzreduktion bezog. Das aber setzte normaler­ weise den Zusammenbruch der Diktatur voraus.18 Die Ausmaße, die der Landesverrat, die Spionage und das Agieren der Geheimdienste in der Ära des „Kalten Krieges“ annahm, sind bekannt und in Literatur und Film19 vielfältig gestaltet worden. Daß die Sowjetunion in der ersten Dekade dieses Krieges, seiner kältesten, im Bau der Atombombe sehr bald mit den USA gleichziehen konnte, war ein Produkt des Verrates, für den vor allem der Name des deutschen Physikers Klaus Fuchs steht. Tatsächlich ist „die Bombe“ in dieser Zeit das zentrale Ziel aller Spionageund Verratsaktivitäten, und die keineswegs unbegründete Angst vor dem Atomverrat war der Auslöser der paranoiden Menschenjagd auf wirkliche und angebliche Verräter in der Mc-Carthy-Zeit in den USA, in deren Ver­ lauf auch Robert Oppenheimer, der „Vater“ der ersten Bombe und Albert Einstein ins Visier der Jäger gerieten.20 Der Hintergrund dessen, was politischer Verrat in dem knappen Jahrhun­ dert zwischen der Dreyfus-Affäre und dem Ende des Kalten Krieges bedeu­ tete, vermag den Wandel des Politischen zu konturieren, von dem ein Fall 18  Das verbreitete „Schönreden“ der DDR durch Verstrickte kann sehr häufig unschwer durch den Mechanismus der Dissonanzreduktion gedeutet werden. Er im­ munisiert gegen moralisierende Vorwürfe durch „Andere“, die im übrigen meistens eine höchst fragwürdige Rhetorik sind. Meines Wissens gibt es noch keine systema­ tischen Versuche, das „Schönreden“ mittels der sozialpsychologischen Theorie der Dissonanzreduktion zu analysieren. 19  Dazu vor allem Horn, Krieg, a. a. O. 20  Vgl. Jürgen Neffe, Einstein, Reinbek bei Hamburg, 2005, S. 418 ff.



Der politische Verrat267

wie Wikileaks kündet. Im „aufklärenden“ Verrat per Internet hat der Verrat sein scharfkantiges politisch-existenzielles Gepräge verloren, das ihm frü­ her, als Produkt der Freund-Feind-Polaritäten und Loyalitätszumutungen aus der Ära der Nationalstaaten und der ideologischen Konfrontation, immer anhaftete. Der postnationale und postideologische politische Verrat ist eine entdramatisierte, in die Sphäre des Spielerisch-Sportlichen hineinragende Form des Verrates. Er versteht sich nur als Mittel der „Aufklärung“. Aber das Weltbild einer sich im Internet grenzüberschreitend selbst aufklärenden und dabei alle Feindschaften überwindenden Menschheit, ist, so sympa­ thisch es zunächst erscheinen mag, ein westliches Trugbild, beruhend auf der Ausblendung des globalen Machtverlustes des Westens und der neuar­ tigen Feindschaften, die ihm überall entgegenwachsen.

Zielsetzung und Methoden der Ideengeschichte in der Politikwissenschaft Eine Kritik an der Cambridge School Von Peter Nitschke Die so genannte Cambridge-School wird nunmehr auch in Deutschland verstärkt rezipiert. Zu Recht, muss man sagen, ist doch der methodologische Umgang mit klassischen Texten aus der Politischen Ideengeschichte an­ spruchsvoll und inhaltlich innovativ formuliert. Geschichts- wie Politikwis­ senschaft haben in Deutschland jedoch die inhaltliche Debatte, die bereits seit den 1970er Jahren in der angelsächsischen Fachwelt hierzu weitreichend ausgebreitet war, eigentlich gar nicht zur Kenntnis genommen. Die folgen­ den Überlegungen dienen daher dem Zweck, die Zielsetzung und Methodik speziell der deutschen Politikwissenschaft hierzu näher in den Blick zu nehmen – und damit verbunden auch eine kritische Position zur derzeit verspäteten Rezeption der Cambridge-Perspektive vorzutragen.1 I. Die Geschichtswissenschaft Wenn 40 Jahre nach Beginn der Cambridge-School zentrale Texte ihrer Vertreter erstmals ins Deutsche übersetzt werden, sagt das auch Einiges aus über die Relevanz der hierzulande vertretenen Vorstellungen.2 Man könnte nun meinen, das liegt a) an der Dominanz der Begriffsgeschichte in Deutschland oder b) der Verschlafenheit der deutschen Beschäftigung mit Politischer Ideengeschichte. Zu (a) ist zu sagen, dass dieses heuristische Großunternehmen,3 das in der Geschichtswissenschaft und in der Literatur­ wissenschaft durchaus Erfolge vorzuweisen hat, auf dem Feld der Politi­ 1  Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Eröffnungsvortrags auf dem Work­ shop „Ideengeschichte“ für das Graduiertenkolleg am Institut für Europäische Ge­ schichte in Mainz (26. März 2010). 2  Vgl. den programmatischen und inhaltlich-konzeptionell gut angelegten Band von Mulsow / Mahler (2010). 3  Vgl. hier Brunner / Conze / Koselleck (1972–92). Dazu auch Richter (1990), der den Ansatz der Cambridge School mit dem Konzept der Geschichtlichen Grund­ begriffe kontrastiert.

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schen Ideengeschichte bei den Politikwissenschaftlern nie richtig angekom­ men ist.4 Die meisten Publikationen in der deutschen Politikwissenschaft der letzten 40 Jahre kommen ohne den Hinweis auf die gut gemachten Lexikonbeiträge der Handbücher zur Begriffsgeschichte aus. Eher ist es daher zutreffend, dass für die bisherige Nichtrezeption der Cambridge-School (b) gilt: In Deutschland gibt es eine Nichtbefassung mit Politischer Ideengeschichte. Das gilt besonders für die Geschichtswissen­ schaft, die sich im Gefolge der Bielefelder Schule weit von politischen Themen, erst recht von deren theoretischen Betrachtung, entfernt hat. Durch die Focussierung auf Materialitäten einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichts­ schreibung ist eine verkappte neomarxistische Methodologie seit den 1960er Jahren in die deutsche Geschichtswissenschaft eingedrungen und hat sich hier nachhaltig verfestigt. Eine Geschichtswissenschaft, die sich selbst als historische Sozialwissenschaft versteht, hat die politische Geschichte weit­ gehend ignoriert.5 Dieses Erscheinungsbild wandelt sich zwar im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts durch die Hinwendung zu einer kulturwis­ senschaftlichen Perspektive, ändert aber auch hier (zunächst) nichts an der strukturellen Vernachlässigung politischer Themen. Mit anderen Worten: Die Erben Meineckes haben sich nach 1949 dezidiert von den methodolo­ gischen wie inhaltlichen Prämissen der Ideengeschichte abgewandt.6 Über die tieferen Gründe hierfür braucht man an dieser Stelle nicht weiter zu spekulieren; sie haben zweifellos auch etwas mit dem Dritten Reich und der daraus nach 1949 einsetzenden Abwertung des Nationalen zu tun. Politikfähig wird die Ideengeschichte insofern erst wieder über den Um­ weg einer kulturwissenschaftlichen Frageperspektive: Die historische Kulturforschung kann, selbst wenn sie sich scheinbar banalen Dingen wie dem Töpferhandwerk in einem lippischen Dorf des 17. Jahrhunderts widmet, nicht ohne einen politischen Rückraum, sprich: eine politische Ordnung, verstanden werden. Hierfür ist nicht so sehr entscheidend, welche konkrete Hierarchie von Herrschaftsbedingungen vor Ort zuständig war, sondern, wie man ein Handwerk theoretisch als kulturelle Leistung einordnet. Die Ord­ nungsfrage verweist also auf ein Verständnis des Politischen – und zwar nachhaltig. Das überrascht den Aristoteliker überhaupt nicht, ist doch die Frage nach der Polity, also der normativen Ordnungsform von Politik, die 4  Das

gilt auch für die deutsche Philosophie. auch Frevert (2005): 9 f. 6  Was umso bedauerlicher ist, da Meineckes Leistung im Bereich der Ideenge­ schichte speziell für die Geschichtswissenschaft „eine wirklich bemerkenswerte Problemanalyse“ darstellt, wie Winfried Schulze unlängst bemerkt hat, die „viel von den methodischen Diskussionen vorwegnimmt, die das weitere 20. Jahrhundert prä­ gen sollten“ (Schulze 2010: 246). 5  Vgl.



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erste Frage, die für Menschen zu beantworten wäre. Eine kulturelle Dimen­ sion ohne Politik verstehen zu wollen, ist hiernach schlechterdings unmöglich!7 Allerdings muss eine historische Kulturwissenschaft darauf Acht geben, dass ihr bei aller wertgeschätzten Symbolik von Politik nicht der Politik-Begriff abhandenkommt.8 Politik ist zweifellos mehr als nur die Focussierung auf den Staat und seine Institutionen.9 Gerade die Forschun­ gen zu frühneuzeitlichen Themen stellen dies eindrucksvoll unter Beweis. Die Wiederentdeckung der Politischen Ideengeschichte in der deutschen Geschichtswissenschaft, für die es seit ein paar Jahren ernst zu nehmende und interessante Belege gibt,10 verdankt sich natürlich auch dem Unvermö­ gen des etablierten sozialwissenschaftlichen Mainstreams, der heuristisch nicht in der Lage war, aus all seinen strukturellen Analysen zum Auf- und Abstieg von Schichten, Klassen, Gesellschaften, Staat und Nation eine tie­ fere ideelle Konsequenz zu ziehen. Die Zeithistoriker, die sich mit der Geschichte sozialistischer Systeme in Ost- und Mitteleuropa befassten, waren nicht in der Lage (eben so wenig wie ihre Kollegen aus der Politik­ wissenschaft oder der Soziologie), die gravierenden Veränderungsprozesse hermeneutisch wahrzunehmen und entsprechend zu bilanzieren. Sie hatten für ein politisches Prinzip, welches immerhin ein Ideal der Menschenrechts­ erklärungen seit der Aufklärung ist, nämlich Freiheit, schlicht und einfach keinen empirischen Bedarf, weil sie das theoretische Angebot hierzu norma­ tiv ignorierten. II. Die Politikwissenschaft Das heuristische Manko liegt auch darin begründet, dass selbst diejeni­ gen, die in der deutschen Politikwissenschaft Politische Ideengeschichte betrieben haben, nicht deutlich genug gemacht haben, warum man sich mit Klassikern der Politischen Theorie beschäftigen sollte, auch wenn diese, wie im Falle von Platon oder Aristoteles, bereits seit über 2.000 Jahren tot sind. Nur darauf zu verweisen, dass dies kognitiv interessant und aus humanisti­ scher Tradition geboten sei, war zu wenig bzw. zu passiv. Zweifellos ist die Politische Ideengeschichte gerade in Westdeutschland im Gefolge des empi­ ristischen Siegeszugs in den Sozialwissenschaften sehr in die Defensive gedrängt worden, hat sich mit dem ideologischen Schubladenbild einer an­ geblich normativen Darstellung, das ihr der positivistische Mainstream 7  Vgl.

auch Nitschke (2010a): 65 ff. auch Frevert (2005): 23. 9  Vgl. auch ebd.: 12 f. 10  Vgl. hier u. a. Frevert / Haupt (2005), Schorn-Schütte (2006), Zwierlein / Meyer (2010). 8  Vgl.

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verpasst hatte,11 zufrieden gegeben – wohl wissend, dass es so nicht ist. Doch genau dieses geradezu hermetische Besserwissen war ja nur dem Kreis der Eingeweihten, der durch die klassischen Texte Erleuchteten, vor­ behalten. Egal ob es sich hierbei um die Normativisten der Freiburger oder der Münchener Schule handelte oder um ihren Gegenpart, den Vertretern der so genannten Kritischen Theorie (womit nicht nur die Frankfurter Schule gemeint ist), sie alle haben vor der Welle des Positivismus in der deutschen Politikwissenschaft im Grunde versagt, weil sie das Politische selbst – in Form einer Aktualisierung von Bedürfnislagen – mithilfe der von ihnen jeweils vertretenden Interpretationsrichtung nicht mehr haben geltend ma­ chen können oder wollen. Kritik an sich ist noch keine Politikfähigkeit, diese erreicht man erst, wenn man zu normativen Gegenbildern in einer aktuellen systemischen Konstellation gelangt. So wurden in Deutschland zwar die Klassiker als Ladenhüter in der Po­ litikwissenschaft seit den 1960er Jahren weitergereicht und auch auf gutem Niveau reflektiert – allein davon gingen jedoch keine nennenswerte Pro­ grammatik oder gar Innovationsschübe für die Gesamtdisziplin aus,12 ge­ schweige denn für eine Ausstrahlung in die Nachbardisziplinen wie etwa die Geschichtswissenschaft. Bezeichnenderweise ist denn auch die Nennung von politikwissenschaftlichen Anregungen für die neuere Debatte zur poli­ tischen Geschichtsschreibung bisher eher kontingent geblieben.13 Das hängt auch mit der analogen Entwicklung der Politischen Philosophie zusammen. Auch diese ist in Deutschland nach 1945 systematisch zum Verstummen geführt worden. Die guten Ansätze, die es hier in der so genannten RitterSchule bis in die 60er Jahre noch gegeben hat, sind ebenfalls vor dem Ansturm der analytischen Philosophie, der Ästhetik und der Sprachphiloso­ phie (mit wenigen Ausnahmen) zum Erliegen gekommen. Es ist bezeich­ nend, dass erst über den Umweg eines zunächst eher wissenschaftstheore­ tisch argumentierenden Autors (nämlich Jürgen Habermas) dann auch eine Politikfähigkeit in Form der Politisierung der deutschen Beiträge zur Politi­ schen Theorie stattgefunden hat. Insofern ist Faktizität und Geltung (1992) hier der epistemologische Wendepunkt auch für die deutsche Politikwissen­ schaft und ihrer Wert- bzw. Nichtwertschätzung von Politischer Ideenge­ schichte.14 Allerdings ist der Ansatz von Habermas, diskursethisch und diskurstheoretisch, nur einer von insgesamt drei bis vier Ansätzen in der deutschen Politikwissenschaft: Traditionell ist hier lange Zeit eine methodo­ 11  Symptomatisch

hierfür auch die Übersicht bei Göhler / Iser / Kerner (2009). hier z. B. Gablentz  /  Möbus (1964, 1966 u. 1967) sowie Maier  /  Denzer (2001) u. Pfetsch (2003). 13  Vgl. z. B. Haupt (2005): 305. 14  Vgl. Habermas (1992), hierzu auch Nitschke (2010b): 494 ff. 12  Vgl.



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logische Trias verfochten worden, welche mit hermeneutischen Zuweisun­ gen wie normativ-ontologisch, empirisch-analytisch und kritisch-dialektisch operierte.15 Aller Stereotypen zum trotz gingen hierbei Theorie und Ideengeschichte Hand in Hand, waren die methodologischen Übergänge immer schon – ana­ lytisch (d. h. philosophisch) betrachtet – fließend. Am Wenigsten ist die Politische Ideengeschichte zweifellos in der Kritischen Theorie präsent. Politische Theorie wird hier meist ohne einen systematischen Bezug zu Klassikern der Ideengeschichte oder ihren Theoremen geschrieben. Reflexi­ onen erfolgen im Sinne von Systembetrachtungen, Referenzbezüge zu Klas­ sikern sind – so weit vorhanden und gewünscht – oft nur für Autoren des 20. Jahrhunderts, mitunter auch noch des 19. Jahrhunderts vermittelt. Weiter zurück in der Zeitachse geht es nicht: Rousseau und Hobbes (manchmal auch noch Machiavelli), das sind die Referenzbezüge, die sich Vertreter der Kritischen Theorie noch zumuten. Alles andere ist eben nicht modern, nor­ mativ fragwürdig und wird mit den Etikettierungen von Theologie, Meta­ physik, Phantasterei und (sehr erfolgreich: Politischer Romantik) abgetan. Dass sich in derlei Klassifizierungen ideologische Zuordnungen manifestie­ ren, versteht sich – nur, die Vertreter dieser Theorierichtung wollen dies nicht einsehen. III. Paradigma Politisches Denken Neben dem Diskurs, der in seiner Erfolgsbilanz neben dem Habermass­ chen Universum in den letzten Jahren in nicht unbeträchtlicher Weise durch die zunehmende Rezeption und Anerkennung von Foucault in Deutschland nach Vorne gerückt ist, hat sich auch eine Uminterpretation in der Politischen Ideengeschichte verstärkt bemerkbar gemacht, die ei­ gentlich (im Kontext amerikanischer Diskussionen der 60er und 70er Jah­ re) keineswegs neu ist, jedoch in Deutschland erst seit den 1990er Jahren sukzessive Fuß gefasst hat. Politische Ideengeschichte wird hierbei als Ma­ nifestation von Politischen Denken aufgefasst. Die Ideen werden ersetzt durch Begriffe und Theoreme, mitunter auch unausgegorene Narrationen des Politischen bzw. der Politik, die sich ebenso auf dem Feld der Kunst (z. B. in der Malerei), besonders gut aber in literarischen Werken darstellen lassen. Shakespeare und Goethe ersetzen demnach die Lektüre von Hobbes und Kant – oder vervollkommnen sie, je nach Lesart des Interpreten. Pa­ radigmatisch für diesen Ansatz, der die traditionelle Politische Ideenge­ schichte aufweicht bzw. sie komplementiert, indem auch auf andere Text­ 15  Vgl.

z. B. Aleman / Forndran (1985): 43 ff.

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sorten übergegangen wird, ist die Gründung der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens (1989) in Tübingen, einem Zu­ sammenschluss interdisziplinärer Art, wo sich Politikwissenschaftler, Philo­ sophen, (weniger) Historiker (bisher) und Juristen zu einer gemeinsamen Agenda in der Forschungsausrichtung gefunden haben. Allerdings doku­ mentiert das Jahrbuch der Gesellschaft (Politisches Denken), dass es sich bei den Beiträgen a) um sehr unterschiedliche, methodologische Interpre­ tationen und Zugangsweisen zum Denken handelt und b) dass nach wie vor eigentlich die klassische Ideengeschichte konzeptionell (d.  h. hier durchaus idealtypisch) leitend ist.16 Besonders deutlich wird dies in dem epistemologischen Großunternehmen, dass der Münchener Politikwissen­ schaftler Henning Ottmann seit 2000 in mehreren Bänden auf den Markt gebracht hat. Seine Geschichte des Politischen Denkens von den Griechen bis zur Gegenwart ist auf weite Strecken in der Darstellung und Argumen­ tation eben doch nach wie vor eine Geschichte der Politischen Ideen und ihrer maßgeblichen Stichwortgeber, der großen Autoren.17 Auch wenn Wal­ ther von der Vogelweide (für das Mittelalter) nunmehr politisch erschlos­ sen wird und faszinierende Interpretationen z. B. zu Shakespeare, Milton oder Aristophanes dargeboten werden, bleibt das ganze Unternehmen her­ meneutisch doch eigentlich konventionell, d. h. in einem klassischen Stil, gegen den sich die Cambridge School abgesetzt hatte. Nach wie vor sind es die Ideen, die das Denken beherrschen.18 Eine ganz andere systematische Konzeption zur Politischen Ideenge­ schichte lässt sich in den Werken von Eric Voegelin und Leo Strauss ver­ folgen. Bezeichnenderweise sind beide Autoren, obwohl aus der deutschen geisteswissenschaftlichen Tradition kommend, hierzulande bisher nur unter Wert rezipiert worden. Während Strauss mit seiner Form von Hermeneutik, die etwas aus den Texten herauslesen will, was (wie beim Beispiel der umstrittenen Tübinger Schule für die Platon-Forschung) so gar nicht in den Texten steht, quasi eine Arkaninterpretation der politischen Ideen präsen­ tiert, deren Referenz- und Rezeptionskreise ein ebenso hermetisches Be­ wusstsein an den Tag legen, hat das äußerst umfangreiche Gesamtwerk Voegelins in der deutschen Politikwissenschaft (und in der Geschichtswis­ senschaft erst recht) bis dato nicht Fuß fassen können. Zumindest für die Rezeption in der Politikwissenschaft mehren sich jedoch die Anzeichen, 16  Vgl.

die Jahrbücher: Politisches Denken (1991 ff.). Ottmann (2000–2010); vgl. hier auch Brocker (2007). 18  Inwieweit ein Denken über Politik gegenüber einer Idee prozessual angelegt ist, welche Dynamik oder Fluktuation damit verbunden ist, was Kontext gegenüber dem jeweiligen Text ist und ob etwa ein Denken weniger als eine Idee darstellt bzw. was der Unterschied von einer Idee gegenüber dem Denken (etwa im Sinne einer Rechenoperation) ist, all dies müsste methodologisch ausdifferenziert werden. 17  Vgl.



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dass sich dies ändern könnte.19 Gleichwohl steht Voegelin (ebenso wie Strauss) hierzulande unter dem normativen Vorbehalt der Kritischen Theo­ rie. Es ist bezeichnend, dass sich etwa bei Habermas zu beiden Interpreten nichts finden lässt. IV. Die Cambridge-School Die Cambridge School, deren Vertreter in den 1960er Jahren begannen,20 die Politische Ideengeschichte neu zu bewerten, haben einen ganz anderen Ansatz als das, was in Deutschland sowohl in der Geschichts- als auch Politikwissenschaft (von der Philosophie ganz zu schweigen) vertreten wur­ de (und wird).21 Quentin Skinners (und auch John Pococks) Ansatz, dem­ zufolge Politische Ideengeschichte nicht im Sinne eines Spitzengesprächs zwischen den großen (oder auch kleineren) Klassikern der Jahrhunderte gelesen werden darf, ist der Versuch, Texte nicht allein aus ihren immanen­ ten interpretativen Theoremen zu erschließen, sondern sie mehr noch durch eine Kontextualisierung zu verstehen. Beide Autoren, die man (vielleicht etwas zu voreilig) der so genannten Cambridge School zurechnet, verstehen sich dezidiert als Historiker. Damit wollen sie aufzeigen, wie etwas gewe­ sen ist – ein Ansatz, den der Politikwissenschaftler bei den Politischen Ideen in dieser Weise gar nicht bemüht. Die Herangehensweise einer (von ihnen als traditionell empfundenen) Verortung historischer Texte im Sinne 19  Vgl. hier u. a. Sigwart (2007) u. Henkel (2008). Aufschlussreich speziell für die Methodologie die Kommentare der so genannten Voegelin-Schüler in der Edition von Cooper / Bruhn (2008). 20  Die Bezeichnung als Schule ist etwas irreführend, denn die einzelnen Autoren wie etwa John Dunn, Quentin Skinner, Richard Tuck, Mark Goldie oder Anthony Padgen (von John Pocock ganz zu schweigen), zeichnen sich durch z. T. unterschied­ liche Ansätze aus. In der Summe wird hier allgemein von einer Schule gesprochen, weil der Referenzort für ihre Diskussionen Cambridge war (und ist) und hierbei generell die Funktion und Bedeutung der Sprache für die Textanalyse und die Mög­ lichkeiten ihrer Kontextualisierung im Vordergrund steht. Vgl. dazu auch Mul­ sow / Mahler (2010): 7 ff. 21  Am Ehesten kann man hier noch eine Ähnlichkeit mit dem Konzept feststellen, wie es Fetscher und Münkler in ihrem Handbuch der politischen Ideen zugrunde gelegt haben. Allerdings ist hierbei methodologisch eine Kontextualisierung über die Geschichte sozialer und ökonomischer Strukturen ausschlaggebend gewesen, wenn man so will, fast eine neomarxistische bzw. hegelianische Orientierung. Vgl. Fet­ scher / Münkler (1985–93). Im Rückblick wirkt dieses Konzept, auch wenn es seiner­ zeit innovativ auftrat, methodologisch eher antiquiert, da in keinem der fünf Bände auf die enormen heuristischen Probleme einer Kontextualisierung in den Geschichts­ strukturen eingegangen wurde, wie dies von der Cambridge School zu dem Zeit­ punkt längst als Standard in der angelsächsischen Diskussion eingebracht worden war.

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einer Aktualisierung ihrer Bedeutung lehnen beide ab – und zwar ziemlich unmissverständlich, indem permanent gegen solche Interpretationsrichtun­ gen polemisiert wird. Allerdings stellen sie sich nicht die Frage, warum überhaupt ein Text (z. B. ein Spätdialog von Platon) für uns heute noch interessant sein soll: Weil er etwas zu sagen hat, was uns heute auch be­ trifft? Oder nur, weil seit über 2.000 Jahren den jeweiligen Rezipienten kanonisch eingeredet wird, dass dieser Text wichtig sei? Wäre Letzteres der Fall, dann würde eine solche Begründung zwar für eine gewisse Zeit tragfähig sein, aber eben nicht für Jahrhunderte, geschwei­ ge denn Jahrtausende. Offenbar muss es irgendetwas an den Spätdialogen Platons geben, die größtenteils mit politischen Ordnungsfragen beschäftigt sind, was quer durch die Zeitalter die Menschen als Leser interessiert hat. Die epistemologisch (zunächst) entscheidende Frage ist also nicht die von Skinner und Pocock nach dem Kontext, sondern nach dem warum der Ex­ klusivität dieses einen Textes? Das gilt speziell für Skinner, der ja nicht zufällig die Antike nicht behan­ delt und auch nicht die Moderne, sondern den Zeitraum, den ich hier die Prämoderne nennen möchte.22 Warum also beschäftigt sich Skinner mit Autoren wie Hobbes, Locke oder Machiavelli und sucht deren historische Verortung im Sinne einer Dechiffrierung von Kontextualisierungen zu errei­ chen? – Und warum beschäftigt er sich gerade mit diesen Autoren aus der Prämoderne und nicht etwa mit Leibniz, Wolff oder Althusius? – Die Ant­ wort ist einfach: Hier herrscht ganz offensichtlich eine Präferenz für ein Paradigma vor, das Skinner (wie auch Pocock) als selbstverständlich vor­ aussetzt. Doch warum ist der Republikanismus, den beide subtil beschreiben,23 selbstverständlich? Aus dem Gesichtspunkt der Vielzahl prämoderner Diskurse ist dies nur einer von mehreren (und lange Zeit gar nicht der entscheidende). Wenn also Skinner an der traditionellen Einstel­ lung zur Politischen Ideengeschichte bemängelt hat, dass diese „durch die unbewusste Anwendung von Paradigmen beeinträchtigt“ werde,24 dann gilt dies auch für ihn selbst. Jedes Theorem ist im Grunde nur (oder erst) dann verständlich, wenn es als Beitrag zu Etwas – nämlich als Bestandteil eines Diskurses – gelesen werden kann. Ein Schriftzeichen, für das es keine äquivalenten Zeichen gibt, ist nicht entschlüsselbar. Es bedarf also eines Kontextes, doch dieser 22  Vgl. dazu Nitschke (2011). Die meisten Vertreter der Cambridge School aus der ersten Generation haben im Übrigen Themenstellungen des Spätmittelalters bzw. der Frühen Neuzeit zum Gegenstand ihrer Diagnosen gemacht. Antike und Gegen­ wartstheorien sind hierbei nicht im Focus des Interesses gewesen. 23  Vgl. hier u. a. Skinner (1978), Pocock (1987) u. (natürlich) Pocock (1975). 24  Skinner (1969): 26).



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Kontext ist nicht so sehr der historische, denn schon dieser unterliegt man­ nigfachen Konstruktionsbedingungen. Zentraler für das Verstehen eines Axioms oder Theorems wie etwa der Annahme, dass sich Menschen an Gerechtigkeit orientieren, ist die Zuordnung zu einem ganz bestimmten Diskurs bzw. einer Theorierichtung. Man kann hier auch mit dem Gebrauch von Idealtypen operieren, was Skinner vehement ablehnt,25 letztlich aber selber praktiziert. Es geht hierbei nicht um eine teleologische Konstruktion des Geistes, da hat er Recht: Man sollte sich hüten, einem Autor des 17. Jahrhunderts etwas zu unterstellen, was erst als Theorem im 18. Jahr­ hundert gültig geworden ist. Das permanente Suchen nach dem Beginn vor dem Beginn, der Vorgeschichte vor der eigentlichen Geschichte, ist gerade­ zu lächerlich wie gleichermaßen naiv. So gesehen erweckt tatsächlich z. B. Ernst Cassirers Analyse „den Eindruck, die gesamte Aufklärung habe da­ nach gestrebt, Kant möglich zu machen“.26 Eine solch idealisierende Form mag zwar philosophisch sein, entspricht jedoch nicht der geschichtswissen­ schaftlichen Analyse. Hierzu konstatiert Skinner zu Recht:27 „Geschichts­ schreibung ist dann nichts anderes als ein Sack voller Streiche, die wir den Toten spielen.“ Aber – spielt nicht auch der Historiker ständig? – Und zwar Streiche gegen sich selbst? Wissen zu wollen, wie und was etwas gewesen ist, er­ scheint skeptisch betrachtet als ein heilloses Unterfangen. Und dies gleich in doppelter Hinsicht: a) weil man empirisch selbst nicht dabei war, wenn 44 vor Christus dieses oder jenes passierte, b) weil die Stellungnahmen zu diesem Event nicht unterschiedlicher sein könnten. Die Tatsache, dass da ein Mann namens Caesar getötet wurde, ist von der Quellenlage her unbe­ streitbar, ist nicht fiktional. Doch was folgt daraus? War es ein Mord, noch dazu ein ganz schändlicher, wie das Lager der Caesaranhänger bis in die moderne Rezeption zu Mommsen hin behauptet hat? Oder war es das not­ wendige Attentat auf einen Tyrannen, wie es die Brutusanhänger bis in die prämodernen Verästelungen der monarchomachischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts gefolgert (und gefeiert) haben? – Wer hat da Recht – und vor allem, wie will man dies vernünftigerweise entscheiden können? Eine absolute, weil abschließende Entscheidung ist hier nicht möglich, da beide Standpunkte kontradiktorisch sind und sich jeweils aus einer ganz anderen axiomatischen Prämisse ableiten lassen. Freiheit versus Ordnung, Republik versus Diktatur (oder besser: Tyrannis) sind die Topoi, die sich hier als große Streitthemen der Politischen Ideengeschichte abbilden und nachzeich­ nen lassen. 25  Vgl.

ebd.: 30. 32, Anm. 43. 27  Ebd.: 35. 26  Ebd.:

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Das bedeutet: keine Erörterung von Inhalten ohne eine vorherige Zuord­ nung, unter welchen theoretischen Prämissen ein Text gelesen werden kann. Nicht im Sinne einer Vorverurteilung, denn das würde bedeuten, man wisse schon, was am Ende dabei herauskommen wird. So haben Marxisten ihre Texte gelesen – darum geht es also nicht. Vielmehr muss man die Lektüre offen halten für die Interpretamente, die ein Autor liefert.28 Aber diese wird man nur verstehen, wenn man sich in einem epistemologischen Kontext zum Autor befindet bzw. sich einordnen kann. Das setzt ein logisches Ver­ ständnis von Sprache z. B. elementar voraus, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass im Sinne des Gavagai-Problems entsprechend konträre Effekte bei der Dechiffrierung herauskommen.29 Tatsächlich ist die Ge­ schichte der Politischen Ideen in vieler Hinsicht eine recht bemerkenswerte Ansammlung von derartigen Gavagai-Effekten. Doch gerade deshalb muss man sich damit immer wieder von Neuen beschäftigen. So gesehen sind Skinners und Pococks Aversion gegen die KohärenzVermutung nicht nur Ausdruck eines simplen Positivismus, sondern mehr noch eines merkwürdigen Pseudonominalismus. Die Abstraktionen des Geistes, gegen die sich Skinner verwahren möchte, weil sie eine „Ge­ schichte von Gedanken“ produzieren, „die niemals gedacht wurden“,30 sind der hermeneutische Kern der ideengeschichtlichen Perspektive. Hier mani­ festiert sich ein Missverstehen sowohl a) des kantischen Idealismus mit seiner Apriorisierung des logischen Denkens sowie b) der sozialwissen­ schaftlichen Idealtypenbildung, wie Max Weber sie entwickelt hat.31 Selbst­ verständlich muss man sich vor einem Überschuss an Idealisierungen bzw. Abstrahierungen hüten: Man darf nicht Axiomata und Themen (der eigenen Zeit) bei Autoren und deren Texten verorten wollen, die in ganz anderen Epochen ihre Debatten und Themen hatten. Aus Marsilius von Paduas 28  Ein Text hat keinen bestimmten Leser, schon gar nicht in Zeit und Raum: Alle, die des Lesens der Sprache, in der ein Text geschrieben worden ist, mächtig sind, können ihn lesen, auch wenn nur bestimmte Leser (aufgrund ihrer Sachkunde) die­ sen Text verstehen werden. Vgl. auch Boucher (1986): 67. 29  Für das Problem der angemessenen Identifizierung, ob das Bezeichnete auch das ist, was es bedeutet, hat Quine bekanntlich das Gavagai-Paradoxon formuliert: Anhand der fiktionalen Konstellation eines Ethnologen, der beim Erlernen der Spra­ che von Ureinwohnern nicht weiß, ob der Begriff Gavagai ein konkret bezeichnetes Kaninchen meint oder die Summe aller Kaninchen als Gattung bzw. sogar eine Gottheit (und gar kein Kaninchen), wird das Problem hermeneutischer Varianz deut­ lich. Diese Varianz kann letztlich logisch nur durch eine theoretische Dimension erschlossen werden, weil hierbei zahlreiche und unterschiedlich wirkende Aussage­ sätze in eine Reihe gebracht werden, wobei das Dilemma bleibt, für welche theore­ tische Option man sich entscheidet. Vgl. hier Quine (2007): 63 ff. 30  Skinner (1969): 41. 31  Vgl. Weber (1988).



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Theorie lässt sich beim besten Willen keine moderne Politikkonzeption machen: die Partizipationsrechte sind hier andere als in einer Demokratie. Auch aus Luther wird politisch kein Demokrat, nur weil er die Bibel ans Volk gebracht hat. Umgekehrt gilt dies auch für Rückübertragungen durch Jahrhunderte: Marx ist mitnichten bei Platon enthalten. Schon Stereotypen wie Urkommunismus oder Protokommunismus verraten, was da wem als Schablone vorgesetzt wird. Man sollte sich davor hüten, einen Autor mit Begriffen zu befrachten, die er selbst nicht gekannt hat. Souveränität hat in der griechischen Antike nichts zu suchen. Wohl kann man hier mit autarkia arbeiten, und es ist auch legitim, sich zu fragen, inwiefern das Au­ tarkie-Konzept mit dem christlich-römischen Verständnis von legibus solutus eine Korrelation aufweist. Aber dieses Interpretieren und Fragen nach der Bedeutung zwischen den Zeilen (und den Jahrhunderten) hat seine impliziten hermeneutischen Grenzen:32 Wo sollte man beginnen – und vor allem: wann muss man aufhören? V. Hermeneutik Skinner unterschlägt in seiner strengen textpositivistischen Analyse die Bedeutung der Aussageebenen. Dies wird z. B. signifikant, wenn er behaup­ tet, dass sich weder Hobbes mit Machiavelli beschäftigt habe, noch Locke mit Hobbes.33 Als wenn allein die nominale Statusanzeige in einem Text von Hobbes dazu beiträgt, dass man sagen dürfe, er habe von Machiavelli Kenntnis genommen oder nicht. Bestimmte Interpretamente lassen sich gar nicht ohne einen bestimmten Referenzautor führen. Ganz abgesehen davon, ob es taktisch sinnvoll ist, in einem bestimmten zeitgenössischen Diskurs (gegenüber einem Mainstream) seine Referenzquelle präzise zu benennen, macht es methodologisch auch Sinn, wenn ein Theoretiker des (neuen) Systems keine Referenzen an irgendwelche Klassiker macht. Hobbes ist in dieser Hinsicht (wie auch Hegel) der große Zertrümmerer der abendländi­ schen Philosophiegeschichte. Das Weglassen von Referenzen bedeutet also nicht von vornherein, dass es keine Verbindungslinien zwischen zwei Auto­ ren gibt. Hobbes muss nicht Machiavelli zitieren, was ohnehin in der eng­ lischen Debatte des 17. Jahrhunderts verpönt ist, um sich dennoch die ne­ gativistische, d. h. skeptische Anthropologie des Florentiners zu Eigen zu machen. Darin ist Hobbes nicht neu, und es ist eigentlich egal, ob er diese (seine) Anthropologie direkt aus der Lektüre Machiavellis empfangen oder aus weiterer ähnlicher Literatur (wie etwa der von Thukydides) bezogen hat. Politische Ideengeschichte soll eben nicht lapidar eine Fußnotenkommentie­ 32  Vgl. 33  Vgl.

auch Skinner (1969): 45. ebd.: 51.

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rung von Verbindungslinien und Einflusszonen sein. Es geht vielmehr um Bedeutungen, Implikationen und Transformationen dieser Bedeutungen. Letztlich will auch Skinner auf diese Form des Verstehens hinaus. Denn er will Texte und deren Autorenschaft richtig (historisch) zuordnen. Wenn er bei Locke unterstreicht, dass man eruieren sollte, „was er tatsächlich meint“,34 dann ist dies durch die hermeneutische Hintertür immer noch ein Rest vom Rankeschen Historismus. Das Tatsächliche mutet hier befremdlich an: Wann und wodurch weiß man, was tatsächlich gemeint gewesen ist? Man kann insofern hier Skinner wie Pocock gleichermaßen eine etwas ro­ mantische Form von historischem Verstehen bescheinigen, durchaus textpo­ sitivistisch.35 Der zu erklärende Kontext von anderen Ereignissen (= Sprech­ handlungen) führt nur zu einem nominalistischen regressus ad infinitum.36 Stets wird man noch einen neuen nominalen Kontext in der Historizität von Erscheinungsformen festmachen können. Insofern bleibt dann, durchaus Rankeanisch, jede Epoche wiederum bei ihrem Verständnis anderer Epo­ chen. Sie, die kontextuelle Auslegung, ist zwar nicht mehr zu Gott, wohl aber zum Text selbstexplikativ. Mit diesem Phänomen ist auch ein zentrales Problem der historischen Hermeneutik bzw. der Hermeneutik überhaupt angezeigt: Schreibt ein Autor für die eigene Gegenwart, wie Skinner dies unterstellt?37 Für die Belletristik oder die politische Pamphletistik mag dies gelten. Deshalb sind diese Schriftensorten auch so überaus zeitimmanent verhaftet und im Nachhinein für spätere Generationen nicht ohne eine enorme Vorbildung vernünftig zu dechiffrieren. Vernünftig heißt hier, sich die Relationen des Bedeutungsum­ feldes, in dem eine Schrift mit ihren Argumenten agiert, klar zu machen. Doch für die Autoren der politischen Theorie gelten etwas andere Maßstäbe. Sicherlich bleibt ein Text wie die Politeia oder der Leviathan eine Quelle für zeitgenössische Indizierungen. Hierzu eine Kontextualisierung zu dechif­ 34  Ebd.:

59. Historisierung aller Lebensbereiche, die im Gefolge der Romantik vor al­ lem die Wissenschaft und Literatur betrifft, vermittelt eine historische Gefühlsebene, die nicht der Objektivität dient, sondern der identitären Selbstversicherung. Die ro­ mantische Position ist epistemologisch also bis zu einem gewissen Grad ein nicht­ reflexiv artikulierter emphatischer Positivismus! – Wie es gewesen ist wird als ein so ist es gewesen verstanden. Vgl. auch Orr (1986): 5. 36  Auch kann man nicht einfach Sprech- und Textakte mit sozialen Handlungen gleichsetzen, wie die Cambridge School dies vorschlägt. Die hermeneutische Funk­ tion der Sprache, die Rolle und die Möglichkeiten des Adressaten (als Mitdiskutant oder nur als Leser) sind ganz unterschiedlich. Sämtliche Übereinstimmungsmuster von Textaussagen mit Handlungen, die zweifellos bestehen können und historisch auch zu verorten sind, bleiben letztlich analoge Konstruktionen. Vgl. auch Boucher (1986): 60. 37  Vgl. Skinner (1969): 70. 35  Die



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frieren bzw. zu rekonstruieren, ist nicht nur legitim, sondern auch geboten. Allerdings wird das hermeneutische Problem damit nicht kleiner, sondern eher größer: Was weiß man denn von diesem Kontext in Zeit und Raum hundert, dreihundert oder gar über 2.000 Jahre später? – Zu unterstellen, man könnte die Intention eines Autors, die Bedeutung seiner Schrift mit all ihren Interpretamenten und Axiomen wirklich besser verstehen durch die nachträgliche Dechiffrierung des historischen Kontextes, setzt voraus, dass man auch dem jeweiligen Autor unterstellt, er habe seine Zeit heuristisch im Griff gehabt. Aber ist dies wirklich (je) der Fall? Die Antwort lautet eindeutig: nein. Als ob Jürgen Habermas wüsste, was im Zeitalter der Globalisierung alles rational zu verorten ist. Natürlich mag er selbst der festen Überzeugung sei, dass er die Phänomene und Effekte der Globalisierung, so widersprüchlich sie auch sein mögen, kognitiv mit seiner Form von kritischer Theorie bzw. Diskurstheorie in den Griff be­ kommt. Anders könnte er auch gar nicht ernsthaft argumentieren. Dennoch schließt dies nicht aus, dass selbst ein Habermas selbstkritisch zugeben müsste, nicht alles sinnvoll dechiffrieren zu können, was da passiert. Glei­ ches gilt für jeden Denker, für jeden Autor, der sich zu den Problemen seiner Zeit, seiner Epoche äußert bzw. geäußert hat. Weiß Hobbes alles über das 17. Jahrhundert, dessen Verlauf er so erstaunlich erfolgreich, weil lang­ lebig, verfolgen konnte? Natürlich nicht – und diese hermeneutische und spezifisch epistemologische Einschränkung in die strukturelle Limitiertheit des menschlichen Geistes gilt für jeden Klassiker, von Platon angefangen bis zur Gegenwart. Die sokratische Skepsis ist allerdings nicht reduktionis­ tisch zu sehen, sondern diese bedingt erst im spezifischen Sinne die Berech­ tigung für immer neue Forschungen in der Politischen Ideengeschichte bzw. der Ideengeschichte insgesamt. Warum einen Text so lesen wie vor einhun­ dert Jahren? – 1) Kann man das gar nicht, weil der zeitbedingte Horizont uns fremd wäre. Erst recht gilt dies für die Lektüre antiker Klassiker. Wir können Platons Dialoge beim besten Willen nicht mit den Augen Ciceros lesen. Wir können sie analog dazu verstehen, aber schon dies ist eine her­ meneutische Konstruktion, die nicht unwesentlich davon abhängt, wie wir den zweiten Leser (in diesem Fall Cicero) lesen und interpretieren. Entscheidend ist dies aber auch keineswegs, denn 2) hängen unser Ver­ ständnis und unser Interpretationsvermögen zunächst einmal originär davon ab, wie wir selbst unsere eigene Situation kontextuell verstehen. Erst von dieser Perspektive aus ergibt sich der Kontextbezug zu dem jeweiligen Klassiker. Manche verschwinden dadurch für Jahrhunderte von der Bildflä­ che der Referenz (wie z. B. Johannes Althusius), weil sie einfach nicht passen. Die Vialibilität von Texten bzw. von Theoremen bestätigt nachhaltig den konstruktivistischen Kern in der Politischen Ideengeschichte. Wenn Althusius uns heute etwas zu sagen hat, wovon manche Interpreten in der

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Gegenwart zutiefst überzeugt sind38 (obwohl dieser Autor aus dem frühen 17. Jahrhundert noch vor 50 Jahren nur einigen Eingeweihten in der deut­ schen Rechtsgeschichte bekannt war, im 19. und erst recht im 18. Jahrhun­ dert hingegen überhaupt keine Rolle spielte), dann hat dies zentral mit den jeweils vorherrschenden Kontextualisierungen in der Referenz- und Inter­ pretationsgeneration zu tun. Wohlgemerkt nicht in der Epoche, in der Alt­ husius schrieb und arbeitete, sondern in den darauf folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten, in denen er auf weite Strecken eine höchst beschauliche Nichtexistenz in der Politischen Ideengeschichte führte. Gleiches gilt für Justus Möser,39 der doch über eine regionale Referenzposition bis zum heutigen Tag meist nicht herausgekommen ist. Woran liegt so etwas? Die Tatsache, dass Immanuel Kant mit seinem Stück vom Ewigen Frieden gut einhundertfünfzig Jahre lang fast gar keine Rolle spielte, obwohl sich gleichzeitig seine Vernunftkonzeption nicht nur in der Philosophieentwicklung großer Wertschätzung erfreute, bedarf einer Erklärung. Politikfähig, im Sinne von interessant, ist der Kant erst in der Bundesrepublik Deutschland geworden – und zwar hier auch erst nach 1968. Zeitströmungen und ihre kognitiven Bedürfnisse bedingen demnach die Referenzqualität von Autoren, lassen sie zu Klassikern der Politischen Ideengeschichte werden bzw. zu heimlichen Klassikern – oder auch wiede­ rum zu gar nichts. Die situative Bedarfslage, die Anpassung an die syste­ mischen Bedürfnisse, seien sie nun eingebildet oder tatsächlich, führt zur Lektüre eines Autors und eines Textes. Und zwar nicht notwendigerweise zur Lektüre von allen Texten eines Autors! – Wer will tatsächlich den gan­ zen Kant oder den ganzen Hegel lesen? – Ist das notwendig, um die Welt zu verstehen? – Und was überhaupt ist (oder: wäre) der ganze Kant? Kann man Kant besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat? – Die Antwort lautet logischerweise nein. Dies schließt aber nicht aus, dass man Kant anders versteht, als er sich seinerzeit selbst verstanden hat. Die Diffe­ renz in der epistemologischen Betrachtung resultiert aus dem historischen wie aktuellen Kontext. Dazu gehört neben der Zeit auch die Sprache, die Kultur (mit ihren Deutungsmöglichkeiten und entsprechenden kognitiven Limitationen). Eben deshalb ist die Beschäftigung mit Ideengeschichte ei­ gentlich unteleologisch – ein never ending process. Auch wenn die Deu­ tungsvariablen nicht unendlich sind, weil jeder Text beschränkt bleibt, ist stets mehr als nur eine sinngemäße Interpretation möglich. Klassiker werden überhaupt dadurch erst zu einem Klassiker, wenn und indem sie Axiomata bereitstellen, die entweder so umstritten sind, weil sie in einem spezifischen Kontext unterschiedlich interpretiert werden können – oder aber weil sie 38  Vgl. 39  Vgl.

z. B. Malandrino / Wyduckel (2010). Welker (2007).



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schlichtweg sehr offen für Varianten sind. Gerechtigkeit ist z. B. so ein pa­ radigmatischer Begriff, der von der antiken Lehre der Kardinaltugenden bis heute ständig einer modifizierenden Reinterpretation bedarf. Und so kann man mit Jakob Burckhardt am Exempel der über 2.000 Jahre langen Thuky­ dides-Interpretationen sagen, dass es immer (noch) jemand geben kann, der etwas Neues und Wichtiges zur der Geschichte des Peloponnesischen Krieges feststellen wird.40 Wir können ohnehin nur das erklären, was wir zu verstehen meinen. Und wir erklären auch nur das, was uns interessiert. Skinner und Pocock erklä­ ren sehr schön die Struktur republikanischen Denkens in der Prämoderne. Aber sie erklären auch nur diese. Warum eigentlich? Ganz offensichtlich orientieren sie sich hier unausgesprochen an einer eigenen (also aktuellen) Bedarfslage des politischen Systems der Moderne, dem demokratischen Staat, der seinen normativen wie auch organisatorischen-institutionellen Bezug zum klassischen Republikanismus aufweist. Sie orientieren sich aber nicht an der alteuropäischen Metaphysik. Dieser (mindestens) ebenso wich­ tigen Denkrichtung zum Verstehen von Politik in der frühen Neuzeit gilt ihre ganze Verachtung bis polemische Ablehnung. VI. Kontextualisierungen Das Grunddilemma dieser einseitigen Interessenperspektive und der ent­ sprechenden Vereinnahmung von bestimmten Ideen, die für alle Leser und Bearbeiter der Ideengeschichte zutrifft, auch für die großen Philosophen selbst, liegt in der graduellen Differenz bzw. Unvereinbarkeit von Philosophie und Geschichte.41 Nicht dass die Geschichtsbetrachtung nicht philoso­ phisch wäre; ohne ein logisches System der Zeichendeutung wäre ein his­ torisches Verstehen nicht möglich. Aber die ganz grundsätzliche Frage ist, inwieweit ein Axiom in der philosophischen Betrachtung wie z. B. die Aussage Der Mensch ist an sich vernünftig in einer konkreten historischen Herrschaftssituation des 17. Jahrhunderts mit der Ankündigung Protestanten sind vernünftiger als Katholiken korreliert oder nicht? Selbst wenn man beides als Konstruktionen des Geistes im Rahmen einer Rechenoperation betrachtet, wie es der moderne Konstruktivismus vorschlägt, dann gibt es hierbei dennoch unterschiedliche Qualitätsebenen, für die solche Aussagen passen oder eben ganz unpassend sind. Die erste Aussage ist so allgemeiner Natur, dass sie zeitunabhängig for­ muliert werden darf, gerade weil ihre Überprüfbarkeit in Zeit und Raum jeweils verschieden konkretisierbar gemacht werden muss. Die zweite Aus­ 40  Vgl. 41  Vgl.

Landmann (1981): 13. auch Pocock (1972): 88 ff. u. (1987).

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sage bindet sich kontextuell bereits an ganz bestimmte Erscheinungsformen von Sozialität, politischer Ordnung und vor allem Konfessionalität, so dass diese Aussage nur dann und dort einen Sinn macht, wenn man sie in Zeit und Raum spezifisch zuordnen kann. Selbstverständlich hat die Cambridge School hier Recht, wenn sie darauf hinweist, dass allein schon eine derartige sprachliche Figuration einem je spezifischen historischen Kontext entspringt. Das ändert allerdings nichts an ihren zeittranszendierenden Implikationen. Die Sinnfrage von Texten ist schließlich nicht einfach nur eine für den historischen Kontext, sondern ganz grundsätzlich nach dem Sinn eines Textes überhaupt. Wenn also z. B. Pocock der Meinung ist, dass man „den Text in der für den Autor oder seinen zeitgenössischen Leser maßgeblichen Bedeutung“ entschlüsseln müsse,42 dann fragt man sich doch, welches simple Verständnis von Histo­ rizität wird dem Unternehmen hier hermeneutisch vorausgestellt? – Glauben Pocock und Skinner im Ernst, dass sie die Bedeutung eines potentiellen Lesers von Machiavellis posthum erschienenem Principe für ein beliebiges Jahrhundert historisch adäquat, d. h. also: realistischerweise, erschließen können? Dass es also objektiv möglich ist, die Bedeutung, die Argumente in einem Text für seinen Urheber wie für seine Leserschaft haben, in allen Facetten perspektivieren und bilanzieren zu können? – Entweder ist dies ein reiner Positivismus oder aber, der Verdacht drängt sich hier stärker auf, eine unausgesprochene metatheoretische Perspektive, quasi ein geschichts­ philosophisches Absolutum, von dem aus man sich in der Lage fühlt, klar erkennen zu können, was historisch adäquat ist und was nicht. Sollte es sich um Letzteres handeln, dann ist dies gleichsam ideologisch. Zu meinen, man verstehe schon bei sachkundiger Nachfrage an den Text und den Kontext seines Autors, was die Argumente im Text zu bedeuten haben, besser für die vergangene Zeit als diese selbst, unterstellt der sach­ kundigen Lesart eine Brille, die etwas ganz besonderes sein soll. Aber was ist das für eine Brille? – Historiker bemühen gemeinhin zur Interpretation von Quellen die Methodik des historischen Verstehens. Hermeneutik wird dann zugespitzt auf eine so genannte historische Hermeneutik.43 Aber funk­ tioniert diese anders als die allgemeine Hermeneutik? – Die Antwort lautet nein. Denn das epistemologische Problem der Hermeneutik ist immer schon der Zeitaspekt. Der Text ist immer (schon) nicht zur gleichen Zeit entstan­ den wie der Vorgang des Lesens. Die Zeit-Raum-Relation zwischen Text­ schöpfung und Rezeption durch einen Leser ist selbst bei der Lektüre von Tageszeitungen schon ein Problem für die Aktualität und die Interpretamen­ te der Nachrichtenübermittlung. 42  Pocock 43  Vgl.

(1972): 91. hier u. a. Rüsen (1986), Braudel u. a. (1990), Arnold (2001).



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Weil dies den Vertretern der klassischen Ideengeschichtsschreibung im­ mer schon klar war, haben sie sich damit auch nicht weiter beschäftigt. Implikationen einer empirisch ausgerichteten Betrachtung von Politischer Ideengeschichte halten sie für ein müßiges Spiel.44 Ein klassischer Vertreter der Politischen Ideengeschichte ist so gesehen jemand, da hat Pocock Recht,45 „der sich die Politik lieber von Aristoteles erklären lässt als von der Verhaltensforschung“. Vertreter dieser Richtung folgen der Autoritätsstruktur der Argumentationsfiguren bezogen auf ihre Urheber, d. h. der Lo­ gik eines Autors, der quer durch die Jahrhunderte seine Referenzpunkte in ganz unterschiedlichen systemischen Kontexten gefunden hat. Das reicht zwar nicht für alle Fragestellungen, wohl aber für viele und vermutlich (so die Hypothese) für die zentralen Aspekte von Politik. Pocock (und letztlich auch Skinner) kann man mit den klassischen Vertretern insofern wiederum zusammenbringen, als doch eine paradigmatische Funktion (sei es die der Sprache, sei es die der Ideen, sei es die des Diskurses) über längere Zeit­ räume betrachtet nie stabil bleibt, sondern Schwankungen und einem erheb­ lichen Wandel unterliegt, mal in kürzeren, mal in längeren Zeitabschnitten. Die Ideengeschichte handelt somit inhaltlich wie interpretatorisch in der Rezeption von den „Veränderungen bei der Verwendung von Paradigmen“.46 VII. Intertextualität Diese Paradigmen kann man aber nur begreifen, wenn man die Rezepti­ onsgeschichte aus einem aktuellen Interesse heraus betrachtet. Es gibt viele Beispiele dafür, dass Rezeptionen und die Wertschätzung von Autoren und Themenstellungen geradezu verschluckt oder verschüttet worden sind. Selbst innerhalb des Werkes von klassischen Denkern der Politischen Ideenge­ schichte (wie etwa Platon oder Aristoteles) ist oft jahrhundertelang nur je­ weils ein ganz bestimmter Teil ihrer Lehre tradiert und interpretiert worden. Bei Aristoteles bis ins Hochmittelalter (nur) die Ethik und bei Platon bis zur 44  Je größer der wissenschaftliche Anspruch auf die angeblich exakte Historizität der Erscheinungsformen, desto mehr entfernt sich der Betrachter vom subjektiven Nachvollzug des Historischen. Paradoxerweise versteht er immer weniger, je mehr er objektiv ermitteln will (vgl. auch Orr 1986: 6). Es stellt sich hier schon die Frage, was das Spezifische in der Arbeitsweise eines Historikers sein soll: etwa die Fußnoten und die Zitate? – Das hermeneutische Problem resultiert letztlich aus dem Umstand, dass Geschichte keinen Selbstwert hat: Wie jede Idee versteht man ein geschichtliches Faktum oder eine Interpretation erst dann, wenn man ihr Vorhanden­ sein bewusst aufgreift. Dieser hermeneutische Zirkel führt zur offensichtlichen Fehl­ funktion der Geschichte: Sie kann nicht etwas erklären, was kein Mensch wissen will. 45  Pocock (1972): 93. 46  Ebd.: 107.

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Renaissance mehrheitlich mehr die Kosmologie als die politischen Texte. Der Kontext für die Analyse ist also ein dreifacher: a) ein historischer Diskursraum,47 in dem sich der jeweilige Autor mit seinen Ansichten be­ wegt, b) ein Referenzdiskurs, an dem er sich mehr oder weniger deutlich artikulierend hin orientiert – sowohl in der Absetzung wie in der Bestäti­ gung bzw. Modifizierung. Bei Platon sind dies die Vorsokratiker, bei Aris­ toteles ist es Platon selbst, bei Machiavelli ist es Livius und die republika­ nische Konstellation in der Antike, bei Hobbes ist es kontra Aristoteles, bei Max Weber ist es z. T. Nietzsche usw. Drittens c) ist es der Diskurskontext in der je eigenen, unmittelbaren Gegenwart, der überhaupt erst den Anlass gibt, sich mit diesem oder jenem zu beschäftigen. Das erkenntnisleitende Interesse ist hierbei sogar (zunächst) der wichtigste hermeneutische Punkt überhaupt, denn ohne ein solches Interesse kommt keine Beschäftigung mit Politischer Ideengeschichte zustande.48 Wer dies unterschlägt bzw. nicht dechiffriert, der betreibt Politische Ideengeschichte als romantische Schub­ ladenetikettierung. Wenn z.  B. Pocock die frühe Neuzeit zugleich als Spätrenaissance auffasst,49 dann ist dies schon eine heuristische Zuordnung, für es in den Diskursen dieser so genannten Epoche selbst keinen Beleg gibt. Es handelt sich hierbei ganz offenkundig um ein geschichtsphilosophisches Eintei­ lungsschema, das dem heutigen Bedürfnis bzw. ihren methodischen Prinzi­ pien entspricht, mehr aber auch nicht. Hierbei ist der Aspekt der Intertextualität allenthalben zu berücksichtigen:50 stets wird in den jeweiligen Theoremen an eine Sprache, an einen Diskurs appelliert, der selbst wiederum in vielfältigen Sinnkontexten begriffen wer­ den kann. Die Variabilität der Aussageformen ist hier zweifellos das an­ spruchsvollste Element, das in der Darstellung von Politischer Ideenge­ schichte zu beachten ist. Allerdings macht dies die Sache auch so reizvoll. Wären alle Interpretationen zu Thukydides gesetzt, im Sinne von absolut richtig für alle Zeit, dann brauchte man sich mit diesem Autor und seinem Text nicht mehr beschäftigen. Der Streit um die richtige Bibelexegese (oder neuerdings um den wahren Koran) demonstriert anschaulich die strukturelle Offenheit der Hermeneutik insgesamt. Ein Text ist nicht immer nur ein Text: mal erscheint der Autor wichtiger als der Text, mal sind bestimmte 47  Auch Pocock begreift die Geschichte des politischen Denkens als eine „Ge­ schichte des politischen Diskurses“ (Pocock 1987: 127). Diese Diskurse muss man allerdings nicht nur inhaltlich, sondern auch methodologisch auffassen und entspre­ chend konzeptionell klassifizieren. So gesehen ist das Europa der Prämoderne in der Tat „überaus rhetorisch ausgerichtet“ gewesen (ebd.: 146). 48  Vgl. auch Boucher (1986): 71. 49  Vgl. Pocock (1972): 110. 50  Vgl. auch Harlan (1989): 161 ff.



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Aussagen (Theoreme) wichtiger als das Textganze, mal wird ein Text nur durch andere Texte oder gar ganze Textgruppen für die aktuelle Leserschaft relevant. Kurz: die Variablen sind so unendlich viele, die hier hinein spie­ len, dass es methodologisch zunächst einmal das Einfachste ist, von einer bestimmten, weil grundständigen Bedeutungsfunktion eines Textes bzw. ei­ nes Autors auszugehen. Der Autor und sein Text (etwa Platon und die Politeia) fungieren hier als eine Art Zeit-Agent, eine Figuration von Intentio­ nen, die offenbar auf grundlegende anthropogene Konstellationen hin an­ wendbar und überprüfbar sind. Ein Verständnis von Texten als Sprache reicht hier dann auch nicht aus, denn Rede ist nicht gleichzusetzen mit Schrift.51 Deshalb ergibt sich aus der Logik des Geschriebenen, dass ein Text, wenn er erst einmal in die Welt gesetzt ist, Möglichkeiten enthält, „an die der Autor wohl nicht einmal im Traum gedacht hätte“.52 Insofern wirkt jeder Text bei jedem Leser intertextuell, setzt sich in sei­ nen Bedeutungen zusammen aus den verschiedensten Möglichkeiten,53 die die Speicherung anderer Texte beim Leser interpretatorisch hervorrufen.54 Im Übrigen gilt dies auch für den Autor selbst: Der Text, einmal verfasst, bleibt nicht sein Text, sondern bekommt ein Eigenleben, das auch bei er­ neuter Lektüre nicht zum gleichen Ergebnis für den Autor führen muss. Man springt also nie ins gleiche Wasser zurück, aus dem man gekommen ist: Die Strömung, Wärme oder Kälte ist jeweils um Nuancen anders. Des­ halb ist auch die Bedeutungszuweisung von Axiomen, Interpretationen, Narrationen etc. ein dynamischer und kein statischer Vorgang. Etwas ist nie in gleicher Weise – auch wenn das Ergebnis (formallogisch betrachtet) re­ lativ konstant bleibt. Marx wird nicht zum Liberalen gestempelt werden können und Machiavelli nicht zum Sozialisten. Die dennoch auftretenden hermeneutischen Schwankungen in der Inter­ pretation können am Besten durch die Rekonstruktion eines Diskurses ausgeglichen werden, damit der Kontext und auch die Kohärenz eines Au­ tors und seines Themas deutlicher werden.55 Der Diskurs ist das Paradigma 51  Vgl.

ebd.: 164. 165. – Die Summe aller Möglichkeiten, die eine Sprache beinhaltet, ist stets größer als das, was ein einzelner Autor und dessen konkreter Interpret heuris­ tisch hierbei erfassen kann. Dies erst recht, wenn – wie bei der Politischen Ideen­ geschichte – Raum-Zeit-Differenzen a priori gegeben sind. 53  Vgl. hier auch Harlan (1989): 181 ff. 54  Es würde zu weit führen, hier speziell auch auf die anamnetische Funktion einzugehen, doch dieser Aspekt ist zweifellos von grundsätzlicher Bedeutung: War­ um rufen bestimmte Texte (Ideen) originäre Reflexionen und Referenzmuster beim Leser hervor? 55  Vgl. auch Bevir (1997): 225 ff. u. grundsätzlich zur Diskurstheorie Connolly (1993). 52  Ebd.:

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von Etwas. Autoren, die sich einem Diskurs zuordnen lassen, sind so gese­ hen die Agenten des Paradigmas – mitunter quer durch Zeit und Raum. VIII. Kohärenz Die Politische Ideengeschichte ist im Kontext dieser Überlegungen in der deutschen Politikwissenschaft zweifellos lange Zeit (nur) so etwas wie ein Warenlager gewesen, hatte eine Lagerhaus-Funktion,56 aus dem man sich bei je aktuellem Anlass bediente und bedient, wie (und wann) man es für nützlich hält. Die Lagerhaus-Funktion ist natürlich höchst problematisch, weil sie a) einen Selbstwert für die Politische Ideengeschichte nicht aner­ kennt und b) nur nach dem jeweils konkreten Nutzen zur Befragung für die aktuellen Bedürfnisse verlangt. Beides zusammen führt zudem zu dem Ef­ fekt, dass c) die Politische Ideengeschichte sich beim Mainstream der deut­ schen Politikwissenschaft keiner besonderen Wertschätzung erfreut. Herme­ neutische Fragen werden hier durch empirische Fragen und Methoden er­ setzt. Der Umgang mit Texten, noch dazu klassischen Texten von Autoren, die möglicherweise seit mehr als einhundert Jahren tot sind, ist etwas für die Nischen der Romantiker (gemeint sind die humanistisch Gebildeten in der Zunft), denen man zwar ehrenhalber zuhört, die man aber nicht wirklich ernst nimmt. Man kann sie ja auch gar nicht verstehen. Und weshalb versteht man sie nicht? – Weil sie z. T. einer philosophi­ schen Terminologie und Sichtweise anhängen, die eben nicht empirisch gesättigt ist und daher eigentlich irrelevant. Politische Praxis, d. h. z. B. Politikberatung, lässt sich mit einer Aristotelesrezeption nicht machen. Da­ bei ist die philosophische Perspektive der eigentliche Schlüssel zum Erfolg:57 Machiavelli ist nicht deshalb wichtig, weil er politische Beratung gemacht hat, sondern weil er seine Erfahrungen als Berater der Republik von Flo­ renz, und auch konkret als Politiker, systematisiert und analysiert hat. Politische Philosophie in der Politischen Ideengeschichte bedeutet daher zu­ nächst nicht mehr und nicht weniger die Hinterfragung und logische Erör­ terung der anthropogenen Bedingungen, unter denen Politik gemacht wird.58 Die Frage nach dem, was der Mensch politisch kann, ist nicht nur die Fo­ cussierung auf die Perspektive, was denn hier die Realität von Politik ist, sondern (das zeigt die Politische Ideengeschichte signifikant) wie Politik eigentlich sein soll. Schon ein allgemeiner Blick auf die Geschichte der Klassiker politischen Denkens demonstriert die Funktion des normativen 56  Vgl.

auch Beyme (1969): 50 ff. auch Beyme (1992): 15 ff., Kielmansegg (1987), Nitschke (1995): 11 ff. sowie erneut Beyme (2009). 58  Vgl. auch Nitschke (2002): 5 ff. 57  Vgl.



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Ansatzes nachhaltig. Politische Ideengeschichte ist über weite Strecken thematisch eine Entwicklung normativer Vorstellungen von Politik. Hieraus resultiert auch eine strukturelle Kohärenz a) bei den Autoren selbst, b) bei den Themen und c) bei den Methoden. Nicht zufällig hat der Gerechtig­ keitsgedanke in der Geschichte der politischen Theorien einen solch zentra­ len Stellenwert. Aus dem Wechselspiel zwischen einer Argumentation, die aufzeigt, wie etwas sein soll (klassisch hier die Bibel) und dem, wie es ist (z. B. Machiavellis Principe), besteht die immanente Spannung für eine fortwährende Beschäftigung in und mit der Politischen Ideengeschichte. Was ein Autor meint, und was dieses Gemeinte für uns, die wir seinen Text heute lesen, bedeutet, sind zwei verschiedene Erkenntnisebenen – zunächst einmal. Ob dies grundsätzlich immer so ist, das entscheidet sich am konkreten Aussagegehalt. Ein Axiom kann hier, auch wenn es zu einer ganz anderen Zeit in einem ganz anderen Kontext artikuliert wurde, durchaus für die Gegenwart eine Bedeutung bekommen, die sein Urheber so nicht gesehen hat bzw. gar nicht sehen konnte, weil ihm die Mittel dazu fehlten. Übertragen auf das Pro­ blem der Sprache und der Begriffe bzw. Ideen bedeutet dies, dass die Kohä­ renz einer Aussage (trotz aller Schwankungen oder Veränderungen in Zeit und Raum) potentiell eigentlich immer gegeben sein kann, weil sie der Logik ent­ spricht. Denn die Logik stellt die Möglichkeiten her und jede Sprache ist auch nur so gut, wie die Logik sich in ihr entfalten kann. Alle Inkonsistenzen in der Artikulation von Aussagen in Texten ändern nichts daran, dass die Logik der Ausgangspunkt für alle Überlegungen ist. Mit der Logik ist zugleich die personale Identität eines Autors anzuzeigen – und zwar im Sinne einer Annahme, dass eine solche Identität vorausge­ setzt werden muss.59 So lange ein Autor nicht schizophren ist, was beim späten Nietzsche durchaus der Fall gewesen sein mag, erscheint es mehr als angemessen, hier von einer Identität des Bewusstseins und damit auch der daraus resultierenden Kommunikationsformen auszugehen. Die Kohärenz der Aussagen eines Autors resultiert also aus der Identität seiner Überzeu­ gungen – selbst dann, wenn er sie verlässt oder frühere Positionen kritisch in Abrede stellt. Bezeichnenderweise kommt es in der Politischen Ideen­ geschichte relativ selten vor, dass ein Autor diametrale Durchbrechungen früherer Verständnisweisen in seinen Texten formuliert. Hobbes bleibt durchweg Nominalist, Machiavelli Realist und Kant Idealist. Dass jemand (wie Platon) seine eigene (Ideen-) Lehre am Ende zu falsifizieren sucht, ist fast schon ein Sonderfall in der Geschichte politischer Ideen. Die Kohärenz einer Argumentation lässt sich vor allem auch an der Teil­ habe einer Vorstellung von universalen Prinzipien festmachen. Schon Aris­ 59  Vgl.

auch Bevir (1997): 231.

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toteles ist der Ansicht gewesen, dass besondere Taten von Menschen „ein großes Maß an Schönem, Gutem, Gerechtem und deren Gegenteilen aufweisen“.60 Verstehen kann man diese Aussage nur dann, wenn man weiß, was Prinzipien sind. Sofern wir heute also nach wie vor (oder wieder ein­ mal) eine Vorstellung davon haben, was das Gerechte oder das Schöne ist, können wir in einen Dialog mit Aristoteles eintreten. Hierbei geht es nicht so sehr darum, die konkrete Person des Aristoteles zu interpretieren, son­ dern die Implikation einer Aussage wie Das Gerechte ist auch das Schöne zu analysieren, unabhängig davon, ob es nun Aristoteles gesagt hat oder Platon. Schließlich ist auch die Person des Philosophen, auf die sich das neuere Unternehmen australischer Ideenhistoriker um Conal Condren und Ian Hun­ ter konzentriert,61 nichts weiter als eine Konstruktion. Das Ideen formulie­ rende Subjekt macht Identifikationsversuche im Hinblick auf die Welterklä­ rung, und diese werden wiederum von weiteren Subjekten (den Lesern) identifiziert (oder auch nicht). Dahinter verbirgt sich nach wie vor das grundsätzliche Problem der exakten Relationsbestimmung zwischen Subjek­ tivität und Objektivität einer je spezifischen Aussage. Immerhin zeigt aber der Blick auf die philosophische Person als Agent von temporären wie universalen Aussagemöglichkeiten, wie sehr ein jeder Autor in den Dis­ kurskontext seiner Zeit verstrickt ist. Platon ohne die Sophisten zu denken, ist nicht möglich, Kant ohne die Metaphysik von Wolff zu erörtern, wäre fehl am Platze.62 Denn die Geschichte der Philosophie (und damit inkludiert auch die der Politischen Ideengeschichte) ist eine Verlaufsfolge von Para­ digmen, die sich widersprechen, bekämpfen, wechselseitig absetzen, um sich dann doch wieder zu erneuern, also eine Geschichte von Antinomien, die man nur dialektisch im Ganzen begreifen kann,63 wenn man wissen will, wo ein Autor mit seinen Aussagen steht. IX. Dialektik Nach Schleiermacher ist das Wissen immer ein Eines und (zugleich) ein Mannigfaltiges.64 Die Dialektik, die Schleiermacher als Methode des Den­ kens in der modernen Variante gegenüber der platonischen Dialektik entfal­ tet hat, versucht also die grundsätzliche Frage bzw. das hermeneutische Problem zu beantworten, was eine je konkrete Differenz zu einem Sachver­ 60  Aristoteles

(2007): 39. Condren / Gaukroger / Hunter (2006), vgl. hier auch Hunter (2007): 259 ff. 62  Vgl. auch Hunter (2007): 267. 63  Vgl. auch ebd.: 272. 64  Vgl. Schleiermacher (1814 / 15): 14. 61  Vgl.



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halt darstellt und worin eine mögliche Übereinstimmung mit anderen Sach­ verhalten besteht. Hierfür bietet Schleiermacher ein Differenzierungsmodell an, das aus ei­ nem logischen Dreischritt zwischen Denken ↔ Anschauen ↔ Wahrnehmen (Urteilen) (Abwägen) (Protokollieren) besteht.65 Die drei Reflexionsbereiche müssen einander mit Notwendigkeit zugeord­ net werden. Die Frage ist nur, was gerät in den Protokollstatus der Wahr­ nehmung – und warum? Schleiermacher plädiert dafür, Vernunft grundsätz­ lich als ein System zu begreifen, das nicht beliebig verändert werden kann:66 „D. h. Giebt es ein Wissen so muß das System aller das Wissen constitui­ renden Begriffe in der Allen einwohnenden Einen Vernunft auf eine zeitlo­ se Weise gegeben sein“. Das ist insofern immerhin (anthropologisch) richtig, weil sich menschliches Wissen stets auf eine Einheit des Wissens, nicht auf eine Vielheit bezieht. Perspektiven auf eine Pluralität der Vernunft würden den Begriff (der Vernunft) konterkarieren. Es gibt vernünftige Gründe in endloser Zahl, aber die Begründung jeweils muss vernünftig sein. Dialektik vermittelt hierbei zwischen der an sich einen Vernunft und ihren subjektiven Vielheiten in Form der empirischen Erscheinungsbilder – oder, wie Schleiermacher es ausdrückt, zwischen den Ideen und dem Realismus der Begriffe.67 In die dialektische Betrachtung gehört zentral die Relation von Zeit und Raum. Denn (menschliche) Handlungen (und dazu zählen auch Texte als Kreationen des Wissens) manifestieren Zeit und Raum in ihrer wechselseitigen Konkretheit je als Ganzes. Es ist diese „Totalität aller Actionen“, die erst die „Totalität alles bewegten Raumes und aller erfüllten Zeit“ ergibt.68 Auch dieser Deutungsvorgang ist wiederum konstruktivis­ tisch, besonders wenn es um die Aneignung von Erfahrungen in anderen Räumen geht, die ich selbst nicht kenne und deren Erfahrungsmaßstäbe ich selbst nicht erfahren habe. Man kann hier nur die berichteten Affectionen nachahmen, alles andere muss man selbst produzieren.69 Die dialektische Erkenntnisposition kristallisiert sich demnach durch zwei Prinzipien heraus:70 65  Vgl.

ebd.: 22. 39 / 40. 67  Ebd.: 43. 68  Ebd.: 47. 69  Vgl. ebd.: 50. 70  Vgl. auch ebd.: 53. 66  Ebd.:

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a) die Bildung von Begriffen (die absolut sind) b) die Urteile hierzu (die dynamisch sind). Das hermeneutische Problem bei der Begriffsbildung ist jedoch, dass sich dieser Vorgang aus empirischen (also gegenwartsorientierten) Erfahrungen wie historischem Wissen gleichermaßen zusammensetzt.71 Damit aber sind die Begriffe (= Ideen) nur bedingt unveränderlich bzw. mit Notwendigkeit gegeben. Sie sind vielmehr auch kontingent, d. h. ebenso dynamisch und relativ wie die Urteile. Dialektik ist so schlimmstenfalls eine fortwährende Bestätigung der Mangelerscheinungen der Logik bzw. ihrer zeitbegrenzten Erkenntnisse. Der kurze Verweis auf die dialektischen Grundüberlegungen, wie sie Schleiermacher neu formuliert hat, zeigt an, was der Vorteil einer dialekti­ schen Betrachtung der Politischen Ideengeschichte gegenüber einer reinen Klassiker-Auslegung alten Stils oder aber auch der historischen Kontextua­ lisierung im Sinne der Cambridge School darstellt. Begriffe, Ideen als Diskurse zu betrachten, funktioniert nur dann, wenn man diese Diskurse auch dialektisch versteht. Die (dialektischen) Diskurse, die in der Ideenge­ schichte zum Vorschein kommen, bekämpfen sich z. T. regelrecht,72 d. h., es geht hierbei nicht nur um Rationalität, sondern auch um Polemik. Es wird gekämpft um der je spezifischen Wahrheit willen. Insofern ist das Wahr­ heitsverständnis ungeachtet aller Appelle an die wahrhaft richtige Gedan­ kenformel relativ, um nicht zu sagen ausgesprochen paradox: es existiert schlichtweg keine universale Gemeinschaft der Philosophen in Zeit und Raum, „nur eine Reihe von verschiedenen Schulen, die sich durch lange bestehende Rivalitäten und Konflikte auseinander entwickelt haben“.73 Viel­ leicht ist auch diese Sicht von Hunter noch zu idealistisch, unterstellt sie doch, dass es so etwas wie einen Kern des Beginnens für die Philosophie gegeben hat und die (historischen) Schulen sich lediglich im Sinne eines Ausdifferenzierungsprozesses der Erkenntnis durch die Epochen konkreti­ siert und voneinander abgegrenzt haben. Geht man hingegen an den Ur­ sprung der abendländischen Philosophie, zurück, dann besteht hier bereits bei den Vorsokratikern eine Pluralität von differenten Zugangsweisen zur Wahrheit und entsprechend heftigen Distanzierungen gegenüber dem jeweils anderen Lager.74 Notwendig bleibt also eine Wahl der logischen Kriterien, 71  Vgl.

ebd.: 54. auch Hunter (2007): 275. 73  Ebd.: 280. 74  Ganz abgesehen davon, dass sich Politische Ideengeschichte heutzutage in ei­ ner globalisierten Welterfahrung dringend auf Maßstäbe des Denkens anderer Kul­ turen als der rein Abendländischen einlassen müsste. Vgl. hier zu Recht das Plädo­ yer von Reese-Schäfer (2010). 72  Vgl.



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auf die man sich in der Politischen Ideengeschichte einlässt. Aber auch diese bedürfen schon einer Konstruktion im Vorhinein. Literatur Alemann, Ulrich von / Forndran, Erhard (1985): Methodik der Politikwissenschaft. Eine Einführung in Arbeitstechnik und Forschungspraxis. 3. Aufl. Stuttgart u. a. Aristoteles (2007): Rhetorik. Übersetzt u. hrsg. v. G. Krapinger. Bibliographisch ergänzte Aufl. Stuttgart. Arnold, John H. (2001): Geschichte. Eine kurze Einführung. Stuttgart. Bevir, Mark (1997): Geist und Methode in der Ideengeschichte. In: Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte. Hrsg. v. M. Mulsow u. A. Mahler. Frank­ furt a. M. 2010, S. 203–240. Beyme, Klaus von (1969): Politische Ideengeschichte. Probleme eines interdiszipli­ nären Forschungsbereiches. Tübingen. – (1992): Die politischen Theorien der Gegenwart. Eine Einführung. 7., neu be­ arb. Aufl., Opladen. – (2009): Geschichte der politischen Theorien in Deutschland 1300–2000. Wies­ baden. Boucher, David (1986): Conversation and Political Thought. In: New Literary His­ tory 18 (1986–87) S. 59–75. Braudel, Fernand u. a. (1990): Der Historiker als Menschenfresser. Über den Beruf des Geschichtsschreibers. Berlin. Brocker, Manfred (Hrsg.) (2007): Geschichte des politischen Denkens. Ein Hand­ buch. Frankfurt a. M. Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhard (Hrsg.) (1972–92): Geschichtli­ che Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 7 Bde. Stuttgart. Condren, Conal / Gaukroger, Stephen / Hunter, Ian (Hrsg.) (2006): The Philosopher in Early Modern Europe. The Nature of a Contested Identity. Cambridge. Connolly, William E. (1983): The Terms of Political Discourse. 2. Aufl. London. Cooper, Barry / Bruhn, Jodi (Hrsg.) (2008): Voegelin Recollected. Conversations on a Life. Columbia, Missouri. Fetscher, Iring / Münkler, Herfried (Hrsg.) (1985–93): Pipers Handbuch der politi­ schen Ideen, 5 Bde. München / Zürich. Frevert, Ute (2005): Neue Politikgeschichte – Konzepte und Herausforderungen. In: Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung. Hrsg. v. ders. u. H.-G. Haupt. Frankfurt a. M., S. 7–26. Frevert, Ute / Haupt, Heinz-Gerhard (Hrsg.) (2005): Neue Politikgeschichte. Perspek­ tiven einer historischen Politikforschung. Frankfurt a. M.

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III. Besprechungsabhandlungen und Rezensionen

,Success Story‘ mit glücklosem Ende: Thomas Manns amerikanische Laufbahn – Hans Rudolf Vagets Opus magnum Thomas Mann, der Amerikaner (2011) Hans Rudolf Vaget, Thomas Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938–1952, S. Fischer-Verlag, Frankfurt a. M. 2011, 584 S. „Where I am, there is Germany. I carry my German culture in me.“ So lautet die berühmte und so oft mißverstandene Äußerung Thomas Manns bei seiner Ankunft in New York im Jahre 1938. Das hat nichts mit Überheblichkeit zu tun – als ob er frei nach Ludwigs des Vierzehnten Diktum „L’État c’est moi“ sich selber mit Deutschland gleichgesetzt hätte –, sondern meint nichts anderes, als daß er gewis­ sermaßen das kulturelle Deutschland im Gepäck hat, das an keinen geographischen Ort gebunden ist – entsprechend dem von ihm so gern zitierten Xenion Schillers: „Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden. / Wo das ge­ lehrte [das geistige] beginnt, hört das politische auf.“ Dieses geistige Deutschland aber, so Thomas Manns Überzeugung, ist präsent, wo immer er weilt, da er es im­ mer mit sich führt, mit jeder Faser seines Wesens aus ihm heraus lebt – da er sich mit seinem ganzen Werk als dessen Repräsentanten empfindet. Dafür gibt es eine schöne, allzu wenig bekannte Bestätigung in den „Tagebuchblättern“ von Anfang April 1938, wo es heißt: „Unser Zentrum ist in uns. […] Wo wir sind, sind wir ‚bei uns‘. Was ist Heimatlosigkeit? In den Arbeiten, die ich mit mir führe, ist meine Heimat. Vertieft in sie, erfahre ich alle Traulichkeit des Zuhauseseins. Sie sind Spra­ che, deutsche Sprache und Gedankenform, persönlich entwickeltes Überlieferungsgut meines Landes und Volkes. Wo ich bin, ist Deutschland.“1  Rezensionen Rezensionen Die Greuelnachrichten aus Deutschland und den von ihm besetzten europäischen Gebieten, die Anfälligkeit des deutschen Bildungsbürgertums – auch so manches einstigen Weggefährten – für die nationalsozialistische Ideologie lassen Thomas Mann in der zweiten Hälfte seines Exils jedoch mehr und mehr daran zweifeln, ob jenes Deutschland, als dessen Repräsentanten er sich sieht, das andere Deutschland wirklich so anders war, ob nicht die Schuld Hitler-Deutschlands ihre Schatten weit in die Geschichte zurückwirft, die Wurzeln des Bösen auch tief in seine kulturellen Überlieferungen hinabreichen. Das wird das große Thema des Doktor Faustus sein. Thomas Mann bewegt die Gemüter heute mehr denn je – und wie wohl kein anderer deutscher Schriftsteller der Vergangenheit und Gegenwart. Wie kaum je­ mand sonst aus der schreibenden Zunft repräsentiert er das Leiden an der deutschen Unheilsgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der er sich auf exempla­ 1  Thomas Mann: Essays. Bd. 4: Achtung, Europa! Hrsg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Frankfurt am Main 1995, S. 439–445, S. 440.

300 Rezensionen  rische Weise gestellt hat. In seinen Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) schien er dem Kaiserreich gegenüber der heraufziehenden Demokratie die Treue zu wahren, um nach seinem schmählichen Untergang die Partei der Republik zu ergreifen. Das erschien den Ewig-Gestrigen, die der Weimarer Republik den Krieg erklärten, als Verrat. „Mann über Bord“ titulierte die Zeitschrift „Das Gewissen“ seinerzeit ihren Artikel über seine Rede Von deutscher Republik (1922).2 Dabei lassen sich die Betrachtungen eines Unpoltischen sehr wohl gegen den Strich ihrer konservativen Hauptlinie lesen und sind durchaus nicht so unpolitisch, wie ihr Verfasser vorgibt. Das hat ihre kommentierte Neuausgabe von Hermann Kurzke in der „Großen kom­ mentierten Frankfurter Ausgabe“ Thomas Manns (Bd. 13, 2009) zuletzt eindrucks­ voll bestätigt.3 Die Wendung zur Republik war daher nicht so überraschend, wie es zunächst den Anschein hatte. Daß Thomas Mann wie kaum ein anderer Autor seines Rangs den Ungeist des Faschismus schon von dessen ersten Regungen an erkannte, durchschau­ te und brandmarkte, ist nur vor dem Hintergrund der Tatsache verständlich, daß er seinen virtuellen Keim in sich selbst spürte, wie noch sein Essay mit dem provozie­ renden Titel Bruder Hitler (1939) bekunden wird. Gerade da er diesen virtuellen Keim in sich zu ersticken vermochte, verfolgte er mit kompromißloser Schärfe den Weg des deutschen Bürgertums in den Faschismus, war er doch in ihm selber ange­ legt; rechtzeitig erkannte er freilich die Signale, die ihn vor diesem Weg in den geistigen und politischen Abgrund warnten. Wenn man Politik nicht nur als opera­ tives Geschäft ansieht, mit dem ein Schriftsteller als spiritueller Aufsichtsrat nichts zu tun zu haben braucht, dann offenbarte sich hier eine politische Weisheit, die Thomas Mann seit seiner erzwungenen Emigration, vor allem in der Zeit seines unermüdlichen intellektuellen und publizistischen Kampfes gegen den Nationalsozia­ lismus und für eine demokratische Zivilisation, beispielhaft und in der literarischen Szene beispiellos auszeichnete. Daß ausgerechnet er nach einem – später bis an den Rand der Zurücknahme relativierten – Wort seines Sohnes Golo von Joachim Fest mit seinem Bruder Heinrich als Paar „unwissender Magier“ verlästert worden ist,4 stellt eine der ärgsten Fehlurteile der Thomas Mann-Biographik dar. Sie ist nun durch Hans Rudolf Vagets monumentale Studie Thomas Mann, der Amerikaner mit Stumpf und Stil widerlegt, ja Makulatur geworden. Der seit Jahrzehnten in Amerika lebende und lehrende Vaget – Professor emeritus am Smith College in Massachusetts – ist als einer der hervorragendsten Thomas Mann-Forscher, der im Unterschied zu manch anderem der in Amerika lehrenden deutschen Germanisten an dessen geistigem Leben immer intensiv teilgenommen, sich ihm zugehörig gefühlt hat, der ideale Autor für diesen Gegenstand, wie schon frühere einschlägige Publikationen von ihm ausgewiesen haben. Kein anderer als er 2  Vgl. die Dokumentation von Klaus Schröter: Thomas Mann im Urteil seiner Zeit. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2000, S. 103 ff. 3  Vgl. auch den Aufsatz des Verfassers dieser Rezension: Politische Betrach­ tungen eines angeblich Unpolitischen. Thomas Mann, Edmund Burke und die Tra­ dition des Konservatismus. In: Thomas Mann Jahrbuch X (1997). Frankfurt a. M. 1998, S. 83–104. 4  Joachim Fest: Die unwissenden Magier. Über Thomas und Heinrich Mann, Berlin 1985.

Rezensionen301 hätte dieses Buch schreiben können, zumindest nicht auf diesem Niveau. Es ist die Studie über den amerikanischen Thomas Mann, in der fast kein relevanter Gesichts­ punkt zu vermissen ist. Und ihm fehlt vor allem das, was Vaget spöttisch „die deutsche Kirchturmperspektive“ nennt (S. 318),5 wie sie bisher die meisten Studien über diesen Gegenstand prägt. Der un(frei)willige Emigrant ging nach den Schweizer Exiljahren wohl mit einer ähnlichen Haltung nach Amerika wie der nicht weniger unfreiwillige Emigrant Joseph nach Ägypten: wie dieser mit einem schwer und im Grunde nie ganz abge­ legten Vorurteil – dort gegenüber dem „äffischen Ägypterland“, wie es sein Vater Jaakob zu werten pflegte, hier gegenüber dem amerikanischen „Kindervolk“. Frei­ lich war sein Verhältnis zur angelsächsischen Welt schon vor dem amerikanischen Exil nicht so von Fremdheit geprägt, wie vielfach angenommen wird. Im ersten großen Kapitel seines Buchs beschreibt Vaget die frühen und späteren Stationen der Begegnung Thomas Manns mit der englischen und amerikanischen Literatur – und nicht nur der Literatur –, deren Sprache er sich in den amerikanischen Jahren anders als Frau und Kinder erst mühsam erobern mußte, aber schließlich recht passabel beherrscht hat. Zwei Autoren sind es vor allem, die für Thomas Mann lange vorm Exil eine bedeutende Rolle spielten: Walt Whitman und Joseph Conrad. Es ist nicht zuletzt der Humor, der ihm als dominanter Wesenszug der angelsäch­ sischen Literatur zusagt. Merkwürdig, daß Vaget in diesem Zusammenhang einen Autor nicht erwähnt, der Thomas Mann in der Zeit der Arbeit am letzten Josephs­ roman besonders wichtig war und an dem er seine Vorstellung vom britischen Hu­ mor – und seiner Anwendbarkeit auf seine eigene Romankunst – geschult hat: Laurence Sterne und seinen Tristram Shandy. Angelsächsische Kritiker haben frei­ lich, wie Vaget bemerkt, einige Schwierigkeiten, Humor in britischem Sinne bei Thomas Mann zu entdecken; das hängt gewiß auch damit zusammen, daß die auto­ risierte Übersetzerin Helen Lowe-Porter seine Spuren weitgehend verwischt und Thomas Manns Prosa eine humorbefreite Erdenschwere verliehen hat, die seiner Wirkung gerade heute im Wege steht. Doch nicht nur das: der Kritiker Paul West sieht den Unterschied zwischen britischem und Thomas Mannschem Humor darin, daß jener von einer Sympathie mit dem Chaos gekennzeichnet sei, dem der deutsche Autor doch keine humoristischen Qualitäten abgewinnen könne (S. 51). Thomas Manns Beschäftigung mit der angelsächsischen Literatur und Kultur, die er Vaget zufolge im Alter für die „schätzenswerteste“ hielt (S. 33), erklärt nicht zuletzt, wa­ rum der späte Thomas Mann nicht mehr gerne hörte, er sei ein Ironiker, und den Humor eindeutig über die Ironie stellte – auch in seinem eigenen Werk.6 Das mag einen zeitgeschichtlich-politischen Hintersinn haben. Ironie ist die ent­ scheidungsresistente Haltung eines Sowohl-als-auch. Doch angesichts des Faschis­ mus ist eine solche Haltung nicht mehr angezeigt: hier kann es nur den unbedingten, aller ironischen Relativierung abholden Kampf geben. Und ihm hat Thomas Mann 5  Die

eingeklammerten Seitenzahlen im Text beziehen sich auf Vagets Buch. seinen Beitrag über Humor und Ironie in einer Rundfunkdiskussion des Jahres 1953, in dem er ein- und ausdrücklich den Humor der Ironie vorzieht und bekennt: „Ich freue mich immer, wenn man in mir weniger einen Ironiker als einen Humoristen sieht“; Gesammelte Werke. Bd. XI. 2. Aufl. Frankfurt am Main, S. 803. 6  Vgl.

302 Rezensionen  sich in Amerika vollständig verschrieben. In seinem Artikel Hitler – das Chaos (1938) bekennt er, die „Heimsuchung Deutschlands […] durch den Hitlerismus“ habe aus einem „ursprünglich unpolitischen Schriftsteller“ wie ihm einen „aus tiefs­ ter Seele Protestierenden“ und „politischen Kämpfer“ gemacht (zit. S. 64). In der Tat: als solcher ist er in seinen zahllosen Auftritten, Reden und schriftlichen Appel­ len im ganzen Lande hervorgetreten, mit denen er das kriegsunwillige Amerika zum unvermeidlichen Kampf gegen Hitler-Deutschland aufzustacheln suchte. Allein die­ ser Kreuzzug kreuz und quer durch den Kontinent, den Vaget detailliert nachzeich­ net, seine aktualitätsgeprägten Reden – gewiß idealpolitisch ausgerichtet und sich vor dilettantischer Einmischung in die operative Politik hütend, aber alles andere als weltfremd – lassen das Wort vom unwissenden Magier als herablassende Torheit erscheinen. Thomas Manns Vita ist in Vagets Buch von zwei Helden geprägt – wie sich ge­ bührt von einem männlichen und einem weiblichen. Und die ihnen gewidmeten Kapitel sind die beiden narrativen Meisterstücke dieser erzählkünstlerisch wie ana­ lytisch gleich virtuosen Exil-Biographie. Der männliche Held ist natürlich Franklin D. Roosevelt. Thomas Mann hat den amerikanischen Präsidenten bis zur Idolisierung bewundert, ja geliebt. Kein Wunder: er war ein leidender Held so recht von Thomas Mannscher Statur, durch seine Kinderlähmung schwer gehandicapt und doch von seiner Behinderung nie Aufhebens machend, ein vom „Heroismus der Schwäche“ geprägter Leistungsethiker (S. 94). Durch Hendrik Willem Van Loon, einen hollän­ dischen Publizisten und Vertrauten des Präsidentenpaars, vermittelt, lernte Thomas Mann Roosevelt persönlich kennen, wurde zweimal ins Weiße Haus eingeladen, wo er Anfang 1941 sogar zwei Tage mit Übernachtung verbrachte. Seine Begegnung mit dem „Rollstuhl-Cäsar“, der wirklich eine „Demokratie von oben“ vertrat, die ihm zwar sympathisch war, doch mit der Verfassung und den demokratischen Instituti­ onen nicht selten gefährlich in Konflikt geriet, war eine der wichtigsten menschli­ chen Eindrücke seines Lebens. In der Beschreibung von Roosevelts Politik und der Reibungsflächen zwischen ihm, den Institutionen, der Öffentlichkeit und Medien zeigt sich Vaget nicht nur als glänzender Literatenbiograph, sondern ebensowohl als hochkompetenter Historiker und Kenner der politischen Szene der Zeit. Thomas Mann im Weißen Haus – er selber hat sich da in der Nähe zu Goethe und Napoleon gesehen, und Vaget folgt dieser Spur durchaus, wobei es ihm gelingt, zumal die Persönlichkeit Roosevelts nicht einfach zu analysieren, sondern als Ge­ stalt plastisch wirken zu lassen. Das erscheint auch angemessen und verständlich, ist der Präsident doch Vorbild für die Titelgestalt im letzten, ganz in Amerika entstan­ denen Roman seiner Joseph-Tetralogie: Joseph, der Ernährer. Vaget stellt die Paral­ lelen zwischen Roman und Wirklichkeit – auch bei anderen Werken Thomas Manns – in subtiler Verschränkung und Ineinander-Spiegelung der Sphären dar, ohne je ein plumpes Eins-zu-eins-Verhältnis beider vorauszusetzen. In einem Brief an seine amerikanische Mäzenin Agnes E. Meyer – der gegenüber er mit Äuße­ rungen über Roosevelt vorsichtig umgehen mußte, da sie dem Präsidenten als Re­ publikanerin durchaus abhold war – schreibt er nach seinem zweiten Besuch im Weißen Haus am 24. Januar 1941: „Diese Mischung von Schlauheit, Sonnigkeit, Verwöhntheit, Gefallustigkeit und ehrlichem Glauben ist schwer zu charakterisieren, aber etwas wie Segen ist auf ihm, und ich bin ihm zugetan als dem, wie mir scheint, geborenen Gegenspieler gegen das, was fallen muß. Hier ist einmal ein Massen-

Rezensionen303 Dompteur modernen Stils, der das Gute oder doch das Bessere will und der es mit uns hält wie sonst vielleicht kein Mensch in der Welt.“ Es fällt nicht schwer, in diesem Porträt Roosevelts die Züge Josephs wiederzuerkennen. Nach dem plötz­ lichen Tod des Präsidenten schreibt er am 19. April 1945 an Anton W. Heinitz: „Er war der geborene Mittler überhaupt, eine Hermesnatur, d. h. ein Politiker großen Stils.“ Hermesnatur, Mittler aber ist auch Joseph, wird es im Verlauf des letzten Romans immer mehr. Thomas Mann hat wiederholt betont, daß Roosevelts „New Deal“ hinter Josephs Wirtschaftsprogramm steht. Wenigstens ein Rezensent hat das sofort durchschaut: Jacob Weinstein in seinem Artikel Joseph – An Ancient New Dealer (1944). Hans Vaget vergleicht zumal den Antritt von Josephs Herrschaft und das rapide Tempo seiner wirtschaftspolitischen Maßnahmen mit den „first hundred days“ von Roosevelts erster Amtszeit mit ihrer dichten Folge von Reformen und Arbeitsbeschaffungsprojekten. Die Schattenseiten der Rooseveltschen Politik – der massive Rechtsbruch zumal, daß durch einen Erlaß des Präsidenten nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor 110.000 Japanese Americans in den Staaten an der Westküste enteignet und in eine Art von Konzentrationslagern im Landesinneren umgesiedelt wurden, obwohl sie in der Mehrzahl längst Amerikaner waren und die japanische Aggression verur­ teilten – hätten Thomas Manns Sympathie für den Präsidenten eigentlich auf eine harte Probe stellen müssen, aber er wollte sie sichtlich nicht sehen, lastete sie dem ,System‘, nicht dem Präsidenten persönlich an, dessen Bild er von keinem Makel getrübt sehen wollte. Vaget verrät uns nicht, ob es ein unmißverständliches Urteil von Thomas Mann über jenen Rechtsbruch gegenüber den Japanese Americans gibt; und wenn er Ronald Reagan als den entscheidenden Zerstörer des Reformwerks von Roosevelt ansieht (147 f.), so wäre es doch wohl gerecht gewesen, auch hervorzu­ heben, daß es eben dieser Reagan war, der sich 1988 im Namen der US-Regierung für jenen auf „Rassismus, Vorurteilen und Kriegshysterie“ basierenden Erlaß ent­ schuldigte. Das erfahren wir aus Vagets Buch nicht. Ein freilich nur kleiner Schatten in seinem Gemälde – wie es ein großer in der Politik Roosevelts war. Daß dieser im Grunde ein Anhänger der Ideen von Vansittart (siehe unten) und der Überzeugung war, daß Deutschland nach dem ersten Weltkrieg nicht genug aufs Haupt geschlagen worden war und sich deshalb zu bald militärisch erholen konnte, ist für Thomas Mann kein Problem gewesen. Wie unverhältnismäßig Deutschland durch den Versailler Vertrag und die drückenden Reparationszahlungen die Schuld und Schulden des Kriegs aufgebürdet worden waren, wie sehr gerade dadurch seine verhängnisvollen Revanchegelüste angefacht wurden, hat Roosevelt nicht wahrhaben wollen, und es besteht kein Anlaß zu vermuten, daß Thomas Mann ihm in diesem Punkt widersprochen hätte. Die Mitschuld der Westmächte an der Ausbreitung des Faschismus wird von Thomas Mann freilich – so zumal in seinem Essay Schicksal und Aufgabe (1943) – insoweit zugestanden, als sie ihn auch nach seiner Überzeu­ gung anfänglich als Bollwerk gegen den Kommunismus zu sehr begünstigten. In einem anderen Falle freilich ging Thomas Mann zumindest mittelbar auf Dis­ tanz zur Politik des Präsidenten, wenngleich er sie auch in diesem Falle nicht expli­ zit kritisierte. Als seit dem Spätjahr 1941 allmählich das immer größere Ausmaß der Judenvernichtung bekannt wurde, brandmarkte Thomas Mann dieses in der Ge­ schichte beispiellose Verbrechen in seinen amerikanischen Reden wie in seinen Rundfunksendungen nach Deutschland ohne jede Rücksicht auf die offizielle Zu­

304 Rezensionen  rückhaltung der amerikanischen Regierung. Das stellt Vaget in aller Deutlichkeit dar: „Es ist also unbestreitbar zu sehen, dass Thomas Mann, zu einem Zeitpunkt, als die Nachrichten über das Schicksal der europäischen Juden nur sehr spärlich nach Ame­ rika drangen und die US-Regierung unschlüssig war, wie sie reagieren sollte, in seinen Radioansprachen den Massenmord an den Juden thematisierte, sobald und soweit er Kenntnis davon erhielt.“ (S. 126) Freilich, auch hier – wie im Falle der Entrechtung der japanischstämmigen Amerikaner, der erzwungenen Registrierung der italienischen und deutschen Emigranten als „enemy aliens“ oder des absurden Morgenthauplans, der Deutschland auf die Stufe eines vorindustriellen Landes hin­ abzudrücken suchte – blendete Thomas Mann die unmittelbare Verantwortung des Präsidenten in seiner unbedingten Verehrung für denselben aus seiner Betrachtung aus. „Es gibt von ihm kein öffentliches Wort der Kritik an der Deutschlandpolitik Roosevelts. Dieser Präsident stand für ihn über den Querelen der Tagespolitik in Washington, Als der entscheidende Gegenspieler Hitlers ragte Roosevelt in die Sphäre der Welthistorie und besaß als solcher die uneingeschränkte Loyalität Tho­ mas Manns.“ (S. 141) So fesselnd und wichtig, wohl am wichtigsten, das große Roosevelt-Kapitel in Vagets Exilbiographie Thomas Manns ist – und das nicht nur in Bezug auf diesen, sondern auch und vor allem auf die Zeitgeschichte –, das hinreißendste Kapitel des Buchs ist doch das über den weiblichen Widerpart Roosevelts, die aus einer deut­ schen Einwandererfamilie stammende republikanische Journalistin Agnes E. Meyer, Gattin von Eugene Meyer, dem Besitzer der „Washington Post“. Ihren voluminösen Briefwechsel mit Thomas Mann hat Vaget 1992 herausgegeben. Offenbart Vaget sich im Roosevelt-Kapitel als glänzender Zeithistoriker, so im Agnes E. Meyer-Kapitel als Psychologe und Erzähler von hohem Rang – einschließlich eines sehr angelsäch­ sischen Humors. Agnes E. Meyer hat Thomas Mann in Amerika fast alle entschei­ denden Wege gebahnt, ihm und seiner Familie durch direktes wie indirektes Mäze­ natentum zu einer gesicherten wirtschaftlichen Existenz verholfen. Daß das alles aus einer die Züge des Wahnhaften streifenden unerwiderten Liebesleidenschaft für Thomas Mann resultierte, macht Vaget auf eine bisweilen erschütternde, bisweilen erheiternde Weise deutlich. Die wissenschaftliche Biographie wird hier fast zum Liebesroman. „Und wenn ich Dich lieb habe, was geht’s Dich an?“ erklärt Goethes Philine dem abweisenden Wilhelm Meister.7 Man hat in diesem Satz eine Reminiszenz an Spinoza vermutet, von dem das Wort stammt: „Wer Gott liebt, der frägt [sic!] nicht nach seiner Gegenliebe“; so das Zitat bei Agnes E. Meyer in einem Brief an Thomas Mann.8 (Ob sie freilich seine homoerotische Disposition durchschaut hat, läßt Vaget offen.) Das war ihre Situation: Gott war Thomas Mann – die Liebende, die nicht nach Gegenliebe fragt, sie selber. Und was für diese Liebende spricht – was Thomas Mann trotz so vieler Krisen in dieser Beziehung, die von seiner Seite fast zum Abbruch derselben geführt hätte, in abgründig zeichenhafter Weise in einem ihr erzählten, verhüllt erotischen Ring-Traum anerkannt hat (S. 190 ff.) –, das ist die Tatsache, daß 7  Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 7, Hamburg 1948 ff., S. 235. 8  Thomas Mann / Agnes E. Meyer: Briefwechsel 1937–1955. Hrsg. v. Hans Rudolf Vaget. Frankfurt a. M. 1992, S. 208.

Rezensionen305 sie trotz verschmähter Liebe Thomas Mann in jeder Situation seines amerikanischen Lebens mit beispielloser Hilfsbereitschaft, ja Hilfsbesessenheit geholfen hat, die man als Selbstlosigkeit bezeichnen möchte, wenn es denn selbstlos sein kann, sich in das geistige Leben des Verehrten zu drängen, durch den Anteil an diesem Leben ein Glied in der Kette der großen deutschen Bildungstradition werden zu wollen. Und beides wollte sie mit einem förmlich messianischen Sendungsbewußtsein. Mit berückender Stringenz macht Vaget plausibel, ohne einem vordergründigen Biographismus zu verfallen, daß Agnes E. Meyer nicht nur hinter Adrian Leverkühns inkognito bleibender Gönnerin Frau von Tolna steht, sondern auch und vor allem hinter der Thamar des vierten Josephsromans. „Thamar, die Schwiegertochter Juda’s, die sich um jeden Preis in die Heilsgeschichte einschaltet“ (so Thomas Mann an Meno Spann, 16. Juni 1942), ist unzweifelhaft ein fiktives Ebenbild von Agnes E. Meyer. Daß Thomas Mann ausgerechnet ihr in einer separaten Lesung in Santa Monica das Thamar-Kapitel vorlas, war eine höhere Form von Grausamkeit, ver­ gleichbar derjenigen Josephs gegenüber Mut-em-Enet. Daß sie sich da noch einmal zu einer Geste der Zärtlichkeit aufgereizt fühlte, wer kann es ihr verdenken. Doch Thomas Mann zieht sich wie Joseph gegenüber der erotischen Geste fremdelnd zurück. „Schrecklich. Will da noch das Weib in mein Leben treten, allen Ernstes.“ So im Tagebuch vom 2. März 1942. Neben diesem persönlichen Problem war es auch die politische Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen – der rigorosen Roose­ velt-Gegnerin und dem unbedingten Verehrer des Präsidenten –, der Thomas Mann immer wieder zur Distanz gegenüber seiner Gönnerin veranlaßte. Erst nach dem Krieg näherten sie sich politisch einander bis zur Meinungsidentität an: als die Ver­ folgungsjagd auf die vermeintlichen Kommunisten Amerika der geistigen Identität beraubte, um deretwillen Thomas Mann zum Amerikaner geworden war. Nun kämpften er und seine Freundin an der gleichen Front. Diese schlug sich mehr und mehr auf die Seite der Demokraten und trat Jahre nach Thomas Manns Tod im Jahre 1960 spektakulär aus der republikanischen Partei aus. Nach diesem Kapitel, einem der spannendsten, die in einem Buch über Thomas Mann je zu lesen waren, hat es der Leser nicht leicht, das weniger atemberaubende nächste aufzuschlagen: Thomas Manns Reise- und Vortragstätigkeit durch den Kon­ tinent, die Vaget akribisch nachzeichnet. Er habe mehr von dem riesigen Land zu sehen bekommen und vom College-Studenten bis zum Präsidenten mehr Amerika­ nern die Hände geschüttelt als jeder andere Emigrant (S. 219). Seine Agitationsreden – und es waren ausdrücklich solche – füllten die größten Säle, erreichten oft an einem einzigen Abend Tausende von Hörern. „The worlds greatest living writer“ und „Hitler’s moste intimate enemy“ (als beides galt er in den USA: S. 243) erlebte eine Resonanz – über seine Auftritte und Äußerungen berichteten die großen Tages­ zeitungen bisweilen schon auf der Titelseite – wie kein deutscher Schriftsteller vor und nach ihm. Thomas Mann war ein Autor, der die Wissenschaft mehr als jeder andere brauch­ te und schätzte, in Kontakt zu zahllosen Gelehrten stand. Daß er selbst als „Lecturer in the Humanities“ kurze Zeit in Princeton sein Brot verdienen, die Ehrendoktorwür­ de der prominentesten amerikanischen Universitäten erhalten würde, war ihm nicht an der Wiege gesungen worden – und erst recht nicht dem mittelmäßigen Schüler nach dem ruhmlosen Abgang mit dem ,Einjährigen‘ am Lübecker Katharineum. Von den acht Doktorgraden, die Thomas Mann seit 1935 verliehen wurden, war der erste

306 Rezensionen  – in Harvard – der spektakulärste, nicht nur weil er ihm von der berühmtesten aller amerikanischen Universitäten verliehen wurde, sondern weil die Ehrenpromotion eine besondere politische Note hatte. Vaget demonstriert, daß die amerikanischen Universitäten – zumal die germanistischen Institute – durchaus nicht unanfällig für faschistisches und antisemitisches Gedankengut waren. Gerade die Harvard Univer­ sity bildete da keine Ausnahme. Wegen ihrer positiven Einstellung zum nationalso­ zialistischen Deutschland kam es 1934 sogar zu Protesten von Studenten und Gästen, ausgerechnet bei der geheiligten „Commencement“-Feier. Diese Scharte galt es im nächsten Jahr auszuwetzen, durch die Ehrenpromotion zweier prominenter Emi­ granten: Albert Einstein und Thomas Mann. Seine Ernennung zum Ehrendoktor 1935 sollte für ihn nach der Aberkennung des Bonner Ehrendoktorats im folgenden Jahr ein bedeutender Ausgleich sein, den er mit Hohn und unverhohlener Genugtu­ ung dem Dekan der Bonner philosophischen Fakultät in seinem bald in aller Welt berühmten Brief vorhalten konnte. Der unmittelbare Kontakt zur amerikanischen Universität brachte ihm freilich auch seine Fremdheit in der akademischen Sphäre zu Bewußtsein. Das kurzzeitige Lehramt in Princeton war ihm mehr eine Last als eine Lust. Wie aber stand es mit Thomas Manns Verhältnis zur literarischen Szene Amerikas? Die deutschen und österreichi­ schen Emigranten hätten sich anders etwa als die russischen – so der Kulturhistoriker und Musikkritiker Joseph Horowitz in seinem Buch Artists in Exile (2008) – in der Regel akkulturationsfeindlich gezeigt und seien dem amerikanischen Gastland mit dem Bewußtsein der Überlegenheit der deutschen Kultur, um nicht zu sagen: koloni­ satorisch gegenübergetreten. Wie steht es in dieser Hinsicht mit Thomas Mann? Ob­ wohl er sich stärker als andere deutsche Emigranten auf die amerikanische Kultur eingelassen hat, mit ihr durch seine fabelhaften Beziehungen in viel engere Verbin­ dung kam, konstatiert Vaget: „Sobald man ihn aus amerikanischer Perspektive zu se­ hen versucht, sticht einem auf den ersten Blick ins Auge, dass seiner Assimilationsfä­ higkeit durch sein Alter, vor allem aber durch die hochgradige und nachhaltige Prä­ gung durch die deutsche Kultur deutliche Grenzen gesetzt waren“, ja daß ihm „eine herablassend missionarische Einstellung“ nicht fremd war (S. 321 f.). Umgekehrt war der Erfolg von Thomas Manns Werken in den USA außerordentlich und überragte weit den anderer europäischer Autoren. Zumal Joseph in Egypt (1938) wurde zum Bestseller. Im traditionell bibelfesten Amerika faszinierte die psycholo­ gische Modernisierung des alttestamentlichen Stoffs Intellektuelle wie breiteres Publi­ kum ungemein. Der Roman wurde, wie zuvor eine Novellensammlung und später Doctor Faustus und The Holy Sinner (Der Erwählte) von der größten Buchgemein­ schaft des Landes, dem Book of the Month Club, in ihr Programm aufgenommen, was ihren bedeutenden Absatz sicherte und für Thomas Manns wirtschaftliche Existenz von entscheidender Bedeutung war. Seine eigenen Kenntnisse der älteren (Poe, Whit­ man, Emerson) und zeitgenössischen amerikanischen Literatur (zumal Hemingway, Theodore Dreiser, Upton Sinclair und Sinclair Lewis hat er immer wieder gelesen – in der Regel freilich in deutscher Übersetzung) waren e­ klektisch und vielfach durch den Film vermittelt. Die persönlichen Kontakte zu amerikanischen Schriftstellern blieben spärlich. Das darf man vor allem im Falle des (von deutschen Einwanderern abstam­ menden) William Faulkner bedauern, der Thomas Mann für „the foremost literary ar­ tist of his time“ hielt. Zumal im Hinblick auf die Josephsromane bezeichnete er ihn und James Joyce als „the great writers of my time“ (S. 334 f.).

Rezensionen307 Thomas Mann fand in Amerika eine respektable Anzahl vor allem junger Bewun­ derer – bis hin zu Susan Sontag, die bereits als Sechzehnjähige von ihm in Pacific Palisades empfangen wurde. Ein Sonderfall ist der 1925 geborene Gore Vidal, der als glühender Joseph-Bewunderer Thomas Mann seinen homosexuell-pikaresken Roman The City and the Pillar – inzwischen ein Klassiker der „gay literature“ – zuschickte. Thomas Mann legte ihn zunächst (1948) nach einem höflichen Dank­ schreiben beiseite, doch las er ihn in der Zeit, da er sich mit dem Gedanken trug, das Felix Krull-Projekt wieder aufzugreifen, mit sich steigernder Neugier, einer Mischung aus Bewunderung und Befremdung, wie die Tagebücher ausweisen. Bei aller eigenen homoerotischen Orientierung war Thomas Mann deren Drastik in Vi­ dals Roman doch zu viel: „Das Sexuelle, die Affairen mit den diversen Herren mir eben doch unbegreiflich. Wie kann man mit Herren schlafen.“ (Zit. S. 346) Thomas Mann hat Vidal von seinem Lektüreerlebnis nicht berichtet. Dieser erfuhr davon erst nach der Veröffentlichung der Tagebücher von 1949 / 50 im Jahre 1991 und war begreiflicherweise beglückt. Der Fall Vidal ist für Vaget ein willkommenes Exempel für die doch immer wieder von Horowitz’ negativem Urteil über die Akkulturations­ bereitschaft der deutschen Exilautoren abweichende Haltung Thomas Manns gegen­ über der amerikanischen Literatur. Sie zeigt sich auch in seinem Verhältnis zum Kino, dem er schon lange mit le­ bendigem, wenngleich stets von einer reservatio mentalis geprägtem Interesse ge­ genüberstand. Seine anfängliche Faszination durch Hollywood bei seinem ersten Los Angeles-Aufenthalt – von Walt Disney, dessen Zeichentrickfilmen seine ganze Liebe galt, bis Jack Warner lernte er viele Größen der amerikanischen Filmindustrie auch persönlich kennen – nahm freilich in der Zeit ab, als er in Hollywoods Nachbar­ schaft seinen Wohnsitz wählte, was nicht zuletzt damit zusammenhing, daß sein Traum von einer Verfilmung der Josephsromane schließlich zerrann. Thomas Mann war ein durchaus häufiger Kinogänger, doch hatte er Schwierigkeiten, den Film als Kunstform wirklich ernst zu nehmen. Faszinierend sind Vagets Beobachtungen über seine „homophile Wahrnehmung“ des Films und seiner (männlichen) Helden. Von einer regelrechten „Schaulust“ in dieser Hinsicht redet Vaget, die freilich im ame­ rikanischen Film aufgrund seiner Selbstzensur (zumal im Zuge des ihm von den Sittenrichtern aufgedrängten „Hays Code“) nicht immer auf ihre Kosten kam (S. 365). Thomas Manns Spätkarriere in Amerika, die sich so lange als eine einzige ,suc­ cess story‘ darstellte, endete bekanntlich glücklos – mit seiner Rückkehr in das Land der ersten Phase seines Exils: die Schweiz im Jahre 1952. Verantwortlich dafür war die zunehmende geistige Verfinsterung und Fanatisierung Amerikas im Zuge der Verfolgung „unamerikanischer Umtriebe“, d. h. der Hexenjagd auf wirkliche und vermeintliche Kommunisten. Ihnen wurde auch er selber als „Communist Dupe“ in einer Serie häßlicher Attacken zugezählt. Ironie, ja Sarkasmus der Zeitgeschichte: gerade aufgrund seines ,voreiligen‘ Antifaschismus (premature antifascism) war er längst im Visier und unter Dauerbeschattung des FBI. All dies wird von Vaget, auf alte und neue Fakten gestützt, eindringlich nachgewiesen. Die Kommunistenverfolgung lag in den Händen des HUAC (House Unamerican Activities Committee), dessen inquisitorisches Walten sich am schlimmsten in der Filmindustrie, in der Verfolgung und Verurteilung der unter Kommunismusverdacht stehenden „Hollywood Ten“ auswirkte. Hier hat Thomas Mann, der das Amerika

308 Rezensionen  Roosevelts zerfallen und verrotten sah, energisch in öffentlichen Verlautbarungen Partei ergriffen, und er hätte es noch mehr getan, wäre er von seinem Verleger Al­ fred A. Knopf und Agnes E. Meyer nicht eindringlich von weiteren Schritten der Solidarisierung mit den Verfolgten abgehalten worden, da es ihm sonst ernstlich an den Kragen gegangen wäre. So blieb er anders als Bert Brecht davor bewahrt, vor das HUAC zitiert zu werden. Seine Weigerung – bis zu seinem Tode –, auf entschie­ dene öffentliche Distanz zum Kommunismus zu gehen, wie fremd, ja zuwider er ihm auch war,9 hat ihren Hintergrund nicht zuletzt in diesen schlimmen amerika­ nischen Erfahrungen, in seinem grenzenlosen Zorn auf die Kommunistenjäger, die er, wie er Agnes E. Meyer gestand, so zu hassen begann wie zuvor den Faschismus, in dessen mentales Fahrwasser Amerika nach seiner Überzeugung mehr und mehr zu geraten drohte. Den Höhepunkt der antikommunistischen Hysterie in der Ära McCarthy hat er freilich nicht mehr erlebt; zu dieser Zeit war er bereits tief des­ illusioniert nach Europa zurückgekehrt. Daß er sich dort letzten Endes zu Hause fühlte, ja daß sein Deutschlandbild sich seit der Rückkehr in die Schweiz durch die Deutschlandreisen, den ungeheuren Erfolg des Felix Krull, auch und gerade bei seinen alle Säle füllenden Lesungen, die Lübecker Ehrenbürgerschaft und die Schillerreden in seinem letzten Lebensjahr zu­ nehmend aufgehellt hat, wird von Vaget zu sehr verschleiert. Wenn er seine Äuße­ rung aus dem Brief an Theodor W. Adorno vom 1. Juli 1950 zitiert: „Nach Deutsch­ land bringen mich keine zehn Pferde. Der Geist des Landes ist mir widerwärtig“ – und hinzufügt (als effektvoller Kapitelschluß): „Dabei blieb es denn auch“ (S. 483), ist das ein ungerechtes Urteil. In seinem Essay über seine ,Rückkehr nach Europa‘ vom Mai 1953 bekennt er: „Nun denn, ich habe 15 Jahre in Amerika verbracht, diesem großen Lande […]. Ich schulde diesem Lande großen Dank, da es den Flüchtling aus Hitler-Deutschland mit hochherziger Bereitwilligkeit aufnahm und seiner Arbeit freundlichste Ehren erwies. Dennoch ist es eine seelische Tatsache, daß ich mir, je länger ich dort lebte, desto mehr meines Europäertums bewußt wurde, und trotz bequemster Lebensbedingungen ließ mein schon weit vorgeschrittenes Alter den fast ängstlichen Wunsch nach Heimkehr zur alten Erde, in der ich einst ruhen möchte, immer zwingender werden.“ Freilich fühlt er sich auch nach seiner „Rückwanderung“ immer noch als den „unter Franklin Roosevelt eingeschworenen American citizen“, den der „kulturelle Hochmut“ ärgert, „in dem der Durchschnitts­ europäer sich vor dem milliardenschweren Verwandten und einfältigen self made man dort drüben gefallen zu dürfen glaubt“, ahnungslos gegenüber dem hohen kulturellen Niveau der amerikanischen Zivilisation.10

9  Vgl. seine Äußerungen vom Mai 1953 über seine ,Rückkehr nach Europa‘: „Meine persönliche Überlieferung und Formung machen mich untauglich zum Par­ teigänger des Kommunismus. Ich kenne die Schrecken dieser Kirche, ohne daß das Grauen vor ihrer Weltherrschaft mich blind machte für ihr Recht – höchst relativ wie es sei – gegen die Gebrechen unserer spätkapitalistischen Welt“ Und: „Mein Zugehörigkeitsgefühl zum Westen, das Bewußtsein meiner Unfähigkeit, unterm Gei­ steszwang östlicher Orthodoxie und ihrer taktischen Launen zu leben, erlauben mir nicht, von Neutralität zu sprechen.“ Thomas Mann: Essays. Bd. 6: Meine Zeit. Hrsg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Frankfurt am Main 1997, S. 245. 10  Essays. Bd. 6, S. 242 f.

Rezensionen309 Thomas Mann gehört nach Vaget zu den wenigen Emigranten, die es lernten, Deutschland nicht nur aus deutscher, sondern auch aus amerikanischer Perspektive zu sehen und sich überhaupt in der Außenperspektive auf die verlassene Heimat zu üben, was ihm – in einigen Fällen bis heute – von der deutschen Kirchturmspartei verübelt wird. Die Schulung des Blicks von außen zeigt sich vor allem in seiner differenzierten Einstellung zu dem heute durchweg als ressentimentbesessener Ideo­ loge verteufelten englischen Diplomaten und Deutschlandkritiker Robert Gilbert Vansittart. Von ihm – den Thomas Mann auch flüchtig persönlich kennengelernt hat und der mit seiner Tochter Erika, einer überzeugten Vansittartistin, in engerem Kon­ takt stand – bietet Vaget das wohl für die meisten Leser überraschende Porträt eines hochgebildeten und polyglotten homme de lettres, den Hofmannsthal, mit dem er persönlich bekannt war, als einen „der begabtesten Engländer, die ich kenne“ be­ zeichnet hat (S. 419). Aufregend, wie Vaget Thomas Manns Haltung gegenüber Vansittart mit derjenigen eines anderen, einer jüngeren Generation angehörenden Lübecker Emigranten vergleicht: des im schwedischen Exil lebenden Willy Brandt, der in einem Buch von 1944 sehr differenziert zur Deutschlandkritik Vansittarts Stellung nimmt. Für Vansittart ist der Nazistaat keineswegs eine Verirrung der deutschen Ge­ schichte, sondern virtuell tief in derselben angelegt. An ein ‚anderes Deutschland‘ glaubt er nicht und sieht sich in dieser Überzeugung gerade durch die Haltung der deutschen Emigranten bestätigt, die Deutschland selber als Opfer des Nationalsozi­ alismus hinzustellen trachten. So fragwürdig pauschal und in vielem ressentiment­ bestimmt Vansittarts Totalbild Deutschlands auch ist, vor allem von einer erheblichen Portion englischen Superitoritätsdenkens durchsetzt (welches Denken er anderseits den Deutschen ankreidet), wurde Thomas Mann – der seine Einseitigkeiten nicht verkennen konnte – dadurch doch in seiner sich mehr und mehr ausbildenden Über­ zeugung bestärkt, daß es nur ein einziges Deutschland gibt – „Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute“, lautet seine berühmte These in der Washingtoner Rede Deutschland und die Deutschen11 – und daß es eine Schönfärbung der deut­ schen Geschichte wäre, die geistigen Grundlagen des gegenwärtigen Deutschlands in dieser seiner Geschichte zu übersehen. Vaget demonstriert die Verwandtschaft von Thomas Manns Deutschlandbild mit dem ihm wohlbekannten Buch Sebastian Haff­ ners: Germany: Jekyll and Hyde (1940), das ebenfalls die Identität des guten und bösen Deutschland behauptet und dafür Stevensons berühmte Novelle als Parabel benutzt. Thomas Manns eigenen Erfahrungen mit den anderen Emigranten waren im Grunde dieselben wie die von Vansittart berichteten. Das zeigt sich besonders deutlich im August 1943: in seiner letztendlichen Los­ sagung von dem Deutschlandmanifest der deutschen Exilschriftsteller in Los An­ geles, mit dem sie das von Moskauer Emigranten gebildete Nationalkomitee Freies Deutschland unterstützen wollten. Dadurch daß Thomas Mann seine zunächst gelei­ stete Unterschrift unter diesem Manifest zurückzog, brachte er es – zur speziellen Empörung Bert Brechts – zum Scheitern. Auch zu dem im Spätjahr 1943 geplanten Free Germany Committee (an dem ebenfalls Bert Brecht beteiligt war) ging er auf Distanz. Warum? In beiden Fällen suchte man im Sinne der Hypothese vom „ande­ ren Deutschland“ zwischen dem Hitlerregime und dem deutschen Volk als dessen 11  Gesammelte

Werke. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1974. Bd. XI, S. 1146.

310 Rezensionen  Opfer deutlich zu unterscheiden und Deutschland nach dem Krieg schadlos davon­ kommen zu lassen. Das widersprach der Grundüberzeugung Thomas Manns vom einen Deutschland, das die volle Verantwortung und Sühne für das in seinem Namen Angerichtete auf sich zu nehmen hatte. Diese Überzeugung hat die (längst bestehen­ de) Animosität Bert Brechts gegen Thomas Mann aufs äußerste gesteigert. Vaget hätte dessen Auseinandersetzung mit den anderen deutschen Emigranten, über die er früher schon publiziert hat, sich hier aber relativ kurz faßt, im Rahmen seines Buches getrost ausführlicher behandeln können, ist sie doch von zentraler Bedeu­ tung für Thomas Manns ,Außenblick‘ auf Deutschland. Die Deutschlandkritik Thomas Manns kulminiert in seinem Doktor Faustus, den Vaget von bisher kaum berücksichtigten Quellen her noch einmal in den Blick nimmt. Diese Quellen sind die Bücher von Erich Kahler über Deutschtum und Judentum so­ wie ihre problematische Affinität (Israel unter den Völkern [1936] und Der deutsche Charakter in der Geschichte Europas [1937]). So notwendig dies Kapitel grundsätz­ lich in den Zusammenhang des Buchs gehört, weitet es sich doch zu einem großen Exkurs aus, der über den Rahmen der amerikanischen Biographie Thomas Manns wohl etwas zu sehr hinausgeht. Das gilt freilich nicht für die Analyse der deutschen Deutschlanddebatten nach dem Krieg, die sich an Thomas Manns ,Amerikanertum‘, seiner Weigerung, nach Deutschland zurückzukehren, und seiner sehr deutlichen Di­ stanz zu den wirklichen oder angeblichen Repräsentanten der ,Inneren Emigration‘ ausdrückt. Dieser Begriff, hat, wie Vaget deutlich belegt, erst durch die Autoren, die sich, wie zumal Frank Thieß, als ihre vermeintlichen Sachwalter aufspielten, für ihn eine negative Färbung angenommen, während er der Inneren Emigration – mit diesem Begriff – vor jener leidigen Polemik der Nachkriegsjahre durchaus Respekt entgegen­ bracht, sich ihr lange sogar zugehörig gefühlt und in der Gestalt des Serenus Zeitblom im Doktor Faustus ein liebenswürdiges Denkmal gesetzt hat. Thomas Mann war der Überzeugung – und wer teilte sie heute nicht, auch wenn seine Neigung, die Nation als mythisches Subjekt zu personalisieren, Bedenken auslö­ sen mag – daß „Deutschland als geschichtliche Gestalt, als kollektive Persönlichkeit“ eine „Verantwortung“ für das von ihm Angerichtete habe, daß eine „furchtbare natio­ nale Gesamtschuld“ auf ihm laste, an der jeder – auch er, Thomas Mann, selber – teilhabe, wie immer es auch um „Schuld und Unschuld des Einzelnen“ stehe (zit. S. 482). Das klang in den Ohren der Rollenträger der Inneren Emigration mißtönig. Die Polemik gegen Thomas Mann in diesen Debatten ist gehässig unterwandert von der ständigen Betonung seiner amerikanischen Staatsangehörigkeit, die ihn als unzu­ verlässigen Deutschen, wenn nicht untergründig als Vaterlandsverräter erscheinen lassen sollen. Als „amerikanischer Untertan“ (so die perfide Formel von Otto Flake) habe er einfach kein Recht, in deutschen Dingen mitzureden. „Legitim mitreden“ dür­ fe nur derjenige (so wiederum Flake), der die „Schicksale der Nation […] an Ort und Stelle“ erlebt habe (zit. S. 492). Als hätte Thomas Mann diese Schicksale seinerzeit an anderem Ort und anderer Stelle erleben können als im Gefängnis oder unter dem Fall­ beil des Henkers – wenn er sich nicht mit den Nazis gemein gemacht hätte wie zu­ mindest anfänglich manche jener ,Inneren Emigranten‘, die ihn nun national wie mo­ ralisch zu diskreditieren suchten –, und als ob er seine deutsche Staatsangehörigkeit selber aufgegeben und die amerikanische ohne Not angenommen hätte. Die Spur der gegen Thomas Mann gerichteten Polemik zieht sich durch die deut­ sche Publizistik fast bis in die Gegenwart fort. Das gilt für die jämmerliche Anti-

Rezensionen311 Thomas-Mann-Häme, mit der eine repräsentative Gruppe deutscher Schriftsteller das Gedenkjahr 1975 nutzte, um sich von dem weltweit berühmtesten deutschen Schrift­ steller des 20. Jahrhunderts abzugrenzen, nicht zuletzt aus dem begreiflichen Neid gegenüber solchem Weltruhm heraus, der für Autoren, die vielleicht ihre ephemere Bedeutung ahnen und fürchten müssen, in einigen Jahrzehnten von niemandem mehr gelesen zu werden, natürlich tödlich ist. Gravierender indessen die Abwehrhaltung der Zeithistoriker, in der die deutsche Kirchturmspitze allzu oft ihre Windfahne schwenkt. Man kann nicht umhin, im Falle Joachim Fests und seiner Geringschät­ zung des ‚politischen‘ Thomas Mann Vagets Verdacht recht zu geben, daß auch er von dem Impuls beseelt war, „dem Exilanten jegliche Deutungskompetenz abzuspre­ chen, um den in Deutschland Verbliebenen die Deutungshoheit über die jüngste Vergangenheit zu sichern“ (S. 498). Selbst in jüngsten Publikationen tauchen noch einmal Positionen auf, die Vaget an die Deutschlanddebatten der Nachkriegszeit erinnern. Sogar einer Autorin, deren Namen man in diesem Zusammenhang kaum erwartet, der Anglistin Aleida Ass­ mann hält er da bedenkliche Formulierungen vor. Zur demokratischen Erfolgs­ geschichte der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, so die Verfasserin, habe Thomas Mann durch sein Beharren auf einer deutschen Gesamtschuld nicht nur nichts beigetragen, sondern ihr sogar im Wege gestanden, da „der aus Deutschland emigrierte“ Autor (der doch bekanntlich nicht freiwillig, sondern gezwungenerma­ ßen ins Exil gegangen ist) und „frischgebackene Amerikaner“ (einmal mehr wird ihm das mit ironischem Unterton bescheinigt) durch seine amerikanische Außen­ perspektive die deutsche Bewußtseinssituation verfehlt habe (vgl S. 498).12 Obwohl auch Vaget konstatiert, daß Thomas Manns Wahrnehmung der politischen und moralischen Leistungen der Bundesrepublik getrübt war, so führt er das – und auch hierin wird man ihm weithin recht geben müssen – vor allem auf die verhängnis­ volle Polemik der sogenannten Inneren Emigranten gegen ihn zurück, die er immer wieder geneigt war zur allgemeinen Abwehr einer Schuldeinsicht bei den Deut­ schen ,hochzurechnen‘. Gleichwohl hat Thomas Mann einen Bewußtseinsstand in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus antizipiert, der erst in den letzten zwanzig Jahren er­ reicht wurde, der – in seinen Spuren – aber schon fast ein halbes Jahrhundert zuvor hätte erreicht und durch den manches Unheil in der jüngsten deutschen Geschichte hätte vermieden werden können: es ist – Vaget faßt es am Ende seines Buches noch einmal zusammen – das Bewußtsein von den langen Wurzeln des Nationalsozialis­ mus in der deutschen Geschichte, der Tatsache, daß sich das böse vom guten Deutschland nicht trennen läßt, daß Deutschlands Zerstörung im wesentlichen selbst­ verschuldet war und daß erst das rückhaltlose Eingeständnis der von Deutschland als ,kollektiver Persönlichkeit‘ zu verantwortenden Verbrechen seine Aussöhnung mit der vom ihm an den Rand einer apokalyptischen Katastrophe gestürzten Welt bewirken konnte. Hans Rudolf Vaget ist mit seiner amerikanischen Exilbiographie Thomas Manns ein großes Buch gelungen, eines der ohne Zweifel allerwichtigsten, die über diesen 12  Aleida Assmann  /  Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessen­ heit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999, S. 34, 123 u. ö.

312 Rezensionen  Autor geschrieben worden sind. Auch seine stilistische Meisterschaft ist zu rühmen. Man wundert sich geradezu, daß selbst ihm – sehr selten – Mißbildungen wie „kon­ form gehen“ oder das modische, aber grammatikalisch illegitime „unverzichtbar“ (statt des schönen und sprachlich legitimen „unentbehrlich“) in die Feder fließen oder daß er sich die absurden Häßlichkeiten der sogenannten neuen Rechtschreibung hat aufdrängen lassen (ob er da gegenüber seinem Verlag nicht allzu konziliant war?), aber man schämt sich fast, solche Kleinigkeiten zu erwähnen, wenn ein der­ art epochales Werk vorliegt. Der enorme Umfang dieser Monographie hat den Ver­ fasser sicher genötigt, einige Gesichtspunkte auszusparen, die er gerne noch behan­ delt hätte. Der Leser bemerkt es freilich kaum. Nur ein einziger Gesichtspunkt hätte vielleicht noch berücksichtigt werden kön­ nen, der für den späten Thomas Mann, gerade in seiner amerikanischen Zeit, doch von höchster Bedeutung war: derjenige des von ihm immer wieder beschworenen „Religiösen“. Schließlich ist das gewaltige biblische Epos der Josephsromane das „Hauptgeschäft“ seiner amerikanischen Jahre. Das Religiöse war für ihn das – in seinen amerikanischen Reden, Essays und Briefen unermüdlich betonte – wesent­ liche Element eines neuen, auf die Einheit der Menschheit zielenden Humanismus, Bestandteil einer weltumgreifenden demokratisch-sozialen Kultur – im Sinne dessen, was Thomas Manns Idol Roosevelt unter „Religion“ verstand: „sozialen Fortschritt im Zeichen der Gottesfurcht, Achtung vor dem Individuum und was man hier ,mer­ cy‘ nennt, Erbarmen, Güte“, so im Brief an Kuno Fiedler vom 12. September 1942. Für Thomas Mann sind jene Werte im Christentum authentisch aufgehoben, und dieses – „die kulturelle Christlichkeit des abendländischen Menschen als das EinmalErrungen-Nie-zu-Veräußernde“13 – ist für ihn seit Beginn der faschistischen Bewe­ gung deren mächtigster Widersacher. Daß Thomas Mann seit 1941 aktives Mitglied der Unitarian Church war, die seinem undogmatischen Verständnis eines demokra­ tisch-sozialen Christentums nahekam, ja dort als Kanzelredner auftrat, daß seine vier Enkelkinder seinem Wunsch gemäß nach unitarischem Ritus getauft, sein Bruder Heinrich bestattet wurde – was mit seiner Bewunderung des Pfarrers Stephan H. Fritschman zusammenhängt, der sich u. a. mutig gegen die Verfolgung der „Holly­ wood Ten“ aussprach –, Vaget weiß und erwähnt es natürlich. Der Aspekt des Re­ ligösen ist so eng mit Thomas Manns amerikanischer Existenz verbunden, daß er indessen durchaus ein eigenes Kapitel in Vagets Monographie verdient hätte. Das soll nicht als Kritik, nicht einmal als auf Erfüllung drängender Ergänzungs­ wunsch verstanden werden – für ein Buch, das doch sonst alle Erwartungen erfüllt, ja weit übertrifft, die der Thematik des ,amerikanischen‘ Thomas Mann gegenüber gehegt werden können. Ist es doch nicht nur ,Sekundärliteratur‘ über einen großen Autor, sondern als historische Dokumentation, zeitgeschichtliche Analyse und Bei­ trag zur aktuellen politischen Bewußtseinsbildung, nicht zuletzt aber als schriftstel­ lerische Leistung, selber wahrhaft ,Primärliteratur‘.14 Dieter Borchmeyer

13  Gesammelte

Werke. Bd. IX, S. 462. die kritische Durchsicht dieser Besprechung und manche wertvolle Anre­ gung bin ich Stephan Stachorski zu herzlichem Dank verpflichtet. 14  Für

Rezensionen313 Alexander Demandt, Es hätte auch anders kommen können. Wendepunkte deutscher Geschichte, Propyläen-Verlag, Berlin 2010, 286 S. In den 50er Jahren rief Carl Schmitt dazu auf, „irreale Bedingungssätze“ und „aparte Reime“ zu sammeln. Sein Akzent lag hier auf der ironischen Spiegelung: Den historischen Konjunktiv verwarf er als schlechte Poesie. In den letzten Jahren wurde die kontrafaktische Geschichtsschreibung aber rehabilitiert. Alexander De­ mandt war hier ein Pionier in Deutschland. 1984 veröffentlichte er einen Methoden­ traktat über die „ungeschehene Geschichte“, der gerade in fünfter Auflage wieder aufgelegt wurde.1 Demandt ist ein politischer Historiker. Der politische Historiker bemüht sich geschichtspolitisch darum, die Geschichte „gegen den Strich“ (W. Ben­ jamin) zu bürsten. Ein politischer Denker erwägt Kräfteverhältnisse, Akteure, Mo­ tive, Strategien, Handlungsformen. Politisches Denken ist präsentistisches Möglich­ keitsdenken. Was ist in der gegenwärtigen Lage möglich? Welche Ziele sind gerade strategisch realisierbar? Politik reflektiert die „objektiven Möglichkeiten“ (Max Weber) in der verantwortlichen Sorge um die Zukunft einer politischen Einheit. Die Vergangenheit ist dabei eine Schule des politischen Denkens. Kontrafaktische Ge­ schichte lebt ontologisch nur im Möglichkeitsraum des politischen Denkens. So gehen die neueren Bemühungen um eine Methodisierung kontrafaktischer Ge­ schichtsschreibung ein Jahrbuch politischen Denkens intensiv an. Die Nachrichten bringen jeden Tag überraschende Neuigkeiten. Ein Erdbeben löst eine atomare Katastrophe aus und stürzt Landesregierungen. Ein Minister stolpert über eine betrügerische Doktorarbeit und wäre heute sonst vielleicht Kanzler. Lässt sich kontrafaktische Geschichte in der unendlichen Fülle möglicher Alternativen überhaupt sinnvoll schreiben? Alexander Demandt ist nicht nur ein bedeutender Historiker der Spätantike,2 der Griechen und Römer umfasst und unlängst noch eine große Alexander-Biographie publizierte,3 sondern auch ein ungemein kluger, kreativer, polyhistorisch gelehrter Geschichtstheoretiker und glänzender Essayist. Er treibt Universalgeschichtsschreibung dabei auch mit normativem Akzent und An­ spruch. Die „Sternstunden“ der Menschheit4 hebt er vom dunklen Grund des apo­ kalyptischen Pathos, Vandalismus und Untergangs der Reiche ab.5 So stellt er die alte Frage nach den „Wendepunkten“ in den Fokus der Kontingenz. „Wendepunkte“ der Geschichte wurden vielfach konturiert. Gottfried Schramm6 publizierte vor einigen Jahren eine eindringliche Analyse der „Wegscheiden der 1  Alexander Demandt, Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn …?, 5. Aufl. Göttingen 2011. 2  Alexander Demandt, Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt, München 1984; (Hg.), Das Ende der Weltreiche. Von den Persern bis zur Sowjetunion, München 1997; Geschichte der Spätantike, München 1998. 3  Alexander Demandt, Alexander der Große. Leben und Legende, München 2009. 4  Alexander Demandt, Sternstunden der Geschichte, München 2000. 5  Alexander Demandt, Endzeit? Die Zukunft der Geschichte, Berlin 1993; Van­ dalismus. Gewalt gegen Kultur, Berlin 1997; Geschichte der Geschichte. Wissen­ schaftshistorische Essays, Köln 1997; Zeit und Unzeit. Geschichtsphilosophische Essays, Köln 2002; Kleine Weltgeschichte, München 2003. 6  Gottfried Schramm, Fünf Wegscheiden der Weltgeschichte. Ein Vergleich, Göt­ tingen 2004.

314 Rezensionen  Weltgeschichte“. Er suchte die Innovationen, den „Ruck“ (J. Burckhardt) des An­ fangs. Wie kamen neue Impulse in die Weltgeschichte? Demandt publizierte vor einigen Jahren ein populäres Büchlein über „Sternstunden der Geschichte“. Nun löst er seine Überlegungen zur kontrafaktischen Geschichte in einigen Kapiteln ein. Der Titel „Es hätte auch anders kommen können“ klingt dabei vielleicht etwas platt. Demandts Buch ist aber nicht so billig und einfach zu lesen. In der Fülle erlesenen Wissens und kreativer Gedankenansätze ist es nicht ganz leicht zu fassen. Es reißt Hunderte von Gedankenexperimenten an, löst die großen geschichtspolitischen Meistererzählungen in ein pointillistisches Puzzle auf. Blow up! In der Nahaufnah­ me verschwimmen die Konturen. Wer ein Mosaik analytisch in einzelne Steine auflöst, hat am Ende nur noch Bruchstücke in der Hand und steht leicht ratlos da. Dieses pointillistische Spiel hat auch einen ästhetischen Reiz und Witz. So liest sich das Buch didaktisch, meditativ und unterhaltsam wie die vielen Anfänge und Enden eines unendlichen Romans. Demandt beginnt mit antiken Alternativen: einem mög­ lichen Sieg der Perser über die Griechen, Triumphen von Hannibal oder Arminius über die Römer, einer leicht möglichen Begnadigung von Jesus durch Pilatus.7 Dazu meint er: „Es führt kein Weg an dem Schluß vorbei: ohne Pilatus keine Kreu­ zigung, ohne Kreuz kein Christentum, ohne Paulus keine Kirche, sondern eine Mehrzahl christlicher Sekten.“ (70) Ein Optativ ergibt sich daraus nicht. Stets stellt Demandt mögliche „Plusvarianten“ gegen „Minusvarianten“ als asymptotisches Nullsummenspiel. In der Unzahl möglicher Verkettungen könnten die Bilanzen sich ausgleichen. Demandt erwägt weitere Verkettungen von Alternativen für Mittelalter und Neuzeit. Wäre eine Islamisierung Europas nach einem möglichen Sieg der ­Sarazener tatsächlich ganz unwahrscheinlich und furchtbar gewesen? Die sinnfälligsten Alternativen gehen von weltgeschichtlichen Individuen aus. Was wäre aus Preußen ohne Friedrich oder Bismarck geworden? Was der National­ sozialismus ohne Hitler oder nach erfolgreichem Attentat? Welche Folgen hätte 1940 ein Frieden mit England gezeitigt? Wie sähe Deutschland heute aus, wenn die Atombombe einige Wochen früher einsatzfähig geworden wäre? Demandt zielt nicht auf eine mögliche Plusvariante. Er formuliert keine Wünschbarkeiten und starken Wertungen, sondern knüpft die historische Gerade und Einbahnstraße in die unaus­ lotbare Vielfalt wirkender Faktoren auf. Als eine relativ starke Plusvariante erörtert er (182 ff.) eine positive Lösung der 1848-Revolution: Was wäre der Welt erspart geblieben, welche Wendung hätte die deutsche Geschichte genommen, wenn der preußische König am 3. April 1849 schon die deutsche Kaiserkrone von der Frank­ furter Nationalversammlung angenommen hätte? Vielleicht wäre es dann friedlicher gelaufen. Auch hier legt Demandt aber kein Fortschrittsgleis, sondern er rechnet bei jedem glücklichen Zug sogleich mit möglichen „Minusvarianten“. Die Antwort der Bundesrepublik taxiert er vorsichtig optimistisch: „Noch nie war der Friede in Eur­ opa so anhaltend, so aussichtsreich wie heute. Ihn hat uns die Geschichte, so wie sie nun einmal verlaufen ist, beschert.“ (259) Als politische Geschichtsschreibung rechnet die kontrafaktische Geschichte bei aller Kontingenz auch mit einem mög­ lichen Fortschritt im Bewusstsein der Minusvarianten. Die Kontingenz, Komplexität und Agonalität des Akteursfelds erlaubt aber keine Planungshoheit. So imaginiert 7  Dazu vgl. Alexander Demandt, Hände in Unschuld. Pontius Pilatius in der Geschichte, Köln 1999.

Rezensionen315 Demandt kein Ziel. Er löst die gängigen Verkettungen in einzelne Lehrstücke für das politische Denken auf. Der Autor erscheint dabei wie ein weiser Lehrer und Meister, der seine Leser mit unlösbaren Rätseln in die Schule verantwortlichen Nachdenkens über politisches Handeln entlässt. Es hätte auch anders kommen können. Demandt hätte statt der „Wendepunkte“ einen kontrafaktischen Roman über den deutschen Kaiser von 1849 schreiben können. Der Leser ist hier gefordert, seine Schlüsse zu ziehen. Und das wäre Alexander Demandt wohl auch nicht unlieb gewesen. Reinhard Mehring

Samuel Salzborn / Rüdiger Voigt (Hg.), Souveränität – Theoretische und ideengeschichtliche Reflexionen, Reihe Staatsdiskurse Bd. 10, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Probleme des Staats auf den Begriff gebracht? Dem Begriff der Souveränität ist der zehnte Band der Reihe „Staatsdiskurse“ gewidmet. Damit wollen die Herausgeber Samuel Salzborn und Rüdiger Voigt einen lange Zeit als „Unwort“ behandelten Begriff revitalisieren und für die politische Theorie fruchtbar machen. Der Band will im „Zustand des Souveränitätsvakuums“ einen kritischen Diskurs über das Problem der Souveränität im 21. Jahrhundert an­ stoßen. Dazu entwickeln acht Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen „konzep­ tionelle Perspektiven“, „um vor einem vorschnellen Abgesang auf die Souveränität zu warnen und dafür das ideengeschichtliche Arsenal der Souveränitätsforschung möglichst weiträumig auszuschöpfen“ (S. 18). In der Tat harrt der Begriff der Souveränität bis heute einer eindeutigen Defini­ tion. Von vielen wird Jean Bodin als Vater des Souveränitätsbegriffs anerkannt. Sein Denken fungiert, neben dem von Hobbes, auch in diesem Band als Ausgangs- und Orientierungspunkt. Seine klassische Definition aus den Sechs Büchern über den Staat verortet den Diskurs über Souveränität zwischen den Polen Recht, Macht, Freiheit, Gewalt und Legitimation. Im ersten Teil Souveränität im historischen Kontext skizziert Klaus Roth die Wende zum Staat am Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit. Der Kampf zwischen Kirche und Staat um Macht und Recht führte auf theoretischer Ebene zum genuinen Souveränitätsdenken. Bodin entwickelte seine, von Widersprüchen nicht freie (Opitz-Belaghal), Staatslehre vor diesem Hintergrund und wurde zum Verteidi­ ger der absoluten Monarchie, die er als Lösung für die verlustreichen Konfessions­ konflikte ansah. In Bodins Nachfolge wird Souveränität zum politischen Kampfbe­ griff, der das Letztentscheidungsrecht des Staates bezeichnet und fordert. Mit Hobbes kann die Wende zum Staat aus theoretischer Perspektive als abgeschlossen betrach­ tet werden. Die politischen Probleme mit der Souveränität nehmen damit allerdings erst ihren Anfang und sind bis heute aktuell, wie der Sammelband zeigt. Der Souveränitätsbegriff eignet sich besonders als Anstoß für einen kritischen Dis­ kurs über den Staat, weil seine Definitionen hart umkämpft sind und gleichermaßen

316 Rezensionen  Anhänger staatszentrierter Positionen und Vertreter radikaler Demokratie auf den Plan ruft. Zudem markiert der Begriff Souveränität einen Punkt, in dem zentrale Konflikt­ linien der politischen Theorie zusammenlaufen und politisch-praktische Probleme ­virulent werden (etwa im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit). Die Beiträge thematisieren politiktheoretisch (Hobbes, Kant, Sieyes), juristisch (Kelsen, Schmitt, Häberle) und empirisch (Unruhen in den französischen Banlieus, Afghanistan) klassische Probleme, die mit der Souveränität nach innen und nach außen zusammenhängen: die Normsuspendierung im Ausnahmezustand (Lemke), die Legitimität von Revolutionen (Thiele), den Zusammenhang von Staat und Verfas­ sung (Pauly / Heiß), die Frage nach Krieg und Frieden (Voigt) und die politische Rolle der Religion, insbesondere des Islam (Scheit). Vor allem die ideengeschichtlich und theoretisch angelegten Beiträge vermitteln einen guten Einstieg in die Problembereiche der Thematik, um „nach Perspektiven, aber auch Limitierungen für eine gegenwartsbezogene Analyse des Souveränitätsdi­ lemmas“ zu suchen. Diskussionswürdig erscheint jedoch die latente Furcht vor dem Abgesang auf die Souveränität bzw. die Diagnose eines Souveränitätsvakuums, das die beiden Herausgeber zur Intervention veranlasst. Sehr wohl kann man etwa mit Blick auf die europäische Integration von einer eingeschränkten Souveränität der Mitgliedsstaaten sprechen, und zweifelsohne ist dieser Prozess auf Grund seiner Komplexität mit Problemen behaftet. Befremdlich wirkt jedoch der Befund, dass das Europäische Projekt „von vornherein auf Illusi­ onen gegründet“ sei und „ein Staat wie Deutschland auf seine Souveränität verzich­ ten könne, ohne dass für seine Bürgerinnen und Bürger schwerer Schaden entstehen würde“ (S. 9). Gerade Deutschland hat auf dem Weg zur eigenen Souveränität von der europä­ ischen Integration enorm profitiert, und aus gesamteuropäischer Perspektive ist die EU ein bisher präzedenzloses Friedens- und Freiheitsprojekt. Entsprechend vage bleiben die Herausgeber bei der Frage, welchen Schaden die deutschen Bürgerinnen und Bürger dabei genommen haben. Gerade die thematisierten aktuellen Probleme einer internationalen Friedensordnung (z.  B. Völkerrecht und Imperien  /  asymme­ trische Kriege) ließen sich – aus europäischer und deutscher Sicht – als Gründe für einen noch weitergehenden Verzicht auf nationale Souveränität nennen (Stichwort: europäische Armee / Synergieeffekte). Auch wer sich der Klage der Herausgeber über den Kursverlust nationaler Sou­ veränität nicht anzuschließen vermag, findet in dem vorliegenden Band eine gute Einführung in ideengeschichtliche und aktuelle Fragestellungen des Souveränitäts­ problems und zudem ein kritisches Reservoire an Gründen, warum der Begriff der Souveränität auch unter den Normalbedingungen des 21. Jahrhunderts noch nichts von seiner politischen Sprengkraft eingebüßt hat. Franz Halas

Rezensionen317 Sönke Neitzel / Harald Welzer 2011, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, S. Fischer Verlag, Frankfurt / M. 2011. Die wohl bekannteste Definition des Begriffs „Krieg“ stammt von Carl von Clau­ sewitz, der in seinem Hauptwerk „Vom Kriege“ schrieb: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. Ausgehend von dieser Beschreibung, scheinen sich Krieg und Politik lediglich dadurch zu unterscheiden, jeweils unter­ schiedliche Mittel zur Erreichung derselben Zwecke einzusetzen. Alles in allem über­ wiegen die Gemeinsamkeiten, ist Krieg doch „bloß“ eine „Fortsetzung der Politik“. Diese Deutung könnte zu der Einschätzung verleiten, daß die zivilisatorischen Standards, die mit Politik gesetzt sind, auch im Kriege weitgehend befolgt werden, werden ja lediglich die Mittel, nicht aber die Zwecke ausgetauscht. Denn wie sollten bloß andere Mittel soweit Einfluß nehmen können auf das Erleben und Handeln der Kriegsteilnehmer, daß die erreichte Domestizierung und Zivilisierung von Gewalt, wie sie gerade durch die Politik repräsentiert werden, sukzessive verloren gehen? Behält doch die Politik auch im Krieg den Primat: Sie setzt die Zwecke, bedient sich nur anderer Mittel, um diese zu erreichen, ohne währenddessen einmal gesetzte Standards, und hierbei wäre vor allen Dingen an die Domestizierung und Zivilisierung von Ge­ walt zu denken, einfach aufzugeben – andernfalls würde sie nicht nur die Deutungs­ hoheit über die Zwecksetzung, sondern sich selbst aufgeben. Ausdruck dieses univer­ salen Primats der Politik über den Krieg sind die Genfer Konventionen. An dieser Lesart der Clauswitz’schen Kriegsformel sind berechtigte Zweifel an­ zubringen. Denn die Eigendynamik des Krieges kann zur Verselbständigung der Mittel führen. Dies muß nicht geschehen, ist aber gerade im Laufe des 20. Jahrhun­ derts mehrfach eingetreten. Fernab der Politik entwickelt das Kriegsgeschehen sozi­ ale Autonomie, setzt eigene Standards, die sich zusehends entkoppeln von dem, was im Zuge des Zivilisationsprozesses, wie Norbert Elias ihn beschrieben hat, an kul­ turellen Errungenschaften institutionalisiert werden konnte. Schließlich gibt es kei­ nerlei externe Kontrolle mehr. Die Kombattanten an der Front, aber auch in den Befehlsstäben, sind sich weitgehend selbst überlassen und werden mitunter in eine Konflikt- und Eskalationsspirale hingesogen, die kaum mehr Grenzen des Möglichen kennt, von der Beachtung zivilisatorischer Standards ganz zu schweigen. Aber wie gesagt: Dies muß nicht geschehen, ist im Laufe des 20. Jahrhunderts aber mehrfach eingetreten. Bernd Greiner hat diesen fatalen Konflikt- und Eskalationsverlauf in „Krieg ohne Fronten“ bezüglich des Vietnamkriegs eindrücklich nachgezeichnet. Sönke Neitzel und Harald Welzer verfolgen in ihrem Buch „Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben“ bezüglich des 2. Weltkriegs ein durchaus ver­ wandtes Unternehmen. Basierend auf geheim durchgeführten Abhörprotokollen, die überwiegend in England während der Kriegsjahre aufgezeichnet wurden und Ge­ spräche zwischen deutschen Soldaten belauschten, ohne daß diese davon wußten, zeigen Neitzel und Welzer anhand von Protokollauszügen auf, in welchem Ausmaß eine Dezivilisierung und Verrohung bei deutschen Soldaten im Laufe der Kriegsjah­ re sich eingestellt hatten. Besonders betroffen waren davon die Teilnehmer am „Unternehmen Barbarossa“, also dem Rußland-Feldzug ab Sommer 1941, weil die­ ser Feldzug unter besonderen ideologischen Vorzeichen stand, ging es doch gegen die „Slawen“, und einen ausgesprochen desaströsen Verlauf nahm, Stichwort Stalin­ grad.  Rezensionen Rezensionen

318 Rezensionen  Wichtige Erklärungsvariablen für diese Form des Kriegsverlaufs sehen Neitzel und Welzer in zwei „Referenzrahmen“, die (mit) ausschlaggebend waren dafür, daß es zu diesen Gewaltexzessen kommen konnte. Zum einen handelt es sich um den Referenz­ rahmen „Drittes Reich“, zum anderen um den Referenzrahmen „Krieg“. Mit „Refe­ renzrahmen“ meinen Neitzel und Welzer die Emergenz einer eigenständigen sozialen Ordnung, die das Wahrnehmen, Erleben und Handeln der beteiligten Personen maß­ geblich bestimmt. Nicht daß es deswegen keinerlei externe Referenzen mehr gäbe, sozusagen alles andere völlig unwichtig werden würde. Aber vieles rückt doch in den Hintergrund, gerät zeitweilig aus dem Blick, wird verdrängt und vergessen, weil das unmittelbare Geschehen vor Ort alle Aufmerksamkeit bindet und soweit prägt, daß darüber ein neuer Primat, d. h. eine situativ bedingte Deutungshoheit über das Was, das Wer und das Wie entsteht, die sich vorübergehend sogar zur universalen Deu­ tungshoheit emanzipieren kann. Dabei scheint gerade der Krieg aufgrund besonderer Umstände („Kämpfen, Töten und Sterben“) die Eigenschaft zu besitzen, das Wahrneh­ men, Erleben und Handeln der Beteiligten monopolistisch zu okkupieren, so daß es von außen kaum mehr kontrollierbar ist. Einmal angestoßene Prozesse bleiben sich dann zunehmend selbst überlassen. Im Zuge dessen bilden sich spezifische Strukturen aus, die entsprechende Pfadabhängigkeiten bewirken: Ein Ausstieg, geschweige denn eine Rückkehr zum Friedenszustand sind dann häufig ausgeschlossen. Die eigentliche Dokumentation von Neitzel und Welzer geht dergestalt vor, daß verschiedene Aspekte des Kriegsgeschehens daraufhin beleuchtet werden, inwieweit sich dieser Primat des Kriegs feststellen und konkretisieren läßt. So lauten einzelne Überschriften etwa „Abschießen“, „Autotelische Gewalt“, „Jagd“, „Führerglaube“, „Sex“ oder „Waffen-SS“. Insgesamt handelt es sich um 24 Aspekte, die Neitzel und Welzer gesondert darstellen, jeweils angereichert mit entsprechenden Zitaten be­ lauschter Gesprächsverläufe zwischen deutschen Kriegsgefangenen, sämtliche Ränge betreffend. Ohne hier auf einzelne Aspekte weiter einzugehen, der Tenor ist über alle Aspekte hinweg von einer klaren Konvergenz geprägt, macht diese Zusammenstellung unmiß­ verständlich deutlich, wie dünn die zivilisatorische Firnis doch ist, setzt man Men­ schen nur lange genug unter Druck. Das Milgrim-Experiment von 1961 ist hierfür ja paradigmatisch geworden. Dabei ist festzuhalten, daß sich der Unterschied zwischen Frieden und Krieg keineswegs auf die Unterscheidung Ordnung  /  Unordnung oder System  /  Chaos reduzieren läßt. Gewinnt der Krieg die Oberhand, auf Kosten der ­Politik, etabliert sich gleichfalls eine soziale Ordnung, nur eine solche, die zahlreiche zivilisatorische Errungenschaften außer Kraft setzt. Vorzivilisatorische Bedürfnisse, Kräfte, Motivlagen, wie man es auch nennen mag, werden dann entfesselt und über­ nehmen die Regie, dies dokumentiert „Soldaten“ ebenso nachdrücklich wie „Krieg ohne Fronten“, oder denken wir nur an die Vorkommnisse in Abu Ghuraib, um von anderen Massakern im Zuge der Kriege in Afghanistan und Irak gar nicht erst zu sprechen. Wobei die Prägung sogar noch anhält, wenn der Kampf längst vorbei ist, beruht die Dokumentation von Neitzel und Welzer ja auf Gesprächsprotokollen von Kriegsgefangenen. In jedem Fall gelingt es Neitzel und Welzer in ihrer Dokumentation auf bemerkens­ werte Weise, das Eigenrecht des Kriegs, verstanden als eigenständigen Referenzrah­ men, mit all seinen Folgen aufzuzeigen. So heißt es zum Schluß des Dokumentations­ teils: „Aus unserer Sicht ist die Verschiebung des Referenzrahmens vom zivilen Zu­

Rezensionen319 stand in jenen des Kriegs der entscheidende Faktor, wichtiger als alle Weltanschau­ ungen, Disposition und Ideologisierung. Diese sind nur wichtig dafür, was die Soldaten für erwartbar, gerecht, irritierend oder empörend halten, aber nicht für das, was sie tun. Das mag sich angesichts dessen, was diese Soldaten angerichtet haben, allzu lapidar anhören, aber Krieg formiert einen Geschehens- und Handlungszusam­ menhang, in dem Menschen tun, was sie unter anderen Bedingungen niemals tun würden.“ (394) Für den Soziologen ist hieran besonders informativ, in welchem Maße der Krieg eine eigenständige Ordnung darstellt, die als hauptsächlicher Treiber dafür angesehen werden muß, daß es zu einem derartigen Rückfall in die Barbarei kommen konnte. Nicht „Weltanschauungen, Disposition und Ideologisierung“ sind hierfür also vorran­ gig verantwortlich zu machen, sondern die soziale Zwangsgewalt, die vom Krieg selbst ausgeht, um verstehen und erklären zu können, weshalb Menschen, was immer sie von sich denken mögen, im Zuge legitimierter Gewaltausübung Schritt um Schritt Dinge tun, die sie zuvor nie für möglich gehalten haben mögen. Diese soziale Auto­ nomie des Krieges gegenüber den Dispositionen der je einzelnen weiter zu untersu­ chen, ist nur eines der Forschungsdesiderate, die sich mit der ausgezeichneten Doku­ mentation „Soldaten“ von Sönke Neitzel und Harald Welzer verbinden. Kai-Uwe Hellmann

Staatsrecht und politische Theorie in der Zwischenkriegszeit Das Erbe der Weimarer Republik Von Jens Hacke Die Zwischenkriegszeit übt auf die Ideengeschichte eine eigenartige Fas­ zination aus, denn ihre intellektuelle Welt ist zugleich nah und fern. Fern liegt die überhitzte ideologische Konfrontation, als Ideen buchstäblich Bür­ gerkriegsfronten bestimmten. Fern liegen dem heutigen Betrachter der pa­ thetische Stil, die emotive Grundierung und die Anfälligkeit für den Irrati­ onalismus, die viele der links- und rechtsradikalen Stimmen zu erkennen geben. Eine merkwürdige Nähe weist allerdings die Substanz der politi­ schen, sozialen und ökonomischen Probleme auf, die damals die Gemüter beschäftigten. Sie wird oft erst hinter der Fassade des polemischen Mei­ nungskampfes sichtbar. Denn auch die Vertreter gemäßigter Anschauungen waren kaum in der Lage, sich dem hohen Ton der damaligen Auseinander­ setzungen zu entziehen. Die Unerbittlichkeit, mit der die Debatten in den 1920er und frühen 1930er Jahren geführt wurden, hat die Ideengeschichte dieser Epoche derart beeinflusst, dass den zweifellos vorhandenen Stimmen liberaler Vernunft und Moderation wenig Gehör geschenkt worden ist. Schaut man aber genauer hin, so erhärtet sich der Eindruck, dass insbe­ sondere die damaligen Thematisierungen des Sozialstaats, das Nachdenken über die wirtschaftliche Ordnung respektive die Krise des Kapitalismus, aber auch die Problematisierung gesellschaftlicher Kohäsion und Integration alles andere als erledigt sind. Abseits des legitimen Interesses, bestimmte Entwicklungen und Diskursformationen in ihrer historischen Gemengelage und in ihrer ideenpolitischen Wirksamkeit zu bestimmen, verfolgt die ­Ideengeschichte darüber hinaus das Ziel, politische Theorien nicht nur zu rekonstruieren, sondern ihren überzeitlichen Wert zu prüfen. Es wäre also fatal, den Misserfolg der unterlegenen liberalen Minderheit ein zweites Mal zu bestrafen, indem man ihr Werk dem Vergessen überantwortet. Lange konzentrierte sich die ideengeschichtliche Forschung auf die Suche nach den Gründen für das Scheitern der Weimarer Demokratie. Dabei stand seit den häufig wieder aufgelegten Pionierstudien von Christian Graf von Krockow, Kurt Sontheimer, Fritz Stern und Fritz Ringer der rechtsintellek­

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tuelle Extremismus aus guten Gründen im Zentrum.1 Die mittlerweile schwer überschaubare Fülle an Studien zum Phänomen der „Konservativen Revolution“ oder, wie es Stefan Breuer analytischer zu fassen bestrebt ist: zur „politischen Rechten“ eines „neuen Nationalismus“ hat den Cocktail aus antiliberalen, romantischen, autoritären, antisemitischen und völkischen Ideologemen detailliert aufgearbeitet.2 Eine fortgeschrittene Radikalisierung, die die konservativ-revolutionären Zauberlehrlinge zu entschiedenen Weg­ bereitern des Nationalsozialismus macht, illustriert die letzte Phase einer deutschen Sonderwegsgeschichte. Dementsprechend lässt sich paradoxer­ weise in der hoch politisierten Epoche der Weimarer Republik vom Sieg des Unpolitischen sprechen, denn die Gegner des Weimarer Systems wandten sich schließlich mit aller Macht gegen jede Form von liberaler „bürgerli­ cher“ Politik, die auf Pluralität, Beratung, Diskussion und Wahlfreiheit im Rechtsstaat aufbaute. Der Angriff gegen die Parteien, gegen Gewaltentei­ lung und individuelle Freiheit speiste sich aus einer hypertrophen Sehnsucht nach Gemeinschaft, autoritärer Führung und „nationaler Erneuerung“. Der unpolitische Bourgeois hatte das Feld kampflos den Feinden des Parlamen­ tarismus und den Verächtern der bürgerlichen Sekurität überlassen; dem role model des republikanisch engagierten citoyen fehlte jede Ausstrahlung­ kraft. Dies war schon in den Augen zahlreicher zeitgenössischer Beobachter eine fatale Konsequenz der tradierten politischen Kultur.3 Die Gegner des Liberalismus waren keineswegs nur „Literaten“ oder politikfremde Ästheten, sondern fanden sich auch in den Reihen derer, die eigentlich professionell auf die Pflege und die Einübung demokratischrechtsstaatlicher politischer Praxis verpflichtet waren: die Professoren und Nachwuchswissenschaftler an den Universitäten des Reiches, insbesondere 1  Vgl. Christian Graf von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger (zuerst 1958), Frankfurt / M. 1990; Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politi­ schen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933 (zuerst 1962), München 1994, 4. Aufl.; Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland (zuerst 1963), Stuttgart 2005, Neuauf­ lage; Fritz Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine (zuerst 1969), München 1987. 2  Eine erste Kritik der Sammelbezeichnung „Konservative Revolution“ findet sich in Stefan Breuer, Die „Konservative Revolution“ – Kritik eines Mythos, in: PVS 31 (1990), S. 585–607. Vgl. weiterhin Stefan Breuer, Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Wider­streit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001. 3  Vgl. etwa Rudolf Smend, Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht (1933), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin 1968, 2. Aufl., S. 309–325, sowie Hermann Heller, Bürger und Bourgeois (1932), in: ders., Gesammelte Schriften. Zweiter Band: Recht, Staat, Macht, Tübingen 1992, 2. Aufl., S. 625–641.



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in den historisch-politischen Fakultäten und im Staatsrecht. Die verschiede­ nen wissenschaftlichen Disziplingeschichten und die Biographik der letzten Jahrzehnte geben einen angemessenen Eindruck von der Verbreitung antide­ mokratischer und antiliberaler Ressentiments innerhalb des akademischen Milieus. Doch bei aller Notwendigkeit für eine Quantifizierung und histori­ sche Einordnung dieser republikfeindlichen Schräglage kann es nicht nur um die Skizzierung großer ideengeschichtlicher Linien gehen. Deduktionen allgemeiner Art können kaum je den Kontingenzen, der Offenheit und der Vielfalt des Historischen Rechnung tragen, denn sie tendieren dazu, Ni­ schen, Alternativen und Gegenentwürfe vorschnell einer Meistererzählung zu opfern. Es ist eigentlich ein konservatives Topos, dass die Verlierer der Geschichte bisweilen die wichtigeren Einsichten vermitteln als die selbstge­ wissen Sieger. Im Falle der Weimarer Republik würde den moralischen Sieg der Verlierer niemand anzweifeln, hat doch das Gelingen der Bundesrepub­ lik die Weimarer Demokraten rückwirkend rehabilitiert. Gleichwohl fristete die Minderheit der liberalen und sozialdemokratischen Verteidiger Weimars lange Zeit ein Schattendasein. Diese verblassten angesichts der ungelösten Fragen, die die Kapitulation der politischen Mitte in der Endkrise 1930–1933 aufgab, und wurden lediglich in ihrer Außenseiterstellung berücksichtigt.4 Das galt auch für die Staatsrechtslehre, die vor der flächendeckenden Etab­ lierung der Politikwissenschaft die eigentliche politische Wissenschaft war und die wichtigen Streitfragen monopolisierte. Ohne Frage verstand sich die Staatsrechtslehre selbst als politische Leitwis­ senschaft, die allerdings mit dem Dilemma konfrontiert war, dass im Fach sowohl ein polarisierender und die Spaltung befördernder Methodenstreit ­ zwischen Normativisten und Positivisten ausgetragen wurde als auch der Dis­ ziplin ein common ground abhanden gekommen war. Nicht lediglich unter­ schiedliche Verfassungsauslegungen standen sich gegenüber, sondern eine beachtliche Zahl der beamteten Staatsrechtslehrer machte aus ihrer Verfas­ sungsfeindschaft keinen Hehl. Die Beschäftigung mit der Staatsrechtslehre verspricht allein aufgrund ihrer herausgehobenen Rolle am ehesten Auf­ schluss über den – zumindest rational einsehbaren – Ideenhaushalt der Wei­ marer Jahre zu geben. Anders als die traditionell noch konservativere Ge­ schichtswissenschaft, in deren Reihen junge linksorientierte Nachwuchswis­ senschaftler wie Eckart Kehr Außenseiter blieben und Marxisten wie Arthur Rosenberg keinen Anschluss an das Fach fanden, repräsentiert die Staats­ rechtslehre politisch ein breiteres Spektrum. Immerhin fand man in ihren Rei­ hen neben Vernunftrepublikanern und Liberalkonservativen auch einige Sozi­ aldemokraten wie Gustav Radbruch, Hans Kelsen und Hermann Heller. 4  Eine erste Bestandsaufnahme legte vor Rudolf von Thadden (Hg.), Die Krise des Liberalismus zwischen den Weltkriegen, Göttingen 1978.

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So ist es nahe liegend, dass die Neuanstöße auf dem Gebiet der politi­ schen Ideengeschichte dem Blick auf die staatsrechtlichen Debatten einiges verdanken. Zwar hat auch die Geschichtswissenschaft seit dem innovativen Zugriff von Detlev Peukert auf Weimar als Laboratorium der Moderne und Heinrich August Winklers facettenreicher Ausmessung von Handlungsspiel­ räumen und Alternativen dafür gesorgt, die erste deutsche Republik nicht allein unter dem Aspekt des Scheiterns zu betrachten.5 Aber die kulturhis­ torischen Schwerpunktsetzungen der letzten Jahre haben das rekonstruktive Interesse an politischen Ideen wieder in den Hintergrund treten lassen. Es war vor allem der vom Bielefelder Verfassungs- und Staatsrechtler Chris­ toph Gusy herausgegebene Sammelband „Demokratisches Denken in der Weimarer Republik“, der ein neues Forschungsfeld bündelte.6 In bewusster Anlehnung an Sontheimers Titel sollte nun der Fokus auf die unterlegenen Streiter für die Demokratie gelenkt werden, auch im Sinne einer demokra­ tietheoretischen Inventur. I. Demokratische Staatsrechtslehrer Von Gusy herkommend hat nun Kathrin Groh mit ihrer Bielefelder Ha­ bilitationsschrift die erste umfassende Gesamtdarstellung zum Thema vor­ gelegt.7 Sie tritt damit endlich der vom Historiker Klaus Epstein 1963 ge­ äußerten Befürchtung entgegen, dass für eine Abhandlung „über das demo­ kratische Denken (und die demokratische Haltung) der Freunde der Wei­ marer Republik“ womöglich „ein kleiner Aufsatz genügen würde“.8 Die Verfasserin, mittlerweile Professorin für Öffentliches Recht an der Univer­ sität der Bundeswehr München, widmet ihre Arbeit einer Gruppe, die bis­ her nur als Minorität bzw. in ihrem Einzelgängertum wahrgenommen wur­ de: den demokratischen Staatsrechtslehrern in der Weimarer Republik. Groh ist, um dies gleich vorwegzunehmen, eine in ihrer Systematik und in ihrer theoretischen Durchdringung durchweg beeindruckende Arbeit gelun­ gen, die demokratietheoretisch und ideengeschichtlich wichtige neue Im­ pulse setzt. 5  Vgl. Detlev Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Mo­ derne, Frankfurt / M. 1987; Heinrich August Winkler, Weimar 1918–1933. Die Ge­ schichte der ersten deutschen Demokratie, München 1994, 2. Aufl. 6  Christoph Gusy (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Ba­ den-Baden 2000. 7  Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatsrechtslehre zur Theorie des modernen Verfassungsstaats, Tübingen 2010. 8  Klaus Epstein, Vom Kaiserreich zum Dritten Reich. Geschichte und Geschichts­ wissenschaft im 20. Jahrhundert, Frankfurt / M. / Berlin / Wien 1973, S. 213.



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Grohs Synopse der staatsrechtlichen Konzeptionen von Hugo Preuß, Gerhard Anschütz, Richard Thoma, Hans Kelsen und Hermann Heller ist auch deswegen zu begrüßen, weil sie den qualitativen Ertrag liberal-demo­ kratischer Verfassungstheorie gegenüber einer seit einigen Jahren jede Pro­ portion überschreitende Aufmerksamkeit für Carl Schmitt verdientermaßen aufwertet. Zwar hält sich hartnäckig die Auffassung, dass Schmitts Verfas­ sungslehre eine der wichtigsten Orientierungsmarken für die Entstehung des Grundgesetzes gewesen sei. Aber aufs Ganze gesehen ist die Staats­ rechtslehre der Bonner und Berliner Republik doch ganz gut ohne den Plettenberger Meister der Selbstinszenierung ausgekommen, der für die Bundesrepublik zeitlebens nur Verachtung übrig hatte. Spätestens seit Reinhard Mehrings umfassender Biographie, die abseits einer souveränen Werkdeutung auch die Untiefen seines Privatlebens ausleuchtet, ist auch von dem nicht abreißenden Strom der Brief- und Tagebuch-Editionen Schmitts kaum mehr grundstürzend Neues zu erwarten, abgesehen von weiteren unappetitlichen Belegen für seinen Antisemitismus und seine tiefe charakterliche Unsicherheit.9 Im jüngst erschienenen Briefwechsel zwi­ schen Carl Schmitt und Rudolf Smend erfährt man deshalb tatsächlich we­ nig über die konfliktauslösenden Fragen zwischen den beiden gegen Kel­ sen Alliierten, die bald miteinander in Streit gerieten. Aufschlussreich bleibt der vom politisch mäandernden Smend geteilte Antiliberalismus. Beifällig äußert er sich am 10. Oktober 1926 zu Schmitts kritischer Re­ zension von Friedrich Meineckes „Idee der Staatsräson“ und führt folgen­ den Grund für das eigene Schweigen an: „Ich müsste sagen, dass hier wissenschaftlicher Agnostizismus, ethische Skepsis und liberale Staats­ fremdheit einen widerwärtigen ästhetisierenden Ausweg in sentimentale Perversion nehmen, dass hier die Weise ist, auf die Liberalismus und His­ torismus in Schönheit verfaulen mögen.“10 Abseits des für die Bundesrepublik vermeintlich konstitutiven Dualismus zwischen Schmitt- und Smend-Schule – es wäre eine bedrückende Vorstel­ lung, wenn es nur diese beiden Traditionslinie gäbe – kann man nun mit Kathrin Groh entdecken, dass Bonn keineswegs nur ex negativo die Leh­ ren aus Weimar zog, sondern dass sich durchaus positiv an die Staats­ 9  Vgl. Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, Mün­ chen 2009. Die jüngste Publikation der Tagebücher aus den Jahren 1930–34 gibt einen abschreckenden Einblick in die Psychopathologie Schmitts, der sich perma­ nent von Kollegen bedroht und von Juden verfolgt fühlte, derweil er über seine sexuellen und alkoholischen Ausschweifungen genau Buch führte. Siehe Carl Schmitt, Tagebücher 1930–1934, hg. von Wolfgang Schuller in Zusammenarbeit mit Gerd Giesler, Berlin 2010. 10  Reinhard Mehring (Hg.), „Auf der gefahrvollen Straße des öffentlichen Rechts“. Briefwechsel Carl Schmitt – Rudolf Smend 1921–1961, Berlin 2010, S. 58.

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rechtslehre der ersten deutschen Demokratie anknüpfen ließ.11 Oder um es mit der Verfasserin pointiert zusammenzufassen: Schon in der Weimarer Republik formulierte eine demokratisch orientierte Staatsrechtslehre „Inputorientierte Theorien der Demokratie, die auf einer pluralistischen Basis standen“, und kam zu der Auffassung, „dass Rechtsstaat, Demokratie und Grundrechte zusammengehören“.12 Es ist auf knappem Raum nicht möglich, Grohs begriffssensible Herme­ neutik in ihrer Differenzierungsleistung angemessen zu würdigen.13 Einige Ergebnisse ihrer Untersuchung mögen aber unterstreichen, wie gut es der Autorin gelingt, die Spannweite eines liberalen Verfassungspositivismus, wie ihn Anschütz vertritt, über den demokratisch-organologisch orientierten Ansatz von Preuß bis hin zu einer soziologisch-realistischen Sichtweise Hellers unter dem gemeinsamen Nenner einer demokratisch-staatserhalten­ den Verfassungslehre zu plausibilisieren. Ist es doch die interpretative Pluralität einer liberalen Staatslehre, die die Besonderheit der Weimarer ­ Verfassungsgebung als „freieste Verfassung der Welt“ noch einmal unter­ streicht. Das Verbindende einer demokratischen Staatsrechtslehre besteht zunächst einmal darin, dass sie gegen alle zeitgenössischen Widerstände am Parlamentarismus festhielt, die Funktionsweise der repräsentativen ­Demokratie jedweder Art von direkter Demokratie vorzog und auf die po­ litische Vernunft bzw. die Einigungsfähigkeit der Parlamentarier setzte. Während Carl Schmitt bekanntlich argumentierte, dass Wahrheit und öf­ fentliche Diskussion als vermeintlich konstitutive Prinzipien ausgedient hätten, hielt eine liberaldemokratische Staatslehre an den Geboten der To­ leranz, des Kompromisses und des Minderheitenschutzes fest. Gegen Schmitts polemische Entgegensetzung von Demokratie und Parlamentaris­ mus verteidigte eine liberale Position die unbedingte Zusammengehörig­ 11  Zum Dualismus von Smend- und Schmitt-Schule vgl. Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integ­ ration, München 2004. Mit der Rolle, die das Scheitern der Weimarer Republik für die bundesrepublikanischen Debatten spielte, beschäftigen sich vor allem: Heinrich August Winkler (Hg.), Weimar im Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen Re­ publik im geteilten Deutschland, München 2002; Christoph Gusy (Hg.), Weimars lange Schatten. „Weimar“ als Argument nach 1945, Baden-Baden 2003; Sebastian Ullrich, Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2009. 12  Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer, S. 579, 586. Damit wird das Urteil Sontheimers modifiziert, der den Positivisten Kelsen und Thoma ankreidet, nicht über die wissenschaftlichen Mittel zu verfügen, um ihren zweifellos vorhandenen Glauben an die parlamentarische Demokratie zu legitimieren. (Siehe Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 90.) 13  Eine 16seitige kritische Würdigung nimmt vor Dian Schefold in: http: /  / www. historische-demokratieforschung.com / Schefold-Groh.pdf (01 / 2011).



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keit von beidem.14 Es ist kein Widerspruch darin zu sehen, dass alle Ver­ treter einer „demokratischen Staatslehre“ liberalen Elitentheorien mehr oder weniger verbunden blieben, auch wenn dieser Vorwurf immer wieder als Beleg für einen überkommen Altliberalismus erhoben wurde. Im Lich­ te heutiger Debatten um die Repräsentations- und Leitbildfunktion von Eliten sowie angesichts der neuen Bewertung von Führung in der Demo­ kratie wird man derartige Positionen eher als Realismus ansehen und nicht so rasch mit dem Verdikt des Rückwärtsgewandten belegen wollen.15 Kein Zweifel besteht darüber, dass die demokratischen Staatslehrer gegen einen verbreiteten Genie- und Führungskult hinreichend immun blieben.16 Groh ist weit davon entfernt, die von ihr behandelten Theoretiker über einen Kamm zu scheren. Sie zeigt, wie das konstitutionelle Erbe des Kai­ serreiches auf vielfältige Weise dynamisch transformiert wurde. Der ge­ bremste Etatismus von Anschütz mündete in das fast aristotelisch anmu­ tende Bekenntnis „Der Staat, das sind wir“. Preuß stellte zwar den „Volks­ staat“ einer unpolitischen Form der Gesellschaft gegenüber, ließ aber eine zivilgesellschaftliche auszudeutende Konzeption des genossenschaftlichen Self-Governments erkennen. Thoma hingegen verschwieg nicht die „aristo­ kratischen Einbauten“ in moderne Demokratien, verschrieb sich jedoch der Überzeugung, dass mit dem „Kleineleutestaat“ der beste Staat zu machen sei. Für ihn bestand kein Zweifel, dass die Demokratie mit der politischen Emanzipation der Unterschicht verbunden bleiben muss. Sein Eintreten für Privilegienabbau und Gleichheit traf sich mit dem Sozialdemokraten Her­ mann Heller, dessen „liberal-durchwachsener Sozialismus“ dem Proletariat die Kultursteigerung, d. h. die Erhebung zum Bürger, bringen sollte. Gegen jedes vorurteilsschnelle Verdikt über die normative Enthaltsamkeit des Er­ finders der „reinen Rechtslehre“ führt Groh überzeugend an, dass es Kel­ sen durchaus um eine Anleitung des Bürgers zu Staatspatriotismus und Opferbereitschaft für das Gemeinwesen ging. Allein Grohs luzide KelsenKapitel legen den Gedanken nahe, dass sich Jürgen Habermas viele dis­ kursethische Umwege zu „Faktizität und Geltung“ hätte sparen können, wenn er sich frühzeitig mit Kelsens Demokratietheorie vertraut gemacht hätte – auch dies eine Erkenntnis, die für die Aktualität der damaligen Debatten spricht. Die von Groh vorgeschlagene Deutung widerspricht auch Christoph Schönbergers Auffassung, dass bei Kelsen ein subkutaner 14  Siehe vor allem Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 8. Aufl., (Nachdruck der 1926 erschienenen 2. Aufl.), Berlin 1996. 15  Vgl. zu dieser Diskussion die Beiträge in Herfried Münkler  / Grit Straßenber­ ger / Matthias Bohlender (Hg.), Deutschlands Eliten im Wandel, Frankfurt / M. / New York 2006. 16  Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer, S. 191–195.

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Rousseauismus wirksam gewesen sei, der ihn für identitäre Konzepte der Demokratie empfänglich gemacht habe.17 Sicherlich, auch die Tugendappelle der Staatsrechtler blieben ungehört, und ihre Hoffnung auf „die Integration der Gesellschaft durch den Austrag und die verbindliche Entscheidung von sozialen Konflikten“ setzte voraus, dass der verfassungsmäßige Rahmen von den sich befehdenden Parteien anerkannt wird.18 Diese grundsätzliche Anerkennung der politischen Ord­ nung wäre auch die Bedingung für die liberale Prämisse eines konstruktiven Streits in der Staatsrechtslehre gewesen.19 Doch das Fach litt unter den gleichen Friktionen und Verwerfungen, die auch für die politische Spaltung der Gesellschaft sorgten. Schon damals wusste man, wie Groh die soge­ nannte Böckenförde-Doktrin variiert, dass die Demokratie „immer von Vo­ raussetzungen kultureller und sozialer Art [lebt], die der freiheitliche Staat nur in begrenztem Maße selbst produzieren darf oder garantieren kann“.20 Dem grassierenden Antiliberalismus und Irrationalismus ihrer Zeit stan­ den die demokratischen Staatsrechtslehrer letztlich wehrlos gegenüber. Wer will es Heller verdenken, dass auch er über die Möglichkeiten einer kom­ missarischen Diktatur zur Rettung des Staates nachdachte? Seine klarsichti­ ge Abrechung mit dem Faschismus (und auch dem Bolschewismus) ver­ deutlicht auch, dass politische Urteilskraft nicht immer an juristische Syste­ matik gebunden sein muss. Gegenüber den von Groh favorisierten Kollegen Thoma und Kelsen muss Heller doch im Hinblick auf theoretische Inkon­ sistenzen einiges an Kritik einstecken. Ambivalent bleibt die Einbeziehung und Wertung von Preuß, dessen früher Tod im Jahr 1925 ihm die Abgründe des von ihm modellierten Reichspräsidentenamts ersparte. Grohs Demokratieverständnis ist im Sinne des heutigen Sprachgebrauchs normativ überformt; nur so kann man vom (begriffslogisch problematischen) Kippen der „identitären“ Demokratie ins „Antidemokratische“ handeln. In­ haltlich sind die Konturen einer liberaldemokratischen Staatslehre evident. Kathrin Groh zeigt nicht nur, dass es in Zeiten tiefster sozialer und politi­ scher Orientierungskrisen Prinzipienfestigkeit und Vernunft gegeben hat. Schon Michael Stolleis hat in seiner meisterhaften „Geschichte des öffent­ lichen Rechts“ auf den geistigen Rang der damaligen Auseinandersetzungen hingewiesen: „Nie wieder sind seither der politische Charakter des Staats­ 17  Christoph Schönberger, Elitenherrschaft für den sozialen Ausgleich: Richard Thomas „realistische Demokratietheorie“ im Kontext der Weimarer Diskussion, in: Gusy (Hg.), Demokratisches Denken, S. 180–183. 18  Siehe Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer, S. 349. 19  Vgl. dazu auch Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Weimarer Republik und Nationalsozialismus, München 2002, S. 155. 20  Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer, S. 173.



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rechts, der Ausnahmezustand, der Prozeß staatlicher Integration, die Funk­ tionsvoraussetzungen der Demokratie und der Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft mit solcher intellektuellen Energie und sachlichen Lei­ denschaft diskutiert worden.“ Wenn Stolleis darüber hinaus betont, dass „noch die Staatslehre der Bundesrepublik […] jahrzehntelang von diesen Texten zehren und die eigenen Positionen in Zustimmung oder Widerspruch mit ihnen ausbilden [sollte]“, so mag dies zwar grundsätzlich stimmen.21 Es hatte aber bislang nicht dazu geführt, die Substanz der damaligen Debatten systematisch aufzuarbeiten und demokratietheoretisch zu würdigen. Kathrin Groh hat diese Aufgabe in verdienstvoller Weise nachgeholt. II. Krise des Liberalismus Im Lichte der von Groh präsentierten Ergebnisse ist jedoch zu fragen, inwiefern der Anschluss an Sontheimers Gegensatzpaar demokratisches versus antidemokratisches Denken ein tragfähiges Paradigma bleibt. Diese Unterscheidung, die implizit die heutige Wertschätzung einer liberalen, par­ lamentarischen und repräsentativen Demokratie mitführt, läuft Gefahr, allzu rasch über die Vagheit und Unbestimmtheit des zeitgenössischen Demokra­ tiebegriffs hinwegzusehen. Nicht zuletzt unterlag die Demokratiesemantik in den wenigen Jahren der Weimarer Republik heftigen konjunkturellen Schwankungen: Unmittelbar nach Kriegsniederlage, im Zuge der Verfas­ sungsgebung, war die Demokratie bis hin zu den Konservativen hoch im Kurs; späterhin, in den Krisen der Republik geriet der Demokratiebegriff wieder in Misskredit und drohte im Strudel des virulenten Antiliberalismus zu versinken. In jedem Fall wäre eine Präzisierung von Demokratiekonzep­ ten notwendig, bevor eine kategoriale Zuordnung vorgenommen werden kann. Sontheimer hat dies bereits in seiner Arbeit gesehen und folgerichtig ein Demokratieverständnis positiviert, das an den Normen der Weimarer Reichsverfassung und des Grundgesetzes orientiert bleibt: „Zur Idee der Demokratie gehört wesensmäßig die Idee der Freiheit. Demokratie ist nur als Freiheit und Gleichheit. Eine Demokratie ohne Gewaltenteilung, ohne Rechtsstaatlichkeit, ohne individuelle Freiheitsrechte, ohne die politischen Grundpfeiler des Liberalismus also, ist keine wahre Demokratie, ganz gleich, wie man den Volkswillen interpretieren mag.“22 Zweifellos ist es, ausgehend von Sontheimers Prämissen, viel einfacher, die Gegner einer solchen Ordnung dingfest zu machen als die Fürsprecher. Umgekehrt lässt sich demokratisches Denken viel besser markieren, wenn es sich in der Opposition befindet; dies unterstreichen die Befunde der Dissertation von 21  Stolleis,

Geschichte des öffentlichen Rechts, S. 414. Antidemokratisches Denken, S. 16.

22  Sontheimer,

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Marcus Llanque eindrucksvoll.23 Es ist deshalb wichtig daran zu erinnern, dass wenige Jahre vor der allenthalben beschworenen Krise des Parlamen­ tarismus eine Demokratisierung der Politik im Obrigkeitsstaat des Kaiser­ reiches noch im Wesentlichen als Parlamentarisierung vorgestellt worden ist. Mindestens zweierlei kommt also zusammen: zum einen alte beharrliche Gegner von institutioneller Demokratisierung und gesellschaftlicher Libera­ lisierung, zum anderen von der Republik enttäuschte Verfechter vermeintlich alternativer Demokratiekonzepte, die die „Scheindemokratie“ und das „Sys­ tem“ ablösen sollen. Eindeutiger als die Demokratie, die sich als ein partizipatives Verfahren­ sprinzip politischer Willensbildung und als institutionelle Ordnung zweifel­ los in der Krise befand, standen der Liberalismus und das liberale Denken im Kreuzfeuer der Kritik. Während die Demokratie immerhin als Signum des Massenzeitalters die Zeit auf ihrer Seite zu haben schien, galt der Libe­ ralismus als Ideologie des 19. Jahrhunderts. Es waren vor allem – anschlie­ ßend an Sontheimers Kennzeichnung – liberale Werte wie individuelle Freiheitsrechte, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit insgesamt, die an­ gefochten wurden. Hinzu kam die verbreitete Ablehnung der kapitalistischen Wirtschaftsweise, nicht nur von Seiten der Linken, sondern – rhetorisch zumindest – auch von rechts. Über den virulenten Antiliberalismus der Weimarer Jahre und über das allgemeine Bewusstsein, dass das liberale Denken grundsätzlich zur Dispo­ sition stand, herrschte unter Zeitgenossen kein Zweifel. Es fiel damals we­ sentlich leichter, die „Krankheitssymptome“ des Liberalismus zu benennen als sich allgemein gegen die Demokratie auszusprechen. Es ist nun nahelie­ gend, dass sich Staatsrechtler professionell mit den institutionellen und normativen Arrangements der Demokratie befassen und nicht auf eine poli­ tische Theorie des Liberalismus zielen. Gleichwohl repräsentiert das von Groh aufgebotene Quintett ein Spektrum vom positivistisch geprägten sta­ bilen liberalen Mittelfeld bis hin zu sozialdemokratischen Denkern wie Hans Kelsen und Hermann Heller, die – auch im Falle Heller – alle das liberale Erbe von Freiheit, Selbstbestimmung und Rechtsgleichheit achteten. Insofern bietet die so dargebotene liberaldemokratische Staatslehre einen überaus konzisen und professionsgemäß definitionsscharfen Beitrag zu ei­ nem politischen Denken, das die parlamentarische Demokratie und ihre Werteordnung zu erhalten oder zu verbessern bestrebt ist.

23  Marcus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000.



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III. Über die Staatsrechtslehre hinaus: Otto Kirchheimer und Hermann Heller Allerdings lehrt der Blick auf das Staatsrecht – bei aller theoretischer Tiefenschärfe, die den Methodenstreit oder die Auseinandersetzungen um Kernbegriffe wie Volkssouveränität, Repräsentation, Parteienstaat etc. präg­ ten –, dass politische Theorie nicht allein aus juristischer Perspektive betrie­ ben werden kann. Insbesondere zwei Außenseiter, der bereits mehrfach er­ wähnte Hermann Heller und der junge Sozialist Otto Kirchheimer haben darunter gelitten, dass das Staatsrecht allein für die Probleme der Verfas­ sungswirklichkeit nicht ausreichend sensibel ist. Von der Warte des Staatsund Verfassungsrechts lassen sich, so die Überzeugung dieser beiden sehr unterschiedlichen Juristen, die gesellschaftlichen und politischen Machtfra­ gen nur unzureichend begreifen, schon gar nicht in ihrer geschichtlichen Dynamik. Zwei instruktive Sammelbände erneuern nun das Interesse an diesen bedeutenden Grenzgängern zwischen Rechts- und Politikwissenschaft und zeigen, dass ein nuanciertes Gesamtbild zur politischen Ideengeschich­ te des demokratischen Denkens nur durch einen interdisziplinären Zugriff zu gewinnen ist.24 Die von Kirchheimer eingeforderte Beschäftigung mit der konkreten sozialen, ökonomischen und politischen Situation lässt sich durchaus als „kritische Verfassungspolitologie“ verstehen. Kirchheimers entscheidende Frage an die WRV lautet: Enthält sie ein zugkräftiges Sach­ programm, das zu verwirklichen der Staatsorganisation aufgegeben ist? Kirchheimer verneint dies in seinen Frühschriften aufgrund der verfassungs­ inhärenten Unentschiedenheit, die im Nebeneinander von sozialistischen und wirtschaftsliberalen Vorstellungen begründet liegt. Seine epochale Schrift „Weimar – und was dann?“ bedeutet eine Fundamentalkritik an der Verfassung, die Kirchheimer zwar unter dem Eindruck der Staatskrise nicht zurücknimmt, aber anders akzentuiert.25 Kirchheimer ist insoweit Realist, als dass er angesichts der Gefährdung der Demokratie wenigstens nicht hinter das Erreichte zurückfallen will. Letztlich stellt er sich – trotz aller Vorbehalte – auf die Seite des demokratisch-parlamentarischen Rechtsstaats. Indem er sich nicht an verfassungsrechtlichen Winkelzugdiskussionen betei­ ligte, machte er auch klar, dass das Ver­fassungsrecht eben nicht über die „letzten Dinge“ verfügt und einzelne Gesetzesänderungen die politischen Verhältnisse auch nicht entscheidend beeinflussen können. Er hielt es für 24  Marcus Llanque (Hg.), Souveräne Demokratie und soziale Homogenität. Das politische Denken Hermann Hellers, Baden-Baden 2011; Robert Chr. Van Oo­ yen / Frank Schale (Hg.), Kritische Verfassungspolitologie. Das Staatsverständnis von Otto Kirchheimer, Baden-Baden 2011. 25  Otto Kirchheimer, Weimar – und was dann? Analyse einer Verfassung (1930), in: ders., Politik und Verfassung, Frankfurt / M. 1964, S. 9–56.

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zwecklos, entweder den „Fehlkonstruktionen“ des Weimarer Verfassungs­ werkes die Verantwortung für das Scheitern der Republik aufzubürden oder auf eine Verfassungsreform zu hoffen.26 Zu vielschichtig war die gesell­ schaftliche Entwicklung in Richtung eines autoritären Staates. Das Feld der ökonomischen Interessen und einer republikfeindlichen konservativen Büro­ kratie, die die Grundlagen für das Präsidialregime legten, boten für Kirch­ heimer weitaus mehr Stoff zur Erklärung von Weimars Niedergang als die Essenz staatsrechtlicher Kontroversen. Während es naheliegt, dass Kirchheimers verspätete Rezeption vor allem in den Politikwissenschaften stattgefunden hat, eben weil er in den USA überwiegend Political Science betrieb, mag es zunächst verwundern, dass Hellers Ansehen in der Politikwissenschaft weitaus größer zu sein scheint als unter den Juristen. Staats- und Verfassungsrechtler stören sich an seiner fehlenden Systematik, der unscharfen Begriffsbildung und seinem polemi­ schen Temperament; Politologen hingegen schätzen seinen originellen ide­ engeschichtlichen Zugriff sowie seinen Sinn für die sozialen und kulturellen Voraussetzungen politischer Ordnung. Im Gegensatz zum entschiedenen Sozialismus des jugendlichen Kirchheimer agiert Hermann Heller aus der Tradition des sozialdemokratischen Revisionismus. Es ist in Erinnerung zu rufen, dass Heller fest im liberalen politischen Denken verankert bleibt, wenn er Bürgerlichkeit und Bürgertugend als Zielnormen auch für eine sozialistische Entwicklung versteht und ein Verfechter des Parlamentarismus und des Repräsentationsprinzips bleibt. Dazu passt auch, wie Andreas Anter zeigt, Hellers Konzept der Wirklichkeitswissenschaft, das er in enger Anleh­ nung an Max Weber und in Nähe zu Hans Freyer entwickelt.27 Hellers Hegelianismus wiederum (auch hier gibt es eine Nähe zum Vordenker des Tat-Kreises Freyer) prägte seine antipositivistische und geschichtsphiloso­ phisch imprägnierte Sicht auf Staat und Gesellschaft. In Hellers ironischer Spekulation, ob sich im Sieg des Faschismus nicht doch noch eine Hegel­ sche List der Vernunft zu erkennen geben könnte, allerdings ein Zeichen für seine Wankelmütigkeit zu erkennen, scheint in Anbetracht der Entschieden­ heit seiner Parteinahme für die Weimarer Republik eher abwegig. Frank Schale vermutet, dass in Hellers Kritik am Faschismus „nur auf den ersten Blick als klares Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie“ zu werten sei, und hält „die geistesgeschichtliche Sorge um den Souveränitätsbegriff“ für zentral.28 Abgesehen davon, dass der Autor hier eine schiefe Alternative 26  Vgl. dazu den Beitrag von Llanque, Otto Kirchheimer und die sozialistische Verfassungslehre, in: Ooyen / Schale (Hg.), Kritische Verfassungspolitologie. 27  Andreas Anter, Hermann Heller und Max Weber. Normativität und Wirklich­ keit des Staates, in: Llanque (Hg.), Souveräne Demokratie, S. 119–136. 28  Siehe Frank Schale, Hermann Heller und die Weimarer Faschismusdebatte, in: Llanque (Hg.), Souveräne Demokratie, S. 137–165, hier S.162.



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präsentiert, dürfte an Hellers werkbestimmender Intention, nämlich der Eta­ blierung eines sozialen Rechtsstaates mit parlamentarischen Mitteln, kein Zweifel bestehen. Es zeigt sich vor allem, dass Hellers Problematisierung der politischen Kultur die Politikwissenschaft zum produktiven Weiterdenken anregt.29 Seine Bestimmung von sozialer Homogenität meint nämlich weitaus mehr als einen Zustand materieller Gleichheit. Heller wollte soziale Homogenität keinesfalls als „Aufhebung der notwendig antagonistischen Gesellschafts­ struktur“ verstanden wissen, sondern als einen „sozial-psychologische[n] Zustand, in welchem die stets vorhandenen Gegensätzlichkeiten und Inte­ ressenkämpfe gebunden erscheinen durch ein Wirbewußtsein und -gefühl, durch einen sich aktualisierenden Gemeinschaftswillen“.30 In diesem Sinne legt es Heller eher auf die Integrationsfähigkeit eines Gemeinwesens an, als dass er Homogenitätspostulate aufstellt. Später hat Ernst-Wolfgang ­Böckenförde im Anschluss an Heller ebenfalls eine „Form von notwendi­ gem Wir-Bewußtsein“ angesprochen, eine Gemeinsamkeit, die er unter modernen pluralistischen und multiethnischen Bedingungen als „relative ­ Homogenität“ verstehen möchte. Übrigens läst sich auch der Begriff der „relativen Homogenität“ auf Heller zurückführen. Heller weist an einer Stelle darauf hin, dass die „relative Angeglichenheit des gesellschaftlichen Bewußtseins […] ungeheure Spannungsgegensätze in sich verarbeiten, un­ geheure religiöse, politische, ökonomische und sonstige Antagonismen ver­ dauen [kann]“.31 IV. Liberaldemokratisches Denken in der Zwischenkriegszeit – ein Ausblick In der Beschäftigung mit dem „demokratischen Denken“ der Weimarer Republik wird deutlich, dass die Autoren eine Doppelkrise zu bewältigen haben: Einerseits wächst der Zweifel am politischen System und seinen demokratischen Institutionen, denen man nicht mehr zutraut, sozialen und ökonomischen Wandel zu steuern und in konsensuelle Bahnen zu lenken 29  Das zeigt auch der Beitrag von Christoph Müller, Hermann Hellers Konzept der politischen Kultur, in: Llanque (Hg.), Souveräne Demokratie, S. 65–92. 30  Hermann Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität (1928), in: ders., Gesammelte Schriften. Zweiter Band: Recht, Staat, Macht, Tübingen 1992, 2. Aufl., S. 421–433, hier S. 428. 31  Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Zukunft politischer Autonomie. Demo­ kratie und Staatlichkeit im Zeichen von Globalisierung, Europäisierung und Indivi­ dualisierung (1998), in: ders., Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfas­ sungstheorie und Rechtsphilosophie, Frankfurt / M. 1999, S. 103–126, hier S. 110f., sowie nochmals Heller, Politische Demokratie, S. 428.

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(Funktionskrise). Andererseits stehen die von Carl Schmitt (und vielen an­ deren) angegriffenen „geistigen Grundlagen“ des Parlamentarismus und damit das normative Grundgerüst des liberalen Denkens zur Disposition (Wertkrise). Die Auseinandersetzungen über diese Lage beinhalten nicht nur staatsrechtliche Debatten oder eine Rechtfertigung des Alten, sondern be­ zeichnen einen Selbstverständigungs- und Reformdiskurs, der sowohl prob­ lemsensibel über neue Wege und Lösungen nachdenkt als auch in besonde­ rer Weise die Einigung über konstitutive Werte und Gehalte der liberalen Demokratie anstrebt. Diese befand sich in der paradoxen Situation, gerade erst über die konstitutionelle Monarchie gesiegt zu haben und schon im Verdacht zu stehen, entweder überholt oder geistig-kulturell für Deutschland unpassend zu sein. Sicherlich bleibt Sontheimers Befund richtig, dass „im geistigen Konzert der Republik […] die kräftig intonierten Zwischentöne [fehlten]“ und es „nur einige wenige große Vertreter einer kämpferischen Mitte“ gab.32 Ge­ nannt werden dann (üblicherweise) prominente vernunftrepublikanische Vertreter des kulturellen Lebens wie Thomas Mann, Ernst Troeltsch, Fried­ rich Meinecke oder Ernst Robert Curtius.33 Gleichwohl lassen sich in der extensiven Krisenliteratur einige Inseln liberaldemokratischen Denkens fin­ den, die im beschriebenen Sinne eine Prüfung der geistigen Bestände vor­ nahm und für eine Modernisierung eintrat. Sprachrohr einer urbanen, libe­ ralen, oft jüdisch geprägten Intelligenz war die „Neue Rundschau“; die Spalten der „Frankfurter Zeitung“ oder des „Berliner Tageblatts“ versam­ melten demokratische Intellektualität; in der Soziologie gab es mit Alfred Weber und Leopold von Wiese einflussreiche Fachvertreter, die sich mit den Herausforderungen an das liberale Denken beschäftigten34; der junge Hel­ muth Plessner verteidigte in seinen „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924) die moderne technische Zivilisation, betonte die Freiheitsräume entfremdeten Daseins und rechnete mit dem Gemeinschaftsradikalismus linker und rech­ ter Provenienz ab.35 Nicht zuletzt lassen sich in der Philosophie die Vertre­ ter des Neukantianismus relativ umstandslos einer republikanisch aufge­ schlossenen liberalen Haltung zuordnen, und auch in den Reihen der Na­ tionalökonomen gab es im Kreis um Lujo Brentano eine starke linksliberalfortschrittliche Strömung, die von Zeitgenossen als wichtigste Impulsgeber 32  Sontheimer,

Antidemokratisches Denken, S. 309 f. zum Thema Andreas Wirsching / Jürgen Eder (Hg.), Vernunftrepublikanis­ mus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, Stuttgart 2008. 34  Vgl. etwa Alfred Weber, Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Berlin / Leipzig 1925, oder schon Leopold von Wiese, Der Liberalismus in Vergan­ genheit und Zukunft, Berlin 1917. 35  Helmut Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radika­ lismus (1924), Frankfurt / M. 2002. 33  Vgl.



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für eine Erneuerung des Liberalismus angesehen wurde.36 Im BrentanoSchüler Moritz Julius Bonn, Gründungsdirektor der Münchner Handels­ hochschule, Gesandter und Berater verschiedener Reichsregierungen sowie Verfasser einiger sehr beachtlicher politiktheoretischer Texte, tritt uns ein fast idealtypischer liberaler Demokrat der Weimarer Jahre entgegen.37 Bonn entwickelt in seiner wichtigsten politischen Schrift über „Die Krisis der europäischen Demokratie“ das Konzept eines sozialen Pluralismus und denkt über die neuralgischen Punkte nach, die die liberale repräsentative Demokratie von vulgär-rousseauistisch-identitären Varianten trennen: Tole­ ranz, Minderheitenschutz, bürgerliche Partizipation und Verantwortung, parlamentarische Kompromissfindung.38 Man muss nicht die Skepsis von Christoph Schönberger teilen, der mit der ernsthaften Historisierung der Weimarer Debatte um die Demokratie auch den Abschied von ihr vermutet, weil die Protagonisten von damals kaum dem heutigen demokratietheoretischen state of the art genügten. Auch „die sehnsuchtsvolle bundesrepublikanische Suche nach Weimarer Vorbil­ dern“ müsse Schönberger zufolge unweigerlich in die Ernüchterung füh­ ren.39 Das mag aus der Perspektive einer fortschrittsbewussten Staatslehre nachvollziehbar erscheinen; für die politische Theorie und Ideengeschichte wäre ein freiwilliger Forschungsverzicht jedoch sehr voreilig. Es sind – ab­ seits der zweifellos zahlreich vorhandenen personenbezogenen Werkdeutun­ gen – vor allem die übergreifenden Fragen an eine konstruktive Krisende­ batte über parlamentarische Demokratie und Liberalismus, die weiterhin von Interesse sein können. Schon die überaus instruktive Skizze von Mark Mazower liefert einen ersten Beleg für die inter- und transnationale Dimen­ sion der demokratischen Selbstverständigungs- und Verteidigungsdiskurse, denn keineswegs nur in Deutschland wurde über den Niedergang der libe­ ralen Demokratie spekuliert. Es handelt sich um ein gesamteuropäisches Phänomen.40 Der Blick über den Tellerrand von Weimar hinaus dürfte Ge­ 36  Einen Überblick bietet Moritz Julius Bonn  / Melchior Palyi (Hg.), Die Wirt­ schaftswissenschaft nach dem Kriege. Festgabe für Lujo Brentano zum 80. Geburts­ tag, 2 Bde., München / Leipzig 1925. Die Wiener Tageszeitung „Neue Freie Presse“ vom 18.5.1926 lobte das Sammelwerk als „ein wissenschaftliches Manifest des Li­ beralismus“. 37  Vgl. Jens Hacke: Moritz Julius Bonn – ein vergessener Verteidiger der Ver­ nunft. Zum Liberalismus in der Krise der Zwischenkriegszeit, in: Mittelweg 36, 19. Jg., Heft 6, 2011, S. 26–59. 38  Moritz Julius Bonn, Die Krisis der europäischen Demokratie, München 1925. 39  Christoph Schönberger, Demokratisches Denken in der Weimarer Republik – ein kurzes Fazit, in: Gusy (Hg.), Demokratisches Denken, S. 664–669, hier S. 668. 40  Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Frank­ furt / M. 2002, S. 17–67. – Jan-Werner Müller bietet in seinem jüngsten Buch eine gut erzählte ideengeschichtlichen Synthese des Demokratiedenkens; eine problem-

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meinsamkeiten und Besonderheiten der angespannten Theoriereflexion bes­ ser hervortreten lassen. Abschließend möchte ich lediglich einige Themenund Ideenkreise nennen, innerhalb derer womöglich Neuentdeckungen zu machen sind: 1. der Entstehungszusammenhang der Pluralismustheorie über Harold Laski hinaus; 2. die allgemeine Thematik der „wehrhaften Demo­ kratie“ bis hin zu Karl Loewensteins Forderung nach „militant democracy“; 3. das Problem der Führung in der Demokratie; 4. die Untersuchung eines Konnex zwischen Positivismus, Rationalismus und liberaler Demokratie; 5. die Frage nach der Integrationsfähigkeit einer politischen Ordnung im Hinblick auf soziale und ethnische Gruppen; 6. die Begründungen des in­ tervenierenden Wohlfahrtsstaates als sozialliberales Modell. Diese Stichpunkte mögen illustrieren, dass es sich hier um Fragen han­ delt, die – wie alle Probleme der politischen Ideengeschichte – nie wirklich zu bewältigen sind und beharrliche Neuanläufe fordern. Vor dem Hinter­ grund, dass viele politische Ordnungsideen, die nach 1945 das „goldene Zeitalter“ Europas (Hobsbawm) prägen sollten, ihren Ursprung in den De­ batten der Zwischenkriegszeit haben, behält die Ideengeschichte dieser Epoche ihren Reiz. In diesen Jahren wurde über wohlfahrtstaatliche Steue­ rungsmechanismen nachgedacht; verschiedene Neoliberalismen, die sich nach dem berühmten Walter-Lippmann-Colloquium ausdifferenzierten, ha­ ben hier ihren Ursprung. Überhaupt gilt es, sich die erneute nachmarxisti­ sche Politisierung des ökonomischen Denkens noch einmal vor Augen zu führen, denn immerhin gehörten John M. Keynes, Joseph A. Schumpeter, Ludwig van Mises, Friedrich August Hayek und auch die Ordoliberalen Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke zu den politisch ambitionierten Wirtschaftswissenschaftlern, deren Einfluss sich erst nach dem Krieg voll entfaltete. Vermutlich erweist sich für das politische Denken, dass es neben der unbestreitbaren Lernerfahrung aus den Katastrophen der „Weltbürger­ kriegsepoche“ ebenso das Streben nach Kontinuität gab. Vieles, was in der kurzen Atempause der Zwischenkriegszeit vorgedacht wurde, entfaltete erst im geschützten westeuropäischen Raum des Kalten Krieges seine Wirkung. Nach dem Wegfall der Systemalternative 1989 / 90, als kein liberales Ende der Geschichte eingetreten ist und seitdem sich die durch Globalisierung bedingten Herausforderungen häufen, ist der Legitimationsdruck für die westliche Demokratie wieder gestiegen. Auch dieser Umstand rückt die kämpferischen Streiter von damals wieder näher an die Gegenwart.

und debattenorientierte Darstellung für die Zwischenkriegszeit steht aber noch aus. Vgl. Jan-Werner Müller, Contesting Democracy. Political Ideas in Twentieth-Centu­ ry Europe, New Haven / London 2011. Siehe weiterhin aus der Perspektive einer vergleichenden Verfassungsgeschichte Christoph Gusy (Hg.), Demokratie in der Krise: Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008.

Autorenverzeichnis Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Borchmeyer, Professor für Neuere deutsche Literatur und Theaterwissenschaft, Universität Heidelberg Dr. Jens Hacke, Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, Arbeitsbereich „Die Gesellschaft der Bundesrepublik“ Franz Halas, Doktorand im Fach Politikwissenschaft, Universität Regensburg Dr. Kai-Uwe Hellmann, Privatdozent am Institut für Soziologie, zurzeit Fachvertretung an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg PD Dr. Michael Henkel, Vertreter der Professur Ethik, Politik, Rhetorik am Institut für Politikwissenschaft, Universität Leipzig Prof. Dr. Christian Hiebaum, Rechts- und Sozialphilosophie und Rechtssoziologie, Karl-Franzens-Universität Graz Prof. Dr. Clemens Kauffmann, Professor für Politische Philosophie und Ideengeschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Peter Koller, Professor für Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, Karl-Franzens-Univer­ sität Graz Prof. Dr. Hans-Christof Kraus, Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Passau Prof. Dr. Reinhard Mehring, Professor für Politikwissenschaft und ihre Didaktik, PH Heidelberg Prof. Dr. Walter Mesch, Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt antike und mittelalterliche Philosophie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Johannes W. Müller, B. A., Philosophisches Seminar der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster Prof. Dr. Ada Neschke-Hentschke, Professor em. für Antike Philosophie und Geschichte der Philosophie, Universität Lausanne Prof. Dr. Peter Nitschke, Professor für die Wissenschaft von der Politik, Universität Vechta PD Dr. Friedrich Pohlmann, Hochschul- und Privatdozent am Institut für Soziologie, Universität Freiburg Prof. Dr. Joachim Rückert, em. Professor für neuere Rechtsgeschichte, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, juristische Zeitgeschichte, Zivilrecht und Rechtsphilosophie, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M. Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Michael Stolleis, Professor em. für Öffentliches Recht und Rechtsgeschichte, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M. Prof. Dr. Georg Zenkert, Professor für praktische Philosophie, PH Heidelberg