Politisches Denken. Jahrbuch 2006/2007 [1 ed.] 9783428526727, 9783428126729

Zwischen Politik und Ökonomie bestehen enge, aber auch spannungsreiche Wechselbeziehungen. Einerseits bedingen sie einan

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Politisches Denken. Jahrbuch 2006/2007 [1 ed.]
 9783428526727, 9783428126729

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POLITISCHES DENKEN JAHRBUCH 2006/2007 Herausgegeben von

K. Graf Ballestrem (y), V. Gerhardt, H. Ottmann, M. P. Thompson, B. Zehnpfennig u Peter Koller: Politik und Ökonomie u Thomas Simon: Wie die Ökonomie die Politik übermannt hat u Julian Nida-Rümelin: Zur Logik ökonomischen und politischen Handelns u Reinhard Zintl: Das Verhältnis von Markt und Politik u Richard Sturn: Zur Politischen Ökonomie der Beziehung zwischen Politik und Ökonomie u Michael Baurmann: Markt und Soziales Kapital u Hans G. Nutzinger: Effizienz und Gerechtigkeit als wirtschaftspolitische Leitideen u Manfred Prisching: Ökonomie und Politik, Wissenschaft und Wirklichkeit u Barbara Zehnpfennig: Der ökonomische Imperialismus u Hendrik Hansen: Schafft Handel Frieden? u Ingo Pies: Markt versus Staat? u Michael Zürn: Die Politisierung der Ökonomisierung?

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Duncker & Humblot

Politisches Denken · Jahrbuch 2006 / 2007

In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens Redaktionsanschriften: Prof. Dr. Volker Gerhardt, Institut für Philosophie, Humboldt Universität Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin Prof. Dr. Henning Ottmann Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft, Universität München, Oettingenstr. 67, 80539 München Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig Politische Theorie und Ideengeschichte Universität Passau, 94030 Passau

Wissenschaftlicher Beirat: Karl Dietrich Bracher (Bonn), Reinhard Brandt (Marburg), Maurice Cranston (London) (y), John Dunn (Cambridge), Iring Fetscher (Frankfurt), Klaus Hartmann (Tübingen) (y), Wilhem Hennis (Freiburg), Dieter Henrich (München), Otfried Höffe (Tübingen), Hasso Hofmann (Berlin), Nikolaus Lobkowicz (Eichstätt), Hermann Lübbe (Zürich), Odo Marquard (Gießen), Kenneth Minogue (London), Michael Oakeshott (London) (y), J. G. A. Pocock (Hopkins University), Melvin Richter (New York), Quentin Skinner (Cambridge), Michael Stolleis (Frankfurt)

Politisches Denken Jahrbuch 2006 / 2007 Herausgegeben von Karl Graf Ballestrem (y), Volker Gerhardt, Henning Ottmann, Martyn P. Thompson und Barbara Zehnpfennig

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0942-2307 ISBN 978-3-428-12672-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis I. Aufsätze Politik und Ökonomie. Ein schwieriges Verhältnis Einleitung

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Begriffe und Funktionen von Politik und Ökonomie Politik und Ökonomie: Begriffe und Systeme Von Peter Koller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wie die Ökonomie die Politik übermannt hat. Politik und Ökonomie als frühneuzeitliche Handlungslehren Von Thomas Simon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur Logik ökonomischen und politischen Handelns Von Julian Nida-Rümelin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Differenzen und Interdependenzen zwischen Politik und Ökonomie Das Verhältnis von Markt und Politik Von Reinhard Zintl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur Politischen Ökonomie der Beziehung zwischen Politik und Ökonomie Von Richard Sturn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Markt und Soziales Kapital: Making Democracy Work Von Michael Baurmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

Methodische Fragen der Wissenschaften von Politik und Ökonomie Effizienz und Gerechtigkeit als wirtschaftspolitische Leitideen Von Hans G. Nutzinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Ökonomie und Politik, Wissenschaft und Wirklichkeit. Einige methodologische Betrachtungen Von Manfred Prisching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

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Inhaltsverzeichnis

Der ökonomische Imperialismus – die endgültige Lösung des Problems individueller und gesellschaftlicher Moral? Von Barbara Zehnpfennig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

Aktuelle Entwicklungen und Probleme von Politik und Ökonomie Schafft Handel Frieden? Politik und Ökonomie in der Globalisierung Von Hendrik Hansen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Markt versus Staat? – Über Denk- und Handlungsblockaden in Zeiten der Globalisierung Von Ingo Pies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Die Politisierung der Ökonomisierung? Zum gegenwärtigen Verhältnis von Politik und Ökonomie Von Michael Zürn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

II. Rezension Gerhard Paul, Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Ferdinand Schöningh – Wilhelm Fink, Paderborn/München 2004, 527 S. Von Herfried Münkler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

III. Nachruf Karl Graf Ballestrem (1939–2007) Von Henning Ottmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

I. Aufsätze

Politik und Ökonomie Ein schwieriges Verhältnis Hrsg. von Peter Koller

Einleitung Politik und Ökonomie sind zentrale Sphären der sozialen Welt, die ebenso elementare wie beständige Probleme menschlicher Existenz und Koexistenz zum Gegenstand haben: Politik die Regelung des sozialen Zusammenlebens, Ökonomie die Bereitstellung der Mittel zum Überleben und Wohlergehen der Menschen. Trotz oder vielmehr gerade wegen ihrer verschiedenen Zielsetzungen und Funktionen bestehen zwischen Politik und Ökonomie ebenso enge wie spannungsreiche Wechselbeziehungen. Einerseits bedingen sie einander, da die institutionelle Rahmenordnung der Ökonomie politischer Regelung bedarf und der faktische Spielraum der Politik von ökonomischen Gegebenheiten abhängt. Andererseits aber geraten sie leicht in Konflikt, wenn die Politik die Eigendynamik einer funktionsfähigen ökonomischen Ordnung konterkariert oder die Ökonomie die Funktionsbedingungen einer dem Gemeinwohl verpflichteten politischen Ordnung untergräbt. Die Aufsätze dieses Bandes verfolgen das Ziel, das schwierige, weil sowohl komplementäre als auch konfliktträchtige Verhältnis von Politik und Ökonomie hinsichtlich seiner vielfältigen Facetten aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Diese Themenstellung birgt eine Vielfalt von – teils prinzipiellen, gewissermaßen „ewigen“, teils zeitabhängigen und insofern „aktuellen“ – Fragen und Problemen, die sich immer wieder von Neuem stellen und der Diskussion bedürfen. Dass der vorliegende Band nur eine Auswahl der heute interessierenden Fragen und Probleme abdecken kann, versteht sich von selbst. Seiner Konzeption liegen die folgenden Zielsetzungen zugrunde: Da in einem gewissen Sinne praktisch alle sozialwissenschaftlichen Disziplinen mit Politik und Ökonomie befasst sind, wurde erstens der Versuch unternommen, Vertreter/innen aller dieser Disziplinen – Sozialphilosophie, Geschichte, Ökonomik, Politikwissenschaft und Soziologie – zu einem fächerübergreifenden Gedankenaustausch zusammenzubringen. Da es über das Verhältnis von Politik und Ökonomie bekanntlich auch erhebliche politische Meinungsdifferenzen gibt, sollten zweitens auch die normativ-ideologischen Streitfragen, die dieses Verhältnis betreffen, deutlich gemacht werden. Und um der Vielfalt und Komplexität der Thematik Rechnung zu tragen, sollte drittens ein breites Feld von wichtigen und interessanten Aspekten zur Sprache kommen. Diese Intention findet Ausdruck in der thematischen Gliederung der Aufsätze in vier Themengruppen, die sich vom Allgemeinen zum Besonderen bewegen. Hierzu nur einige knappe Anmerkungen.

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Einleitung

Eine erste Gruppe hat Themen grundlegenden Charakters zum Gegenstand: die Begriffe von Politik und Ökonomie im Kontext ihrer Differenzierung in verschiedene soziale Systeme (Peter Koller), die historische Entwicklung von Politik und Ökonomie im neuzeitlichen Europa (Thomas Simon) und die Logiken oder grundlegenden normativen Konzeptionen der für Politik und Ökonomie charakteristischen Formen des Handelns (Julian Nida-Rümelin). Auch die zweite Themengruppe hat mit grundsätzlichen Fragen zu tun, die nun aber vor allem auf die Differenzen und Interdependenzen zwischen Politik und Ökonomie fokussieren: Zur Debatte stehen die Wechselwirkungen, Reibungsflächen und Konfliktfelder zwischen Markt und Politik (Reinhard Zintl), die Bestimmung der Funktionsbereiche und Grenzen von Politik und Ökonomie (Richard Sturn) und die sozialmoralischen Voraussetzungen der Marktökonomie (Michael Baurmann). Die Erörterung der Sachfragen betreffend das Verhältnis von Politik und Ökonomie hängt nicht unerheblich von der Methodologie und der Forschungspraxis der damit befassten wissenschaftlichen Disziplinen ab, womit sich die dritte Themengruppe beschäftigt: Die hier versammelten Beiträge diskutieren die Rolle der Ideen von Effizienz und Gerechtigkeit im Rahmen der ökonomischen Theorie (Hans G. Nutzinger), die Schwierigkeiten einer ökonomischen Modellierung des politischen Parteienwettbewerbs (Manfred Prisching) und das Unterfangen, die Moral ökonomisch zu begründen, also letztlich auf individuelle Nutzenoptimierung zurückzuführen (Barbara Zehnpfennig). Die vierte und letzte Themengruppe ist den aktuellen und drängenden Problemen gewidmet, die sich aus der gegenwärtig rapide voranschreitenden Globalisierung der Ökonomie für die Politik ergeben: Die hierzu gehörigen Beiträge erörtern, ob die wachsenden Handelsverflechtungen zum Weltfrieden beitragen (Hendrik Hansen), wie die Globalisierung theoretisch konzipiert werden sollte, um den Weg zu einer ihr angemessenen Institutionalisierung transnationaler bzw. globaler Politik zu weisen (Ingo Pies), und schließlich, welche Instrumente zur Verfügung stehen, um die sich der nationalstaatlichen Politik zunehmend entziehende Eigendynamik der globalen Ökonomie wieder politisch zu domestizieren (Michael Zürn). Dem Band liegt eine Tagung gleichen Namens zugrunde, die von der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens (DGEPD) zusammen mit der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Karl-FranzensUniversität Graz im Mai 2006 in Graz durchgeführt wurde. Zehn der zwölf Aufsätze des Bandes beruhen auf den im Rahmen dieser Tagung gehaltenen Vorträgen, deren vorliegende schriftliche Fassungen teilweise deutliche Spuren der intensiven, mitunter recht kontroversen Tagungsdiskussionen erkennen lassen. Zwei Aufsätze wurden für die Publikation verfasst. Allen Beitragenden sei für ihre Mitwirkung herzlich gedankt.

Einleitung

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Zum Zustandekommen und Erfolg der erwähnten Tagung hat eine Person in besonderem Maße beigetragen: Prof. Dr. Karl Graf Ballestrem, der am 9. Mai 2007 unerwartet verstorben ist. Graf Ballestrem, der von 1994 bis 2004 Vorsitzender der DGEPD war, hat nicht nur die Abhaltung der Grazer Tagung angeregt, sondern auch deren Planung mit freundlicher Anteilnahme begleitet. Und schließlich hat er sie auch durch seine Teilnahme enorm bereichert: zum einen durch seine anregenden Diskussionsbeiträge, die er gern in scheinbar harmlose, ihre kritische Substanz erst bei näherer Überlegung enthüllende sokratische Fragen kleidete, zum anderen aber auch durch seine persönliche Präsenz, die unter der Oberfläche seiner auf freundliche Distanz bedachten Umgangsformen eine ausgeprägte Sympathie für seine Mitmenschen spüren ließ und eine ansteckende, von sozialer Wärme getragene Geselligkeit verbreitete. Die DGEPD ist Karl Graf Ballestrem für seine langjährigen Aktivitäten als Vorstandsmitglied und als Mitherausgeber des Jahrbuchs „Politisches Denken“ zu großem Dank verpflichtet. Dieser Band sei seinem Andenken gewidmet. Großer Dank gebührt schließlich auch der Fritz Thyssen Stiftung, die durch ihre großzügige finanzielle Förderung sowohl die Tagung als auch diesen Band ermöglicht hat. Peter Koller

Politik und Ökonomie: Begriffe und Systeme Von Peter Koller Politik und Ökonomie verkörpern spezifische Typen sozialer Praxis, die im Verlauf der Menschheitsgeschichte in vielfältigen Konfigurationen auftreten und windungsreiche Entwicklungsprozesse durchlaufen, bis sich ihre heutigen Erscheinungsformen annehmen. Um ihr historisches Werden, ihre gegenwärtige Verfassung und ihre Wechselbeziehungen zu verstehen, ist es zweckmäßig, drei verschiedene, aber miteinander verschränkte Ebenen der sozialen Welt zu unterscheiden, auf denen sie in unterschiedlichen Gestalten in Erscheinung treten: 1. die Ebene der grundlegenden Bedingungen und Probleme menschlicher Existenz, welche die Entwicklung der sozialen Praktiken, die wir als Politik und Ökonomie bezeichnen, bewirken und vorantreiben; 2. die Ebene der expliziten Begriffe und Konzeptionen von Politik und Ökonomie, die im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung nach und nach ersonnen werden, um jene Praktiken zu thematisieren und zu leiten; und 3. die Ebene der institutionellen Organisationsformen und Systeme von Politik und Ökonomie, die sich Hand in Hand mit der sozialen Regulierung jener Praktiken formieren und im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung zunehmend differenzieren. Ich möchte im Folgenden – unter stillschweigender Voraussetzung der ersten – die zweite und die dritte Ebene von Politik und Ökonomie, also deren Begriffe und Systeme, betrachten. Dementsprechend gliedern sich meine Ausführungen in zwei Teile. Im ersten werde ich versuchen, die Entfaltung der Begriffe von Politik und Ökonomie bis zu ihrem heute geläufigen Verständnis vor dem Hintergrund des sozialen Wandels in groben Strichen zu skizzieren. Danach werde ich mich im zweiten Teil mit den Systemen von Politik und Ökonomie befassen, wobei ich zuerst den Prozess ihrer Differenzierung und dann ihre Systemlogik beleuchten möchte. I. Die Begriffe von Politik und Ökonomie Obwohl anzunehmen ist, dass schon die kleinen sozialen Einheiten der Frühgeschichte der Menschheit bestimmte Praktiken zur Entscheidung der allgemeinen Angelegenheiten und zur Deckung des Lebensbedarfs ihrer Mitglieder entwickelt haben, ist es wenig wahrscheinlich, dass sie für diese

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Praktiken Namen hatten, die den Begriffen von Politik und Ökonomie entsprechen. Nach meinen (nur sehr oberflächlichen) Recherchen scheint es solche Begriffe auch in den Sprachen der antiken Hochkulturen Vorderasiens, Ägyptens und Asiens nicht gegeben zu haben (vgl. Fetscher/Münkler 1988, Kap. I–V). Doch wie auch immer, es liegt nahe zu vermuten, dass derartige Begriffe erst in einem fortgeschrittenen Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung aufkommen, in dem die Besonderheiten und Eigentümlichkeiten jener Praktiken infolge ihrer wachsenden Spezialisierung augenfällig werden. Das dürfte jedenfalls für die Wortschöpfungen der griechischen Antike gelten, aus denen sich die Begriffe von Politik und Ökonomie entfaltet haben (Finley 1977, S. 7 ff.; Raaflaub 1988). Die antike griechische Philosophie unterscheidet drei Gebiete des praktischen, auf Handlungsorientierung zielenden Denkens: Ethik, Politik und Ökonomik (Pieper 1990, S. 86 ff.). Während die Ethik als allgemeine Richtschnur für die Lebensführung und das gegenseitige Verhalten der Bürger dienen soll, haben die anderen Gebiete besondere Handlungsbereiche zum Gegenstand: die Politik die Regelung der Angelegenheiten der polis, der allgemeinen Belange des sozialen Gemeinwesens, also dessen richtige Regierung; die Ökonomik die Führung des oikos, des Hauswesens einer Familie, dessen richtige Verwaltung. Diese Terminologie findet infolge des prägenden Einflusses der griechischen Philosophie auf die Geisteswelt Roms und des Mittelalters Eingang ins Gelehrtenlatein und in die maßgeblichen europäischen Sprachen, in denen die Begriffe von Politik und Ökonomie wachsende Verbreitung finden, um sich in der Neuzeit schließlich endgültig durchzusetzen. Sie erfahren dabei im Laufe der Zeit einen merklichen Bedeutungswandel, der zu einer zunehmenden Erweiterung ihrer Anwendungsbereiche, zugleich aber auch zu einer Verdünnung ihrer Sinngehalte führt. Kurz: sie werden weiter und abstrakter. Um das zu illustrieren, möchte ich die vorherrschenden Auffassungen von Politik und Ökonomie in der Antike, im Mittelalter und in der Neuzeit mit Blick auf ihre jeweiligen Gegenstandsbereiche und Zielperspektiven in aller Kürze Revue passieren lassen. 1. Der Begriff der Politik Unter Politik verstehen die Denker der Antike – zuerst die griechischen, die das Wort prägen, dann die römischen, die es übernehmen – das Nachdenken über die richtige Gestaltung der polis bzw. der res publica, mithin der öffentlichen Belange des gesellschaftlichen Gemeinwesens, welche die Gesamtheit der Bürger betreffen und deshalb verbindlicher Regelung bedürfen. Zu diesen Belangen werden im Allgemeinen die Organisation und Ausübung der Regierungsgewalt, die Sicherung der öffentlichen Ordnung, die

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Verteilung öffentlicher Güter, die Abwehr äußerer Feinde und die Entscheidung über Krieg und Frieden gerechnet. Die Rede von Politik hat dabei durchwegs normativen Sinn, da sie nicht in erster Linie auf die realen Verhältnisse des öffentlichen Lebens fokussiert, sondern darauf, wie diese Verhältnisse bei rechter Erwägung geregelt werden sollten. Zu diesem Zweck unterstellt das antike Denken die folgenden Wertmaßstäbe und Ziele einer guten politischen Ordnung: ein gutes Leben der Bürger, nämlich deren Wohlergehen und Sicherheit, woraus das Erfordernis einer gesetzlichen Ordnung folgt; das allgemeine Wohl der Gesellschaft, das bonum commune, welches es notwendig macht, dem blanken Eigennutz der Einzelnen Grenzen zu setzen; und eine angemessene Regierungsform, die geeignet ist, eine gerechte soziale Ordnung im Interesse Aller zu gewährleisten, ohne zu einer Tyrannei zu degenerieren (siehe Sellin 1978, S. 790 ff.; Finley 1986, S. 68 ff.; Rosen 1987; Fetscher/Münkler 1988, Kap. VI–IX; Spahn 1988, S. 403 ff.; Meier et al. 1989, Sp. 1038 ff.). Die Denker des Mittelalters übernehmen zwar im Großen und Ganzen den Politikbegriff der Antike, fügen ihm aber doch einige neue Akzente hinzu. Sie verstehen ihn zwar ebenfalls im normativen Sinn, dem zufolge Politik Anleitungen für die Regelung der allgemeinen Angelegenheiten eines Gemeinwesens oder Landes und seine Regierung liefern soll. Die mittelalterliche Auffassung hebt sich jedoch von der antiken dadurch ab, dass sie das Gewicht stärker auf die Rolle und Herrschaftsausübung der Fürsten verschiebt. Das geht unter anderem aus den damals beliebten „Fürstenspiegeln“ hervor, die überdies ein revidiertes Verständnis der Zwecke der Politik offenbaren. Neben dem ewigen Heil und dem irdischen Wohl der Untertanen, neben Sicherheit und Gerechtigkeit treten einige weitere, recht modern anmutende Zwecke hervor: dazu gehören insbesondere die Erhaltung und Mehrung der fürstlichen Macht sowie die Ausdehnung und der Reichtum des Landes. Und diese neuen Akzente legen es wohl auch nahe, Politik nicht mehr nur als normative Richtschnur des Handelns, sondern zunehmend auch im deskriptiven Sinn als Teil der sozialen Wirklichkeit zu verstehen, in der sie – wie insbesondere Machiavelli betont – als ein andauernder Kampf um Machtgewinn und Machterhalt in Erscheinung tritt (vgl. Sellin 1978, S. 802 ff.; Mertens 1987; Meier et al. 1989, Sp. 1047 ff.; Fetscher/Münkler 1993, Kap. V–XI). Die Erweiterung des Politikbegriffs setzt sich in der Neuzeit fort und führt zu seiner Verzweigung in zwei verschiedene Verwendungsweisen (für die das Englische auch verschiedene Wörter zur Verfügung stellt): einen normativen Idealbegriff (policy) und einen deskriptiven Realbegriff (politics). Der normative Idealbegriff der Politik, der die angemessene Regelung und Gestaltung des sozialen Lebens meint, erfährt mit der wachsenden Ausdehnung und Verdichtung öffentlicher Herrschaft, welche in den modernen

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Staat mit seinem Gewaltmonopol mündet, wiederum eine markante Gehaltserweiterung, die sowohl die Anwendungsbereiche als auch der Zwecke der Politik umfasst. Deren Anwendungsbereich weitet sich nach und nach auf sämtliche Belange aus, die Gegenstand sozialer Konflikte und staatlicher Regelung fähig sind. Darüber hinaus wachsen ihr auch immer mehr Aufgaben zu: sie muss nicht nur für Frieden, Sicherheit und Ordnung sorgen, sondern auch Handel und Wandel fördern, die Macht und Wohlfahrt des Landes mehren, bürgerliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit gewährleisten und die Menschen nach Möglichkeit gegen Gefahren und Risiken sichern (Sellin 1978, S. 814 ff., 842 ff.; Reinhard 1987; Fetscher/Münkler 1985). Demgegenüber reflektiert der deskriptive Realbegriff der Politik das Vordringen einer relativ neuen, modernen Weltsicht, welche die faktischen Triebkräfte und Gesetze des Lebens zu begreifen sucht. Aus dieser Sicht erscheint die Politik als ein Forum sozialen Handelns, dessen Akteure – seien sie einzelne Personen, soziale Gruppen oder ganze Nationen – um Macht und Einfluss kämpfen, um ihren Interessen im Rahmen der öffentlichen Willensbildung Geltung zu verschaffen (vgl. Sellin 1978, S. 831 ff., 853 ff.; Meier et al. 1989, Sp. 1055 ff.). Aus alledem resultiert der heute geläufige, weite und abstrakte Begriff der Politik, der sich auf den Gesamtbereich von Aktivitäten erstreckt, die in irgendeiner Weise auf die Willensbildung über Angelegenheiten des öffentlichen Lebens, mithin auf die Gestaltung sozialer Ordnung zielen. Der Begriff wird dabei auf zwei Weisen in unterschiedlichen Funktionen benutzt: zum einen in normativer Funktion, in der er zur Bewertung, also zur Legitimation und Kritik politischer Handlungen, Entscheidungen oder Verhältnisse im Lichte von Maßstäben der Effizienz, des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit dient; und zum anderen in deskriptiver Funktion, in der er auf die realen Tatsachen des politischen Geschehens mit Blick auf die faktischen Triebkräfte, Vorgänge und Ergebnisse der kollektiven Willensbildung über die Regelung des sozialen Lebens abstellt. In jeder seiner Funktionen kann der Politikbegriff auf verschiedene Ebenen und Teilbereiche des sozialen Lebens bezogen werden, denen vielfältige Subkategorien entsprechen, wie Familien-, Bildungs-, Sozial-, Wirtschaftspolitik und dergleichen. Ich hebe davon nur zwei elementare Bereiche hervor, die sich sowohl hinsichtlich der für sie maßgeblichen normativen Maßstäbe als auch in der Dynamik ihres realen Geschehens erheblich unterscheiden: nämlich einerseits die Innenpolitik, die auf die Gestaltung der inneren Verhältnisse eines Landes gerichtet ist und sich insbesondere um die Form und Ausübung staatlicher Herrschaft dreht, und andererseits die Außenpolitik, welche die Beziehungen zwischen verschiedenen Staaten betrifft und in Ermangelung einer hinreichend wirksamen internationalen Ordnung eher vom Gesetz blanker Macht regiert wird.

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2. Der Begriff der Ökonomie Der Begriff der Ökonomie wurzelt ebenfalls in der griechischen Antike, in der die Lehre von der Führung und Verwaltung des oikos, des Haushalts einer Familie, als „Ökonomik“ bezeichnet wird. Ursprünglich geht es dabei vor allem um landwirtschaftliche Hauswesen mit ihrem ganzen Personal, einschließlich der Sklaven und des Gesindes. Nach und nach wird der Begriff aber auch auf gewerbliche Betriebe erstreckt, soweit sie als ehrbar gelten, wie solche des gehobenen Handwerks und des lokalen Handels, die nicht „schmutzige“ Tätigkeiten oder Geschäfte betreiben. Die Anleitungen für die richtige Führung und Verwaltung eines Haushalts zielen dabei in erster Linie darauf ab, die ausreichende Bedarfsdeckung und Versorgung der ganzen Familie, nämlich deren Autarkie, zu sichern, was jedenfalls eine planende Haushaltung und Vorratsbildung verlangt. Auch die Mehrung von Besitz und Vermögen wird als ehrenhaft betrachtet, solange sie auf die Bestandssicherung des Hauses beschränkt bleibt und nicht in ein auf bloße Bereicherung gerichtetes Erwerbsstreben, in Chrematistik, ausartet. Kurz: Ökonomie bedeutet im Verständnis der Antike eine kluge, also zweckmäßige und maßvolle Verwaltung der Produktionsmittel einer Familie, um deren Auskommen und Wohlergehen zu gewährleisten (siehe Aristoteles 1981, S. 6 ff., 1253b ff.; Schumpeter 1965, S. 92 ff.; Finley 1977, S. 8 ff.; Koslowski 1979; Rabe/Dierse 1984, Sp. 1149 ff.; Schefold 1989; Bien 1990; Pieper 1990; Burkhardt et al. 1992, S. 513 ff.). Diese Auffassung wird von den Autoren des Mittelalters zwar im Großen und Ganzen übernommen, aber im Laufe der Zeit durch einige weitere Aspekte ergänzt. Wiederum steht zunächst die Hausgemeinschaft, das „ganze Haus“ bäuerlicher Produktionseinheiten im Vordergrund, die nun allerdings auch Grundherrschaften und Klöster umfassen (Brunner 1956; 1965, S. 240 ff.). Im Zuge der fortschreitenden Entwicklung der Städte kommen die dort angesiedelten Gewerbeunternehmen, also Handel und Handwerk, hinzu, wobei, anders als in der Antike, gerade die Kaufmannstätigkeit im Fernhandel und im Bankwesen besondere Reputation gewinnt und bald als Musterbeispiel ökonomischen Handelns betrachtet wird. Und schließlich werden auch die Fürstenhöfe bzw. deren Verwaltung zum Gegenstand ökonomischen Denkens. Mit der wachsenden Ausdehnung des Gegenstandsbereichs der Ökonomik, die weiterhin als Anleitung zur Haushaltsführung verstanden wird, geht zugleich eine Erweiterung ihrer Zielvorstellungen einher. Neben den Zwecken der Subsistenz und Autarkie, hinreichender Bedarfsdeckung und wirtschaftlichen Eigenständigkeit, gewinnt das Streben nach Wohlstand und Reichtum immer mehr an Gewicht. Zum vorrangigen Maßstab ökonomischen Handels wird damit die Mehrung von Gewinn und Vermögen durch die sorgfältige Abwägung der Nutzen und Kos-

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ten wirtschaftlicher Aktivitäten, die freilich die Gebote des Anstands, der Ehrlichkeit und der Gerechtigkeit nicht verletzen dürfen. Und diese neue Zielorientierung bereitet auch den Boden für die entstehende, heute geläufige Doppeldeutigkeit des Ökonomiebegriffs, infolge welcher er sowohl normativ als Richtschnur für rationales wirtschaftliches Verhalten wie auch deskriptiv zur Bezeichnung realer wirtschaftlicher Vorgänge verstanden werden kann (vgl. Schumpeter 1965, S. 115 ff.; Pribram 1992, S. 21 ff.; Burkhardt et al. 1992, S. 526 ff.). Zum endgültigen Durchbruch gelangt die Rede von Ökonomie allerdings erst in der Neuzeit, in der sie neuerlich eine erhebliche Sinnerweiterung erfährt und in die Alltagssprache Eingang findet. Ihre Sinnerweiterung verläuft in zwei Richtungen: einerseits in Richtung einer Ausdehnung ihres Anwendungsbereichs auf die ganze Vielfalt von wirtschaftlichen Aktivitäten und Unternehmen, die ja im Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung, insbesondere im Zuge der Industrialisierung, sprunghaft zunehmen; und andererseits in Richtung einer Erstreckung auf einen neuen Gegenstand, nämlich auf das Wirtschaftsleben eines ganzen Landes, das nun immer mehr als eine Gesamtheit begriffen wird, was unter anderem im Aufkommen des Begriffs der „Nationalökonomie“ bzw. „Volkswirtschaft“ zum Ausdruck kommt. Diese Erstreckung ist nicht zufällig, sondern wird durch mehrere Gründe nahegelegt. Ein Grund liegt darin, dass die absoluten Landesfürsten, deren Domänen schon früher zum Anwendungsfeld der Ökonomie gerechnet wurden, ein wachsendes Interesse haben, für das Gedeihen ihrer Länder, die sie ja als ihr Besitztum betrachten, Sorge zu tragen, um ihren Reichtum und ihre Macht zu steigern. Ein anderer Grund ist, dass mit fortschreitender Entwicklung die arbeitsteilige Vernetzung der ökonomischen Aktivitäten wächst und immer mehr als ein zusammenhängender Gesamtprozess verstanden wird, den man sich durch die damals beliebte Vorstellung eines Kreislaufs veranschaulicht (siehe Schumpeter 1965, S. 197 ff.; Pribram 1992, S. 73 ff.; Burkhardt et al. 1992, S. 557 ff.). Mit dieser doppelten Sinnerweiterung setzt sich auch die Verzweigung des Ökonomiebegriffs in zwei Verwendungsweisen, eine normative und eine deskriptive, immer mehr durch. Normativ verstanden, bleibt die Ökonomie eine Theorie wirtschaftlicher Klugheit, die sich nun aber selber in zwei Gebiete teilt: eine Lehre von der zweckmäßigen Führung und Leistung einzelner Wirtschaftsbetriebe, die Betriebswirtschaftslehre, und eine Lehre von der Gestaltung und Regelung ganzer wirtschaftlicher Ordnungen, die Volkswirtschaftslehre bzw. Politische Ökonomie (vgl. Lichtblau 1984). Als vorrangiges Ziel des ersten Teilgebiets gilt der wirtschaftliche Erfolg der Einzelnen, welche man sich zu diesem Zweck als rationale und eigennützige Akteure vorstellt, die nur da-

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rauf aus sind, ihren eigenen Gewinn zu mehren. Demgegenüber geht es im zweiten Teilgebiet vor allem um die Frage, wie das Wirtschaftsleben einer Gesellschaft geregelt werden soll, um deren Reichtum und die Wohlfahrt ihrer Bürger zu steigern. Obwohl die wissenschaftliche Volkswirtschaftslehre dazu neigt, die Zweckmäßigkeit oder Effizienz der wirtschaftlichen Ordnung in den Vordergrund zu stellen, dreht sich die öffentliche Auseinandersetzung zumindest ebenso um Fragen des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit, die in Anbetracht der mit der Ausbreitung des kapitalistischen Marktsystems verbundenen sozialen Probleme weithin als leitende Maßstäbe der Wirtschaftspolitik Anerkennung finden. Wird der Begriff der Ökonomie dagegen im deskriptiven Sinn gebraucht, so bezeichnet er reale Tatsachen des Wirtschaftslebens, wie bestimmte ökonomische Verhältnisse, ein ganzes Wirtschaftssystem samt seinen institutionellen und faktischen Rahmenbedingungen oder überhaupt die Gesamtheit des wirtschaftlichen Handelns der Menschen, gleichgültig, wie diese Tatsachen bewertet werden. Diese Verwendung setzt ein Kriterium voraus, das es erlaubt, wirtschaftliche Tatsachen von anderen sozialen Tatsachen abzugrenzen. Worin dieses Kriterium besteht, ist Gegenstand einer fortdauernden Debatte (Jochimsen/Knobel 1971), aber der herrschende Sprachgebrauch legt wohl das folgende Kriterium nahe: Ökonomie bezeichnet jenen Bereich sozialen Handelns, der mit der Produktion, Verteilung, Allokation und Nutzung knapper disponibler Mittel der menschlichen Bedarfsdeckung und Bedürfnisbefriedigung zu tun hat. Dieser Bereich umfasst sowohl die individuellen ökonomischen Aktivitäten, bei denen sich die Menschen im Allgemeinen wohl in hohem Maße von ihren eigennützigen Interessen leiten lassen, als auch die institutionellen Regelungen der Wirtschaftsordnung, die – wie etwa die Regelungen des Eigentums- und Vertragsrechts, des Unternehmens- und Arbeitsrechts, des Finanz- und Steuerrechts – die individuellen Aktivitäten mehr oder minder begrenzen und kanalisieren. Die skizzierte Entwicklung mündet in das sehr weite und facettenreiche Verständnis von Ökonomie, das heute üblich ist. Seine wesentlichsten Aspekte seien noch einmal in aller Kürze resümiert. Gegenstand der Ökonomie ist der Bereich des sozialen Handelns, das auf Nutzung, Verteilung, Produktion, Allokation und Verwertung knapper und disponibler Mittel der Bedarfsdeckung und Bedürfnisbefriedigung von Menschen zielt. Auf diesen Gegenstand bezogen kann der Begriff der Ökonomie in zwei Bedeutungen verwendet werden: zum einen in normativer Bedeutung, wonach die Ökonomie Maßstäbe für kluges ökonomisches Handeln oder für eine zweckmäßige und gerechte Regelung des Wirtschaftslebens zu entwickeln sucht; zum anderen in deskriptiver Bedeutung, die auf die faktischen Gegebenheiten des Wirtschaftslebens abstellt. Nur der Vollständigkeit halber sei er-

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wähnt, dass der Ökonomiebegriff im Deutschen häufig auch noch in einem dritten Sinn verwendet wird, der quer zu den bisher genannten steht: nämlich als Bezeichnung für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Fragen der Wirtschaft, kurz: die Wirtschaftswissenschaften. Diese befassen sich mit beiden Zweigen der Ökonomie, also sowohl in normativer Sicht mit Fragen des klugen wirtschaftlichen Handelns und einer guten Wirtschaftsordnung als auch in deskriptiver Absicht mit der Beobachtung der Realität des Wirtschaftslebens. Um diese beiden Zweige des ökonomischen Denkens auseinanderzuhalten, ist es üblich, zwischen normativer und positiver Ökonomie (oder Ökonomik) zu unterscheiden. Vielleicht ist es hilfreich, die wichtigsten Ergebnisse der bisherigen Ausführungen stichwortartig in Form einer tabellarischen Übersicht zu resümieren (S. 21). II. Politik und Ökonomie als soziale Systeme Die Begriffe von Politik und Ökonomie zielen schon ihrer ursprünglichen Bedeutung nach auf die Demarkation zweier Felder menschlichen Handelns ab, die jeweils grundlegende Probleme der Bestandssicherung eines jeden sozialen Gemeinwesens betreffen und spezielle Methoden der Problembewältigung erfordern. Wenn sich diese Handlungsfelder mit fortschreitender sozialer Arbeitsteilung zunehmend in besondere gesellschaftliche Teilsysteme verzweigen, liegt es nahe, sie ebenfalls mit jenen Begriffen zu bezeichnen, wie wir das ja zu tun pflegen, wenn wir ganz allgemein von der Politik oder der Ökonomie reden. So verwendet, meinen die Begriffe von Politik und Ökonomie spezielle Teilsysteme ganzer sozialer Ordnungen samt den ihnen eigentümlichen Leitprinzipien, Regeln und Handlungsformen (Dahl 1973, S. 15 ff.; Leipold 1988, S. 1 ff.). Ich möchte diese Systeme nun in den Blick nehmen, um ihre Besonderheiten und Eigengesetzlichkeiten zu beleuchten. Dazu ist es hilfreich, zuerst ihre historische Entfaltung im Prozess des sozialen Wandels zu betrachten. Dieser Prozess wird von der Sozialtheorie als ein Vorgang der sozialen Differenzierung begriffen, in dessen Verlauf sich Politik und Ökonomie zunehmend in differente soziale Systeme verzweigen, indem sie durch sukzessive Verfeinerung ihrer Praxis ihre Leistungsfähigkeit steigern und sich damit zugleich von anderen Formen sozialen Handelns abgrenzen.

Politik und Ökonomie: Begriffe und Systeme

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Die Begriffe von Politik und Ökonomie POLITIK

Gegenstand

Ziele

Antike

Polis, res publica, öffentliche Gutes Leben, bonum commune: Angelegenheiten: soziale Ord- allgemeines Glück, Gerechtigkeit nung, Krieg und Frieden [Gegenteil: Eigennutz, Tyrannis]

Mittelalter

Soziales Zusammenleben: Herrschaft, Regierung, öffentliche Ordnung

Wohlergehen, ewige Glückseligkeit: gerechte Herrschaft, gute Regierung [Gegenteil: ungerechte Herrschaft]

Neuzeit

Innere Ordnung + internationale Beziehungen: Staat, Regierung, Verwaltung, Recht, Wirtschaft

normativ: Frieden, Sicherheit, Wohlfahrt, Gerechtigkeit // faktisch: Machtkampf, Dominanz, Staatsräson

Allgemein

Öffentliche Angelegenheiten: verbindliche Regelung allgemeiner Belange des sozialen Lebens, Herrschaft, Kollektiventscheidungen

normativ (policy): soziale Effizienz, Gemeinwohl, Gerechtigkeit

ÖKONOMIE

Gegenstand

Ziele

Antike

Haus (oikos): Landwirtschaft, Bedarfsdeckung, Autarkie: plaev. lokaler Handel, Handwerk nende Haushaltung, Vorratshal[vs. schmutzige Geschäfte] tung, Mehrung des Vermögens [vs. Chrematistik]

Mittelalter

Hausgemeinschaft: Landwirt- Subsistenz, Wohlergehen, Mehschaft, Handwerk, Handel, rung: Bedarfsdeckung, Vorsorge, Fürstenhöfe, ehrbare Berufe Vermögen unter Beachtung der Gerechtigkeit

Neuzeit

Erwerbsleben: Landwirtschaft, Handwerk, Handel, Produktion, Staatswirtschaft, Volkswirtschaft

normativ: indiv. Wohlfahrt, gesellsch. Reichtum // faktisch: Streben nach Gewinn, Wohlstand und Reichtum

Allgemein

Allokation, Produktion und Konsum knapper Ressourcen d. menschl. Existenzsicherung und Wohlfahrt, nationale Wirtschaftsordnung und internationaler Wirtschaftsverkehr

faktisch: individuelle Vorteilsverfolgung und Präferenzbefriedigung

faktisch (politics): Machtkampf, Machtausübung, Machterhalt, Einfluss

normativ: soziale Effizienz, Gemeinwohl, (soziale und globale) Gerechtigkeit

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1. Die Differenzierung von Politik und Ökonomie Der Prozess der sozialen Arbeitsteilung und Differenzierung ist seit je ein zentrales Thema der Sozialtheorie und der Theorie des sozialen Wandels. Diese Theorietradition beginnt im Wesentlichen mit der Sozialphilosophie der Aufklärung, deren Reflexionen über Staat und Markt bereits wesentliche Einsichten enthalten, die dann von den Klassikern der Soziologie zu elaborierten Konzeptionen der sozialen Entwicklung ausgebaut werden. Davon ausgehend verzweigt sich die Theorie des sozialen Wandels in eine Vielzahl von Ansätzen, welche die klassischen Konzeptionen zwar im Detail systematisch verfeinern und empirisch anreichern, aber nicht mehr viel grundlegend Neues bringen (vgl. Schimank 2000). Ich möchte die wichtigsten Leistungen dieser Theorietradition anhand ihrer bedeutendsten Konzeptionen in Kürze resümieren. Ich beginne mit zwei einfachen, einander entgegengesetzten Grundauffassungen der sozialen Entwicklung, die uns in den Schriften zweier großer Aufklärungsdenker begegnen und das Feld möglicher Erklärungsstrategien abstecken. Ich nenne sie „Nutzenthese“ einerseits und „Machtthese“ andererseits (Koller 2004). Die Nutzenthese erklärt die gesellschaftliche Entwicklung, in deren Verlauf sich Politik und Ökonomie in die Sphären von Staat und Markt verzweigen, im Wesentlichen damit, dass diese Entwicklung allen oder zumindest den meisten der beteiligten Personen Nutzen bringt. Diese Auffassung, die der ganzen Tradition der rational-individualistischen Sozialtheorie zugrunde liegt, findet prägnanten Ausdruck im 3. Buch von David Humes Traktat über die menschliche Natur (1973, S. 227 ff.). Hume argumentiert dort, die staatliche Gewalt bilde sich deshalb heraus, weil sie benötigt werde, um die Bedingungen für ausgedehnte Tauschbeziehungen zu schaffen, die es den Menschen ermöglichen, aus zunehmender Arbeitsteilung Nutzen zu ziehen. Da diese Bedingungen, zu denen er insbesondere stabile Eigentumsrechte und die Einhaltung von Verträgen rechnet, nämlich weder von alleine zustande kämen, noch ohne äußeren Zwang Bestand hätten, sei eine staatliche Obrigkeit vonnöten, um sie zu gewährleisten. Und diese Obrigkeit habe darüber hinaus auch noch die weitere Aufgabe, für die Bereitstellung öffentlicher Güter zu sorgen: „Die Regierung erstreckt ihren wohltätigen Einfluss aber noch weiter; sie schützt die Menschen nicht nur in den Vereinbarungen, die sie zu ihrem gegenseitigen Besten eingehen, sondern sie zwingt sie häufig, solche Vereinbarungen zu treffen und nötigt sie, ihren eigenen Vorteil in der Mitarbeit an allgemeinen Zwecken oder Zielen zu suchen. (. . .) So werden Brücken gebaut, Häfen eröffnet, Wälle errichtet, Kanäle gezogen, Flotten ausgerüstet und Armeen geschult; überall durch die Fürsorge der Regierung, die zwar aus Menschen mit allen menschlichen Schwächen zusammengesetzt ist, aber immerhin vermöge einer der besten und feinsten menschlichen Erfindungen, die man ausdenken kann, ein Ganzes dar-

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stellt, das bis zu einem gewissen Grade von allen diesen Schwächen frei ist.“ (Hume 1973, S. 288)

Die Nutzenthese besteht also, allgemeiner formuliert, in der Ansicht, die soziale Entwicklung, mit der sich eine staatliche Ordnung Hand in Hand mit einer Marktwirtschaft formiert, werde durch das übereinstimmende Interesse der Menschen an den damit verbundenen Vorteilen vorangetrieben. Die Systeme von Politik und Ökonomie stehen danach in einem Verhältnis wechselseitiger Ergänzung, das auf einer Interessenharmonie aller Beteiligten beruht. Diese Interpretation des sozialen Wandels kann jedoch aus mehreren Gründen nicht befriedigen. Zum einen ist sie insofern unvollständig, als sie offen lässt, wie es den beteiligten Akteuren gelingt, ihr Handeln so zu koordinieren, dass eine politische und ökonomische Ordnung zustande kommt, die in ihrem allgemeinen Interesse liegt. Und zum anderen ist das Bild, das sie von der gesellschaftlichen Entwicklung zeichnet, sicher viel zu rosig, um wahr zu sein. Dagegen zeichnet die Machtthese ein recht düsteres Bild der gesellschaftlichen Entwicklung, da sie diese als einen Vorgang sozialer Machtkämpfe beschreibt, der zur Unterdrückung der Schwachen durch die Starken führt. Ein schönes Beispiel für diese Auffassung bietet die Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen von Jean-Jacques Rousseau (1978, S. 77 ff.). Wie Hume hält auch Rousseau die Arbeitsteilung für die maßgebliche Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung, aber nicht wegen der Vorteile, die sie den Menschen bringt, sondern wegen der sozialen Konflikte, die sie schafft. Schon die Einführung von Ackerbau und Metallverarbeitung ist nach seiner Auffassung verhängnisvoll, weil das mit ihr entstehende Eigentum wachsende soziale Unterschiede erzeugt, die Eigennutz und Machtstreben schüren. Die daraus resultierende Unsicherheit habe die Reichen auf die Idee gebracht, ihren Besitz gegen den Neid der Armen durch die Errichtung einer politischen Herrschaftsgewalt zu schützen. Und es sei ihnen sogar gelungen, die Armen dafür zu gewinnen, indem sie ihnen eine gerechte und die soziale Eintracht sichernde Regierung versprachen. Doch die Realität, so Rousseau, sehe anders aus: „Alle liefen auf ihre Ketten zu in dem Glauben, sie würden ihre Freiheit sichern, denn sie hatten wohl Verstand genug, um die Vorteile einer Staatsgründung zu fühlen, aber nicht Erfahrung genug, um deren Gefahren vorherzusehen. (. . .) So vollzog sich die Entstehung der Gesellschaft – oder muss sie gewesen sein – sowie der Gesetze, die dem Schwachen neue Fesseln und dem Reichen neue Macht gaben. (. . .) Es ist leicht zu sehen, wie die Gründung einer einzigen Gesellschaft die aller anderen unerlässlich machte. Um vereinten Kräften die Stirn bieten zu können, musste man sich seinerseits vereinen. Die Gesellschaftsverbände vervielfältigten sich oder dehnten sich so schnell aus, dass sie bald die gesamte Oberfläche der Erde bedeckten.“ (Rousseau 1978, S. 229/31)

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Die Machtthese führt den sozialen Wandel, mit dem sich Politik und Ökonomie differenzieren, also letztlich darauf zurück, dass die fortschreitende Arbeitsteilung wachsende soziale Ungleichheiten hervorbringt, die es den Mächtigen ermöglichen, ihre Vorrechte auf Dauer zu sichern, indem sie mit Duldung der Schwachen eine politische Herrschaftsorganisation errichten, die sich zwar überparteilich gibt, tatsächlich aber überwiegend ihren Interessen dient. Dieser Prozess wird nicht durch einen Gleichklang menschlicher Interessen, sondern durch einen andauernden Machtkampf vorangetrieben. Natürlich ist auch diese Erklärung viel zu grob, um zu überzeugen. Abgesehen davon, dass sie über Dynamik der ökonomischen Entwicklung kaum etwas aussagt, ist auch die These, der Staat sei nichts weiter als ein Instrument der Mächtigen zur Petrifizierung ihrer Privilegien und zur Unterdrückung der Armen einseitig und verkürzt. Trotz der Unzulänglichkeiten beider Thesen enthält doch jede von ihnen einen wahren Kern, der wichtige Teilaspekte der sozialen Entwicklung erhellt: Zeigt die Nutzenthese die Vorteile auf, die eine Gesellschaft durch Arbeitsteilung und Spezialisierung erzielen kann, stellt die Machtthese die sozialen Konflikte und Kämpfe in den Vordergrund, die mit gesellschaftlichen Veränderungen verbunden sind. Wenn man diese Thesen so deutet, dass sie einander nicht ausschließen, sondern vielmehr ergänzen, liegt es nahe, sie auf irgendeine Weise zu verknüpfen, um eine angemessenere Vorstellung der gesellschaftlichen Entwicklung zu gewinnen. Und eben das tun die bedeutendsten Klassiker der Sozialtheorie, darunter Karl Marx und Friedrich Engels einerseits und Max Weber andererseits. Marx und Engels führen die Entstehung politischer Herrschaft und des Staates, wie Rousseau, auf die zunehmenden sozialen Ungleichheiten zurück, die aus der ökonomischen Entwicklung resultieren. Obwohl sie diesen Vorgang nicht als planvolles Geschehen, sondern als einen sich „hinter dem Rücken der Menschen“ vollziehenden Prozess deuten, verstehen sie die politische Herrschaft und den Staat ebenfalls als ein Instrument der ökonomisch herrschenden Klasse zur Unterdrückung der Benachteiligten, wobei sie jedoch die Ökonomie für die dominante Kraft halten, welche die politische und rechtliche Ordnung diktiert. Das ist die Basis-Überbau-These, die Kernthese des historischen Materialismus (vgl. Marx 1974a, S. 15 f.). Davon ausgehend erklären sie die soziale Entwicklung durch drei große Neuerungen der wirtschaftlichen Produktion, mit denen sich die ganzen gesellschaftlichen Verhältnisse samt ihrem rechtlichen und politischen Überbau jeweils grundlegend verändern. Diese Neuerungen – zuerst der Übergang zur Landwirtschaft, dann die Absonderung des Handwerks und endlich die Trennung von Stadt und Land – steigern die wirtschaftliche Produktivität, bringen aber auch wachsende Ungleichheiten mit sich. Diese begünstigen

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die allmähliche Herausbildung einer politischen Herrschaftsorganisation, die im Interesse der jeweils herrschenden Besitzklasse die bestehende gesellschaftliche Ordnung so lange aufrecht erhält, bis die weitere Entwicklung der Produktivkräfte eine neue Machtkonstellation entstehen lässt, die eine neue Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse zur Folge hat. So bringt die dritte große Neuerung, die Trennung von Stadt und Land, die zur kapitalistischen Gesellschaft führt, eine bürgerliche Besitzklasse von Kaufleuten und Unternehmern hervor, die durch ihren wachsenden, auf der Ausbeutung fremder Arbeit beruhenden Reichtum eine zentralisierte staatliche Ordnung schaffen, welche zwar formell allen Bürger das gleiche Recht auf Eigentum und freie Verfügung über ihre Arbeitskraft einräumt, aber faktisch gerade damit die kapitalistische Ökonomie im Interesse der besitzenden Klassen zementiert (vgl. Marx/Engels 1968, S. 26 ff.; Marx 1974b, Kap. 8, 12, 13, 23, 24, S. 245 ff., 356 ff., 391 ff., 640 ff., 741 ff.; Engels 1968, Kap. IX, S. 282 ff.). Der soziale Wandel resultiert damit nach Marx und Engels aus einem dialektischen Zusammenspiel von wirtschaftlicher Wertschöpfung und gesellschaftlichen Machtkämpfen. Die fortdauernden Machtkämpfe der sozialen Klassen haben die schrittweise Profilierung politischer Herrschaft zur Folge, die im Kapitalismus die Gestalt des bürgerlichen Staates annimmt, der nur die partikularen Interessen der besitzenden Klasse schützt. Sieht man davon ab, dass dieser harsche Befund inzwischen viel an Plausibilität verloren hat, bedarf die Marxsche Theorie auch aus anderen Gründen mancher Relativierungen. So ist die Basis-Überbau-These schon deshalb zum Scheitern verurteilt, weil die Unterscheidung zwischen materiellen Faktoren der ökonomischen Basis und ideellen Erscheinungen des rechtlichen und politischen Überbaus, die ihr zugrunde liegt, inkohärent ist (da die Produktionsverhältnisse, welche die Basis bilden, ja stets schon gewisse Rechtsverhältnisse inkludieren, die von Marx als bloße Überbau-Phänomene betrachtet werden). Und verfehlt ist auch das Unterfangen, ein allgemeines Gesetz der geschichtlichen Entwicklung zu formulieren, weil es der Vielfalt historischer Entwicklungen und der Komplexität kausaler Verläufe nicht Rechnung trägt. In kritischer Distanz zu Marx wählt Max Weber einen anderen Weg, um den Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung zu modellieren. Seine Konzeption bietet kein allgemeines Erklärungsschema des historischen Wandels, sondern eine differenzierte Analyse vielfältiger sozialer Entwicklungen, die er mit diversen typologischen Unterscheidungen zu ordnen sucht. Besonders interessieren ihn dabei die unterschiedlichen Verläufe der Gesellschaftsentwicklung in verschiedenen Kulturen, durch deren Vergleich er die Entstehungsgründe der modernen westlichen Gesellschaft aufzeigen will. Das führt ihn zur These, die Besonderheit dieser Gesellschaft bestehe in der ihr

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innewohnenden Tendenz zur Rationalisierung aller Lebensbereiche. Das ist Webers These vom „okzidentalen Rationalismus“, die auch den Kern seiner Konzeption der sozialen Differenzierung bildet. Deren zentralen Elemente sind, glaube ich, die folgenden: Webers Differenzierung zweier Strukturtypen von Staaten, seine Analyse der europäischen Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit und seine Konzeption der gesellschaftlichen Rationalisierung (siehe Weber 1972, 2. Teil, insbes. Kap. IX; Schluchter 1979, S. 39 ff.; Breuer 1991, S. 68 ff., 156 ff.). Weber unterscheidet zwei Typen von Staaten: Patrimonialstaaten und bürokratische Staaten. Unter einem Patrimonialstaat versteht er eine staatliche Herrschaftsorganisation, die gekennzeichnet ist durch die Unterordnung mehrerer sozialer Einheiten unter ein gemeinsames Oberhaupt, dessen Herrschaft sich auf einen Stab von ihm persönlich verpflichteten Vasallen oder Gefolgsleuten stützt. Ein solcher Staat wird erhalten durch Arbeitsleistungen, Abgaben und militärische Dienste, und er wird legitimiert durch Tradition und das Charisma der Herrschenden. Ihm entspricht eine Gesellschaft, die vertikal in verschiedene soziale Stände mit ungleichen Rechten und horizontal in eigenständige Einheiten mit bäuerlicher Dorfwirtschaft gegliedert ist, wie z. B. die Feudalstaaten des Mittelalters. Im Unterschied dazu beruht der bürokratische Staat, die typische Staatsform moderner okzidentaler Gesellschaften, auf legaler Herrschaft vermittels eines bürokratischen, d.h. eines hierarchisch organisierten Verwaltungsstabs besoldeter Beamten mit fest umrissenen Kompetenzen. Dieser Staat, der durch allgemeine Steuern finanziert und durch Recht legitimiert wird, setzt eine entwickelte Gesellschaft mit einer geldwirtschaftlichen Ökonomie und einer auf der rechtlichen Gleichstellung der Staatsbürger basierenden politischen Ordnung voraus (Weber 1972, S. 580 ff.). Weber argumentiert nun, der moderne bürokratische Staat sei aus dem älteren, patrimonialen Typ durch zwei Vorgänge entstanden: das ist zum einen die Abtrennung des Verwaltungsapparats vom persönlichen Hausgut des Herrschers und zum anderen die Rationalisierung des Verwaltungsapparats durch seine Umstellung auf regelgeleite Tätigkeit. Den Übergang vom Patrimonialstaat des Mittelalters zum bürokratischen Staat der Neuzeit führt er dabei auf das Zusammenwirken mehrerer Besonderheiten der europäischen Gesellschaften des Mittelalters zurück, wozu die folgenden gehören: der Lehensfeudalismus, die Entwicklung der Städte, der sich daraus formierende Ständestaat und schließlich die Monopolisierung staatlicher Gewalt durch die Fürsten (siehe Weber 1972, S. 625 ff.; vgl. Breuer 1991, S. 156 ff.). Der Lehensfeudalismus begünstige zuerst die Zersplitterung der großen, durch kriegerische Eroberung entstandenen Herrschaftsverbände in eine Vielzahl kleinerer Einheiten, aus denen sich einzelne Fürstentümer bilden,

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deren Herrscher höfische Zentren mit besoldeten Beamten bilden. Dies führe zu einer Rationalisierung der Herrschaft und zu einer Formalisierung des Rechts sowohl im Lehenswesen als auch im Bereich der fürstlichen Herrschaft: Werden die vertraglichen Lehensverhältnisse zunehmend konstitutionalisiert und in ein System der „ständischen Gewaltenteilung“ transformiert, so werde die fürstliche Herrschaft durch generelles Recht und bürokratische Verwaltung immer mehr verrechtlicht und formalisiert (vgl. Weber 1972, S. 137 ff., 482 ff., 631 ff.). Aber die feudale Ökonomie bleibe weiterhin traditional, d.h. bäuerliche Subsistenzwirtschaft. Das ändere sich jedoch mit der Entwicklung der Städte, weil durch sie nicht nur erste Ansätze „demokratischer Legitimation“ entstünden, sondern auch eine Rationalisierung der Ökonomie im Sinne rationaler Nutzenkalkulation in Gang gesetzt werde (Weber 1972, S. 727 ff.). Die Verbindung von Feudalismus und Städtewesen führe zu einem „Ständestaat“, der zwar die ständische Ordnung aufrechterhält, aber die Städte durch deren Aufnahme in die Ständeversammlungen integriert. Obwohl die daraus entstehende ständische Gewaltenteilung die Zentralisierung der Herrschaft der Fürsten verzögere, wachse diesen wegen ihres wachsenden Geldeinkommens immer mehr militärische Macht zu, die es ihnen schließlich ermögliche, die ständestaatliche Ordnung zu brechen und die Monopolisierung herrschaftlicher Gewalt durch den modernen Staat zu vollenden (vgl. Weber 1972, S. 636 ff., 821 ff.). So erklärt Weber die Entwicklung der modernen westlichen Gesellschaft aus der Dynamik der sich wechselseitig stützenden, stets auch mit sozialen Machtverschiebungen verbundenen Prozesse der Rationalisierung gesellschaftlicher Handlungssysteme, die sich damit durch eine ihnen eigentümliche Rationalität profilieren. Als die wesentlichen Kennzeichen rationaler Politik betrachtet er dabei vor allem bürokratische Herrschaft, die auf rechtlicher Satzung beruht, formales Recht, dessen generelle Regeln auf alle Bürger gleichermaßen Anwendung finden, und bürgerliche Gleichheit. Demgegenüber sieht er die Rationalität der Ökonomie in geldwirtschaftlicher Marktkonkurrenz, langfristiger Gewinnorientierung und rationaler Kalkulation. Der Sinn dieser Rationalisierung von Politik und Ökonomie liegt für ihn in der Steigerung ihrer Zweckrationalität, also ihrer Leistungsfähigkeit oder Effizienz. Auch wenn Webers Analyse der sozialen Differenzierung im Großen und Ganzen plausibel scheint, bleibt in ihr ein wesentliches Problem sozialer Ordnungen unterbelichtet: das Problem der sozialen Integration, nämlich die Frage, wie es sozialen Ordnungen trotz ihrer zunehmenden Differenzierung in spezialisierte Handlungssysteme gelingt, den für ihren Bestand erforderlichen sozialen Zusammenhalt zu sichern. Das Problem der sozialen Integration ist ein zentrales Thema der funktionalistischen Sozialtheorie, deren Exponenten allerdings gewöhnlich weniger

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an einer historisch korrekten Rekonstruktion sozialer Entwicklungsprozesse als vielmehr an deren ‚Logik‘ interessiert sind. Als ein Vorläufer dieser Richtung kann Emile Durkheim gelten. Er unterscheidet in seinem Werk Über soziale Arbeitsteilung (1988) zwei Typen von Gesellschaft, denen unterschiedliche Formen der den sozialen Zusammenhalt stiftenden „Solidarität“ entsprechen: „segmentäre“ Gesellschaften, die durch „mechanische Solidarität“ zusammengehalten werden, und „höhere“, d.h. differenzierte Gesellschaften, die auf „organischer Solidarität“ beruhen. Die segmentären Gesellschaften, zu denen er insbesondere die einfach strukturierten Sozialverbände der menschlichen Frühgeschichte, bis zu einem gewissen Grade aber auch noch die wenig differenzierten traditionellen Gesellschaften zählt, gliedern sich in eine Mehrzahl gleichartiger, relativ eigenständiger sozialer Segmente (wie Verwandtschaftgruppen, Dorfgemeinschaften), die sich im Wesentlichen durch Vergeltung und Reziprozität zu größeren Einheiten verbinden (Durkheim 1988, S. 118 ff.). Im Unterschied dazu würden differenzierte Gesellschaften, zu denen die modernen, industriellen Gesellschaften mit ihrer weit fortgeschrittenen Arbeitsteilung gehören, gerade durch die Verschiedenheit ihrer diversen sozialen Teilbereiche zusammengehalten, weil diese – ähnlich wie die Glieder eines komplexen Organismus – nur in Verbindung miteinander ihre Ziele erreichen könnten und deshalb voneinander abhängig seien (Durkheim 1988, S. 162 ff.). Diese einfache, aber erhellende Unterscheidung macht jedenfalls deutlich, dass es erforderlich ist, die Analyse sozialer Differenzierung in eine umfassendere Gesellschaftstheorie einzubetten, die einerseits die Funktionen aufzeigt, welche die verschiedenen Teilsysteme im Rahmen ganzer sozialer Ordnung erfüllen müssen, um zu deren Bestehen und Gedeihen beizutragen, andererseits aber auch die Wechselbeziehungen und Spannungen beleuchtet, die zwischen den Teilsystemen bestehen. Mit diesem Unterfangen beschäftigen sich die diversen soziologischen Systemtheorien (siehe Narr 1976), von denen ich nur eine kurz streifen möchte, weil sie mir zumindest einige weiterführende Einsichten zu bieten scheint: das ist die strukturfunktionalistische Konzeption von Talcott Parsons (1972; 1975, S. 15 ff.; 1976). Parsons argumentiert, jedes soziale System, d.h. jede dauerhafte Konstellation sozialen Handelns, müsse vier Funktionen erfüllen: 1. die Werte, um derentwillen die Akteure in Beziehung treten, bewahren (Strukturerhaltung), 2. das Handeln der Akteure durch geeignete Normen in entsprechender Weise regeln (Integration), 3. die verschiedenen, oft entgegengesetzten Interessen der Akteure im Sinne ihrer gemeinsamen Ziele koordinieren (Zielerreichung), und 4. eine Allokation knapper Mittel bewerkstelligen, die den Akteuren eine effiziente Verfolgung ihrer Ziele und Interessen ermöglicht (Anpassung). Diese Funktionserfordernisse gelten für alle sozialen Systeme,

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für kleine Gemeinschaften ebenso wie für große Gesellschaften, die sich jedoch von jenen durch den Grad ihrer Komplexität und Autarkie unterscheiden (Parsons 1976, S. 121 ff.). Eine Gesellschaft ist Parsons zufolge ein komplexes, aus diversen Teilsystemen bestehendes soziales System, das im Verhältnis zu seiner Umwelt imstande ist, seine Werte, Normen und Ziele vermöge seiner internen Organisation und seiner Kontrolle über die Umwelt selbständig zu entfalten. Entsprechend den genannten Funktionen brauche daher jede Gesellschaft die folgenden Funktionssysteme: (1) eine Kultur, die der Bewahrung der leitenden Werte dient, (2) eine normative Ordnung, die das soziale Leben der Mitglieder regelt, (3) eine politische Organisation, die das Handeln der Mitglieder zur Erreichung kollektiv wichtiger Ziele organisiert, und (4) eine ökonomische Sphäre, das auf die Beschaffung und Nutzung knapper Ressourcen zur Befriedigung der Bedürfnisse der Mitglieder zielt. Die Funktionssysteme bilden ein komplexes, sich ständig veränderndes Beziehungsgeflecht, das sich immer wieder an neue Gegebenheiten durch einen Prozess des dynamischen Gleichgewichts anpassen müsse. Dieser Prozess sei der Motor des sozialen Wandels, der freilich in viele Richtungen führen könne. Der erfolgreichste Entwicklungspfad bestehe aber in einer strukturellen Differenzierung der Teilbereiche, durch die sie ihre Leistungs- und Anpassungsfähigkeit steigern (Parsons 1972, S. 20 ff.). Obwohl Parsons’ Theorie wegen seines Hangs zu abstrakten Schematisierungen vielfach auf Ablehnung stößt, leistet sie meines Erachtens einen nicht unerheblichen Beitrag zum Verständnis der Entwicklung der modernen Gesellschaft und der damit einhergehenden Differenzierung von Politik und Ökonomie. Erstens bekräftigt sie Webers These, der Differenzierungsprozess führe zu einer Steigerung der Leistungsfähigkeit der ihn durchlaufenden Gesellschaften, durch zusätzliche Überlegungen, vor allem durch die Berücksichtigung des zwischengesellschaftlichen Wettbewerbs, in dem sich eine Gesellschaft ja behaupten muss, um überdauern zu können. Und zweitens verhilft Parsons gegen den Atomismus individualistischer Theorien einer differenzierteren Auffassung der Gesellschaft zum Recht, nach der jede Gesellschaft gewisse Gemeinschaftszwecke inkludiert, die ihre Ordnung auf das Gemeinwohl ihrer Mitglieder verpflichten. Solche Meriten kann ich späteren Ansätzen der Systemtheorie, soweit sie mir bekannt sind, nicht attestieren, schon gar jenen der neueren deutschen Soziologie, die sich eher mit selbstfabrizierten begrifflichen Paradoxien als mit der sozialen Realität befassen.

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2. Die Systeme von Politik und Ökonomie Die strukturelle Gliederung moderner Gesellschaften in verschiedene, mehr oder minder separierte, aber interdependente Teilsysteme ist – ungeachtet der andauernden Kontroverse, wie sie theoretisch zu fassen ist – so offenkundig, dass sie geradezu als selbstverständlich gilt, wie schon der alltägliche Sprachgebrauch zeigt. Wenn z. B. von der Politik oder von der Wirtschaft die Rede ist, dann wird darunter gewöhnlich die Gesamtheit der in Betracht stehenden sozialen Praxis samt den für sie jeweils typischen Zwecken, Institutionen, Regeln und Praktiken verstanden. Ich will abschließend die wichtigsten Eigenschaften der Systeme von Politik und Ökonomie benennen, indem ich beide Systeme hinsichtlich ihrer relevanten Eigenschaften vergleiche. Ich werde das allerdings nur in skizzenhafter Weise in groben Strichen tun, weil Vieles, was es dazu zu sagen gibt, schon früher erwähnt wurde oder ziemlich banal ist. Die Übersicht auf S. 36 fasst die wesentlichen Ergebnisse dieses Systemvergleichs in knapper Form zusammen. Soziale Funktion. Die Systeme von Politik und Ökonomie haben innerhalb einer gesamten sozialen Ordnung jeweils eine tragende Funktion, auf deren Bewältigung sie letztlich ausgerichtet sein müssen: die Politik auf die verbindliche Entscheidung über allgemeine Belange, die im Interesse einer friedlichen und gedeihlichen sozialen Koexistenz der Regelung bedürfen (vgl. Easton 1953), die Ökonomie auf eine zweckmäßige Allokation und Nutzung knapper Ressourcen, welche die Menschen zur Deckung ihrer Bedürfnisse und zur Befriedigung ihrer Wünsche brauchen oder begehren. Schon aus dieser groben Charakterisierung geht hervor, dass sich die beiden Systeme auch hinsichtlich der sie leitenden Maßstäbe der Rechtfertigung ihrer Praktiken unterscheiden: steht in der Politik das Gemeinwohl im Vordergrund, also das übereinstimmende langfristige Interesse aller Beteiligten, geht es in der Ökonomie in erster Linie um soziale Effizienz im Sinne der bestmöglichen oder einer zumindest halbwegs entsprechenden Befriedigung der aktuellen Präferenzen der einzelnen Menschen. Das erklärt, warum es als unangemessen gilt, politische Entscheidungen allein mit Berufung darauf zu legitimieren, dass sie im partikularen Interesse einzelner Personen oder Gruppen liegen, was bei ökonomischem Handeln ganz üblich ist. Daraus folgt freilich nicht, dass der Maßstab des Gemeinwohls nur für die Politik Geltung hätte und jener der Effizienz nur für die Ökonomie. Doch während das Gemeinwohl im Bereich der Politik überhaupt als die primäre Richtschnur des Handelns gilt, wird es im Bereich der Ökonomie in der Regel nur auf der Ebene der politischen Regulierung ökonomischen Handelns eingefordert. Überdies sind beide Bereiche den wesentlichen Erfordernissen von Moral und Gerechtigkeit unterworfen (Koller 2002; 2003).

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Handlungsformen. Die verschiedenen Funktionen von Politik und Ökonomie bedingen auch entsprechende Unterschiede der für sie typischen Formen des sozialen Handelns. Politisches Handeln dreht sich in irgendeiner Weise, sei es direkt oder indirekt, stets um Macht, um die Fähigkeit, auf die Gestaltung der sozialen Ordnung Einfluss zu nehmen (Dahl 1973, S. 31 ff.: Lindblom 1983, S. 43 ff.). Dabei sind zwei Arten dieses Handelns zu unterscheiden: einerseits die Ausübung politischer Macht durch hierzu autorisierte Personen oder Organisationen (Herrschaft, Autorität), andererseits die gesellschaftliche Willensbildung über die Formen und Inhalte politischen Entscheidens (Wettstreit, Diskurs). Das Handeln der ersten Art, dessen Bandbreite vom Gebrauch gewaltsamen Zwangs bis zu sanften Mitteln der Beeinflussung reicht, setzt jedenfalls ein hierarchisches Machtgefälle voraus, das die politischen Autoritäten befähigt, ihren Entscheidungen Geltung zu verschaffen, wozu sie sich überwiegend negativer Sanktionen bedienen, weil diese in der Regel weniger kosten als positive Anreize (Lindblom 1983, S. 47 f.; Haferkamp 1983, S. 79 ff.). Im Bereich des politischen Wettstreits scheint ein solches Gefälle weder notwendig noch erwünscht, auch wenn faktisch auch hier meist große Ungleichheiten bestehen. Aus normativer Sicht erfordert legitime Herrschaft sogar eine ausgewogene Meinungsbildung unter Bedingungen weitgehender Machtgleichheit. Das ist zwar ein kaum erreichbares Ideal, erklärt aber, warum politische Systeme meist gewisse Verfahren der kollektiven Willensbildung enthalten, die den Betroffenen Gelegenheit zur Mitsprache oder Teilhabe bieten. Obwohl Macht auch in der Ökonomie eine erhebliche Rolle spielt, ist sie kein konstitutives Element wirtschaftlichen Handelns. Dieses zielt in erster Linie auf Wertschöpfung, auf die Gewinnung und Nutzung knapper Mittel des menschlichen Überlebens und Wohlergehens durch Aktivitäten, die gewöhnlich als Arbeit, Produktion, Tausch, Konsum angesprochen werden (Arendt 1981). In dem Maße, in dem solche Aktivitäten Nutzen stiften, die ihre Bürden und Kosten überwiegen, inkludieren sie positive Leistungsanreize, die sie lohnend machen. Obwohl ökonomisches Handeln nicht per se hierarchisch organisierte Produktionseinheiten voraussetzt, sind solche Einheiten doch in jedem halbwegs entwickelten ökonomischen System zu finden. Im modernen Kapitalismus haben sie die Gestalt von Unternehmen, deren Beschäftigte in eine von der Unternehmensleitung vorgegebene, vertikal gestufte Organisation arbeitsteiliger Kooperation eingebunden sind (Lindblom 1983, S. 72 ff., 90). Koordinationsmechanismen. Den in Politik und Ökonomie jeweils dominierenden Handlungsformen entsprechen verschiedene Praktiken der Verhaltenskoordination, denen innerhalb jener Systeme freilich wiederum nur eine vorrangige, nicht aber ausschließliche Bedeutung zukommt. Im System der Politik wird, zumindest was seinen Kernbereich, die Regelung des sozialen Lebens, betrifft, das Verhalten der Menschen vor allem durch zentrale

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Steuerungsmechanismen koordiniert, nämlich durch zwangsbewehrte soziale Normen oder punktuelle Weisungen, denen eine hierarchische Herrschaftsorganisation Geltung verschafft. Das dominante Medium der politischen Regulierung ist demnach Herrschaft oder, im Jargon der Politikwissenschaften, Hierarchie, die sich in modernen Gesellschaften zu einer zentralisierten staatlichen Ordnung mit ihrem Gewaltmonopol, ihrem Recht und ihrer Bürokratie verdichtet (Dahl/Lindblom 1976, S. 227 ff.; Lindblom 1983, S. 195 ff.). Demgegenüber muss ein zweckmäßiges System der Ökonomie den Einzelnen einen viel größeren Spielraum selbstverantwortlichen Handelns einräumen, der es ihnen ermöglicht, ihre Geschäfte nach eigenem Gutdünken zu besorgen und ihre individuellen Aktivitäten auf dezentrale Weise durch private Tauschbeziehungen zu koordinieren, vorausgesetzt, dass jede Person über hinreichende Rechte und Mittel verfügt, die sie dazu befähigen (wofür letztlich die Politik Sorge tragen muss). Auch wenn es nicht grundsätzlich unmöglich ist, eine Ökonomie durch eine hierarchische Organisation zu regeln, und obwohl auch Marktwirtschaften hierarchische Organisationseinheiten enthalten, ist der Preismechanismus, der Markt, ein unverzichtbares Instrument ökonomische Systeme, um eine einigermaßen effiziente Allokation wirtschaftlicher Güter zu erreichen und die gesellschaftliche Produktivität zu steigern (Dahl/Lindblom 1976, S. 171 ff.; Lindblom 1983, S. 68 ff.). Soziale Rollen. Die relativ spezialisierten individuellen Aktivitäten, die mit den Systemen der Politik und der Ökonomie verbunden sind, manifestieren sich auch in den diversen sozialen Rollen der darin auftretenden Akteure. Dazu gehören in der Politik etwa Regierende, Beamte, Richter, Parteifunktionäre, Staatsbürger, politische Aktivisten und Wähler; im Feld der Ökonomie Unternehmer, Geschäftsleute, Arbeitgeber, Arbeiter, Gewerkschafter und Konsumenten, um nur einige wichtige zu nennen. Diese Rollen, die bestimmte normative Vorstellungen vom Verhalten der betreffenden Akteure inkludieren, haben in der Politik ein anderes Profil als in der Ökonomie. Während von den meisten politischen Akteuren erwartet wird, dass sie sich nicht ausschließlich von partikularen Interessen, sondern mehr oder minder von unpersönlichen Gesichtspunkten des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit leiten lassen, ist das im Feld der Ökonomie nicht oder in geringerem Maße der Fall. Hier wird vielmehr als normal unterstellt, dass die Wirtschafter hauptsächlich ihren eigenen Vorteil verfolgen und sich nicht viel um das Gemeinwohl kümmern; dies freilich nur innerhalb der durch die ökonomische Ordnung gesetzten Grenzen, die ihrerseits politischer Regelung unterliegen. Ordnungsformen. Wie Politik und Ökonomie im Einzelnen operieren, das hängt natürlich von der inneren Ordnung ihrer Systeme, der politischen

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Ordnung und der Wirtschaftsordnung, ab. In beiden Fällen besteht grundsätzlich eine Vielzahl von Möglichkeiten, von denen sich aber nur einige bewährt und als bestandsfähig erwiesen haben. Politische Systeme können nach vielfältigen Gesichtspunkten sortiert werden, von denen ich nur zwei hervorhebe: den Grad der Zentralisierung von Herrschaft und die Form der politischen Machtverteilung (Dahl 1973, S. 69 ff.; Lindblom 1983, S. 213 ff.). Was den ersten Gesichtspunkt angeht, so gibt es derzeit faktisch wohl keine Alternative zum System des modernen Staates mit seinem Gewaltmonopol, nachdem es sich fast überall auf der Welt durchgesetzt hat. Dieses System stellt zwar in den Territorien der einzelnen Staaten eine hochgradig zentralisierte Herrschaftsordnung mit ihren Vorteilen und Gefahren bereit, ist aber offenbar immer weniger in der Lage, die wachsenden Probleme zu bewältigen, die sich aus den grenzüberschreitenden Interdependenzen zwischen den einzelnen Gesellschaften ergeben. Beim zweiten Gesichtspunkt geht es vor allem darum, wie eine wirksame Beschränkung und Kontrolle staatlicher Herrschaft sichergestellt werden kann und welche Verfahren der politischen Willensbildung am ehesten stabile, zweckmäßige und gerechte gesellschaftliche Verhältnisse gewährleisten können. Zur Klassifikation ökonomischer Systeme dienen gewöhnlich zwei Parameter: einerseits die Eigentumsordnung (Privat- vs. Gemeineigentum an Produktionsmitteln) und andererseits die Art der Güterallokation (dezentral durch den Markt vs. zentral durch den Staat). Werden beide Parameter kombiniert, so ergeben sich vier Grundtypen ökonomischer Ordnung mit der kapitalistischen Marktwirtschaft auf der einen und der kommunistischen Planwirtschaft auf der anderen Seite und diversen Mischformen dazwischen (Lindblom 1983, S. 157 ff.; Leipold 1988). Erfolgsbedingungen. Die Bewertung politischer und ökonomischer Ordnungen ist ein ebenso schwieriges wie umstrittenes Thema, das ich hier auf sich beruhen lassen muss. Dessen ungeachtet kann man aber für die beiden Systeme gewisse ganz allgemeine Erfolgsbedingungen angeben, die sie zumindest in einem gewissen Grade erfüllen müssen, um ihren Aufgaben innerhalb einer ganzen gesellschaftlichen Ordnung halbwegs gerecht zu werden. Eine wesentliche Erfolgsbedingung jeder politischen Ordnung ist eine hinreichende Kongruenz der Reichweite ihrer Entscheidungs- und Regelungskapazität mit der Ausdehnung sozialer Beziehungen und ihrer Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse der Menschen (Zürn 1998, S. 16 f.). Denn nur unter dieser Bedingung ist eine politische Ordnung überhaupt erst in der Lage, die wesentlichen Probleme und Konflikte ihrer Mitglieder in den Griff zu bekommen, indem sie deren Verhalten in entsprechender Weise regelt. Eine grundlegende Erfolgsbedingung einer ökonomischen Ordnung ist eine hinreichende Konvergenz der Ergebnisse des nutzenorientierten Handelns der Individuen einerseits und der Wohlfahrt aller Beteiligten an-

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dererseits, ganz im Sinne von Adam Smiths These der unsichtbaren Hand (Smith 1974, S. 9 ff., 48 ff.). Denn nur wenn eine ökonomische Ordnung auf lange Sicht dem Vorteil aller dient, wird sie allgemeine Zustimmung finden. Diese Bedingung kann freilich nicht durch das ökonomische System selber, sondern nur durch das politische System sichergestellt werden. Soziale Realität. Es ist offensichtlich und auch keineswegs überraschend, dass die mehr oder minder anspruchsvollen normativen Idealvorstellungen von Politik und Ökonomie in der sozialen Realität keine Entsprechung finden. Dort geht es doch etwas anders zu: In der Politik herrscht allerorten ein Kampf um Macht, in dem Erwägungen des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit nur dann und insoweit zum Zug kommen, wenn und soweit die institutionellen Rahmenordnung das von partikularen Interessen geleitete Handeln der Akteure bändigen und in eine Richtung lenken, die zu allgemein akzeptablen Ergebnissen führt. Und in der Ökonomie bringt der Marktwettbewerb, in dem soziale Machtungleichheiten eigentlich keine Rolle spielen sollten, tatsächlich wachsende soziale Ungleichheiten und eine zunehmende Konzentration wirtschaftlicher Macht hervor, die nicht nur das Marktsystem ad absurdum führen, sondern auch die politischen Ordnungen korrumpieren. Das bringt mich gleich zum nächsten und letzten Punkt meines Vergleichs der Systeme von Politik und Ökonomie. Mängel und Gefahren. Beide Systeme bergen Mängel und Gefahren, die man grob in zwei Sorten einteilen kann: Effizienzmängel und Gerechtigkeitsdefekte. Was die Politik angeht, so bestehen deren Effizienzmängel, die oft als Politik- oder Staatsversagen angesprochen werden, vor allem in diversen Varianten der Über- oder Unterregulierung, wenn sie das Verhalten der Menschen entweder zu viel oder zu wenig einschränkt, sowie in falschen Verhaltensanreizen, die ihr Ziel verfehlen oder sogar das Gegenteil dessen bewirken, was sie erreichen sollen (Buchanan 1975, S. 147 ff.; Jänicke 1986). Die möglichen Gerechtigkeitsdefekte politischer Systeme bestehen in vielfältigen Varianten des politischen Machtmissbrauchs, deren Bandbreite von blanker Despotie bis zu eher verborgenen Formen der Korruption reichen (Moore 1982). Ob und inwieweit diese Defekte zum Tragen kommen, hängt natürlich wesentlich von der Verfassung der politischen Ordnung ab. Und das gilt ebenso für die typischen Mängel und Gefahren ökonomischer Systeme. So spricht alles dafür, dass eine zentralisierte staatliche Planwirtschaft nicht nur in hohem Maße ineffizient ist, sondern auch unvermeidlich in horrende Ungerechtigkeiten mündet, weil die mit ihr verbundene Bündelung politischer und ökonomischer Macht Korruption und Repression generiert (Hayek 1971, S. 323 ff.; Voslensky 1980). Aber auch das Marktsystem hat Gebrechen. Trotz seiner Effizienz leidet es an diversen Ineffizienzen oder Marktversagen, wozu vor allem folgende gehören: sein Unvermögen, ein hinreichen-

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des Angebot öffentlicher Güter sicherzustellen, seine Vernachlässigung der sozialen Kosten, die sich aus negativen externen Effekten des Handelns der Wirtschaftsakteure ergeben, und die ineffiziente Preisbildung bei monopolistischer und oligopolistischer Konkurrenz (Fritsch/Wein/Ewers 2001; Sturn 2002). Gravierender sind die Gerechtigkeitsdefekte, die ein freizügiges, unreguliertes Marktsystem gerade wegen der effizienzstiftenden Dynamik des wirtschaftlichen Wettbewerbs aufweist. Da nämlich jene Individuen bzw. Gruppen, die in diesem Wettbewerb nicht mithalten können, häufig in soziale Notlagen geraten, die nicht nur ihre eigenen wirtschaftlichen Chancen, sondern meist auch die ihrer Nachkommen zunehmend schmälern, führt der Marktprozess ohne eine ihn flankierende Sozialpolitik, die seine Ergebnisse korrigiert, ganz unvermeidlich zu unerträglichen sozialen Ungleichheiten, die schließlich auch die Funktionsfähigkeit der politischen Ordnung beeinträchtigen (Koller 2000, S. 138 ff.). Offenbar gibt es keine Patentrezepte, um den erwähnten Mängeln und Gefahren politischer und ökonomischer Systeme zu begegnen. Im Laufe der vergangenen Jahrhunderte wurden aber immerhin diverse Mittel und Wege gefunden, um diese Mängel und Gefahren in Grenzen zu halten. Ein gut bewährtes, wenn auch keineswegs sicheres Mittel, die Politik vor den schlimmsten Entgleisungen zu bewahren, ist eine staatliche Ordnung, die Gewaltenteilung, Gesetzesbindung, Grundrechte und Demokratie in sich vereint, kurz: der demokratische Rechtsstaat. Und ein halbwegs geeigneter Weg, die Marktökonomie in eine Richtung zu lenken, die neben dem Erfordernis der Effizienz auch den Anforderungen des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit halbwegs Rechnung trägt, ist die soziale Marktwirtschaft, also ein staatlich reguliertes Marktssystem, in dem der Staat die Effizienzmängel und Ungerechtigkeiten des Marktes durch ein entsprechendes Angebot öffentlicher Leistungen und durch eine den wirtschaftlichen Verhältnissen angemessene soziale Sicherung aller Gesellschaftsmitglieder in einigermaßen sozialverträglichen Grenzen hält. Diese Problemlösung, die Verbindung von demokratischem Rechtsstaat und sozialer Marktwirtschaft, kann freilich nur unter gewissen Bedingungen gelingen: sie setzt nämlich eine staatlich verfasste gesellschaftliche Ordnung voraus, deren politisches System fähig ist, das ökonomische System in entsprechender Weise zu steuern. Aber diese Voraussetzung wird durch den fortschreitenden Prozess der Globalisierung zunehmend untergraben. Wie angesichts dieser Entwicklung die Zukunft von Politik und Ökonomie aussieht, ist eine ebenso interessante wie offene Frage.

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Die Systeme in vergleichender Übersicht POLITIK

ÖKONOMIE

Soziale Funktion

kollektiv verbindliche Entscheidungen ) Vorrang des Gemeinwohls

individuelle Bedarfsdeckung und Bedürfnisbefriedigung ) Vorrang der Effizienz

Soziales Handeln

Macht, Einfluss, Zwang, negative Sanktionen; Grenzfall: Verhandeln

Arbeit, Produktion, Austausch, positive Leistungsanreize; Grenzfall: Unternehmen

Koordinations- Primat zentraler Koordination: mechanismen Herrschaft, soziale Hierarchie, rechtliche Zwangsnormen ) Staat, Recht, Bürokratie

Primat dezentraler Koordination: individuelle Eigeninitiative und private Austauschbeziehungen )Markt, Geld, Wettbewerb

Soziale Rollen Politiker, Amtsträger, Parteifunktionäre, Staatsbürger, politisch Engagierte, Wähler

Unternehmer, Geschäftsleute, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Gewerkschafter, Konsumenten

Ordnung der der Systeme

Grad der Zentralisierung von Herrschaft + Form der politischen Machtverteilung: Despotie vs. Demokratie

Eigentumsordnung + Formen der Allokation bzw. Verteilung wirtschaftlicher Güter/Lasten: Marktvs. Planwirtschaft

Erfolgsbedingungen

Kongruenz von Reichweite politischen Entscheidens und Ausdehnung sozialer Interdependenzen

Konvergenz von individueller Nutzenorientierung und allgemeiner sozialer Wohlfahrt (Sozialverträglichkeit)

Soziale Realität

Machtstreben, Wettstreit von Interessen und Ideologien, insbes. Parteienwettbewerb

Gewinnstreben, Konkurrenz um Vorteile und Positionen, insbes. Marktwettbewerb

Mängel/ Gefahren

Effizienzmängel: Fehlregulierung, falsche Anreize // Ungerechtigkeiten: Machtmissbrauch, Korruption etc. ) demokrat. Rechtsstaat

Effizienzmängel: öffentl. Güter, externe Effekte, Monopole etc. // Ungerechtigkeiten: inakzeptable Ungleichheiten, Ausbeutung ) soziale Marktwirtschaft

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Wie die Ökonomie die Politik übermannt hat Politik und Ökonomie als frühneuzeitliche Handlungslehren Von Thomas Simon I. Ursprung und Gehalt der traditionellen Politiklehre Ihrem gegenwärtigen methodischen Ansatz nach ist die moderne Politikwissenschaft eine durchaus junge Disziplin. Folgt man den gängigen disziplingeschichtlichen Darstellungen, so reicht die Tradition der modernen Politikwissenschaft kaum hinter das 20. Jahrhundert zurück. Ihre Anfänge liegen in den USA, wo sich am Ende des 19. Jahrhunderts die Political Science als ein eigenständiges Universitätsfach zu formieren begann.1 Dort bildete sich in den 30er Jahren jener empirisch-sozialwissenschaftliche Ansatz heraus, der zum prägenden Merkmal der modernen Politikwissenschaft wurde.2 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wird dies dann in Europa rezipiert. In Deutschland geschah dies maßgeblich auf Initiative der amerikanischen Besatzungsmacht, die damit die Hoffnung verband, „einen Beitrag zur demokratischen Erziehung in Deutschland“ leisten zu können.3 Das Fach „Politikwissenschaft“ wurde demnach in Deutschland während der 50er Jahre neu gegründet, misstrauisch beäugt von den etablierten Disziplinen, insbesondere dem Staatsrecht, dessen Fachvertreter in der neuartigen universitären Disziplin eine ungewohnte Konkurrenz sahen – eine Disziplin, die jedenfalls in der jüngeren deutschen Universitätsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an keine Tradition anknüpfen konnte, denn in Deutschland, wie auch in Europa generell, gab es bis dahin keine eigenständige Politikwissenschaft. Dieser haftete denn zunächst auch das Image einer „amerikanischen Wissenschaft“ an. Politische Gegensätze zwischen den Vertretern des neuen Fachs und den Juristen kamen hinzu, denn in der neuen Disziplin gab es bald eine dezidiert gesellschaftskritische Richtung 1 Jürgen Hartmann, Geschichte der Politikwissenschaft, Opladen 2003, S. 17 und S. 20. 2 Ebd., S. 28 ff. 3 Ebd., S. 134. Siehe aber Thomas Düre, Normativität und Empirie im öffentlichen Recht und der Politikwissenschaft um 1900, Ebelsbach 1998, S. 345 ff., wo eine ältere Traditionslinie herausgearbeitet wird. Dort auch Darstellung der disziplingeschichtlichen Diskussion.

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linker Provenienz, die zu dem deutlich konservativer ausgerichteten Staatsrecht im Gegensatz stand. Die vergleichsweise kurze und junge Geschichte der modernen Politikwissenschaft mag erstaunen angesichts einer bis in die Antike zurückreichenden Beschäftigung mit einem schon damals als Politik bezeichneten Wissensgebiet. Es war hauptsächlich die aristotelische Politik, die im Zuge der hochmittelalterlichen Aristoteles-Rezeption wieder aufgenommen und literarisch kommentiert wurde. Als Teilgebiet der Philosophie war auch die mittelalterliche und frühneuzeitliche Politiklehre eine Wissenschaft, die über der Exegese eines überlieferten, wegen seiner antiken Herkunft für autoritativ erachteten Textkanons betrieben wurde, in deren Mittelpunkt im Hochmittelalter zunächst die aristotelische Politik stand; später traten weitere Referenztexte hinzu. Seit dem 13. Jahrhundert begann die Politik auch im damals neu entstehenden universitären Wissenschaftsmilieu Fuß zu fassen, und zwar in der Fakultät der artes liberales.4 Den artes kam im mittelalterlichen Lehrsystem die Funktion zu, dem Lernenden für das Studium der eigentlichen drei Hauptfächer – Theologie, Jurisprudenz und Medizin – eine Art Grundlagenbildung zu vermitteln und dabei die Denk- und Artikulationsfähigkeit des Studierenden zu schärfen. Der Studiengang durch die artes liberales vermittelte die Grundkenntnisse des überlieferten klassischen Bildungsguts, soweit es überhaupt noch zugänglich und nicht Bestandteil der weiterführenden theologischen oder juristischen Spezialstudien war.5 Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts weitete sich der universitäre Politikunterricht allmählich aus; die ersten eigenständigen Lehrstühle für Ethik und Politik wurden eingerichtet.6 Die Politik rückte damit aus einer dienenden Stellung in eine mit den alten Oberdisziplinen, vor allem der Jurisprudenz, gleichrangige Position. Neben den Universitäten entstand an den im Laufe des 17. Jahrhunderts gegründeten Ritterakademien ein weiterer institutioneller Kristallisations4 Hierzu eingehend Janet Coleman, Some relations between the study of Aristotle’s Rhetoric, Ethics and Politics in late thirteenth- and early fourteenth-century university arts courses and the justification of contemporary civic activities (Italy and France), in: Joseph Canning/Otto Gerhard Oexle (Hg.): Political thought and the realities of power in the Middle Ages, Göttingen 1998, S. 127–157, hier S. 129 ff. 5 Jürgen Miethke, Der Weltanspruch des Papstes im späteren Mittelalter. Die politische Theorie der Traktate ‚De Potestatae Papae‘, in: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 2: Mittelalter: Von den Anfängen des Islams bis zur Reformation, München 1993, S. 351–445, hier S. 363; ders., Das Publikum politischer Theorie im 14. Jahrhundert. Zur Einführung, in: ders. (Hg.): Das Publikum politischer Theorie, München 1992, S. 1–23, hier S. 15. 6 Hans Maier, Die Lehre der Politik an den deutschen Universitäten vornehmlich vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Dieter Oberndörfer (Hg.): Wissenschaftliche Politik. Eine Einführung in Grundfragen ihrer Tradition und Theorie, Freiburg 1962, S. 49–116, hier S. 73 und S. 82 ff.

Wie die Ökonomie die Politik übermannt hat

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punkt der Politiklehre. Diese Bildungseinrichtungen waren in spezieller Weise dem adeligen Politikstudium gewidmet.7 Diese Lehre von der Politik war aber von ihren Erkenntnisinteressen und ihrer Methode her betrachtet etwas Anderes als die Politikwissenschaft modernen Zuschnitts. Anders als Letztere, die sich als eine empirisch fundierte Sozialwissenschaft begreift, ist die traditionelle Politik im Kern ein Teilgebiet der Philosophie. Was sie scharf von der heutigen Spielart der Politikwissenschaft unterscheidet, ist ihr normativer Grundansatz: Sie machte Aussagen darüber, wie der Mensch als Glied einer wie auch immer gearteten Gemeinschaft klugerweise handeln sollte. Zusammen mit der Ethik und der Ökonomik bildete die Politik einen Teilbereich der praktischen Philosophie, der Lehre vom rechten, dem Menschen jeweils angemessenen Tun und Verhalten. Die Regeln dieser drei Handlungs- und Verhaltenslehren unterschieden sich in erster Linie dadurch, dass sie den Menschen einmal als Einzelwesen, einmal hingegen als soziales Wesen, als Teil einer Gemeinschaft betrafen. Die Ethik nahm ihn als Einzelnen außerhalb einer Gemeinschaft in den Blick, Politik und Ökonomie hingegen waren auf die soziale Existenz des Menschen in der Gemeinschaft bezogen. Politik und Ökonomie wiederum unterschieden sich durch die Art der Gemeinschaft, auf die die sozialen Verhaltensregeln bezogen waren.8 Die Dichotomie von Politik und Ökonomie ergab sich aus der fundamentalen Unterscheidung zwischen zwei Grundformen menschlicher Gemeinschaft: Deren eine war das „Land“, die andere das „Haus“. Das Land ist nach der Rezeption der aristotelischen Politik im Laufe des Mittelalters an die Stelle der antiken polis getreten, wie sie bei Aristoteles als Grundform staatlicher Organisation thematisiert ist. Die latinisierte Form der polis war die politia, aus der sich im Laufe des Spätmittelalters durch Abschleifung und Verballhornung das Wort „Policey“ gebildet hat. Policey bezeichnet soz. die vorstaatliche Gemeinschaft in einer Zeit, die noch keine Abschichtung von institutionellem Anstaltsstaat und Gesellschaft kennt.9 Neben der Policey stand in der aristotelisch inspi7 Norbert Conrads, Ritterakademien der frühen Neuzeit. Bildung als Standesprivileg im 16. und 17. Jahrhundert, Göttingen 1982; ders., Tradition und Modernität im adeligen Bildungsprogramm der Frühen Neuzeit, in: Winfried Schulze (Hg.): Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, München 1988, S. 389–403, hier S. 399 ff. 8 Jutta Brückner, Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Wissenschaft im Deutschland des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts, München 1977, S. 54; Gotthardt Frühsorge, Die Begründung der ‚väterlichen Gesellschaft‘ in der europäischen oeconomia christiana. Zur Rolle des Vaters in der ‚Hausväterliteratur‘ des 16. bis 18. Jahrhunderts in Deutschland, in: Hubertus Tellenbach (Hg.): Das Vaterbild im Abendland, Bd. 1, Stuttgart u. a. 1978, S. 114; Wolf-Hagen Krauth, Wirtschaftsstruktur und Semantik. Wissensoziologische Studien zum wirtschaftlichen Denken in Deutschland zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert, Berlin 1984, S. 89.

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rierten Soziallehre des Mittelalters und der frühen Neuzeit das Haus – die zweite Grundform menschlicher Gemeinschaft.10 Es besteht aus der Behausung selbst und den zugehörigen Ländereien sowie den Menschen, die das Haus bewohnen und das Land bebauen: das sind die Familie des Hausherrn (des Ökonomen) und das Gesinde. So standen sich zwei soziale Systeme gegenüber: Das Land und das Haus, politia und oeconomia. Beide sozialen Systeme bedurften aus der Sicht der aristotelischen Soziallehre der Leitung durch eine lenkende Instanz. Im Falle der oeconomia war das der oeconom, der „Wirt“, im Falle der Policey hingegen war es der Fürst – jedenfalls dort, wo die „Einherrschaft“ einer Monarchie besteht. Demgemäß boten Politik und Ökonomie neben einer allgemeinen Verhaltenslehre für sämtliche Angehörigen der beiden Gemeinschaften auch so etwas wie eine „Steuerungs- und Führungslehre“ für die Landes- und Hausherren als den Oberhäuptern und Lenkungsinstanzen von Land und Haus. Hier wurde erörtert, wie diese beiden maßgeblichen sozialen Einheiten richtigerweise einzurichten, zu ordnen und zu verwalten wären, wie sie zu führen und auf welches Ziel sie hingelenkt werden müssen. Es handelte sich also um Programmentwürfe für die Organisation und Lenkung sozialer Systeme. Adressat dieser normativen Ent9 Thomas Simon, ‚Gute Policey‘. Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 170), Frankfurt am Main 2004, S. 112. 10 Otto Brunner hat diesem sozialen Organismus die Bezeichnung „Ganzes Haus“ verliehen und ihm verdanken wir auch die klassische, m. E. nach wie vor gültige Darstellung der Struktur und der Funktion dieses sozialen Systems. Vor allem: Otto Brunner, Das ‚Ganze Haus‘ und die alteuropäische ‚Ökonomik‘, in: ders. (Hg.): Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 1968; ders., Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612–1688, Salzburg 1949. Das gilt jedenfalls insoweit, als vom „Haus“ als einem Deutungsmuster die Rede ist, mit dem die Sozialtheorie des Mittelalters und der frühen Neuzeit die sozialen Strukturen ihrer Zeit beschreibt. In der verbreiteten Kritik am Begriff des „Ganzen Hauses“ (siehe hierzu die neueren Diskussionsbeiträge von Claudia Opitz, Neue Wege der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept des ‚Ganzen Hauses‘, in: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), S. 88 ff., und Hans Derks, Über die Faszination des ‚Ganzen Hauses‘, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 221 ff.; beide sehr kritisch gegenüber diesem Begriff) wird nicht ausreichend berücksichtigt, dass mit dem „Haus“ nicht irgendwelche realen Besitzstrukturen beschrieben werden sollten, sondern ein Leitbild formuliert wurde. Als praktische Klugheitslehre beinhaltete die Ökonomik in erster Linie normative Aussagen, denen es fern lag, die wirtschaftlichen Verhältnisse womöglich noch bestimmter sozialer Schichten beschreiben zu wollen. Die traditionelle Ökonomik basiert vollkommen auf der Vorstellung des „Ganzen Hauses“, wie es Brunner beschrieben hat. Eine andere Frage ist es, ob Brunner diesen Aspekt ausreichend kenntlich gemacht hat. Abgewogenes Urteil jetzt bei Stefan Weiß, Otto Brunner und das Ganze Haus oder: Die zwei Arten der Wirtschaftsgeschichte, in: Historische Zeitschrift 273 (2001), S. 335–369, hier S. 363 ff.

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würfe war regelmäßig eine das System beherrschende oder zumindest leitende Person, der auf diese Weise eine Handreichung zur Systemsteuerung gegeben werden sollte – eben der Fürst oder der mit der Regierung befasste Amtsträger im Falle der Politik, der „Hausherr“ oder der Gutsverwalter in der Ökonomik.11 In einer derartigen Steuerungs- und Führungslehre sind naturgemäß auch Aussagen über den erwünschten und für „richtig“ erachteten gesellschaftlichen Ordnungszustand eingeschlossen. Der solchermaßen projektierte Ordnungszustand bildet hier das Ziel, auf das hin das politische Handeln der Herrschaftsträger und Obrigkeiten als den Adressaten dieser Politik- und Regierungslehren ausgerichtet werden soll. Der Maßstab solcher normativer Vorgaben ergab sich im Ursprung aus bestimmten, in der griechischen Philosophie angelegten Grundannahmen, was den Sinn des menschlichen Lebens anbelangt. Hiervon ausgehend kam die griechische Philosophie zu einem Kanon von Aussagen, wie das „gute Leben“ des Menschen auszusehen habe. Es schien erreicht, wenn dem Menschen ein Leben möglich war, in dem er seine Anlagen – dasjenige nämlich, das ihn unter den Lebewesen zum Menschen machte und ihn als Menschen gegenüber den Tieren auszeichnete – voll entfalten, also seiner Bestimmung als Mensch gemäß leben konnte.12 Die praktische Philosophie war nun insofern auf diese Vorbedingungen eines „guten Lebens“ bezogen, als sie Aussagen darüber machte, wie der Mensch zu handeln habe, um dieses „gute Leben“ für sich zu erreichen. Politik und Ökonomie waren darüber hinaus der Fragestellung gewidmet, wie die organisatorischen und strukturellen Rahmenbedingungen der menschlichen Gemeinschaften von Land und Haus jeweils auszusehen haben, damit das „gute Leben“ möglich ist. Die traditionelle Politiklehre im Sinne einer „philosophischen Politik“ beruht demnach auf einer vollkommen andersartigen Grundannahme, was die Formulierbarkeit und Verbindlichkeit von Politikzielen anbelangt. Anders als die moderne Politikwissenschaft, die die Ausformulierung normativer Richtpunkte und Zielvorstellungen für das politische Handeln dem offenen, nur im Verfahren verfassungsrechtlich festgelegten Diskurs überlässt, basiert die „alteuropäische“ Politiklehre auf der Vorstellung, dass sich der richtige Ordnungszustand des sozialen Systems auf der Grundlage einer nach den Regeln der Zeit als wissenschaftlich anerkannten Methode feststellen lässt. Diese Tradition wird heute vor allem von der Volkswirtschaftslehre fortgeführt, die ja nach wie vor mit dem Anspruch auftritt, das politische Han11 Brückner, Staatswissenschaften, S. 54 (Fn. 8); Frühsorge, Begründung, S. 114 (Fn. 8). 12 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 2. Aufl., München 1981; Volker Sellin, Stw. „Politik“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, S. 789–874, hier S. 804.

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deln unter Verwendung ihrer eigenen wissenschaftlichen Kriterien zensieren zu können und dies in Person der alljährlich auftretenden wirtschaftswissenschaftlichen „Weisen“ auch regelmäßig unter großer Aufmerksamkeit des Publikums tut. Ein solcher Ansatz, das politische Handeln wissenschaftlich anleiten zu können, lag auch der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Politikwissenschaft zugrunde, die auf der Basis eines tradierten Kanons politischer Texte die herrschenden Ordnungsvorstellungen ihrer Zeit reformulierte und ihnen durch die Untermauerung mit diesen autoritativen Texten ein erhöhtes Maß an Plausibilität verlieh. Natürlich enthielt auch die traditionelle Politiklehre rein deskriptive und analytische Elemente. Schon die aristotelische Politik hatte ja bereits eine Staatsformenlehre überliefert und enthielt darüber hinaus eine Beschreibung und funktionale Deutung der beiden grundlegenden sozialen Systeme von Land und Haus. Aber der Sinn der politischen Literatur auch noch der frühen Neuzeit erschöpfte sich keinesfalls in einer bloßen Beschreibung der den jeweiligen Verfassern bekannten Gemeinwesen; die deskriptiven Elemente blieben in einen normativen Kontext integriert. Freilich sollte das Gewicht der sozusagen wertfrei-deskriptiven Elemente in der Politiklehre der frühen Neuzeit dann beträchtlich an Gewicht gewinnen. Denn naheliegenderweise musste der fundamentale kulturelle Wandel, der die Wende vom Mittelalter zur frühen Neuzeit kennzeichnet, auf die politischen Werte, auf die in der Politikliteratur formulierten Ziele politischen Handelns und die damit verbundenen Ordnungsvorstellungen durchschlagen. In der Tat unterlag das politische Denken im Laufe des 17. Jahrhunderts tiefgreifenden Veränderungen; sie hatten ihren Ursprung im Italien des 16. Jahrhunderts.13 Im Zuge eines langfristigen und höchst differenzierten Rezeptionsprozesses wurde dieser Wandel allmählich im Laufe des 17. Jahrhunderts auch nördlich der Alpen wirksam. Dabei begann der politische Wertekanon des Aristotelismus allmählich zu verblassen; neue Werte und Politikziele wurden jetzt formuliert.14 Das 17. Jahrhundert war zugleich die große Zeit der wissenschaftlichen Politik, die damals den Zenit ihres Ansehens und ihrer Bedeutung erlangte, bevor sie dann am Ende dieses Jahrhunderts von den beiden thematisch konkurrierenden Disziplinen des Naturrechts und der Ökonomie überflügelt und schließlich marginalisiert wurde. Der Aufstieg zu einem eigenständigen, nunmehr mit der Rechtswissenschaft konkurrierenden Fach wird schon in dem sprunghaften Anstieg der politischen Literaturproduktion sichtbar, der für die Zeit um 1600 zu verzeichnen ist.15 War der Politik-Unterricht bis dahin im Wesentlichen auf die Aristoteles-Exegese 13

Sellin, Politik, S. 810 (Fn. 12); Maurizio Viroli, From politics to reason of State. The acquisition and transformation of the language of politics 1250–1600, Cambridge u. a. 1992, S. 136 ff. 14 Simon, Policey, S. 208 ff. (Fn. 9).

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konzentriert gewesen, so wuchs nun auch der Kanon der literarischen Bezugstexte und Autoritäten an, auf die sich die Politici in ihren Schriften beriefen; vor allem Tacitus und die Texte der römischen Stoiker rückten nun ins Zentrum ihres Interesses.16 Die neuen politischen Zielprojektionen, wie sie die Politikliteratur seit dem 17. Jahrhundert auch in Mitteleuropa entwarf, waren um einiges konkreter, als die nur allgemein auf das „gute Leben“ der Bürger bezogenen Zielvorstellungen des Aristotelismus. In den Mittelpunkt des politischen Denkens rückte nun die Durchsetzung der securitas publica, der Sicherheit des Landes gegenüber äußeren Gegnern, vor allem aber auch der inneren Sicherheit durch Unterdrückung jeglicher Gewaltübung außer der durch die Staatsgewalt legitimierten. Es ging mithin um die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols gegenüber allen Formen „privater Gewalt“ wie etwa der adeligen Fehdeführung. Dieses Ziel zu erreichen, war nur einem mächtigen und dementsprechend gerüsteten und durchsetzungsfähigen Fürsten möglich. Die Politik des Barockzeitalters nahm damit zu großen Teilen die Züge einer Machtlehre an, die immer stärker um die Fragestellung zu kreisen begann, wie sich die Macht und das Durchsetzungsvermögen des Fürsten steigern lässt, worin die effektivsten Machtmittel bestehen und wie sie der Fürst in die Hand bekommen kann. Denn nur ein starker Fürst, der über ein Arsenal effektiver Herrschafts- und Machtinstrumente verfügen konnte, vermochte das überragende Politikziel des inneren Friedens, der tranquillitas reipublicae, zu erreichen.17 Grundlage solcher Strategien der Machtsteigerung war eine sozusagen wertfreie Analyse der Mechanismen und Instrumente fürstlicher Machtbildung und ihrer potentiellen Schwachpunkte, welche die Stabilität fürstlicher Herrschaft gefährden konnten. Die überkommenen normativen Vorgaben moralischer und religiöser Provenienz, die das politische Handeln anleiten sollten, traten demgegenüber in den Hintergrund. Die provokative „Machtempirie“ Niccoló Machiavellis war eine auf das schärfste zugespitzte Variante dieser Form politischen Räsonnements. Naheliegenderweise hat dieser wahrlich fundamentale Umbruch des politischen Denkens, der sich im Schatten der konfessionellen Auseinandersetzungen in Europa vollzog, das Interesse der politischen Ideengeschichte in 15 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800, München 1988, S. 111; Horst Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die ‚Politica‘ des Henning Arnisaeus (ca. 1575–1636), Wiesbaden 1970, S. 412 f. 16 Jürgen Miethke, Wilhelm von Ockham und die Institutionen des späten Mittelalters, in: Gerhard Göhler u. a. (Hg.): Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch. Ideengeschichtliche Beiträge zur Theorie politischer Institutionen, Opladen 1990, S. 89–112, hier S. 90. 17 Simon, Policey, S. 225 ff. (Fn. 9).

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hohem Maße auf sich gezogen. Er wird vielfach mit den Katastrophenerfahrungen der Konfessions- und Bürgerkriege in Verbindung gebracht,18 die die Länder Westeuropas seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erschütterten und im kollektiven Bewusstsein der Zeit eine „Weltangst vor der Anarchie“19 entstehen ließen. „The struggle for stability“20 wurde daher geradezu zum Signum des „eisernen Zeitalters“: In einer Welt, die von der Erfahrung einer „immer wilderen und alles verwüstenden Kriegführung“21, einer überall um sich greifenden, die Gemeinwesen zersetzenden Anarchie geprägt war, wurde die Befriedung des Gemeinwesens zum Primärziel politischen Handelns, dem alle anderen Politikziele untergeordnet wurden.22 Es waren in erster Linie zwei Faktoren, die aus der Sicht der politischen Literatur dieser Zeit für die Macht eines Herrschers entscheidend waren: Sie wurden mit den Schlagworten arma et opes zum Ausdruck gebracht. Macht, so lautete die martialische Quintessenz, sei in erster Linie eine Frage militärischer Durchsetzungskraft. Das politisch favorisierte Ideal war der Aufbau eines stehenden Heeres, d.h. eines ständig verfügbaren, ohne den größeren zeitlichen Vorlauf eines „Aufgebotes“ einsatzbereiten militärischen Instrumentes, wenngleich diese ruinös kostspielige Handlungsstrategie einer neuartigen Sicherheitspolitik von vornherein nur für die Fürsten größerer Länder in Frage kam. Als unausweichliche Vorbedingung der Aufrüstung erschien daher die Lösung des von ihr verursachten Finanzpro18 Michael Stolleis, Lipsius-Rezeption in der politisch-juristischen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland, in: ders., Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, Frankfurt am Main 1990, S. 232–267, hier S. 234; Gerhard Oestreich, Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547–1606). Der Neostoizismus als politische Bewegung, Göttingen 1989, S. 154. 19 Helmut G. Koenigsberger, Die Krise des 17. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für historische Forschung 9 (1982), S. 143–165, hier S. 151; Geoffrey Parker/Lesley Smith, Introduction, in: dies. (Hg.): The General Crisis of the Seventeenth Century, London u. a. 1978, S. 1–21. Kritisch gegenüber der These einer „Krise des 17. Jahrhunderts“ aber Heinz Duchhardt, Das Zeitalter des Absolutismus, München 1989, S. 55 ff. 20 Theodore K. Rabb, The Struggle for Stability in Early Modern Europe, New York 1975. 21 Koenigsberger, Krise des 17. Jahrhunderts, S. 151 (Fn. 19); für das zwischenstaatliche Verhältnis siehe Johannes Burkhardt, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: Zeitschrift für historische Forschung 24 (1997), S. 509–574, hier S. 510 f. 22 Herfried Münkler, Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsräson in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1987, S. 145; dazu vor allem auch Reinhard G. Kreuz, Überleben und gutes Leben. Erläuterungen zu Begriff und Geschichte der Staatsraison, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 52 (1978), S. 173–208, hier S. 173 ff.; Wilhelm Janssen, Stw. „Friede“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, S. 543–591, hier S. 577.

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blems. Die neue machtpolitische prudentia politica betonte stets den engen Zusammenhang zwischen Waffen und Geld:23 Ohne Geld kann sich der Fürst das entscheidende Instrument moderner Machtpolitik nicht leisten; ohne bewaffnete Gewalt aber ist er nach innen und außen handlungsunfähig und kann demzufolge weder die quietas im Inneren noch den Schutz nach außen gewährleisten: „Nec quies gentium sine armis, nec arma sine stipendiis, nec stipendia sine tributis“ – dieses Tacitus-Zitat wurde geradezu zum politischen Leitmotiv der Zeit.24 Indem die neuen politischen Handlungsziele das Militär zu einem unverzichtbaren Element der Politik werden ließen, drängten sie zugleich zu einer Steigerung der Staatseinnahmen, die dem Fürsten die „hastis pugna argentatis“25 an die Hand gaben.26 Dadurch wurden die Finanzen ihrerseits zum entscheidenden Handlungsinstrument. „Pecunia nervus rerum“: Diese Sentenz wurde nun zu einem geradezu omnipräsenten Topos der Politikliteratur.27 Damit rückte der Kostenfaktor in das Zentrum der politischen Handlungskalküle; die politischen Handlungsstrategien wurden zu einer Frage des Geldes. An der Politikliteratur, die im 17. Jahrhundert, angeregt durch die in Italien erwachsenen Herausforderungen des traditionellen politischen Denkens, zu einem mächtigen Strom anschwoll, lässt sich die zunehmende Zentrierung der Politikkonzepte auf den finanziellen Gesichtspunkt mit aller Deutlichkeit ablesen. Die Politiklehre dieser Zeit begann mehr und mehr um die finanzielle Vorfrage zu kreisen: Wie kann der „Nerv“ der politischen Handlungsfähigkeit gestärkt werden? Ein eigener Zweig politischer Literatur bildete sich nun heraus, der sich speziell mit dem Problem beschäftigte, wie sich die fürstlichen Einnahmen vermehren ließen. Aber eben dies ließ nun auch die Grenzen zwischen dem politischen und dem ökonomischen Denken fließend werden. Dies wird im dritten Abschnitt wieder aufgenommen werden. Zuvor soll die Tradition der zweiten aristotelischen Handlungslehre, der Ökonomie, ins Auge gefasst werden. 23 Hierzu Hans Schmidt, Staat und Armee im Zeitalter des ‚Miles perpetuus‘, in: Johannes Kunisch (Hg.): Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der Frühen Neuzeit, Berlin 1986, S. 213–248, S. 219. 24 Wolfgang Weber, Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1992, S. 258. 25 Justus Lipsius, Libri sex politicarum sive Doctrina civilis, Buch IV, Cap. IX, 1589, S. 98. 26 Siehe hierzu vor allem Norbert Winnige, Von der Kontribution zur Akzise: Militärfinanzierung als Movens staatlicher Steuerpolitik, in: Bernhard R. Kroener/Ralf Pröve (Hg.): Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, Paderborn 1996, S. 59–83. 27 Z. B. Lipsius, Buch IV, Cap. IX, S. 98 (Fn. 25): „Nervos imperii pecuniam esse“.

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II. Ursprung und Gehalt der alteuropäischen Ökonomik Im Gegensatz zur modernen Politikwissenschaft lässt sich bei der Geschichte der Wirtschaftswissenschaften eine durchgehende, seit dem 17. Jahrhundert schnell kräftiger werdende Traditionslinie erkennen. Bis dahin steht sie ganz im Schatten ihrer damals noch dominierenden Schwesterdisziplin, der Politiklehre. Im Barockzeitalter beginnt dann aber der wahrhaft kometenhafte Aufstieg der prudentia oeconomica, der schließlich dazu führt, dass die Politiklehre am Ende des 18. Jahrhunderts jedenfalls auf dem Gebiet der Innenpolitik nahezu bedeutungslos wird, weil sie ganz von der Ökonomie überflügelt wird. Wie die Politik so gab auch die Ökonomie Handlungsanweisungen zum richtigen Verhalten innerhalb eines sozialen Systems. Zwischen der politia und der oeconomia als den beiden maßgeblichen sozialen Systemen der praktischen Philosophie gab es allerdings einen ganz wesentlichen strukturellen Unterschied, der über die unterschiedliche räumliche Reichweite von Land und Haus weit hinausging: Die politia war nämlich immer nur als eine ausschließlich personelle Größe betrachtet worden. Sie wurde als ein Zusammenschluss sozialer Gruppen aufgefasst – als eine Vereinigung von Hausgemeinschaften. Diese Hausgemeinschaften waren weiter gefasst als das, was man heute unter einer Großfamilie versteht, denn neben den blutsverwandten Familienangehörigen gehörte auch das Gesinde zur Gemeinschaft des Hauses. Aus dem Zusammenschluss verschiedener Häuser entstand eine eigenständige, eben die „politische“ Gemeinschaft, die auch nur nach spezifisch politischen Grundsätzen geleitet werden konnte. Der Staat wurde seiner Grundstruktur nach als eine consociatio, ein aus häuslichen Gemeinschaften zusammengesetztes soziales System gedeutet. Demgegenüber wurde das Haus, wie es in der überlieferten Handlungslehre der Ökonomik dargestellt wurde, nicht nur als eine menschliche Assoziation betrachtet, sondern auch als eine Sachgesamtheit, bestehend aus Gebäuden und Ländereien sowie dem Zubehör, das zum Umtrieb einer Landwirtschaft benötigt wird. Dementsprechend beinhaltete die Ökonomie nicht nur interpersonelle Verhaltensregeln wie die Politik, sondern bot auch Direktiven zum richtigen Umgang mit den zum Hausstand zählenden Sachen – und es war dann dieser sozusagen „produktive“ Aspekt, der sich in den theoretischen Traktaten zur Ökonomie gegenüber den interpersonellen Verhaltens- und Leitungsregeln für die Familie in der frühen Neuzeit allmählich in den Vordergrund schob.28 Aus diesem Sach- und Personenbezug der traditionellen Ökonomie ergab sich deren Grundaufbau, wie er im frühneuzeitlichen Schrifttum dieser Dis28

Krauth, Wirtschaftsstruktur, S. 104 ff. (Fn. 8).

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ziplin regelmäßig wiederkehrt, nämlich die Unterteilung in die „erwerbende“ und die „verwaltende“ Ökonomie. Erstere gibt Anweisungen zum produktiven Umgang und Wirtschaften mit den Sachen. Dies beinhaltete auch eine Produktions- und Handelslehre, die mit der Primärproduktion in Landwirtschaft und Bergbau begann und über die handwerkliche Weiterverarbeitung der Rohstoffe bis zur Vermarktung der Fertigprodukte reichte. Hier wird Produktionstechnik ausgeführt; hier ist auch der Platz, auf dem der technologische Erkenntnisfortschritt in das ökonomische Schrifttum integriert wurde. Demgegenüber war die „verwaltende Ökonomie“ auf den Haushalt als einem sozialen System bezogen, denn sie enthielt eine Haushalts-„Führungslehre“ im direkten Sinne des Wortes, die den Wirt beim „Dirigieren“ des ihm untergeordneten sozialen Systems anleiten wollte. Es war dies also eine Führungs- und Steuerungslehre für den Hauswirt nebst einer Pflichtenlehre für die Hausangehörigen.29 Auch funktional waren das „ganze Haus“ und die staatliche Gemeinschaft in der älteren, bis zum Ende des 17. Jahrhunderts dominierenden Sichtweise ganz deutlich voneinander geschieden. Traditionell war nämlich dem politischen System die Funktion der Friedenswahrung, des Schutzes und der Verwirklichung von Gerechtigkeit zugewiesen worden. Im sozialen System Haus sollten diese Werte zwar auch verwirklicht werden, aber die Funktion des Hauses als sozialer Einheit war nicht vorrangig auf diese Zielsetzungen hin orientiert. Primäre Funktion des Hauses war es vielmehr, dem Menschen die materielle Lebensgrundlage bereitzustellen; das Haus wurde als eine soziale Einheit aufgefasst, die funktional auf das Erwirtschaften der „Nahrung“ ausgerichtet war. Nahrung ist der Begriff, mit dem die deutschsprachige Literatur zur Ökonomik die lateinische necessitas vitae übersetzt hat. Die sozialen Beziehungen innerhalb des Hauses waren final auf die Erzeugung der materiellen „Notwendigkeiten“ ausgerichtet, die für die Aufrechterhaltung und Reproduktion des Lebens erforderlich waren. Die häusliche Gemeinschaft umfasste daher auch das Gesinde, denn nicht die Verwandtschaft war hier das assoziierende Prinzip, sondern das gemeinsame Produzieren.30 Da man die Policey und das Haus bis zum Ende des 17. Jahrhunderts als unterschiedlich strukturierte soziale Systeme auffasste, die verschiedenen 29 Siehe etwa Johannes Coler, Oeconomia oder Hausbuch I–IV, Wittenberg 1593–1599; moderner Druck in: Johannes Burkhardt/Birger P. Priddat (Hg.): Geschichte der Ökonomie, Frankfurt am Main 2000, S. 35–75: Ab Kap. 4 des I. Buches geht es um die „Personen, die in eine Haushaltung gehören“, während das II. Buch „Von allerley gemeinen Hausarbeiten und Sachen, die in der Haushaltung täglich vorfallen: Kochen, backen, brauen etc.“ handelt. 30 Manfred Lemmer, Haushalt und Familie aus der Sicht der Hausväterliteratur, in: Trude Ehlert (Hg.): Haushalt und Familie in Mittelalter und früher Neuzeit, Sigmaringen 1991, S. 181–191, hier S. 183.

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Zwecken dienten und daher auch jeweils ihren eigenen Sachgesetzlichkeiten unterworfen waren, konnte es zwischen den theoretischen Leitlinien zur Führung eines Staates und denjenigen, die das Regiment eines Hauses zum Gegenstand hatten, nur gering ausgeprägte Gemeinsamkeiten geben. Denn die unterschiedlichen Struktureigenschaften und Zwecksetzungen von politia und Ökonomie erforderten eine jeweils eigenständige theoretische Klugheitslehre. Wegen der Divergenz der Handlungsziele war die Ökonomie noch in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts „von der politischen Wissenschaft ausgeschlossen“.31 Zur Frage der rechten Ordnung des Gemeinwesens konnte die Ökonomie nichts beitragen, und zwar schon deshalb nicht, weil sie nur auf den privaten Raum des einzelnen Hauses bezogen war, so dass ihr keine Aussagen zur politischen Ordnung entnommen werden konnten. Eben dies sollte sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts ändern. III. Die Absorption der Politik durch die Ökonomie: Die Entstehung der „Politischen Ökonomie“ Auslösender Faktor für das Übergreifen ökonomischen Denkens auf das Terrain des Politischen waren die dramatischen Finanzprobleme, denen sich die meisten Staaten vor allem im 17. und 18. Jahrhundert ausgesetzt sahen. Der Zustand der Staatsfinanzen in den meisten deutschen Territorien ließ die Mittelbeschaffung zu einem dringlichen Thema werden, weil sich die Schere zwischen dem rapid wachsenden Finanzbedarf und den finanziellen Möglichkeiten des Staates immer weiter öffnete. Die Ausgabenexpansion des frühmodernen Staates war vorrangig bedingt durch Militär und Hofhaltung, mit denen man das Durchsetzungsvermögen und das Ansehen des Fürsten zu stärken trachtete.32 Demgemäß rückte die Finanzfrage in den Mittelpunkt. Über dem neuen finanzpolitischen Diskurs entstand die Politische Ökonomie.33 Es handelt sich hierbei um eine Form der Politiktheorie, die die 31

Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus, S. 354 (Fn. 15). Koenigsberger, Krise des 17. Jahrhunderts, S. 155 (Fn. 19); Andreas Schwennicke, ‚Ohne Steuer kein Staat‘. Zur Entwicklung und politischen Funktion des Steuerrechts in den Territorien des Heiligen Römischen Reichs (1500–1800), Frankfurt am Main 1996, S. 102 ff.; Volker Press, Finanzielle Grundlagen territorialer Verwaltung um 1500 (14.–17. Jahrhundert), in: Gerhard Dilcher (Red.): Die Verwaltung und ihre Ressourcen. Untersuchungen zu ihrer Wechselwirkung (Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 13.3.–15.3.1989), Berlin 1991 (Der Staat, Beiheft 9), S. 1–29, hier S. 18 und 24. 33 Thomas Simon, Ursprünge und Entstehungsbedingungen der ‚Politischen Ökonomie‘, in: Jean-François Kervégan/Heinz Mohnhaupt (Hg.): Wirtschaft und Wirtschaftstheorien in Rechtsgeschichte und Philosophie. Viertes deutsch-französisches Symposion vom 2.–4. Mai 2002 in Wetzlar (Veröffentlichungen des Max-Planck32

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politischen Handlungsleitlinien nach spezifisch ökonomischen Grundsätzen entwickelt. Im Zentrum steht dabei immer die Frage, wie sich die Steuereinnahmen erhöhen lassen. In den finanzpolitischen Strategien, wie sie nun in den Texten zur prudentia politica immer breiteren Raum einnahmen, lässt sich hier bei langfristigerer Betrachtung eine signifikante Verlagerung des Interesseschwerpunktes erkennen: Der Fokus der Erörterungen verlagerte sich nämlich im Laufe der Zeit von den Techniken bloßer Abschöpfung des gesellschaftlichen Reichtums auf dessen Vorbedingungen. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts ruhte der Schwerpunkt der offerierten politischen Handlungsstrategien noch auf verschiedenartigen „Tricks“, mit denen sich das Geld aus dem Lande ziehen ließ. Dabei kam es im Wesentlichen darauf an, niemals die äußerste Akzeptanzschwelle zu überschreiten – denjenigen Punkt nämlich, an dem das finanzielle „Schröpfen“ des Landes zu Widersetzlichkeiten oder gar zur Steuerrebellion der Untertanen führen musste. Die Auswege aus dem finanziellen Dilemma, die hier vorgeschlagen wurden, beschränkten sich demgemäß noch darauf, neue, aber kunstvoll verdeckte Steuern zu erfinden, welche die Wut der Steuerpflichtigen nicht allzu sehr entfachen würden. Dazu zählte etwa die Akzise, eine Verbrauchssteuer, die vom Verkäufer zu entrichten war, der sie seinerseits mehr oder weniger unbemerkt auf seinen Verkaufpreis aufschlagen konnte.34 Spätestens am Ende des 17. Jahrhunderts begann sich jedoch in dem nunmehr bereits von merkantilistischen Vorbildern in England und Frankreich beeinflussten politischen Schrifttum in Deutschland die Auffassung durchzusetzen, dass sich der Fürst auf keinen Fall damit begnügen dürfe, der durch militärische Rüstung oder aufwändige Hofhaltung verursachten Finanzmisere allein mit Steuererhöhungen zu begegnen. Er sollte darauf vielmehr mit dem Versuch reagieren, im Lande selbst die Produktion abschöpfungsfähigen Reichtums zu erhöhen. Das politische Patentrezept, das dem Fürsten ausreichende finanzielle Mittel versprach, lautete: Der Fürst muss zuerst, bevor er die Steuerschraube anzieht, für möglichst viel Reichtum im Lande sorgen, den er sodann – aber auch erst dann – steuerlich abschöpfen mag.35 Es liegt nahe, dass sich auf diese Weise das Verständnis von der Struktur und Funktion der politia ganz allmählich, aber grundlegend veränderte. Sie wurde nun zunehmend unter dem Gesichtspunkt einer bestimmten EigenInstituts für europäische Rechtsgeschichte, Bd. 176), Frankfurt am Main 2004, S. 1–28. 34 Schwennicke, Ohne Steuer kein Staat, S. 291 f. und S. 306 ff. (Fn. 32); Fritz Karl Mann, Steuerpolitische Ideale. Vergleichende Studien zur Geschichte der ökonomischen und politischen Ideen und ihres Wirkens in der öffentlichen Meinung 1600–1935, Stuttgart/New York 1978, S. 50 ff. 35 Simon, Policey, S. 465 ff. (Fn. 9).

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schaft betrachtet, nämlich als Quelle der fürstlichen Einkünfte. Wie das Haus seine Bewohner ernährt, so wurde nunmehr erwartet, dass das Land die materiellen Mittel hervorbringe, welcher die Regierung für ihre Zwecke bedurfte. Auf diese Weise erlangte die politia in ihrer politiktheoretischen Einschätzung die Eigenschaft eines Haushaltes, einer großen Ökonomie, die nach ökonomischen, und d.h. vor allem am Ziel der Produktivität ausgerichteten Kriterien zu organisieren und zu leiten war. Politischer Verband und Hausverband glichen sich auf diese Weise unter funktionalem Aspekt einander an, weil nun beide darauf fokussiert waren, „Reichtum“ hervorzubringen. Die politia wurde demzufolge auch mehr und mehr als ein soziales System empfunden, dessen Strukturen in Analogie zu einem ökonomischen System verstanden werden müssten, nämlich als einheitlicher Sachzusammenhang, in dem alle reichtumsschöpfenden Faktoren des Landes zu einem einheitlichen sächlichen Substrat des sozialen Systems Policey zusammengefasst seien. Wird aber die Policey selbst zu einem Haushalt, einem „Super-Oikos“, dann lässt sie sich auch besser in ökonomischen Kategorien beschreiben. Und weil ein Haushalt nach ökonomischen Grundsätzen zu führen war, musste es nun auch die Ökonomie sein, der die Grundsätze der Führung und Steuerung des sozialen Systems entnommen wurden. Die Frage, auf welchem Wege und mit welchen Mitteln der Staat die Ziele seines Handelns und den Zweck seiner Existenz erreichen kann, wurde auf diese Weise ein Problem richtigen Wirtschaftens. Der Anwendungsbereich der Ökonomie wurde dadurch auf den Raum des Landes ausgedehnt. Die dadurch „politisch“ gewordene Ökonomie beschäftigte sich mit den Mitteln, mit denen das Primärziel, die securitas publica, erreicht werden konnte. Das wesentliche Instrument zur Erreichung dieses Ziels war die Macht des Fürsten bzw. des „Staates“. Macht wurde dabei im Wesentlichen pekuniär verstanden, weil die Handlungsfähigkeit des Staates aus der Sicht der neuen, „politischen“ Ökonomie entscheidend vom Geld abhing. Sie war demnach um eine bestimmte Strukturierung des Gemeinwesens bemüht, das nunmehr als ein ökonomisches System ins Auge gefasst wurde und so gestaltet werden sollte, dass die Erwirtschaftung optimaler Steuererträge möglich wurde. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erwuchs aus ihr die sog. Kameralwissenschaft, die Wissenschaft von der „großen Wirtschaft des Staates“.36 Kameralwissenschaft war im 18. Jahrhundert die in Deutschland übliche Bezeichnung für die Politische Ökonomie. In dieser Bezeichnung offenbart 36 Johann Heinrich Gottlob Justi, Staatswirtschaft oder Systematische Abhandlung aller Oekonomischen und Cameralwissenschaften, 1. Teil, Vorrede, 2. Auflage, Leipzig 1758 (ND Aalen 1963), S. XXXV; zu Justi vor allem Marcus Obert, Die naturrechtliche „politische Metaphysik“ des Johann Heinrich Gottlob von Justi (1717–1771), Diss. Frankfurt am Main 1991.

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sich die ursprüngliche Ausrichtung dieser Disziplin an den Interessen der fürstlichen „Kammer“, der Finanzverwaltung des Fürsten, der auch der Einzug der Steuern oblag. Die Kameralwissenschaft war die Wissenschaft von den Bedingungen fürstlichen Reichtums und damit auch eine Lehre von den Bedingungen fürstlicher Macht. Wichtigste Bedingung war dabei der Wohlstand der Untertanen, denn nur bei wohlhabenden Untertanen ist der steuerliche Zugriff des Staates wirklich ertragreich. Demgemäß behandelt die Kameralwissenschaft in erster Linie die Bedingungen gesellschaftlichen Wohlstandes und dessen sachgerechte steuerliche Abschöpfung. Die steigende Bedeutung der Ökonomie als einer Wissenschaft, die auch für die Gestaltung des politischen Raums maßgebend ist, kommt in der universitären Etablierung der Kameralwissenschaft deutlich zum Ausdruck; im Gewande der Kameralwissenschaft wird die Ökonomie im Laufe des 18. Jahrhunderts auch an den Universitäten salonfähig. Obwohl der preußische König Friedrich II. einer universitären Vermittlung kameralistischen Wissens recht skeptisch gegenüberstand, weil er bei solch einem evident anwendungsbezogenen Fach eine praktische Ausbildung „vor Ort“ für sinnvoller hielt,37 war es gerade Preußen, wo die Ökonomie in Deutschland zuerst in die Reihe der Universitätsfächer ausgenommen wurde: Im Jahre 1727 wurden an den Universitäten Frankfurt an der Oder und Halle eigene kameralwissenschaftliche Lehrstühle eingerichtet; im Laufe des 18. Jahrhunderts folgen zahlreiche weitere Universitäten im Reich diesem Beispiel.38 Das 1717 erschienene Project der Oeconomie von Christian Heinrich Amthor39 stellt eine der ersten systematischen Stoffgliederungen des neuartigen Wissensfeldes der Politischen Ökonomie dar. Sie ist mit den seit Anfang des 18. Jahrhunderts zu verzeichnenden Bemühungen in Verbindung zu bringen, auch die Ökonomie als respektables Universitätsfach zu etablieren. Die Schrift verfolgte in erster Linie den Zweck, den Nutzen wissenschaftlich betriebener Ökonomie zu erweisen, die daher über ihre bislang rein praktische Vermittlung hinaus auch in den Universitäten ihren Platz 37 Bernd Schminnes, Bildung und Staatsbildung. Theoretische Bildung und höhere Staatsverwaltungstätigkeit. Entwicklungen in Preußen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Kleve, 1994, S. 67; Hans Haussherr, Verwaltungseinheit und Ressorttrennung vom Ende des 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Berlin 1953, S. 79 ff. 38 Stolleis, Geschichte I, S. 374 ff. (Fn. 15); Klaus Hinrich Hennings, Aspekte der Institutionalisierung der Ökonomie an den deutschen Universitäten, in: Norbert Waszek (Hg.): Die Institutionalisierung der Nationalökonomie an deutschen Universitäten. Zur Erinnerung an Klaus Hinrich Hennings (1937–1986), St. Katharinen 1988, S. 42–54; Keith Tribe, Strategies of Economic Order. German Economic Discourse, 1750–1950, Cambridge 1995, S. 8. 39 Publiziert unter dem Pseudonym Anastasius Sincerus, Project der Oeconomie in Form einer Wissenschafft, Frankfurt/Leipzig 1717.

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finden müsse; sie stellt zugleich einen Ausbildungsplan dar, der bei der universitären Lehre der Ökonomie zugrunde gelegt werden sollte.40 In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts folgten weitere derartige Programmschriften, unter denen vor allem die „Einleitungen“ von Dithmar und Gasser zu nennen sind;41 Dithmar und Gasser waren die Inhaber der ersten kameralwissenschaftlichen Lehrstühle in Preußen. Ein Blick in die Stoffgliederung von Amthor offenbart den zu Beginn des 18. Jahrhunderts neuen Anspruch der Ökonomie, nunmehr auch Aussagen genuin politischer Natur machen zu können. Amthor unterscheidet drei Formen der Haushaltung, der Ökonomie: Zum einen den Privathaushalt (oeconomia privatorum), sodann die Ökonomie „ganzer Städte und Länder (oeconomia publica sive universitatum)“ und schließlich als dritte Größe die Ökonomie „eines Regenten“, das ist die oeconomia Regia sive Principis.42 Wegen ihrer unterschiedlichen Größe und Funktion bedarf jede einzelne dieser drei Ökonomien einer jeweils eigenen Steuerungslehre. Demzufolge unterliegt die Wissenschaft von der Ökonomie einer Dreiteilung, die sich aus der Eigenart des jeweils zu bewirtschaftenden sozialen Systems ergibt: Privat-Ökonomie, Landes-Ökonomie und Cameral-Ökonomie. Für jede der drei sozial-ökonomischen Größen entwickelt Amthor dann im Folgenden die Ordnungsgrundsätze, die den Wirt bei der Führung der jeweiligen Ökonomie anleiten sollten.43 Zunächst wird die „Oeconomie eines privati“ behandelt:44 Hier wird die Ökonomie im älteren Sinne weitergeführt, also die Lehre von der Führung eines eigentlichen Haushalts und der ihm zugeordneten Hausgemeinschaft, bestehend aus Eheleuten, Kindern und Gesinde. Neben dieser „Privat-Öko40 Rüdiger vom Bruch, Wissenschaftliche, institutionelle oder politische Innovation? Kameralwissenschaft – Polizeiwissenschaft – Wirtschaftswissenschaft im 18. Jahrhundert im Spiegel der Forschungsgeschichte, in: Norbert Waszek (Hg.): Die Institutionalisierung der Nationalökonomie an deutschen Universitäten. Zur Erinnerung an Klaus Hinrich Hennings (1937–1986), St. Katharinen 1988, S. 77–108, hier S. 94. 41 Justus Christoph Dithmar, Einleitung in die Oeconomische Policei- und Cameral-Wissenschaften. Nebst Verzeichniß eines zu solchen Wissenschaften dienlichen Bücher-Vorraths und ausführlichem Register. Neue vermehrte Edition, Frankfurt an der Oder 1745; Simon Peter Gasser, Einleitung zu den Oeconomischen Politischen und Cameralwissenschaften, Halle 1729 (ND Glashütten 1970). Zuvor hatte Dithmar 1727 bereits ein „Programm von der ihme gnädigst anvertrauten Profession der Cameralwissenschaften“ verfasst. 42 Amthor, Project, § 10 (Fn. 39). 43 Klaus Lichtblau, Stw. „Ökonomie, politische“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Sp. 1163–1173, hier Sp. 1163; Gunnar Stollberg, Zur Geschichte des Begriffs ‚Politische Ökonomie‘, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 192 (1976), S. 1–17, hier S. 7; Simon, Entstehungsbedingungen (Fn. 33). 44 Amthor, Project, Cap. II, § 30 (Fn. 39).

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nomie“ steht nun aber die „Landes-Oeconomie“:45 Sie stellt eine auf das Land bezogene ökonomische Handlungslehre dar. Amthor zufolge besteht sie „in drey Haupt-Puncten“: Der „Peuplierung“ des Landes,46 der Sorge um wohlhabende Untertanen-Haushalte47 und endlich darin, „die Einwohner und deren Vermögen, durch heilsame Policey-Ordnungen im Stande und bey gutem Aufnehmen zu erhalten“.48 Die ökonomischen Handlungsziele bestehen also primär darin, die im Lande lebenden Menschen als dessen reichtumsschöpfenden Faktor durch Förderung der Geburtenquote und der Einwanderung zu vermehren, die Produktivität der Untertanen zu fördern und schließlich darin, eine politische Rahmenordnung zu konstituieren, welche die beiden erstgenannten Ziele tragen konnte. Aus der solchermaßen umschriebenen „Landes-Oeconomie“ wird sich dann im Laufe des 18. Jahrhunderts die sog. Policeywissenschaft als eine Teildisziplin der Kameralwissenschaft entwickeln.49 Es ist die Lehre richtiger „Dirigierung des Policey-Wesens“ unter dem Gesichtspunkt ökonomischer Effizienz. Sie geht von der Frage aus, „wie der Staat einzurichten sey, wenn dessen Unterthanen in dem Stand seyn sollen, ihre jährlichen Einkünfte zu erhalten und vernünftig zu vermehren“. Sie hatte also die allgemeinen politischen Rahmenbedingungen für Wirtschaftswachstum aufzuklären. Als „Dritter Theil der politischen Oeconomie“50 wird dann von Amthor schließlich die „Oeconomie eines Fürsten“ behandelt – eine Leitungs- und Organisationslehre für den fürstlichen Haushalt und die zugehörigen Kammergüter.51 Denn die fürstliche Kammer, aus der sich dann später die staatliche Finanzverwaltung heraus entwickeln sollte, war zugleich auch die „Abschöpfungsbehörde“, die einen Teil der in der oeconomia universalis des Landes erzielten Gewinne über die Steuer einzog. In diesem Teil der Politischen Ökonomie war demgemäß die wirtschaftspolitisch sachgerechte Besteuerung der in der oeconomia universalis zusammengeschlossenen Einzelhaushalte, der Einzug der Gelder und ihre ökonomisch sinnvolle Verwen45 Amthor, Project, Cap. II, § 34 (Fn. 39): „so da handelt von der Oeconomie gantzer Städte und Länder“. 46 Amthor, Project, Cap. II, § 35 (Fn. 39): „Wie ein Land Volck-reich zu machen?“. 47 Amthor, Project, Cap. II, § 36 (Fn. 39): „Wie die Einwohner eines Landes reich und wohlhabend werden mögen?“. 48 Amthor, Project, Cap. II, § 37 (Fn. 39). 49 Vom Bruch, Innovation (Fn. 40); Simon, Policey, S. 440 ff. (Fn. 9). 50 Amthor, Project, Cap. III, § 39 (Fn. 39). 51 Amthor, Project, § 41 (Fn. 39): „Wie der Hoffstaat vortheilhaftig einzurichten.“ Hier wird alles behandelt, was zur „herrschaftlichen Wohnung, Kleidung und Speise gehöret“, die gesamte Organisation des Hofwesens einschließlich aller Chargen, die zu einem würdigen Fürstenhof üblicherweise gehören.

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dung zu erörtern; daraus entstand im Laufe des 19. Jahrhunderts die moderne Finanzwissenschaft.52 Seit dem 17. Jahrhundert gab es somit einen breiten Überschneidungsbereich zwischen Ökonomie und Politik: Beide gaben nun gleichermaßen Anweisungen zur Steuerung des sozialen Systems Land. Damit gerieten sie aber auch in ein „schwieriges Verhältnis“ zueinander, denn ihre Sachbereiche ließen sich jetzt nicht mehr in der früheren Eindeutigkeit über das jeweils behandelte soziale System von einander abgrenzen. Im 18. Jahrhundert wird die Ökonomie aber ihre einst größere Schwesterdisziplin überflügeln und ihr allenfalls ein Nischendasein belassen, denn auf die nunmehr entscheidende „politische“ Frage nach den Grundlagen fürstlicher Macht schien nur noch die Ökonomie weiterführende und erfolgversprechende Strategien politischen Handelns parat zu haben. Nur sie schien wirklich präzise auf die Frage antworten zu können, wie man die „große Wirtschaft des Staates“ zu führen hat, damit dort abschöpfungsfähiger Reichtum, die Grundlage staatlicher Macht, entsteht. Aber es waren neben der Ökonomie auch noch andere Disziplinen, die sich in das bis dahin ganz von der Politik beherrschte Terrain hinein ausweiteten. Ein weiterer Teil des einst von der Politik besetzten Themenfeldes wurde nämlich hinfort vom Naturrecht in Anspruch genommen. Das betraf vor allem denjenigen Teil der traditionellen Politiklehre, der die Legitimierung und Begründung staatlicher Herrschaft und die Rechtfertigung ihres Unterwerfungs- und Gehorsamsverlangens beinhaltet hatte. Diese Fragen wurden seit dem 17. Jahrhundert auf der Grundlage eines neuartigen methodischen Ansatzes und mit neuen Antworten vom Naturrecht beantwortet.53 Im Gegensatz zur Politik war das Naturrecht dem damals zeitgemäßen Methodenideal des Rationalismus verpflichtet,54 so dass es das Phänomen staatlicher Herrschaft moderner und für das Publikum einleuchtender rechtfertigen konnte.55 Die Politik hingegen hatte sich als eine praktische Handlungslehre verstanden und wurde demnach in der Wissenschaftslehre der 52 Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Auflage, München 1980. 53 Stolleis, Geschichte I, S. 291 f. (Fn. 15); Hans Erich Bödeker, Das Staatswissenschaftliche Fächersystem im 18. Jahrhundert, in: Rudolf Vierhaus (Hg.): Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 1985, S. 143–162, hier S. 147. 54 Hierzu eingehend Thomas Behme, Samuel von Pufendorf: Naturrecht und Staat, Göttingen 1995, S. 25 ff.; grundlegend Paul Hazard, Die Krise des europäischen Geistes, Hamburg 1965, S. 55 f. 55 Dazu Brückner, Staatswissenschaften, S. 153 ff. (Fn. 8); zum Verhältnis von Naturrecht und Politiklehre siehe Diethild Maria Meyring, Politische Weltweisheit. Studien zur deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts, Diss. Münster 1965, S. 16 ff.; Behme, Pufendorf, S. 165 ff. (Fn. 54).

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frühen Neuzeit als eine Form der „Klugheit“ (prudentia), nicht hingegen als eine Wissenschaft, als eine scientia qualifiziert. Die scientiae – und nur diese – waren es indessen, die nach dem rationalistischen Wissenschaftsverständnis dieser Zeit mathematisch sicheren Erkenntnisgewinn versprachen. Die Klugheitslehren der prudentiae boten zwar praktisch nachvollziehbare Regeln klugen Handelns, aber sie konnten keine mathematisch ableitbaren Aussagen machen, denn sie argumentierten auf der Ebene nicht exakt beweisbarer, sondern nur wahrscheinlicher Richtigkeit.56 Die Aussagen des Naturrechts wurden demgegenüber mittels einer Abfolge logischer Schlüsse more geometrico aus einem Arsenal von Obersätzen abgeleitet, die sich ihrerseits zwingend aus der Natur des Menschen zu ergeben schienen. Verglichen damit erschien die Politik hoffnungslos überholt und veraltet und dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass die Politik noch im 17. Jahrhundert einen Großteil ihrer Aussagen unter unmittelbarem Rückgriff auf das Schrifttum antiker Autoritäten untermauerte. Die Sechs Bücher zur Politik von Justus Lipsius etwa, ein in ganz Europa verbreitetes und berühmtes Buch zur Politik, stellen geradezu eine Montage antiker Textsequenzen dar, die von Lipsius in kunstvoller Weise zu einem neuen Ganzen zusammengefügt wurden.57 Das Werk genoss noch zu Beginn des 17. Jahrhundert ob seiner profunden Gelehrsamkeit höchstes Ansehen, da es die Vertrautheit des Verfassers mit den als autoritativ akzeptierten Texten der Antike bewies, zog dann aber den Spott des Aufklärungszeitalters auf sich, weil nun als Ausbund von Autoritätsgläubigkeit und Zitatenklauberei erschien, was zuvor bewundert worden war. Symptomatisch hierfür ist das harsche Urteil, das Christian Thomasius über die Politiklehre seiner Zeit fällte, der er augenscheinlich kaum noch irgendetwas Sinnvolles abgewinnen konnte: Ihre Methode richte sich viel zu sehr „nach der albernen Aristotelischen Politic“ und sei mit „schulfüchsischen allegatis ex Platone, Aristotele oder wohl gar aus dem utroque Jure verhuntzet“. Daher habe man sich bisher, so Thomasius weiter, mit vollkommen „falschen oder grillenhaften und unnützen Lehr-Sätzen oder Fragen in der Politic geschleppet“.58 Zu alldem kam schließlich hinzu, dass das Naturrecht gegen Ende des 18. Jahrhunderts immer stärker die rechtlichen Begrenzungen staatlichen 56 Zu dieser Form des Wissens Merio Scattola, Prudentia se ipsum et statum suum conservandi: Die Klugheit in der praktischen Philosophie der frühen Neuzeit, in: Friedrich Vollhardt (Hg.): Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, Tübingen 1997, S. 333–363, hier S. 335 ff. 57 Zu Lipsius vor allem Martin van Gelderen, Holland und das Preußentum: Justus Lipsius zwischen niederländischem Aufstand und brandenburg-preußischem Absolutismus, in: Zeitschrift für historische Forschung 23 (1996), S. 29–56. 58 Christian Thomasius, Vernünftige und Christliche aber nicht scheinheilige Thomasische Gedanken und Erinnerungen über allerhand Gemischte Philosophische und Juristische Händel. Erster Teil, 7. Abhandlung, § 11, Halle 1723, S. 216 ff.

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Handelns akzentuierte59 – ein Aspekt, für den sich gerade das Publikum des Aufklärungszeitalters zunehmend interessierte, der aber von der traditionellen Politiklehre kaum behandelt worden war. Für die Politik blieb demzufolge nur noch ein schmaler Bereich zwischen Naturrecht und Ökonomie. Sie wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einem Fossil innerhalb des Fächerkanons; an den Universitäten wurde sie nun vielerorts von den Kameralwissenschaften verdrängt.60 Nunmehr in Abgrenzung zu den anderen Fächern mit politischem Bezug auch „Statistik“, „Staats-“oder „Regierkunst“61 genannt, schrumpften das Themenfeld und die Bedeutung der Politik; es war hauptsächlich noch die alte Fragestellung nach der securitas und der Herrschaftsbehauptung, die sie weiterführte. Ihr Schwerpunkt lag im 18. Jahrhundert daher mehr auf dem Feld der Außenpolitik, weil hier die überlieferten Machtstrategien ihre Bedeutung behielten, während sie im Inneren mit der steigenden faktischen Befriedung der Staaten entweder gegenüber den neuen ökonomischen Fragestellungen an Relevanz verloren oder aber von naturrechtlicher und publizistischer Seite verrechtlicht wurden. Im 19. Jahrhundert verliert die Politik deutlich an Gewicht; viele Fragestellungen werden dann von der Volkswirtschaftslehre und dem Staatsrecht weitergeführt. Obgleich auch die Ökonomie ursprünglich nicht mehr als eine prudentia war, hierin ihrer politischen Schwesterwissenschaft ganz entsprechend, hat dies den raschen Aufstieg dieser Disziplin nicht gehemmt, zumal die Ökonomie im Gegensatz zur Politik kaum irgendwelchen Traditionsballast mit sich führte. Denn anders als Letztere konnte die Ökonomie nicht auf irgendwelches antikes Schrifttum zurückgreifen, auf das sich ihre Aussagen hätten stützen lassen: Zur staatlichen Wirtschaftsförderung fand sich nichts bei den „Alten“. Die Aussagen der Kameralwissenschaftler basierten demnach viel weniger als bei der Politik auf der Auslegung und Auswertung tradierter Texte, sondern auf praktisch-technischem Erfahrungswissen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermehrte sich das technisch-ökonomische Wissen dann so schnell, dass die Kameralwissenschaft in eine ganze Reihe selbständiger Einzeldisziplinen, darunter vor allem die Betriebs- und die seitdem sog. Volkswirtschaftslehre zerfiel.62 Erstere setzte 59 Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976, S. 94; ders., Der liberale Interventionsstaat. Staatszweck und Staatstätigkeit in der Deutschen politischenTheorie des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Heiner Lück (Hg.): Recht und Rechtswissenschaft im mitteldeutschen Raum. Symposion für Rolf Lieberwirth anlässlich seines 75. Geburtstags, Köln u. a. 1998, S. 77–103, hier S. 80 f. 60 Maier, Verwaltungslehre, S. 179 f. (Fn. 52). 61 „Statistik“ wird zu Beginn des 18. Jahrhunderts synonym verwendet mit „Regierkunst“; Dreitzel, Aristotelismus, S. 149, Fn. 65 (Fn. 15).

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die Tradition der „Privat-Ökonomie“, Letztere hingegen diejenige der „Landes-Ökonomie“ fort. Allerdings wurden nun bei der Volkswirtschaftslehre vollkommen andere Modelle und Erklärungsansätze für die „große Wirtschaft des Staates“ wirksam: Hatte man sich früher, unter der Ägide der Kameralwissenschaft, das Land als einen Super-Oikos, also als eine einfache zentral geleitete Wirtschaft vorgestellt, so tritt nun die tonangebende Vorstellung des „Marktes“ an deren Stelle.

62 Daneben gehen auch die Agrar- und die Finanzwissenschaft aus der alten Kameralwissenschaft hervor; Maier, Verwaltungslehre (Fn. 52).

Zur Logik ökonomischen und politischen Handelns1 Von Julian Nida-Rümelin Im Folgenden möchte ich einen Vergleich zwischen zwei Handlungslogiken vornehmen, der ökonomischen und der politischen. Dabei werden nicht empirische Befunde ausgewertet, sondern Begriffsrahmen (conceptual frames) gegenübergestellt. Wer will, kann hier auch von Paradigmen sprechen, auch wenn er damit in einen Gegensatz zu der Verwendung dieses Begriffs durch Thomas S. Kuhn geriete, weil die Unvergleichbarkeit für Kuhn Teil des Paradigmenbegriffs ist. Wir werden aber nicht nur vergleichen, sondern am Ende sogar einen Integrationsversuch unternehmen. Der Vortrag gliedert sich in drei Teile. Ein erster stellt ökonomische, ein zweiter politische Handlungslogiken gegenüber und zwar auf beiden Seiten im Plural: Es gibt mehrere ökonomische und es gibt mehrere politische Handlungslogiken. Ein dritter Teil unternimmt den Versuch einer Integration. Dieser Versuch verbindet Kohärentismus, Realismus und Normativismus miteinander. I. Paradigmen des Politischen Im Laufe der Geschichte des politischen Denkens wurde das Politische recht unterschiedlich charakterisiert. Schon mit den beiden großen Denkern der griechischen Klassik, Platon und Aristoteles, stehen sich zwei Paradigmen gegenüber. Für Platon ist politisches Handeln Erkenntnis-orientiert und die diese Auffassung des Politischen stützende Anthropologie ist intellektualistisch, d.h. sie nimmt an, dass die richtige Einsicht ausreicht, um richtig zu handeln. Obwohl das Politische im Mittelpunkt des platonischen Denkens steht, entbehrt es jeder Besonderheit.2 Richtiges oder gerechtes 1 Dieser Text war als erster Vortrag der Tagung „Politik und Ökonomie. Komplementarität oder Konflikt?“ der Karl-Franzens-Universität Graz am 26./27. Mai 2006 gedacht. Dieser Vortrag musste dann wegen der Geburt unserer zweiten Tochter ausfallen. Ich bin Peter Koller dankbar, dass er mir dennoch angeboten hat, diesen Text in die Proceedings der Tagung aufzunehmen. Obwohl nicht gehalten, ist der Text für den mündlichen Vortrag, nicht für den schriftlichen Aufsatz gedacht. 2 Deutlich belegen dies die drei großen Gleichnisse aus der Politeia, insbesondere das Höhlengleichnis, welches zeigt, dass theoretische Erkenntnis Grundbedingung für Gerechtigkeit ist; vgl. Platon, Sämtliche Dialoge, Band V: Der Staat, neu über-

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Handeln ist auf das Gute, die eudaimonia, gerichtet und diese stellt sich ein, wenn die Einzelteile der Seele bzw. die Einzelteile der Polis in einem harmonischen Verhältnis zueinander stehen. Sophrosyne ist eine Tugend aller Teile, während andreia die Tugend des disponierenden und sophia die Tugend des lenkenden Teils ist. Der zentrale Wert des aristotelischen Vollbürgers im doppelten Sinne – volles Wahlrecht und in den Angelegenheiten der Polis bewandert und engagiert – ist Autarkie. Diese schließt es aus, dass der an der Spitze der Hierarchie innerhäuslicher Herrschaftsverhältnisse stehende, freie, männliche Vollbürger sich äußeren Herrschaftsverhältnissen unterwirft. Seine Freiheit steht nicht zur Disposition, auch nicht in der Polis.3 Die Grundlage politischen Handelns ist daher, modern gesprochen, bürgerliche Kooperationsbereitschaft, oder in Aristoteles’ Begriff politische philia, die Freundschaftsbande, die die freien männlichen Haushaltsvorstände miteinander als Mitglied einer Polis verbindet.4 Die Zusammenarbeit ist freiwillig, sie ist motiviert durch die Anteilnahme an den Angelegenheiten des Stadtstaates und sie verschafft dem Einzelnen erst die Würde und Anerkennung, die ihm als polites zukommt. Der reine Privatmann, idiotes, gilt Aristoteles daher als eine Schrumpfform menschlicher Existenz. Der Bruch mit dem alten, aristotelischen, durch Thomas von Aquin geprägten Denken der Spätantike vollzieht Thomas Hobbes, indem er die politische Herrschafts- und Friedensordnung lediglich über die Interessen ungeselliger und eigenorientierter Individuen rechtfertigt.5 Für ihn gibt es keine Herrschaft von Natur aus (wie bei Aristoteles in den drei Herrschaftsbeziehungen des oikos, des Mannes über die Frau, der Eltern über die Kinder, der Freien über die Sklaven), es gibt keine gottgewollte natürliche Ständeordnung, sondern nur noch den Eigennutz und die Angst, die Konkurrenz um knappe Güter mit dem eigenen Tod zu bezahlen. Das Hobbes’sche Paradigma politischen Handelns ist zugleich absolutistisch, liberalistisch und rationalistisch. Es rechtfertigt die Konzentration der Gewaltmitsetzt und erläutert von Otto Apelt, Hamburg 1998, 514a–519b. Auch Platons Forderung nach der Herrschaft der Philosophen kann in diesem Sinne verstanden werden; vgl. Platon, ebd. 473d). 3 Zur Konzeption des Bürgers bei Aristoteles siehe Aristoteles, Politik, übersetzt und mit erklärenden Anmerkungen versehen von Eugen Rolfes, Hamburg 1990, Buch III, 1–2. 4 Zum besonderen Gewicht der philia bei Aristoteles vgl. Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, Griechisch-Deutsch, übersetzt von Olof Gigon, hrsg. von Rainer Nickel, Düsseldorf/Zürich 2001, Buch VIII, 1, 1155 a 26–28. 5 Als grundlegendes Werk für diesen Bruch vgl. Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hrsg. und eingeleitet von Iring Fetscher, übersetzt von Walter Euchner, Frankfurt a. M. 1984.

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tel in einer Hand ohne normative Bindungen und damit eine Staatsmacht, deren Grenzen durch die Überlebensinteressen der Untertanen gezogen sind (Absolutismus); eine politische Ordnung, die sich auf den Geschäftstrieb, auf die Konkurrenz, den Markt und auf Eigennutz verlässt und diese Dynamik nichtstaatlich steuert (Liberalismus); und sie rechtfertigt die Herrschaft der Zentralgewalt, des Souveräns, unabhängig von Postulaten einer göttlichen, natürlichen oder kosmischen Ordnung. Der Unterschied zwischen dem Hobbes’schen und dem Locke’schen Paradigma politischen Handelns beschränkt sich auf einen, aber zentralen Punkt: Für Hobbes hat der vorpolitische Mensch, der Mensch im status naturalis, lediglich seine Interessen und die spezifisch menschliche Rationalität, die in seiner Fähigkeit zum prospectus und damit in Erwartung und Furcht seine Wurzel hat; während der vorpolitische Mensch bei John Locke schon vor aller politischen Verfasstheit mit Individualrechten, mit Menschenrechten ausgestattet ist, die ihm von Geburt an und unabhängig von Stand und Herkunft zukommen.6 Diese Locke’schen Individualrechte, das Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit und auf Eigentum binden die staatliche Gewalt. John Locke ist Liberalist und Rationalist, aber nicht Absolutist. Der Staat hat die Rechte des Einzelnen zu wahren, sonst wird er illegitim. Die ursprüngliche Freiheit zu wahren oder wiederherzustellen, ist auch das Ziel von Jean Jacques Rousseau.7 Dieses Ziel glaubt er jedoch nur erreichen zu können, wenn neben den bourgeois der citoyen tritt, der sich selbst kollektiv – in Gestalt der Gesetzgebung der Versammlung – bindet und das Gemeinwohl zur Richtschnur seiner Entscheidungen macht. Allen drei Denkern der politischen Moderne ist gemeinsam, dass sie politische Herrschaft und politisches Handeln über individuelle Interessen, Rechte und Freiheiten legitimieren. Der citoyen bleibt frei insofern die politische Entscheidung die volonté générale präsentiert, die der Rousseau’sche Bürger sich zu eigen macht. Dass diese politischen Entscheidungen im Einzelfall gegen seine Interessen als Bourgeois stehen, trübt nur die Freiheit des bourgeois, nicht die des citoyen. Bei Immanuel Kant sichert die rechtliche Verfasstheit politischer Entscheidungen, die so zu treffen sind, als ob sie aus der Zustimmung aller Untertanen hervorgegangen wären, die Autonomie der Bürger.8 Sie verhal6

Vgl. John Locke, Über die Regierung (The Second Treatise of Government), übersetzt von Dorothee Tidow, hrsg. von Peter Cornelius Mayer-Tasch, Stuttgart 2005, § 6. 7 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, in Zusammenarbeit mit Eva Pietzcker neu übersetzt und hrsg. von Hans Brockard, Stuttgart 1977, Buch I, Kap. 1.

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ten sich privat als moralische Akteure so, dass ihre Maximen jederzeit zu einem allgemeinen Gesetz universalisiert werden können und damit die Wahrnehmung ihrer Freiheit mit der Wahrnehmung der Freiheit anderer vereinbar ist; und sie sind als Untertanen Gesetzen unterworfen, die – durch staatliche Sanktionen gestützt – sicherstellen, dass die Willkür des Einzelnen dort ihre Schranken hat, wo sie mit der Freiheit des Anderen kollidieren würde. Es ist der anthropologische und ethische Individualismus, der diese vier Klassiker der politischen Moderne bei allen Unterschieden eint. Der Vertrag ist folgerichtig die gemeinsame Denkfigur zur Rechtfertigung von Herrschaft und politischem Handeln. Was diese Gemeinsamkeit für das Verhältnis ökonomischen und politischen Handels austrägt, wird uns unten noch näher beschäftigen. Wir haben diese unterschiedlichen Paradigmen politischen Handelns anhand von insgesamt sechs Klassikern eingeführt, ich will nun eine andere, über das Spektrum dieser Klassiker hinausweisende Charakterisierung mit Hilfe der folgenden zentralen Begriffe vornehmen: Freundschaft, Eigeninteresse und Forum. Auch die zeitgenössische politische Philosophie ist von Konfliktlinien geprägt, die unterschiedliche Auffassungen zur Zentralität spezifischer normativer Orientierungen repräsentieren. Zugleich erlauben diese Zentralbegriffe politischen Handelns eine systematische Klärung, die hinter den unterschiedlichen Facetten der Klassiker oft verborgen bleibt. 1. Freundschaft Politisches Handeln beruht auf einer besonderen Form der Zusammengehörigkeit, diese kann ethnisch, kulturell, religiös oder politisch gestiftet werden. Die Gegenüberstellung von ethnos und demos bildet dabei zwei Pole eines vielfältigen Spektrums. Bei Aristoteles spielt die Ziviltheologie eine wichtige Rolle, also das Verbindende über gemeinsame religiöse Riten und Gebräuche, die Teilhabe an gemeinsamen Festivitäten, der gemeinsame Besuch von Tragödienspielen, die Heldengeschichten gemeinsamer Vorfahren, die erfahrene besondere Aufmerksamkeit der Götter. Die politische Moderne schien die vorpolitische Zusammengehörigkeit endgültig zu verabschieden. Der Kommunitarismus hat in seinen unterschiedlichen Varianten diese politische Moderne herausgefordert.9 Hier ist die Rede von com8 Vgl. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Werkausgabe Bd. VIII, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 2005, §§ 46 ff. 9 Als grundlegende Werke der kommunitaristischen Tradition vgl. Michael Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge 1982; Michael Walzer, Spheres of Justice. A Defence of Pluralism and Equality, New York 1983; Alasdair

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munities in einem so weiten Sinne, dass diese eine nachbarschaftliche Verbundenheit (neighbourhood), die Schulgemeinschaft bestehend aus Schülern, Lehrern und Eltern, die ethnische Gemeinschaft eines metropolitanen Quartiers, aber auch die gay-community, eine Religionsgemeinschaft oder eine gender identity umfassen können. Die Ausgangsthese besagt, dass das vom Rationalismus und Liberalismus postulierte Individuum, das sich eine politische Ordnung nach seinen Interessen und Freiheitsansprüchen schafft, nicht existiert.10 In eher liberal geprägten kommunitaristischen Ansätzen, wie etwa dem von Michael Walzer, kann diese Zusammengehörigkeit die Form von Sphären (spheres of justice)11 annehmen, die durch unterschiedliche, nicht explizite Regelsysteme konstituiert sind. Der normative Gehalt dieses liberalen, pluralistischen Kommunitarismus beschränkt sich auf das Postulat, dass keine dieser Sphären alle übrigen dominieren sollte, dass die relative Autonomie dieser Sphären gewahrt werden sollte, um Pluralität und Freiheit zu sichern. Das Spektrum geht aber über unterschiedliche relativistische und in der politischen Rhetorik dominierende Varianten des Kommunitarismus bis hin zu identitären, die den nationalen Zusammenhalt über Gottesbezug und Gemeinschaftsbewusstsein herstellen wollen.12 Nationalistische Varianten beschwören die Schicksalsgemeinschaft der Nation seit ihren vorpolitischen, meist ethnisch interpretierten Anfängen, ethnizistische die des Volkes oder gar der Rasse (wie sie sogar die zeitgenössische politische Rhetorik Japans durchziehen), sexistische die enge Verbundenheit der Angehörigen eines Geschlechtes – sei es in der Abwehr und dem Niederringen patriarchalischer Herrschaft (Feminismus), sei es im Stellungskrieg um männliche Privilegien und Herrschaftsansprüche (Maskulinismus) – oder Varianten in Gestalt der besonderen Verbundenheit einer Religionszugehörigkeit, die insbesondere aber nicht ausschließlich in Gestalt des fundamentalistischen politischen Islamismus in der Gegenwart wieder von hoher Aktualität ist.

McIntyre, After Virtue, London 1985; Charles Taylor, Negative Freiheit?, Frankfurt a. M. 1988. 10 Dies ist etwa der Vorwurf Michael Sandels gegenüber der vermeintlich Rawls’schen Auffassung des Individuums als „unencumbered self“; vgl. Sandel, Liberalism (Fn. 9), S. 180 f. 11 Vgl. Walzer, Spheres of Justice (Fn. 9). 12 Vgl. etwa McIntyre, After Virtue (Fn 9); ebenso David Miller, On Nationality, Oxford 1995.

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2. Eigeninteresse Die vorpolitischen Bande sind bestenfalls fragile ideologische Konstruktionen, sie existieren nicht oder reichen jedenfalls nicht hin, um politisches Handeln zu fundieren. In letzter Instanz sind es die Eigeninteressen der Bürgerinnen und Bürger, die das politische System, die politische Ordnung oder auch die politische Gemeinschaft stiften. So politisch destruktiv diese Eigeninteressen in der Konkurrenz um knappe Güter wirken können, so konstruktiv tragen sie eine politische Ordnung, die über geeignete Institutionen Loyalität – im eigenen Interesse – stiftet. Ganz wesentlich dabei sind die beiden Elemente der Kontrolle: die Kenntnis konformen- und nonkonformen Verhaltens in der Bürgerschaft und die Möglichkeit seiner Sanktionierung. Die rechtliche Ordnung repräsentiert nicht lediglich ein gemeinsames Gerechtigkeitsempfinden in der Bürgerschaft, sondern ist als System der Anreize und Abschreckungen zu gestalten, welches das endemische Problem des suckers behebt, der von den politischen Kooperationen profitiert, ohne selbst dazu beizutragen. Morals by Agreement von David Gauthier und dessen zentrales Prinzip, die Minimierung des relativen maximalen Nachteils13, ist ein berühmtes, wenn auch höchst umstrittenes Beispiel. Im Extremfall ist es der Markt individueller Verträge, der die politische Ordnung herstellt, wie bei Robert Nozick. Politisches Handeln als Ausdruck je individuellen Eigeninteresses erlaubt Varianten: Der einmalige kollektive Vertrag, der die politische Ordnung stiftet, wie bei Thomas Hobbes; das Aushandeln einer für Alle akzeptabel erscheinenden Verteilung wie bei David Gauthier; das Ergebnis je individueller Vertragsabschlüsse wie bei Robert Nozick.14 3. Forum Wie die ideale Polis Platons barg auch die reale der griechischen Klassik eine Aporie: Die platonische politeia konnte nicht plausibel machen, was die große Mehrheit der philosophisch Unkundigen bewegen sollte, sich der besseren Einsicht der Wenigen zu fügen. Platon selbst führt seine Leser im Höhlengleichnis in diese Aporie. Die nomoi sind der späte Versuch der – vielleicht resignativen (Sokrates tritt nicht mehr auf) – Auflösung dieser Aporie.15 13 Vgl. die „Minimax Relative Concession“ bei David Gauthier, Morals by Agreement, Oxford 1986, S. 137. 14 Für die Darstellung der verschiedenen Varianten des Eigeninteressen-motivierten Vertrages vgl. Hobbes, Leviathan (Fn. 5); Gauthier, Morals by Agreement (Fn. 13); Robert Nozick, Anarchy, State and Utopia, New York 1974.

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Soweit wir wissen spielte die agora für das Selbstverständnis der PolisBürger in der griechischen Klassik eine zentrale Rolle. Hier sollten die Alle betreffenden Entscheidungen getroffen werden, hier wurden die moralischen Fragen der Polis in den Tragödienspielen verhandelt. Aber gerade die erfolgreichsten der griechischen Stadtstaaten wuchsen auf Grund ökonomischer und politischer Interessen rasch über eine Größe hinaus, die die gleichzeitige Versammlung aller freien Bürger und den geduldigen Austausch politischer Handlungsgründe auf der agora erlaubt hätte. Die Emotionalisierung, die Herrschaft der von den Denkern der Antike gefürchteten polloi, die Scherbengerichte und Todesurteile waren die Folge und der Niedergang der Polis-Demokratie. Das Imperium Alexanders des Großen und die hellenistischen Nachfolgeregime kann man als die historische Antwort auf die Aporie der realen Polis-Kultur interpretieren. Aber die Idee und das Symbol der agora überdauert diesen doppelten Niedergang. Man kann die Diskurstheorie Karl-Otto Apels und Jürgen Habermas’ als zeitgenössische Variante der agora als Paradigma politischen Handelns interpretieren.16 Aber auch Rousseaus Volksversammlung greift diese zentrale Idee der griechischen Polis-Demokratie wieder auf. Die Rolle des Gesetzgebers bei Rousseau macht zudem deutlich, dass es sich hier nicht um eine Versammlung, um einen runden Tisch etwa handelt, sondern um die große Versammlung auf dem Marktplatz, dass auf der Bühne die zentralen politischen Akteure auftreten, ihre Vorschläge unterbreiten und sich der Zustimmung durch das Volk vergewissern.17 Das Volk schreibt keine Gesetze, meint Rousseau, dazu bedarf es eines Gesetzgebers, eines Kundigen, der den Gemeinwillen zu Papier bringt. Totalitäre Bewegungen von links konnten hier anknüpfen: Die Notwendigkeit einer politischen Elite, die die Gesetze formuliert, einerseits und an die Selbstentäußerung des Individuums im Prozess der kollektiven Willensbildung andererseits. In den (links-)liberalistischen Konzeptionen des späten Rawls und des frühen Habermas ist es das medial vermittelte public reasoning, der öffentliche und unter den Bedingungen einer modernen Massendemokratie veröffentlichte Austausch von politischen Handlungsgründen, der den Kern einer demokratischen Ordnung ausmacht. Ohne agora, ohne Forum keine Demokratie. 15 Vgl. Platon, Sämtliche Dialoge, Band VII: Die Gesetze, übersetzt und erläutert von Otto Apelt, Hamburg 1988. 16 Vgl. Karl-Otto Apel, Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt a. M 1988; ebenso: Jürgen Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983, S. 53–126, und ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991. 17 Vgl. Rousseau, Gesellschaftsvertrag (Fn. 7), Buch II, Kap. 6 „Vom Gesetz“ und Kap. 7 „Vom Gesetzgeber“.

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John Rawls hat seine Theorie der Gerechtigkeit in der Hochzeit bürgerlichen – und anti-bürgerlichen – Engagements geschrieben. Ihm ging es eher um die Begrenzung öffentlich ausgetragener politischer Konflikte, wie seine Ausführungen zum Widerstandsrecht belegen18, als um den Bestand einer politischen Öffentlichkeit als solcher. Jürgen Habermas war da von Anbeginn skeptischer, er war sich der Fragilität politischer Öffentlichkeit bewusst und ihrer Gefährdung durch Kommerzialisierung und Entpolitisierung. Die Forumskonzeption politischen Handelns verlangt eine Distanzierung vom eigenen Interesse, ohne vorpolitische Bindungen, ohne „Freundschaft“ vorauszusetzen.19 Mit diesen drei Paradigmen des Politischen – Freundschaft, Eigeninteresse, Forum – sind unterschiedliche Varianten politischer Praxis kombinierbar. Das, was man mit Benjamin Barber als Konzeptionen starker Demokratie versteht20, verbindet die Forumsidee mit der unmittelbaren Beteiligung der gesamten Bürgerschaft an politischen Entscheidungsprozessen. Starke Demokratie ist eine partizipatorische, durch permanente Meinungsbildung und Aktion geprägte Demokratie. Das Forums-Paradigma lässt sich aber auch mit einer Eliten-Theorie der Demokratie, etwa vom SchumpeterTyp verbinden21: Demnach treten unterschiedliche Eliten mit unterschiedlichen Politikvorstellungen in die Öffentlichkeit (das Forum), präsentieren und begründen ihre Vorstellungen und werben um Zustimmung in Gestalt von Wahlakten. Wählen und Abwählen macht den Kern einer so verstandenen demokratischen Ordnung aus. Weder Repräsentativität, noch Partizipation sind für eine Demokratie dieses Typs wesentlich. Auch das InteressenParadigma des Politischen lässt sich mit unterschiedlich starken Varianten politischer Praxis kombinieren. Robert Nozick etwa entwickelt im letzten Teil seiner Schrift22 eine erstaunlich kommunitäre Vorstellung gesellschaftlichen und politischen Lebens. Die anarchistischen Wurzeln des modernen Wirtschaftsliberalismus in Gestalt des Libertarismus sind hier deutlich erkennbar, während sie bei Friedrich August Hayek oder Milton Friedman weitgehend verdeckt bleiben.23 18 Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1975, §§ 55–59. 19 Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt a. M. 1992, Kap 7. 20 Vgl. Benjamin Barber, Strong Democracy, Berkeley 1984. 21 Vgl. Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, München 1972, insbesondere Kap. 22 und Kap. 23 §§ I–II. 22 Vgl. Nozick, Anarchy, State and Utopia (Fn. 14), Part III: Utopia. 23 Den Zusammenhang von Libertarismus und Anarchismus wird in Gestalt eines literarischen Gesprächs von Fernando Pessoa in der Novelle „Der anarchistische Bankier“ auch psychologisch überzeugend entwickelt – Mara Daria Cojocaru hat mich auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht.

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Selbst das Freundschafts-Paradigma des Politischen tritt in der politischen Praxis in vielfältigen Formen auf. In der Frühzeit verbindet sich der Nationalismus in der Regel mit aktivistischen Konzeptionen politischer Praxis. Er versteht sich als revolutionär gegen die überkommene feudale Ordnung gerichtet und stützt sich auf eine Art kulturelle Mobilisierung des Volkes gegen die etablierten Eliten. In seiner späteren, insbesondere in seiner totalitären Phase, wird Politisierung nicht mehr als Teilhabe verstanden. Eine selbsternannte Elite formuliert dann in den meisten nationalistischen Bewegungen die Interessen des Volkes und der Volksgenosse wird in eine dem Ganzen dienende, selbstlose Rolle gedrängt. Alle drei Paradigmen des Politischen sind sowohl mit partizipatorischer, wie mit elitärer politischer Praxis vereinbar. II. Paradigmen des Ökonomischen Die Trias der praktischen Wissenschaften bei Aristoteles – Ethik, Politik und Ökonomik – deckt alle Handlungsfelder menschlicher Praxis ab. Das Ethische ist bestimmt durch Tugenden und Prinzipien des richtigen Umgangs miteinander: Sitte und Brauch, das, was für angemessen gehalten wird, und das, was man als inakzeptabel empfindet, geben die notwendige Orientierung, wissenschaftliche Erkenntnis ist dazu nicht erforderlich. Die Tugenden und Prinzipien der Politik, also der Angelegenheiten, die die Polis betreffen, sind spezifischer, die Gerechtigkeit in ihren unterschiedlichen Formen, einschließlich des Gebots der Gleichbehandlung, spielt dabei eine zentrale Rolle. Schließlich die Ökonomik, also diejenige praktische Wissenschaft, die sich mit der richtigen Führung eines Haushalts befasst, die dafür sorgt, dass die Mittel sparsam eingesetzt werden, dass die verteilten Aufgaben auch verlässlich ausgeführt werden, dass die Herrschaftsverhältnisse nicht ins Wanken geraten. Die ökonomische Wissenschaft ist an ihrem Ursprung eher Betriebswirtschaftslehre als Nationalökonomie, aber das gemeinsame zentrale Motiv dieser dritten praktischen Wissenschaft und dieser heutigen Disziplinen liegt auf der Hand: der sparsame Einsatz von Ressourcen oder, um es mit Max Weber zu formulieren, die Mittel-Zweck-Rationalität. Weder für die aristotelische Ökonomik, noch für die im 18. Jahrhundert sich aus der (Schottischen) Moralphilosophie entwickelnde Nationalökonomie sind die Zwecke beliebig. Ein wohlgeordnetes oikos beruht auf den drei Herrschaftsverhältnissen von Natur, es sichert die Autarkie der Hausgemeinschaft und damit des freien männlichen Bürgers, der dieser Hausgemeinschaft vorsteht. Das wohlgeordnete Haus bedarf nicht beständiger Interventionen, es stellt die Güter des alltäglichen Bedarfs zur Verfügung ohne Abhängigkeiten zu schaffen und es ermöglicht der Familie ein gelun-

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genes Leben, zu dem vor allem hinreichend disponible Zeit für Reflexion und politische Praxis gehört. Das Leben des viel beschäftigten Kaufmanns, der auf Reichtum zielt, ist für Aristoteles nicht vorbildlich. Nur zwei Lebensformen können beanspruchen, gelungen zu sein: Das theoretische, d.h. betrachtende Leben der Wissenschaft und der Reflexion einerseits und das aktive, praktische, sich für die Angelegenheiten der Polis einsetzende Leben des Vollbürgers andererseits.24 Es ist irritierend, dass der so pragmatisch erscheinende Theoretiker der Polis das theoretische Leben noch über das praktische stellt und dies mit der Begründung, dass wir jenes mit den Göttern gemeinsam hätten, dieses aber unserer menschlichen Natur entspräche. Möglicherweise ist es das Motiv der vollkommenen Autarkie, die diese Volte in der Nikomachischen Ethik plausibel macht. Die vollkommene Autarkie ist erst dann hergestellt, wenn die Praxis, das Sich-Kümmern und die damit oft genug einhergehende polypragmosyne, überflüssig wird. Die ökonomische Wissenschaft ist an ihrem Ursprung jedenfalls nicht die Wissenschaft vom Reichtum, sondern die der Beherrschung des Haushalts und der Sicherung der Autarkie. Wenn man so will steht am Ursprung der Ökonomie als Wissenschaft eine satisficing-Konzeption ökonomischer Rationalität.25 Das moderne Verständnis ökonomischen als optimierenden Handelns hat seinen historischen Ursprung im Utilitarismus. Dieser geht aus der Tradition schottischer Moralphilosophie hervor, die handlungsorientiert (also in diesem Sinne pragmatisch) metaphysische Grundlegungsfragen weitgehend ausklammert und damit einen wichtigen Strang der Aufklärung etabliert. Die moral sense Philosophie verlässt sich auf das moralische Alltagsurteil, bettet es in größere Zusammenhänge ein und lehnt jeden hypertrophen Rationalismus der Begründung ab.26 Damit gerät die schottische Moralphilosophie in einen Konflikt zu den teilweise spitzfindigen Kasuistiken theologischer Provenienz, die die Gläubigen in einer permanenten Situation subjektiver Verunsicherung halten. Der aus diesem Kontext hervorgehende Utilitarismus beginnt bei Jeremy Bentham mit der simplen Beobachtung, dass Menschen versuchen, ihre eigene Lust zu fördern und Unlust zu vermeiden. Dieser Gründervater des Utilitarismus glaubt, das Gesamt moralischen Urteilens auf dieses eine Prinzip, allerdings nun abgelöst vom individuellen Akteur und auf die Gesell24 Zur Abwägung zwischen vita contemplativa und vita activa vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik (Fn. 4), Buch X. 25 Vgl. Herbert Simon, A Behavioral Model of Rational Choice, in: Quaterly Journal of Economics (69) 1982, S. 99–118; ebenso ders., Models of Bounded Rationality, Cambridge Mass. 1982. 26 Vgl. Anthony A. C. of Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, übersetzt und eingeleitet von Paul Ziertmann, Leipzig 1905; ebenso Joseph Butler, Fifteen Sermons upon Human Nature, or Man Considered as a Moral Agent, London 1759.

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schaft insgesamt als Nutzen-Summen-Prinzip übertragen, ableiten zu können. Den weiteren Ausbau des utilitaristischen Systems stellt sich Jeremy Bentham szientistisch vor, gestützt auf psychologische und naturwissenschaftliche Forschung und umgesetzt in legislativer Praxis.27 Aber schon John Stuart Mill mildert den Szientismus von Bentham wieder ab, versucht moralische Intuitionen in das utilitaristische System zu integrieren und ist zugleich einer der Pioniere ökonomischen Denkens.28 In seiner Person wird die Verbindung von Rationalität und Aufklärung, die sich gegen eine überkommene klerikal geprägte Moral wendet – Utilitarismus als ein rationales Fundament moralischen Urteilens und Ökonomie als Theorie rationalen wirtschaftlichen Handelns – deutlich. Das utilitaristische Prinzip wird zur Grundlage einer rationalen Kritik überkommener, theologisch imprägnierter Moralvorstellungen. Der alte Gegensatz zwischen Lust und Sittlichkeit wird aufgelöst: Moralisch ist, was die Lustleidbilanz optimiert. Ökonomische Rationalität wiederum stellt sicher, dass die Verfolgung des je individuellen Eigennutzens über die Konkurrenz des Marktes den Wohlstand der Nationen fördert. Erst spätere utilitaristische Theoretiker haben den scharfen Kontrast zwischen einer Rationalität des Eigennutzes und einer Moral der Nutzensummen-Optimierung erkannt. In der Gründungsphase des Utilitarismus schien die Tatsache, dass Menschen ihren eigenen Vorteil suchen (ihre Lustleidbilanz optimieren, um es im Stile Benthams auszudrücken), eine gute empirische Grundlage dafür zu sein, die Maximierung der Nutzensumme zum ethischen Kriterium zu machen. Ebenso schien die Ökonomie, die vom Eigennutz der Marktteilnehmer, der Konsumenten und Produzenten vorangetrieben ist, in einem Prozess der unsichtbaren Hand die Nutzensumme zu optimieren. Die spätere Theorieentwicklung hat die interne Widersprüchlichkeit dieser Elemente herausgearbeitet und damit zur Entscheidung gezwungen: Entweder man versteht das utilitaristische Projekt als eine umfassende Ethik, die sowohl für das individuelle Handeln, wie für die politischen Akteure Leitschnur sein sollte – dann aber darf der utilitaristische Akteur nicht lediglich seinen persönlichen Nutzen im Auge haben, sondern muss diesen in gleicher Weise mit dem Nutzen aller anderen, von seinem Handeln betroffenen Personen aggregieren. Oder aber der Utilitarismus degeneriert zu einer politischen Ethik rationaler Gesetzgebung und verzichtet auf den Anspruch einer allgemeinen Moraltheorie. Dann bliebe immerhin die Restfrage, was den Gesetzgeber dazu bewegen sollte, seinen Eigennut27 Vgl. Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, hrsg. von J. H. Burns und H. L. A. Hart, London 1970. 28 Vgl. John Stuart Mill, Der Utilitarismus, Stuttgart 1991.

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zen zurückzustellen und in diesem einen Feld seines Handelns zum utilitaristischen Akteur zu werden. Trotz dieser internen Widersprüchlichkeit liegt das gemeinsame Grundmotiv von Utilitarismus und moderner Ökonomie auf der Hand. Es handelt sich um das Projekt einer rationalen Grundlegung von Moral und Ökonomie. Rationalität wird dabei als ein großes reduktionistisches Projekt verstanden: Die Vielfalt moralischer Intuitionen wird entwertet und durch ein moralisches Grundprinzip, nämlich das der Nutzensummen-Maximierung, ersetzt (Utilitarismus). Die Vielfalt von Handlungsmotiven wird entwertet und durch ein rationales Handlungsprinzip, nämlich die Optimierung des eigenen Nutzens, des Konsums bzw. des Ertrags, ersetzt (Ökonomie). In der Ökonomie wird der Geldwert zum vereinheitlichenden Maßstab wirtschaftlicher Rationalität. In der Ethik wird der Nutzen interpretiert als zeitliches Zufriedenheits-Integral. Utilitaristische Ethik und moderne Ökonomie beruhen auf einer konsequentialistischen Konzeption von Handlungsrationalität. Moralisch bzw. rational ist es, die Folgen des eigenen Handelns zu optimieren. Regeln spielen für sich genommen keine normativ relevante Rolle. Das, was der Utilitarismus als Intuitionismus kritisiert29, ist nicht nur das Gesamt der theologisch imprägnierten moralischen Meinungen und Vorurteile, sondern auch der deontologische Charakter derjenigen Normen, die moralisches und – wie ich persönlich meine – auch rationales Handeln leiten. Damit geraten die strukturellen Aspekte menschlicher Handlungsrationalität aus dem Blick, die unterdessen im Bereich der Moraltheorie und der politischen Philosophie zu einer Renaissance deontologischer Ansätze geführt haben und die im Bereich der theoretischen und angewandten Spieltheorie zu den bekannten Paradoxa und Dilemmata geführt haben. Ethification of game theory ist eine der Reaktionen im Verlauf der letzten Dekaden. Die deontologische Dimension menschlichen Handelns kehrt auch im Bereich der Grundlagendisziplin der Ökonomie, nämlich der Entscheidungsund Spieltheorie, mit Macht zurück. Der Philosoph Michael Slote hat mit zahlreichen Beispielen dafür argumentiert, dass optimierendes Verhalten häufig irrational anmutet, und umgekehrt, dass nicht-optimierendes Verhalten häufig rational erscheint.30 Wie so viele Kritiker des (ökonomischen) Optimierungs-Paradigma hat er seine Kritik nicht zu einer eigenständigen Alternativtheorie ausgebaut. Die satisficing-Konzeptionen der Rationalität, die auf Herbert Simon zurückgehen und die gegenwärtig etwa im Ökonomie-Nobelpreisträger Reinhard Selten einen eloquenten Befürworter haben, kritisieren das ökonomische Optimie29

Ich verweise auf Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, London 1874. Vgl. Michael Slote, Beyond Optimizing. A Study of Rational Choice, Cambridge Mass. u. a. 1989, insbesondere Kap. 3 „Rational Restrictions on Optimizing“. 30

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rungs-Paradigma und die reduktionistischen Implikationen dieses Paradigmas in der Anwendung der Ökonomie und setzen an dessen Stelle eine Heuristik unterschiedlicher Verhaltensregeln.31 Dieser Pluralismus scheint mir sein Fundament in den lebensweltlich verankerten Handlungsgründen zu haben, die sich gegen eine zu weitgehende Reduktion sperren. Die Vielfalt der von uns als gute Handlungsgründe akzeptierten Motive ist in unsere alltägliche Verständigungs- und Interaktionspraxis tief eingelassen. In Strukturelle Rationalität32 habe ich allerdings zu zeigen versucht, dass die Anerkennung dieser irreduziblen Vielfalt praktischer Gründe das Bemühen um Kohärenz unseres Handelns und Urteilens nicht obsolet macht. Die These struktureller Rationalität besagt, dass wir die strukturellen Aspekte der Handlungsoptionen einbeziehen müssen, um in kohärenter Weise agieren zu können. Behavioral economics gibt das Projekt einer umfassenden Handlungsrationalität zugunsten einer Vielfalt empirischer Befunde auf. Diese Reaktion ist angesichts der Aporien, die die Anwendung des rationalchoice-Paradigmas auf die Empirie ökonomischen und sozialen Verhaltens aufweist, verständlich. Diese Reaktion scheint mir jedoch voreilig zu sein. Ich plädiere für einen kohärentistischen und holistischen Ansatz in der allgemeinen Theorie der Rationalität, der deontologische Aspekte in die Analyse einbezieht. Erst wenn ein solcher Ansatz endgültig scheitern sollte, wäre der Rückzug auf die Vielfalt empirischer Befunde im Sinne einer behavioral economics als Ersatz für eine genuine ökonomische Rationalitätstheorie begründet. III. Kohärentismus Die ökonomische Theorie bietet selbst das Instrumentarium an, um die Engführung des konsequentialistischen Optimierungs-Paradigmas hinter sich zu lassen. Während die alte ökonomische Theorie noch von einem essentialistischen Nutzenkonzept ausging, das etwa durch psychologische Methoden messbar gemacht werden sollte, hat dies die zeitgenössische Ökonomie längst aufgegeben. Der Positivismus des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts hat dabei Pate gespielt: Was nicht messbar ist, darf von einer wissenschaftlichen Theorie nicht als existierend postuliert werden. Der Nutzen im überkommenen Verständnis fiel diesem wissenschaftstheoretischen Postulat zum Opfer. An seine Stelle trat das revealed preference Konzept, d.h. die Vorstellung, dass Präferenzen empirisch zugänglich sind, indem man die betreffende Person vor geeignete Wahlalternativen stellt. 31

Vgl. Gerd Gigerenzer/Reinhard Selten, Bounded Rationality. The Adaptive Toolbox, Cambridge Mass. 2001. 32 Julian Nida-Rümelin, Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft, Stuttgart 2001.

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Ihre Entscheidung offenbart dann die betreffende Präferenz. Der Präferenzbegriff erhält auf diese Weise ein empirisches Fundament, er wird im Sinne des logischen Empirismus „verifizierbar“.33 Der Nutzenbegriff von v. Neumann und Morgenstern – ursprünglich schon der von Frank P. Ramsey34 – ist als eine Repräsentation kohärenter Präferenzrelationen zu verstehen. Das Nutzentheorem besagt nichts anderes, als dass eine Präferenzrelation, die die Eigenschaften der Reflexibilität, Transitivität und Vollständigkeit sowie der Monotonie und Stetigkeit bei probabilistischer Erweiterung erfüllt, auch in der Form dargestellt werden kann, dass jeder Alternative eine reelle Zahl zugeordnet wird, so dass eine Alternative einen höheren Wert als eine andere Alternative genau dann erhält, wenn diese Alternative in der Präferenzordnung vor der anderen rangiert. Diese Zuordnung ist bis auf positivlineare Transformationen eindeutig.35 Dieses Theorem besagt nicht, dass rationale Personen ihren Nutzen maximieren. Es besagt lediglich, dass rationale Personen kohärente Präferenzen haben. Rationalität wird hier nicht über Nutzen, sondern über Kohärenz der Präferenzrelationen definiert. Die Nutzenmaximierung wäre dann nur scheinbar, wenn „Nutzen“ hier substantiell im Sinne der alten Ökonomik verstanden wird. Da über die Präferenzrelation nichts ausgesagt wird, außer dass sie kohärent ist, wissen wir über die Motive der Person, die diese Präferenzen hat, nichts. Das Nutzentheorem setzt keine inhaltliche Bestimmung der Präferenzen voraus. Es setzt auch nicht voraus, dass die Maximierung des Nutzens Motiv des rationalen Akteurs ist. Wer also – und das geschieht auch auf wissenschaftlichen Kongressen und in wissenschaftlichen Zeitschriften – behauptet, das Nutzentheorem von v. Neumann und Morgenstern (oder in anderen Varianten, etwa von Marschak oder Luce und Raiffa) zeige, dass eine rationale Motivation notwendig auf die Maximierung des Erwartungsnutzens gerichtet sein müsse, begeht einen Kategorienfehler.36 Das Grundlagentheorem der zeitgenössischen Ökonomie muss als kohärentistisches Paradigma von Handlungsrationalität gelesen werden. Mit dieser konsequent kohärentistischen Interpretation des Fundamentaltheorems der zeitgenössischen ökonomischen Rationalitätstheorie ergeben sich überraschende Perspektiven für das Verhältnis der ökonomischen und der politischen Handlungslogik. 33 Vgl. Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt. Scheinprobleme in der Philosophie, Berlin 1928. 34 Julian Nida-Rümelin/Thomas Schmidt, Rationalität in der praktischen Philosophie. Eine Einführung, Berlin 2000, S. 34 f. 35 Lucian Kern/Julian Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen, München u. a. 1994, S.17–26. 36 Kern/Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen (Fn. 35), S. 19.

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Wenn das Fundamentaltheorem der modernen Ökonomie kohärentistisch interpretiert wird, ist die ökonomische Rationalitätstheorie mit beliebigen Handlungsmotiven und -gründen vereinbar. Sie ist dann inhaltlich neutral und legt lediglich dem Ergebnis der Deliberation Kohärenzbedingungen auf. Die ökonomische Theorie der Handlungsrationalität ist also, wenn sie konsequent, d.h. kohärentistisch interpretiert wird, vereinbar mit allen oben entwickelten Paradigmen politischer Handlungslogik. Insbesondere setzt sie nicht voraus, dass individuelle Interessen und deren Optimierung das Handeln anleiten. Dieser Befund steht zweifellos im Gegensatz zur üblichen Anwendung des rational-choice-Paradigmas in den Sozialwissenschaften. Greifen wir ein berühmtes Beispiel heraus, das Medianwähler-Resultat. Dieses besagt, dass bei rationalem Verhalten von Wählern und von Parteien die Programme der Parteien sich mit der politischen Auffassung des Medianwählers weitgehend decken.37 Die ökonomische Theorie der Politik kommt zu diesem Ergebnis aufgrund zweier Annahmen. Die erste Annahme besagt, dass Parteien ihre Programmatik Wählerstimmen maximierend gestalten, und die zweite, dass die Wähler jeweils diejenige Partei bevorzugen, die ihnen im Meinungsspektrum am nächsten liegt. Die Willkürlichkeit der Anwendung des rational-choice-Paradigmas liegt auf der Hand: Warum wird angenommen, dass der einzelne Wähler seine persönliche Nutzenfunktion optimiert? Die Anordnung in einem Meinungsspektrum links-rechts muss in keiner Weise mit den persönlichen Präferenzen-Erfüllungen korrespondieren. Aber wenn man schon diese Positionierung im Meinungsspektrum zur Basis des individuellen Optimierungsverhalten macht, warum sollte es dann plausibel sein, dass Parteien nichts anderes tun als Wählerstimmen maximierend zu agieren? Die Parteien bestehen ja ihrerseits aus Mitgliedern, die in besonderer Weise politisch motiviert sind, d.h. die politischen Überzeugungen so wichtig nehmen, dass sie viel Freizeit für ehrenamtliches politisches Engagement investieren. Warum soll nun gerade diesen Menschen das programmatische Profil ihrer Partei unwichtig sein, warum sollen gerade so motivierte Akteure die Programmatik ihrer eigenen Partei lediglich instrumentell als strategisches Mittel der Wählerstimmen-Maximierung einsetzen? Auf Grund langjähriger aktiver Mitgliedschaft in einer Volkspartei kann ich sagen, dass gerade der Gegensatz zwischen den inhaltlichen Positionierungen der mittleren Funktionärskader und der zum Teil stärker instrumentell auf Wählerstimmen-Maximierung ausgerichteten Spitzenkandidaten und Abgeordneten zu beständigen Konflikten führt. Bei kohärentistischer Betrachtung dürfte es keine inhaltlichen Vor-Festlegungen in der 37 Kern/Nida-Rümelin, Logik kollektiver Entscheidungen (Fn. 35), § 7.1., insbesondere S. 112.

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rationalitätstheoretischen Analyse geben. Die Motive für Präferenzen und Gründe für Handlungen selbst sind nicht Gegenstand der Entscheidungstheorie, sondern lediglich die Kohärenz der wie auch immer zustande kommenden Präferenzen. Deliberative Demokratie-Konzeptionen betonen die Rolle von Gründen für politisches Handeln. Eine politische Kultur des öffentlichen Austausches von Argumenten pro und kontra ist für solche Konzeptionen ein zentrales Element jeder Demokratie. Dies scheint mir eine zutreffende Diagnose zu sein. Eine demokratische Ordnung zeigt sich nicht lediglich daran, dass Regierungen abwählbar sind, sondern in den öffentlichen Begründungspflichten politischen Handelns. Das gesamte System politischer Institutionen, die Parlamentsausschüsse, die Sachverständigen-Anhörungen, die Plenarsitzungen, die Rechenschaftspflicht in den Wahlkreisen, die politische Berichterstattung und Kommentierung machen nur Sinn für eine deliberativ verstandene Demokratie.38 Der Wahlakt als solcher, die Möglichkeit, periodisch seine Stimme abzugeben, ist nur ein Element in einem komplexen deliberativen Prozess, in dem die Anwendung der Mehrheitswahlregel zwar eine wichtige, aber keine allein ausschlaggebende Rolle spielt. Die zentrale Rolle der Deliberation für demokratische Ordnungen erübrigt aber nicht Dezision. Auch der intensivste und langwierigste Austausch von Gründen mündet am Ende in eine politische Entscheidung, die in der Demokratie im Rahmen spezifischer Institutionen stattfindet und bestimmten Regeln der Präferenzen-Aggregation gehorchen muss, wenn diese legitim sein soll. Es ist von daher irreführend, Deliberation und Dezision in einen Gegensatz zu bringen und die Resultate der collective-choice-Theorie auf Grund eines deliberativen Konzeptes von Demokratie für irrelevant zu erklären. Im kohärentistischen Rahmen wird dies besonders deutlich: Der begriffliche Rahmen der Entscheidungstheorie ist inhaltlich neutral, er ist mit einer Vielfalt von Gründen und Deliberationsformen kompatibel. Die Deliberation politischer Handlungsgründe und die Aggregation politischer Präferenzen sind zwei jeweils unverzichtbare Elemente einer demokratischen Ordnung.

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Vgl. Julian Nida-Rümelin, Demokratie und Wahrheit, München 2006.

Das Verhältnis von Markt und Politik Von Reinhard Zintl I. Zum Thema Wir sind es einerseits gewohnt, Marktentscheidung und politische Entscheidung als zueinander komplementär anzusehen – und zwar hinsichtlich ihrer jeweiligen sachlichen Zuständigkeiten: Auf Märkten werden Privatgüter nachgefragt und angeboten, in der politischen Arena Kollektivgüter. Zugleich sind wir es aber auch gewohnt, die Beziehung zwischen den beiden Entscheidungsformen als problematisch anzusehen, bis hin zu der Zuspitzung zur Alternative, ob in einer Gesellschaft institutionell der Markt oder die Politik das eigentlich ausschlaggebende Verfahren kollektiver Entscheidung sein solle. Diese Mehrschichtigkeit der Urteile über die Beziehung zwischen Markt und Politik hat ihre Ursache in den Unterschieden der jeweiligen Prozesseigenschaften und ihren Wirkungen auf die Eigenschaften von Entscheidungen. Diese Unterschiede gehen nämlich mit unterschiedlichen Standards der Rationalität und der Gerechtigkeit einher, die einander nicht unter allen Umständen einfach ergänzen, sondern die miteinander im Konflikt liegen können. Das führt dazu, dass wir, ordnungspolitisch gesehen, nicht die Möglichkeit haben, einfach – gemessen an übergreifenden und gemeinsamen Standards der Rationalität und der Gerechtigkeit – eben den einen Prozess für die eine Sorte von Problemen zu verwenden und den anderen Prozess für die andere Sorte von Problemen. Vielmehr entscheiden wir mit der Zuweisung von Zuständigkeiten an das eine oder das andere Verfahren immer zugleich auch über die Wichtigkeit, die wir spezifischen Standards der Gerechtigkeit oder der Verantwortbarkeit jeweils zumessen wollen. Dies soll im Folgenden genauer betrachtet werden. Ich werde nach einer stilisierten Beschreibung der beiden Verfahren kollektiver Entscheidung (II) zunächst den ‚Markt‘ (III) und dann die ‚Politik‘ (IV) jeweils unter zwei Gesichtspunkten betrachten: einerseits unter dem Gesichtspunkt, in welcher Lage sich die handelnden Individuen finden; andererseits unter dem Gesichtspunkt, welchen Charakter die jeweils erzeugten gesellschaftlichen Entscheidungen grundsätzlich haben. Abschließend

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werde ich die möglichen Folgerungen hieraus für die Beziehungen der beiden Verfahren zueinander diskutieren (V). II. Markt und Politik – stilisierte Beschreibungen Der Markt ist die Arena freiwilliger Kooperation. Hier sind die Individuen jenseits des gegenseitigen Respekts, den ihnen die Rechtsordnung abverlangt, nur an solche Verpflichtungen gebunden, auf die sie sich selbst eingelassen haben. Die Politik dagegen ist die Arena herrschaftlicher Entscheidung, denen man sich nicht entziehen kann: Politische Entscheidungen binden die Mitglieder eines Gemeinwesens, weil und solange sie Mitglieder sind, unabhängig davon, ob sie ihnen zugestimmt haben oder nicht, und oft genug auch unabhängig davon, ob sie überhaupt an ihnen mitwirken durften. Zugleich können sich die Individuen auf dem Markt maßgeschneiderte Warenkörbe zusammenstellen, während sie in der politischen Arena typischerweise mit einheitlichen Lösungen leben müssen, die jeweils für die allermeisten Betroffenen nicht ganz ihren spezifischen Bedürfnissen entsprechen. Als Kollektiventscheidungen sind Marktentscheidungen, im Unterschied zu politischen Entscheidungen, implizite Entscheidungen. Sie sind implizit, weil die gesamtgesellschaftlichen Resultate des Prozesses, für die wir uns hier interessieren, in den tatsächlichen Entscheidungen der Akteure selbst als solche keine Rolle spielen: Jeder einzelne versucht sein spezifisches Problem zu lösen. Die Gesamtnachfrage und das Gesamtangebot, die Zusammensetzung und Veränderung des Sozialprodukts, das Wirtschaftswachstum, das Beschäftigungsniveau, die Gleichheit oder Ungleichheit der Einkommen dagegen sind nur in einem übertragenen, nicht aber in einem subjektiven Sinne Entscheidungsgegenstände. Sie kommen auf analysierbare Weise zustande durch die Entscheidungen der Akteure, aber keiner der Akteure hat sie so gewollt und keiner der Akteure hat sie zu verantworten. Politische Entscheidungen sind demgegenüber als explizite Entscheidungen anzusehen: Gesamtzustände sind ihr ausdrücklicher Gegenstand, sie werden von den Beteiligten subjektiv so wahrgenommen, und sie müssen von ihnen verantwortet werden.1 Welches sind nun die zentralen Eigenschaften der Kollektiventscheidungen, die auf die eine oder die andere Weise zustande kommen, was wird durch die Verfahren jeweils berücksichtigt und gefördert, was nicht? 1 Siehe dazu Zintl 2004. Auch politische Entscheidungen können selbstverständlich unintendierte Nebenfolgen haben, aber diese Nebenfolgen sind offensichtlich nicht im gleichen Sinne systematisch analysierbar wie die kollektiven Folgen individueller Entscheidungen auf Märkten.

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III. Die Logik des Marktes 1. Die individuelle Situation: Freiwilligkeit, Unsicherheit, anonymer Zwang Wie oben gesagt, ist der Markt der Ort freiwilliger Kooperation. Nun ist ‚Freiwilligkeit‘ ein Konzept, das je nach den Randbedingungen, die wir annehmen, moralisch sehr Unterschiedliches bedeuten kann. Wir wollen daher vor den weiteren Überlegungen erst einmal kurz betrachten, welche Sorte von Freiwilligkeit auf dem Markt die tragende Rolle spielt. Zumindest drei Konstellationen kategorial unterschiedlicher ‚freiwilliger‘ Kooperation können wir unterscheiden. Einfach liegen die Dinge, wenn alle Beteiligten ihre jeweilige Situation unter vollständiger Kontrolle haben und von hier aus über die Annahme von Kooperationsangeboten anderer Akteure entscheiden – man kann sich hier etwa autarke Individuen vorstellen, deren Eigentumstitel unumstritten sind. In einer so beschaffenen Welt bedeutet Freiwilligkeit der Kooperation die Wahl zwischen dem Verbleiben der Akteure in ihrem Status Quo (Alleingang) und etwaigen Verbesserungen ihrer Lage durch Kooperation mit anderen. Wenn der Status Quo verlassen wird, dann bedeutet das auf jeden Fall eine Pareto-Verbesserung: Einigen oder allen geht es besser als vorher, niemand fährt schlechter. Diese Sorte von Freiwilligkeit ist ethisch gesehen perfekt – sie enthält keinen Hauch von Zwang. Am anderen Ende der Möglichkeiten finden wir eine Situation, in der zumindest einige der Beteiligten keinerlei Kontrolle über ihre Lage haben. Die für sie typische und sprichwörtliche Wahlmöglichkeit ist „Geld oder Leben“ – ein Angebot, „das man nicht ablehnen kann“. Verträge können für diese Personen beliebige Verschlechterungen gegenüber ihrer vorher gegebenen Lage mit sich bringen. Die Resultate der Kooperation sind dem Status Quo nicht pareto-überlegen (einige der Beteiligten werden ja schlechter gestellt, um andere besser stellen zu können), jedoch führt Enteignung der Schwächeren dank ‚Kooperation‘ (sich fügen: „Geld“) immerhin zu einer Situation, die der größeren Unannehmlichkeit für die Schwächeren dank ‚Nichtkooperation‘ (sich nicht fügen: „Leben“) pareto-überlegen ist und in dieser Hinsicht freiwillig genannt werden kann. Normativ gesehen gilt dieses Konzept von Freiwilligkeit üblicherweise als indiskutabel – sie ist gewissermaßen bodenlos, und sie enthält jede Menge Zwang. Zwischen den beiden Extremen liegen diejenigen Konstellationen, in denen bestimmte Aspekte des Status Quo unter der Kontrolle der Akteure sind, während andere Eigenschaften ihrer Lage auf dem Spiel stehen. Der Fall, der für uns wichtig ist, ist rechtlich geklärtes und durch die rechtliche

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Zwangsordnung geschütztes Eigentum der Individuen, dessen Verwertung aber nur in Kooperation stattfinden kann, also unsicher ist2. Das ist die typische Lage bei einigermaßen tief greifender Arbeitsteilung, in der niemand mehr von dem, was ihm gehört (das ist mindestens sein ‚Humankapital‘), autark leben kann. Die Freiwilligkeit der Wahl besteht dann in der Möglichkeit der Entscheidung für die bestmögliche unter den verfügbaren Verwertungsoptionen des Eigentums, wobei offen ist, ob diese hinsichtlich der Einkommenslage besser, gleich gut oder schlechter als der bisherige Status Quo ist. Schlechter wird die gewählte Option vor allem dann sein, wenn aus irgendwelchen Gründen die bisherigen Verwertungsbedingungen des jeweiligen Eigentums nicht mehr existieren. Genau das beschreibt die Lage auf Märkten: Der institutionelle Grund für die hier bestehende Verbindung von Sicherheit (der Rechtstitel) und Unsicherheit (ihrer Verwertbarkeit) ist, dass nach den geltenden Spielregeln niemand daran gehindert werden kann, auf eigene Faust oder zusammen mit Gleichgesinnten seine Handlungsfreiheit dazu zu nutzen, Veränderungen in Gang zu setzen, produktivitätssteigernde und damit kostensenkende Erfindungen zu machen, dass niemand dran gehindert werden kann, seinen Geschmack zu ändern usw. All diese freien und erlaubten Entscheidungen der einen ändern die Handlungssituation für andere, und diese haben keinerlei Rechte am Status Quo jenseits ihrer Eigentumsrechte. Sie müssen direkte Schädigungen ihres Eigentums nicht hinnehmen, aber sie müssen Entwertungen ihres Eigentums hinnehmen, die aus Veränderungen der Wettbewerbssituation resultieren. Es gibt Eigentumsschutz, aber kein Veto gegen Wandel, keine Protektion von Positionen. Die Auslieferung der ‚Mehrheit‘ (der Betroffenen) an die ‚Minderheit‘ (der Pioniere), oder auch die Auslieferung der Subjekte in ihrer Eigenschaft als Anbieter an die gleichen Subjekte in ihrer Eigenschaft als Nachfrager, ist zwar qualitativ eingeschränkt, 2 Man kann sich hier auch kurz den Unterschied zwischen einer anarcho-liberalen Position und dem, was man eine rechtlich-liberale Position nennen kann, klarmachen: Die rechtlich-liberale Position benötigt den – ‚protektiven‘ – Staat (für die Begriffe des protektiven und des produzierenden Staates vgl. vor allem Buchanan 1984) als Zwangsinstanz, damit das für alle gleiche Recht Einbettung aller weiteren Freiwilligkeit ist und nicht selbst etwas, über das ‚freiwillig‘ verfügt wird. Die anarcho-liberale Position ist bereit, auf diese Schranke zu verzichten. Vgl. für die anarcholiberale Position vor allem de Jasay (1997), auch Radnitzky (2002); für Kritik u. a. Zintl (2002). Die anarcholiberale Position ist unterschiedlich fragwürdig, je nachdem, ob über den Abschluss oder den Vollzug von Verträgen gesprochen wird: Es ist nicht zu bestreiten, dass die Durchsetzung eines Vertrages dank vielfältiger Mechanismen endogener Durchsetzung sehr oft auch ohne staatliche Zwangsgewalt möglich ist (Cooter 1996; Zintl 1999; allgemeiner Baurmann 1996). Geht es aber um den Abschluss von Verträgen, so ist nur schwer zu sehen, welche Instanz außer einer das Recht mit Zwangsmitteln durchsetzenden Staatsgewalt für alle Subjekte den letztgenannten Typus von Freiwilligkeit sicherstellen sollte.

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denn sie erstreckt sich nur auf bestimmte kontingente Konsequenzen aus dem, worüber sie autonom verfügen dürfen, aber sie unterliegt in diesen Hinsichten keinen quantitativen Beschränkungen. Man kann gewissermaßen alles verlieren, ohne enteignet worden zu sein. Die Kehrseite der Handlungsfreiheit aller Akteure als Beteiligte an und Initiatoren von Veränderungen ist also ihre Unterwerfung als Nichtbeteiligte und Passive. Die Nichtbeteiligten werden zu nichts gezwungen, aber wenn sie im Spiel bleiben wollen, sollten sie gut überlegen, was sie mit ihrer Handlungsfreiheit anfangen. Insbesondere bedeutet unter Bedingungen der Interdependenz die Verfügungsfreiheit über eine wettbewerbsrelevante Eigenschaft oder Ressource zugleich ihre Auslieferung an den Wettbewerb. Wenn z. B. jeder Leistungssportler frei darüber entscheiden kann, was er zu sich nimmt, wird Doping die typische Verhaltensweise mindestens der erfolgreichen Sportler sein. Denn genau über diese Dinge können alle anderen ja auch frei verfügen und sie zum Bestandteil der Unterstützung ihrer Wettbewerbsfähigkeit machen. Je unbeschränkter die Autonomie der Verfügung über eine Ressource ist, umso weiter reicht diese Unterwerfung. Umgekehrt und allgemein kann man sagen, dass alles, was wir nicht in Verträge einbringen können, worüber wir also nicht frei verfügen können, gewissermaßen davor geschützt ist, dass wir selbst es zur Wettbewerbsressource machen. Die meisten der üblicherweise positiv bewerteten Eigenschaften des Wettbewerbs beruhen auf genau dieser Auslieferung aller an den anonymen Zwang der Verhältnisse, die keiner unter Kontrolle hat: Wer sich nicht fügt, verschlechtert seine Überlebenschancen. Die spezifische Leistungsfähigkeit des Wettbewerbs beruht geradezu darauf, dass auch diejenigen Teilnehmer des Spiels, die an einer bestimmten Entscheidung nicht beteiligt sind, von ihr dennoch nachhaltig berührt werden können. Niemand kann sich auf seinen Lorbeeren ausruhen, die Einkommenserwartungen eines jeden Teilnehmers sind unsicher, jeder Teilnehmer kann Einkommen nur danach erwarten, wie gut er sich den Wünschen anderer anpasst (Hayek 1971). 2. Die kollektive Wahl: Moralische Entlastung und „Naturwüchsigkeit“ Der Wettbewerb gilt erstens als ein besonders leistungsfähiges Verfahren der Allokation von Ressourcen und überhaupt der Koordination; er gilt als ein anderen Verfahren überlegenes Verfahren gesellschaftlicher Informationsgewinnung und Informationsnutzung (Hayek 1969a und allgemeiner 1971). Die Zerlegung der Entscheidung ermöglicht es, handhabbare Portionen zu haben; zugleich sorgt der Mechanismus dafür, dass Potentiale und Nutzbarkeiten enthüllt werden. Überdies gilt der Wettbewerb als ein wirk-

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sames Verfahren der Kontrolle von Macht: Machtpositionen können nicht lange gehalten werden, gezielte Böswilligkeit und Diskriminierung schädigt den Übeltäter, da sie ihn ja dazu verführt, in Entscheidungssituation nicht sachlich-rational zu verfahren, womit er Wettbewerbsnachteile in Kauf nimmt (Friedman 2002, Kap. 7). Die Portionierung der gesellschaftlichen Entscheidung in individuelle Entscheidungen und die Unterwerfung dieser individuellen Entscheidungen unter eine simple Überlebensrechnung hat weitreichende moralische Folgen: Nicht nur Böswilligkeit ist kostspielig, sondern auch Wohltätigkeit. Wohltätigkeit ist lobenswert, kann aber unter Wettbewerbsbedingungen nicht zur Norm gemacht werden, da von niemandem Selbstschädigung verlangt werden kann. Und allgemeiner: Es ist, institutionell gesehen, vollkommen in Ordnung, wenn die Akteure sich allein um ihren Ausschnitt der Gesamtsituation kümmern und um sonst nichts. Besonders sichtbare Folgen hat diese institutionell bedingte Verengung des Blickwinkels und der Verantwortlichkeit in puncto Verteilung und in puncto Entwicklungspfad einer Gesellschaft: Für die Verteilung und insbesondere für Fragen der Verteilungsgerechtigkeit gilt: Dass die Verteilung als Ganze nicht zu Diskussion steht, ist offensichtlich – „Jeder [gibt] wie er will und jedem [wird gegeben] wie ihm die anderen wollen“ (Nozick). Über distributive Gerechtigkeit muss und kann man im Rahmen freiwilliger Kooperation nicht sprechen, weil hier niemand die Macht hat, Einkommen und begehrte Güter anderen autoritativ zuzuteilen. Die Gestalt der Verteilung hat unter diesen Rahmenbedingungen moralisch gesehen den gleichen Charakter wie ein Naturereignis. Wenn die Akteure die Spielregeln, die dies unterfüttern, verstanden und akzeptiert haben, sorgt das auch für die Vermeidung oder wenigstens die Dämpfung von Konflikten: Da niemand Macht über die Verteilung hat und da alle hinreichend damit beschäftigt sind, die eigene Haut zu retten, kann man sich auch bei niemandem über Ungerechtigkeit und Willkür beklagen3. Für die Entwicklungsdynamik, den Fortschritt einer Gesellschaft, gilt: Der Wettbewerb ist ein dynamischer Mechanismus „schöpferischer Zerstörung“ (durch die Entwertung von Produktionsmitteln, die zwar noch funktionsfähig, aber technisch durch Neuerung überholt sind) und deshalb ein 3 Die Bereitschaft und Fähigkeit der Gesellschaftsmitglieder, Resultate eines Regelwerks wie Naturereignisse hinzunehmen, setzt allerdings voraus, dass das einbettende Regelwerk entweder als überhaupt nicht von Menschen gemacht und also auch nicht als durch sie veränderbar wahrgenommen wird, oder aber, dass es von den Adressaten als gemacht und veränderbar und zugleich als legitim angesehen wird. Dass Regeln als „Natur“ erlebt werden, ist unter modernen Bedingungen unplausibel. Auf die zweite Möglichkeit werden wir zurückkommen müssen.

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Motor permanenter Wohlstandssteigerung (Schumpeter 1993). Der aggregierte Effekt der individuellen Entscheidungen über Innovation und Nachahmung ist ein evolutionärer gesellschaftlicher Lernprozess – „Fortschritt“. Er ist, wie Hayek (1969b) es ausdrückt, „Ergebnis menschlichen Handelns, nicht menschlichen Entwurfs“; zugleich vollzieht er sich, wie Marx distanziert anmerkt, „naturwüchsig“, „hinter dem Rücken der Subjekte“. Es ist offen, ob die Subjekte, wenn sie über die allgemeineren Resultate ihrer Einzelentscheidungen bewusst entscheiden könnten, diese auch so wollen würden. Ob sie es beispielsweise vorziehen, an der Ecke zu Fuß einkaufen zu können, oder lieber mit dem Auto zu einem Einkaufsmarkt auf der grünen Wiese fahren wollen, könnte umstritten sein, falls darüber ausdrücklich zu entscheiden wäre – was aber eben nicht der Fall ist. Es ist ebenfalls offen, ob der so bestimmte Entwicklungspfad eine Personengruppe objektiv in eine Sackgasse führt. Zwar kann man hilfsweise argumentieren, dass sich im Wettbewerb der Verfassungen am Ende die leistungsfreundlicheren durchsetzen werden (Hayek 1971, S. 46), aber das ist eine recht voraussetzungsvolle These (sie geht gewissermaßen vom friedlichen Wettbewerb der Systeme aus). Es gibt dementsprechend selbst unter libertären, also grundsätzlich politikskeptischen, Theoretikern keineswegs eine einhellig bezogene evolutionistische Position (Buchanan 1984, S. 237). Auf jeden Fall ist klar, dass die moralische Last aus etwaigen problematischen Entscheidungsfolgen nicht die Akteure selbst zu tragen haben: Wenn sich etwa Investoren im Rahmen der Spielregeln in einer bestimmten als problematisch erachteten Weise – als ‚Heuschrecken‘ – verhalten, sollte das nicht in moralische Verurteilung des Verhaltens dieser Personen, sondern in das Nachdenken über die Spielregeln münden, die dieses Verhalten erlauben und belohnen. Wir können die folgende Zwischenbilanz ziehen: Märkte ziehen ihre Stärke aus (in Rechtssicherheit eingebetteter) Unsicherheit der Spieler hinsichtlich ihrer faktischen Lebenslage, und sie entlasten die Spieler kognitiv und moralisch dadurch, dass wesentliche Entscheidungsfolgen in ihrem Entscheidungskalkül nicht vorkommen können. Wie nimmt sich demgegenüber die Politik aus?

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IV. Die Logik politischer Entscheidung 1. Die Individuen: Koalitionen, Ausbeutung, Protektion Damit politische Entscheidungen zustande kommen, müssen durchsetzungsfähige Koalitionen gebildet werden – seien es Mehrheiten, wie es unter demokratischen Spielregeln erforderlich ist, seien es die faktisch stärksten Gruppierungen, etwa in einer Junta, einer Kamarilla, oder einem Zentralkomitee. Den Grenzfall bildet die Einerkoalition, die monokratische Verhältnisse kennzeichnet, wobei die Macht des Monokraten immer darauf beruht, dass er die ihn tragende Koalition zusammenhält und dafür sorgt, dass sie stärker bleibt, als die Koalitionen, die seine Rivalen zustande bringen könnten. Auf den ersten Blick ist der Unterschied zwischen dieser Konstellation und den gerade betrachteten Verhältnissen freiwilliger Kooperation groß: Es ist ausdrückliche und zwangsbewehrte Durchsetzungsmacht im Spiel – die Verlierer müssen grundsätzlich mit allem rechnen. Was nun aber in einer spezifischen politischen Umgebung tatsächlich möglich und zu erwarten ist, hängt vom institutionellen Detail ab. Wenn die Staatsgewalt den Subjekten als fremde Macht mit unbeschränkter Ermächtigung gegenübersteht, etwa in einer totalitären Diktatur, muss offensichtlich mit anderem gerechnet werden als in einer rechtstaatlich verfassten Demokratie – also der politischen Verfassung, in der die Reichweite des staatlichen Zugriffs beschränkt ist und in der alle an den Entscheidungen beteiligt sind, denen sie anschließend folgen müssen. Dieser Fall ist der hier interessantere. Wir betrachten zunächst den harmlosesten Fall von Politik: Eine Demokratie, in der die politischen Entscheidungen nur einstimmig zustande kommen können. Wenn eine Angelegenheit als politisch zu entscheidende Angelegenheit definiert ist, gilt zunächst einmal auch unter demokratischen Bedingungen das, was in politicis immer gilt, nämlich dass in dieser Angelegenheit niemand seinen eigenen Weg gehen kann. Zugleich gilt unter der Einstimmigkeitsregel zusätzlich, dass jeder – jeder einzelne – alle anderen daran hindern kann, etwas in Gang zu setzen, was ihm nicht zusagt. Wie im Markt kann also auch hier der Mehrheit von der Minderheit etwas auferlegt werden – war es allerdings dort der Verlust eines liebgewonnenen Status Quo dank der Beweglichkeit irgendwelcher Pionier, den die etwas bequemere Mehrheit hinnehmen musste, so ist es hier gerade umgekehrt so, dass eine wandlungswillige Mehrheit von einer konservativen Minderheit in einem Status Quo festgehalten wird, den sie verlassen möchte. Freiwilligkeit und Zustimmung spielen also unter der Einstimmigkeitsregel ebenso wie für Marktentscheidungen eine zentrale Rolle, aber doch in spiegelbildlich sei-

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tenverkehrter Weise: Dort hatte jeder die individuelle Macht, an seinem Situationsausschnitt etwas zu ändern, und keiner hatte Macht, die allgemeinen Verhältnisse festzuhalten, hier hat keiner die individuelle Macht, an seinem Situationsausschnitt etwas zu verändern, und jeder hat die Macht, die allgemeinen Verhältnisse festzuhalten. Einstimmig gefällte politische Entscheidungen bedeuten also maximale Protektion gegenüber unerwünschtem Wandel, erkauft mit scharfen Beschränkungen der individuellen Initiative. Nun ist die Einstimmigkeitsregel ein Grenzfall, der vielleicht unsere Einschätzung des Charakters politischer Entscheidung in die Irre führen könnte. Bleiben wir also bei der Demokratie, gehen aber zur Betrachtung der Mehrheitsregel über. Alles sieht nun, wenigstens auf den ersten Blick, ganz anders aus – Mehrheiten können Dinge in Gang setzen, Minderheiten können die Mehrheiten nicht aufhalten. Die Tyrannis der Mehrheit ist offensichtlich eine Möglichkeit, die nicht von vornherein auszuschließen ist. Zugleich ist sie aber empirisch nicht das, was wir als den demokratischen Normalfall beobachten. Woran liegt das? Eine Rolle spielen zum einen sicherlich die verfassungsmäßigen Schranken, die im demokratischen Rechtsstaat den Mehrheiten Zügel anlegen4. Das ist aber nicht alles. Wir beobachten ja zugleich sehr häufig, dass Mehrheiten auch das, was ihnen Verfassungen an Spielraum geben, bei weitem nicht ausreizen. Wir müssen also genauer hinschauen, ob der Prozess der Bildung von Koalitionen in der Demokratie Anreize aufweist, die diese Zurückhaltung erklären können. Vergleichsweise wenig Probleme bereiten uns hier alle Entscheidungen über allgemeine Verhaltensregeln, also Regeln, die keine spezifischen Verteilungswirkungen enthalten. Für sie gilt: Sie können grundsätzlich die allgemeine Handlungsfreiheit der Vertragsarena mit bestimmten zusätzlichen Restriktionen versehen – Ladenschlusszeiten können in den Bereich der individuellen Entscheidungsautonomie fallen oder öffentlich reguliert werden; es kann erlaubt sein, eine Gaststätte für Raucher zu betreiben oder diese Freiheit kann eingeschränkt werden usw. Je restriktiver die Regeln sind, desto mehr wird der Wettbewerb an dieser Stelle neutralisiert (Stichwort „Harmonisierung“); je lockerer die Regeln sind (Stichwort „Deregulierung“), um so marktähnlicher wird die Situation sich darstellen. Hier gilt also, dass die Politik, wenn sie einen Unterschied macht, ihn nicht in Richtung Unberechenbarkeit, sondern in Richtung Wettbewerbsbeschränkung und damit in Richtung der Protektion der Teilnehmer gegen die Initiativen 4 Würden die individuelle Autonomie der politischen Meinungsbildung, die politischen Partizipationsrechte, die Vereinigungsfreiheit, die Möglichkeit organisierter Opposition tatsächlich der Mehrheitsentscheidung unterliegen, dann wäre die Demokratie institutionell haltlos, sie würde sich unweigerlich selbst abschaffen. Auf Dauer gestellte Demokratien sind daher niemals Gebilde, in denen die Mehrheit alles darf, sie sind niemals totalitäre Demokratien.

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anderer, also gegen die Unberechenbarkeiten des Marktes, macht. Die Tyrannis der Mehrheit, wenn man das so nennen will, besteht in diesen Fällen nicht in der Plünderung der Minderheit, sondern eher in der Gängelung aller (die von der jeweiligen Minderheit als Gängelung und von der jeweiligen Mehrheit als Schutz legitimer Interessen aller empfunden wird). In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Wirkungen der Mehrheitsregel also nicht fundamental von den Wirkungen der Einstimmigkeitsregel. Sehr viel größer könnten die Plünderungsgefahren allerdings sein, wenn es nicht um die Schaffung allgemeiner Regeln geht, sondern um Entscheidungen, die Verteilungswirkungen haben – etwa Entscheidungen über die Gestaltung des Steuersystems, über die Verteilung von Subventionen, über die Regeln von Transfers usw. Hier gibt es unweigerlich – zumindest auch – einen Kampf um Sondervorteile und dementsprechend den Anreiz, Verteilungskoalitionen zu bilden. Nach Auffassung vieler liberaler Theoretiker liegt hier das Kernproblem. Was nach ihrer Ansicht hier allenfalls hilft, ist allein das konstitutionelle Verbot, Verteilungsentscheidungen überhaupt als politische Entscheidungen, also als Willensentscheidungen, zu treffen. Solange Mehrheiten nämlich das Recht haben, derartige Entscheidungen zu treffen, so die Überzeugung, werden sie sie zu ihren eigenen Gunsten treffen. Der Gedanke ist naheliegend, aber doch voreilig. Rein institutionell gilt ja für die Mehrheitsregel, dass ‚die Mehrheit‘ keine vorab bestimmte privilegierte Gruppe mit fester Mitgliedschaft ist. Alle Bürger haben das gleiche Stimmrecht und die gleiche Freiheit, einer Koalition beizutreten oder sie zu verlassen. Alle Bürger haben daher auch zunächst einmal die gleiche Chance, zur siegreichen Koalition zu gehören, und nicht nur das: Mehrheitskoalitionen unterliegen offensichtlichen Beschränkungen dessen, was sie durchsetzen können. Je weiter sie nämlich in der beabsichtigten Benachteiligung der jeweiligen Minderheit gehen, umso größer werden der Anreiz und die Möglichkeit für die Minderheit, einzelnen – am besten den marginalen – Mitgliedern der Mehrheit Angebote zu machen, die diesen einen Koalitionswechsel attraktiv erscheinen lassen können5. Ob also Mehrheiten tatsächlich Minderheiten ausplündern (können) oder nicht, hängt nun davon ab, ob es aus Gründen, die gerade nicht innerhalb der politischen Arena liegen, geborene Mehrheiten und geborene Minderheiten gibt – ob es etwa festgefügte soziale, konfessionelle oder ethnische Lager gibt. In diesen Fällen finden wir womöglich stabile Ausbeutungskoalitionen – und zugleich die Instabilität des jeweiligen politischen Systems insgesamt. Denn warum sollten sich Gruppen, die wissen, dass sie im 5

Der klassische Text hierzu ist Riker (1962).

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Rahmen der Spielregeln keine Chance haben und auch keine Chance bekommen werden, auf Dauer diesen Spielregeln fügen? Mit anderen Worten: Es handelt sich bei der Ausbeutung der Minderheit durch die Mehrheit gerade nicht um ein Problem, das der (Mehrheits-)Demokratie inhärent ist, sondern im Gegenteil um ein Problem ihrer kulturellen, ökonomischen und sozialen Voraussetzungen: Demokratie ist stabil nur dort, wo die gesellschaftlichen Trennlinien nicht zu tief einschneiden. Und wo die Trennlinien nicht zu tief einschneiden, gibt es keine stabilen Ausbeutungskoalitionen6. Vielmehr dürfte die Handlungslogik innerhalb lebensfähiger Demokratien eher wie folgt zu beschreiben sein: Wenn Mehrheiten nicht geborene Mehrheiten und Minderheiten nicht geborene Minderheiten sind, enthält die Situation insgesamt mehr Anreize, Besitzstände zu respektieren, als Anreize, die Dinge nach Lust und Laune und momentaner Durchsetzungsmacht umzuwälzen – die Risiken, demnächst selbst Opfer zu sein, sind ja erheblich. Gerade unter dem Gesichtspunkt der Begrenzung von Risiken ist es zudem ratsam, nicht lediglich Machtspiele zu spielen, sondern Koalitionen dadurch zusammenzuhalten, dass man ihnen Argumente zugunsten der verfolgten Politik zugrunde legt, und zwar am besten Argumente, denen auch die Gegenseite Stichhaltigkeit konzedieren muss – Argumente über die Zweckmäßigkeit, die sachliche Kohärenz, die Gerechtigkeit einer Politik. Sicherlich versuchen alle Beteiligten, hierbei möglichst gut abzuschneiden, aber sie müssen dabei verallgemeinerungsfähige Argumente präsentieren, die nicht schon auf den ersten Blick als partikularistisch entlarvt werden können. Die Folge besteht typischerweise in einer konservativen Politik der Verfestigung von Verteilungsverhältnissen, durchgesetzt gegen die Dynamik des Marktes, nicht aber in einer aktiven Umwälzung der Einkommensverhältnisse mit politischen Mitteln7. Mit anderen Worten: Die Mehrheitsregel wirkt sich – gegeben die oben genannten einbettenden Bedingungen – typischerweise nicht qualitativ anders aus als die Einstimmigkeitsregel: Pluralistische Demokratien benutzen ihre politische Handlungsfähigkeit auch unter der Mehrheitsregel der Ten6 Ebenso wie die Marktwirtschaft auf einer Reihe kultureller und sozialer Voraussetzungen aufruht, tut das die Demokratie – was weder im einen noch im anderen Fall von Haus aus Skepsis gegenüber dem betreffenden Institutionensystem selbst begründen muss. Da es in unserem Zusammenhang um die Betrachtung der Logik der beiden Institutionen Markt und Politik geht, soll auf dieses Thema hier nicht weiter eingegangen werden, jedoch ist zumindest auf den folgenden Gesichtspunkt hinzuweisen: Offensichtlich gibt es ja nicht nur Anreize, bestehende gesellschaftliche Trennlinien politisch zu instrumentalisieren, sondern auch Anreize, sie zu verstärken und womöglich überhaupt erst zu schaffen. Soweit letzteres der Fall ist, bekommt die liberale Skepsis gewissermaßen auf Umwegen recht. 7 Vgl. hier vor allem Olson (1985).

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denz nach wie unter Bedingungen der Einstimmigkeit: konsensorientiert, vor allem protektionistisch, konservativ. Die Mehrheitsregel sorgt lediglich dafür, dass der Einigungsprozess nicht zu langwierig wird8. 2. Die kollektive Wahl: Verantwortlichkeit, Bewusstheit, Selbstüberforderung Politische Entscheidungen, als explizite Kollektiventscheidungen, sind ihrer Natur nach synoptisch und unterscheiden sich insofern grundlegend von impliziten Kollektiventscheidungen – sie zielen nicht nur auf den speziellen Situationsausschnitt einer Person und können auch nicht lediglich einen isolierten Aspekt der Gesamtsituation berücksichtigen. Vor allem in zwei Hinsichten sind politische Entscheidungen daher vollkommen anders wahrzunehmen und auch zu beurteilen als Marktscheidungen: Ihre Auswirkungen auf den Verteilungszustand einer Gesellschaft und ihre Auswirkungen auf den Entwicklungspfad einer Gesellschaft sind nicht lediglich in Kauf genommene und von den Entscheidern mit gutem Gewissen zu ignorierende Nebenwirkungen. Dies gilt schon dann, wenn keiner diese Aspekte der eigentliche Gegenstand einer politischen Entscheidung ist. Auch in diesem Fall muss die politische Entscheidung hinsichtlich ihrer einschlägigen Wirkungen verantwortet werden: Es muss zumindest erläutert werden können, warum man in irgendeiner Angelegenheit diese oder jene Verteilungsfolgen der Entscheidung und diese oder jene Auswirkungen der Entscheidung auf die Zukunft in Kauf nimmt. Der Rechtfertigungsbedarf wächst in dem Maße, in dem diese Aspekte ausdrücklicher Gegenstand der Entscheidung sind; er ist maximal, wenn es um Verteilungsfragen oder die Gestaltung der Zukunft geht, die grundsätzlich als politisch zu verantwortende öffentliche Aufgaben definiert sind – wenn also eine Gesellschaft eine ‚gerechte‘ Verteilung haben will bzw. wenn sie ihren Pfad in die Zukunft nicht ‚naturwüchsig‘ geschehen lassen, sondern ihn ‚bewusst‘ wählen will. Politische Entscheidungen sind insofern anspruchsvoller als Marktentscheidungen und müssen daher mehr und andersartige Information verarbeiten als die verteilten Partialentscheidungen in der Arena freiwilliger Kooperation. Die Schwierigkeiten sind bekannt: Sie resultieren nicht nur daraus, dass vieles, was man hierbei wissen müsste, überhaupt nicht bekannt ist. Sie resultieren auch daraus, dass das Wissen, selbst wenn es vorhanden ist, nicht am Ort der Entscheidung verfügbar ist: Ein wesentlicher Teil der Information, die in einer Gesellschaft existiert, ist ‚private‘ Information über 8

Für eine eingehende Untersuchung vgl. nur Buchanan/Tullock (1962).

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die Anpassungsentscheidungen auf der Mikroebene, die nach einer politischen Entscheidung stattfinden. Nicht nur Autokratien, die ihre Bürger nicht kennen, haben dieses Problem, sondern auch Demokratien. Die Mehrheit kann durchaus einer Quellensteuer auf Kapitaleinkünfte als allgemeiner Regel zustimmen, und dennoch mag jeder Einzelne anschließend sein Kapital ins Ausland transferieren und auf diese Weise die Intention der gemeinsamen Entscheidung unterlaufen – der Beschluss läuft ins Leere, ohne dass dies Dissens im Prinzip anzeigt. Wir sahen oben, dass Markt und Politik nahezu spiegelbildlich seitenverkehrt mit individueller Initiative und Unsicherheit umgehen. Wir sehen nun hier eine vergleichbare Spiegelbildlichkeit: Auf Märkten folgt das Gesamtresultat aus gut informierten Einzelentscheidungen mit jeweils beschränktem Horizont; in der Politik ist der Horizont nicht beschränkt, aber die Qualität der Information entspricht nicht den Anforderungen.

V. Die Beziehung von Markt und Politik Zunächst ist eine Zwischenbemerkung angebracht: Was wir bisher betrachtet haben, sind Beschreibungen, die auf den Kern der jeweiligen Entscheidungsarena zielen. Dies schließt nicht aus, dass wir jeweils eingebettet Prozesse finden, die die typischen Eigenschaften der Prozesse der jeweils anderen Arena aufweisen: Wir finden innerhalb der Marktarena Prozesse, die den Charakter expliziter Kollektiventscheidungen haben – man denke etwa an die Koalitionenbildung in einem Aufsichtsrat oder an relationale Kontrakte, in denen ausdrücklich Fragen einer fairen gegenseitigen Behandlung gestellt und beantwortet werden; und es gibt andererseits Wettbewerbsprozesse in der politischen Arena. Entscheidend ist aber, dass in all diesen Fällen allen Beteiligten klar ist, dass am Ende ausschlaggebend die Maßstäbe sind, die der einbettende Kontext liefert. Insofern ist die hier verwendete Zuspitzung gerechtfertigt. Wie sollen wir uns nun das Verhältnis der beiden so beschriebenen Entscheidungsformen vorstellen? Drei Sichtweisen lassen sich, in wohl noch zulässiger Vereinfachung, unterscheiden – harmonische Arbeitsteilung, strittige Grenzen, Prinzipienkonflikt. Sie sollen der Reihe nach kurz charakterisiert werden. 1. Harmonische Arbeitsteilung In diesem Falle bestünde die ordnungspolitische Aufgabe nur darin, herauszufinden, welches der beiden Verfahren für welche Probleme wie gut geeignet ist und wofür ein Verfahren womöglich jeweils gar nicht geeignet

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ist (‚Marktversagen‘, ‚Politikversagen‘). Man plädiert dann dafür, Entscheidungsmaterien dementsprechend auf die eine oder die andere Art zu behandeln. Das Ergebnis solcher Überlegungen ist eine bestimmte wechselseitige Zuordnung der beiden Arenen ‚Markt‘ und ‚Staat‘, die man ungefähr so skizzieren kann: Märkte sind geeignet für die gesellschaftliche Bestimmung der primären Einkommensentstehung und für die Entscheidung über Produktion und Allokation von Privatgütern. Die Politik bzw. die öffentliche Zwangsgewalt gilt als der angemessene Ort für die Setzung zumindest der grundlegenden Spielregeln, darunter des Eigentums- und Vertragsrechts, also speziell auch der Regeln, die komplexe Märkte überhaupt erst möglich machen9, für die Durchsetzung von Regeln und die Bereitstellung von Kollektivgütern. Unumstritten ist auch die Zuständigkeit der Politik für die Verfolgung von Verteilungszielen, falls sie verfolgt werden – was nicht heißt, dass solche Ziele als solche unumstritten sind.10 2. Strittige Grenzen Wir sahen, dass die Zuweisung von Entscheidungsmaterien zum Markt, die „Privatisierung“ dieser Themen, die Freisetzung von Initiative und zugleich die Reduzierung von Sicherheiten bedeutet, während die Überführung von Gegenständen in öffentliche Regie Protektion und zugleich „Entflexibilisierung“ bedeutet. Wir sahen ebenfalls, dass Privatisierung immer auch Entlastung von moralischer Verantwortlichkeit und von der Zumutung synoptischer Problembearbeitung bedeutet. Je nachdem, wie groß das Gewicht ist, das wir solchen Gesichtspunkten zumessen, werden wir unterschiedliche Meinungen darüber haben, wie die Grenzen zwischen den Zuständigkeiten der beiden Prozesse gezogen werden sollten. Solche Konflikte werden nicht nur um den Umfang und die Qualität der verteilenden und si9 Olson (2002) präpariert den wichtigen Punkt sehr klar heraus: Primitive Märkte sind ein naturwüchsiges Phänomen, das auch in Abwesenheit jeglicher politischer Ordnung und sogar gegen sie floriert, auf der Basis unmittelbarer Reziprozität. Wachstumsträchtige Märkte dagegen sind alles andere als natürlich; die Transaktionen auf ihnen sind so distanziert und risikobehaftet, dass sie sie ohne eine entsprechende politische Unterfütterung unmöglich sind. Der anarcholibertäre Traum, dass Märkte primär und robust und die Politik parasitär und entbehrlich ist, hält der Wirklichkeit nicht stand. 10 Liberale wenden sich typischerweise gegen Transfers, die als „Korrektur“ vermeintlicher Ungerechtigkeiten der markterzeugten Verteilung gemeint sind, nicht gegen Transfers, die Fangnetze etablieren (so etwa Hayek 1971, Kap. 19) oder ein garantiertes Mindesteinkommen sichern (Friedman 2002, Kap. 12) oder auch darauf zielen, das Ausmaß gesellschaftlicher Ungleichheit in den Grenzen zu halten, die mit der gegenseitigen Respektierung als rechtlich und politisch Gleicher noch vereinbar sind (Buchanan 1984). Vgl. über die liberalen Deutungen von ‚Solidarität‘ und ‚sozialer Gerechtigkeit‘ allgemeiner Kersting (2002).

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chernden Zuständigkeiten der Politik gehen, sondern schon darum, was überhaupt ein Kollektivgut genannt werden sollte. Es ist durchaus möglich, dass jemand unter dem Strich eher dem Markt als der Politik traut und daher für eine zentrale Rolle der Marktarena und nur eine subsidiäre Rolle der Politik plädiert, oder dass jemand umgekehrt eher der Politik traut als dem Wettbewerb und daher die Gewichte umgekehrt verteilen will. Damit sind wir schon an der Grenze zu unserer dritten Möglichkeit. 3. Prinzipienkonflikt Den gerade betrachteten Gewichtungs- und Grenzziehungskonflikten liegt immer noch die Vorstellung zugrunde, dass es ganz richtig ist, dass in der politischen Arena anders entschieden wird als in der Vertragsarena. Man kann aber die ordnungspolitische Frage auch radikaler stellen: Warum soll man sich, wenn man der Überzeugung ist, freiwillige Kooperation sei die bestmögliche Weise menschlichen Zusammenlebens, darauf beschränken, den politischen Bereich lediglich so eng wie möglich einzugrenzen? Ist es in diesem Fall nicht besser und sicherer, ihn auch intern zu zähmen, also auch seine innere Verfassung möglichst marktanalog zu gestalten, Herrschaftlichkeit in Kooperation und Verhandlungen aufzulösen und sich um eine möglichst individuell maßgeschneiderte Politik zu bemühen?11 Warum soll man nicht andererseits, wenn man der Überzeugung ist, gemeinsame Angelegenheiten sollten gemeinsam angegangen werden, versuchen, die Gesellschaft umfassend (demokratisch) zu politisieren, den Markt auch in seinem inneren Gefüge so gut wie möglich zu zähmen, also in die „Anarchie des Marktes“ möglichst viel Mitbestimmung einzupflanzen oder den Akteuren abzuverlangen, in ihren Entscheidungen nicht nur ihren eigenen Vorteil zu suchen, sondern sich auch am Gemeinwohl zu orientieren? Warum soll man sich also nicht – möglicherweise ergänzend zu den zuvor skizzierten Überlegungen zur Aufgabenaufteilung und Aufgabengestaltung – darum bemühen, die innere Struktur beider dem jeweiligen Ideal entsprechend zu verfassen? Es geht, wenn man so verfährt, darum, möglichst viele Eigenschaften bzw. den ‚Geist‘ des einen oder des anderen Typus von Entscheidung überall zu etablieren, sicherlich immer in geeigneter Anpassung an die besonderen Entscheidungsprobleme der jeweiligen Arena. Wenn man in Fragen von Initiative und Sicherheit den Markt als das Ideal auch politischer Entscheidungen nimmt, dann bedeutet das, die protektionistische Komponente der Politik zu reduzieren; wird umgekehrt die 11

Milton Friedman (2002, S. 38, 118) nennt das „proportionale Repräsentation“.

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Politik als das Ideal auch marktlicher Entscheidungen betrachtet, so heißt das, die Rolle individueller Initiative zu reduzieren. Wo es um Verteilungskonflikte und den Weg einer Gesellschaft in die Zukunft geht, bedeutet den Markt als das Ideal auch für die Politik zu nehmen, deren privilegierte Stellung als letzte Instanz in Problemlösungsprozess und im Regelsetzungsprozess zu beseitigen und sie statt dessen nur noch als den Endpunkt eines Kontinuums fungieren zu lassen, das ansonsten aus unterschiedlichsten Formen privater, also aufs Ganze bezogen impliziter, Regelsetzung besteht12; wird umgekehrt die synoptische Qualität der Politik als das Ideal auch marktlicher Entscheidungen gesehen, so liegt es nahe, nach Wegen zu suchen, den Marktteilnehmern mehr Entscheidungskriterien als nur ihr situatives Interesse verbindlich aufzuerlegen – etwa durch die Verpflichtung der Wettbewerbsteilnehmer zu gesamtgesellschaftlicher Verantwortlichkeit13. Die erste Deutung der Verhältnisse ist wohl zu harmonistisch, die dritte zu unversöhnlich. Weder die selbstverständliche Arbeitsteilung noch das rabiate Entweder-Oder sind überzeugende Lesarten der Konstellation. Richtig dürfte eher sein, dass wir nicht umhin können, ständig konfligierende Maßstäbe zugleich im Auge haben zu müssen. Was in welcher Situation welches Gewicht haben soll, muss aber unweigerlich „politisch“ entschieden werden – eben ordnungspolitisch.

Literatur Baurmann, Michael (1996): Der Markt der Tugend. Recht und Moral in der liberalen Gesellschaft. Eine soziologische Untersuchung, Tübingen. Buchanan, James M. (1984): Die Grenzen der Freiheit, Tübingen. Buchanan, James M./Tullock, Gordon (1962): The Calculus of Consent, Ann Arbor. Cooter, Robert (1996): Decentralized Law for a Complex Economy: The Structural Approach to Adjudicating the New Law Merchant, University of Pennsylvania Law Review 144, S. 1–50. De Jasay, Anthony (1997): Against Politics. On Government, Anarchy and Order, London. Friedman, Milton (2002): Kapitalismus und Freiheit, Frankfurt. Hayek, Friedrich A. v. (1969a): Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, in: ders. Freiburger Studien, Tübingen, S. 249–265. 12

Für eine solche Position vgl. etwa Homann/Kirchner (1994). Also im Rahmen unserer Verfassung etwa durch entsprechende gesetzgeberische Interpretation von Artikel 14, Absatz 2 („Eigentum verpflichtet: Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“). 13

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– (1969b): Die Ergebnisse menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs, in: ders.: Freiburger Studien, Tübingen, S. 97–107. – (1971): Die Verfassung der Freiheit, Tübingen. Homann, Karl/Kirchner, Christian (1994): Ordnungsethik, Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 14, S. 189–211. Kersting, Wolfgang (2002): Kritik der Gleichheit. Über die Grenzen der Gerechtigkeit und der Moral, Weilerswist. Olson, Mancur (1985): Aufstieg und Niedergang von Nationen, Tübingen. – (2002): Macht und Wohlstand, Tübingen. Ostrom, Elinor (1999): Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt, Tübingen. Radnitzky, Gerard (2002): Das moralische Problem der Politik, Ethik und Sozialwissenschaften 13. Riker, William H. (1962): The Theory of Political Coalitions, New Haven/London. Schumpeter, Joseph A. (1993 [1942]): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen. Zintl, Reinhard (1999): Institutionen und gesellschaftliche Integration, in: Jürgen Friedrichs/Wolfgang Jagodzinski (Hg.): Soziale Integration (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 39), Wiesbaden, S. 179–198. – (2002): Was ist liberal am Anarcholiberalismus? Kommentar zu Gerard Radnitzky, Das moralische Problem der Politik, Ethik und Sozialwissenschaften 13, S. 421–422. – (2004): Markt und Politik: Implizite und explizite Kollektiventscheidung, in: R. Czada/R. Zintl (Hg.), Politik und Markt (PVS Sonderheft 34), Wiesbaden, S. 31–47.

Zur Politischen Ökonomie der Beziehung zwischen Politik und Ökonomie Von Richard Sturn I. Zwei Ebenen der Ökonomisierung Ein übergreifendes Charakteristikum des zurückliegenden Vierteljahrhunderts ist die markante Zunahme der Bedeutung ökonomischer Logiken im Spektrum sozialer Koordinationsmechanismen. Gleichzeitig wird in vielen Bereichen eine Verengung politischer Gestaltungsspielräume aufgrund ökonomischer Sachzwänge wahrgenommen. Der globale Niedergang von Ideologien, deren programmatische Identität an starken politischen Gestaltungsansprüchen festgemacht ist, wurde von der Ausdehnung der Reichweite von Märkten und Marktförmigkeit begleitet. Diese Ausdehnung drückt sich etwa in folgenden Entwicklungen aus: – Globalisierung in Bezug auf Handel, Finanzdienstleistungen, Direktinvestitionen und Migrationsströme1; – Liberalisierung der Transaktionsbedingungen in regionalen Gebilden wie der EU; – Ausdünnung regulierungspolitischer Rahmenwerke („Deregulierung“); – Institutionelle Forcierung von Privatisierung in Bereichen wie Alterssicherung, Bildung und Infrastruktur; – Forcierung marktförmiger Logiken in der Binnenorganisation nichtmarktförmiger Institutionen, insbesondere auch im öffentlichen Sektor; – Druck in Richtung der Elimination politikförmiger Elemente innerhalb privatwirtschaftlicher Institutionen (Mitbestimmung, korporatistische Aushandlungsprozesse), welche insbesondere in Kontinentaleuropa die Reichweite des Marktes für Unternehmenskontrolle, der über Aktienbörsen organisiert ist, relativier(t)en2. 1 Einen raschen und je nach Bedarf auch detaillierten Überblick bieten Indikatoren zur Globalisierung, auf die unter www.oecd.org/statsportal/unter dem Stichwort Globalisation zugegriffen werden kann. 2 So argumentiert „The Economist“, dass eine Abschaffung des deutschen Mitbestimmungsmodells längst überfällig sei: „co-determination (. . .) is proving a hin-

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In der gleichen Epoche gewannen innerhalb der Ökonomie Forschungsfelder an Bedeutung, welche die mikroökonomische Analyse von nicht marktförmigen Organisationen und Institutionen wie Familien, Firmen, Bürokratien, Rechtswesen und insbesondere Politik zum Gegenstand haben. Die mikrofundierte Ökonomik dehnte ihren Gegenstandsbereich an den Rändern und über die Grenzen jenes Bereichs aus, der für klassische Ökonomen wie John Stuart Mill (1848, Einleitung) die ökonomische Sphäre definierte. Der Gegenstandsbereich der Ökonomik war am ökonomietypischen Code des Geldes bzw. des Vermögens („the measuring rod of money“) oder, anders ausgedrückt, an der durch Wettbewerbsmärkte vermittelten faktischen Praxis preisförmigen Messens und Abwägens festgemacht. Der wissenschaftliche Anspruch der Ökonomik wird für Mill (1848, II.iv.1) durch das Prinzip des Marktwettbewerbs ermöglicht. Als Alternative zu dieser kodierungsorientierten Abgrenzung des Gegenstandsbereichs anhand bestimmter Typen sozio-ökonomischer Mechanismen entwickelte sich im Anschluss an Robbins (1935) ein disziplinäres Selbstverständnis, welches auf Knappheit als ökonomisches Zentralkonzept basierte. Knappheit wird dabei als ubiquitäres vorinstitutionelles Grundproblem von Ökonomie aufgefasst, das sich aus folgender Konstellation elementarer Annahmen ergibt: Akteure verfolgen ihre Zwecke3 in einer Welt, in der beschränkte Ressourcen rivalisierenden, alternativen Nutzungen gegenübergestellt sind, oder, in ökonomische Terminologie übersetzt, in der die Nutzung von Ressourcen Opportunitätskosten verursacht. Knappheit herrscht in dieser Betrachtungsweise sozio-ökonomischen Mechanismen ihre Logik auf, und zwar im explanatorischen und/oder im normativen Sinn: Effiziente Ressourcennutzung liegt dann und nur dann vor, wenn sozio-ökonomische Mechanismen dieses Opportunitätskostenmuster korrekt zur Geltung bringen. Dies ist dann der Fall, wenn Institutionen und Mechanismen ein die relativen Knappheiten spiegelndes Preissystem stützen. Als natürlicher institutioneller Hintergrund eines solchen Preissystems wird weithin der kontraktförmige Austausch auf der Basis von Privateigentum angesehen. Die Trias von Knappheit, Preissystem und kontraktförmigem Austausch nenne ich die katallaktische Zentralperspektive der individualistischen Ökonomik4. Forschungsprogrammatisch zentral sind dabei drance these days when speed and flexibility are essential to global competition“, obwohl „many bosses are reported to like it.“ (Vol. 374, 8411). 3 Ich verwende diese elastischere Formulierung anstelle von „individuell zweckrational“, weil ich der Auffassung bin, dass die folgende Argumentation nicht an einer bestimmten Präzisierung individueller Zweckrationalität hängt. Die hier gewählte Formulierung soll etwa auch handlungstheoretische Fundierung im Sinne jener Varianten des Behaviourismus einschließen, die in der modernen experimentellen Ökonomik zum Tragen kommen.

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eigennutzgetriebene Mechanismen der Ab- und Zuwanderung, die über gleichgewichtige Disziplinierungseffekte sozial vorteilhafte Aggregatresultate hervorbringen: die unsichtbare Hand. Die Brisanz von Coase (1960) und Becker (1976) liegt nicht zuletzt darin, dass sie die katallaktische Zentralperspektive ausdrücklich auf soziale Situationen übertragen, in denen Marktwettbewerb, der in der ökonomischen Klassik und Neoklassik als Voraussetzung einer sozial vorteilhaften unsichtbaren Hand angesehen wurde und den Mill (1848, II.iv.1) gar als spezifische Milieubedingung ökonomischer Erklärungsansätze bezeichnete, nicht vorausgesetzt werden kann. Dieser Aufsatz verfolgt ein zweifaches Ziel. Zum einen soll die Beziehung zwischen Politik und Ökonomie aus der Perspektive der modernen individualistischen Ökonomik reflektiert werden. Zum anderen deute ich auf dieser Basis eine Kritik an dem an, was als überschießende Ökonomisierung und als Prekarisierung politischer Ordnungs- und Gestaltungspotentiale wahrgenommen wird. Der Gang der Argumentation kann durch folgende Thesen zusammengefasst werden, die jedoch nicht alle mit derselben Ausführlichkeit diskutiert werden. These 1: Die an der measuring rod of money festgemachte traditionelle Abgrenzung der Ökonomie (also eine am Vermittlungsmedium bzw. der Kodierung orientierte Sphärentrennung) ist für die Erörterung der Probleme ökonomischer Theorie der Politik, der Beziehung Politik-Ökonomie im Allgemeinen und für die Kritik überschießender Ökonomisierung im Besonderen wenig geeignet. These 2: Die innerhalb der Ökonomik anstelle dieser Sphärentrennung entwickelte Ausrichtung ökonomischer Forschungsprogramme an knappheitsbedingten Allokationsproblemen ist im Hinblick auf die Verortung und die Modellierung von Politik ebenso wenig geeignet. These 3: Die Einseitigkeit und das ideologische Potential der knappheitstheoretischen Ökonomik beruht (zumindest im Hinblick auf die in diesem Aufsatz erörterten Fragen) nicht auf der vorinstitutionellen Problemorientierung, sondern auf der einseitigen Knappheitsfixierung. These 4: Knappheit ist zwar ein ubiquitäres Problem, aber insbesondere in Hinblick auf die Erklärung, funktionale Verortung und Bewertung politischer Institutionen ist es ein Fehler, a priori von einem theoriestrategischen Primat von Knappheit auszugehen, da (i) auch innerhalb einer individualistischen Sozialtheorie Verteilungsaspekte5, nicht-rivale und nicht4

Eine epistemologisch radikale Version dieser Perspektive findet sich in der aprioristischen Praxeologie von Mises (1940). 5 Vgl. die luziden und in ihrem kritischen Impetus aktuellen Passagen in Mill (1848, II.iv).

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ausschließbare Nutzungen sowie dynamische Systemeigenschaften die Rolle knappheitsbedingter Allokationsprobleme relativieren; (ii) Muster relativer Knappheitsrelationen immer erst aus gleichgewichtigen Preissystemen diagnostiziert werden könnten6, deren praktische Realisierung verteilungssensible politisch-rechtliche Rahmenbedingungen schon voraussetzen muss. Bei deren Erklärung können knappheitstheoretische Gesichtspunkte folglich allenfalls eine komplementäre Rolle spielen. Eine primär knappheitstheoretische „Erklärung“ von Institutionen des Rechts und der Politik wäre zirkulär7. These 5: Die am knappheitstheoretischen Fokus orientierte Arbeitsteilung zwischen ökonomisch orientierten und anderen Sozialwissenschaften hat die problematische Tendenz, dass die ökonomische Perspektive vielfältige Sachverhalte (z. B. die kapitalistische Firma) auf wechselseitig vorteilhafte Kontrakte und preistheoretisch nachvollziehbare Allokationslösungen reduziert, wohingegen andere Sozialwissenschaften dieselben Sachverhalte unter Verteilungs- und Machtkoordinaten diskutieren. These 6: Die Beziehungen Ökonomie-Politik, die Krisenpotentiale einer Marginalisierung von Politik durch überschießende Ökonomisierung und die Arbeitsteilung unter den Sozialwissenschaften lassen sich erhellend diskutieren, wenn die vorinstitutionell-problembezogene Grundlegung der Ökonomie beibehalten, aber die knappheitstheoretische Perspektive durch andere Typen von Koordinations- und Konfliktvermittlungsproblemen8 erweitert wird. These 7: Am Beispiel der Organisation von Produktion und der Regulierung von Arbeitsmärkten lassen sich die zwei Hauptschwächen einer katallaktischen Konzeption der Schnittstellenproblematik von Politik und Ökonomie zeigen: (i) Eine definitive Auslagerung politischer Probleme in eine ein für allemal fixierte Rahmenordnung (i. e. stabile wohldefinierte private Eigentumsrechte als Startpunkt für Tausch) ist in Theorie und Praxis unzu6 Der Knappheitsgrad einer Ressource ergibt sich aus der Höhe der Opportunitätskosten der Nutzung. Sind letztere gleich Null, gilt eine Ressource nicht als knapp. Das gesamtwirtschaftliche Muster von Opportunitätskosten verschiedener Ressourcen- und Güternutzungen ergibt sich aus der gleichgewichtigen Konfiguration von Ressourcenverfügbarkeit, Technologien und Zahlungsbereitschaften. 7 Auf solchen Einsichten beruht die Kritik, die Dworkin (1980) zu dem von Posner vorgeschlagenen normativ-judiziellen Maßstab der Vermögensmaximierung (resümierend hierzu Posner 1981) artikuliert hat. 8 Den Begriff „Probleme“ verwende ich hier als Platzhalter für den sperrigeren Ausdruck „vermittlungsbedürftige Interdependenzen“. Die rivale Nutzung knapper Ressourcen begründet in diesem Sinn vermittlungsbedürftige Interdependenzen, da bestimmte Nutzungen unter diesen Voraussetzungen immer auf die Realisierungsbedingungen anderer Nutzungen zurückwirken.

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reichend. (ii) Das Potential von „unpolitischen“ Ab- und Zuwanderungsmechanismen zur Lösung von Koordinationsproblemen ist auf einen ganz bestimmten Problemtypus begrenzt, wohingegen andere Problemtypen tendenziell politische Mechanismen verlangen.

II. Solved political problems? Das Ideal einer politisch unkontaminierten Tauschsphäre und Entpolitisierung als politisches Programm Die Abgrenzung Ökonomie – Politik war ideengeschichtlich von besonderer Bedeutung für die Herausbildung der ökonomischen Disziplin. Erstes Ergebnis dieser Diskussion war die Konzentration auf die Sphäre von Geld, Vermögen und Marktwettbewerb. Als konstituierende Bedingungen dieses Bereichs im Rahmen einer Political Economy wurden von Autoren wie Mill, Jevons und Walras die politischen Gestaltungen wahrgenommen. Bowles (2004, 171 f.) fasst die sich in weiterer Folge ergebende disziplinäre Arbeitsteilung im Sinne einer disziplinären Auslagerung von Politik vortrefflich zusammen: „ A long tradition in economics dating back to John Stuart Mill and Vilfredo Pareto has distinguished between allocational issues that are the subject matter of economics, and the bargaining problem and other issues of distribution that are proper concerns of other disciplines. Robbins’s famous definition equates its subject to the study of allocational problems. By contrast, who gets what, when and how, is the influential definition of the subject matter of political science given by Laswell and Kaplan.“ Die Ausdehnung des Gegenstandsbereichs der Ökonomik im Sinne der katallaktischen Zentralperspektive findet nun weitgehend auf der Basis knappheitstheoretischer Prämissen statt, die für die „alte“ disziplinäre Abgrenzung zwar nicht zwingend, aber in sich schlüssig sind. Den theorieimmanenten Stellenwert wie auch den Politikbezug der traditionellen katallaktischen Orientierung an kontraktförmigen Transaktionen – und die sich ergebende disziplinäre Abgrenzung – bringt Abba Lerner (1972, 3) in seiner Presidential Address vor der American Economic Association prägnant zum Ausdruck: „An economic transaction is a solved political problem. . . . Economics has gained the title Queen of the Social Sciences by choosing solved political problems as its domain.“ Dies kann man zunächst als kritische Begrenzung des Gegenstandsbereichs der an katallaktischen Transaktionen orientierten neoklassischen Ökonomik lesen. Diese Abgrenzung bildete theoriegeschichtlich eine Voraussetzung für bedeutende Fortschritte im Hinblick auf die modelltheoretische Erfassung komplexer Marktinterdependenzen durch die mathematisch formulierte Allgemeine Gleichgewichtsund Wohlfahrtstheorie (z. B. Arrow und Hahn 1971), deren theoretische

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Reichweite und deren explanatorisches Potential den von Lerner benutzten Begriff „Queen“ durchaus rechtfertigt. Denn sie – macht intuitiv nicht einsehbare, unerwartete Rückkopplungseffekte in Marktsystemen größerer Reichweite erfassbar; – ist die theoretische Voraussetzung für weiterführende Diskussionen zur Ergänzungsbedürftigkeit ökonomischer Effizienz als evaluativem Kriterium und – ist die Voraussetzung für eine gehaltvolle Weiterentwicklung wichtiger Konzeptionen wie der Theorie des Zweitbesten, welche ihrerseits ein unverzichtbares Ingredienz einer modernen Theorie der Wirtschaftpolitik9 ist. Sodann öffnet das Lernersche Diktum bei genauerer Betrachtung das Feld für Reflexionen in Hinblick auf politische Anwendungsbedingungen ökonomischer Theorie. Diese erschließen sich allerdings nicht von selbst, sondern bedürfen weiterer Überlegungen. Die katallaktische Zentralperspektive impliziert das paradoxe Programm eines ökonomischen Imperialismus, welcher – Lerner paraphrasierend – so zugespitzt werden kann: choosing to solve political problems in the domain of solved political problems. Denn Lerners Diktum bietet sich für eine praxisbezogene Paraphrase an: Das theoretische Ideal einer politisch unkontaminierten Tauschsphäre wird in ein praktisches Ideal umgemünzt. Dieses Ideal besagt: Möglichst viele politische Probleme sollten auf eine Art und Weise gelöst werden (insb. durch Spezifikation stabiler, wohldefinierter Eigentumsrechte), sodass sie ein für allemal einen stabilen Rahmen für katallaktische Transaktionen bilden. Letzteres ist genau dann eine bestechende Idee der Entlastung von Politik, wenn die Charakteristika der zugrundeliegenden Probleme eine derart wohldefinierte und stabile Herauslösung der Sphäre von Allokation/Katallaktik erlauben10. Die beiden Kernfragen hierbei lauten: 1. Welches sind die Grenzen dieser Sphäre? 2. In welchem Sinn ist deren Entpolitisierung zu verstehen? Die Darstellung von Modellierungen der Beziehung von Politik und Ökonomie ist in diesem Aufsatz mit einer inhaltlichen Botschaft verknüpft, und 9 Dazu vgl. Sturn (1998), wo ich die Theorie des Zweitbesten auch in Bezug zur strategischen Doktrin Clausewitz’ bringe. 10 In Deutschland arbeitet sich die Homann-Schule mit großer Konsequenz an dieser Idee ab (z. B. Homann 1993). Der Ökonomik obliegt in dieser Sicht die Aufgabe, jene falschen mentalen Modelle zu zerstören, welche die Menschen an der Einsicht hindern, dass die relevanten Probleme darin bestehen, dass Potentiale für allseitig besserstellende ökonomische Transaktionen ungenutzt bleiben.

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zwar mit der Kritik einer politisch-praktischen Wendung der analytischen Modelle der Zerlegung von Politik und Ökonomie à la Lerner, welche Politikskepsis mit katallaktischem Optimismus verbinden. Es ist dies die Kritik am – auch aus der Politischen Philosophie bekannten – Ideal einer politisch vollständig unkontaminierten und moralentlasteten (Gauthier 1986) Tauschsphäre, deren Reichweite durch möglichst weitgehende Privatisierung maximiert werden soll. C. Ch. v. Weizsäcker (1999, 42) drückt die ökonomische Version einer solchen Vision wie folgt aus: „Die wettbewerbliche Marktwirtschaft ist der Inbegriff eines entpolitisierten wirtschaftlichen Sanktionensystems. Man könnte die „Marktwirtschaft“ geradezu als entpolitisiertes Wirtschaftssystem bezeichnen.“ Im Lichte der in weiterer Folge in diesem Aufsatz entwickelten Argumentation ist dem Folgendes entgegenzuhalten: Das wettbewerbliche Sanktionensystem von Ab- und Zuwanderung unterliegt zwar im Sinne von Weizsäckers einer eigenen, genuin ökonomischen Logik, die in der Tat von der Logik politischer Kollektiventscheidungen verschieden ist und eine knappheitstheoretisch unersetzbare Funktion erfüllt. Aber es beruht erstens auf institutionellen Voraussetzungen („solved political problems“), die (i) einen politischen Charakter haben, (ii) in erheblichem Umfang politisch gestaltbar sind und (iii) nicht als eindeutiges Gleichgewicht aus den Anforderungen der Effizienz ableitbar sind. Wegen dieser Gestaltbarkeit sind diese Institutionen beispielsweise auch durchaus im Sinn von John Rawls (1971) zum Gegenstand von Gerechtigkeitsbewertungen zu machen, die über Effizienzkriterien hinausgehen. Zweitens funktioniert das marktförmige Sanktionssystem in der Kernzone der Katallaktik genau deshalb entpolitisiert im Sinne von Weizsäckers, weil es auf wohldefinierte Weise „Ressourcenverschwendung“ im Sinne der nicht korrekten Berücksichtigung von Opportunitätskosten bestraft. Was als Ressourcenverschwendung gilt, ist jedoch abhängig von der Verteilung. Einschränkend ist daher festzuhalten, dass im Idealfall zwar die Funktionsweise des Sanktionssystems als entpolitisiert verstanden werden kann, nicht aber die im Durchschnitt zustande kommenden Ergebnismuster, die Gegenstand einer politikrelevanten Bewertung sind, da sie immer auch verteilungsabhängig sind. Drittens ist dieses Konzept eines total entpolitisierten Sanktionssystems überall dort eine ideologieträchtige Fiktion, wo die empirischen Voraussetzungen für (i) die Funktionstüchtigkeit von Mechanismen der Abund Zuwanderung und (ii) die Annahme eines Raums definitiv gelöster politischer Probleme (die Rechtfertigung für die Annahme war ja ursprünglich nicht praktischer Natur, sondern rührte aus dem Bedürfnis nach modelltheoretischen Vereinfachungen her) fehlen. Das politische Element in der ökonomischen Doktrinenbildung (im Sinne von Myrdal, 1932) drückt sich in der unkritischen Verallgemeinerung des unpolitischen Charakters ökonomischer Sanktionen aus.

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Ich werde weiter unten am Beispiel firmenförmig organisierter Produktionsprozesse ausführen, weswegen Marktbeziehungen in diesen Fällen immer und unauflöslich von politischen Problemhorizonten überlagert bleiben. Das bestechende Ideal stabiler Marktförmigkeit wird von jenen Vertretern des zeitgenössischen Marktliberalismus unzulässig überdehnt, welche in Bezug auf die Lösung politischer Probleme insbesondere folgende drei Varianten eines katallaktischen Reduktionismus vertreten: 1. Alle Probleme, die überhaupt friedlich lösbar sind, können und sollen durch entsprechende ordnungspolitische Rahmensetzung auf stabile Weise in ökonomische Transaktionen übersetzt werden. 2. Die Setzung eines geeigneten ordnungspolitischen Rahmens ist im liberalen Idealfall nicht Gegenstand der ordnungspolitischen Gestaltung, sondern (A) Resultat eines durch Ab- und Zuwanderung mobiler Produktionsfaktoren getriebenen Marktes der Anbieter ordnungspolitischer Arrangements oder (B) Resultat vieler einzelfallbezogener richterlicher Entscheidungen, die am Prinzip der Vermögensmaximierung orientiert sind. Die im Weiteren ausgeführten Überlegungen zeigen, dass dieser katallaktische Reduktionismus in Bezug auf die Politik in allen Varianten unplausibel ist. III. Glanz und Elend der individualistischen Ökonomie: Die Problematik der katallaktischen Zentralperspektive Zwischen der Ausdehnung des Gegenstandsbereichs der knappheitstheoretischen, aber nicht mehr durch den measuring rod of money eingegrenzten Ökonomik einerseits und der realen Zunahme von Marktförmigkeit andererseits besteht ein Zusammenhang. Dieser Zusammenhang ergibt sich aus der katallaktischen Zentralperspektive einer am Problem der Knappheit orientierten Mikroökonomik, deren Implikationen für die Politik sowie dem Umstand, dass das katallaktische Argumentationsrepertoire unter politikberatenden Ökonomen, Managern, Unternehmern, Juristen (Posner 1981), Philosophen (Nozick 1974, Gauthier 1986) und der für die Wirtschaftspolitik relevanten Öffentlichkeit im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts an Gewicht gewonnen hat. Die ausgreifende Entwicklung der katallaktischen Zentralperspektive impliziert, dass (1) die Verdrängung von Verteilungsaspekten im Sinn der schon von Mill (1848, II.iv.1) kritisierten Tendenz radikalisiert11 wird und (2) nicht-markförmige Gebilde wie Firmen und politische 11 Das Coase-Theorem (1960) bringt diese Tendenz gerade durch die (in der Sekundärliteratur explizierte) Verknüpfung von (katallaktischer) „Effizienzthese“ und (verteilungsbezogener) „Invarianzthese“ genial auf einen Nenner.

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Institutionen tendenziell als Netz von Kontrakten gesehen werden, die sich von anderen kontraktförmigen Netzwerken dadurch unterscheiden, dass ein Teil der Kontrakte implizit und dass relevante Preis- und Kostengrößen zum Teil nicht geldförmig sind. Nun ist unübersehbar, dass diese Kontrakte faktisch dergestalt in Normen, Erwartungen, Hierarchien und Kollektiventscheidungsmechanismen eingebettet sind, dass die marktförmige Ubiquität von Ab- und Zuwanderung (Exit-Option) durch institutionelle Rigiditäten relativiert wird. Aus der katallaktischen Zentralperspektive ergeben sich diesbezüglich zwei problematische Reflexe: (1) Die praxisbezogene Vermutung von Ineffizienz: Ein voll flexibles Preissystem ist der optimale Vermittlungsmechanismus für rivalisierende Nutzungsinteressen an knappen Ressourcen. Wo ausschließlich das Problem der effizienten Vermittlung der Nutzung knapper Ressourcen diagnostiziert wird, bietet sich als Ideallösung die Schaffung der Voraussetzungen für reine Marktlösungen an, innerhalb derer die unsichtbare Hand unbehindert von institutionellen Rigiditäten zu jenen Gleichgewichtspreisen führt, welche die relativen Knappheiten korrekt widerspiegeln12. Insofern die katallaktische Zentralperspektive von Knappheit als problem- und disziplinkonstituierendem Horizont ausgeht, führt die systematisch wirksame Drohung der Abwanderung immer zu Optimierung (z. B. Kostensenkung). Ab- und Zuwanderungsmechanismen destabilisieren unter solchen Modellbedingungen nie effiziente Zustände, sondern immer nur ineffiziente Zustände und führen effiziente Gleichgewichte herbei. (2) Die theoriestrategisch relevante Vermutung, effiziente Begrenzungsmuster für Ab- und Zuwanderung müssten kontraktförmig zu erklären bzw. zu rechtfertigen sein. Institutionelle Rigiditäten (die sich in der Organisation von Produktion etwa aus Firmenstrukturen, kollektivem Bargaining, Arbeitsrecht etc. ergeben) sind somit Spezialfälle, die prima facie als effizienzstörende historische Reminiszenzen angesehen werden, wenn ihre Genese nicht kontraktförmig-knappheitstheoretisch rekonstruiert werden kann. Im letzten Abschnitt werde ich ausführen, welche typischen Probleme in modernen Produktionsorganisationen vorliegen, die nicht knappheitstheoretisch zu erfassen sind und die dazu führen, dass die Firma im Allgemeinen mehr ist als ein reines Kontraktnetzwerk und in gewissem Sinn auch als politische Institution verstanden werden kann. Damit ist eine Form der Kritik an überschießender Ökonomisierung verbunden, die sich auf die relative Leistungsfähigkeit des typischen ökonomischen Vermittlungsmechanis12 Die Wirksamkeit dieser Tendenz drückt sich paradoxerweise auch darin aus, dass eine institutionelle Überformung komplexer Märkte wie des Arbeitsmarkts oft nicht ökonomisch, sondern ethisch gerechtfertigt wird.

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mus (d.h. expliziter oder impliziter Kontrakte) angesichts der Interdependenzen und Problemlagen jenseits der Knappheit konzentriert. Die gängige Kritik an Ökonomisierung, ökonomischem Imperialismus und ökonomischer Kolonialisierung der Politik erfolgt typischerweise aus der Perspektive nicht-marktförmiger Lebensformen, Koordinationsmechanismen, Institutionen, Werte und Logiken. Diese zum Teil mit kulturkritischem Impetus aufgeladenen Argumente gehen in die Richtung, dass spezifische Qualitäten, Leistungen und Werte13 durch die Dominanz von Marktförmigkeit kompromittiert würden. Ökonomie bzw. Ökonomik machen sich solcher Kritik zufolge auf Terrains breit, auf die sie nicht gehören. Solche Kritik fördert mehr oder weniger interessante Einsichten in Hinblick auf Probleme und Risken der Expansion von Marktförmigkeit zutage. Sie weist mehr oder weniger treffend auf bestimmte Lücken katallaktischer Theoriebildung hin. Aber sie ist durch ein Defizit gekennzeichnet: Eine systematische Reflexion der koordinativen Leistungsfähigkeit ökonomischer Mechanismen und der Erklärungs- und Deutungsansprüche ökonomischer Theorien jenseits ökonomisch kodierter Systeme ist damit kaum verbunden. Denn dies würde voraussetzen, das Rahmenwerk der katallaktischen Ökonomie selbst mit der Problematik der Neubestimmung seiner eigenen Voraussetzungen und Grenzen zu konfrontieren, nachdem der measuring rod of money seine Grenzziehungsfunktion eingebüßt hat. Gerade eine solche kritische Konfrontation der Ökonomie mit der Bestimmung ihrer Grenzen wird an die Ökonomie von außen kaum herangetragen, da die gängige Kritik an der Ökonomisierung mehr oder weniger ausdrücklich an jener Sphärentrennung festhält, die in der Ökonomik selbst als obsolet gilt. Die Klage über die Erosion der politischen Dimension, welche durch die skizzierte hegemoniale Tendenz des Ökonomischen ausgelöst wird, geht aus ökonomischer Sicht ins Leere, wenn sich zeigen lässt, dass die entsprechenden Koordinationsfunktionen auch (bzw. besser) marktförmig organisiert werden können und die katallaktische Theorie auch jenseits der ökonomischen Sphäre interessante Erklärungen und Einsichten erlaubt. Der in diesem Aufsatz verfolgte kritische Ansatz macht in diesem Sinne den Glanz der Katallaktik verständlich, reflektiert aber ihr Elend, insbesondere die Bedingungen, unter denen sie zu einer ideologischen Überformung von Machtbeziehungen degeneriert. Letzteres ist zu erwarten, wenn die Interdependenzen, die den entsprechenden Problemen zugrunde liegen, nicht knappheitstheoretisch auflösbar sind. Davon ist vor allen Dingen die Politik betroffen, wo katallaktische Theorie und Praxis sich oft auf reduktionistische Weise gerade jenen Problemkomplexen nähern, die nicht zureichend als Knappheitsprobleme beschrieben werden können. 13

Vgl. dazu Anderson (1993).

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IV. Voraussetzungen und Probleme einer politisch unkontaminierten Tauschsphäre: Zwei Desiderate Eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit der katallaktischen Zentralperspektive wird sich an zwei Desideraten abarbeiten müssen. Desiderat 1 umfasst eine Analyse jener empirischen Bedingungen, welche die katallaktische Perspektive problematisch, unzulässig oder ergänzungsbedürftig machen. Die Diskussion dieser Bedingungen ist nicht nur von theoriestrategischem Interesse. Denn diese Bedingungen decken sich im Großen und Ganzen mit jenen Bedingungen, unter denen marktliberale Reformen, die im Sinne von Weizsäckers auf die Erhöhung der Reichweite des entpolitisierten marktförmigen Sanktionssystems abzielen, ihre Hauptwirkung in eine andere Richtung entfalten: nicht im Sinne einer Entpolitisierung, sondern als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, oder anders formuliert, als institutionelle Verschiebung von Verhandlungsmacht. Dies trifft dann zu, wenn Koordinations- und Konfliktvermittlungsbedarfe existieren, die politikförmige Institutionen und Interventionen bedingen. Die Problematik von Privatisierung und Marktförmigkeit in diesen Bereichen tritt in verschiedenen Erscheinungsformen auf: (i)

Privatisierung und die Ausdünnung von Wettbewerbspolitik werden in Bereichen vorangetrieben, wo die technisch-kostentheoretischen Voraussetzungen für Wettbewerb fehlen.

(ii) Flexibilisierung und Deregulierung werden in Bereichen vorangetrieben, wo es gute Gründe für politikförmige institutionelle Rigiditäten gibt. (iii) Politische Prozesse werden in Managementprozesse transformiert und Kollektiventscheidungen im Rahmen demokratisch-gewaltenteiliger Strukturen in Kollektiventscheidungen, die sich im Machtgefüge von firmenförmigen Organisationsformen ergeben. Die Prozesse der Aggregation von Interessen und Urteilen werden in diesem Rahmen von jenen normativen Ansprüchen und Rechenschaftsmechanismen entlastet, die Politikförmigkeit mit sich bringt und dafür mit Rechnungslegungspflichten belastet, welche die Logiken von Management und Markt implizieren. Das heißt, es ändert sich dadurch der Stellenwert und die Form von „Accountability“ (vgl. O’Neill 2005)14. Desiderat 2 fordert, dass der Grad politisch-normativer Gestaltbarkeit der institutionellen Voraussetzungen des Marktes herausgearbeitet werden muss. Marktmechanismen erwiesen sich historisch als robust. Sie funktionieren 14 Dabei liegt nahe, dass die kommerzförmige Accountability nicht einfach die politikförmige Accountability verdrängt, sondern angesichts neuer Milieus und Funktionshorizonte mittelfristig Mutationen hervorbringen wird.

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unter einem breiten, wenngleich nicht unbegrenzten Korridor alternativer marktkomplementärer Institutionensets – entgegen der marktliberalen Fiktion, es gäbe so etwas wie ein eindeutiges institutionelles Gleichgewicht, welches als idealer Rahmen für die Marktwirtschaft funktioniert, wohingegen andere institutionelle Arrangements schon den Keim des Untergangs bzw. des Übergangs zur Zentralverwaltungswirtschaft in sich trügen (z. B. Mises 1940). Die Zurückweisung dieser Fiktion stützt sich auf (i)

die Beobachtung, dass das moderne Marktwirtschaften umgebende Institutionengeflecht im historischen, internationalen und interkulturellen Vergleich ein erhebliches Maß an verteilungsrelevanter Diversität aufweist;

(ii) die absichtsvolle politische Schaffung und Gestaltung marktfundierender Institutionen, die in einigen Fällen (wie der Gestaltung der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland nach 1945) historisch gut nachvollziehbar sind; (ii) neue empirische Untersuchungen über die Verteilung von Einkommen und die Lohnsatzspreizung, die starke Hinweise darauf enthalten, dass die Verteilung zum Teil durch soziale Normen bestimmt und daher nicht ausschließlich ein Reflex knappheitstheoretisch nachvollziehbarer Marktlogiken ist; (iii) die theoretischen Modellierungen der relevanten öffentlichen Institutionen (d.h., Ökonomien mit öffentlichen Gütern), die so gut wie immer multiple und nicht eindeutige Gleichgewichte aufweisen, was Freiheitsgrade im Hinblick auf institutionelle Gestaltung und Verteilung andeutet. Aus einer Ausarbeitung von (i)–(iv) lässt sich eine Kritik jener Überhöhung politikfreier Invisible hand-Prozesse erschließen, die Hayek (1960) mit dem der Verfassung der Freiheit vorangestellten Motto ausdrückt: „To the unknown civilization that is growing in America.“ Dieses Motto deutet eine normativ überhöhte Absage an die politische Gestaltung der institutionellen Prämissen moderner Ökonomie an. Eine zentrale Prämisse dieses Mottos ist die Vorstellung eines eindeutigen und irgendwie auch optimalen institutionellen Gleichgewichts, welches sich in einem evolutionären Prozess herausbildet, sofern letzterer nicht durch die „Anmaßung der Vernunft“ gestört wird15. 15 Der in Hayeks evolutionärer Perspektive enthaltene konservative Zug weist eine bemerkenswerte Asymmetrie auf: Die arbeits- und wissensteiligen Mechanismen des Marktes werden als historisch gewachsene Institutionen der Entlastung verstanden und gerechtfertigt, für deren rationale Regulierung man Wissen bräuchte, das eine einzelne Instanz nicht besitzen kann, weil es in wissensteiligen Prozessen entstanden ist. Dagegen sind die Problemhorizonte öffentlicher Institutionen so ein-

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V. Zur problemorientierten Fundierung politischer Institutionalisierungen In diesem Abschnitt geht es um die skizzenhafte Einlösung von Desiderat 1. Hierfür ist die Weiterentwicklung der Konzeption einer an vorinstitutionellen Problemlagen orientierten individualistischen Ökonomik vonnöten, die deren katallaktischen Reduktionismus hinter sich lässt und ihr Ideologiepotential minimiert. Die Weiterentwicklung geht von der Vermutung aus, dass Knappheit wohl ubiquitär ist, aber dass ihr nicht in allen Fällen der theoriestrategische Primat in der Erklärung von sozio-ökonomischen Phänomenen zukommt16. Der knappheitstheoretisch-katallaktischen Engführung der Ökonomik ist eine Tendenz der unplausiblen Marginalisierung des Politischen eigen. Es wird übersehen, dass sich das komplexe Institutionengefüge moderner Politik insbesondere als Antwort auf jene Mehrdimensiofach, dass die Argumente evolutionärer Bewährung nicht greifen und vielmehr weitgehende Umbaumaßnahmen im öffentlichen Sektor möglich sind (Radikalreform des Geldwesens, der Steuern und demokratischer Mechanismen). Die konstruktivistische Anmaßung der Vernunft (Hayek 1952) ist keine Gefahr, wenn es um die Zurückdrängung der Reichweite politischer Kollektiventscheidungsprozesse geht. Hayeks (1960) Marginalisierung politischer Gestaltung beruht auf zwei Prämissen: 1. Es gibt unter modernen Bedingungen zum Markt als großflächigen Allokationsmechanismus keine Alternative. 2. In Hinblick auf die institutionellen Voraussetzungen des Marktes im Zeichen einer besitzindividualistischen rule of law gibt es wenig Gestaltungsspielraum. Die von mir hier vorgetragene Kritik an der katallaktischen Zentralperspektive beruht vor allem auf einer Zurückweisung der zweiten Prämisse, wohingegen die erste nicht diskutiert wird. 16 Der theoriestrategische Primat der Knappheit ist für die klassische Politische Ökonomie des 19. Jahrhunderts bis John Stuart Mill nicht charakteristisch. John Stuart Mills klassische Distinktion von Produktion und Verteilung weist zwar eine Parallele zur neoklassischen Distinktion von Allokation und Verteilung auf, unterscheidet sich aber in der preistheoretischen Fundierung. Von diesen zwei Varianten einer Modellierung der Abgrenzung von Politik und Ökonomie stelle ich in diesem Aufsatz nur eine ausführlich vor, nämlich jene, die sich an der Entwicklung des neoklassischen Hauptstroms der Ökonomik orientiert. Die andere dieser Varianten ist der klassischen Politischen Ökonomie vor allem des 19. Jahrhunderts zuzuschreiben und lässt sich in grober Skizzierung wie folgt zusammenfassen: Der Kern der Ökonomik ist eine an objektiven, historisch invarianten Gesetzmäßigkeiten der (Re-)Produktion festgemachte Preistheorie, welche dynamisch in einen eigenlogischen Prozess der Arbeitsteilung eingebettet ist. Politik ist gemäß einer solchen Vorstellung jene Sphäre, in der nicht-objektive Aspekte des sozialen Lebens ausgetragen werden. Insbesondere gehören die Verteilungsvoraussetzungen und die Regulierung von Verteilungskonflikten zur politischen Sphäre. Darin ist impliziert, dass die Politik auch Raum für die institutionell wirkmächtige Entfaltung subjektiver Elemente im sozialen Leben hat. In moderner Terminologie könnte man auch sagen, die Ökonomie sei durch eindeutige, durch Natur und Technik determinierte langfristige Gleichgewichte bestimmt, wohingegen hinsichtlich der politischen Rahmenbedingungen mit multiplen Gleichgewichten zu rechnen wären.

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nalität und Heterogenität von Interessen und Urteilen entwickelt hat, welche für moderne Kollektiventscheidungsszenarien typisch ist17. Was braucht man also, um politische Institutionen im herrschenden ökonomischen Paradigma angemessen – das heißt nicht im Sinne eines katallaktischen Reduktionismus – zu verorten? Ich möchte die Antwort darauf in sechs Schritten kurz skizzieren. (1) Eine minimale funktionale Charakterisierung der Politik als Modus bindender Kollektiventscheidungen. Die weiteren Aspekte erfassen nun jene ökonomisch fassbaren Milieubedingungen, welche politische Lösungen in der eben charakterisierten Minimaldefinition in irgendeiner Form „verlangen“, analog zu der Art und Weise, wie die Vermittlung von Knappheit ein Preissystem verlangt. (2) Eine zweidimensionale Gütertaxonomie nach Rivalitätsgrad und Ausschlusskosten. Diese Charakteristika sind in einem zu „Knappheit“ analogen Sinn vorinstitutionell und können in folgender Grafik dargestellt werden. Private Güter sind das natürliche Milieu des katallaktisch-knappheitstheoretischen Ansatzes, wohingegen in allen anderen Regionen von Abbildung 1 privat-katallaktische Lösungen problembehaftet sind. Bei hohen Exklusionskosten bzw. Nichtausschließbarkeit (grau schraffierter Bereich) sind sie ökonomisch bzw. technisch unmöglich. Bei Nichtrivalität (also entlang der horizontalen Achse) führen sie – wenn sie möglich sind – zu Pareto-ineffizientem18 Ausschluss: Nutzungsinteressenten werden von Nutzungen ausgeschlossen, obwohl ihre Nutzungen keine zusätzlichen Kosten verursachen19. Die zweidimensionale Gütertaxonomie ist eine erste und grundlegende Ebene der Problemdiagnose. Auf dieser Ebene sind erste Anhaltspunkte für problematische Prämissen einer überdehnten Katallaktik auszumachen: Private Lösungen werden (gerade im Anschluss an Coase 1960) auch in Sphären forciert, in denen aufgrund hoher Ausschlusskosten bzw. eines niedrigen Grades von Rivalität politische Lösungen vorteilhaft 17 Die formale Kollektiventscheidungstheorie (Arrow 1951, Sen 1970) weist darauf hin, dass aus solchen Szenarien theoretisch eine Indeterminiertheit der Entscheidungsmacht resultiert, die potentiell zweierlei Mechanismen Raum gibt: (i) Mechanismen der arbiträren Macht, (ii) politischen Mechanismen, die gewissen ethisch interpretierbaren Anforderungen von Gleichheit, Neutralität und Effizienz genügen und die der Natur der Sache nach komplex sein werden, weil sie heterogene Informationen (Interessen bzw. Urteile) konsistent zu „verarbeiten“ haben. 18 Eine Pareto-Verbesserung liegt vor, wenn zumindest ein Akteur besser gestellt und niemand schlechter gestellt wird. Pareto-effizient (Pareto optimal) ist ein Zustand, wenn keine Pareto-Verbesserung mehr möglich ist. Pareto-ineffizient (Pareto dominiert) ist ein Zustand, wenn Pareto-Verbesserungen möglich sind. 19 Die Effizienzbedingungen gehen auf Samuelson (1954) zurück.

Hoch

Common pool

Niedrig

RIVALITÄTSGRAD

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Reines Öffentl. Gut

Tragedy of the Commons

Privates Gut

Anticommons Exklusionsgut

Hoch

Niedrig EXKLUSIONSKOSTEN

Abbildung 1: Gütertaxonomie

sind. Die oft propagierte Privatisierung als Lösung der Tragedy of the commons ist effizienztheoretisch nur vertretbar, wenn Ausschlussmechanismen unter herrschenden Opportunitätskostenrelationen praktikabel sind. Im Falle hoher Ausschlusskosten setzt die Forcierung privater Lösungen eine größer angelegte sozialtechnologische Konstruktion der Bedingungen von Ausschließbarkeit voraus (Umverteilung, Konstruktion einer privilegierten Klasse). Bei nichtrivalen Ausschlussgütern besteht hingegen das Problem darin, dass der Ausschluss Pareto-ineffizient ist und gegen viele Typen distributiver Prinzipien verstößt20, da zusätzliche Nutzer eines gegebenen Bestandes aufgrund der Nichtrivalität keine zusätzlichen Kosten verursachen. Aber nicht nur diese Ineffizienz spricht möglicherweise gegen Privatisierung, sondern die Tragedy of the anticommons: hohe Ausschlusskosten bzw. Abgrenzungsprobleme auf Systemebene manifestieren sich in der unvermeidlichen Schaffung „zu vieler“ überlappender privater Rechtsansprüche, welche eher als „künstliche“ Quelle von Rechtsstreitigkeiten denn als Startpunkt effizienter Tauschprozesse dienen. Beispiel hierfür ist kumulativ und interdependent entwickeltes technologisches Wissen21. Fazit: Die beiden vorinstitutionellen Nutzungscharakteristika (Rivalitätsgrad, Ausschlusskosten) sind für die Entwicklung eines Problemsensoriums notwendig. Dies gilt zumal in Hinblick auf die Mechanismen für die Allokation von nicht20

Dies ist besonders bei lebenswichtigen Gütern ein triftiger Gesichtspunkt. Zu einschlägig darstellbaren Problemen des Zugangs zu lebenswichtigen Medikamenten vgl. Sturn (2007). 21 Die Überlappungsproblematik des Patentschutzes variiert dabei empirisch über die verschiedenen Industrien hinweg aufgrund unterschiedlicher Charakteristika technologischer Entwicklung.

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rivalen Ausschlussgütern und Common pool Ressourcen, die sich gleichsam in der Kampfzone problematischer Privatisierung befinden. Sie reichen jedoch noch nicht für die Formulierung allgemeiner institutioneller Empfehlungen. Denn sogar bei reinen öffentlichen Gütern sind dezentrale (wenn auch kaum privat-katallaktische) Lösungen denkbar, wenn z. B. besondere Charakteristika der Bereitstellungstechnologie dazu führen, dass die individuellen Vorteile der Bereitstellung ausreichen, um sozial effiziente Bereitstellung zu motivieren. (3) Die eben dargestellte grundlegenden Ebene der Problemdiagnose von Koordinationsprozessen aufgrund von Nutzungscharakteristika ist durch eine zweite „strategische“ Ebene zu ergänzen. Diese expliziert jene Typen strategischer Interaktionen, welche sich für eigeninteressierte Akteure in den verschiedenen Konfigurationen von Nutzungscharakteristika ergeben. Hieraus folgt eine Differenzierung unterschiedlicher Typen von Koordinationsproblemen, welche sich in Hinblick auf die Existenz, Eindeutigkeit und die normativen Eigenschaften allfälliger sozialer Gleichgewichte unterscheiden.22 Vereinfacht gesagt, geht es dabei um die Präzisierung der Frage, inwiefern Ab- und Zuwanderungsmechanismen geeignet sind, effiziente Lösungen zu stützen. Diese Frage lässt sich anhand folgender Kriterien analysieren: (A) Weisen die strategischen Handlungskonstellationen, welche sich zur Stilisierung unterschiedlicher Koordinations- bzw. Konfliktprobleme eignen, Gleichgewichte auf, die Pareto effizient sind? (B) Weisen diese Konstellationen Gleichgewichte auf, die Pareto dominiert sind?“ Für das Gefangenendilemma (wie auch für weniger dramatische Situationen, die typische Probleme reiner öffentlicher Güter stilisieren) trifft B zu, aber nicht A. Dies zeigt eine zähe Ineffizienz privat-dezentraler Lösungen und die Notwendigkeit permanent wirksamer kollektiver Entscheidungs-, Durchsetzungs- und Finanzierungsmechanismen an. Dagegen trifft für die Handlungssituation des perfekten Konkurrenzmarkts A, aber nicht B zu: Paretodominierte Situationen sind hier ungleichgewichtig und werden von eigeninteressierten Akteuren durch spontane Abwanderung „weggehandelt“, was den Boden für katallaktische Lösungen bereitet, sofern einmal der Rahmen in Form stabiler Eigentumsrechte festgelegt worden ist („solved political problems“ i. S. Lerners, 1972). Eine Zwischenposition nimmt Rousseaus Hirschjagd-Spiel ein, für das A und B zutrifft: Für solche Situationen sind politische Institutionen plausibel, die sich im günstigen Fall (bei Bestehen eines Pareto effizienten Gleichgewichts) gleichsam im Hintergrund halten, jedoch im Krisenfall, wenn das System destabilisiert wird und ein Pareto 22 Vgl. dazu Bowles (2004, ch.1). Die Analyse von Koordinations- und Konfliktproblemen könnte noch verfeinert werden, indem die Heterogenität motivationaler Konstellationen (Einschätzungen, moralische „Präferenzen“ etc.) in Betracht gezogen wird. Vgl. Kavka (1995).

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dominiertes Gleichgewicht droht, korrigierend eingreifen, um das System auf einen effizienten Zustand zurückzuführen. (4) Die kritische Analyse der Distinktion zwischen Verteilung und Allokation: Diese Distinktion ist (i) grundlegend für das Ausloten politischer Gestaltungsmöglichkeiten in ökonomischen Modellen, indem sie das verteilungsabhängige Spektrum realisierbarer Pareto Optima explizit macht. Sie ist (ii) Bedingung für einen kritischen Umgang mit der bestechenden Idee, Ökonomen hätten sich mit wissenschaftlich formulierbaren Anforderungen effizienzsteigernder Reformen zu beschäftigen, während die gewünschte Form von Verteilungsgerechtigkeit in einem davon getrennten Schritt von der Politik umzusetzen sei. Es zeigt sich nämlich, dass Allokation und Verteilung im Allgemeinen nur in einfachen neoklassischen Privatgut-Welten theoretisch und praktisch separierbar sind. (5) Die Berücksichtigung endogener Mechanismen der Kontraktdurchsetzung als immanente Kritik der Katallaktik: Neben dem klassisch-wirtschaftsliberalen Modell marktexogener Normen der Kontraktdurchsetzung, deren Kern stabile wohldefinierte Eigentumsrechte bilden, sind insbesondere auf Märkten für komplexe Güter und Leistungen (Arbeitskraft, Wissen) aufgrund von Informationsasymmetrien und Anreizproblemen unvollständige Kontrakte und endogene Kontraktdurchsetzung zu erwarten. Wie in zahlreichen experimentellen Studien dokumentiert wurde, hängt zum Beispiel in Arbeitsmarktsituationen die Qualität der Kontraktdurchsetzung von den Kontraktbedingungen ab (etwa davon, ob diese als „fair“ empfunden werden). (6) Eine problemadäquate Formulierung der Annahmen bezüglich analytischer Gleichheit bzw. von Asymmetrien zwischen verschiedenen Typen von Akteuren, die etwa für zentrale Märkte wie Arbeits- und Kapitalmarkt relevant sind. Insbesondere für die Verdeutlichung der inhaltlichen Relevanz und Tragweite von 5 und 6 ist es zweckmäßig, eines der wichtigsten hybriden Koordinationsprobleme in modernen Gesellschaften als Beispiel zu betrachten: moderne Produktionsprozesse. Im folgenden Abschnitt werde ich daher zeigen, inwiefern auf dieser Grundlage die Firma (auch) als politische Institution verstanden werden kann, deren Funktionstüchtigkeit nicht ausschließlich über Zu- und Abwanderungsprozesse optimiert werden kann.

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VI. Hybride Koordinationsprobleme und ihre Lösungen: Die Firma als politische Institution „The firm (. . .) has (. . .) no authority, no disciplinary action any different in the slightest degree from ordinary market contracting between any two people. (. . .) Wherein then is the relationship between a grocer and his employee different from that between a grocer and his customer?“ Alchian/Demsetz (1972, S. 777)

1. Neoklassische Wettbewerbsmärkte und Kontrakte Insbesondere im Anschluss an Marshall (1920) kam die Diskussion auf, ob der Produktionsbereich und dessen organisatorische Gestaltungen (die Firma, der Betrieb) in der neoklassischen Ökonomik zureichend behandelt werde. Es wurde kritisiert, die darin enthaltene Tauschtheorie der Produktion sei inadäquat23 und führe dazu, dass der Produktionsbereich nur als black box in dieser Theorie präsent sei (z. B. Dobb 1925). Paul Samuelson hat den institutionellen Abstraktionsgrad dieser Theorie en passant mit dem berühmten Diktum pointiert, in dieser Theorie des Produktionsbereichs spiele es keine Rolle, ob das Kapital die Arbeiter anstellt oder die Arbeiter das Kapital mieten. Alchian/Demsetz (1972, 777) machen aus der Not eine Tugend und postulieren kühn eine katallaktische Theorie der Firma, welche diese zur Gänze katallaktisch auflöst – ein treffliches Beispiel für das, was ich als katallaktische Basisperspektive bezeichne. Das neoklassische Modell von Wettbewerbsmärkten wird dabei als universelle Modellierung der Möglichkeit verstanden, Vorteile der produktiven Kooperation tauschförmig zu nutzen. Weil unter der Voraussetzung der Kontraktfreiheit niemand gezwungen ist, auf dem Markt etwas zu kaufen oder zu verkaufen, können die marktlichen Austauschbedingungen keine Beschränkungen, sondern nur zusätzliche Optionen erzeugen. Wenn sie durch Konkurrenz bestimmt sind, dann werden diese Austauschbedingungen auch nicht durch unfaire einseitige Vorteile determiniert sein. Schließlich wird die Ausnutzung aller wechselseitig vorteilhaften Kontrakt-Möglichkeiten zu Pareto-Effizienz führen. Warum sollte dies für Arbeitsmärkt nicht gelten? Gewiss: Moderne Gesellschaften haben zur praktischen Durchführung des Kaufs und Verkaufs von Arbeitsleistungen einen ausgedehnten Komplex von Institutionen hervorgebracht.24 Aber die am Arbeitsmarkt gehandelten Leistungen sind private, rivale Nutzungen von Arbeitskraftressourcen. Zeit und Anstrengung, die in 23 Ein anderer Kritikpunkt bezog sich auf die fehlende Kompatibilität von betrieblichen Fixkosten-Strukturen und Konkurrenzannahmen bezüglich des Marktes. 24 Vgl. dazu u. a.: Knight (1933), Coase (1937), Alchian/Demsetz (1972), Solow (1990), Williamson (1975, 1985), Grossmann/Hart (1986), Hart/Moore (1990), Holmstrom/Milgrom (1988), Milgrom/Roberts (1992), Bowles/Gintis (1992, 1993a,b).

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einem bestimmten Arbeitsprozess verausgabt werden, können in einem anderen Arbeitsprozess nicht verausgabt werden. Von der Nutzung von Arbeitskraft können sodann Dritte ausgeschlossen werden. Auch im Hinblick auf die Ausschließbarkeit hat Arbeitskraft also grundsätzlich die Eigenschaften einer privaten Ressource. 2. Produktion und die Handelbarkeit von Arbeit Betrachten wir Firmen als Institutionen, welche zum Zweck der Ausnutzung der Skalenertragseigenschaften der Produktionstechnologie bzw. von Unteilbarkeiten und damit verbundener Fixkosten entworfen und gegründet werden. Kapitalistische Firmen unterscheiden sich von anderen vorstellbaren Firmentypen dadurch, dass residuale Autorität und das exklusive Recht auf residuale Überschüsse getrennt sind von der Bereitstellung von Arbeitskraft. Wie ist nun dieses Arrangement überhaupt zu erklären, ist doch unter den Annahmen einer perfekten neoklassischen Welt das Muster von Kontrakten, das produktive Kooperation stützt, strikt symmetrisch. Folgende Erklärungsansätze für die Kontroll- und Leitungsrolle der Kapitalseite wurden vorgeschlagen25, die – isoliert betrachtet – das katallaktische Modell der Firma nicht fundamental relativieren: – Risiko: Knight (1933, S. 267) weist darauf hin, dass es bei perfekter Information bzw. Abwesenheit von Risiko und Unsicherheit keine funktionale Rolle für verantwortliches Management, Kontrolle und Residualgewinnansprüche der Kapitalseite gibt. – Überwachung: Alchian/Demsetz (1972) identifizieren die Unternehmerfunktion mit leistungskontrollierender Überwachung bei Teamproduktion. Sie bringen die Überwachungsrolle der Kapitalseite in Zusammenhang mit den Residualgewinnansprüchen der Kapitalseite, weil dies die einzig praktikable Antwort auf die Frage sei: Welche Anreize haben die Überwacher, effizient zu überwachen? – Spezialisierte Investitionen: Bei kooperativen Produktionsprozessen tragen oft die verschiedenen Parteien ungleiche Spezialisierungsrisiken. In Hinblick auf die Anreize zur Tätigung dieser spezialisierten Investitionen ist es vorteilhaft, die Residualgewinnansprüche jener Partei zuzusprechen, deren Investitionen den höheren Spezialisierungsgrad aufweisen (Hart/ Moore 1990). – Humankapital ist im Gegensatz zu Realkapital nicht belehnbar, was dazu beitragen mag, dass die Ausstattung der Kapitalseite mit Rechten der 25

Vgl. dazu auch Dow (1993).

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Kontrolle und der Residualgewinnansprüche die Möglichkeiten der Außenfinanzierung verbessert. Diese Erklärungsansätze können durchaus kritisch in eine umfassendere Theorie der Firma integriert werden. Aber sie sind nur an bestimmten Symptomen der grundlegenden Probleme der marktförmigen Allokation von Arbeit orientiert. Welche speziellen Eigenschaften von Arbeit und Arbeitsmärkten verursachen diese Probleme? Welches sind die Gründe für die Vermutung, bei der Bestimmung von Lohnsätzen seien nicht nur jene Kräfte am Werk, welche die Preise für Äpfel und Birnen determinieren? Die Antwort ist einfach: Die Sicht, die im katallaktischen Szenario zum Ausdruck kommt, hat zur Voraussetzung, dass Arbeit in Form von Leistungseinheiten handelbar ist. Dies ist zwar nicht konzeptuell ausgeschlossen, aber es ist ein empirisch nicht sehr häufiger Grenzfall, in dem kooperative Arbeit über Marktbeziehungen und nur über Marktbeziehungen organisiert werden kann. Eine an diesem Grenzfall festgemachte Theorie versagt in der Erklärung von Arbeitsmarktphänomenen: Für unfreiwillige Arbeitslosigkeit kann sie nur inkohärente Erklärungen26 anbieten, und für den ganzen Komplex der Institutionen zur Durchsetzung von Arbeitsverträgen (Firmen, Arbeitsrecht, usf.) überhaupt keine. Theorien, welche diese Mängel beheben, gehen von der Unvollständigkeit von Arbeitskontrakten aus: Typischerweise ist es unmöglich oder zu teuer, alle von den Kontraktparteien intendierten Leistungspflichten ex ante zu spezifizieren. Welche Leistungen im Produktionsprozess erforderlich sind, hängt oft von nicht kontrollierbaren und eingeschränkt prognostizierbaren Umweltzuständen ab, die mit der Dynamik von Märkten, Technologie und dem fortschreitenden Prozess der Arbeitsteilung zu tun haben. Arbeitsverträge sind durch die Probleme von hidden knowledge und hidden action kompliziert. Hidden knowledge bedeutet, dass es unmöglich oder „zu teuer“ ist, die Fähigkeiten bzw. die Eignung von Arbeitsanbietern ex ante genau zu eruieren. Hidden action heißt, dass es unmöglich oder „zu teuer“ ist, die Leistung eines Beschäftigten zu beobachten und/oder gegenüber Dritten zu verifizieren (zum Beispiel gegenüber einem Gericht). Arbeit ist kein Faktor von bekannter, ein für allemal gegebener und homogener Qualität. Sie kann im Allgemeinen auch nicht in beliebig teilbaren Mengen verkauft und gekauft werden. Wegen der Such- und Anlernkosten wird es typischerweise vorteilhaft sein, dass Arbeitsanbieter einige Zeit an einem bestimmten 26 Lohnrigiditäten setzen voraus, dass der Lohn durch außermarktliche Kräfte determiniert wird. Monopolistische Praktiken von Gewerkschaften sind gerade in einem Modell, in dem von den Besonderheiten von Produktion und Arbeit abstrahiert wird, nur mit einer weitgehenden Macht der Gewerkschaften zu stützen, den Marktzutritt zu verhindern. Aber genau diese Gewerkschaftsmacht ist ihrerseits in einem derartigen Modell nicht leicht zu motivieren.

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Arbeitsplatz oder in einer bestimmten Firma verbringen. Es gibt natürliche Grenzen für Fluktuation und Flexibilität.

3. Unvollständige Kontrakte und die katallaktische Firma im Minimalstaat Unvollständige Arbeitskontrakte implizieren auch unter Bedingungen von Nicht-Regulierung der Arbeitswelt und weitgehender privater Rechte eine politische Dimension: Sie bringen einen Hobbesschen Naturzustand en miniature mit sich: einen lokalen Naturzustand in der Firma. Man betrachte folgendes, teilweise kontrafaktische Szenario: Angenommen, es existiere eine individualistische Gesellschaft und ein imaginärer Minimalstaat, etwa nach der Facon von Nozick (1974), der sich durch perfekte Durchsetzung privater Eigentumsrechte und der dazugehörigen Rechte auf betrugs- und gewaltfreie, konsensuelle Eigentumstransfers auszeichnet. Weiter sei angenommen, in dieser Gesellschaft gelte eine sehr rigorose Version von selfownership: Zwar seien Arbeitsverträge zulässig, es sei aber nicht möglich, im Zusammenhang mit der Verfügung über Humanressourcen residuale Autorität vertraglich zu begründen. Ansonsten existiere aber keine Arbeitsgesetzgebung. Die Produktionstechnologie in dieser Gesellschaft weise Skalenertragseigenschaften auf, die Kooperation in der Produktion aufgrund von Größen- und Verbundvorteilen nahe legen. Die Individuen können die zur Realisierung der Skalenvorteile notwendigen Kooperationen unter Voraussetzung dieser Rechtsstruktur nur mittels einfacher Verträge organisieren. Die Arbeits-Leistungseinheiten seien nicht direkt handelbar; daher bleiben diese Verträge unvollständig. Sie lassen offen, welche genauen Verpflichtungen die Kontraktparteien in den vielen verschiedenen Situationen zu erfüllen haben, die im Zuge des Arbeitsprozesses eintreten können. Die Annahmenkombination Minimalstaat (das heißt: kein Arbeitsrecht), individualistische Gesellschaft (das heißt: keine traditionellen Normen) und Abwesenheit von residualer Autorität führt dazu, dass Kooperation permanent von unaufgelösten Bargaining-Problemen überlagert bleibt, weil die unvollständigen Kontrakte nicht die genauen Verpflichtungs- und Leistungsprofile in Hinblick auf Sorgfalt, Anstrengung und Entwicklung der Humanressourcen spezifizieren. Ein am katallaktischen Konzept vollständiger Kontrakte orientiertes Recht kann kaum Standards hervorbringen, um zu entscheiden, ob implizite Verpflichtungen unvollständiger Kontrakte erfüllt wurden oder irgendwelche Sanktionen, die im Rahmen des Arbeitsverhältnisses (wegen mangelnder Leistung) ergriffen wurden, vertretbar sind. Katallaktische Standards sind vom Leitmotiv bestimmt, private Eigentumssphären bzw. Aktionsräume „als Startpunkt für Kontrakte“ abzugrenzen.

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Arbeitsprozesse bringen eine temporär begrenzte, aber für diese Zeit weitgehende Suspendierung einer solchen Privatsphäre. Akzeptable Modalitäten dieser Suspendierung sind aber nur zu formulieren, wenn der öffentlichen Natur von Arbeitsprozessen Rechnung getragen wird. Denn Kooperation erfordert, dass Privatheit in einer Weise relativiert wird, die dem Vermittlungsmodus kontraktlich-konsensuell organisierter symmetrischer Beziehungen zwischen autonomen und rationalen Eigentümern Grenzen setzt.27 Beschäftigungsverhältnisse bringen es mit sich, in nicht-anonymen Kontexten mit anderen Personen zusammenzuarbeiten, mit ihnen soziale Beziehungen zu etablieren, sich in einer bestimmten Weise zu kleiden oder gefährliche Aktivitäten auszuführen wie brennende Ölfelder zu löschen. Sie können sogar – man erinnere sich an die früher in einigen westlichen Ländern üblichen marriage bars für Frauen – auf Entscheidungen in der Familiensphäre Einfluss nehmen. Die unter einem individualistisch-katallaktischen Produktionsregime ungelösten Koordinations- und Konfliktprobleme sind auch vor folgendem Hintergrund zu sehen. Wichtige Aspekte von Arbeitsprozessen können als Probleme lokaler öffentliche Güter im Sinn der Mikroökonomik konzeptualisiert werden: Es sind dies all jene Aspekte, in denen zu gewissen Opportunitätskosten für alle gemeinsam zu „konsumierende“ Arbeitsbedingungen variiert werden können (Lärm und Luftgüte am Arbeitsplatz, Bandgeschwindigkeit). Weder diese noch andere Probleme unvollständiger Kontrakte können über rein kontraktförmige Mechanismen der Ab- und Zuwanderung im Allgemeinen effizient vermittelt werden. 4. Die kapitalistische Firma im Minimalstaat „It is important to note the character of the contract into which a factor enters that is employed within a firm. The contract is one whereby a factor, for a certain remuneration (. . .), agrees to obey the directions of an entrepreneur within certain limits.“ Ronald Coase (1937, II) „Die Konsumtion der Arbeitskraft (. . .) vollzieht sich außerhalb des Markts oder der Cirkulationssphäre. (. . .) Die Sphäre der Cirkulation oder des Waarentausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der That ein wahres Eden der angebornen Menschenrechte. Was hier allein herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigenthum, und Bentham. . . . Beim Scheiden von dieser Sphäre der einfachen Cirkulation oder des Waarentausches, woraus der Freihändler vulgaris Anschauungen, Begriffe und Maßstab für sein Urtheil über die Gesellschaft des Kapitals und der Lohnarbeit entlehnt verwandelt sich, so scheint es, schon etwas in der Phsyiognomie unserer dramatis personae. Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter.“ Karl Marx (1867, S. 184) 27

Vgl. dazu auch Marx 1857/8, S. 566.

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Angenommen, statt der imaginären Firma als Netz symmetrischer Kontrakte organisiere die kapitalistische Firma in der Marx-Coase-Perspektive die kooperative Produktion, wie sie aus den vorangestellten Zitaten deutlich wird28. Einseitige Autorität im Kontext der Verfügung über fremdes Humankapital und speziell diskretionäre Anweisungen im Rahmen von Arbeitskontrakten seien nunmehr zulässig. Die Annahme einer individualistischen Gesellschaft und eines Minimalstaats wird jedoch beibehalten. Diese institutionelle Konfiguration führt zu einer Art Leviathan-Lösung des zugrunde liegenden Problems der Unvollständigkeit von Arbeitskontrakten. Einer Seite wird das Recht zugesprochen, in den Fällen, in denen die Unvollständigkeit von Arbeitskontrakten zum Tragen kommt, zu bestimmen, was zu tun ist. Diese einseitige Autorität übersetzt sich nicht notwendigerweise in individuelle Rechte verletzenden Zwang. Denn was als arbiträrer Zwang erscheint, mag zum impliziten Teil des Arbeitskontraktes gehören. Außerdem ist es möglich, dass Abwanderungs-/Zuwanderungsmechanismen die mit Autorität ausgestattete Partei gleichgewichtig disziplinieren. Asymmetrische Ausstiegs-Kosten zu Ungunsten der Beschäftigten heben diesen Disziplinierungsmechanismus allerdings auf oder schwächen ihn ab. Der meisterörterte (wenn auch nicht der einzige) systematische Grund für asymmetrische Ausstiegskosten ist unfreiwillige Arbeitslosigkeit.29 Durch Arbeitslosigkeit ist der disziplinierende Effekt der Ausstiegsoption der Beschäftigten abgeschwächt. Somit hängt es von den Marktbedingungen ab, in welcher Weise Self-ownership Rechte und die Entwicklungsperspektiven der Humanressourcen in der Produktionssphäre berücksichtigt werden. Man kann sich leicht eine Situation vorstellen, in welcher die spezielle Beschaffenheit des „Datenkranzes“ einer Ökonomie die Ausstiegsoption für die Beschäftigten zur Fiktion macht. Diese Konfiguration kann dazu führen, dass Self-ownership Rechte zum Schutz von Humanressourcen nicht als Beschränkungen für die marktliche und politische Vermittlung von Interdependenzen fungieren, sondern dass der Grad ihrer Durchsetzbarkeit von den Marktbedingungen abhängt. Die Marktbedingungen sind jedoch selbst wiederum im Allgemeinen abhängig von der Verteilung der Rechte bezüglich externer (nicht-humaner) Ressourcen. Nun ist es möglich, dass eine be28 Diese Verbindung stellt im Übrigen nicht nur ein Apercu dar. Coase dürfte über Maurice Dobb (vgl. insb. Dobb 1925), auf den Coase (1937) Bezug nimmt, die Marxsche Perspektive auf die kapitalistischen Institutionen der Produktion kennen gelernt haben. 29 Arbeitslosigkeit kann systembedingt sein, wenn die Interaktion von Märkten und den übrigen institutionellen Arrangements endogen „UnterbeschäftigungsGleichgewichte“ produziert. Die Effizienzlohntheorie untersucht genau diese Situation. Zur Effizienzlohn-Theorie vgl. Akerlof (1982), Akerlof und Yellen (1988, 1990).

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stimmte Verteilung dieser Rechte die „schlechte“ Arbeitsmarktposition von Arbeitsanbietern „verursacht“. „Verursacht“ ist dabei in dem Sinn zu verstehen, dass ceteris paribus bei (einer) anderen Verteilung(en) deren Position „besser“ wäre und ihre Rechte „besser“ durchsetzbar wären. Die reale Reichweite von Rechten hängt somit von der Verteilung der Realvermögen ab. Die Eigentumsrechtsbegründung gemäß Locke (1690) läuft genau in die Gegenrichtung: Sie leitet Eigentumsrechte an Realvermögen von Selfownership-Rechten ab. Fazit: Die kapitalistische Firma löst das Problem unvollständiger Kontrakte in einer bestimmten Weise. Diese Lösung hat politische Implikationen: Die Stützung institutioneller Produktionsarrangements auf die Leistungsfähigkeit von Ab- und Zuwanderungsprozessen ist durch Asymmetrien verzerrt. Sie ist im Sinne der Respektierung von Self-ownership-Rechten und der dynamischen Entwicklung von Humanressourcen prekär. 5. Die kapitalistische Firma unter sozialliberaler Verteilungsregulierung „An economic system based upon private enterprise can take but very imperfect account of the alternatives sacrificed in production. Most important alternatives, like life, security, and health of the workers, are sacrificed without being accounted for as a cost of production. A socialist economy would be able to put all the alternatives into its economic accounting.“ Oskar Lange (1938, S. 104)

Ich werde im Folgenden argumentieren, dass zur Realisierung dieser Anliegen nicht Langes Marktsozialismus nötig ist, sondern dass ein verteilungsregulierender Kapitalismus dies auch praktikabel bewerkstelligen kann30. „Reale“ Firmen im demokratischen Kapitalismus unter sozialliberaler Verteilungsregulierung sind keine Leviathan-Firmen, die unbegrenzt arbiträre Anweisungen geben können. Sie sind mit einem dichteren Netz von Beschränkungen konfrontiert als jenem, welches die Arbeitsmarkt-Konkurrenz fixiert. Diese Firmen müssen arbeitsrechtlichen Normen folgen, müssen informelle Standards und ethische Normen beachten und müssen die gewerkschaftliche Verhandlungsmacht der Beschäftigten in Rechnung stellen. Der demokratische Kapitalismus des 20. Jahrhunderts entwickelte überdies eine Politik der Verteilungsregulierung und der sozialen Sicherung, welche die endogene Durchsetzung der Rechte der Beschäftigten der Tendenz nach stärken, weil sie die Ausstiegs-Kosten für sie senkten. 30 Ein Katallaktiker wie Stigler (1975, S. 113) hält nicht Langes institutionelles Rezept, sondern Langes Anliegen als solches für lächerlich. Er kommentiert: „This last sentence would not lose content or meaning if Lange had written ‚Almighty Jehovah would be able to put all the alternatives into economic accounting‘.“ Für eine gut lesbare moderne Formulierung eines Lange-Ansatzes vgl. Roemer (1994).

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Welches sind die für den Bereich der Arbeitswelt relevanten Leistungen und Probleme sozialliberaler Verteilungsregulierung? Diese Ordnung kann als ein Modell gelten, das folgende Eigenschaften vereint: (i)

Arbeit ist weitgehend handelbar.

(ii) Das Problem unvollständiger Kontrakte ist im Wesentlichen durch einseitige residuale Autorität gelöst (kapitalistische Firma). (iii) Die Rechte der Beschäftigten sind durch eine Kombination der eingangs dieses Unterabschnitts aufgezählten Restriktionen geschützt. (iv) Die Beschäftigten insgesamt können diese Restriktionen auf zwei Ebenen aktiv beeinflussen: auf der Makro-Ebene über den Prozess demokratisch fundierter Gesetzgebung und durch kollektive Organisation auf betrieblicher Ebene. Es geht nun nicht darum, zu diskutieren, wie gut dieses Modell in verschiedenen Ländern, institutionellen Ausprägungen und historischen Phasen funktioniert. In jedem Fall dämpfen die im Modell des sozialliberalen Kapitalismus enthaltenen Normen, Beschränkungen, Kollektiv-Entscheidungsprozeduren und Verteilungspolitiken die eben skizzierten prekären Effekte.31 Das Normennetz und die Verteilungsregulierung (Transfers, progressive Besteuerung und Sozialversicherung) der sozialliberalen Demokratie schützen vor Risken und reduzieren das Ausmaß der Unvollständigkeit von Arbeitskontrakten gerade in prekären Zonen. 6. Verteilungsregulierende Demokratie versus Minimalstaat Wenn die Heterogenität der Interessen, Lebenssituationen und Humankapitalausstattung der Beschäftigten zunimmt, könnten zentralisierte Formen kollektiver Regulierung jedoch an Attraktivität einbüßen. Gerade in den 1970er und 1980er Jahren gewannen einschlägige Vermutungen an Einfluss. In seinem Anarchy, State, and Utopia (1974) setzte Robert Nozick dem eine auf (hier nicht zu kritisierende) Lockeanische Argumente gestützte und von der (hier kritisierten) katallaktischen Basisperspektive geprägte Verteidigung des Minimalstaats entgegen. Was ich „sozialliberale Verteilungsregulierung“ nenne, ist für Nozick illegitim und verletzt individuelle Rechte, da durch politische Verteilungsregulierung Eigentumsrechte und Kontraktfreiheit verletzt werde. Stellt man allerdings die technischen Bedingungen und die Problematik der unvollständigen Kontrakte in Rechnung, 31 Nicht zuletzt schufen die erfolgreichen Ordnungsmodelle Rahmenbedingungen, welche einseitige Vorteile gewisser Interessengruppen neutralisierten. Seit Adam Smith wird auf unterschiedliche Voraussetzungen für kollektives Handeln hingewiesen, was zu entsprechenden Verzerrungen führt (vgl. z. B. Sandler 1992).

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wie sie im Bereich der Produktion vorausgesetzt werden müssen, dann ist Nozicks Apologie des Minimalstaats in folgendem Sinn zweifelhaft: Es ist nicht zu erwarten, dass – von den existierenden institutionellen Arrangements in der Produktion (kapitalistische Firma) ausgehend – die Durchsetzung eines Minimalstaats die Gesellschaft dem Ideal Nozicks näher bringen würde. Es ist vielmehr denkbar, dass so etwas wie eine nicht-perfekte sozialliberale Marktregulierung eine zweitbeste Lösung ist – ausgehend von der Annahme, dass kapitalistische Arrangements im Produktionsbereich durch nichts zu ersetzen sind. Eine Bewegung hin zum Minimalstaat wäre aus libertärer Sicht nur dann wünschenswert, wenn die katallaktische Sicht von Produktion empirisch an Plausibilität gewinnt und ein kontraktförmiges Szenario ohne residuale Autorität als realisierbare institutionelle Alternative erscheint. Sie würde kapitalistische Gesellschaften dem Nozickschen libertären Ideal nur dann näher bringen, wenn eine der folgenden zwei Bedingungen zuträfe: Bedingung 1: Die Produktion ändert ihren Charakter, sodass sie ausschließlich über vollständige Kontrakte und neoklassisch-walrasianische Märkte organisierbar ist. Arbeit wird in Effizienzeinheiten handelbar. Bedingung 2: Die Entscheidungsstrukturen in Firmen entwickeln sich zu leistungsfähigen kollektiven Entscheidungsstrukturen, welche Koordinationsprobleme zu lösen imstande sind, die über katallaktische Ab-/Zuwanderungsmechanismen nicht zu lösen sind. Staatliche und kollektivvertragliche Regulierungen als Remedium gegen Kontraktunvollständigkeit bzw. Begrenzung einseitiger Autorität werden überflüssig. Die Firma wird von einer latent politischen Institution (im theoretischen Sinn) zu einer Institution, die praktisch die Koordinationspotentiale politikförmiger Mechanismen nutzt. Wie realistisch sind diese Bedingungen? Man kann spekulieren, dass die beiden hier angedeuteten Bedingungen, wenn überhaupt, eher getrennt als kombiniert auftreten. Nicht abwegig ist ein Szenario, in dem bereichsweise Bedingung 1, in anderen Bereichen Bedingung 2 und in den restlichen Bereichen keine der beiden Bedingungen gilt. Bedingung 2 ist plausibel für einen Bereich „qualifizierter“ Tätigkeiten, in dem die spezifische Humankapitalausstattung von Wissensarbeitern eine zentrale Rolle spielt, während Bedingung 1 standardisierbare und teilbare Tätigkeiten, symmetrische Abwanderungskosten u.dgl. voraussetzt. Ausgehend von Bedingung 1 lässt sich ein Szenario von Arbeitsbeziehungen „on the basis of solved political problems“ konstruieren. Selbst wenn dieses Szenario bereichsweise plausibel wäre, sind Modellierungen, die politisch unkontaminierte Arbeitsbeziehungen mit symmetrisch-diziplinierender Wirkung von Konkurrenz implizieren (Weizsäcker 1999, S. 8), problematisch. Denn sicherlich werden die

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Unvollständigkeit von Kontrakten und relevante Asymmetrien nicht in allen Bereichen der Arbeitswelt verschwinden.

VII. Schlussbetrachtung Die disziplinäre Identität der modernen individualistischen Ökonomik ist in Unterscheidung zu anderen sozialtheoretischen Ansätzen daran festzumachen, dass sie von vorinstitutionell diagnostizierbaren Problemen (insbesondere dem der Knappheit) ausgeht – und nicht von bestimmten Formen von „Lösungen“ dieser Probleme, also von bestimmten Typen von Institutionen, Vermittlungsmechanismen oder Kodierungen. Ein solches Herangehen hat große Vorteile als Erklärungsstrategie wie auch als problemorientierte Explikation der Grundanforderungen an mögliche Lösungen bei gleichzeitigem Verzicht auf die Voraussetzung einer bestimmten vorgefundenen institutionellen Lösung. Gerade der letztgenannte Vorteil wird jedoch verbaut, wenn unter den Prämissen der katallaktischen Zentralperspektive nichtmarktförmige Institutionen (wie jene der Politik) – entweder als statischer Ordnungsrahmen ausgelagert werden („solved political problems“) – oder knappheitstheoretisch enggeführt werden (katallaktische Theorie der Politik). Dies führt zu einem Verkennen der dynamischen Natur institutioneller Arbeitsteilung in modernen Gesellschaften. Seit Adam Smith begreift sich die Ökonomie als Wissenschaft, welche die institutionellen Voraussetzungen einer optimalen Ausnutzung der Vorteile einer Dynamik von Arbeitsteilung und Spezialisierung im Blick hat. Gerade der unkritisch vorangetriebene ökonomische Imperialismus unter den Prämissen der katallaktischen Zentralperspektive in Theorie und Praxis geht aber mit der Verkümmerung des theoretischen Sensoriums für die Logiken und die Vorteile jener institutionellen Arbeitseilung einher, welche sich aus der spezifisch politischen Institutionalisierung marktkomplementärer Koordinationsmechanismen ergeben. Daher schlage ich hier vor, das neo-hobbesianische Forschungsprogramm einer katallaktischen Theorie der Politik, die eine tauschförmige Modellierung politischer Prozesse impliziert, durch eine Explizierung politischer Elemente innerhalb individualistischer Modellierungen institutioneller Mechanismen zu ergänzen. Gewiss: In politikförmig organisierten Sphären spielen implizite Kontrakte eine Rolle. In marktförmig organisierten Sphären gibt es „implizite Politik“, also kollektive Koordinationslücken, die nicht durch die unsichtbare Hand geschlossen werden können, sondern immer nur durch Mechanismen, die bindende Kollektiventscheidungen enthal-

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ten – ob diese nun mit politikförmigen Legitimationsansprüchen verbunden sind oder nicht. Die Gestaltung der politischen Rahmenbedingungen des Tausches mag historisch oder konzeptuell als primär friedenssicherndes oder primär eigentumssicherndes Projekt erscheinen. In einer an Hobbes (1651) angelehnten Sicht ist die Herausbildung dieser Rahmenbedingungen wohl eher als politisches Projekt zu verstehen, wohingegen der Lockesche (1690) Horizont die Optimierung dieser Rahmenbedingungen eher als ökonomisches Projekt in den Blick nimmt32. In jedem Fall eignet jedoch der Genese und den Durchsetzungsmechanismen solcher Rahmenbedingungen eine tauschförmig nicht auflösbare politische Qualität, weil die folgende Idee jedenfalls nicht tragfähig ist: Politische Institutionen mit jenen theoretischen Mitteln zu rekonstruieren, die allenfalls für die Erklärung der Vorgänge in einer Tauschsphäre „on the basis of solved political problems“ angemessen sein können. Darüber hinaus gilt jedenfalls für wichtige Märkte wie den Arbeitsmarkt oder den Markt für „Wissen“, dass die Vorstellung einer unkontaminierten Tauschsphäre, die durch ein- für allemal festzulegende Rahmendingungen „entpolitisiert“ werden kann – in spezifischer Weise problematisch ist. Auch in Bezug auf die Rahmenbedingungen von Wissensmärkten kann (wenn auch mit anderen Argumenten als bei Arbeitsmärkten) gezeigt werden, dass dynamische und nicht-deterministische Elemente im Zusammenwirken mit Nichtrivalitäts- und Ausschlusseigenschaften die Idee eines statischen Rahmens als „Startpunkt für (politisch entlasteten) Tausch“ obsolet machen. Literatur Akerlof, George A. (1982): Labor Contracts as Partial Gift Exchange, Quarterly Journal of Economics 97/4, S. 543–569. Akerlof, George A./Yellen, Janet L. (1988): Fairness and Unemployment, The American Economic Review (P&P) 78, S. 44–49. – (1990): The Fair Wage-Effort Hypothesis and Unemployment, Quarterly Journal of Economics 105/2, S. 255–283. Alchian, Armen A./Demsetz, H. (1972): Production, Information Costs and Economic Organization, American Economic Review 62/12, S. 777–795. Anderson, Elizabeth (1993): Value in Ethics and Economics, Cambridge, Ma. Arrow, Kenneth (1951): Social Choice and Individual Values, New York. Arrow, Kenneth J./Hahn, Frank (1971): General Competitive Analysis, San Francisco/Edinburgh. 32

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Markt und Soziales Kapital: Making Democracy Work Von Michael Baurmann I. „Economising on Virtue“ oder Tugenden Ernst nehmen? Tugend und Moral sind knappe Güter. Ein sparsamer Umgang mit ihnen ist deshalb ratsam. Das Prinzip „economising on virtue“ (Brennan 1995) lässt sich nicht nur auf individuelle Beziehungen anwenden. Es kann auch – wie uns die Schottischen Moralphilosophen gelehrt haben – als Grundsatz bei der Konzipierung sozialer Institutionen dienen. Der Markt gilt dabei als paradigmatisches Beispiel für eine gesellschaftliche Einrichtung, in der Moral und Tugend weitgehend überflüssig sind, weil auch durch ein rein eigeninteressiertes Handeln der Marktteilnehmer ein Gesamtergebnis erzielt wird, das zu jedermanns Vorteil ist und dem Allgemeinwohl dient. Solche Institutionen befreien die Individuen von den Lasten moralischer Pflichten und reduzieren den Bedarf an moralischen Normen sowie an Investitionen, um sie durchzusetzen. Die Klassiker der Schottischen Aufklärung waren optimistisch, dass man dieses Prinzip auch auf politische Institutionen übertragen kann. Sogar in dem delikaten Bereich der Ausübung staatlicher Gewalt schien es ihnen möglich, Institutionen zu erfinden, in denen eine „unsichtbare Hand“ die allgemeine Verfolgung individueller Interessen zu einem öffentlichen Gut aggregiert (vgl. Hirschman 1977). Eine solche Aussicht war besonders attraktiv, weil man dann guten Gewissens auf den – wahrscheinlich vergeblichen – Versuch hätte verzichten können, die persönlichen Ambitionen der Machthaber im Geiste Platons dadurch zu kontrollieren, dass man sie zu tugendhaften und moralischen Menschen erzieht. Wenn man stattdessen in der Lage war, den institutionellen Rahmen politischen Handelns so zu gestalten, dass es ohnehin im wohlverstandenen Eigeninteresse der politischen Führer ist, das Wohl der Bürger zu fördern, dann würde ein Vertrauen in Politik unabhängig von den persönlichen Eigenschaften und dem Charakter der jeweiligen Machthaber. Die Hoffnung, dass man sich auf das Funktionieren der politischen Institutionen verlassen kann, auch wenn der Moral der Politiker nicht zu trauen ist, nimmt nach wie vor einen prominenten Platz in der heutigen Sozialwissenschaft und darüber hinaus auch in der öffentlichen Meinung ein. So

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scheint vor allem der moderne demokratische Staat mit seiner institutionalisierten Möglichkeit der Abwahl von Politikern, seiner Garantie von zentralen Rechten sowie seines ingeniösen Systems der Gewaltenteilung und der „checks and balances“ ein perfektes Beispiel für eine Institution zu sein, die durch raffiniert konstruierte Mechanismen und Kontrollstrukturen die staatlichen Machthaber in ihrem eigenen Interesse von einem Missbrauch ihrer Macht abhält. In den letzten Jahren hat sich allerdings bei vielen Sozialtheoretikern die Einsicht etabliert, dass das Prinzip des „economising on virtue“ seine Grenzen hat und man nicht alle Probleme der sozialen und politischen Ordnung durch klug konzipierte Institutionen und ihre Anreize lösen kann (vgl. Brennan/Hamlin 2000; Baurmann 2000; 1999b). Das trifft vor allem auch auf eine demokratische Gesellschaft zu. Ihr Funktionieren hängt in erheblichem Maße nicht nur von dem Verhalten der Politiker und Beamten innerhalb der staatlichen Institutionen ab, sondern mehr noch von den Einstellungen und spontanen Handlungsweisen der Bürger außerhalb der formalen Institutionen. Viele Sozialwissenschaftler glauben deshalb heute, dass eine gut geordnete Demokratie in genuinen zivilen Tugenden und einem aktiven bürgerschaftlichen Engagement verankert sein muss – Phänomene, die sich nicht auf ein rational-opportunistisches Handeln als Ergebnis künstlich implementierter extrinsischer Anreize zurückführen lassen (vgl. Putnam 1993; Brennan/Lomasky 1993; Fukuyama 1995; Pettit 1997; Warren 1999; Cook 2001; Dekker/Uslaner 2001; Brennan/Pettit 2004). Zivile Tugenden und bürgerschaftliches Engagement erscheinen insbesondere bei drei zentralen Bereichen des demokratischen Prozesses als kaum verzichtbar: i)

der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung,

ii) der politischen Partizipation, iii) den kollektiven Entscheidungen. In der Tat ist es kaum vorstellbar, dass eine Demokratie auch nur einigermaßen funktionieren könnte, wenn alle Bürger in allen diesen Bereichen nur als reine Opportunisten und rationale Nutzenmaximierer handelten. Eine demokratische Meinungs- und Willensbildung über gemeinsame Angelegenheiten erfordert informierte Bürger, die Zeit, Energie und guten Willen investieren: Öffentliche Debatten und Diskussionen über politische Themen werden umso effizienter sein, je mehr die Teilnehmer motiviert sind, ihre Argumente in Bezug auf allgemeinverbindliche Prinzipien und Gesichtspunkte zu begründen, anstatt ausschließlich die Durchsetzung ihre individuellen Interessen im Auge zu haben. Aktive Partizipation an politischen Pro-

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zessen beruht auf der Bereitschaft, im Kontext individuellen und gemeinsamen Handelns freiwillig zu öffentlichen Gütern beizutragen. Kollektive Entscheidungen in Demokratien dürfen auf der einen Seite nicht in eine Tyrannei der Mehrheit ausarten, auf der anderen Seite müssen sie von der Minderheit akzeptiert und beachtet werden; die Erfüllung beider Anforderungen erfordert eine intrinsische Bindung an die Verfassung und an substantielle ethische Prinzipien (vgl. Baurmann 2005a). Trotzdem kann es keinen Zweifel daran geben, dass Institutionen und die von ihnen geschaffenen Anreize wichtig sind und dass unterschiedliche Institutionen auch unterschiedliche Ergebnisse produzieren: institutions matter! Die Regeln von Institutionen beeinflussen das Verhalten von Akteuren innerhalb und außerhalb der Institutionen – eine direkte Demokratie hat beispielsweise signifikant andere Konsequenzen für das Verhalten von Wählern und Politikern als eine repräsentative Demokratie. Aber die Folgen einer Institution sind nicht nur abhängig von den Eigenschaften der Institution selbst. Jede Institution ist in eine soziale Umwelt eingebettet und ihre Wirkungsweise ist nicht allein das Ergebnis eines endogenen Gleichgewichts von institutionalisierten Anreizen und individuellen Präferenzen. Ihre Wirkungsweise beruht vielmehr auf einem Gleichgewicht, das sich aus den Merkmalen der Institution und exogenen Faktoren und Bedingungen ergibt. Aus diesem Grund kann das gleiche Institutionensystem sehr verschiedene Ergebnisse produzieren, je nach dem, in welchem sozialen Kontext es eingerichtet wird. Die tatsächlichen „Spielregeln“ sind insgesamt immer umfassender als die künstlich geschaffenen Regeln einer Institution. „Design Prinzipien“ für Institutionen sind von großer Bedeutung für die Stabilität und die Leistungsfähigkeit von Institutionen – aber ihre Konsequenzen treten nicht kontextunabhängig auf (vgl. Ostrom 1990; Ostrom/Ahn 2003). Wenn man betont, dass Bürgertugenden wesentlich und unverzichtbar für das Funktionieren der Demokratie sind, dann ist das deshalb nicht gleichbedeutend mit der Annahme, dass Institutionen irrelevant sind. In gewisser Hinsicht ist das Gegenteil richtig: Zivile Tugenden machen Institutionen nicht etwa überflüssig, sondern sind vielmehr die Basis für ein besseres Funktionieren von Institutionen. Institutionen erzielen eine größere Effizienz, wenn in die Tugend und intrinsische Motivation der relevanten Akteure inner- und außerhalb der Institutionen vertraut werden kann. Unter dieser Bedingung ist es einfacher, Institutionen zu errichten und zu verändern, der Bedarf an innerinstitutioneller Hierarchie und Kontrolle nimmt ab, die Spannung zwischen formellen und informellen institutionellen Prozessen lässt nach, institutionelle Regeln und Normen werden eher beachtet und die Folgebereitschaft gegenüber kollektiven Entscheidungen vergrößert sich (vgl. Baurmann 2002).

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Trifft diese Sichtweise zu, dann erfordert eine funktionsfähige demokratische Ordnung ein stabiles Gleichgewicht zwischen intelligent konzipierten Institutionen und einer geeigneten sozialen Umwelt, in der unterstützende zivile Tugenden eine zentrale Rolle spielen. Institutionen können viele Dinge bewirken – ob sie das aber in der erhofften und erwünschten Weise tun, wird in starkem Maße von Faktoren außerhalb der Institutionen selbst beeinflusst. Die Effizienz von Institutionen, ihre Stabilität, ihre Legitimität und die Konformität mit ihren Normen und Regeln sind nur realisierbar, wenn sie in den richtigen sozialen Boden gepflanzt werden. Es ist wahr, dass Gesellschaften mit Hilfe von Institutionen geändert und gestaltet werden können. Welche Erfolgaussichten dabei bestehen und welche Art von Institutionen man jeweils benötigt, kann aber nicht in allgemeingültiger Weise beantwortet werden. Man kann die „moralische Fabrik“ der Gesellschaft und ihre spontanen Kräfte nicht einfach durch die Anreize von noch so überlegt entworfenen Institutionen ersetzen. Eine Demokratie kann nicht nur auf einem extrinsisch motivierten Gehorsam gegenüber formalen Regeln und Normen beruhen. Sie erfordert eine intrinsisch verankerte Bindung an soziale und politische Normen sowie an substantielle moralische Prinzipien: Man muss Tugenden ernst nehmen!

II. Bowling Together: Demokratie und Soziales Kapital Die Auffassung, dass Bürgertugenden wesentlichen Voraussetzungen für eine stabile und gute politische Ordnung sind, hat eine lange Geschichte. Das Gleiche gilt für die verschiedenen Theorien über die Faktoren, die zur Entstehung und Verbreitung der gewünschten Tugenden beitragen können. Sie gehen zurück bis auf das aristotelische Konzept der Gemeinschaft, wurden von Tocqueville in seiner brillanten Analyse der Demokratie in Amerika in einer bis heute einflussreichen Weise erneuert und werden in der heutigen Zeit von Kommunitaristen im Kontext der Sozialphilosophie diskutiert (vgl. MacIntyre 1981; Etzioni 1993). In den letzten zehn Jahren entwickelte der Politikwissenschaftler Robert Putnam eine neue und viel versprechende Variante dieser Theorien in seinen wegweisenden Büchern Making Democracy Work (1993) und Bowling Alone (2000). Sie entwickelten eine neue Sichtweise auf die Entstehungsbedingungen ziviler Tugenden und initiierten eine große Zahl von theoretischen und empirischen Studien über die sozialen und kulturellen Fundamente der Demokratie (vgl. Putnam 2001). Alle diese Theorien teilen jedoch eine zentrale Auffassung: Zivile Tugenden werden demnach durch eine bestimmte Qualität von sozialen Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft produziert. Diese Beziehungen konstituieren insgesamt den besonderen Bereich einer „Zivilgesell-

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schaft“, deren Dynamik auf den Bestrebungen und Werten der Bürger und ihren privaten Initiativen beruht. Nehmen die Bürger aktiv an den sozialen Beziehungen der Zivilgesellschaft teil, dann – so jedenfalls die Hoffnung – entwickeln sie als Folge Handlungsweisen und Eigenschaften, deren Wirkungen über die private Sphäre hinausreichen und für die Gesellschaft insgesamt von grundlegendem Nutzen sind. Für Aristoteles wird diese Funktion vor allem von Freundschaften erfüllt, durch die Menschen zu einem altruistischen Verhalten und einer gemeinsamen Förderung der Werte ihrer Gemeinschaft motiviert werden. Tocqueville erweitert die aristotelische Sicht und schließt alle diejenigen persönlichen Beziehungen mit ein, die Teil einer privat und freiwillig initiierten kollektiven Unternehmung zur Realisierung gemeinsamer Ziele sind. Aus seinen Beobachtungen während seiner Reisen durch Amerika folgert er, dass durch die Teilnahme an solchen Assoziationen Individuen einen kurzsichtigen Egoismus überwinden und lernen, zu öffentlichen Gütern beizutragen, sich einander zu vertrauen und Angelegenheiten des öffentlichen Interesses friedlich zu diskutieren und zu entscheiden. Tocqueville erscheinen dabei die konkreten Ziele, die Größe und Struktur der jeweiligen Gruppen als sekundär. Ob sie gegründet werden, um eine Brücke für das Dorf zu bauen, gemeinsam zu beten oder Geld für ein Opernhaus zu sammeln: Alle werden sie einen segensreichen Einfluss auf die Einstellungen und den Charakter ihrer Mitglieder haben und sie zu tugendhaften Bürgern formen, die sich für das Allgemeinwohl mitverantwortlich fühlen. Während die Kommunitaristen in mancher Hinsicht wieder auf Aristoteles zurückgehen, indem sie die Bedeutung gemeinsamer Werte, übereinstimmender Weltanschauungen und geteilter Traditionen als Basis für zivile Tugenden betonen, argumentieren die modernen Theorien in den Sozialwissenschaften eher im Geiste Tocquevilles. Sie gehen von der Vielfalt und Diversität von privaten Gruppen und Assoziationen aus und haben den Begriff des „Sozialen Kapitals“ geprägt, um die verschiedenartigen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten und Initiativen prägnant zusammenzufassen. Die Vertreter der Sozialkapitaltheorie nehmen an, dass sehr unterschiedliche Formen von sozialen Beziehungen – wenn auch möglicherweise nicht in demselben Maße – das Potential zur Schaffung der besonderen Bande zwischen Menschen haben, die eine Herausbildung ziviler Tugenden fördern: angefangen von den schwachen Bindungen in den lockeren sozialen Netzwerken von Nachbarschaften, über Bowling-, Wander- und Gesangsvereine, Fußballclubs und Bibelgruppen bis hin zu politischen Parteien und Verbänden, NGOs und spontanen sozialen Bewegungen. Gemäß der Sozialkapitaltheorie stellen die Vielfältigkeit und Vielgestaltigkeit der Zivilgesellschaft die wichtigsten Ressourcen für die Funktions-

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fähigkeit der Demokratie dar, weil die Menschen nur in kleinen Gruppen lernen und sich aneignen können, was für die Gesellschaft als Ganze wichtig ist. Sich gut informiert an Meinungsbildungsprozessen zu beteiligen, sich aktiv für gemeinsame Angelegenheiten zu engagieren, an der Bereitstellung öffentlicher Güter zu partizipieren und kollektive Entscheidungen zu akzeptieren, ist für das Funktionieren einer kleinen privaten Vereinigung im Prinzip ebenso wichtig wie für die Demokratie im Großen. Und ohne eine Überwindung des Trittbrettfahrerproblems, ohne Fairness gegenüber Minderheiten und eine Verpflichtung auf die Regeln und Normen der Gruppe würden viele gemeinsame Unternehmungen schnell scheitern. Das Herzstück der Sozialkapitaltheorie ist deshalb die Annahme eines essentiellen Zusammenhangs zwischen der Lebendigkeit zivilgesellschaftlicher Aktivitäten und eines hohen Niveaus an generellem bürgerschaftlichen Engagement und demokratischer Partizipation in der Gesamtgesellschaft. In der Sozialkapitaltheorie werden u. a. drei Phänomene als typische Eigenschaften einer florierenden Zivilgesellschaft genannt, denen ein unmittelbarer Einfluss auf die Entwicklung und Stärkung ziviler Tugenden zugeschrieben wird: i)

soziale Netzwerke,

ii) emotionale Verbundenheit, iii) Vertrauen. Soziale Netzwerke sind nach der Sozialkapitaltheorie nicht nur wichtig, um dem einzelnen den Zugang zu wertvollen Ressourcen zu eröffnen (vgl. Granovetter 1973; 1985; Coleman 1987; 1988). Vielmehr soll das Handeln in sozialen Netzwerken ebenfalls zivile Tugenden vermitteln wie die Fähigkeit und Bereitschaft, reziproke und kooperative Beziehungen einzugehen, an gemeinsamen Aufgaben zu partizipieren und dabei die Prinzipien der Fairness zu beherzigen (vgl. Baurmann 1996; 2002). Die Verankerung in sozialen Netzwerke und die gemeinsame Mitgliedschaft in einer Gruppe sollen darüber hinaus zu freundschaftlich und altruistisch gefärbten Beziehungen zwischen den Teilnehmern führen können und so ihre emotionale Verbundenheit fördern. Schließlich würden die Normen und Regeln in Netzwerken und Gruppen persönliche Vertrauenswürdigkeit honorieren und sanktionieren und damit wechselseitiges Vertrauen möglich machen (vgl. Gambetta 1988; Misztal 1996; Fukuyama 1995; Woolcock 1998; Woolcock/ Narayan 2000; Dasgupta 2000; Lahno 2002; Uslaner 2002). Die kritische und entscheidende Annahme der Sozialkapitaltheorie besteht darin, dass ein Spill-over-Effekt existiert und ein wirksamer Transfer von dem Kontext eines privat organisierten Gruppenlebens zu der Gesellschaft als Ganzer stattfindet – dass die Tugenden, die im Kontext von zehn

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Personen erworben wurden, zu dem Kontext von zehn Millionen generalisiert werden! Wenn man aber gelernt hat, sich in seinem Taubenzüchterverein fair zu verhalten, wenn man sich mit den anderen Taubenzüchtern emotional verbunden fühlt und sich als vertrauenswürdiges Vereinsmitglied erwiesen hat, wird man dann tatsächlich auch als Bürger eines demokratischen Gemeinwesens insgesamt fair, altruistisch und vertrauenswürdig sein? Die Annahme, dass ein solcher Transfer stattfindet, ist von zwei Prämissen abhängig: Die erste Prämisse unterstellt, dass persönliche Eigenschaften und Einstellungen besser in kleinen als in (sehr) großen Gruppen gelernt und erworben werden. Nach der zweiten Prämisse wird das, was die Mitglieder kleiner Gruppen zum Vorteil dieser Gruppen gelernt und erworben haben, seine positiven Wirkungen auch im Kontext großer Gruppen und für die Gesellschaft insgesamt behalten. Während die erste Prämisse prima facie plausibel erscheint, bedarf die zweite mit Sicherheit weiterer Erörterung und Klärung. Der exakte Mechanismus, durch den die Mitgliedschaft in den Vereinigungen und Assoziationen der Zivilgesellschaft zu einem intensiven bürgerschaftlichen Engagement und einem hohen Niveau demokratischer Politik führen soll, ist noch keineswegs vollständig aufgeklärt. Man muss noch wesentlich mehr über die speziellen Formen und Varianten privater Assoziationen wissen, die zu den wünschenswerten Transferleistungen beitragen können, und über solche, die dazu nicht in der Lage sind. Und es ist offensichtlich, dass in dieser Hinsicht wesentliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Arten von Sozialem Kapitals existieren und dass nicht jeder gemeinsam zelebrierte Lese- und Studienzirkel der Demokratie förderlich ist.

III. Making Democracy Worse: die dunkle Seite des Sozialen Kapitals Timothy McVeigh und seine Mitverschwörer haben ihren Bombenanschlag in Oklahoma während eines gemeinsamen Bowlingabends abgesprochen: sie haben – leider – nicht alleine Bowling gespielt (vgl. Levi 1996). Osama Bin Laden ist kein isolierter Einzelkämpfer, sondern ist fest in ein gut funktionierendes internationales Terror-Netzwerk eingebunden. Diese extremen Beispiele machen klar, dass Kooperation und Partizipation zur Erreichung gemeinsamer Ziele, dass ein solidarisches Zusammenwirken in einer Gruppe Gleichgesinnter, die sich auch emotional miteinander verbunden fühlen mögen, nicht automatisch für Außenstehende oder die Demokratie wünschenswert sind. Das öffentliche Gut für eine Gruppe kann ein öffentliches Übel für die Gesellschaft sein.

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Auch wenn man an weniger dramatische Beispiele denkt als an den Bombenanschlag in Oklahoma oder an die Terrorgruppe Al Quaida kann eine Organisierung der Bevölkerung entlang ethnischer, rassischer, religiöser oder anderer askriptiver Merkmale zu partikularistischen Anliegen und Forderungen führen und eine demokratische Ordnung eher unterminieren als stützen (vgl. Hardin 1995). Dichte und weit verzweigte soziale Netzwerke, umfangreiche private Aktivitäten und eine große Zahl an freiwilligen Assoziationen sind noch keine Garantie für eine blühende Demokratie. Sie können sowohl eine Quelle des Vertrauens als auch des Misstrauens sein. Anstatt die Bereitstellung und Erhaltung öffentlicher Güter und das allgemeine Wohl zu fördern, können sie Konflikte provozieren, indem sie antagonistische Interessen ausbilden und organisieren und einen Teufelskreis permanenter Machtkämpfe und wechselseitiger Feindschaft schaffen. Seilschaften und Machtkartelle, die opportunistisch die Partikularinteressen ihrer Mitglieder verfolgen und ein rein instrumentelles Verhältnis zur politischen und rechtlichen Ordnung ihrer Gesellschaft haben, sind ebenso Formen Sozialen Kapitals wie Menschenrechtsorganisationen und karitative Stiftungen. Wenn man deshalb die mögliche positive Beziehung zwischen Demokratie und Sozialkapital besser verstehen will, muss man mehr über die besondere Art von Sozialem Kapital wissen, die in diesem Zusammenhang wichtig ist. Putnam betrachtet es als das zentrale Ergebnis seiner Studien in Italien, dass die mangelhafte Effizienz und die Fehlfunktionen der demokratischen Institutionen in Süditalien vor allem eine Konsequenz eines gering entwickelten Sozialen Kapitals waren und sind (vgl. Putnam 1993). Es wäre aber irreführend, diese Korrelation ohne weiteres zu generalisieren. Es ist keineswegs der Fall, dass in Gesellschaften ohne eine oder mit einer schlecht funktionierenden demokratischen Ordnung immer ein niedriges Niveau an Sozialem Kapital vorherrschen muss. Die Stabilität autoritärer und despotischer Regimes hat häufig zwei Gesichter: auf der einen Seite kann es eine fragmentierte Zivilgesellschaft geben, in der die Individuen mehr oder weniger isoliert sind und nur schwach entwickelte soziale Netzwerke existieren – eine Situation, die das Ergebnis einer gezielten Strategie der Machthaber sein kann, die das Entstehen einer starken Zivilgesellschaft bewusst verhindern wollen. Auf der anderen Seite aber können die Mitglieder der Oligarchie selber in soziale und politische Netzwerke integriert sein, die innerhalb der herrschenden Elite ein hinreichendes Maß an Vertrauen und Reziprozität garantieren, um die für sie relevanten Kollektivgüter – nämlich vor allem ihre Herrschaft – zu sichern. Die wechselseitige Verbundenheit mag auf dieser Basis stark genug sein, um einen kurzsichtigen Opportunismus zu überwinden und eine stabile Kooperation zu erreichen – was die Möglichkeit nicht ausschließt, dass das Ziel dieser Koope-

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ration die Unterdrückung und Ausbeutung der anderen Mitglieder der Gesellschaft ist. Anstatt hilfreich für die Institutionalisierung einer Demokratie zu sein, kann ein hohes Maß an Sozialem Kapital insbesondere auch in der Übergangsphase einer traditionalen Gesellschaft in die Demokratie eine schwierig zu überwindende Hürde darstellen. Afghanistan und Albanien sind beispielsweise keine Gesellschaften mit einem besonders niedrigen Bestand an Sozialkapital. In beiden Gesellschaften existieren wenigstens teilweise funktionierende soziale Netzwerke sowie Reziprozitäts- und Vertrauensbeziehungen, die in den traditionellen Strukturen von Familien, Verwandtschaften, Clans und Stämmen verankert sind – eingebettet in sozialen und religiösen Werten und Normen, die eine beachtliche Legitimität genießen. Das Problem für die Demokratisierung ist hier nicht ein grundsätzlicher Mangel an Sozialkapital – das Problem ist ein Mangel an der richtigen Art von Sozialkapital! Soziales Kapital kann eine dunkle, ja eine finstere Seite haben (vgl. Hardin 1995; 1999; Levi 1996; Portes/Landolt 1996; Adler/Kwon 2000). Netzwerke, Reziprozität, Kooperation, Partizipation, emotionale Verbundenheit, Vertrauen und altruistische Motive sind nur in bestimmten Kontexten gut. Tatsächlich sind einige der Gesellschaften, die es erfolgreich geschafft haben, ihre Mitglieder zu einem uneigennützigen Verhalten zu bewegen und ihre individuellen Interessen für eine gemeinsame Sache zu opfern, für die größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte verantwortlich. Ein suboptimales Funktionieren demokratischer Institutionen muss ebenfalls nicht notwendigerweise mit einer unzureichenden Ausstattung an Sozialkapital verbunden sein – wie es möglicherweise in Süditalien der Fall ist. Selbst dort ist ein geringes Maß an Sozialkapital in einem Bereich nicht nur zufällig mit einem hohen Maß Sozialen Kapitals in einem anderen Bereich verknüpft: Die Mafia ist eben auch eine Form von Sozialkapital, sie verkörpert hochgradig effiziente Netzwerke, setzt starke Vertrauens- und Reziprozitätsnormen durch und schafft erfolgreich wirksame Anreize für die verschiedensten Formen kollektiven Handelns (vgl. Gambetta 1993). Allerdings ist es keineswegs notwendig, auf die Mafia zu verweisen, wenn man belegen will, dass ein hoch entwickeltes Soziales Kapital die Arbeit der Demokratie nicht nur erleichtern, sondern auch erschweren kann. Vetternwirtschaft, Korruption, Rent-seeking oder die Sicherung von Privilegien und Pfründen sind allesamt Verhaltensweisen, die schädlich und zerstörerisch für die Demokratie sind. Und es handelt sich um Verhaltensweisen, die in der Regel erfolgreicher sind, wenn sie von einer Gruppe als gemeinsames Unternehmen betrieben werden (vgl. Baurmann 2005b). Es ist ein empirisches Faktum, dass alle möglichen Formen Sozialen Kapitals mit die-

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sen Aktivitäten verbunden sind – angefangen von losen Netzwerken, die wenige Leute für kurze Zeit verbinden, über Seilschaften, die durch Reziprozität und Vertrauen in horizontalen Beziehungen zusammengehalten werden, bis hin zu Organisationen mit formalen Regeln und einer strikten Hierarchie. Je höher diese Formen Sozialen Kapitals entwickelt und je effizienter sie sind, desto schlimmer für Außenstehende und die Demokratie insgesamt. Aber die dunkle Seite von Sozialkapital ist nicht immer mit einem offensichtlich unerwünschten Verhalten wie Trittbrettfahren, Bestechung oder Vorteilsnahme auf Kosten der Allgemeinheit verbunden. Negative Externalitäten können auch dann auftreten, wenn Soziales Kapital genutzt wird, um eine Gruppe im Interesse partikularer Ziele zu organisieren, die nicht von vornherein als moralisch falsch oder fragwürdig verurteilt werden können. Die Mobilisierung von Menschen, um ihre religiösen Visionen zu verwirklichen oder die Interessen ihrer Rasse oder Klasse zu vertreten, kann in genuinen moralischen Überzeugungen und Tugenden verwurzelt sein und Soziales Kapital in paradigmatischer Form produzieren. Gruppen und Organisationen dieser Art verkörpern häufig dichte und verlässliche soziale Netzwerke, ein großes Maß an wechselseitigem Vertrauen, altruistisch motivierte Solidarität sowie eine starke intrinsische Opferbereitschaft für gemeinsame Ziele und Güter. Soziales Kapital dieser Art droht trotzdem eher dazu, Demokratie zu schwächen, anstatt zu stärken. Assoziationen und Organisationen eines solchen Zuschnitts sind nicht „brückenbildend“ oder „außenorientiert“ (vgl. Putnam/Goss 2001). Sie sind um Personen der gleichen Art oder Herkunft zentriert und fördern Ziele und Güter, die einen exklusiven Wert für ihre jeweiligen Mitglieder haben. Umso erfolgreicher diese Gruppen sind, desto weniger werden sie den Anreiz verspüren, mit anderen Gruppen eine gemeinsame Kooperationsbasis auszuhandeln. Sie werden möglicherweise die Chance sehen, ihre Partikularinteressen auf Kosten Außenstehender durchzusetzen. Solche Formen Sozialen Kapitals tendieren so eher dazu, Misstrauen und Konflikte zu schüren. Dadurch kann ein Teufelskreis entstehen, weil die Unterminierung gemeinsamer Interessen auch für andere Gruppen – die sonst möglicherweise keinen Grund hätten, sich in dieser Weise zu entwickeln – den Anreiz erzeugt, sich ebenfalls auf die partikularen Interessen ihrer Mitglieder zu konzentrieren. Aber selbst wenn eine Gruppe und ihre Aktivitäten keine beobachtbaren negativen Effekte auf die Gesellschaft insgesamt haben, so ist es nicht einfach, die Frage zu beantworten, unter welchen Bedingungen sie feststellbare positive Effekte produzieren. Die Annahme, dass die Mitgliedschaft in einer bestimmten Gruppe dabei helfen kann, das Trittbrettfahrerproblem in einer

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anderen Gruppe zu lösen, ist keineswegs selbstverständlich. Die kausale Kette zwischen Taubenzüchten und politischer Aktivität hat keine sehr starken Glieder. Es existiert prima facie eine große Kluft zwischen den verschiedenen Formen privater Vereine und genuin politischen Organisationen. Eine Reihe von vergleichenden Studien der vergangenen Jahre legt außerdem die Schlussfolgerung nahe, dass diejenigen Formen von Sozialem Kapital, die in gewisser Weise typisch für eine „individualisierte“ Gesellschaft zu sein scheinen – nämlich informelle Aktivitäten und spontane „Events“ –, wohl kaum nennenswerte Spill-over-Effekte in andere Bereiche zivilen oder politischen Engagements verzeichnen (vgl. Putnam 2001). Jedenfalls lässt sich aus den bisherigen Überlegungen und Illustrationen eine Negativliste mit denjenigen Eigenschaften von Sozialem Kapital zusammenstellen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu positiven Externalitäten für die Demokratie beitragen. Diese Liste macht noch einmal deutlich, dass soziale Netzwerke, emotionale Verbundenheit und Vertrauen allein nicht hinreichend sind, damit auch Außenstehende und die Gesellschaft insgesamt von solchen in einer Gruppe initiierten Qualitäten profitieren: Soziale Netzwerke können aufgrund ihrer Homogenität zu sozialer Exklusion führen, interne emotionale Verbundenheit in einer Gruppe oder Gemeinschaft kann externe Antipathie gegenüber Nicht-Mitgliedern fördern, und schließlich kann Vertrauen partikular bleiben, sich auf die Mitglieder der eigenen Gruppe beschränken und mit einem generalisierten Misstrauen nach außen kombiniert sein. Stichwortartig ergibt sich also die folgende Liste von Eigenschaften, die Soziales Kapital anstatt zu einem öffentlichen Gut zu einem öffentliche Übel machen: i)

homogene soziale Netzwerke und soziale Exklusion,

ii) interne emotionale Verbundenheit und externe Antipathie, iii) partikulares Vertrauen und generalisiertes Misstrauen. Aus dieser Negativ-Liste ergibt sich im Umkehrschluss eine Positiv-Liste mit Eigenschaften, die prima facie dazu beitragen können, dass die externen Auswirkungen des Sozialen Kapitals bestimmter Gruppen und Organisationen für eine Gesellschaft insgesamt wertvoll sind (vgl. Stolle 1998; Stolle/ Rochon 1998; Curtis/Baer/Grabb 2001; Warren 2001; Paxton 2002): i)

brückenbildende soziale Netzwerke und soziale Inklusion,

ii) interne emotionale Verbundenheit und externe Sympathie, iii) generalisiertes Vertrauen und partikulares Misstrauen. Demzufolge wäre es entscheidend, dass soziale Netzwerke keine exklusiven Ressourcen und Instrumente der Separierung verkörpern sowie künstliche Zugangsbarrieren zu Gütern und Leistungen errichten, sondern dass

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sie nach Möglichkeit Verbindungen, „Brücken“ zwischen verschiedenen Gruppen bilden und damit ein soziales Inklusionspotential entfalten. Ebenso darf eine interne emotionale Verbundenheit zwischen den Mitgliedern eine Gruppe nicht mit externer Antipathie und einer emotionalen Ablehnung von Außenstehenden verbunden sein, sondern muss auch eine externe positive Gefühlsbindung ermöglichen. Und schließlich ist es wesentlich, dass das Vertrauen innerhalb einer Gruppe dazu beiträgt, Vertrauen auch jenseits der Gruppengrenzen zu generalisieren und Misstrauen zu einem partikularen Phänomen zu machen. IV. Märkte und Soziales Kapital Welche Faktoren bewirken aber die „richtige“ Form Sozialen Kapitals? Welche Anreize unterstützen die Entwicklung brückenbildender Netzwerke, die zu sozialer Inklusion statt zu sozialer Exklusion beitragen? Unter welchen Bedingungen wird eine interne emotionale Verbundenheit nicht zu einer gefühlsmäßigen Abgrenzung nach außen, sondern auch zu positiven Gefühlen Außenstehenden gegenüber führen? Und wodurch etabliert sich in einer Gruppe ein generalisiertes Vertrauen, das nicht nur die eigenen Gruppenmitglieder umfasst? Im Folgenden soll plausibel gemacht werden, dass eine Entstehung von Sozialem Kapital mit diesen Eigenschaften vor allem durch die Einbettung einer Zivilgesellschaft in eine Marktgesellschaft gefördert wird. Es soll deutlich werden, dass die Dynamik von Märkten zur Ausbreitung ökonomischer Netzwerke führt, die sozusagen das Skelett bilden, an dem sich das soziale Gewebe der Zivilgesellschaft entwickeln kann. Entscheidend ist dabei die Annahme, dass dieses ökonomische Skelett eine bestimmte Statik und Struktur hat, die sich auf die Zivilgesellschaft übertragen und ihr ebenfalls eine bestimmte Ausprägung und Form geben. Drei Annahmen sollen im Einzelnen erörtert werden: Erstens, dass ökonomische Netzwerke soziale Inklusionsprozess initiieren; dass zweitens die instrumentelle Reziprozität, die in ökonomischen Netzwerken verkörpert ist, eine Grundlage für emotionale Bindungen sein kann; und dass drittens die für Märkte typischen Vertragsbeziehungen das Potential „vertrauensbildender Maßnahmen“ haben. Thesenhaft zusammengefasst: i)

ökonomische Netzwerke führen zur sozialen Inklusion;

ii) instrumentelle Reziprozität führt zur expressiven Sympathie; iii) Vertragsbeziehungen führen zu persönlichem Vertrauen.

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1. Von ökonomischen Netzwerken zur sozialen Inklusion Brückenbildende Netzwerke sind von zentraler Bedeutung, wenn das in ihnen verkörperte Soziale Kapital zur Kooperation und gesellschaftlichen Integration über Gruppengrenzen hinweg beitragen soll. Netzwerke, die auf bestimmte Gruppen beschränkt bleiben und Nicht-Mitglieder systematisch ausgrenzen, verstärken soziale und gesellschaftliche Barrieren, anstatt sie zu überwinden. Inwiefern können nun insbesondere ökonomische Netzwerke zur Brückenbildung und sozialen Inklusion beitragen? Diese Frage lässt sich auf der Basis einer Erkenntnis beantworten, die Mark Granovetter bereits im Jahr 1973 in einem einflussreichen Aufsatz – The Strength of Weak Ties – publiziert hat: Demnach sind es vor allem die sog. „schwachen“ Bindungen zwischen den Mitgliedern eine Gesellschaft, denen eine für gesellschaftliche Integration und Kooperation wichtige Funktion zukommt. Diese Erkenntnis widerspricht einer verbreiteten Intuition, wonach für den sozialen Zusammenhalt besonders die „starken“ Bindungen – wie Familienbande, Freundschaften oder die persönlichen Beziehungen in engen Gemeinschaften – von entscheidender Bedeutung sind. Granovetter hat seine Einsicht anhand einer empirischen Studie gewonnen, in der festgestellt wurde, dass Hilfe bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz erfolgreicher ist, wenn man Netzwerke mit schwachen, aber weit reichenden Bindungen in Anspruch nehmen kann, als wenn man auf Netzwerke mit zwar starken, in ihrer Reichweite aber begrenzten Bindungen angewiesen ist. Die Erklärung ist einfach und einleuchtend: Innerhalb des begrenzten Rahmens starker Bindungen ist die Chance für neue Informationen und Kontakte deutlich geringer als im Rahmen weit verzweigter schwacher Bindungen, die Informationen und Kontakte aus Bereichen vermitteln können, zu denen man sonst keinen Zugang hätte. Granovetter hat das Ergebnis seiner Studie in einem einfachen theoretischen Modell generalisiert. Demnach sind Individuen normalerweise in mehr oder weniger großen Netzwerkclustern eingebunden, deren Mitglieder durch eine Vielzahl von starken und schwachen Bindungen miteinander verknüpft sind. Ein zentrales Prinzip dabei ist, dass starke Bindungen zwischen Personen normalerweise weitere schwache Bindungen nach sich ziehen: Wenn A mit B und C befreundet ist – also eine starke Bindung zwischen ihnen besteht –, dann ist es plausibel, dass zwischen B und C zumindest eine schwache Bindung entstehen wird: weil man sich etwa bei Gelegenheit gemeinsam bei A trifft und es wahrscheinlich ist, dass auch B und C – als Freunde von A – gewisse Gemeinsamkeiten haben, die eine positive Beziehung nahe legen.

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Solche Cluster werden nun in der Regel immer nur eine begrenzte Ausdehnung erreichen können, weil jedes Individuum nur über eine begrenzte Zahl von starken Bindungen verfügen kann. Für Gesellschaften von einer bestimmten Größe an wird es deshalb nicht untypisch sein, dass sie auf der Ebene dieser Cluster fragmentiert sind. Eine Gesellschaft wird kaum als Ganze ein einheitliches und umfassendes, über starke Bindungen vermitteltes Cluster bilden. Hinzu kommt, dass Cluster dieser Art häufig keine „brückenbildenden“, sondern eher „bindende“ Netzwerke sind, bei denen die internen starken Bindungen durch die Homogenität ihrer Mitglieder gefördert werden. Dementsprechend geht von ihnen die Gefahr von Exklusionsprozessen und einer Schädigung der gesellschaftlichen Integration insgesamt aus. Soziales Kapital bleibt dann auf die jeweilige Gruppe beschränkt. Aus dieser Perspektive ist es von zentraler Bedeutung, dass die unterschiedlichen Cluster in ein übergreifendes Netzwerk eingebettet sind, durch das „Brücken“ zwischen den verschiedenen Gruppen entstehen. Die zentrale Botschaft von Granovetter lautet in diesem Zusammenhang, dass solche „Brücken“ zwischen den verschiedenen Netzwerkclustern vorzugsweise durch schwache Bindungen gebildet werden müssen. Vor allem ihnen kommt die Aufgabe zu, gesellschaftsweite Verknüpfungen herzustellen und Gruppengrenzen zu transzendieren. Wenn es deshalb um die Frage geht, durch welche soziale Strukturen Kooperation und Integration in einer modernen Großgesellschaft gewährleistet werden können, dann muss die tragende Rolle und das Potential von solchen schwachen Bindungen erkannt und untersucht werden. Über die treibenden Kräfte, die hinter der Entstehung von brückenbildenden schwachen Bindungen stehen könnten, macht Granovetter allerdings wenig Angaben. Es handelt sich dabei ja um keine selbstverständliche Entwicklung: Emotionale Verbundenheit, persönliche Nähe oder soziale Gemeinsamkeiten kommen als Motive eher nicht in Frage, wenn es um Beziehungen zu Außenstehenden oder Mitglieder anderer Gruppen geht. Ein prominentes Motiv existiert jedoch, das eine solche gruppentranszendierende Wirkung entfalten kann: das Interesse an einem Austausch von Gütern und Leistungen, um die eigene materielle Lage und Versorgung zu verbessern. In diesem Zusammenhang ist es nicht die Ausnahme, sondern die Regel, dass sich lukrative Aussichten auch und gerade außerhalb der eigenen Gruppe oder Gemeinschaft eröffnen. Wirtschaftliche Austauschbeziehungen sind demnach prädestiniert für eine genuine Brückenfunktion und eine Überwindung gesellschaftlicher Fragmentierung in voneinander isolierte Cluster. Mit der Entstehung von Märkten entwickelt sich eine Dynamik von Anreizen, Beziehungen zum Zweck ökonomischer Transaktionen über gegebene Gruppengrenzen hinweg anzuknüpfen. Die daraus resultie-

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renden Netzwerke können Menschen und Gemeinschaften miteinander verbinden, die ansonsten kein Interesse an Kontakt und Interaktion haben (vgl. Baurmann 1996; 1997a; 1997b; Putnam 2000; Saguaro 2005). Kaum eine andere „gesellschaftliche Kraft“ produziert in vergleichbarer Weise wie der wirtschaftliche Markt eine Motivation, jenseits der eigenen Gruppe Beziehungen mit Außenstehenden aufzunehmen. Kein anderes Interesse ist so universell und stark, um Grenzen zu überwinden, wie das ökonomische Interesse. Der Grund liegt auf der Hand: Erfolgreiches Handeln auf dem Markt bedeutet, Güter dort zu kaufen, wo sie am preiswertesten sind, Produkte dort anzubieten, wo der höchste Preis erzielt werden kann, Investitionen dort zu tätigen, wo die Rendite am höchsten ist, dort zu produzieren, wo der Arbeitsmarkt günstig ist, und dort zu arbeiten, wo die höchsten Löhne gezahlt werden. Märkte drängen dazu, wirtschaftliche Beziehungen rein instrumentell-rational unter Effizienzgesichtspunkten zu beurteilen. Soziale und räumliche Mobilität ist dabei eine der wesentlichen Erfolgsbedingungen. Der Markt funktioniert insgesamt dann besten, wenn er unbegrenzt ist, und der einzelne hat dann die größten Erwerbschancen auf dem Markt, wenn er dieses Potential nutzt und geographische, soziale und kulturelle Grenzen hinter sich lässt (vgl. Baurmann/Lahno 2002). Als brückenbildende Netzwerke verkörpern ökonomische Netzwerke soziale Inklusion anstatt sozialer Exklusion: Sie schließen Menschen nicht von für sie vorteilhaften Beziehungen aus, sondern sie schließen sie ein. Aber es darf natürlich nicht übersehen werden, dass wirtschaftliche Beziehungen auf Märkten „schwache“ Bindungen in geradezu exemplarischer Weise darstellen. Sie können sich auf reine Vertragsbeziehungen reduzieren, bei denen es um einen formell-rechtlich geregelten und sanktionierten Austausch von Gütern und Leistungen geht. Ökonomische Beziehungen können jeden persönlichen, sozialen oder emotionalen Gehalt entbehren und sich auf ausschließlich sachlich geprägte Transaktionen im gemeinsamen Interesse beschränken. „Sozial inklusiv“ sind sie dann nur in dem minimalen Sinn, dass sie kooperative, wechselseitig vorteilhafte Beziehungen zwischen den Beteiligten repräsentieren, freiwillig eingegangen werden und grundlegende Rechte der Beteiligten wie das Lebens- und Besitzrecht respektieren. 2. Von instrumenteller Reziprozität zur expressiven Sympathie Die exemplarisch schwachen Bindungen in rein ökonomischen Beziehungen sind durch eine instrumentelle Reziprozität charakterisiert: „instrumentell“ sind sie in dem Sinn, dass es den Beteiligten allein um ihren persönlichen Vorteil und Nutzen zu tun ist und der Tausch- und Vertragspartner insofern nur ein Mittel zum Zweck der Mehrung des eigenen Wohls ist;

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„Reziprozität“ verkörpern sie, insofern Vorteile und Nutzen wechselseitig sind und beide Partner von den Transaktionen profitieren. Insgesamt kann es also um eine sehr nüchterne, rationale, utilitaristische und unpersönliche Art von Beziehung gehen, in der noch wenig von den Qualitäten zu erkennen ist, die sie auch zu einem sozialen Kapital für die Beteiligten machen könnten. Ein „sozialer Lerneffekt“ erscheint auch deswegen als eher niedrig zu veranschlagen, weil eine rein opportunistische, ausschließlich auf das materielle Eigeninteresse bezogene Haltung ausreichend zu sein scheint, um ökonomische Beziehungen zu tragen – das ist jedenfalls die klassische Botschaft der Ökonomik. Wie soll dann aber aus einer solchen instrumentellen Reziprozität wechselseitige Verbundenheit und Vertrauen erwachsen, die doch für die Bildung Sozialen Kapitals unverzichtbar und ausschlaggebend sein sollen? Émile Durkheim hat zu dieser Frage in seinem Frühwerk Über soziale Arbeitsteilung eine wenig beachtete These mit einer überraschenden Schlussfolgerung entwickelt – auch wenn seine Formulierungen zunächst etwas dunkel erscheinen: „Wenn man die sozialen Beziehungen, die aus der Arbeitsteilung erwachsen, oftmals ausschließlich als Tauschbeziehungen auffasst, so verkannte man, was ein Austausch beinhaltet und was sich aus ihm ergibt. Er setzt voraus, dass zwei Wesen wechselseitig voneinander abhängen, weil sie beide unvollständig sind. (. . .) Er ist also nur der oberflächliche Ausdruck eines inneren und profunderen Zustandes. (. . .) Das Bild dessen, der uns vervollständigt, verbindet sich untrennbar mit unserem eigenen (. . .) Es wird in einem derartigen Ausmaß zum integrierten und beständigen Teil unseres Bewusstseins, dass wir es nicht mehr übergehen können. (. . .) Darum lieben wir die Gesellschaft dessen, den es darstellt.“ (Durkheim 1893, 108)

Der wesentliche Punkt ist trotz der etwas opak anmutenden Argumentation klar: Ein scheinbar rein nutzenorientierter Austausch kann demnach dazu führen, dass zwischen den beteiligten Personen eine (sogar starke) emotionale Bindung entsteht. Der Grundgedanke ist einfach und – mit der einen oder anderen Ergänzung – tatsächlich auch überzeugend: Wenn zwei Personen Güter oder Leistungen tauschen, tun sie das, weil sie „unvollständig“ und insofern „abhängig“ voneinander sind. Die Tatsache, dass man durch einen anderen „vervollständigt“ wird, verbindet aber emotional mit ihm und lässt so eine Beziehung entstehen, die über den wirtschaftlichen Tauschakt hinausgeht. Durkheim sieht hier sogar die Quelle der Solidarität in einer arbeitsteiligen Gesellschaft (vgl. Baurmann 1999a). Wirklich plausibel wird diese Annahme Durkheims, wenn man das Wesen des Tausches weniger darin sieht, dass von einander „abhängige“ Personen sich durch ihren Tausch „vervollständigen“, sondern wenn man erkennt, dass es sich um eine Reziprozitätsbeziehung handelt, die für beide

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Beteiligten einen Vorteil erzeugt. Partner in einem freiwilligen Austausch erbringen eine Leistung, die für sie weniger Kosten verursacht als ihnen die Gegenleistung an Gewinn verschafft: Das, was ich im Tausch von dem anderen erwerbe, ist für mich wertvoller als das, was ich meinerseits übertrage. Das „Geheimnis“ des Tausches ist die wechselseitige Nützlichkeit und „Ergänzung“ der Tauschpartner, weniger ihre gegenseitige Abhängigkeit, die sich gerade auf einem großen Markt nicht auf bestimmte Personen bezieht. Das erscheint auch unter emotionalen Gesichtspunkten entscheidend. Man muss keine psychologische Theorie bemühen, um die Annahme einleuchtend zu finden, dass die Tatsache, dass eine andere Person mir zu etwas verhilft, was für mich wertvoll ist, was meine Lage verbessert und was ich mir wünsche, ceteris paribus zu einer Entstehung positiver Gefühle dieser Person gegenüber beiträgt. Dabei müssen keine starken Emotionen im Spiel sein. Wenn es etwa um den einmaligen Tausch trivialer Güter oder Leistungen geht, kann es sich um schwache, kaum registrierbare Affekte handeln, die leicht durch andere Faktoren überlagert werden können. Grundsätzlich aber gilt, dass ein Austausch eine Situation darstellt, in der die Beteiligten zu einer positiven emotionalen Reaktion auf ihr Gegenüber provoziert werden. Das gilt umso mehr, wenn es um dauerhafte, stabile und als „fair“ empfundene Tauschbeziehungen geht, die aus einer ganzen Kette von Transaktionen bestehen. Das ist offenbar der Fall, an den Durkheim selber gedacht hat, wenn er davon spricht, dass sich „das Bild“ des anderen mit dem eigenen „untrennbar“ verbinde. In kontinuierlichen Tauschbeziehungen wiederholen sich regelmäßig die Situationen, in denen sich die Partner wechselseitig von Nutzen sind. Das bedeutet nicht nur, dass sich die positiven affektuellen Werte der Einzelfälle quasi summieren, sondern dass sich auch der Nutzen, der mir durch eine andere Person und ihre Handlungsweise zuwächst, zu einer möglicherweise erheblichen Gesamtmenge addiert. Der wirtschaftliche Wohlstand, den man genießt, kann möglicherweise aus einer einzigen, lang andauernden Geschäftsbeziehung stammen. Denkt man an iterierte Tauschbeziehungen zwischen bestimmten Personen, dann wird also die Annahme, dass aus dem Tausch als solchem positive emotionale Bindungen zwischen den Beteiligten entstehen können, umso einleuchtender. Es ist in der Tat nur schwer und unter ungewöhnlichen Bedingungen vorstellbar, dass etwa zwei Personen über viele Jahre hinweg in einer für beide Seiten erfolg- und ertragreichen Geschäftsbeziehung miteinander stehen und sich dabei gleichzeitig unsympathisch und ohne positive Gefühle füreinander sind. Ja, es gibt eher Beispiele für das gegenteilige Phänomen, dass ökonomische Tauschbeziehungen sogar in der Lage sind, feindselige Emotionen zu dämpfen und schließlich durch posi-

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tive Gefühle zu überwinden. Ein Weg, wie aus Feinden Freunde werden können, ist offenbar die Entwicklung von wirtschaftlichen Beziehungen. Der wesentliche Punkt bei der „Durkheim-These“ ist der angenommene Übergang von „instrumenteller Reziprozität“ zu „expressiver Sympathie“: das heißt, von einer Beziehung, die wechselseitig eine rein zweckrationale Handlungsweise auf der Basis materieller Eigeninteressen verkörpert, zu einer Beziehung, in der diese instrumentelle Reziprozität mit einer Komponente „expressiver“ Emotionalität in Form von wechselseitiger Sympathie und affektueller Verbundenheit „sozial aufgeladen“ wird – wobei die instrumentelle Reziprozität die Ursache für das Entstehen der expressiven Emotionalität ist. Die Beziehung „als solche“ erhält in der Folge einen intrinsischen Wert, der sich von ihrer extrinsischen Nützlichkeit sozusagen ablöst. Es geht also nicht um die Annahme, dass bereits sozial eingebettete Austauschbeziehungen positive emotionale Konsequenzen haben (vgl. etwa Thibaut/Kelley 1959; Homans 1961; Blau 1964). Es geht vielmehr um die These, dass selbst Tauschakte, die unter reinen Nützlichkeitserwägungen vollzogen und bei denen die Tauschpartner zunächst rein instrumentell als bloße Mittel zur Steigerung der eigenen Wohlfahrt angesehen werden, ungeplant und unintendiert die Konsequenz haben, dass sich positive Gefühle gegenüber der Person des Tauschpartners entwickeln. Die Plausibilität der These, dass derjenige, der einem anderen nützt, in der Regel zum Objekt seiner positiven Zuwendung wird, lässt sich aber nicht nur durch den Commonsense stützen. In den letzten Jahren haben insbesondere eine Reihe von Laborexperimenten von Edward J. Lawler und seinen Mitarbeitern (Lawler/Yoon 1993; 1996; 1998; Lawler/Thye 1999; Lawler/Thye/Yoon 2000; vgl. auch Kollock 1994) systematisch gestützte Evidenz für diese These produziert. Diese Experimente zielen genau auf den hier interessierenden Zusammenhang: Mit ihnen soll untersucht werden, ob und unter welchen Bedingungen aus rein instrumentellen Beziehungen positive Emotionen zwischen den Beteiligten entstehen. Man kommt mit ihnen zu dem gleichen Ergebnis wie Durkheim: Beziehungen instrumenteller Reziprozität haben demnach als solche das Potential, sich zu einer „expressiven Reziprozität“ zu entwickeln, unabhängig von allen anderen Faktoren, die ebenfalls emotionale Bindungen zwischen Personen fördern können. In den Laborexperimenten wurde durch ein geschicktes Design der Einfluss anderer Einflussfaktoren kontrolliert: Aussehen, Geschlecht, Alter, Kommunikation, Sozialverhalten, Gruppenzugehörigkeit etc. So wurden Experimente durchgeführt, in denen die Beziehungen zwischen den Versuchsteilnehmern künstlich auf eine rein instrumentelle Reziprozität reduziert wurden, indem nur anonyme, über Terminals vermittelte Tauschakte abgewickelt werden konnten. Es gab keinen persönlichen Kontakt, keine verbale

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und non-verbale Kommunikation, kein Wissen über die Person des Partners oder über seine Verhaltensweisen außerhalb der abstrakten Tauschsituation – das einzige, worüber etwas zu erfahren war, war sein Tauschverhalten. Aber auch in solchen extrem unpersönlichen Kontexten führt allein die Tatsache eines erfolgreichen Austausches zur Entstehung positiver Gefühle gegenüber dem unbekannt bleibenden Partner. Diese Laborexperimente sind besonders aufschlussreich. Häufig ist man Experimenten gegenüber skeptisch. Experimente stellen eine „künstliche“ Situation her, in der die Komplexität der realen Welt systematisch ausgeblendet wird und man deshalb Zweifel an der Übertragbarkeit und Generalisierbarkeit der Resultate haben kann. Im Labor bin ich vielleicht bereit, zehn Euro zu teilen, werde ich aber auch in der Realität bereit sein, tausend Euro zu teilen? Bei den Experimenten zur Entstehung von positiven Emotionen aus instrumentellen Austauschbeziehungen liegt die Sache etwas anders. In diesem Fall kann man sogar den umgekehrten Schluss ziehen: Wenn diese Resultate im Labor zustande kommen, dann ist es umso wahrscheinlicher, dass sie auch unter realen Bedingungen auftreten werden. Das liegt daran, dass in den Experimenten vor allem diejenigen Faktoren ausgeblendet wurden, die in der Realität eine positive emotionale Beziehung eher noch wahrscheinlicher machen: In der Realität hat man persönlichen Kontakt mit den Tauschpartnern, man kommuniziert mit ihnen, steht möglicherweise über viele Jahre hinweg in einer Beziehung zu ihnen und erlebt sie mit Verhaltensweisen, die sich nicht nur auf den Tauschakt richten. Die Chance, dass sich aus einer erfolgreichen instrumentellen Beziehung eine persönliche Beziehung mit expressiv-emotionalen Aspekten entwickelt, ist daher grundsätzlich größer. Vor allem aber geht es in realen Tauschbeziehungen häufig um viel mehr als um die in der Regel mageren Einsätze, die im Labor auf dem Spiel stehen. Wenn Menschen im Labor nachweisbar die Disposition haben, bereits positive Gefühle einem Tauschpartner gegenüber zu entwickeln, mit dem sie zehn mal erfolgreich Schokoladenstücke getauscht und den sie niemals zu Gesicht bekommen haben, um wie viel mehr werden sie dazu neigen, positive Gefühle denjenigen gegenüber zu entwickeln, mit denen sie über viele Jahre hinweg in einem regelmäßigen persönlichen Kontakt in einer erfolgreichen und lukrativen Wirtschaftsbeziehung stehen? Ein erstes Zwischenfazit: Ökonomische Netzwerke sind nach alledem dafür prädestiniert, brückenbildende Bindungen zu produzieren, auf diese Weise die Überwindung von Gruppengrenzen zu ermöglichen und soziale Inklusion zu fördern – soziale Inklusion aber zunächst nur durch exemplarisch schwache Bindungen in Form der instrumentellen Reziprozität wechselseitig nützlicher Austauschbeziehungen. Wenn die Durkheim-These zu-

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treffend ist, dann haben aber auch solche rein instrumentellen Beziehungen das Potential zur „endogenen“ Vertiefung ihrer sozialen Qualitäten. Aus instrumenteller Reziprozität kann wechselseitige Sympathie und emotionale Zuwendung entstehen. Der Tauschpartner erscheint dann nicht mehr allein als „Mittel zum Zweck“, sondern als Objekt von emotionaler Bedeutung. Das können immer noch relativ schwache Bindungen sein, wie sie etwa für Geschäftspartner typisch sind, die sich mögen und die sich auch in einem gewissen Masse sozial austauschen, die aber eben keine Freunde sind. Aber auch diese Bindungen sind schon weniger „schwach“ als ausschließlich instrumentelle Beziehungen. Sie sind bereits „sozial aufgeladen“ und repräsentieren damit auch eine erste Form von Sozialem Kapital: So kann auch die moderate Sympathie, die ich bei anderen genieße, sich in bestimmten Situationen in die „bare Münze“ konkreter Hilfen oder eines verständnisvollen Entgegenkommens auszahlen – abgesehen von dem intrinsischen Wert, den Anerkennung und emotionale Zuwendung als solche verkörpern. Entscheidend aber ist: Insofern ökonomische Netzwerke solche brückenbildenden Funktionen für unterschiedliche Gruppen und Gemeinschaften erfüllen und sich daraus tatsächlich Beziehungen mit positiven emotionalen Qualitäten zwischen den Beteiligten entwickeln, ermöglichen sie die Entstehung positiver Gefühle und emotionaler Bindungen auch außerhalb der eigenen Gruppe und Gemeinschaft. Und genau eine solche auch „emotionale Überschreitung“ von Gruppengrenzen erscheint als notwendige Voraussetzung dafür, dass das Soziale Kapital einer Gruppe oder Gemeinschaft nicht nur für ihre eigenen Mitglieder, sondern auch für Außenstehende und die Gesellschaft insgesamt ein öffentliches Gut und von allgemeinem Nutzen ist. 3. Von geschäftlichen Verträgen zu persönlichem Vertrauen Beziehungen instrumenteller Reziprozität, wie sie exemplarisch für rein ökonomisch geprägte Austausch- und Vertragsbeziehungen sind, fördern die Entstehung gruppenübergreifenden Sozialen Kapitals aber nicht nur durch ihr Potential zur Generierung positiver Affekte und Gefühle. Ganz unabhängig von den möglichen emotionalen Dimensionen solcher Beziehungen produzieren und transferieren wirtschaftliche Tauschhandlungen – auch wenn sie für die Beteiligten einen rein instrumentellen und persönlich anonymen Charakter haben – Informationen: Informationen über Märkte, Produkte, Leistungen, Unternehmen und Personen. Darunter sind viele Informationen, die für die Bildung von Vertrauen wichtig sind: Informationen über die Qualität von Produkten und Leistungen, die Organisation und die Strategien von Unternehmen sowie über die Eigenschaften und Verhaltensweisen von Personen als Vertragspartnern. Diese Informationen werden direkt und indi-

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rekt zur Verfügung gestellt: direkt durch persönliche Erfahrungen, indirekt durch das Zeugnis anderer Personen, die als „Vertrauensintermediäre“ (Coleman 1990) ihre eigenen Erfahrungen und Kenntnisse weitergeben. Unter diesem Gesichtspunkt verkörpern auch ökonomische Netzwerke unmittelbar Soziales Kapital, denn Vertrauen ist ein Kernbestandteil Sozialen Kapitals. Wesentlich ist dabei, dass durch wirtschaftliche Transaktionen vermitteltes Vertrauen über die Brücken hinweg gebildet werden kann, die von den ökonomischen Netzwerken zur Verfügung gestellt werden. Die schwachen Beziehungen in ökonomischen Netzwerken sorgen für die Wirksamkeit eines Reputationsmechanismus, der Informationen über Vertrauenswürdigkeit über Gruppengrenzen hinweg transportiert und damit auch die Herausbildung eines „generalisierten“ Vertrauens jenseits der Mitglieder der eigenen Gruppe oder Gemeinschaft ermöglicht. Insofern können ökonomische Netzwerke wesentlich dazu beitragen, ein partikulares, rein gruppenbezogenes Vertrauen zu überwinden, das in Kombination mit einem generalisierten Misstrauen nach außen das Soziale Kapital einer Gruppe für die Gesellschaft insgesamt entwertet. Solange allerdings die in den ökonomischen Netzwerken verkörperten Beziehungen rein instrumenteller Natur sind, solange wird sich Vertrauen im Rahmen dieser Netzwerke auch nur auf die speziellen Dimensionen von Vertrauenswürdigkeit beziehen können, die für die Erfüllung der Erwartungen in dieser Art von Beziehungen notwendig sind: Produktqualität, Leistungsstandards, Zuverlässigkeit, Rechts- und Vertragstreue, Ehrlichkeit. Von Sozialem Kapital erhofft man sich bekanntlich aber erheblich mehr, nicht zuletzt die Förderung von Bürgertugenden und zivilem Engagement für die Demokratie. Das Vertrauen, das hierbei zur Debatte steht, bezieht sich nicht auf die Qualitäten des Bürgers als Marktakteur. Es kann sich deshalb über rein instrumentelle Beziehungen auch kaum herausbilden. Das Bild ändert sich jedoch, wenn man die Möglichkeit berücksichtigt, dass sich aus instrumentell-ökonomischen Beziehungen weitergehende, genuin soziale Beziehungen entwickeln können. Solche „sozialen Einbettungen“ (Granovetter 1985) ökonomischer Beziehungen können sehr vielgestaltig und von sehr unterschiedlicher Intensität sein. Sie beginnen bei einem freundlichen Small Talk unter Geschäftspartnern, gelegentlichen privaten Treffen nach getaner Arbeit und gemeinsamen Vereinsmitgliedschaften. Aus Geschäftsbeziehungen können sich aber auch lebenslange Freundschaften, gemeinsame Familien oder umfassende soziale Gemeinschaften entwickeln. Allen diesen Formen sozialer Einbettung ist gemeinsam, dass es um Beziehungsgeflechte und Netzwerke geht, die keinen rein instrumentellen Charakter mehr haben und in denen Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen relevant werden, die in instrumentellen Beziehungen keine oder eine

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untergeordnete Rolle spielen. Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit haben deshalb in solchen sozial „reicheren“ Beziehungen eine viel umfassendere Bedeutung. Sie sind multidimensional und das Wissen, dass eine Person vertrauenswürdig ist, enthält in diesem Rahmen viel mehr Informationen über die Eigenschaften und charakterlichen Qualitäten dieser Person als wenn sich ein solches Urteil nur auf ihr Verhalten bei wirtschaftlichen Transaktionen beschränkt. An diesem Punkt schließt sich der Kreis mit den Überlegungen zu der Durkheim-These. Wenn es zutrifft, dass aus ökonomischen Beziehungen instrumenteller Reziprozität wechselseitige Sympathie und emotionale Bindungen erwachsen können, dann folgt daraus, dass solche Beziehungen ein endogenes Potential zur Herausbildung sozialer Beziehungen unterschiedlicher Art besitzen. Sie tendieren dann dazu, sich ihre eigene soziale Einbettung zu schaffen. Denn in dem Maße, in dem sich aus einer Beziehung bloßer wechselseitiger Nützlichkeit eine emotionale Verbindung zwischen den Beteiligten entwickelt, in dem Maße werden sie beginnen, ihre Beziehung „als solche“ zu schätzen. Sympathie und Zuneigung zwischen Menschen führen dazu, dass sie – auch ohne extrinsische Anreize – den regelmäßigen Kontakt miteinander suchen und motiviert sind, ihre Beziehungen in verschiedene Richtungen auszubauen und zeitlich zu verstetigen. Aus Netzwerken, die ursprünglich rein wirtschaftlichen Zwecken dienten, können sich auf diesem Wege Netzwerke mit vielfältigen und vielgestaltigen ökonomischen und sozialen Funktionen bilden. Dies ist ein Prozess, der sich selbst tragen und verstärken kann: Ökonomische Beziehungen können positive Emotionen und soziale Einbettungen fördern und erleichtern, emotionale Bindungen und soziale Einbettungen fördern und erleichtern aber auch ökonomische Transaktionen. So entsteht im Idealfall ein stabiler Entwicklungspfad. Wichtig für eine Demokratie ist, wie zu Anfang festgestellt wurde, dass durch Soziales Kapital Gruppengrenzen überwunden, Exklusionsgefahren gebannt und eine Partikularisierung von emotionalen Bindungen und Vertrauen verhindert werden. Wirtschaftliche Märkte motivieren Menschen aus Eigeninteresse dazu, ökonomische Netzwerke zu schaffen, die Brücken zwischen ihren jeweiligen Gruppen und Gemeinschaften bilden. Sie stellen damit – um das Bild noch einmal aufzugreifen – das „knochenharte“ Skelett zur Verfügung, das die verschiedenen Körperteile miteinander verbindet und zusammenhält. An diesem Skelett kann sich dann das Gewebe „weicherer“ sozialer Beziehungen entwickeln, wobei entscheidend ist, dass sich dieses Gewebe tatsächlich über den ganzen „Gesellschaftskörper“ verbreitet. Das Schlüsselelement Sozialen Kapitals, Vertrauen, kann auf diesem Weg über Gruppengrenzen hinweg generalisiert werden – und zwar nicht nur im Hinblick auf die öko-

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nomische Vertrauenswürdigkeit der Akteure, sondern auch im Hinblick auf ihre persönliche und soziale Vertrauenswürdigkeit. Meinem langjährigen Geschäftspartner, mit dem ich befreundet bin und mit dem ich private, soziale und politische Aktivitäten teile, traue ich eben nicht nur als Geschäftspartner, sondern auch als Mensch und Bürger. Anstatt den Versuch zu machen, diese Überlegungen hier weiter zu vertiefen, soll lieber an einem konkreten Beispiel abschließend dokumentiert werden, dass es sich bei einer solchen Vision nicht um eine irreale und wirklichkeitsfremde Utopie handelt. Es existiert vielmehr bereits ein sehr erfolgreiches historisches Vorbild, das beweist, wie erfolgreich der Markt als Instrument der sozialen Integration in der Praxis funktionieren kann, und zwar auch dann, wenn die Ausgangsbedingungen alles andere als günstig sind. Dieses Beispiel ist die Europäische Gemeinschaft! Der europäische Einigungsprozess begann bekanntlich außerordentlich „bescheiden“ mit dem Bestreben, in einem ersten Schritt ehemalige Todfeinde wenigstens auf einem gemeinsamen Markt einander näher zu bringen. Aber es ist erstaunlich und eindrucksvoll, wie klar die Gründungsväter der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bereits von Beginn an die zur damaligen Zeit in der Tat ganz und gar utopische Vorstellung vor Augen hatten, dass eine rein ökonomisch motivierte Kooperation in Europa einen Prozess des umfassenden gesellschaftlichen Zusammenwachsens anstoßen könnte: Aus einem ganz profanen ökonomischen Interesse an Kohle und Stahl sollte Frieden und Freundschaft werden! Was immer man Skeptisches über den Prozess der europäischen Einigung sagen kann: Diese kühne Vision ist tatsächlich wahr geworden und diese Tatsache ist vielleicht mehr als jede theoretische Spekulation dazu geeignet, die „soziale Produktivkraft“ des Marktes zu belegen. Ich zitiere aus der Präambel zu dem Gründungsvertrag einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl aus dem Jahre 1951: „IN DEM BEWUSSTSEIN, dass Europa nur durch konkrete Leistungen, die zunächst eine tatsächliche Verbundenheit schaffen, und durch die Errichtung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung aufgebaut werden kann, IN DEM BEMÜHEN, durch die Ausweitung ihrer Grundproduktionen zur Hebung des Lebensstandards und zum Fortschritt der Werke des Friedens beizutragen, ENTSCHLOSSEN, an die Stelle der jahrhundertealten Rivalitäten einen Zusammenschluss ihrer wesentlichen Interessen zu setzen, durch die Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft unter Völkern zu legen, die lange Zeit durch blutige Auseinandersetzungen entzweit waren, und die institutionellen Grundlagen zu schaffen, die einem nunmehr allen gemeinsamen Schicksal die Richtung weisen können, HABEN WIR BESCHLOSSEN, eine Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl zu gründen.“

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Besser kann man die Hoffnung nicht ausdrücken, dass aus Feindschaft instrumentelle Beziehungen und aus instrumentellen Beziehungen schließlich emotionale Bindungen und Vertrauen erwachsen können.

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Effizienz und Gerechtigkeit als wirtschaftspolitische Leitideen Von Hans G. Nutzinger I. Die weitgehende Verabschiedung von der Gerechtigkeitsidee bei Adam Smith Grob, aber wohl doch nicht unfair vereinfacht kann man sagen, dass die moderne Ökonomik sich seit und mit Adam Smith nur dadurch zur selbständigen, von Moralphilosophie und Theologie getrennten Wissenschaft entwickeln konnte, dass sie die klassische umfassende Gerechtigkeitsfrage in der Tradition des Aristoteles aufgab und im Wesentlichen auf nur einen bestimmten Aspekt der Problematik, nämlich den der Tauschgerechtigkeit, einschränkte. Folgen wir der scholastischen Begrifflichkeit, so unterscheidet Aristoteles bekanntlich zwei zentrale Aspekte der Gerechtigkeit (1983, Buch V, 1131a; 1989, Buch V, 1309a), nämlich zum einen die arithmetische oder ausgleichende Gerechtigkeit (iustitia commutativa), die auf die Gleichheit von Leistung und Gegenleistung im Tausch sowie auf die Wertgleichheit von Schaden und Schadensersatz ausgerichtet ist, und zum anderen die geometrische oder austeilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva), die vom qualitativen Gesichtspunkt der Angemessenheit und Würdigkeit jenseits quantitativer Äquivalenz bestimmt wird.1 Kurz und etwas vereinfacht gesagt: Bei der kommutativen Gerechtigkeit geht es um die Wertgleichheit von Sachen, bei der distributiven dagegen um die angemessene Behandlung von Personen. Adam Smith, der ursprünglich in seinem Gesamtwerk die Aristotelische Trias von Ethik, Ökonomie und Politik verwirklichen wollte, hat in seiner Theorie der ethischen Gefühle (1759/1994) diesen umfassenden Gerechtigkeitsbegriff praktisch aus der Ökonomie verabschiedet.2 Er 1 In der Moderne, vor allem mit der Entstehung des Sozialstaats am Ende des 19. Jahrhunderts, kommt dann vor allem die von Aristoteles so noch nicht gesehene gesellschaftliche Verteilungsgerechtigkeit (iustitia redistributiva) hinzu, die häufig ebenfalls unter den Begriff der iustitia distributiva subsumiert wird, was aber nicht ganz unproblematisch ist (vgl. dazu Helmstädter, 1997). 2 Interessanterweise kommt der Begriff „justice“ in Smiths Wohlstand der Nationen (1776) fast nur noch im Sinne von „Rechtswesen“ und „Rechtspflege“ vor.

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war sich dessen auch durchaus bewusst; wenn er nämlich meint, den „Regeln der Gerechtigkeit [. . .] gebühr[e] die heiligste, unverbrüchliche Achtung“, sie seien „im höchsten Grade genau“ und ließen „keine anderen Ausnahmen oder Modifikationen zu, als solche, die ganz ebenso genau bestimmt werden können, wie die Regeln selbst“ (S. 266), so bezieht er sich ganz explizit auf die Bedeutung dieses Wortes, die „. . . Aristoteles und die Schulgelehrten die kommutative (ausgleichende) Gerechtigkeit nennen“ (Smith 1759/1994, S. 454).3 Nur für diese (kommutative) Gerechtigkeit gilt, dass ihre Regeln „fest bestimmt, genau und unnachlässlich“ (S. 268) sind. Die anderen Tugenden – wozu nach der zuvor erfolgten Einschränkung auf die iustitia commutativa nun auch die iustitia distributiva gehört – werden hinsichtlich ihrer Verbindlichkeit und Regelhaftigkeit in den Bereich der Ästhetik verwiesen, für die unterschiedliche individuelle Abwägungen möglich sind. Smith schlussfolgert: „Die Regeln der [kommutativen] Gerechtigkeit können mit den Regeln der Grammatik verglichen werden, die Regeln der anderen Tugenden dagegen mit jenen Regeln, wie sie die Ästhetiker für die Erlangung des Erhabenen und des Eleganten in Stil und Darstellung aufstellen. [. . .Diese letzteren Regeln] sind lax, vage und unbestimmt und sie bieten uns eher eine allgemeine Vorstellung jener Vollkommenheit dar, der wir nachstreben sollen, als dass sie uns eine sichere und untrügliche Anleitung geben würden, um sie zu erwerben“ (Smith 1759/1994, S. 268).

Mit dieser Einschränkung von Gerechtigkeit als bindende gesellschaftliche Norm auf bloße Tauschgerechtigkeit ist Adam Smith zweifellos an die moderne Geldwirtschaft anschlussfähig geworden. Denn für diese ist natürlich der Gesichtspunkt der arithmetischen Gleichheit das primär bestimmende Kriterium.4 Obwohl Smith diese Einschränkung des Gerechtigkeitsbegriffs bereits in seinem ethischen Hauptwerk, der Theory of Moral Sentiments, vollzieht, 3 Dass Adam Smith einzig und allein die kommutative Gerechtigkeit im Sinne hat, wenn er von Gerechtigkeit spricht, zeigt auch seine Exemplifikation des Begriffs: „Wenn ich einem Menschen zehn Pfund schulde, dann verlangt die Gerechtigkeit, daß ich ihm ganz genau zehn Pfund zahle, sei es zu der Zeit, die wir vereinbart haben, sei es, wann er es fordert. Was ich leisten soll, wieviel ich leisten soll, wann und wo ich es leisten soll, die ganze Art und die näheren Umstände der vorgeschriebenen Handlung, alles das ist ganz genau festgesetzt und bestimmt“ (Smith 1759/1994, S. 256). Im Wesentlichen ist also die von Smith eingeforderte Gerechtigkeit als Vertragstreue konzipiert. 4 Es ist daher irreführend, wenn Nikolaus Luhmann (1984) den Bereich Wirtschaft durch den binären Code „Zahlung – Nichtzahlung“ charakterisiert sieht. Entscheidend für Praxis und Theorie dieses Bereiches ist vielmehr die Höhe der jeweiligen Zahlung.

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zeigen sich die Konsequenzen seiner disziplinären „Entkoppelung“ der Ethik von der Ökonomik deutlicher an anderer Stelle: Adam Smith kann nun, nachdem er mit dem Wohlstand der Nationen (1776/2005) eine seiner Ethik entsprechende Ökonomie geschrieben hat, seinen ursprünglichen Plan, entsprechend der Aristotelischen Trias auch ein Werk über Politik mit einem substanziellen Teil über Gerechtigkeit (justice) zu verfassen, nicht mehr zu Ende führen – eben deswegen, weil er den Gerechtigkeitsbegriff in seiner marktadäquaten Dimension der Tauschgerechtigkeit bereits behandelt und die anderen Aspekte dieses Begriffs in den Bereich privater Tugenden verwiesen hatte, die eben nicht Gegenstand einer Politik sein können. Wenige Monate vor seinem Tod schreibt Adam Smith noch in seinem Vorwort zur Auflage letzter Hand (6. Aufl. von 1790) der Theorie der ethischen Gefühle: „Im letzten Absatz des vorliegenden Werkes habe ich in der ersten Auflage gesagt, daß ich in einer anderen Abhandlung versuchen werde, eine Darstellung der allgemeinen Prinzipien des Rechts und der Regierung zu geben [. . .]. In der Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Wohlstandes der Nationen‘ habe ich dieses Versprechen zum Teil eingelöst, wenigstens insofern es sich um Verwaltung, Staatseinkünfte und Militärwesen handelt. Das auszuführen, was noch übrig bleibt – nämlich eine Theorie des Rechts, welche ich lange Zeit geplant habe, daran bin ich bisher durch eben die Beschäftigungen verhindert worden, die mich auch davon abgehalten haben, das vorliegende Werk einer Durchsicht zu unterziehen. Mein bereits sehr vorgerücktes Alter läßt mir, wie ich wohl weiß, zwar sehr wenig Hoffnung, daß ich noch jemals imstande sein werde, dieses große Werk so, wie ich es wünschen würde, auszuführen; da ich aber die Absicht dazu doch noch nicht so ganz aufgegeben habe, und da ich immer noch den Wunsch hege, auch ferner das zu tun, was ich vermag, um die übernommene Verpflichtung zu erfüllen, so habe ich den Absatz so stehen lassen, wie er vor mehr als dreißig Jahren veröffentlicht wurde, als ich noch keinen Zweifel daran hegen konnte, daß ich imstande sein werde, alles auszuführen, was er verspricht.“ (Smith 1759/1994, S. 1*f.) Da Smith wenige Monate nach der Abfassung dieser Sätze verstarb, konnte er schon deswegen sein vermeintliches Vorhaben, einen dritten Band mit dem Schwerpunkt Recht und Gerechtigkeit zu vollenden, nicht mehr durchführen. Wir haben allerdings Grund zu der Vermutung, dass er auch die posthume Einlösung des Publikationsversprechens durch andere, etwa seine engsten Freunde, verhindern wollte, denn er überwachte von seinem Sterbelager aus noch in seinen letzten Lebenstagen die von ihm angeordnete Verbrennung seiner unpublizierten Manuskripte durch seine Bediensteten – höchstwahrscheinlich seiner Ausführungen über Recht und Gerechtigkeit als den zentralen Inhalten des ursprünglich geplanten Bandes zur

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Politik. Vermutlich hat Adam Smith selbst gesehen, dass sein reduzierter Gerechtigkeitsbegriff die alte Aristotelische Trias von Ethik, Ökonomie und Politik insofern sprengte, als sie keinen Platz mehr für Aspekte von Gerechtigkeit jenseits der iustitia commutativa ließ.5 II. Reichtumsmehrung und Effizienz an Stelle von (re-)distributiver Gerechtigkeit Der Befund erscheint eindeutig: An die Stelle einer von außen regulierenden Politik,6 deren es jedenfalls in einem umfassenden Sinne nicht mehr bedarf, wenn die vielen überflüssigen feudalen und absolutistischen Regulierungen aufgehoben sind, die das System der natürlichen Freiheit nur an seiner wohlfahrtsmehrenden Entfaltung hindern, tritt – zumindest in normativer Wendung – die Ökonomie, und zwar gerade auch in ihrer praktischen, lebensweltlichen Gestalt. Der überkommene Primat der Politik entfällt damit ebenso wie die systematische Darstellung dieses Handlungsbereichs, denn er erscheint jetzt nur noch als allgemeine Rahmenbedingung (und bei jedem darüber hinausgehenden „Eingriff“ dann eher als Störung) wirtschaftlichen Handelns: „Hebt man alle Systeme einer Förderung oder Beschränkung vollständig auf, so wird sich daher das nahe liegende und einfache System natürlicher Freiheit von selbst einstellen. Solange er nicht gegen Gesetz und Recht verstößt, steht es jedermann vollkommen frei, sein eigenes Interesse auf seine eigene Weise zu verfolgen und einerseits mit seiner Arbeit, andererseits mit seinem Kapital einem anderen – oder einem anderen Stand von Leuten – Konkurrenz zu machen.“ Entsprechend einfach wird damit auch die Regierungskunst des „Souveräns“: „Der Herrscher ist gänzlich einer Pflicht enthoben, deren Erfüllung, wenn er sie versucht, mit einer Unzahl von Fehlurteilen verbunden ist und für deren angemessene Erfüllung keine menschliche Weisheit über Wissenschaft jemals ausreichen könnte: nämlich der Pflicht, die Erwerbstätigkeit von Privatpersonen zu überwachen und sie in die Be5 Diese Vermutung ist natürlich aufgrund der Verbrennung der Manuskripte nicht mehr beweisbar, aber sie ist weit mehr als eine bloße Spekulation: In den Passagen der Theorie der ethischen Gefühle und des Wohlstand der Nationen, in denen Smith auf Recht und Gerechtigkeit Bezug nimmt, wird immer wieder klar, dass es ihm primär um die Einhaltung geltenden Rechts, insbesondere auch um die Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung geht und um die Respektierung gegebener Eigentumsverhältnisse. Überdies verfügen wir ja auch über die studentischen Mitschriften von Adam Smiths Lectures on Jurisprudence, die genau diese Tendenz bestätigen. 6 In der scholastischen Tradition wurde diese Verknüpfung funktionaler und normativer Gesichtspunkte besonders deutlich im Konzept des „gerechten Preises“ (pretium iustum) ausgedrückt, das einerseits dem Gedanken der latitudo der Variabilität der Marktpreisbildung und der Veränderlichkeit der äußeren Umstände Rechnung tragen will, das aber andererseits die Bedingungen des „sozialen Zusammenhalts und deren theologische Einbettung“ (Sturn 2007, S. 93) gewährleisten soll.

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schäftigung zu lenken, die dem Interesse der Gesellschaft am meisten entgegenkommen. Im System natürlicher Freiheit hat der Landesherr nur drei Pflichten zu erfüllen, drei Pflichten von großer Bedeutung, die aber auf der Hand liegen und dem gewöhnlichen Verstand zugänglich sind: Erstens die Pflicht, die Gesellschaft vor Gewalttaten und Angriffen anderer unabhängiger Gesellschaften zu schützen; zweitens die Pflicht, jedes Mitglied der Gesellschaft so weit wie möglich vor Ungerechtigkeit und Unterdrückung seitens jedes anderen Mitglied zu schützen, also die Pflicht, eine verläßliche Rechtspflege einzurichten, und drittens die Pflicht, bestimmte öffentliche Bauwerke und bestimmte öffentliche Einrichtungen zu schaffen und instand zu halten, deren Schaffung und Erhaltung nie im Interesse eines einzelnen oder einer kleinen Gruppe von Einzelpersonen liegen kann, wie der Gewinn daraus einem einzelnen oder einer kleinen Gruppe von Einzelpersonen nie ihre Aufwendungen ersetzen könnte, obwohl er sie einer großen Gesellschaft häufig weit mehr als zu ersetzen vermag.“ (Smith, 1776/2005, S. 671 f.)

Hier fordert Adam Smith dezidiert die Eigenlogik der Wirtschaft und damit den Rückzug der Politik aus diesem Bereich ein, wobei justice hier sowohl kommutative Gerechtigkeit als auch die Gewährleistung eines unabhängigen Rechtswesens sowie die Einhaltung geltenden Rechts durch alle Beteiligten bedeutet. Smith ist freilich nicht entgangen, dass diese wirtschaftliche Eigenlogik auch der Bereitstellung einer Infrastruktur und öffentlicher Güter („öffentliche Bauwerke und bestimmte öffentliche Einrichtungen“) bedarf, aber damit ist der Rahmen legitimer staatlicher Tätigkeit schon fast erschöpft. Aspekte der distributiven Gerechtigkeit im Sinne bindender Verpflichtungen finden sich darüber hinaus ansatzweise in der Gewährleistung der Landesverteidigung (Buch V, Kap. 1.1), die man aber ebenso zu den Funktionsbedingungen der Marktwirtschaft rechnen kann wie die Ausgaben für die Rechtspflege (Buch V, Kap. 1.2), die Ausgaben für öffentliche Bauwerke und öffentliche Einrichtungen „zur Erleichterung von Handel und Verkehr der Gesellschaft“ (Buch V, Kap. 1.3), während die „Ausgaben für Einrichtungen zur Bildung der Jugend“ (gemeint sind die staatlichen Grundschulen) und „für Bildungseinrichtungen für alle Altersstufen“ (gemeint ist die religiöse Erziehung), die ebenfalls in Kap. 1.3 von Buch V aufgeführt sind, nicht nur rein funktional als Vorbedingungen der Marktwirtschaft gesehen, sondern durchaus auch unter dem Gesichtspunkt einer distributiven Gerechtigkeit gedeutet werden können.7 7 So schreibt Smith (1776/2005, S. 752 f.) über die Notwendigkeit, einer solchen geistigen „Verstümmelung, Mißbildung und Erbärmlichkeit, wie Feigheit sie notwendigerweise mit sich bringt“ seitens des Staates ebenso entschieden entgegenzutreten wie der „Ausbreitung des Aussatzes oder einer anderen widerlichen und abstoßenden Krankheit [. . .], auch wenn solche Maßnahmen allgemein weiter nichts Gutes bewirken können als die Verhinderung eines so großen allgemeinen Übels“. Im Blick auf die Notwendigkeit einer allgemeinen Grundschulbildung fährt er fort: „Gleiches gilt für die große Unwissenheit und Dummheit, die in einer zivilisierten

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Wie bereits angedeutet, vollzieht Smith mit seiner faktischen Aufgabe der Trias von Ethik, Ökonomie und Politik, hier ganz konkret: mit seiner Herunterstufung der Politik zu einer vornehmlichen Gewährleistung wirtschaftlicher Handlungsbedingungen in einem System der natürlichen Freiheit im Wesentlichen nur das, was sich in der Praxis des damals fortschrittlichsten Landes der Erde weitgehend schon durchgesetzt hatte; insofern ist die weitgehende Beschränkung von Gerechtigkeit auf Wertgleichheit von Leistung und Gegenleistung auch eine Anpassung an die Art und Weise, wie Gerechtigkeitsprobleme in dem nunmehr dominanten Teilbereich Wirtschaft „kommuniziert“ werden: eben als Äquivalenzprobleme. Soweit der Verwirklichung dieses Systems der natürlichen Freiheit noch feudale und absolutistische Schranken im Wege standen – von den späteren sozialstaatlichen Beschränkungen konnte man sich damals wohl noch nicht einmal gedankliche Vorstellungen machen –, bedeutete die Botschaft des klassischen Liberalismus, dass es nur des Abbaus noch bestehender Regulierungen bedurfte, um eine wohlstandsschaffende und wohlstandsmehrende Gesellschaft zu verwirklichen. In gewisser Weise vollzog also Smith in der Theorie vor allem das, was die fortschrittliche Praxis seines eigenen Landes, aber auch anderer Handelsnationen nahelegte: Die weitgehende Eliminierung distributiver Gesichtspunkte aus dem Gerechtigkeitsdiskurs entsprach der ökonomieaffinen Verkürzung der Gerechtigkeitsidee auf die regulative Idee und die ihr entsprechende Praxis der kommutativen Gerechtigkeit in Form des Äquivalententauschs. In einem System der natürlichen Freiheit erfolgt die wesentliche Zuteilung der Güter über den Markt nach Maßgabe der Preise, nicht nach Gesichtspunkten der Würdigkeit.8 Ja, in gewisser Weise ist TauschgerechGesellschaft den Verstand aller unteren Volksschichten abstumpfen. Ein Mensch ohne den vollen Gebrauch seiner geistigen Kräfte ist, wenn möglich, noch verächtlicher als ein Feigling und erscheint in noch wesentlicheren Teilen seiner Menschennatur verstümmelt und verbildet. Selbst wenn der Staat keinen Vorteil aus dem Unterricht der unteren Volksschichten zöge, wäre es dennoch seine Aufmerksamkeit wert, sie nicht ganz ohne Unterricht zu lassen. Nun zieht aber der Staat gar keinen geringen Nutzen aus diesem Unterricht.“ Smith sieht diesen Nutzen in der Verdrängung von „Schwärmerei und Aberglauben [. . .] bei ungebildeten Völkern“, höherer Gesittung und Disziplin, in besserer Widerstandsfähigkeit gegenüber „eigennützigen Klagen von Parteien und Aufwieglern“, höherer Akzeptanz staatlicher Maßnahmen und in „freien Ländern, in denen die Sicherheit der Regierung sehr stark vom günstigen Urteil des Volkes über ihr Verhalten abhängt,“ auch darin, „dass dieses nicht voreilig oder leichtfertig urteilt“. 8 Die einzige bedeutende Ausnahme sind bei Smith (1976/2005, Buch V, Kap. 1.4) die „Ausgaben zur Erhaltung der Würde des Herrschers“, weil „ein Monarch an Würde höher über seinen Untertanen steht, als man es jemals vom Oberhaupt einer Republik gegenüber seinen Mitbürgern annimmt“, und daher „sind auch größere Ausgaben erforderlich, um diese höhere Würde zu erhalten. Wir erwarten na-

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tigkeit die zentrale Funktionsbedingung einer erfolgreichen Marktwirtschaft. Insofern geht es Smith ähnlich wie Hegel, der in seiner Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts von 1821, beschreibt, wie die Philosophie hinter der Wirklichkeit hinterherhinkt: „. . . die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“. Allerdings hat der klassische Liberalismus nicht nur systematische und lebensweltliche Gründe für seine Ausblendung nicht-kommutativer Gerechtigkeitsaspekte, denn er verbindet sein Programm auch mit einem Wohlfahrts- und damit indirekt auch einem substanziellen Gerechtigkeitsversprechen. Der Verweis auf die äquivalenzorientierten Voraussetzungen der Wirtschaft und der ebenfalls bei Adam Smith hervorgehobene Hinweis auf die Verbesserung gerade der Lage der ärmeren Volksschichten in einem „progressive state“9 hat ja auch die Funktion, die Frage der distributiven Gerechtigkeit nicht nur für theoretisch unzulässig (im Sinne einer gesellschaftlich verpflichtenden Norm) zu erklären, sondern ihre Bedeutung auch auf praktischer Ebene in Frage zu stellen. Die Frage der gerechten Verteilung von Gütern und Reichtümern jenseits der iustitia commutativa nach den Gesichtspunkten distributiver und später auch redistributiver Gerechtigkeit (die Smith und der klassische Liberalismus noch gar nicht kennen konnten, aber sicherlich als Verletzung des Systems der natürlichen Freiheit empfunden hätten), kurz, die Frage der sozialen Gerechtigkeit im Sinne einer staatlich geregelten (Um-)Verteilung stellte sich für den klassischen Liberalismus auch deshalb nicht, weil er von einer quantitativen und qualitativen Höherentwicklung der Gesellschaft unter Bedingungen freien Markttausches ausging. Die zweite Hälfte der klassisch-liberalen Argumentation lässt sich also vereinfacht gesagt so zusammenfassen: Die Liberalen des 18. Jahrhunderts, allen voran Adam Smith, der nicht von ungefähr den Wohlstand der Nationen als Titel seines ökonomischen Hauptwerkes wählte, waren in ihrer großen Mehrheit eben auch der – durch den weiteren geschichtlichen Fortgang im Großen und Ganzen jedenfalls in den Ländern des Nordens bestätigten – Meinung, es sei sinnvoller, an die Stelle der konfliktreichen statischen Frage nach der Angemessenheit von Verteilung von gegebenen Vermögen türlich an einem Königshof größere Pracht als im Hause eines Dogen oder eines Bürgermeisters“ (Smith, 1776/2005, S. 776). 9 So schreibt Smith (1776/2005, S. 154): „Bemerkenswert ist vielleicht, daß die Lage der erwerbstätigen Armen, der großen Masse des Volkes, in der Zeit des Fortschritts – solange die Gesellschaft noch zu weiterer Wohlstandsmehrung fortschreitet [. . .] – am glücklichsten und bequemsten ist. Sie ist schwer in der Zeit des Stillstandes und erbärmlich in der Zeit des Niedergangs. Die Zeit des Fortschritts ist in Wirklichkeit für alle verschiedenen Klassen der Gesellschaft die erfreulichste und gesündeste. Stillstand ist langweilig, Niedergang bedrückend.“

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und gegebenen Einkommen die viel wichtigere dynamische Frage nach den Bedingungen für die Schaffung und Mehrung des Reichtums der Nationen zu setzen; in dem Maße nämlich, wie man hierbei erfolgreich sei, verliere die Frage der Verteilungsgerechtigkeit zumindest praktisch an Bedeutung, da die Steigerung des allgemeinen Volkswohlstandes gerade auch den ärmsten und schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft zugute kommen werde. Dass dieser Prozess im 19. Jahrhundert nicht ohne Stockungen und Rückschläge verlief, entzündete vor 150 Jahren die sozialistische Kritik am „Kapitalismus“ in ähnlicher Weise, wie dies heute die „Globalisierung“ tut, die ohne adäquate institutionelle Einbettung und daher mit höchst unterschiedlichen Wirkungen in verschiedenen Teilen der Erde gleichsam als ein Naturgeschehen abläuft. Gerade wenn wir an die christlich-jüdische Tradition und ihre Verknüpfung mit der Aristotelischen Ethik im scholastischen Konzept des „gerechten Preises“ denken, in dem Aspekte des Marktpreises (und damit der Tauschgerechtigkeit) mit Vorstellungen der Angemessenheit und Würdigkeit (und damit der austeilenden Gerechtigkeit) verbunden wurden10, dann wird uns der relative Fortschritt der liberalen Botschaft und ihr Kontrast zur christlich-antiken Traditionslinie besonders deutlich: In Abwandlung eines bekannten Bibelverses (Mt 6,33), in dem noch nach der umfassenden Gerechtigkeit (Gottes) gefragt wird, kann man den Aufruf des klassischen Liberalismus als einen Appell in die entgegensetzte Richtung verstehen, etwa so: „Trachtet am ersten nach der Schaffung – und nicht nach der Verteilung – des Reichtums der Völker, so wird euch alles andere zufallen.“ Das Faszinierende an dieser Vorstellung ist der Umstand, dass diese liberale Vision in den über zwei Jahrhunderten seitdem zwar nicht uneingeschränkt bestätigt wurde (sie gilt nicht zu allen Zeiten, man denke nur an die sozialen Umbrüche während des Industrialisierungsprozesses, und nicht für alle betroffenen Menschen, wie etwa der heutige Nord-Süd-Konflikt zeigt), dass sie aber doch ein prägender Zug der wirtschaftlichen Entwicklung in vielen Ländern der Erde geworden ist. Aber das Problem der sozialen Gerechtigkeit blieb trotzdem auf der Tagesordnung und ließ sich nicht einfach durch ein Programm des „Wohlstands für alle“ ersetzen.

10 Vgl. zu einer ausgewogenen Darstellung dieses schwierigen und von verschiedenen Autoren höchst unterschiedlich ausgelegten Konzepts pretium iustum vor allem Sturn (2007).

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III. Soziale Gerechtigkeit in den „Rahmenbedingungen“? Ordo- vs. Neo-Liberalismus Der deutsche Ordoliberalismus hat in der Mitte des letzten Jahrhunderts den von ihm prinzipiell anerkannten Aspekt der sozialen Gerechtigkeit dadurch „einzufangen“ versucht, dass ethische Aspekte jenseits der Tauschgerechtigkeit und akzeptierter wirtschaftlicher Kriterien in Form einer angemessenen Rahmenordnung zwar berücksichtigt, aber gerade dadurch aus dem ökonomischen Prozess ausgelagert wurden. Das unterscheidet ihn von anderen liberalen Varianten. Gemeinsam ist den verschiedenen Richtungen des Liberalismus seit Adam Smith, dass sie vom Staat die Anerkenntnis einer „Eigenlogik“ oder „Sachlogik“ der Wirtschaft einfordern, also die Respektierung eines Bereichs ökonomischer Selbststeuerung, in den der Staat nicht ohne Schaden für den wirtschaftlichen Wohlstand nahezu aller Beteiligter eingreifen könne. Erhebliche Unterschiede im Spektrum liberaler Meinungen bestehen aber darüber, wie sich das Verhältnis der wirtschaftlichen Ordnung zu derjenigen anderer Funktions- und Lebensbereiche, insbesondere zur staatlichen Ordnung gestalten soll, und in diesem Zusammenhang auch über die grundsätzliche Frage, inwieweit solche Ordnungen Ergebnisse spontaner wettbewerblicher Prozesse oder aber bewusster menschlicher Gestaltung sind. Interessanterweise hat diese Vorentscheidung über die Gestaltbarkeit von Ordnungen auch Konsequenzen für die Antwort auf die Frage, ob und wieweit Gerechtigkeitsziele jenseits der Wertäquivalenz, also über die bloße kommutative Gerechtigkeit hinaus, angestrebt werden dürfen oder können. In einer wieder etwas holzschnittartigen Darstellung, die viele Differenzierungen und Überschneidungen übergeht, kann man diese Differenz an zwei führenden liberalen Ökonomen des letzten Jahrhunderts verdeutlichen, nämlich an Walter Eucken, dem wichtigsten Theoretiker der „Freiburger Schule“ des Ordoliberalismus auf der einen Seite, und zum anderen an Friedrich August von Hayek, der zunächst in den USA und später als Nachfolger Euckens im deutschen Sprachraum zum wohl bedeutendsten Vertreter des Neoliberalismus wurde. Beide liberale Nationalökonomen waren einander freundschaftlich zugetan und zeigten in vielen praktischen Fragen weitgehende Übereinstimmung; in ihrer theoretischen Fundierung weisen sie allerdings wichtige Unterschiede auf, die dann auch zu einer unterschiedlichen Bewertung der Gerechtigkeitsfrage als Frage der Wirtschaftspolitik führen. Hayeks Denken ist zentral von dem Gedanken der wettbewerblichen Selbstevolution vor allem, aber nicht nur des ökonomischen Systems bestimmt, und er drückt diese Auffassung mit der eingängigen Bezeichnung der „spontanen Ordnung“ aus. Seine zentrale Botschaft, mit der er sich

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dann auch vom Ordoliberalismus abgrenzt, ist seine Auffassung, dass wirtschaftliche und soziale Ordnungen (wie das Recht, die Sprache oder die Marktwirtschaft) „Ergebnisse menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs“ (Hayek 1967/1969) sind. Während sich Eucken (1952, S. 14) die zentrale ethische Frage stellt: „Wie kann der modernen industrialisierten Wirtschaft eine funktionsfähige und menschenwürdige Ordnung gegeben werden?“, vertritt Hayek (1967/1969, S. 102) die Auffassung, dass „das Problem des Ursprungs oder der Bildung und das der Funktionsweise sozialer Institutionen im Wesentlichen ein und dasselbe ist: Institutionen entwickeln sich in einer bestimmten Weise, weil die Koordination der Handlungen in den von ihnen gesicherten Bereichen sich als wirksamer erwies, als die durch alternative Institutionen, mit denen sie konkurriert und die sie verdrängt hatten. Die Theorie der Evolution von Tradition und Gebräuchen, die die Bildung spontaner Ordnungen ermöglicht haben, steht deshalb in enger Beziehung zur Theorie der Evolution besonderer Arten spontaner Ordnungen, die wir Organismen nennen.“ Wer, wie Eucken, bewusst eine menschenwürdige Ordnung gestalten will, setzt sich dem neoliberalen, insbesondere Hayekschen Vorwurf des „Konstruktivismus“ und der „Anmaßung von Wissen“ aus, denn er setzt für die von ihm gestaltete Ordnung eine Verfügbarkeit von Informationen und ihre Umsetzbarkeit in konkrete Ordnungsgestaltung voraus, die weit über die objektiven und subjektiven Möglichkeiten der Menschen hinausgeht; zudem streben sie bei einem derartigen Unterfangen Hayek zufolge etwas an, was die wettbewerbliche Konkurrenz von Ideen und Institutionen im Zeitablauf ohnehin von selbst leistet, und zwar viel besser, als es jede menschliche Berechnung könnte. Der theoretische Ausgangspunkt von Walter Eucken (1952, S. 373) ist zunächst einmal grundsätzlich anders: „Die Wettbewerbsordnung verwirklicht sich nicht von sich selbst. [. . .] Es genügt nicht, gewisse Prinzipien des Rechts zu verwirklichen und im Übrigen die Entwicklung der Wirtschaftsordnung sich selbst zu überlassen.“ Allerdings ist das, was Eucken mit seinem ordoliberalen Entwurf anstrebt, auch kein voluntaristischer Konstruktivismus, denn sein Leitprinzip liberaler Wirtschaftspolitik zielt auf die „Herstellung eines funktionsfähigen Preissystems vollständiger Konkurrenz als wirtschaftsverfassungsrechtliche[s] Grundprinzip“ (S. 254). Mit dieser normativen Leitidee befindet er sich aber, zumindest nach seiner eigenen Einschätzung, in Übereinstimmung mit den „starken Tendenzen [. . .], die auch in der industriellen Wirtschaft zur vollständigen Konkurrenz drängen. Indem die Wirtschaftspolitik diese Tendenzen als Ordnungsformen wirksam macht, tut sie das, was der Natur der Sache und des Menschen entspricht“ (S. 373).

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Infolge dieser gemeinsamen Orientierung an der Konkurrenz – bei Hayek verstanden als historischer wettbewerblicher Durchsetzungsprozess, bei Eucken als eine durch staatliche Wirtschaftspolitik ermöglichte und immer wieder neu zu bewältigende Gestaltungsaufgabe – können sie in vielen praktischen Fragen durchaus übereinstimmen, wenn auch Hayek und die von ihm beeinflusste Chicago-Schule bis heute mehr auf die Selbstheilungskräfte des Wettbewerbs – auch gegenüber wettbewerbsbehindernden Aktivitäten vieler Teilnehmer dieses Prozesses – vertrauen als auf die Möglichkeiten staatlicher Antitrust- oder Kartellpolitik, auf die wiederum Eucken und der Ordoliberalismus aufgrund der historischen Erfahrungen mit Marktmacht, vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, setzen. Der bedeutendste Unterschied zwischen den beiden Hauptlinien liberalen Denkens im letzten Jahrhundert und bis in die Gegenwart hinein zeigt sich aber in der Art und Weise, wie Hayek und Eucken mit der Gerechtigkeitsfrage umgehen. Der von Eucken (1952, Kap. XVI und XVII) vertretene ordnungspolitische Entwurf basiert auf sieben konstituierenden Prinzipien, welche die Wettbewerbsordnung wirtschaftsverfassungsrechtlich absichern sollen, und vier regulierenden Prinzipien, die dann und insoweit hinzukommen, als auch bei Einhaltung aller konstituierenden Prinzipien die konkrete Wettbewerbsordnung noch durch „systemfremde Ordnungsformen“, insbesondere „natürliche Monopole“11, beeinträchtigt ist oder andere „Schwächen und Mängel [enthält], die der Korrektur bedürfen“ (Eucken 1952, S. 291). Bei der Diskussion der konstituierenden Prinzipien betont Eucken sehr dezidiert seine Überzeugung, dass ungleiche Vermögens- und Einkommensverteilungen (die er durchaus als wirtschaftspolitisches Problem anerkennt) im Wesentlichen als Folge unzureichenden Wettbewerbs anzusehen sind, sodass die von ihm angestrebte wirtschaftspolitische Sicherung der Wettbewerbsordnung einen Großteil der Problematik von selbst lösen würde.12 Eucken erkennt nicht nur die Sinnhaftigkeit eines über Tauschge11 Gemeint sind damit Anbieter, die aufgrund technologischer Bedingungen (sinkende Durchschnittskosten) einen Markt allein optimal versorgen können. 12 Konkret schreibt Eucken (1952, S. 316 f.) dazu: „Die Einkommensunterschiede in einer Verkehrswirtschaft erklären sich teils aus unterschiedlichen Leistungen im Dienste der Konsumenten, teils aus monopolistisch oder sonstwie begründeten Machtstellungen auf den einzelnen Märkten. Zu einem Problem der Gerechtigkeit im wirtschaftlichen Sinne wird die Einkommensverteilung in der Verkehrswirtschaft erst dann, wenn sich [. . . ihre] Höhe nicht nach Maßgabe der Knappheitsrelationen, sondern aufgrund von Marktmachtstellungen bestimmt. Auch die Entstehung der berühmten großen Vermögen in den letzten hundert Jahren ist nicht so sehr auf die Tatsache der Einkommen aus Besitz als vielmehr auf die starken Marktstellungen zurückzuführen, die die Rockefeller, Carnegie u. a. innehatten [. . .] Soziale Gerechtigkeit sollte man also durch Schaffung einer funktionsfähigen Gesamtordnung und insgesamt dadurch herzustellen suchen, dass man die Einkommensbildung den strengen Regeln des Wettbewerbs, des Risikos und der Haftung unterwirft.“

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rechtigkeit hinausgehenden Konzepts von sozialer Gerechtigkeit an, er sieht den Hauptteil der Lösung des Gerechtigkeitsproblems gerade durch die geeignete ordnungspolitische Gestaltung des Wettbewerbsprozesses gesichert. In seinen regulierenden Prinzipien geht Eucken noch einen Schritt weiter und akzeptiert die Möglichkeit, ja sogar Notwendigkeit, korrigierend in die Primärverteilung von Einkommen und Vermögen einzugreifen, wie sie sich zunächst „spontan“ auf den Faktor- und Gütermärkten bilden. Auch wenn er meint, dass „die Preismechanik der vollständigen Konkurrenz – trotz vieler Mängel – immer noch besser ist als die Verteilung aufgrund willkürlicher Entscheidungen privater oder öffentlicher Machtkörper“, ist für ihn die Verteilungsfrage mit dem Verweis auf den Markt noch nicht abgetan, denn er konzediert: „. . . auch die marktmäßige Verteilungsmechanik läßt Fragen offen und sie bedarf der Korrektur. Es bilden sich erhebliche Unterschiede in der Verteilung der Kaufkraft, und daraus ergibt sich die Hinlenkung der Produktion auf die Deckung relativ unbedeutender Bedürfnisse, während dringende Bedürfnisse anderer Einkommensbezieher noch nicht befriedigt sind. Die Ungleichheit der Einkommen führt dahin, dass die Produktion von Luxusprodukten bereits erfolgt, wenn dringende Bedürfnisse von Haushalten mit geringem Einkommen noch Befriedigung verlangen. Hier also bedarf die Verteilung, die sich in der Wettbewerbsordnung vollzieht, der Korrektur.“ Diese Korrektur soll vor allem durch eine progressive Besteuerung erreicht werden: „Die Progression der Einkommenssteuer in der Wettbewerbsordnung hat einen ganz anderen, nämlich einen sozialen Sinn. Sie soll den Verteilungsprozess im Rahmen der Wettbewerbsordnung korrigieren. Dadurch sind auch die Grenzen dieser Progression bezeichnet. Sie darf nicht so weit gehen, dass die Neigung zu investieren nachläßt [. . .]. So notwendig die Progression unter sozialem Gesichtspunkt ist, so notwendig ist es zugleich, durch die Progression nicht die Investition zu gefährden. Hiermit sind die Grenzen nach unten und oben prinzipiell bezeichnet. Wo diese Grenzen in concreto liegen, hat die Finanzpolitik in den einzelnen Ländern abzutasten.“ (Eucken 1952, S. 300 f.)

Im ordoliberalen Ansatz von Walter Eucken gibt es also keine grundsätzlichen Einwände gegen, sondern nur pragmatische Begrenzungen für eine progressive Besteuerung mit dem Ziel der Verminderung marktmäßiger Ungleichheiten. Da diese Form des ablaufpolitischen Eingriffs in die Primärverteilung auf Märkten die Wettbewerbsordnung nicht behindert (solange die Steuerprogression nicht zu stark ausgestaltet ist und damit investitionshemmend wirkt), sieht Eucken dafür sogar gute Gründe deswegen, weil eine zu ungleichmäßige Verteilung von Kaufkraft dazu führt, dass auf der einen Seite Grundbedürfnisse mangels kaufkräftiger Nachfrage unbefriedigt bleiben, während umgekehrt bereits Luxusbedürfnisse bedient werden, da die privilegierten Gesellschaftsschichten über ausreichend zahlungsfähige Nachfrage verfügen. Eucken sieht hier wirtschaftspolitischen Handlungsbedarf.

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Mit all diesen inhaltlichen Aspekten von Gerechtigkeit kann nun ein Neoliberalismus à la Hayek im Grunde gar nichts anfangen. Von Hayek lehnt es ab, Unterscheidungen zwischen notwendigen und Luxusbedürfnissen zu treffen (über das „richtige“ Gütersortiment entscheidet in seiner Konzeption allein der sich selbst durchsetzende Markt aufgrund der kaufkräftigen Nachfrage), und er sieht auch keinerlei Veranlassung, „soziale Gerechtigkeit“ einzufordern, die dann als iustitia distributiva und iustitia redistributiva den zulässigen Raum marktlicher Selbstregulierung und damit die bloße iustitia commutativa überschreiten würde. Hayek möchte vielmehr, an die klassisch-liberale Tradition seit Adam Smith anknüpfend, aber über sie sogar noch hinausgehend, Gerechtigkeit und Gleichheit auf die Geltung gleicher Regeln für alle beschränken: „Gleichheit der Verhaltensregeln ist die einzige Art von Gleichheit, die die Freiheit fordert, und die einzige Art von Gleichheit, die wir verwirklichen können, ohne die Freiheit selbst zu zerstören. [. . .] Freiheit hat nicht nur nichts mit Gleichheit zu tun, sondern bringt unvermeidlich in vielen Hinsichten Ungleichheit hervor. Und dies ist nicht nur eine notwendige Folge, sondern gehört geradezu mit zu den Gründen, durch die Freiheit sich überhaupt rechtfertigen lässt. Wenn die individuelle Freiheit nicht dazu führt, dass gewisse Arten der Lebensführung erfolgreicher sind als andere, geht viel von dem verloren, was zu ihren Gunsten spricht.“ (Hayek 1958, S. 5)

Hayek unterstellt den „Anwälte[n] einer weitergehenden materiellen Gleichheit [. . .], daß Leute gleichbehandelt werden sollten, obwohl sie faktisch ungleich sind“. Demzufolge betont er die Wichtigkeit angeborener Unterschiede und versucht die „Bedeutung der Umwelteinflüsse“ mit der (empirisch nicht belegten) Behauptung zu stützen, „daß, selbst wenn alle Leute in einer sehr ähnlichen Umgebung aufwachsen würden, die Bedeutung dieser individuellen Unterschiede kaum geringer sein würde als jetzt“ (1958, S. 6 f.). Gleichbehandlung heißt für Hayek in dieser Situation also nicht, dass im Hinblick auf das Ideal der Gleichheit aller Menschen oder der ihnen zukommenden Menschenwürde es irgend eine Institution oder gar eine Garantie geben sollte, die es allen Menschen ermöglicht, real in der Gesellschaft existieren und ihre – wenn auch unterschiedlichen – Fähigkeiten und Ansprüche zur Geltung bringen zu können. Ganz in der Tradition der altliberalen Forderung nach proportionaler Besteuerung entsprechend dem Prinzip „leave them as you find them“, welche die Einkommens- und Vermögensrelationen zwischen den Steuerpflichtigen nicht verändert, folgert er aus seinem Begriff von Gleichheit: „Wenn Freiheit Gleichheit vor dem Gesetz erfordert, wird materielle Ungleichheit die Folge sein. [. . . D]ie Absicht, faktische Gleichheit in einer freien Gesellschaft zu fördern, darf in keiner Weise dazu herhalten, staatliche Zwangsmaßnahmen zu rechtfertigen“. Hayek hebt hervor, dass dieses Verbot einer Umverteilung für ihn

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auch dann gelten würde, wenn es sich um Maßnahmen handeln würde, welche die Ungleichheit zwischen den Beteiligten erhöhen würde. Da er die Gleichheit vor dem Gesetz strikt von der Frage einer faktischen Gleichheit abtrennt und noch nicht einmal die Möglichkeit einer zum physischen Überleben notwendigen Mindestausstattung in Betracht zieht, kann er mit Gleichheit (oder auch nur der Vermeidung zu großer Ungleichheit) als regulativer Idee überhaupt nichts anfangen, und für ihn ist es daher „reiner Zufall, daß größere Gleichheit heute anscheinend das Ziel der meisten Bestrebungen dieser Art darstellt“ (Hayek 1958, S. 8). Hayeks Neoliberalismus, der ganz im Sinne der Smithschen Einschränkung des Gerechtigkeitsbegriffs nur noch auf die Gerechtigkeit der Regeln – also Vertragstreue und die Einhaltung des für alle geltenden Rechts, unabhängig von ihrer sozialen Situation – abhebt, scheint noch ein Punkt über Smith hinaus- oder vielmehr hinter ihn zurückzugehen, wenn er über „soziale Einrichtungen“, ohne sie näher zu differenzieren13 urteilt, „daß gewisse Vorteile von sozialen Einrichtungen abhängen, bedeutet nicht, daß wir sie, wenn wir nur wollten, allen zugänglich machen könnten, oder daß sie, wenn sie nur wenigen vorbehalten wären, deshalb jemand sonst entzogen würden“ (Hayek 1958, S. 11). Da er in diesem Kontext explizit die Erziehung erwähnt, ist zu befürchten, dass er auch diesen Bereich, für den Smith ja ausnahmsweise auch Argumente distributiver Gerechtigkeit zulässt, nach dem Prinzip der kommutativen Gerechtigkeit, also marktwirtschaftlich, regeln möchte. Das wäre dann in der Tat ein Rückschritt hinter Adam Smith. IV. Faszination und Grenzen der liberalen Reduktion von Gerechtigkeit Die große Faszination des Liberalismus, gerade auch in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskussion, speist sich aus verschiedenen Quellen, die ich hier nur unvollständig und enumerativ aufführen kann. (1) Die liberale Theorie bedient sich einer entwickelten Markt- und Preisbildungstheorie. Das Prinzip der Wertäquivalenz, das Ausdruck kommutativer Gerechtigkeit ist, entspricht nicht nur der Logik des Markttausches, es eignet sich im besonderem Maße für mathematische Modellierung und quantitative Berechnung. Dies hat der Ökonomik den Rang einer „Königin der Sozialwissenschaften“ eingetragen und mit dazu geführt, dass sie seit 1969 als einzige sozialwissenschaftliche Disziplin einen von der Schwedischen Reichsbank gestifteten „Nobelpreis“ verliehen bekommt. 13 Hayek (1958, S. 11) spricht nur allgemein von „Familie, Erbschaft und Erziehung“.

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(2) Diese mathematische Präzisierung hat seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, beginnend mit Léon Walras und Vilfredo Pareto, zur Entwicklung einer Theorie des allgemeinen Gleichgewichts und einer effizienzorientierten (aber verteilungsblinden) Wohlfahrtsökonomik geführt, die es auch erlaubte, Unvollkommenheiten des Marktprozesses – hier präzisiert als technische Externalitäten in Produktion und Konsum – theoretisch zu erfassen und daraus wirtschaftspolitische Handlungsvorschläge abzuleiten.14 (3) Die Präzisierung des Smithschen Gedankens der Wohlfahrtsmehrung im wohlfahrtsökonomischen Konzept des „Pareto-Optimums“ – einer gesellschaftlichen Situation, in der es nicht mehr möglich ist, die Lage eines Gesellschaftsmitglieds zu verbessern, ohne nicht zumindest diejenige eines anderen zu verschlechtern (vgl. Sohmen 1976) – hat das Interesse von theoretischer Ökonomik und praktischer Wirtschaftspolitik auf die Suche nach „Pareto-Verbesserungen“ gelenkt, also auf die Suche nach Situationen, in denen beide – allgemeiner: alle – Beteiligten sich durch Kooperation, etwa im Handel, verbessern können. Die Identifikation und Nutzung solcher Kooperationspotenziale hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass die liberale Hoffnung nach allgemeiner Wohlstandsverbesserung auch in vielen Fällen empirisch bestätigt wurde. Die theoretische Stringenz der marktliberalen Vision und die große Bedeutung, die wir zu Recht der individuellen Freiheit beimessen, hat aber andererseits dazu geführt, marktliche Überlegungen und die Erwartung damit verbundener Vorteile in Bereichen zu verorten, bei denen die zugrunde liegenden sozialen Beziehungen aus guten Gründen nicht dem Prinzip des Markttausches entsprechen. Das dafür prägendste Beispiel ist der Bereich der Politik, dem ganz entsprechend in den meisten liberalen Fokussierungen dann auch zwangsläufig eine „Schurkenrolle“ zukommt. Entsprechend können auch die meisten liberalen Entwürfe mit Konzepten der distributiven und redistributiven Gerechtigkeit nichts anfangen; der Hayeksche Neoliberalismus bekämpft sie sogar explizit. Daraus ergeben sich dann auch die wesentlichen Kritikpunkte gegenüber den liberalen Engführungen, die ich hier auch wieder nur unvollständig aufzählen kann: (1) Die von der liberalen Theorie seit Adam Smith als Quelle des Reichtums hervorgehobene Arbeitsteilung vollzieht sich nicht nur durch Herausdifferenzierung neuer Produkte, Dienstleistungen und Märkte, sondern auch und vor allem in Unternehmen15, und ruft in diesem Bereich daher recht14 Eines der jüngsten und eindrucksvollsten Beispiele dafür ist der EU-weite Handel mit CO2-Emmissionszertifikaten zur Begrenzung des Ausstoßes von klimagefährdendem Kohlendioxid; vgl. dazu Rudolph (2005) – Zum Konzept einer wohlfahrtsökonomisch begründeten Wirtschaftspolitik siehe vor allem Sohmen (1976).

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lichen und sozialen Gestaltungsbedarf hervor. Die so entstehende „Arbeitswelt“ allein unter dem Gesichtspunkt marktlicher Interaktion zu betrachten, führt zu ernstlichen theoretischen und wohl noch größeren praktischen Problemen (vgl. Nutzinger 1976). (2) Auch wenn die liberale Theorie durchaus die Existenz externer Effekte akzeptiert, also der Drittwirkungen, die im Markttausch nur unzureichend oder gar nicht erfasst sind, unterschätzt sie die Bedeutung dieser Tatsache: Die liberale Optimalitätsvermutung für den Markt lässt sich sensu stricto nur aufrecht erhalten, wenn externe Effekte eine seltene und eindeutig identifizierbare Ausnahme von der Regel des vollständigen Äquivalententausches wären; ihre Ubiquität sollte dagegen Anlass zu einer kritischen Überprüfung dieser oft axiomatisch gesetzten Optimalitätsvermutung sein.16 Dies gilt auch angesichts des prinzipiell berechtigten Hinweises der Standardökonomik, dass man hier keinem „Nirvana Approach“ folgen dürfe, sondern jeweils Markt- und Bürokratieversagen miteinander vergleichen müsse, bevor man konkretes Handeln der Politik fordere. (3) Die schwierige Interaktion von „Ökonomie“ und „Politik“ zeigt sich vor allem am Beispiel des technischen Fortschritts. Dieser ist ja eine erwünschte Folge des Wettbewerbs auch im Bereich neuer Ideen, Technologien, Produkte und Dienstleistungen: Die liberale Theorie fordert zwar einen unbedingten Schutz der Eigentumsrechte als Vorbedingung effizienten Markttausches, aber sie kann in keiner Weise den Wert dieser Eigentumsrechte garantieren. Im Gegenteil: Gerade die von neoliberaler Seite so stark betonte Dynamik des Wettbewerbs tendiert dazu, vorhandene Eigentumsrechte durch technischen Fortschritt immer wieder zu entwerten. Ganz anders, als es sich die liberale Theorie vorstellt, wenden sich aber die negativ von Innovationen betroffenen Marktteilnehmer oftmals an die Politik mit dem Verlangen, hier korrigierend oder bremsend einzugreifen. Wenn und soweit die Politik diesen – verständlichen – Ansprüchen entgegenkommt, entspricht sie wieder der dem Staat von neoliberaler Seite so gerne zugewiesenen „Schurkenrolle“. Auch deswegen ist die Frage der Interdependenz 15

Illustrativ dafür ist bereits Adam Smith (1776/2005, Buch I, Kap. I): Sein bekanntes Beispiel der Stecknadelproduktion beschreibt ja die manufakturmäßige, also innerorganisatorische Zerlegung der Herstellung eines Produkts (hier: der Stecknadel) in viele Teilschritte ohne die Vermittlung von Zwischenproduktmärkten; bei der Analyse der Grenzen von Arbeitsteilung (Buch I, Kap. 3) verweist Smith jedoch auf die Größe des Marktes und die marktmäßig vermittelte Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Berufen und Tätigkeiten, ohne den Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Arbeitsteilung herauszuarbeiten. 16 Selbstverständlich muss umgekehrt auch das blinde Vertrauen in den Staat und die entsprechende Optimalitätsvermutung für politische Regelung einer ähnlichen kritischen Prüfung der konkreten Umstände ausgesetzt werden, wie wir sie oben für die Marktinteraktion gefordert haben.

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der Ordnungen, die Eucken (1952, S. 14) noch gesehen, wenn auch nicht ausführlich behandelt hatte, eine wichtige Grenze liberaler Argumentation, die einen Teil ihrer Attraktivität gerade daraus gewinnt, dass sie dieses Problem in aller Regel übersieht und einen Bereich wirtschaftlicher Sachlogik konstruiert, der immer nur dem räuberischen Eingriff anderer Bereiche, insbesondere der Politik, ausgesetzt sei und der deswegen ausgeweitet und gegen solche Eingriffe geschützt werden müsse.17 (4) Die wohlfahrtstheoretische Lesart dieses Problems gestaltet sich etwa folgendermaßen: Da Fortschritt und Innovation notwendige und gewünschte Elemente des Wettbewerbs sind, wird technischer Fortschritt als eine nicht kompensationsbedürftige „pekuniäre Externalität“ eingestuft. Da es aber in wohlfahrtstheoretischer Sicht bei der Beurteilung technischen Fortschritts nur auf die theoretische Möglichkeit der Kompensation von „Fortschrittsverlierern“ ankommt, nicht aber auf die tatsächliche Kompensationszahlung (die in der Tat dann fortschrittsverhindernd wirken würde), wird gerade hier ein Raum für opportunistisches Verhalten von tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen „Fortschrittsgewinnern“ eröffnet, die mit wenig begründeten Versprechungen bestimmte gesellschaftliche Entwicklungslinien in Gang setzen, die vor allem ihnen, und weniger der Gesellschaft insgesamt, dienen.18 Zugleich zeigt sich, dass wegen des Widerstands der Betroffenen die Trennung zwischen Effizienzurteilen (Prinzip: kommutative Gerechtigkeit) und Verteilungsurteilen (Prinzip: (re-)distributive Gerechtigkeit) nicht aufrechterhaltbar ist. (5) Die Entstehung einer neuen „transdisziplinären“ Wissenschaft, der Ecological Economics, als der science and management of sustainability, die sich im Anschluss an die Nachhaltigkeitsforderungen der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (WCED 1987) herangebildet hat – speziell geht es um Fairness zwischen heutigen und künftigen Generationen und um Fairness zwischen den Menschen in den Ländern des Nordens und des Südens –, zeigt die Bedeutung von distributiven und redistributiven Gerechtigkeitsproblemen bei der Lösung globaler Umweltprobleme, die auch deswegen ökonomisch relevant sind, weil ökonomisch effizientes Wirtschaften ohne langfristig stabile Naturgrundlagen weder vorstellbar noch möglich ist.19 17

Zu einer guten Darstellung dieses Problems vgl. insbesondere Sturn 2007a. Ein anschauliches Beispiel ist die nun schon über 50 Jahre anhaltende Diskussion über die zivile Nutzung der Kernenergie in Deutschland (und anderen Ländern), in deren Verlauf zunächst unterschätzte oder gar übersehene Risiken des Betriebs von Kernkraftwerken und der Endlagerung von radioaktiven Abfällen immer deutlicher zum Vorschein kamen. 19 Vgl. dazu auch Nutzinger 2000. 18

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(6) Dieser Gesichtspunkt lässt sich noch weiter konkretisieren: Die in einfachen Kontexten sinnvolle Trennung zwischen „Effizienz“ und „Distribution“ und die Neigung der Ökonomen, sich zweckmäßigerweise auf Tauschgerechtigkeit und damit auf Effizienzaspekte zu beschränken, ist in komplexeren Situationen, wenn es etwa um die Sicherung globaler Umweltgemeingüter geht (aktuelles Beispiel ist gegenwärtig die bedrohte Stabilität des Erdklimas), nicht durchzuhalten. Zum einen ist die Trennung zwischen Allokation und Distribution hier bereits begrifflich schwierig, denn notwendige „Zugeständnisse“ der Länder des Nordens an die Länder des Südens können sowohl als ausgleichende Verteilungspolitik verstanden werden, die das Zustandekommen eines weltweiten Klimapaktes überhaupt erst ermöglicht, wie auch als verspätete Entrichtung eines Entgeltes dieser fortgeschrittenen Länder an den Rest der Erde dafür, dass sie über nunmehr 200 Jahren ohne jedes Entgelt und ohne Bezug zur irgendeiner akzeptablen Messgröße wie Fläche oder Bevölkerung die natürlichen Ressourcen der Erde, vor allem die Klimastabilität für ihre eigenen Zwecke in Anspruch genommen und damit der Menschheit insgesamt entzogen haben. Dieses Problem kann friedlich nur mit Hilfe eines weltweiten „Klimapaktes“ gelöst werden. Sowohl theoretisch konzeptionell wie auch praktisch-politisch geht es dabei um ein eigentlich ökonomisches Problem, nämlich um ein erweitertes Aushandeln wechselseitiger Vorteile unter einer Vielzahl von Beteiligten, bei dem der Gesichtspunkt der „Tauschgerechtigkeit“ nicht mehr die von Smith postulierte begriffliche Schärfe besitzt und daher sowohl konzeptionell wie auch im Hinblick auf die praktische Sicherung eines für alle Beteiligten vorteilhaften Umweltgemeingutes – eben der Klimastabilität – erweitert werden muss.20 (7) Der ökonomische Gedanke der Abwägung zwischen Vor- und Nachteilen bestimmter institutioneller Regelungen muss auch im Verhältnis zu den Auswirkungen wirtschaftlich begründeter Vorschläge in anderen Lebensbereichen gesehen werden. Effizienztheoretisch gut begründbare Lösungen aus der Ökonomik, die unter weitgehender Absehung von Verteilungsfolgen mehr Kommerzialisierung, etwa im Bildungs- und Gesundheitswesen, fordern oder gar schon durchsetzen, können in erweiterter Effizienzperspektive durchaus problematisch erscheinen, nämlich dann, wenn sie mit 20 An dieser Sachlage ändert sich auch nichts durch den speziell von US-amerikanischer Seite vorgebrachten Einwand, die Industrieländer hätten ihrer Pflicht gegenüber der übrigen Menschheit schon dadurch entsprochen, dass sie im Zuge der industriellen Entwicklung weltweit nutzbaren technischen Fortschritt hervorgebracht hätten – denn für die Nutzung eben dieses Fortschrittes gibt es bereits andere wirtschaftliche Institutionen, wie etwa das Patentrecht, so dass hier eine „Doppelanlastung“ erfolgen würde. Außerdem wurden die weniger entwickelten Länder von den Industrieländern auch gar nicht um ihr Einverständnis für die Nutzung solcher globaler Umweltgemeingüter gebeten. – Zur Idee des Klimapakts vgl. Nutzinger 2005.

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geringerer Akzeptanz der bestehenden wirtschaftlichen und politischen Ordnung einhergehen und dadurch kostspielige „Folgeprobleme“ hervorrufen können. Solche absehbaren „Folgeprobleme“ sollten schon aus praktischen Gründen in den eigentlichen Vorschlag mit hineingenommen werden, damit die erstrebte „Effizienz“ im Sinne möglichst großer Vorteile und möglichst geringer Nachteile dann auch tatsächlich erreicht wird. Der Gedanke der „Vitalpolitik“ (Rüstow 1957; Müller-Armack 1976), also der auch lebensweltlichen Integration der abhängig Beschäftigten in das marktwirtschaftliche System, ist gerade unter den Bedingungen kultureller Ausdifferenzierung und des friedvollen Zusammenlebens verschiedener Kulturen noch immer und erneut wieder von besonderer Bedeutung. Aus diesen Gesichtspunkten ziehe ich für die gegenwärtige Situation folgende Schlussfolgerung: Die Ökonomik, die sich vor 230 Jahren durch die Fokussierung auf Wohlstand und Effizienz aus der Moralphilosophie herausgelöst und damit verselbständigt hat, sollte heute schon aus systematischen Gründen die Frage der sozialen Gerechtigkeit (wieder) aufgreifen; und ebenso muss auch die praktische Wirtschaftspolitik die weiterhin wichtige Leitidee der Effizienz, die nur der kommutativen Gerechtigkeit affin ist, sowohl aus praktischen Gründen wie auch wegen der Unschärfe des Effizienzbegriffs in komplexeren Situationen, insbesondere bei der Lösung globaler Umweltprobleme, erneut mit Aspekten distributiver und redistributiver Gerechtigkeit verknüpfen. Wir sind damit nicht zurück bei der mittelalterlichen Scholastik des pretium iustum, aber wir nutzen die Erkenntnisse der effizienzorientierten Ökonomik in einem breiteren Rahmen und machen sie damit theoretisch und vor allem auch praktisch bedeutungsvoll.

Literatur Aristoteles (1983): Nikomachische Ethik, Stuttgart. – (1989): Politik, Stuttgart. Eucken, Walter (1952): Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen. Hayek, Friedrich August von (1958): Gleichheit, Wert und Verdienst, Ordo. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 10, S. 5–29. – (1967/69): Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze (amerikan. Orignal 1967), Tübingen. Hegel, G. F. W. (1821): Grundlinien der Philosophie des Rechts, Neudruck Frankfurt a.M. Helmstädter, Ernst (1997): Über die Gerechtigkeit gerechter Regeln, in: M. Held (Hg.), Normative Grundfragen der Ökonomik. Folgen für die Theoriebildung, Frankfurt/New York, S. 41–57.

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Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. Müller-Armack, Alfred (1976): Die zweite Phase der Sozialen Marktwirtschaft. Ihre Ergänzung durch das Leitbild einer neuen Gesellschaftspolitik [1960], in: ders., Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration, 2. Aufl., Bern/Stuttgart, S. 267–291. Nutzinger, Hans G. (1976): The Firm as a Social Institution: The Failure of the Contractarian Viewpoint, Economic Analysis and Worker’s Management, Vol. 10, S. 217–237. – (2000): Wirtschaftsethik als methodisches Problem der Ökonomik, in: W. Schluchter (Hg.): Kolloquien des Max Weber-Kollegs, VI-XIV (1999/2000), S. 77–91. – (2005): Ökonomik und Gerechtigkeit: Grundsätzliche Überlegungen und der Anwendungsfall Klimapolitik, in: Th. Beschorner et al. (Hg.), Wirtschafts- und Unternehmensethik. Rückblick – Ausblick – Perspektiven, sfwu Band 10, München, S. 383–423. Rudolph, Sven (2005): Handelbare Emissionslizenzen. Die politische Ökonomie eines umweltökonomischen Instruments in Theorie und Praxis, Marburg. Rüstow, Alexander (1957): Vitalpolitik gegen Vermassung, in: A. Hunold (Hg.), Masse und Demokratie, Erlenbach/Zürich 1957, S. 215–238. Smith, Adam (1978): Lectures on Jurisprudence, The Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith, Vol. V, Oxford. – (1759/1994): Theorie der ethischen Gefühle (engl. Original 1759), Hamburg 1994. – (1776/2005): Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker (engl. Original 1776), Tübingen 2005. Sohmen, Egon (1976): Allokationstheorie und Wirtschaftspolitik, Tübingen. Sturn, Richard (2007): Gerechter Preis und Marktpreis: Zur Interdependenz von Religion, Ökonomie und Sozialtheorie, in: Jahrbuch normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik, Band 6: Ökonomie und Religion, Marburg, S. 89–111. – (2007a): Asymmetrische Marktbeziehungen und innerbetriebliche Hierarchien, Manuskript, Graz. WCED/Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (1987): Unsere gemeinsame Zukunft, Greven.

Ökonomie und Politik, Wissenschaft und Wirklichkeit Einige methodologische Betrachtungen Von Manfred Prisching Einleitung Wenn wir nach den Methoden in der Wissenschaft fragen, so geht es in dem hier in Betracht stehenden Zusammenhang ganz offensichtlich um die ökonomische Wissenschaft auf der einen, um die Politikwissenschaft auf der anderen Seite. Während eine solche Fragestellung nach den unterschiedlichen Methoden in den beiden Fächern bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts gehaltlos oder unsinnig gewesen wäre, weil die Disziplinen ungeschieden waren und weitgehend dieselben verbalen Argumentationen – mit einem jeweils erheblichen Gehalt an normativen Anklängen – verwendeten, können wir danach zwei Phasen unterscheiden. In der ersten Phase, von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, hat sich die MainstreamÖkonomie in mathematische Modelle hinein entwickelt, während die politische Theorie weitgehend bei ihrem herkömmlichen Räsonnement verblieb. In der zweiten Phase, seit den sechziger Jahren, haben die Ökonomen1 hingegen immer stärker ihre Streifzüge in politikwissenschaftliche Themenstellungen unternommen, natürlich unter Verwendung ihrer Axiomatik und Methodologie: Das pflegte man als „ökonomischen Imperialismus“ zu apostrophieren. Und wie das bei imperialistischen Unternehmungen oft der Fall zu sein pflegt, haben sich manche der vom Empire Unterworfenen auf die Seite der dominanten Mächte geschlagen: Politikwissenschaftler haben sich gleichfalls des rationaltheoretischen und markttheoretischen Gedankenguts zu bedienen begonnen. Die Methode, von der hier die Rede ist, ist zu einer einflussreichen Strömung in allen Bereichen der Sozialwissenschaften geworden. Sie wird als rational choice oder public choice bezeichnet, und vielfach firmieren Ansätze aus diesem Umkreis auch unter Begriffen wie 1 Es ist nicht Nachlässigkeit, dass der Verdoppelung der Geschlechter an manchen Stellen nicht Rechnung getragen wird, sondern die alten Konventionen, die dem männlichen Geschlechte einen gewissen Vorzug einräumen, zum Tragen kommen; es sind sprachästhetische Gründe. Hier sind natürlich die „Ökonominnen und Ökonomen“ gemeint, wie an anderen entsprechenden Stellen auch.

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der „institutionalistischen“ Theorie. Auch der Begriff der „politischen Ökonomie“, ohnehin seit jeher schwierig zu verorten, ist um einige Facetten erweitert worden (siehe Lehner 1981; Mueller 1979; Czada/Windhoff-Héritier 1991; Coleman/Fararo 1992; Bernholz 1972 ff.; Frey 1977; Riker/Ordeshook 1973). Die Klüfte, die vorher die Disziplinen getrennt haben, gehen jetzt durch die wissenschaftlichen Fächer selbst. – Ich gehe davon aus, dass die methodologischen Kontroversen um die Anwendbarkeit rationaltheoretischer Ansätze mittlerweile so gut bekannt sind, dass es langweilig wäre, einmal mehr auf methodologischer Ebene die Prämissen einer Rationaltheorie zu kritisieren, also etwa jene Kritik vorzubringen, derzufolge Menschen unzureichende Informationen und mangelhafte Informationsverarbeitungskapazitäten besitzen und von Gewohnheiten, Gefühlen und Moralvorstellungen ebenso wie von ihren eigenen Interessen geleitet werden (Udehn 1996). Das alles wissen wir, und solcherlei Betrachtungen erregen kaum noch Interesse. Neben diesen Methoden der wissenschaftlichen Disziplinen gibt es auch noch die Methoden der politischen Wirklichkeit. Natürlich besteht der Anspruch, dass die wissenschaftlichen Ansätze diese Wirklichkeit richtig und präzise abbilden; dafür sind sie schließlich da. Das besagt aber nicht notwendig, dass die Methoden der Politik mit den Methoden ihrer Analyse unproblematisch gleichgesetzt werden können. Sind Politiker rational? Praktizierende Politiker kommen erstaunlicherweise ohne wesentliche Kenntnisse der public choice-Literatur aus, und sie haben nicht das Gefühl, dass ihnen dabei etwas für ihren Job Wesentliches entgehe. Politikwissenschaftler und Politökonomen mühen sich mit ausgefeilten Modellen ab, die im praktischen politischen Prozess souverän verschmäht werden. Eine solche Verweigerung gegenüber dem sozialwissenschaftlichen Wissensstand könnte zur Vermutung Anlass geben, dass die Wirklichkeit doch ganz anders geartet sei als ihre Konzeptualisierung in den „zuständigen“ sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Oder sollten wir besser die umgekehrte Frage stellen: Sind Politiker irrational? Praktizierende Politiker würden bei der Beurteilung ihrer eigenen Tätigkeit wahrscheinlich nicht jenem insbesondere an Stammtischen verbreiteten „gesunden Menschenverstand“ folgen wollen, der politische Akteure gänzlich in die irrationale Ecke des menschlichen Verhaltensrepertoires verweist: Politik sei dumm, unanständig, primitiv; dort herrsche nur die unterste Schublade; es werde nur aus der Hüfte heraus geschossen, das aber ausgiebig; und Pressekonferenzen könne man ohnehin nur mit masochistischen Neigungen ertragen. Was also gilt? Es drängt sich die Frage nach dem Verhältnis der Methoden in Wissenschaft und Wirklichkeit auf. Denn wenn die soeben geäußerten Vorwürfe aus der Ecke des „gesunden Menschenverstandes“ eine rea-

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litätsgerechte Abbildung des politischen Handelns wären, dann wäre es schwierig zu erklären, wie dieses genuin irrationale Verhalten durch eine Rationaltheorie abgebildet werden kann. Man könnte freilich einen Ausweg aus der Unvereinbarkeit der beiden Welten suchen, indem man das Verhältnis noch ein bisschen komplizierter gestaltet: indem man etwa annimmt, dass politische Akteure, ohne es zu wissen, eine spezifische Form intuitiver Rationalität entfalten, die in den rationaltheoretischen Modellen doch – wider die Bewusstseinslage – trefflich abgebildet wird; so wie man Prosa sprechen kann, ohne es zu wissen: Jeder Politiker sei also ein „unbewusster Rationaltheoretiker“, jede politische Entscheidung eine „verdrängte Nutzenmaximierung“. Die Rationaltheorie setzt sich gleichsam unterhalb der Bewusstseinsschwelle bei den Akteuren durch, auch im politischen Geschehen. Die Irrationalität lässt sich trefflich als Rationalität abbilden. Das klingt sonderbar; vielleicht ist es angebracht, sich über die Inhalte der Rationalität ein wenig den Kopf zu zerbrechen und dabei auch die Abgrenzungen dessen, was jeweils als „rational“ oder „irrational“ angesehen wird, zu problematisieren. Vielleicht ist es nicht eine technokratische, expertokratische, „wissenschaftliche“ Rationalität, derer man im politischen Geschäft bedarf; so wie es – Joseph Schumpeters Beschreibung folgend – nicht unbedingt Intellektualität und Horizont sind, die einen „unternehmerischen“ Erfolg garantieren, ohne dass wir doch unterstellen, dass auch Unternehmer ausschließlich in der irrationalen Ecke anzusiedeln sind. „Politische Unternehmer“ bedürfen, wie ihre wirtschaftlichen Partner, einer besonderen Mischung aus rationalem Kalkül und intuitiver Situationsdeutung, aus strategischer Begabung und charismatischem Repräsentationsvermögen. Möglicherweise ist aber auch die wissenschaftliche Rationalität eine andere als die politische, die unternehmerische Rationalität eine andere als die lebenspraktische. Der Vermutung, dass es sich lohnen könnte, einigermaßen realitätsnahe Begriffe des Rationalen und Irrationalen hin und her zu wenden, kann man aus zwei Gründen etwas abgewinnen. Erstens ist es plausibel, dass ein Politiker, der im strapaziösen politischen Kampf den Kopf über Wasser behalten will, durchaus rationale Kalküle anwenden muss, also nicht so unbedarft sein darf, wie das bereits angeklungen ist. Wir wissen aus vielen Beispielen: Ein unbedachter Satz, und der politische Akteur gerät in größere Schwierigkeiten. Es wäre wohl auch für jede Demokratietheorie fatal, wenn man nicht unterstellte, dass auch die „Interaktionspartner“ des Politikers, die Wählerinnen und Wähler, bestimmte rationale Strategien anwenden, um sich im politischen Getriebe zu orientieren und zu artikulieren. Man würde etwa vermuten müssen, dass eine weitgehende und offenkundige Inkompetenz einer Regierung bei den nächsten Wahlen unter normalen Umstän-

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den bestraft, also mit einem Entzug von Stimmen geahndet würde – wozu sonst Demokratie? Alle Vorstellungen, die wir mit der abendländischen Idee einer demokratischen Ordnung verbinden, sind durchaus daran gekoppelt, dass Wähler und Gewählte in irgendeiner Weise „rational“ reagieren. Zweitens engagieren politische Akteure Think-Tanks und Spin-Doctors, Berater und Consulter, Umfrageinstitute und Designer, Werbe- und Veranstaltungsagenturen, um bei ihren Klientinnen und Klienten einen guten Eindruck zu hinterlassen und sie für die politische Loyalitätsbekundung zu gewinnen. Das sind keine Versammlungen von irrationalen Chaoten, die nur so tun, als sei ihre Arbeit für das politische Geschehen von irgendeiner Bedeutung. Eine gewisse Art von Rationalität muss schon deswegen im Spiel sein, weil es – auch markttheoretisch gesprochen – irrational (und auf Dauer unerklärlich) wäre, wenn politische Parteien – und ihre Geldgeber – bereit wären, für ein belangloses und unwirksames Treiben aller dieser Akteure eine Menge Geld einzusetzen. Man kann nicht leugnen, dass im Kampf um die Macht subtile – und in diesem Sinne wohl auch rationale – Methoden zum Einsatz gebracht werden. Sie arbeiten allerdings nicht nur, ja nicht einmal vorwiegend mit Argumenten, die ein rationalistisch-aufklärerisch gesinnter Mensch als „seriös“ bezeichnen würde, sondern häufig mit Bildern, Anspielungen, Stimmungen, Gefühlen, Mythen. Wir können also nochmals – und konkret auf das politische Geschäft bezogen – die Frage aufwerfen, ob es möglicherweise unterschiedliche „Rationalitäten“ geben kann oder wo die Grenzen des rationalen und irrationalen Geschehens – samt den Grauzonen zwischen diesen Bereichen – verlaufen. Wenn ich von unterschiedlichen „Rationalitäten“ spreche, so meine ich damit beispielsweise jene Erweiterungen des strikten egozentrischen oder egoistischen Modells, wie sie sich mit dem weiten Themenbereich der „Commitments“ verbinden, die in den letzten Jahren einige Aufmerksamkeit gefunden haben: also Gefühle von Verpflichtungen und Bindungen, welche die Individuen alltäglich verspüren und erleben und die geeignet scheinen, ihre egozentrischen Neigungen zu modifizieren. Ich werde in der Folge über die Commitments noch hinausgehen und mich in noch „weichere“ Gefilde des Verhaltens begeben. Wir werden sehen, dass es zu interessanten Überlagerungen rationaler und irrationaler Komponenten kommen kann. Während es ohne Zweifel rationales Verhalten von Politikern und Wählern ebenso gibt wie irrationales Verhalten auf beiden Seiten des politischen Marktes, gibt es auch rationale Strategien von Politikern, die sich auf die Beeinflussung oder Instrumentalisierung irrationaler Komponenten auf der Seite der Wähler richten. Offenbar gibt es einen rationalen, maximierenden Umgang mit irrationalen Elementen des politischen Prozesses, auch wenn sich dies von hochgestoche-

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nen Beschreibungen einer „aufklärungsgeprägten“ Rationaltheorie ein wenig unterscheiden mag.2 Es gibt einen rationalen Umgang mit dem Irrationalen im politischen Leben; rationale Strategien, um irrationale Momente im politischen Prozess zu erzeugen, zu gestalten, zu verstärken, zu verändern. Es scheint auch Fälle zu geben, die herkömmlicherweise als irrational eingestuft werden, die sich jedoch, wenn man Handlungsbedingungen realistisch beurteilt, genauso gut als rationale Entscheidungen verstehen lassen; und rationale Fälle, die ihren irrationalen Gehalt erst auf den zweiten Blick sichtbar werden lassen. Wenn man einige solcher Situationen durchspielt, werden die Abgrenzungen zwischen rationalen und irrationalen Entscheidungen problematisch. Wir bewegen uns dabei natürlich in methodischen Spannungsfeldern und Grenzbereichen der Rationaltheorie. Denn oft sind es kluge, überlegte, ausgeklügelte Strategien, die darauf zielen, die Gefühle und Impressionen der Menschen, die Bilder, die sie in den Köpfen haben, die Mythen, mit und von denen sie leben, zu beeinflussen. Ich werde bei meinen Betrachtungen folgendermaßen vorgehen. Erstens gehe ich von einem rationaltheoretischen Grundmodell aus, das ich allerdings als loses Rahmenwerk verwende, um darin auch eine Reihe 2 Der Begriff der Rationalität ist dabei natürlich hinterfragenswert, auch wenn ich ihn in einem wenig strengen Sinn verwenden werde. Man kann ihn erstens im Sinne der Rationaltheorie oder Nutzentheorie verwenden: rationales Handeln im Sinne einer Maximierung einer Nutzenfunktion. (Angesichts des tautologischen Charakters eines wissenschaftstheoretisch sauberen Ansatzes hilft uns das nicht viel weiter.) Empirisch brauchbar wird dieser Ansatz erst dadurch, dass – im Sinne praktisch gehandhabter Nutzentheorie – ein eher egozentrisch-egoistisch-interessenorientiertes Verhalten der Individuen unterstellt wird. – Zweitens ist auf Max Webers Typologie hinzuweisen: affektives, traditionales, wertrationales und zweckrationales Handeln; mit all den Abgrenzungsschwierigkeiten, die wir in der Literatur mittlerweile behandelt finden. – Drittens können wir an die Aufklärung anknüpfen: ein Denken und Entscheiden, das sich aus Befangenheiten und Verblendungen löst, das Vernunft und Verstand zur Entfaltung bringt, das die Stärken menschlichen Denkens ausspielt, bis hinüber zu den prekären Verbindungen zum sittlichen Denken und zu den Erwartungen über die voranschreitende Entfaltung des Menschengeschlechts. – Viertens können wir an moderne Prozesse der Rationalisierung und Vermarktlichung denken: an die Eingliederung des Einzelnen in eine formalisierte, anonyme, dichte Maschinerie der Moderne, die das Individuum auch veranlasst und zwingt, eine grundsätzlich kalkulierende, „kühle“, interessenbewusste Perspektive auf die Welt zu entwickeln. – Eine Definition versucht Wolfgang Kersting: „Von rationaler Entscheidung spreche ich [. . .] dann, wenn (1) eine Handlung objektiv alternativenfähig ist und man auch anders hätte handeln können; wenn (2) die Handlung unter der Richtigkeitsdifferenz steht, es folglich im Zusammenhang mit dem, was jemand tut, Sinn hat, zwischen einer richtigen und falschen Weise des Handelns zu unterscheiden; und wenn (3) die faktisch vollzogene, wenn auch nicht notwendigerweise bewusst gewählte Behandlungsalternative die besseren Gründe für sich geltend macht und somit beansprucht, ihren optionalen Konkurrentinnen rational überlegen zu sein.“ (Kersting 2002, 257)

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von (gemeiniglich als irrational angesehenen) Elementen unterzubringen. Ich beginne mit einer engen Formulierung jener ökonomischen Größen, welche eine Wahlentscheidung beeinflussen, und ich baue in sieben Schritten einige zusätzliche – immer stärker „irrational“ werdende – Dimensionen aus. Der enge Ansatz einer Wahlentscheidung betrifft (1) die ökonomischen Parameter als Determinanten der Auswahl zwischen Parteien oder Personen: Die Wahlentscheidung ist abhängig von Wachstumsrate, Beschäftigung, Inflation und dergleichen. Eine erste Ausweitung erfolgt (2) durch die Einbeziehung von anderen Politikdimensionen; es wäre unrealistisch, wenn man – in Zeiten wie diesen – beispielsweise die Fremdenpolitik in Europa oder die Familienpolitik als gänzlich unwichtig für eine Wahlentscheidung ansehen würde. Dann kommen die in den politikwissenschaftlichen Studien herausgestellten Größen hinzu: (3) Person/Führung und (4) Programme/ Ideologien. In weiteren Schritten vervollständigen wir die Liste der Einflussgrößen um (5) Stimmungen, (6) Events und (7) Visionen, also um immer „weichere“ Komponenten. Zweitens pendle ich andauernd zwischen rationalen und irrationalen Elementen. In manchen Fällen möchte ich zeigen, dass Vermutungen eines irrationalen Verhaltens sich durchaus noch in ein vernünftiges (ökonomisches) Kalkül einordnen lassen. In anderen Fällen versuche ich, die unterschiedlichen Verwendungsweisen irrationaler Potenziale zu skizzieren. Ich taste also zwischen dem rationalen und irrationalen Bereich hin und her, und zuweilen ist es gar nicht sicher, ob wir uns gerade auf der einen oder der anderen Seite bewegen. Es geht natürlich dabei immer auch um die Methoden der praktischen Politik, und auf sie wird auch Bezug genommen. Drittens wird der theoretische Ansatz, der von einigen klassischen Problemen der Rationaltheorie seinen Ausgang nimmt, durch einen empirischen Ansatz insoweit ergänzt, als ich mich in meinen praktischen Beispielen auf die internationale Politik, insbesondere auf die amerikanische und die europäische Politik, konzentriere. Es geht also, in Zeiten der Globalisierung, um Außenpolitik, Weltpolitik, Geopolitik; nicht um das politische Kleingeld, das in regionalen und nationalen Zusammenhängen gesammelt und getauscht wird. Damit kommen gleichsam induktive Elemente ins Spiel, die einer theoretischen Einordnung bedürfen; denn die konkreten Beispiele sind es, die jeweils die Frage aufwerfen, ob wir als Beobachter ein Verhalten nun als rationales oder irrationales verstehen wollen. Ich pendle also auch zwischen den theoretischen Modellen und dem beobachtbaren Verhalten: Wie passen rationaltheoretischen Erklärungen zur Praxis der Politik?

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I. Die WählerInnen und die Wirtschaftswelt Die „Economic Theory of Democracy“ von Anthony Downs (1957) ist vom nutzenmaximierenden Verhalten von Politikern und Wählern ausgegangen. Die idealistischen Vorstellungen von gemeinwohlorientierten Politikern, die sich rastlos um das Wohl der Menschen in dem ihnen anvertrauten Gemeinwesen Sorgen machen, und informierten Wählern, die verantwortungsbewusst und polis-orientiert für die Zukunft dieses Gemeinwesens sorgen, werden in dieser Beschreibung mit einer unerfreulichen Realität konfrontiert; denn es kann nicht geleugnet werden, dass die nüchternen oder zynischen Beschreibungen nutzenmaximierender Akteure auf der Angebotswie auf der Nachfrageseite mit der politischen Wirklichkeit trefflich übereinstimmen. Politische Akteure maximieren Wählerstimmen zum Zwecke der Machterhaltung, und Bürgerinnen und Bürger maximieren ihren Nutzen, vorzugsweise gemessen an ihrer als Ergebnis zukünftiger Politik erwarteten eigenen Einkommenssituation. Die Rationaltheorie kommt aus der ökonomischen Wissenschaft, und so ist es nicht verwunderlich, dass viele Arbeiten geprägt sind von jenen Messgrößen, mit denen Ökonomen umzugehen gewohnt sind. Sie haben alltäglich mit Größen wie der Wachstumsrate, der Beschäftigung oder der Arbeitslosigkeit zu tun, und sie glauben deshalb, dass die harten Daten über die wirtschaftlichen Entwicklungen auch für Wählerinnen und Wähler so beeindruckend sind wie für Ökonomen. Das heißt, wir haben es häufig mit einer Formel wie der folgenden zu tun: Wahlentscheidung WE = f (Wachstum, Beschäftigung, Arbeitslosigkeit, Inflation . . .) Die Wahlentscheidung ist in dieser Darstellung eine Funktion der entsprechenden ökonomischen Indikatoren, zu denen sich weitere hinzufügen lassen. Welche Indikatoren tatsächlich in welcher Stärke die Aufmerksamkeit der Wählerschaft auf sich ziehen, ließe sich empirisch klären. Was machen nun rationale Wählerinnen und Wähler? Die objektiven Indikatoren reichen für ihre Entscheidung nicht aus; freilich ist hohes Wachstum gut, aber es ist nicht selbstverständlich, mit welchem relativen Gewicht die einzelnen Indikatoren in die Beurteilung eingehen. Zudem sind sie ja nicht in ihrer „objektiven“ Bedeutung wichtig, also in der Weise, wie Wirtschaftsexperten diese Indikatoren als Ausdruck einer besseren oder schlechteren nationalen Wirtschaftslage beurteilen würden. Vielmehr schätzen die Wählerinnen und Wähler in der engen Form von „pocketbook voting“ ab, was die entsprechenden Indikatoren für ihre persönliche Lebenslage bedeuten, und sie entwickeln auf Grund dieser Abschätzung ein „Parteiendifferen-

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tial“: Gewählt wird jene Partei, deren Politik für die persönliche wirtschaftliche Lage die besten Ergebnisse zeitigt. Praktische Politiker würden der Bedeutung dieser Größen nicht widersprechen: Ein ökonomisches Desaster mit hoher Arbeitslosigkeit ist sicher keine gute Ausgangslage für eine Wahl. „It’s the economy, stupid.“3 Was machen rationale Politikerinnen und Politiker? Die Politikökonomen unterstellen, dass Politiker zumindest rudimentär die erwähnten Variablen manipulieren können und diese Größen mit dem Blick auf die Rhythmen politischer Entscheidungssituationen beeinflussen. Das heißt, aus der rationalen Manipulation politischer Notwendigkeiten und Wünschbarkeiten resultieren politische Konjunkturzyklen – ein „boom-and-bust-pattern“ im Rhythmus der Wahlen (Nordhaus 1975; Gärtner 1994; Drazen 2000); mit all den unangenehmen langfristigen Folgen: steigende Inflation, geringe Sparneigung, Tendenz zum steigenden Staatsanteil und so weiter. Zwei Vorbehalte sind gegenüber dieser einfachen Gleichung vorzubringen. Folgenanalyse. Der erste Vorbehalt richtet sich darauf, dass die einzelnen Wähler abschätzen können müssten, was – im Einklang mit einer persönlichen nutzenmaximierenden Strategie – die jeweilige wirtschaftspolitische Vorgangsweise „bedeutet“. Zunächst scheint dies bei den genannten Variablen einfach: Vollbeschäftigung ist besser als Arbeitslosigkeit, und eine hohe Wirtschaftswachstumsrate ist besser als eine niedrige.4 In welchem Maße sich beispielsweise eine steigende Inflationsrate auf die persönliche Vermögensanlage auswirkt, mag allerdings bereits eine schwierigere Frage darstellen, die auch ausgepichten Experten einige Rätsel aufgeben könnte. Es gibt allerdings noch schwierigere Indikatoren: wenn es etwa die Frage zu beurteilen gilt, ob sich eine konkrete Steuerreform für die Wirtschaft insgesamt oder für den einzelnen Wähler günstig oder ungünstig ausgewirkt hat oder in Zukunft auswirken wird. 3 Der Satz wurde vom demokratischen Parteistrategen James Carville formuliert und nach Bill Clinton’s Wahlsieg 1992 oft zitiert. Öffentlich wurde er allerdings erst nach der Wahl verwendet. 4 Man kann natürlich auch hinterfragen, in welchem Maße egoistische oder altruistische Tendenzen in der Wählerschaft vorhanden sind. Rationaltheoretiker sind meist auf die Egoisten fixiert. (Wir wissen natürlich, dass die Nutzenmaximierung, rein wissenschaftstheoretisch gesprochen, gegenüber ihren Inhalten neutral ist; dennoch zeigen praktische Arbeiten aus der einschlägigen Schule, dass im konkreten Fall die theoretische „Offenheit“ rasch in eine enge Interessenbezogenheit, das heißt in die Unterstellung einer im Grunde egoistischen Nutzenfunktion mündet.) Aber es ist realistisch anzunehmen, dass Individuen, zumindest zu einem kleineren Teil, auch an ihrer sozialen Umwelt Anteil nehmen, also auch gewisse Bindungen und Verpflichtungen fühlen. Wenn dies der Fall ist, müssen sie ihre eigenen wirtschaftlichen Vorteile, wie sie sich in den genannten Indikatoren niederschlagen, gegen wirtschaftliche Vorteile anderer sozialer Gruppen abwägen.

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Selbst wenn man sich also auf wenige ökonomische Indikatoren beschränkt, ist es nicht so leicht, zu einer rationalen Einschätzung der Regierungsleistungen in der abgelaufenen Legislaturperiode zu kommen: Wenn allerdings der Stammwähler als „tot“ eingeschätzt wird, weil er längst abgelöst worden sei von einem „volatilen“, „flüchtigen“ Wähler, der viel besser in das gesellschaftliche Habitat passt, dann werden solche situationsbezogenen Einschätzungen wichtig (Key 1966, Fiorina 1981). Aber sie weisen über die Probleme des ökonomischen Sachverstandes – welche Bedeutung hat ein Wirtschaftsindikator für die gesamte Wirtschaftslage? – und über die Probleme der Beurteilung der Auswirkungen des Indikators – welche Bedeutung hat ein Wirtschaftsindikator für die persönliche Einkommensund Vermögenssituation? – ein grundsätzliches Problem auf: Selbst eine rationale Einschätzung des wirtschaftlichen Erfolges, die sich an den Indikatoren statistischer Ämter oder von Wirtschaftsforschungsinstituten orientiert, wäre als irrational zu qualifizieren, wenn sie den Beitrag der Regierung, dieses Ergebnis zustande zu bringen, vernachlässigt. Denn schließlich sind diese Indikatoren ja als Signale für die Kompetenz der herrschenden Partei(en) und Person(en) von Interesse. Irrational wäre dabei die Gleichsetzung: Gute Wirtschaftslage lässt auf gute Wirtschaftspolitik schließen, schlechte Wirtschaftslage auf schlechte Wirtschaftspolitik. Wollte man einigermaßen vernünftige Rationalitätskriterien anlegen, um eine Wahlentscheidung zu fällen, müssten die Wählerinnen und Wähler bei der Ergebnisprüfung die Handlungsmöglichkeiten einschätzen können, die der Regierung offen gestanden sind, um festzustellen, ob tatsächlich die optimalen Maßnahmenpakete umgesetzt wurden. Es kann ein wirtschaftlicher Boom entstanden sein, obwohl die Regierung alles getan hat, um ihn zu verhindern, und es kann sich eine Wirtschaftskrise entwickelt haben, an der die Regierung nicht schuld ist, ja die viel schlimmer ausgefallen wäre, wenn sie nicht ein hochkompetentes wirtschaftspolitisches Krisenmanagement gemacht hätte. In solchen Fällen wäre eine schlichte Ergebnisorientierung irrational. Wenn wir dem Erfordernis der Rationalität einen guten Sinn beilegen, dann können sich rationale Wähler nicht mit gegebenen Indikatoren und Daten begnügen, sie müssten gleichsam Szenarien einer „ungeschehenen Geschichte“ (Demandt 1984) entwickeln und mit der „wirklichen Wirklichkeit“ vergleichen. Wie hätte die Regierung handeln können? Was wäre in diesen Fällen herausgekommen? Wie ist das reale Ergebnis im Raum der Möglichkeiten zu verorten? Noch schwieriger als die Einschätzung der Leistungen in der Vergangenheit ist die Einschätzung von wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die in die Zukunft reichen – etwa der Versuch, zu beurteilen, ob eine konkrete steuerpolitische Maßnahme dem Einzelnen in den nächsten Jahren oder gar auf lange Sicht zum Vorteil oder zum Nachteil gereichen werde. Zudem geht es

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nicht nur um die Abschätzung von Einzelmaßnahmen, sondern um das Herausfiltern aus einer Vielzahl politischer Strategien: also abwägen, ob die vorgesehenen Sozialversicherungsreformen Beitragserhöhungen zur Folge haben, die kollektiv und/oder individuell mehr kosten, als sie an Sicherheit und Leistung bringen werden; abwägen, ob die Reformen im Bildungsbereich den eigenen Kindern so viel mehr bringen, dass der erhöhte Aufwand (etwa für Studiengebühren) gerechtfertigt ist; abwägen, ob die verkündeten Infrastrukturausbauten wirklich das zukünftige Wachstum in den nächsten beiden Jahrzehnten ankurbeln oder ob sich nur interessierte Konzerne mit ihrem Interesse an einschlägigen Aufträgen durchgesetzt haben; und ein paar Dutzend andere Dinge dieser Art. Das Repertoire solcher Fragestellungen ist dann noch zu einer Nutzenbilanz in einem Gesamtbewertungs-Paket zusammenzuschnüren – und immer noch befinden wir uns auf der einfachsten Ebene, allein im Bereich ökonomischer Indikatoren. Es liegt nahe anzunehmen, dass nicht-rationale Kontaminationen des Rationalkalküls schon bei dieser ziemlich restringierten Vorgangsweise eine Rolle spielen, weil die Einschätzungen wiederum von wirtschaftspolitischen Gesamtkonzeptionen mit gewissen weltanschaulichen Einsprengseln – ist man ein Libertärer oder ein Liberaler, ein Keynesianer oder ein Friedmanianer, ein Sozialist oder Interventionist? – abhängen. Wahrnehmung. Der zweite Vorbehalt richtet sich auf das Verhältnis der „harten“ wirtschaftlichen Indikatoren zu ihrer Wahrnehmung durch die Wählerschaft. Bekanntlich ist das Wirklichkeit, was die Menschen für die Wirklichkeit halten, und bei dieser „Wirklichkeitskonstruktion“ gibt es Einflüsse aus anderen, noch zu besprechenden Dimensionen des politischen Lebens. Neben der „harten“ ökonomischen Wirklichkeit (wenn wir denn die Ebene statistischer Informationen als eine solche bezeichnen wollen) gibt es Bilder von ihr, ja Mythen über diese Wirklichkeit, und ein großer Teil des politischen Kampfes dreht sich – in hoch rationaler Weise – darum, diese Bilder und Mythen zu beeinflussen und zu verändern. „Jeder Funktionär einer politischen Partei“, so vermerkt Claus Offe, „weiß geradezu instinktiv, worauf es im politischen Geschäft ankommt: auf die Vermittlung von Bildern, Gewißheiten und sachlichen Entscheidungsprämissen, die, wenn sie einmal im Bewußtsein der Bürger verankert sind, deren Handeln und deren Unterstützungsbereitschaft wie von selbst in die erwünschte Richtung lenken. Wenn es der Bürger zum Beispiel für gewisslich erwiesen hält, daß eine Senkung der Unternehmenssteuer zur Schaffung neuer Arbeitsplätze führen wird, dann ergibt sich aus diesem ‚Wissen‘ – zusammen mit dem Allerweltsziel ‚Wachstum und Vollbeschäftigung‘ – seine rationale Unterstützung für eine Partei, die solche Steuersenkungen befürwortet.“ (Offe 1994, 126)

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Es geht also erstens um das „Wissen“, wie ökonomische Funktionszusammenhänge aussehen, und dieses Wissen ist insofern nicht „zuverlässig“, als es von grundlegenden Vorstellungen über die Funktionsweise des Wirtschaftsprozesses beeinflusst ist, über die sich nicht einmal Wirtschaftstheoretiker einig sind. Wirklichkeitswissen ist nicht neutral, sondern weltbildanfällig. Auch Wirtschaftstheoretiker verfügen über ein jeweils unterschiedliches „Wissen“, jenseits der konsensuellen Bereiche, und sie versuchen sich in den „größeren“ Theorien zu orientieren, irgendwo zwischen Keynesianismus und Monetarismus, zwischen der Theorie rationaler Erwartungen und den libertären Konzeptionen. Mit wesentlichen Abstrichen im Sachverstand gilt dies auch für Wählerinnen und Wähler, die sich mit vereinfachten Bildern solcher Vorgänge abplagen. Dabei gibt es positionelle Beeinflussungen: Auch wenn wir die Individuen nicht in die strikten Kategorien eines Klassenbewusstseins zwängen wollen, in dem Sinne, dass das Sein ihr Bewusstsein bestimme, so werden dennoch die Position eines Individuums in der Sozialstruktur beziehungsweise die Erfahrungen einer ganz bestimmten Lebens- und Arbeitswelt dazu führen, dass die Umwelt, einschließlich der politischen Welt, in einer Weise wahrgenommen wird, die sich von der Wahrnehmung anderer Individuen in anderen Positionen unterscheidet. Es geht zweitens um die „Rahmung“ ganz konkreter Situationen; denn diese „Rahmung“ unterscheidet sich vom erwähnten „Wissen“. Bei der Wahrnehmung handelt es sich um eine Situationsdefinition, um Fragen wie: Worum geht es? Sind wir in der Krise oder auf einem guten Weg? Welche Politik ist in der gegebenen Lage „geboten“? In entsprechenden Entwicklungen der Rationaltheorie, etwa von Kahneman und Tversky (Kahneman/ Tversky 1979, 1984; Tversky/Kahneman 1981) oder von Sigwart Lindenberg (1989, 1993), sind Framing-Modelle aus der Soziologie, ob auf den Spuren von Erving Goffman (1974) oder anderen phänomenologischen Vertretern (Berger/Luckmann 1980), verwendet worden, um die rationale Entscheidung durch Spielräume einer Wirklichkeitskonstruktion anzureichern. Tatsächlich können sich Einschätzungen von Situationen, Gruppen oder Personen von der Wirklichkeit ablösen oder sich der Wirklichkeit gegenüber als relativ resistent erweisen. Man kann nicht davon ausgehen, dass die Wirklichkeit sich aufdrängt, dass sie gleichsam „theorielos“ oder „weltanschauungslos“ gegeben ist. Für die Einschätzung konkreter Maßnahmen ist die Einschätzung von Gesamtkonstellationen eine Voraussetzung: Handelt es sich beim „negotiated capitalism“ der Kontinentaleuropäer um ein eigenständiges, wertvolles, bewahrungswertes Modell, das dem liberalen amerikanischen Kapitalismus gegenübersteht, oder um ein sklerotisches Überbleibsel früherer Zeiten, welches es schleunigst zu entsorgen gilt, will Europa nicht im verschärften Konkurrenzprozess in einer globalisierten

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Welt hoffnungslos hinten bleiben? Handelt es sich beim „dismantling of the welfare state“ um einen notwendigen Anpassungsprozess oder um eine Niederlage der Arbeitnehmerseite in einer Verteilungsauseinandersetzung, in der die reicheren Schichten die Nase vorne haben? II. Die Welt der anderen politischen Dimensionen Es wäre ziemlich sonderbar, würden die Wählerinnen und Wähler allein auf die wirtschaftlichen Zahlen starren und alle anderen Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens, die für ihr Wohlergehen genauso wichtig sind, bei einer Einschätzung der politischen Leistungsfähigkeit einer Gruppe vollständig außer Acht lassen. „It’s not only the economy, stupid!“ Es wäre unvernünftig anzunehmen, dass beispielsweise eine heiß umstrittene Migrationspolitik in manchen Ländern der Europäischen Union keinerlei Einfluss auf das politische Geschehen hätte. Sie kann vielmehr Regierungen direkt stürzen. Sie kann zu Gewalttaten führen, über die Regierungen stürzen. Selbst eine Regierung, die andere Ziele verfolgt, wird auf die Ängste ihrer Bevölkerung Obacht geben müssen, auch dann, wenn sie diese Ängste unbegründet findet – das ist eben jener politische Opportunismus, den zu erzwingen eine demokratische Ordnung sich bemüht. Wir müssen unsere kleine Formel auf der Sachebene also um einige weitere Dimensionen anreichern: WE = f (Wachstum, Beschäftigung, Arbeitslosigkeit, Inflation . . .; Migration, Infrastruktur, Pensionen, Gesundheit, Bildung, Familie . . .) Die Wahlentscheidung ist zusätzlich zu den wirtschaftlichen Indikatoren abhängig von der Einschätzung der Politik in Bereichen wie Flüchtlingsund Migrationspolitik, Infrastrukturausbau, Pensionsvorsorge, Gesundheitssystem, Bildungssystem, Familienleistungen und anderen Items.5 Man kann eine beliebige Liste von Politikbereichen ergänzen, je nachdem, wie konkret man die einzelnen Segmente fasst. Die weiteren gesellschaftlichen Themenbereiche sind in ein Rationalmodell grundsätzlich problemlos einzube5 Bei dieser Vorgehensweise, die darauf hinausläuft, dass schrittweise der Bereich der zu berücksichtigenden Variablen ausgeweitet wird, ist allerdings klar, dass auch die Rationalität so weit interpretiert wird, dass letztlich jedes Verhalten als ein Rationalverhalten gedeutet werden kann; zumindest lässt sich keine Konstellation mehr denken, in der eine Widerlegung der behaupteten Funktion vorstellbar wäre. Allerdings ist dies natürlich eines der grundlegenden Probleme einer Nutzentheorie, die nicht nur mit einem egozentrisch-egoistischen Individuum operiert. An einzelnen Beispielen von Gary Becker ist der Tautologiegehalt des Ansatzes auch schon gezeigt worden.

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ziehen, wie die Analysen von Gary Becker (1976) gezeigt haben. Auch bei diesen Themen stehen überdies oft wirtschaftliche Sachverhalte im Hintergrund. Migrationspolitik wird beispielsweise oft auch in wirtschaftlichen Kategorien abgehandelt: stärkere Konkurrenz um unqualifizierte Arbeitsplätze, parasitäre Nutzung inländischer Sozialvergünstigungen durch Immigranten und so weiter. Interessanterweise setzt sich ein vergleichsweise unstrittiger Befund aus der Wirtschaftstheorie im Bewusstsein der meisten Individuen nicht durch: der Befund, dass Freihandel (internationale Arbeitsteilung und offene Grenzen) für alle beteiligten Länder von Vorteil ist. Es lässt sich ja zeigen, dass die freie Beweglichkeit aller Produktionsfaktoren unter bestimmten Voraussetzungen eine win-win-Situation für alle schafft. Wider dieses Modell sind viele Menschen überzeugt, dass die Konkurrenz von Billiglohnländern, insbesondere wenn diese vor der Haustür liegen, für die wirtschaftliche Entwicklung des eigenen Landes beziehungsweise für ihre eigene wirtschaftliche Lage nicht günstig ist. Man kann diese unsachgemäße Wirklichkeitseinschätzung auf Irrationalität zurückführen: Die Menschen seien einfach zu dumm, um wirtschaftliche Sachverhalte zu begreifen. Es mag allerdings weitere Gründe geben, warum es zu einer deutlichen Abweichung von den Einschätzungen der meisten Ökonomen kommt: Erstens gibt es soziale Gruppen, die durch eine stärkere Öffnung der Grenzen Schaden erleiden (etwa niedrigqualifizierte Einkommensbezieher), und ihre eigene Erfahrung wird in die Gesamtbewertung einer bestimmten politischen Vorgangsweise umgelegt: Ich erlebe, dass diese Politik schädlich ist, und somit ist sie eine schädliche Politik. Zweitens mögen die durch den Freihandel erzielbaren Vorteile (in Form billigerer Güterpreise) nicht so offenkundig sein wie die Nachteile (durch einen Job-Verlust), sodass eine Asymmetrie der Wahrnehmungen vorliegt, die dazu führt, dass selbst dann, wenn die Nettovorteile für das eigene Land unbestritten sind, eine Schädigung behauptet wird. Drittens mag die Theorie in bestimmten Fällen falsch sein, das heißt, dass Freihandel nicht immer für alle beteiligten Länder positive Nettoeffekte zeitigt. (Neuerdings gibt es Stimmen in dieser Richtung, etwa Äußerungen von Paul A. Samuelson 2004). Man kann allerdings auch annehmen, dass unterschiedliche soziale Gruppen an unterschiedlichen Positionen der Gesellschaft unterschiedliche Erfahrungen machen, die dazu führen, dass sie die Gesellschaft grundsätzlich als ein anders geartetes Gebilde ansehen: Auf der einen Seite mag sich ein kosmopolitisches Bewusstsein bei Personen entwickeln, die Freude daran empfinden, auf der ganzen Welt zuhause zu sein, und diese Personen haben auch keine Schwierigkeit damit, die moderne Welt als ein relativ anonymformalistisches System zu betrachten. Sie fühlen sich auf den Flughäfen der ganzen Welt zuhause und haben keine Angst bei der Vorstellung, auf ein

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paar Jahre in Tokio, London oder Houston zu arbeiten. Auf der anderen Seite halten sich bei vielen Menschen tribalistische Neigungen, also Vorstellungen von partikulären, segmentierten sozialen Kontexten, wo Kategorien wie Heimat, Vertrautheit, Einbettung und Wir-Gefühl eine sehr viel größere Bedeutung haben. Solche unterschiedlichen Konzeptualisierungen der Gesellschaft führen in vielen Bereichen zu unterschiedlichen Deutungen und Bewertungen. Wenn der „Kosmopolit“ auf den Straßen seiner mitteleuropäischen Stadt schwarzen Mitbürgern begegnet, dann ist ihm dies erfreulich, weil ihm die abgelegene Stadt dadurch ein bisschen weniger provinziell vorkommt; wenn dem „Tribalisten“ dasselbe widerfährt, dann ruft dies Aversionen wach, weil es ihm als eine Bedrohung der besonderen Eigenart der „Wir-Gruppe“ und ihrer Lebensweise gilt. Natürlich ist für die zusätzlichen Politikbereiche kennzeichnend, dass die Welt der Vorstellungen von der wirklichen Welt noch viel leichter wegdriften kann als bei den vergleichsweise überschaubaren Indikatoren des Wirtschaftslebens. Woran sich die Qualität einer Familienpolitik oder einer Fremdenpolitik bemisst, das ist wesentlich fragwürdiger und umstrittener. Ob die Gewährung von sozialen Transfers für eine Mutter in den ersten Monaten oder Jahren nach der Geburt eines Kindes eine erwünschte Absicherung für Frauen darstellt, die ansonsten in eine armutsgefährdete Situation rutschen, oder ob es sich um Anreize handelt, die auf eine perfide Weise darauf zielen, die Frauen wieder verstärkt an den heimischen Herd zurückzubringen, ist eine unterschiedliche Beurteilung, die davon abhängig ist, welche Bilder von der Wirklichkeit in den Köpfen der Menschen vorherrschen. Mit Überraschung kann man feststellen, dass feministische Theoretikerinnen diese Transfers an Frauen mit Abscheu kommentieren, weil sie befürchten, dass jene Frauen, denen sie – folgerichtig – ein „falsches Bewusstsein“ attestieren, auf das Angebot „einsteigen“. Deshalb geht es im politischen Geschehen – vor jeder Politikbeurteilung – um den Kampf um Wirklichkeitsbilder: Wie sind die Sachverhalte, die Kausalitäten, die Zusammenhänge, die Nebenfolgen? Auch bei dieser Erweiterung der Dimensionen gibt es einige Probleme. Informationsüberlastung. Ein erstes Problem besteht in der Vieldimensionalität der politischen Problemwelten, die die Wählerin oder den Wähler überfordert. Er oder sie müsste sich über alle Politikbereiche informieren und die Politikqualität oder Sinnhaftigkeit von Vorschlägen abschätzen: Das endet bei „information overload“. Wollte der Wähler so rational sein, dass er sich in allen wichtigen Politikbereichen hinlänglich informieren wollte, so wäre er eigentlich irrational. Denn es wäre, wie häufig diskutiert worden ist, für jeden Einzelnen irrational, angesichts des geringen Gewichts seiner Wählerstimme den Aufwand umfassender Information in allen Politikberei-

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chen überhaupt auf sich zu nehmen, und es wäre für jeden Einzelnen ebenso irrational, überhaupt an der Wahl teilzunehmen, weil er, folgt man dem Wählerparadoxon, das geringe Gewicht seiner einzelnen Stimme gegen die erforderlichen Aufwendungen beziehungsweise Mühen abwägen muss. Er muss ja wissen, dass seine einzelne Stimme völlig unwichtig ist; noch keine große politische Wahl wurde durch eine einzige Stimme entschieden. Der rationale Wähler ist demnach nicht der vollständig informierte, sondern der vollständig uninformierte Wähler: der Wähler in Zustand der „rational ignorance“. Diese Ignoranz macht allerdings deshalb nichts, weil er als rationaler Wähler ohnehin auch nicht die persönlichen Kosten auf sich nehmen wird, zur Wahl zu gehen (Meehl 1977).6 Zwei relativ sonderbare Folgerungen könnten wir aus dem Problem des Wählens ableiten. Die erste Folgerung ist: Eine Demokratie funktioniert nur mit irrationalen Individuen (die sich ein bisschen informieren und trotz anderweitiger Kostenabwägung wählen gehen). Die zweite Folgerung ist: Jede Tendenz zu einer sinkenden Wahlbeteiligung ist als Schritt zu einer qualitativ besseren Demokratie zu begrüßen. Denn es kann der Qualität der Wahlentscheidung nur zugute kommen, wenn allein jene Wähler an der Entscheidung teilnehmen, die sich informieren und die sich eine gute Entscheidung zutrauen. In der Praxis wissen wir allerdings, dass die Wetterlage – Regen oder Sonnenschein – für die Entscheidung über Teilnahme oder Nichtteilnahme an der Wahl viel wichtiger ist.7 Mittlerweile haben wir auch – auf den Spuren von Amartya Sen (1977) – zur Kenntnis genommen, dass neben den meteorologischen Erwägungen bei den „rational fools“ auch Commitments eine Rolle spielen können: Handlungen, zu denen sich ein Individuum verpflichtet fühlt, obwohl es sich dadurch möglicherweise sogar schlechter stellt. Das ermöglicht es, die irrationalen Teilnehmer an einer Wahl vor ihrem schlechten Image zu retten; es ist nicht ihre mangelnde In6 Die Rationalität der Entscheidung, angesichts einer selbstbezogenen KostenNutzen-Entscheidung an einer Wahl nicht teilzunehmen, stellte für die herkömmliche Politikwissenschaft insofern eine Herausforderung dar, als diese von einem normativen Idealbild eines Wählers ausging und deshalb geringe Wahlbeteiligung, wie sie in der Wirklichkeit auftrat, nicht erklären konnte; und für einen rationaltheoretischen Ansatz war wieder unerklärlich, wie es selbst zu einer niedrigen Wahlbeteiligung von 30 oder 50% kommen konnte. – Natürlich gibt es ad hoc-Erklärungen, warum so viele Wähler dennoch zur Wahl gehen, von der Illusion ihrer Wirksamkeit bis zu einem inneren Verpflichtungsgefühl, welches die Wahlteilnahme selbst, unabhängig vom Effekt auf den Wahlausgang, zu einem befriedigenden Erlebnis macht. (Acevedo/Krueger 2004 und viele andere) 7 Auch die Strategen der politischen Parteien wissen sehr genau, was die Folgen unterschiedlicher Wetterlagen sind. Bei einem sehr schlechten Wetter am Wahltag bleiben die Wähler zu Hause, bei einem sehr schönen Wetter unternehmen sie einen Sonntagsausflug, also ist eine mittlere Wetterlage sehr demokratieförderlich.

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telligenz, die sie in die Wahlkabine treibt, sondern es sind ihre Verpflichtungsgefühle – und es gilt zu überlegen, ob man die Letzteren als rationale oder irrationale Komponenten einschätzt. Vergleiche des Unvergleichbaren. Vieldimensionalität des Entscheidungsproblems bedeutet aber auch, dass man zwischen Größen abwägen muss, für die es keine sinnvollen Vergleichsmaßstäbe gibt. Wie verhält sich gute Umweltpolitik gegen schlechte Einwanderungspolitik? Wie wägen wir eine gute Pensionsreform gegen eine schlechte Universitätspolitik ab? Oder wirtschaftliche Vorteile gegen kulturelle Homogenitätspräferenzen? Das letzte Beispiel bezieht sich auf ein Modell von Alberto Alesina und Enrico Spolaore (2005), die angesichts des Umstands, dass es politische Einheiten höchst unterschiedlicher Größenordnung gibt, nach der „optimalen Größe“ von Staaten fragen. Und ihr Ansatz lässt sich auf den Prozess zur Schaffung einer Europäischen Union anwenden. Ein rationaler EU-Bürger stellt zwei einander widerlaufende Kosten fest. Auf der einen Seite sind größere Wirtschaftsgebiete effizienter, sie fördern das Wachstum: Kleinheit verursacht Zusatzkosten. Auf der anderen Seite haben die Individuen Präferenzen dafür, dass sie mit „ihresgleichen“ zusammen leben wollen, und das erleichtert angesichts ähnlicher Auffassungen über öffentliche Güter auch politische Entscheidungen: Größe verursacht Zusatzkosten. Irgendwo in der Mitte gibt es eine optimale Situation (der Kostenminimierung), aber es ist unklar, wo diese in bestimmten Situationen liegt. – Das wirtschaftstheoretische Modell ist einfach und überzeugend, aber seine Anwendung stößt auf erhebliche Schwierigkeiten. Nur ein Beispiel: Es ist zu berücksichtigen, dass bei wachsender Größe im konkreten Fall Europas sich nicht einfach ein homogenes Wirtschaftsgebiet ausdehnt, sondern dass Länder unterschiedlichen Entwicklungsgrades dazukommen. Was heißt das für die beiden Kostenarten? Möglicherweise bedeutet ein unterschiedlicher Entwicklungsgrad, dass die ökonomische Vorteilhaftigkeit generell abnimmt, dass sie für bestimmte Gruppen abnimmt (für unqualifizierte Arbeitnehmer), dass sie für bestimmte Gruppen allenfalls auch zunimmt (nämlich für jene Unternehmen, welche die neuen Märkte nutzen). . .; und möglicherweise nehmen die Integrationskosten zu (weil Länder unterschiedlicher Entwicklungsstufe auch unterschiedlicher in ihren kulturellen Ausprägungen sein mögen). Single issues. Die Überforderungsproblematik führt zu einem weiteren Problem: Wähler sind zuweilen geneigt, die Komplexität der Welt kräftig beiseite zu schieben und ihre Entscheidung nur von einer – für sie sehr wichtigen – Angelegenheit abhängig zu machen. Die Vieldimensionalität wird eliminiert, die Entscheidungsfrage reduziert. Politikwissenschaftler tendieren dazu, eine „single issue“-Entscheidung eher für eine Entartung zu

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halten: Irgendein Thema spielt sich in der öffentlichen Wahrnehmung generell in den Vordergrund, oder ein Thema wird aufgrund persönlichen Interesses zum allein entscheidenden. Für Einwanderer mögen die neuen Fremdengesetze von überragender Bedeutung sein, für kinderreiche Familien die Familienförderung, für Homosexuelle die Option einer zukünftigen Eheschließung, also jener Institution, an der ohnehin nur noch Homosexuelle und kaum noch Heterosexuelle Interesse haben. An der Detailfrage jedenfalls werden die Leistungen einer Regierung oder die Attraktivität einer Partei gemessen, und alle anderen Dimensionen politischen Handelns treten zurück. Das würde mit der die Rationaltheorie ausweitenden Diskriminationstheorie von Sigwart Lindenberg (1989, 1993) gut zusammenpassen. Diese Theorie nimmt an, dass Akteure die Komplexität der Welt dadurch reduzieren, dass sie einfache „frames“ zur Anwendung bringen: Worum es in einer bestimmten Situation geht – um relativen Gewinn, um Normkonformität oder um Verlustvermeidung –, das wird durch die Bezugnahme auf diesen „Rahmen“ gedeutet, während andere Dimensionen in den Hintergrund des Bewusstseins treten. Wenn es um die „Rettung des Abendlandes“ geht, dann mag der Verzicht auf ein paar banale ökonomische Vorteile nicht schwer wiegen: Wir verteidigen unsere Werte gegen anstürmende Türken oder Zentralafrikaner, auch wenn die Zuwanderer sich auf ein strapaziertes Sozialversicherungssystem günstig auswirken würden. Wenn es um den „Kampf gegen den Terrorismus“ geht, dann werden ein paar rechtsstaatliche Pingeligkeiten leicht beiseite geschoben, dann gibt es illegale Festnahmen und verfassungswidrige Abhöraktionen, die nicht einmal dann, wenn die Maßnahmen an die Öffentlichkeit kommen, eingestellt werden. Aber vielleicht ist es – im Gegensatz zur Einschätzung von Politikbeobachtern – zuweilen nicht irrational, sondern sogar rational, eine politische Einschätzung nur aufgrund eines einzelnen Faktors, etwa der Familienpolitik, vorzunehmen, während die anderen Indikatoren belanglos werden oder bestenfalls als „Hintergrundgeräusch“ – mit der Chance einer Aktualisierung, falls sich in diesen Dimensionen etwas ganz Ungewöhnliches tun sollte – vorhanden bleiben. Warum sollte der überforderte Wähler, der keine Chance hat, sich über das gesamte Politikrepertoire kundig zu machen, nicht jenes Einzelthema herausgreifen, bei dem er sich am besten auskennt und bei dem er glaubt, Leistungen und Versprechungen der politischen Gruppierungen aus seiner eigenen Kenntnis heraus beurteilen zu können? Es ist gewissermaßen ein Stichprobenverfahren – und solche Verfahren sind, glauben wir den empirischen Sozialforschern, nicht irrational. Wenn der Wähler dieses Thema als „Stichprobe“ für alle übrigen Politikbereiche ansieht (im Sinne von: „Wenn der politische Akteur die Frage A richtig ent-

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scheidet, dann wird er auch die Probleme B bis Z gut machen“), kann es in einer Überforderungssituation eine rationale Strategie sein, sich auf die Betrachtung eines halbwegs verstandenen oder interessierenden Themas zu beschränken.8 Man kann dies auch kostentheoretisch unterstreichen: Wenn Informationskosten aufgewendet werden, dann spricht Einiges dafür, eine gezielte Investition für die ausreichende Erkundung einer Einzelfrage vorzunehmen, einer Einzelfrage, bei der man sich dann – im Sinne einer Stichprobe – einigermaßen auskennt, statt die für die Informationsbeschaffung verfügbaren Ressourcen erst recht wieder für alle Politikbereiche zu verzetteln, mit dem Ergebnis, dass man zwangsläufig in seichten Kenntnissen befangen bliebe. Gezielte Einzelinformationsinvestitition ist vielleicht die rationalste unter den verfügbaren defizitären Strategien des Wählers. Strategien der Aufmerksamkeitslenkung. Wenn das politische System sich darüber im Klaren ist, dass Wählerinnen und Wähler einen sehr beschränkten Fokus der Aufmerksamkeit haben, ergeben sich für die Politikanbieter Möglichkeiten, auf Strategien der Aufmerksamkeitslenkung zu setzen. Es kann die „single issue“-Orientierung „erzwungen“ werden, wenn ein „starkes Thema“ in den Vordergrund geschoben wird. Ein starkes Thema ist in manchen europäischen Ländern beispielsweise die bereits erwähnte Ausländer- und Zuwanderungspolitik; gerade deshalb, weil populistische Parteien sich auf diese Frage konzentrieren. Es mag für kleine Parteien, die keine ausreichende personelle Substanz und Qualifikation besitzen, um in anspruchsvolleren politischen Sachfragen mitreden zu können, rational sein, den Versuch zu unternehmen, alle übrigen politischen Themen zu verdrängen, um Ängste vor „Überfremdung“, steigender Gewaltsamkeit oder Drogenkriminalität zu schüren. Ein starkes Thema ist aber oft auch eine äußere Bedrohung oder ein Krieg: Die Erzeugung von Zusammengehörigkeitsgefühlen und die Ablenkung von Unzulänglichkeiten durch äußere Bedrohungen gehört bekanntlich zum klassischen Herrschaftsrepertoire. So hat Margaret Thatcher eine schon verloren geglaubte Wahl nach dem Falkland-Krieg überzeugend gewonnen. Auch die Umfragewerte amerikanischer Präsidenten schnellen üblicherweise in die Höhe, wenn ein äußerer Feind zu bekämpfen ist. Die große Bereitschaft der Amerikaner, sich in Krisenzeiten hinter dem Führer zu versammeln, liegt ja manchen Verdächti8 Freilich gibt es ein Gegenargument. Wir wissen, dass sich im Geflecht der modernen Gesellschaft Einzelthemen gar nicht mehr politisch beurteilen und politische Entscheidungen nur noch in übergreifenden Zusammenhängen sinnvoll begreifen lassen. Wenn dem so ist, dann ist der Versuch, Politik nur nach einem partikulären Bereich zu beurteilen, eine Illusion – also doch irrational. Zudem zeigen Untersuchungen, dass ein solches Thema nicht in seinen Facetten beurteilt wird, sondern als dichotomische Frage zwischen den Parteien entschieden wird. (MacDonald/Rabinowitz/Listhaug 1995)

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gungen der Europäer zugrunde, denen zufolge schlechte Umfragewerte amerikanischer Präsidenten die Gefahr steigen lassen, dass irgendwo auf der Welt – auf irgendeinen „rogue state“ – Bomben fallen. Auch wenn die Realität der Bedrohung nicht geleugnet werden soll, scheint doch auch der Kampf gegen den Terror eine Rolle bei der strategischen Erzeugung von politischer Loyalität zu spielen. Allerdings ringen die politischen Kommentatoren um die Antwort auf die Frage, ob es sich bei entsprechenden militärischen Maßnahmen bloß um eine „rationale“ (im Sinne von: zynische) Strategie handelt oder ob nicht zumindest auch eine erhebliche Dosis an religiösem Missionsbewusstsein eine Rolle spielt. Informationsselektionsstrategien. Politische Informationsstrategen wissen, dass der Eindruck von der politischen Lage davon abhängt, wie und wann die Information präsentiert wird, von wem und in welchem Kontext, mit bloßen Daten oder auch mit Bildern. Die Fakten und Bilder transportieren Vorstellungswelten, die sich für die politischen Machthaber positiv oder negativ auswirken können. Es stoßen also Informationsstrategien der Anbieter und Nachfrager von Politik aufeinander, sie bekämpfen einander, sie umgarnen einander – ein hochrationales Geschäft mit einer Mischung aus rationalen und irrationalen Gehalten. Die rationalen Strategien des Wählers, sich im mehrdimensionalen Informationsdschungel zurechtzufinden, stoßen auf die rationalen Strategien politischer Instanzen, Informationen zu selegieren, zu manipulieren und zu verfälschen. Es handelt sich um einen wechselseitigen Eskalationsprozess zwischen Politikern und Bürgern: das politische System sucht die Darstellung der Regierungsarbeit zu optimieren; Bürger suchen die offizielle Darstellung zu dechiffrieren, auch auf eine Weise, wie sie von der Politik nicht gewollt wird. Eine Bereicherung des Repertoires der Informationssbeeinflussungsstrategien hat die Politik der amerikanischen Regierung geliefert, die Berichterstattung aus kriegerischen Ereignissen nicht mehr von „freischwebenden“ und deshalb „unzuverlässigen“ Journalisten – Kriegsberichterstattern – vornehmen zu lassen, sondern eine „Embedding-Strategie“ (Pfau et al. 2004) einzuschlagen: Journalisten werden in Truppenteile „eingebettet“. Das dient zu ihrem eigenen Schutz und zu ihrer besseren Information, es fördert eine eher anekdotische Berichterstattung und schafft soziale Beziehungen zu der jeweiligen Truppe, die freundliche Berichte über den Einsatz nahelegen. Jedenfalls hat man die Personen besser unter Kontrolle. Wenn dann noch sichergestellt ist, dass Bilder von den Särgen der getöteten Soldaten, die nach Amerika überführt werden, in den Medien nicht veröffentlicht werden dürfen, ergibt sich das Bild eines „sauberen“, erfolgreichen, ökonomisch sparsamen Krieges, bei dem Darstellungen von Leid, Blut und Tod nach Möglichkeit beseitigt sind.

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Koalitionsoptionen. Die Vieldimensionalität der politischen Themen wird durch die Multioptionalität politischer Nachwahlkonstellationen angereichert. In jenen Fällen, in denen nicht nur zwei Parteien zur Wahl stehen, müssen rationale Wählerinnen und Wähler abschätzen, welche Koalitionsmöglichkeiten zwischen bestimmten Parteien wahrscheinlich sind und welche dieser Koalitionen ihnen – in Bezug auf die von ihnen als wichtig eingeschätzen Politikgehalte – den größten Nutzen zu vermitteln verspricht. Sie müssen also vorhersagen, wie die Stärkeverhältnisse der Parteien nach der Wahl sein und welche Strategien sie einschlagen werden, weil sie jeweils ihre Entscheidung nach dieser zukünftigen Lage richten müssen. Durch die Möglichkeit unterschiedlicher Koalitionen wird die Wirkung der Stimmabgabe des Wählers ungewiss, und eine rationale Stimmabgabe wird gerade unter dem Gesichtspunkt seiner persönlichen Nutzenmaximierung kaum machbar. Viel leichter ist es, „irrational“ zu entscheiden, also die Stimmabgabe als „Bekenntnisakt“ zu verstehen, unabhängig von den Folgen. III. Person und Führung Die sachliche Ebene – wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Sachverhalte – ist für Sozialwissenschaftler wohl wichtiger als für Wählerinnen und Wähler, deren Entscheidung in einem hohen Maße vom politischen Personal, insbesondere von den Führungsfiguren oder Spitzenkandidaten, geprägt ist (Berg 2002). Wenn wir uns an Joseph Schumpeters Demokratietheorie (1942) erinnern, derzufolge es geradezu das Wesen dieser politischen Ordnung ausmacht, dass die Menschen sich jene Personen, die sie über einen begrenzten Zeitraum beherrschen, aussuchen können, dann ist es aus der Sicht der Wählerinnen und Wähler nicht unvernünftig, eine Einschätzung der Qualität dieses Personals mit großer Sorgfalt vorzunehmen und, jenseits der politischen Leistungen und Vorhaben, als wichtigste Größe in ihre Überlegungen einzubeziehen. Die Methodik eines Wahlkampfes trägt der Wichtigkeit der Führungsfiguren Rechnung: Auf den Plakaten ist üblicherweise ein „Kopf“ zu finden (in Einzelfällen, aber nur ergänzend, sind es auch mehrere Köpfe, die so etwas wie ein „Team“ zu bilden vorgeben). Dieser „Kopf“ verkündet die wichtigen politischen Wahrheiten: Es ist ein schönes Land. Für die Zukunft. Für Österreich. Für Deutschland. Für Europa. Mit aller Kraft. Blühende Landschaft. Gesicherte Pensionen. Glückliche Menschen. Wir haben also unsere Formel um Person und/oder Team zu ergänzen: WE = f (Wachstum, Beschäftigung, Arbeitslosigkeit, Inflation . . .; Migration, Infrastruktur, Pensionen, Gesundheit, Bildung, Familie . . .; Person/Team)

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Ambivalente Personsbeurteilung. Wenn wir dem Handeln der Politikerinnen und Politiker irgendeine Relevanz beimessen, dann ist es angemessen, die Auswahl der Führungspersonen mit Sorgfalt vorzunehmen. Das bedeutet, dass man sich über Qualifikation und Moral der zur Wahl stehenden Personen ein Bild machen muss. Das ist nicht leicht, denn es handelt sich im Normalfall ja nicht um den Nachbarn von nebenan. Es ist eine prekäre Sache, aus den Wahlkampfauftritten eines Politikers – bei Veranstaltungen oder in den elektronischen Medien – Schlüsse über seine Leistungsfähigkeit und Ehrlichkeit zu ziehen, zumal wenn auch noch ein wenig Augenzwinkern dabei ist: Denn man will einen ehrlichen Menschen, aber auch nicht einen blauäugigen Naivling, sondern eine Person, die allenfalls auch in die Trickkiste greifen kann, um ihre politischen Ziele zu befördern. Man weiß, dass man jene Politiker bekommt, die man verdient – aber das politische Personal sollte wohl ähnlich, aber vorzugsweise doch ein bisschen edler sein als man selbst (Hitzler 1994). Klaus Staeck hat einmal gesagt: „Tritt tatsächlich einmal ein Kandidat zur Wahl an, der alle Anforderungen in Sachen Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit zu erfüllen scheint, wird er bald als ‚für die Politik zu gut‘ abqualifiziert. Ertappten Regelverletzern wird dagegen schnell anerkennend ein Art Schlitzohrigkeit attestiert, die nun einmal zum Geschäft gehöre.“ (Staeck 1994, 103) Man will einen Trickser, der sich nicht erwischen lässt; und lässt er sich doch erwischen, wird er erbarmungslos – unter allseitiger Entrüstung – abmontiert. Insbesondere sollte er sich nicht dabei erwischen lassen, dass er – auf die eine oder andere verdeckte Weise – in die Kasse greift. Tatsächlich gibt es in den westlichen Demokratien Sorge darüber, wie unter den Bedingungen mittelmäßiger Bezahlung und einer permanenten Stress-Situation ein Politikpersonal von ausreichender Qualität gewahrt werden kann; auch dann, wenn man nicht ganz so pessimistisch ist wie HansHermann Hoppe (2003. S. 189 f.): „Die Auswahl der Regierungsoberhäupter durch allgemeine Wahlen macht es [. . .] praktisch unmöglich, dass gute oder harmlose Menschen jemals an die Spitze aufsteigen können. Premierminister und Präsidenten werden für ihre bewiesene Effizienz als moralisch ungehemmte Demagogen ausgewählt.“ Mit anderen Worten: Das bewiesene Vermögen, an die politische Spitze zu kommen, stellt zugleich einen Beweis dafür dar, dass man nicht dafür qualifiziert ist, diesen Spitzenplatz einzunehmen. Aber so weit müssen wir nicht gehen; die Wählerinnen und Wähler stehen hinter den Angehörigen der Machtelite, solange diese Erfolg haben. Freilich wächst der Verdacht, dass Suboptimalität (in den Aktivitäten wie im Personal) die Szene immer stärker beherrscht – und im Zustand des dahinschwelenden Unbehagens braucht es dann zuweilen das eine oder andere Opfer, das durch Skandal beseitigt wird (Hondrich 2002; Ebbighausen/

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Neckel 1989). Skandale sind in demokratischen Ordnungen regelmäßig stattfindende ritualistische Ereignisse, durch welche politische Vergehen auf Sündenböcke konzentriert und an ihnen versinnbildlicht werden, damit der Rest des Systems ungestört und ohne wesentlichen Verlust an Legitimität weiterlaufen kann. Skandale haben üblicherweise ein Happy End: Der Bösewicht wird bestraft. Die Gerechtigkeit siegt (Dörner 2002). Das politische System säubert sich, und es beweist dadurch, dass es in Ordnung ist. Man mag einen konkreten Skandal jeweils irrational finden; in funktionalistischer Perspektive handelt es sich wohl um rationale Akte der Bestärkung politischer Werte im Dienste der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Systems. Es ist deshalb im Allgemeinen unrichtig, was Journalisten im Anlassfall zu schreiben pflegen: dass ein Skandal das politische System, über die politischen Lager hinweg, beeinträchtige. Üblicherweise ist das Gegenteil der Fall: Der Skandal legitimiert jene, die im System drinnen bleiben; denn sie haben sich als die „Guten“ erwiesen. Soziale Kompetenz. „Personalisierung“ stößt auf Aversionen von Politikbeobachtern. Die Fokussierung auf Personen sei irrational, weil nicht über sachliche, programmatische Fragen geurteilt wird, sondern die Freundlichkeit und die Souveränität eines Kandidaten – oder auch nur sein ZahnpastaLächeln – als wesentliche Grundlagen der Wahlentscheidung herhalten müssen. Aber es lässt sich ein ähnliches Argument wie bei der „single issue“-Orientierung anbringen: Was sollen „rationale Wähler“ in Anbetracht ihrer Überforderung tun? Die politischen Programme – sofern vorhanden – übersteigen die kognitiven Möglichkeiten des Individuums, und der Wähler hat wahrscheinlich Recht, wenn er sich nicht zutraut, über die Vertracktheiten der neueren Sozialversicherungsgesetzgebung zu entscheiden. Möglicherweise hat er auch Recht, wenn er sich vergleichsweise selbst eine höhere Kompetenz zumisst, aus seinen Erfahrungen mit Menschen deren Vertrauenswürdigkeit beurteilen zu können; schließlich ist dies eine Erfahrung, mit der er auch in seinem alltäglichen Leben zurecht kommen muss, ganz anders als mit den ihm fremden Sachproblemen. Wer soziale Kompetenz dieser Art entwickelt, der lernt es, eine gewisse zwischenmenschliche Dechiffrierungsfähigkeit zu entwickeln, also zu entscheiden, wo und wann „soziales Vertrauen“ angebracht oder unangebracht ist. Die Zubilligung von Vertrauenswürdigkeit an einen Politiker geht dann mit der Vermutung einher, dass der vertrauenswürdige Politiker Maßnahmen setzen wird, welche die Interessen seines Wählers (oder der Allgemeinheit) eher fördern als beeinträchtigen. Personalisierung kann somit als rationale Verhaltensweise des Wählers betrachtet werden. Authentizitätsrepräsentation. Kann man die Spitzenpersönlichkeit unter den gegebenen Bedingungen tatsächlich hinreichend beobachten, um sie beurteilen zu können? Denn es gibt viele unterschiedliche Politiker-Typen

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(Berking/Hitzler/Neckel 1994; Kirsch/Mackscheidt 1985), und es gibt eine unaufhebbare Spannung zwischen Präsentation und Authentizität. Denn die soeben erwähnten Anforderungen an Politiker sind unerfüllbar; allen alles zu sein, vernichtet jene „Echtheit“ der Persönlichkeit, die Grundlage der Beurteilung des Wählers ist. Natürlich gehen die politischen Marketing-Experten an das unlösbare Problem mit nüchternem Blick heran: Man muss an die vorhandenen Begabungen des Kandidaten anknüpfen; aber diese sind zu „stylen“. Der „Führer“ selbst muss eine „kantige Unverbindlichkeit“ aufweisen, Volksnähe zeigen, die ihn zum Identifikationsobjekt, und Volksferne, die ihn zur Führungspersönlichkeit macht. Er muss mit dem „home-style“ und dem „hill-style“, wie es in amerikanischen Untersuchungen heißt, umgehen können, also mit der Sprache seines Wahlbezirks ebenso vertraut sein wie mit der Sprache der parlamentarischen Arbeit. Er muss den „Kammerton“ treffen, um im Fernsehen zu wirken, und die kräftige Rhetorik des „Saalredners“ beherrschen, und er darf die Stile nicht verwechseln. Er darf nicht zu kompliziert denken oder reden, er muss aber mit allen Wassern gewaschen sein. Viele der erwünschten Eigenschaften lassen sich unter dem Begriff des Charismas zusammenfassen: der Führer, der den Nicht-Alltag verkörpert; Auslöser von Folgebereitschaft und Verzückung. Politiker sind ideologische Virtuosen. Sie haben als „anti-politische Politiker“ leichter Erfolg. Sie müssen Leidenschaft und Selbstdisziplin verkörpern. (Gebhardt u. a. 1993). Das klingt nach Inszenierung, und diese Inszenierung ist von Seiten der Wähler wieder aufzulösen. Das politische Geschehen, die Wahlwerbung zumal, stellt sich als Abfolge von Chiffrierungs- und Dechiffrierungsprozessen dar; als Eskalation von Verschleierungen und Enthüllungen; als strategische Inszenierung einer Person, die als „unstrategische“ und „nicht-inszenierte“ erscheinen möchte. Es könnte deshalb sein, dass die Wählerinnen und Wähler ihre zwischenmenschliche Beurteilungskompetenz überschätzen – und dass sich die rationale Strategie, auf die eigene Menschenbeurteilungskompetenz zu vertrauen, doch als irrational erweist. Heiratsschwindler scheinen immer wieder erfolgreich zu sein, also hat auch die Alltagserfahrung enge Grenzen. IV. Programme und Ideologien Die konkrete Leistungsbeurteilung9 ist in verfestigte Strukturen gebettet: ideologische Lagerbildungen, Identifikation mit Parteien, glühende Anhän9 Es ist rational, die Leistungen einer Regierung an Hand von Indikatoren, die sich auf die abgelaufene Periode beziehen, einzuschätzen, ergänzt um ihre möglichen Zukunftsprojekte; und es gibt keine andere rationale Vorgangsweise, als die Qualität der Oppositionsparteien nach den vorgelegten Konzepten für die Zukunft zu beurteilen.

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gerschaft. An zwei klassische Studien aus der Wahlforschung ist zu erinnern. Erstens: Lipset (1990) hat zentrale gesellschaftliche Konflikte verortet, die innerhalb der Gesellschaften zur Herausbildung stabiler Segmente mit ähnlichen Interessenlagen führen. Parteien bilden sich als Vertreter dieser Segmente, und diese Konstellation erzeugt ein stabiles Wahlverhalten. Wenn man dieses Modell in einen rationalen Kontext versetzen möchte, so handelt es sich um kollektive und langfristige Interessenvertretung, nicht aber um individuelle ad hoc-Bewertungen. Tatsächlich lässt sich hinterfragen, ob es wirklich rational ist, eine jeweilige Abschätzung der Leistung einer Regierung für eine konkrete Periode vorzunehmen, unabhängig von ihrer weltanschaulichen Positionierung und programmatischen Ausrichtung; man kann auch einen „Stammwähler“ als rationalen Wähler ansehen, wenn er den Eindruck gewonnen hat, dass – alles in allem – seine Interessen bei einer bestimmten Partei besser aufgehoben sind als bei einer anderen Partei, auch wenn es gewisse Leistungsschwankungen gibt oder bestimmte aktuelle Amtsinhaber ihm nicht zu Gesichte stehen. – Zweitens: Lazarsfeld u. a. (1965) richten in ihrer klassischen Studie ihre Aufmerksamkeit auf die Einbettung der Individuen in soziale Gruppen: Persönliche Präferenzen gleichen sich jenen der sozialen Umgebung an, und sie werden dadurch verfestigt, über aktuelle Situationen hinaus. Wenn man etwa in einem sozialdemokratischen Milieu zuhause ist, dann werden entsprechende Sichtweisen immer wieder gefestigt, in allen Gesprächen, an allen Stammtischen, bei allen beiläufigen Bemerkungen; und man bleibt in seinem „Lager“, auch wenn man zeitweise mit bestimmten Erscheinungen oder Leistungen unzufrieden ist. Tatsächlich würde niemand leugnen, dass – trotz Personalisierung und Entideologisierung – auch Konzepte, Arbeitsprogramme, Projekte und Ideologien eine Rolle spielen. Freilich gilt immer der Vorbehalt: Politik will nicht Wähler gewinnen, um Programme umzusetzen, sondern schreibt Programme, um Wählerstimmen zu maximieren und dergestalt an der Macht zu bleiben. Dies führt zu einer weiteren Ergänzung unserer Formel: WE = f (Wachstum, Beschäftigung, Arbeitslosigkeit, Inflation . . .; Migration, Infrastruktur, Pensionen, Gesundheit, Bildung, Familie . . .; Person/Team . . .; Konzepte/Ideologien ...) Es ist umstritten, sowohl in den einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen als auch in der Öffentlichkeit, in welchem Maße den Wahlprogrammen Bedeutung zukommt. Die Entwicklung solcher Konzepte wird vielfach auch als einfache Pflichtübung betrachtet, die nur vollzogen werden muss, weil es eben üblich ist. Nur das Fehlen eines Programms würde vermerkt werden; sofern allerdings Wahlprogramme vorliegen, liest sie kein Wähler, nicht einmal ein Journalist. Auch spätere Regierungen fühlen sich daran

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keineswegs gebunden, und sie sind üblicherweise nicht mit Sanktionen konfrontiert, wenn sie sich über programmatische Ankündigungen hinwegsetzen. Das relativiert auch die Auffassung von Downs (1968, 289), dass es sich bei Wahlprogrammen um die konkreten Angebote auf dem „politischen Markt“ handelt, die nach dem Prinzip der Gewinn- beziehungsweise Stimmenmaximierung entwickelt werden. Ideologienschwund. Viele politikwissenschaftliche Studien bezweifeln, dass die Links-Rechts-Positionierung noch hinreichenden Erklärungsgehalt liefert. Ideologische Positionierungen haben viel von ihrer Kraft verloren. Wahlsituationen sind kaum noch „Bekenntnishandlungen“. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es – durch Brückenschläge der christdemokratischen und dann der sozialdemokratischen Parteien – zur Entideologisierung, trotz der Rückschläge in den sechziger Jahren. Neue ideologische Positionierungen hatten partiellen Charakter: Umwelt, Frauen, Rasse, New Age. Es gibt jedenfalls keine Marschrichtungen mehr, keine Uniformen und Hymnen; keine „Lagerbildung“, bestenfalls postmoderne „Vergemeinschaftungsformen“ in Events: Man versammelt sich zur Demonstration wider Globalisierung und Neoliberalismus, für den Multikulturalismus und gegen den Lastwagenverkehr. Selbst am rechten Rand herrschen kaum faschistoide Weltbilder vor, sondern Versuche, eine freischwebende Protest- und Gewaltbereitschaft einzufangen. Die politische Klasse ist zudem wendiger geworden, anpassungsfähiger, responsiver, aufnahmebereiter: Sie ist für alles zu haben, was ihre Herrschaft absichert. Ideologeme sind deshalb kombinierbar wie Zitate in der postmodernen Architektur (Beyme 1993, 103). Programme müssen nicht mehr in dem Sinne rational sein, dass sie ein konsistentes Ganzes ergeben. Das aber heißt: Eine rationale Einschätzung von Konzepten und Ideologien ist nicht mehr in toto möglich, auch in diesem Falle dominieren „Fundstücke“.10 Der „schwierige Bürger“ (Klages 1996) tut sich schwer mit seinem Service-Anbieter. Beurteilungsunsicherheiten. Selbst wenn sich politische Akteure und Parteien bemühen, ein rationales Politikpaket zusammenzustellen und alle erdenklichen Informationen anzubieten, bestehen Beurteilungsunsicherheiten über die Qualität von Programmen. Ökonomen, aus deren Labor ja die rationaltheoretischen Modelle zu kommen pflegen, tun sich schwer, etwa im Bereich der Wirtschaftspolitik einigermaßen verlässliche Ratschläge zu 10 Die Wähler müssten zudem die Qualität der bisherigen Leistungen mit der Qualität der Zukunftskonzepte auf irgendeine Weise in einen Indikator komprimieren, und sie müssten in der Lage sein, die rein konzeptuelle Ebene der politischen Mitbewerber, von denen ja keine aktuellen Leistungsdaten vorliegen, mit den empirisch verfügbaren Daten der Regierungspartei in Vergleich bringen. Das heißt, es sind auch irgendwelche Diskontierungen der Aussagen der Oppositionsparteien erforderlich.

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geben. Hält man sich an den „Washington Consensus“ oder verfolgt einen gemäßigten Keynesianismus? Kann man auf nationaler Ebene überhaupt noch Wirtschaftspolitik machen, und wäre das auf europäischer Ebene möglich? Ist der Prozess der Globalisierung ein „naturwüchsiges“ Geschehen oder ein machtgesteuertes politisches Projekt? Braucht man Verschuldungsgrenzen der europäischen Staaten, als einziges Mittel, einen verantwortungslosen Umgang mit öffentlichen Geldern hintanzuhalten, oder soll man auf ein flexibles, konjunkturangepasstes Modell umstellen? Wo selbst die ökonomische Profession bei ihren Einschätzungen unsicher ist, tun sich die „Laien“, denen die Beurteilung im Wahlgeschehen angesonnen wird, erst recht schwer. Realisierungserwartungen. Programme sind Absichtserklärungen, aber keine Versprechen. Es wäre irrational, würden Wähler nicht wissen, was ein „Wahlkampf“ ist. Die vorgelegten politischen Projekte werden von ihnen mit gewissen Realisierungserwartungen diskontiert: Je rationaler der Wähler ist, desto eher weiß er, dass Wahlversprechen zunächst einmal nicht mehr sind als Wahlversprechen. Konkrete Projekte könnten wenigstens im Prinzip umgesetzt werden: der Bau einer neuen Umfahrungsstraße oder die Abschaffung von Studiengebühren. Besonders im wirtschaftspolitischen Bereich wundert man sich über weitreichende programmatische Äußerungen: Wir schaffen zehntausend neue Arbeitsplätze – aber natürlich weiß jeder, dass die Politik unter den gegenwärtigen Bedingungen längst jede Potenz verloren hat, Arbeitsplätze zu schaffen. Oder auf EU-Ebene: Man macht Europa bis zum Jahre 2010 zur dynamischesten und effizientesten Region der Welt – und natürlich weiß jeder, dass die Gestaltung Europas nicht mit dem Instrumentarium der politischen Semantik erfolgen kann. Ein Wahlkampf ist eine Notlage, und die Notlügen florieren im Wahlkampf. Politik ist immer, in dieser Situation aber ganz besonders, ein selbstbezügliches System, und Politiker sind „mittlerweile immun gegen ethische Forderungen“ (Bolz 1994, 61). Der Wähler wird also eine Wahrscheinlichkeitsbeurteilung über die Realisierungschancen des Projekt-Repertoires politischer Anbieter vornehmen müssen. Politiker haben – ein bisschen wenigstens – auch die „Lizenz zum Lügen“ (Bolz 1994).

V. Politik der Stimmungen Es herrscht weitgehende Übereinstimmung, dass in einer individualistischen, pluralistischen Gesellschaft Gruppenbindungen nicht gut funktionieren: Die Rede ist von der Schwäche der „großen Ideologien“, von der Auflösung von Lagerbindungen, von der sinkenden Parteienidentifikation, von den steigenden Wechselwähleranteilen. Es stimmt immer weniger, was An-

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gus Campbell und seine Mitarbeiter (1960) formuliert haben: Wahlentscheidungen seien von einer stabilen emotionalen Bindung an eine Partei abhängig. Stabil ist wenig in der „liquiden Gesellschaft“. Die Parteien Kontinentaleuropas hatten immer weltanschaulich ausgeprägte Parteiprogramme anzubieten, während die amerikanischen Parteien als weitgehend „programmlose“ Wahlvereinigungen aufgefasst worden sind; im letzteren Falle spielt natürlich auch die institutionelle „Umgebung“ eine Rolle, da das amerikanische Präsidialsystem nach den Wahlen für die politischen Parteien keine relevanten Funktionen vorsieht. Deshalb ist eine gewisse Verkehrung der Verhältnisse interessant: Europäische Parteien haben in hohem Maße eine Entideologisierung vollzogen, sozialdemokratische und bürgerliche Parteien sind kaum noch zu unterscheiden, ja in einigen Fällen hat man – etwa mit dem Blick auf Großbritannien – den Eindruck, dass es sozialdemokratischer Parteien bedarf, um eine strikt liberale Politik umzusetzen. Die amerikanischen politischen Lager haben sich demgegenüber ideologisch eher differenziert, freilich nach wie vor beide in einem für europäische Verhältnisse ziemlich „rechten“ Spektrum des politischen Lebens. Aber solche Bewegungen sind nicht mit den herkömmlichen Ideologien deckungsgleich, und sie verfügen nicht über deren Geschlossenheit. Die Polarisierung der beiden Lager beruht nicht zuletzt auf einer Politik der Stimmungen; und diese Politik der Stimmungen scheint eine eigenständige Dimension – jenseits der Konzepte und Ideologien – darzustellen.11 WE = f (Wachstum, Beschäftigung, Arbeitslosigkeit, Inflation . . .; Migration, Infrastruktur, Pensionen, Gesundheit, Bildung, Familie . . .; Person/Team . . .; Konzepte/Ideologien ...; Stimmungen . . .) Ein gewisser Grad an Partizipation kann erwartet werden, wenn sich das Gefühl breit macht, dass man in einer Gruppe etwas erreichen kann – gleichsam ein kollektiver Feel-good-Faktor. Politik als „Dauerwerbesendung“ (unter Bedingungen einer vielkanalig-unübersichtlichen Medienwelt) muss ein gutes Gefühl erzeugen: durch Entertainisierung, Euphorisierung, Narrativisierung, Visualisierung. Der Stil der Unterhaltungssendungen des 11 Die Politik der Stimmungen ist auch nicht mit einer konkreten Leistungsbeurteilung im Sinne der Rationaltheorie zu verwechseln. Wahlentscheidungen sind „durch eine ganze Reihe von Faktoren beeinflusst, gleich ob sie der Konsument im Supermarkt oder der Wähler im Wahllokal trifft. Die wenigsten Bürger studieren Wahlprogramme oder analysieren die Performance der Partei in der vergangenen Legislaturperiode, um dann nutzenoptimierend zu entscheiden. Statt dessen wirken hier oft Stimmungen, Medienkampagnen, Personen und die professionelle Inszenierung von deren Ausstrahlung.“ (Vogt 2002, 126)

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Fernsehens wird auf politische Entscheidungen übertragen: Entscheidungen sind definiert als Geschmacksurteile. Die Entscheidung ändert ihren Charakter: von inhaltsbezogener Rationalität zu medienästhetischer Attraktivität. Politische Entscheidung heißt: A gefällt mir besser als B; und mehr gibt es nicht zu sagen. Es wird gar nicht mehr der Anspruch auf eine „rationale“ Begründung erhoben; das Gefühl reicht. Integration in der Gemeinschaft. Wenn man in einer multioptional-konsumindividualistischen Gesellschaft eine gewisse soziale Kohäsion – vielleicht nur temporär, bis zum Wahltag – erreichen will, bedarf es der Erzeugung einer Gemeinschaftsstimmung. Wenn dies gelingt, kann man Freerider-Verhalten oder Gefangenendilemma-Situationen vermeiden, wie sie Mancur Olson in seiner „Logik kollektiven Handelns“ (1968) herausgearbeitet hat. Man hat es dann mit einem „assurance game“ (Chong 1991) zu tun: Ein kollektives Verhalten ist so zu organisieren, dass alle auf die Teilnahme der anderen vertrauen und deswegen selbst mitmachen. Ein „WirGefühl“ wird erzeugt: Dieses kann sich mit dem rationalen Vertrauen auf gleichsinniges Verhalten verbinden. Es ist dann rational, von den anderen ein bestimmtes Verhalten zu erwarten, auf der Grundlage von Vertrauen, Loyalität, Verpflichtung, Bindung. Ein solches Modell entfernt sich aus dem Kernbereich der Rationaltheorie, zugleich aber finden die Akteure aus der dünnen Luft vollständiger Märkte wieder zurück in ein soziales Universum. Sie werden „resozialisiert“, ohne deshalb zu „homines sociologici“ zu werden. Sie selbst verstehen sich nicht so sehr als Mitglieder einer großen Strömung oder Bewegung, sondern als Mitglieder einer kleinen (face-to-face) Gruppe, aus deren Interaktionen sie auch ihre (persönlichen) „Belohnungen“ beziehen. Die Gefühle und Stimmungen der anderen, der sozialen Umgebung, der Netzwerke zählen, und der einzelne, der sich als Teil einer Gruppe empfindet, entscheidet so, wie es für die Gruppe insgesamt rational ist. Die Produktion von Stimmungslagen gehört zum politischen Kunsthandwerk.12 Die Stimmungserzeugungsstrategien arbeiten oft mit Mythen; im amerikanischen Fall: dem Mythos der starken Führung, der dem Mythos 12 Es ist erstaunlich, mit welcher Regelmäßigkeit sich Mitglieder der politischen Klasse (ebenso wie Mitglieder anderer Teilgruppen) selbst zu Fall bringen. Das Ende einer Karriere beginnt sich abzuzeichnen, wenn sich Signale mehren, dass die Verständnislosigkeit für die Sichtweise von Normalbürgern zunimmt. Ein regelmäßiges Monatseinkommen von mehr als 50.000 e (geschweige denn von vielen hunderttausenden Euros) führt nach einiger Zeit beinahe in allen Fällen zum grassierenden Verständnisschwund. Die Lebenswelt normaler Menschen wird unvorstellbar, und viele Personen stürzen über Dienstautos, Penthäuser, Reiserechnungen und dergleichen. Der steigenden Gier entgehen auch jene Kleinigkeiten nicht, die viel gefährlicher sind als die großen Schandtaten (Beyme 1993, 89 ff.).

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des amerikanischen Traums zuarbeitet; dem Mythos eines Landes, das sich gegen Feinde behaupten muss und kann; dem Mythos von Verschwörern und Verbrechern, über welche das Land der Freiheit und der Demokratie obsiegen wird. Mythen dieser Art scheinen vielfach stärker zu sein als eine Wirklichkeit, welche die Hohlheit solcher Beschwörungen immer wieder demonstriert. Politik ist in diesem Sinne eine Ordnungsleistung in fiktiven Welten. Politik ist die Arbeit am Schein, die Kunst der Simulacra; die Beflaggung für potemkinsche Dörfer. Viele Einzelmaßnahmen müssen zusammenfließen, um ein „gutes Gefühl“ zu erzeugen. Deshalb ist es angemessen, diese Stimmungspolitik als eigenständige Kategorie herauszustellen. Denn eine „Politik der Angst“ ist in den üblichen rationaltheoretischen Erörterungen nicht vorgesehen. VI. Der Kampf um die Events In einer Medien-, Erlebnis- und Eventgesellschaft kommt man ohne diese entscheidende Kategorie nicht aus: Auch die Politik muss sich in Events niederschlagen – „Politainment“ (Dörner 2001) fließt mit Politik zusammen. Das Essen der Staatsmänner, die Parlamentssitzung, das scharfe Interview, die Eröffnung des Universitätsgebäudes, der Besuch im Flüchtlingsheim, die Bestellung des Museumsdirektors, der Staatsbesuch, die Inszenierung von Privatisierungs- oder Verstaatlichungsaktionen, Tränen in einer Katastrophe – wir brauchen raumzeitlich abgrenzbare Items, wir brauchen Bilder. Es kann sich um positive Events handeln. Das muss nicht einmal die Wahlwerbung von Ilona Staller, besser bekannt unter dem Namen Cicciolina, sein: Wählt mich, sagte sie, und entblößte ihren Busen. Das war durchaus wirksam (Raith 1994). Im Normalfall ist Politik weniger unterhaltsam, das Unterhaltsame beschränkt sich auf einen gelungenen Parteitag, eine große internationale Konferenz, eine glückhafte politische Aktion, eine gelungene Rede über die Lage der Nation. Es kann sich aber auch um negative Events handeln, um Skandale, um Missmanagement, um Ungeschicklichkeiten. Zuweilen sind Events unglückliche Zufälle für Parteien: wenn etwa ausgerechnet in einem Wahljahr unziemliche Spekulationen einer Gewerkschaftsbank, die ihre Verluste mit der Streikkasse besichert, auffliegen. Der Politiker mag dafür verantwortlich sein oder auch nicht, entscheidend ist, dass ihm solche Events zugerechnet werden. WE = f (Wachstum, Beschäftigung, Arbeitslosigkeit, Inflation . . .; Migration, Infrastruktur, Pensionen, Gesundheit, Bildung, Familie . . .; Person/Team . . .; Konzepte/Ideologien ...; Stimmungen . . .; Events . . .)

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Es können kleine, lächerliche Events sein: Kugelschreiber verteilen im Altersheim. Möglicherweise liegen alle Parteien falsch in ihrer Einschätzung, dass man Wahl-Accessoires braucht; dann sind sie dumm. Möglicherweise haben sie aber Recht mit ihrer Vermutung, dass Luftballons und Stofftiere wirksam sind; dann sind die Wähler dumm. Oft sind es prekäre Events, in „defizitären Demokratien“ auch einmal Prügeleien, Brandstiftungen oder Verhaftungen, die keineswegs im Geheimen durchgeführt werden, sondern eben zu dem Zweck, die Wähler oder Gegner einzuschüchtern. Wahlkämpfe sind aber insgesamt eine Abfolge von sinngebenden Events: rituelle Inszenierungen. Verkettungen von Zufällen fügen sich zuweilen in eine Dynamik, die eine gewisse Zielgerichtetheit aufweist. Tatsächlich gibt es Eigendynamiken bei Aufstiegs- und Abstiegsbewegungen von Personen und Gruppen. Es tritt dabei – zuletzt durch die Verstärkung der Medien – eine verhängnisvolle Ausweglosigkeit auf: Viele Geschehnisse sind gegenüber Interpretationen offen, und es ist schwer, sie als eindeutig gut oder eindeutig schlecht einzuschätzen. Bei jenen, die sich auf Erfolgskurs befinden, gilt jedes halb gefüllte Glas, das auftaucht, als halb voll, und bei jenen, die sich auf abschüssiger Bahn befinden, werden dieselben Gläser als halb leer interpretiert. Der Applaus generiert weiteren Applaus, so wie ein Versagen bei weiteren Ereignissen die prompte Reaktion auslöst: schon wieder daneben gegangen. Oft gibt es Ereignisse, die ideologisch nicht unbedingt zuordenbar sind, die nichts mit Programmen, Konzepten und Visionen zu tun haben, die sich nicht in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Indikatoren ausdrücken. Es sind konkrete Akte des Versagens, der Ignoranz, des schlechten Managements. Zufälle spielen eine Rolle. Oft hat man den Eindruck, dass einem geschickten politischen Akteur einfach alles gelingt, während Negatives von ihm abprallt: der „Teflon-Politiker“. Manchmal hat man den Eindruck, dass ein Unglücksvogel sich in der fatalen Situation befindet, dass alles schiefgeht, was überhaupt nur schiefgehen kann. Aber diese Ereignisse sind möglicherweise viel entscheidender für den Wahlausgang als andere Elemente. VII. Die Kraft von Visionen Visionen finden ebenfalls – so wie die erörterten Stimmungen – im Repertoire der rationaltheoretischen Variablen üblicherweise keinen Platz. Visionen zielen auf große Gemälde der Zukunft. „Gesellschaften können sich der eigenen Wirklichkeit erst dann vergewissern, wenn sie sich in Gestalt mythischer Hypostasen vorstellen. Denn in solchen Hypostasen, die aus realen Größen und Wunschprojektionen derselben zusammengebastelt werden,

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verdichtet sich ihr Selbstverständnis. Bezog sich das Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft nach dem Tode Gottes auf mythische Hypostasen wie etwa ‚Natur‘, ‚Geschichte‘ oder ‚Menschheit‘, so bezeichnet sich die Massendemokratie nach dem Tode des Menschen gerne als ‚Struktur‘ oder ‚funktionales System‘, das kybernetisch erfaßbar und lenkbar sei.“ (Kondylis 2001, 187) Aber das reicht nicht ganz: Es muss auch etwas Herzerwärmendes, Kühnes und Großartiges um die Zukunft sein. Der moderne Anspruch ist: Die Zukunft ist besser – wenn nicht überhaupt vollkommen. Jedenfalls ist in ihr der allgemeine Reichtum ebenso garantiert wie der Sieg über die Krankheiten; und ganz im Hintergrund steht der Verdacht, wir könnten es am Ende bis zum „ewigen Leben“ schaffen. Also fügen wir unseren Wahlentscheidungsdeterminanten die „Vision“ hinzu. WE = f (Wachstum, Beschäftigung, Arbeitslosigkeit, Inflation . . .; Migration, Infrastruktur, Pensionen, Gesundheit, Bildung, Familie . . .; Person/Team . . .; Konzepte/Ideologien ...; Stimmungen . . .; Events . . .; Visionen . . .) Visionen decken viel von dem ab, was Eric Voegelin (1938) als „politische Religionen“ beschrieben hat, auch wenn es sich um schwächliche Versionen handeln mag (Maier 1996 ff.), in einem Zeitalter, wo die Politik nicht mehr ist als bricolage mit den Abfallstoffen der Geschichte (Bolz 1994), im Zeitalter der Desäkularisierung (Berger 1999). Denn die Massenproduktion erfordert technische Rationalität, der Massenkonsum eine hedonistische Ethik, die mit einer arrangierten „Erlebnisrationalität“ daherkommt. Sie macht einen weltanschaulichen und ethischen Polytheismus zur maßgebenden Norm: „Es koexistieren nun und konkurrieren oder verschmelzen miteinander allerlei ‚Rationalismen‘ und ‚Irrationalismen‘. Nur die technische Rationalität darf sich keinen Spaß erlauben; eher muß sie sich gegen die Narrenfreiheiten der Konsumsphäre abkapseln, obwohl sie diese als Entfaltungsraum benötigt.“ (Kondylis 2001, 196) Ein Beispiel soll deutlich machen, was mit Visionen als politikbeeinflussenden Größen gemeint ist: das „Neue Europa“. Die politische Diskussion nach der Verweigerung der europäischen Verfassung durch die Franzosen und Niederländer zielte nicht auf eine bessere Erklärung der wirtschaftlichen oder sonstiger Vorteile für die beteiligten Völker. Sie zielte nicht darauf, französische Landwirte zu beruhigen und holländische Souveränitätssorgen zu zerstreuen. Es gibt vielmehr einen Konsens darüber, dass es einer neuen „europäischen Erzählung“ bedarf: einer Vision von einem geeinten Kontinent, die sich eben gerade dadurch auszeichnet, dass sie nicht auf banale wirtschaftliche Prozentzahlen beschränkt ist. In der aktuellen Aus-

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einandersetzung darüber, was mit Europa zu geschehen habe, geht es nicht um Funktionalitäten13, sondern um „Visionen“ im Sinne von „möglichen Gesamt-Zukünften“. Nach Ansicht Werner Weidenfelds führen inkonsistente Visionen ins Desaster. Weidenfeld führt das hohe Ausmaß von Frustration, Konfusion und Orientierungslosigkeit, das heute die europäische Szene beherrscht, darauf zurück, dass drei verschiedene Konstrukte von Europa – man kann auch sagen: Visionen – nebeneinander existieren. Es handle sich erstens um das Europa des täglichen Pragmatismus: Gewöhnung an Freizügigkeit und europaweite Mobilität; Ausdehnung Europas Schritt für Schritt und ohne Systematik. Es gebe zweitens das Europa mit einem entgrenzten Horizont: fortgesetzte Erweiterungsrunden; die Vision eines vereinigten, großen Europas taucht auf; und die Brücke zur Türkei wird geschlagen, was die Grenzenlosigkeit endgültig postuliert und die zukünftige Teilnahme von postsowjetischen Staaten, von Maghreb-Ländern und nahöstlichen Territorien einschließt. Und es gebe drittens eine Vision europäischer Identität, die durch gemeinsames Leiden und gemeinsame Erfolge gezeichnet sei; nun aber habe das entgrenzte Europa den räumlichen Rahmen entfernt, den ein Identitätsprozess dieser Art benötigt. „Zurück bleiben die hilflosen Versuche der europäischen Kulturkongresse, die sich immer wieder neu auf die Suche nach der Seele Europas machen, um dann lediglich Material für die Satire der Feuilletons zu liefern. Die strategische Unentschiedenheit der Politik hat die Verwirrung in die Köpfe der europäischen Bürger befördert. Das Ergebnis ist eine tiefe mentale Orientierungskrise.“ (Weidenfeld 2006, S. 42) In Wahrheit gibt es noch einige weitere Visionen über die Zukunft Europas, die Weidenfeld gar nicht erwähnt: beispielsweise die Vision eines neuartigen Gebildes zwischen Staatenbund und Bundesstaat, das in Zeiten der Internationalisierung eine intelligente Lösung darstellen könnte; oder die Vision eines wirtschaftlich und politisch machtvollen Europas als eines „global players“, das zu einer neuen globalen, vielleicht gar imperialen Macht aufsteigen und die USA verdrängen könnte; oder die Vision eines 13 Der Prozess zur Europäischen Union ist ohnehin schwer zu erklären. Die europäischen Staaten verzichten auf ihre Souveränität, ja auf längere Sicht steuern sie – ganz bewusst – auf ihre Selbstauflösung hin. Während die realistische Schule der Politikwissenschaft bei der Deutung ins Trudeln gerät, ist der Vorgang mit einem rationaltheoretischen Ansatz insofern vereinbar, als wir im Sinne einer Vertragstheorie annehmen können, dass die Staaten – so wie Individuen bei einer Staatsgründung – ihre Ressourcen in der Erwartung poolen, dass dies für alle Beteiligten vorteilhaft ist, auch wenn sie dabei einen Teil ihrer Selbstständigkeit aufgeben müssen. Schließlich gehört es zu den aktuellen Formeln im Globalisierungsprozess, dass der Nationalstaat angeblich zu klein geworden sei, um Probleme zu bewältigen, und dass die Erkenntnis seiner wachsenden Problemlösungsunfähigkeit dazu führt, größere politische Einheiten zu bilden.

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zukünftigen europäischen Super-Staates. Wenn aber Weidenfelds Argumente richtig sind, dann lassen sich einige „Lehrsätze“ über den politischen Gebrauch von Visionen ableiten. Erstens: Visionen sind wirksam. Zweitens: Wenn man mit politischen Visionen arbeitet, dann dürfen diese nicht gänzlich widersprüchlich sein, wenn sie die Menschen nicht in Verwirrung stürzen sollen. Drittens: Visionen sind notwendig, denn die Menschen wollen wissen, wohin die Reise führt. – Den motivationalen Aspekt von politischkulturellen Visionen stellt Jeremy Rifkin (2005) heraus. Rifkin hat eine kritische Beurteilung der Vereinigten Staaten mit einer günstigen Prognose der Entwicklung Europas verbunden. Er stellt die Stärken des alten Kontinents unter dem Titel des „Europäischen Traums“ heraus: Viel mehr europäische Unternehmen, als die Amerikaner glauben, gehören zu den erfolgreichsten Konzernen der Welt. Die kleinen und mittleren Unternehmen Europas sind stark. Auf den Straßen sieht man kaum Obdachlose. Die Menschen spazieren – sogar des Nachts – auf den Straßen, auch in ärmeren Bezirken, auch Frauen. Es gibt viel weniger fette Menschen. Die Städte bestehen noch, man kann spazieren und flanieren, vieles ist in Gehdistanz, es gibt keine großflächige Verwahrlosung, öffentliche Verkehrssysteme funktionieren. Die Menschen haben weniger Kleidung, aber diese ist eleganter, stilvoller. Der Energieverbrauch liegt in einer sinnvolleren Größenordnung. Die Umweltsituation ist besser. Die Kriminalitätszahlen sind unvergleichbar niedrig. Das Bildungssystem ist ausgeglichener, mit insgesamt besseren Ergebnissen als in den USA. Das Gesundheitssystem verbraucht geringere Ressourcen und erbringt bessere Ergebnisse. – Rifkin sieht den „amerikanischen Traum“ dahinschwinden, ist sich aber darüber im Klaren, dass das europäische Pendant noch keinesfalls jene Stärke aufweist, die sich in den USA als derart erfolgreiches integratives Element erweist. Europa könnte eine „Vision“ sein, welche die Menschen bewegt (Rifkin 2005, S. 384 f.). Aus Rifkins Analyse ergibt sich eine starke These: Politik ohne Vision ist schlicht unmöglich. Die Analyse lehrt ein Zweites: Vision und Wirklichkeit können auseinander fallen. Der amerikanische Traum ist – seit Jahrhunderten – so mächtig, dass er durch die Wirklichkeit kaum zu erschüttern ist; und die europäische Wirklichkeit mag der amerikanischen noch so weit überlegen sein, sie generiert nicht automatisch eine entsprechend kräftige Vision. Erzählungen und Wirklichkeiten werden nicht automatisch deckungsgleich. Sind Visionen rational? Der Ruf nach Visionen taucht häufig in Situationen auf, in denen ein Orientierungsdefizit fühlbar wird. Das liegt nahe; schließlich soll eine Vision den Weg in die Zukunft weisen. Manchmal allerdings funktioniert es umgekehrt: Man spürt den Versuch, Hilflosigkeit als Vision zu verkaufen.

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Georg Vobruba (2005) hat eine These über die „Dynamik Europas“ entwickelt. Denn es ist erklärungsbedürftig, weshalb die Erweiterung der Europäischen Union nach dem Osten und dem Süden voranschreitet, obwohl die Kapazität der EU zur Problemverarbeitung überfordert zu werden scheint. Warum schlittert man in die Erweiterungskrise? Vobruba meint, es handle sich um eine Logik eigennütziger Hilfe. Diese wird von dem Interesse angetrieben, jene Probleme, bei denen die Gefahr besteht, dass sie sich über die Grenzen ausbreiten, an ihrem Entstehungsort zu lösen. Man vermeidet etwa politische Destabilisierung und Migrationsprobleme an den eigenen Grenzen, indem man zur wirtschaftlichen Sanierung eines Nachbarlandes beiträgt. Man vermeidet grenzüberschreitende ökologische Probleme, indem man die Umweltpolitik eines ärmeren Landes in die Pflicht nimmt und mit kollektiven Leistungen der Union unterstützt. Jedes Land hat jedoch ein Interesse daran, keine unsicheren Grenzen bewachen zu müssen, sondern von stabilen Demokratien umgeben zu sein. Damit löst aber jeder Expansionsschritt immer eine neuerliche Dynamik aus. Jede Expansion führt zu einem neuerlichen „Glacis“, das die Zone der Stabilität von außen her bedroht. Es ist also rational, Schritt für Schritt die Erweiterung der konzentrischen Kreise der Mitgliedsländer voranzutreiben, jedenfalls für die jeweils angrenzenden Länder. Dass diese Vorgangsweise für die gesamte Union nicht rational sein muss, sondern in ihrer Überforderung – und auf lange Sicht in ihrem Zusammenbruch – münden kann, ist eine andere Frage. Dieses Modell hat einen harten rationaltheoretischen Kern. Für unseren Zusammenhang ist an diesem Beispiel zweierlei interessant. Zum einen handelt es sich um einen Fall, in dem sich – wie so häufig – ein partiell rationales Handeln letzten Endes als ein insgesamt irrationales Handeln erweist, nämlich als eine Variante eines Gefangenendilemmas: Die Schrittfür-Schritt-Vernünftigkeit führt in die Gefahr der Selbstdestruktion. Zum anderen handelt es sich um einen Fall, in dem alltägliche Zwänge (von denen vermutet werden kann, dass sie von den politischen Akteuren auch als derartige alltägliche Zwänge erfahren werden) als große „Visionen“ ausgegeben werden; weil das Spiel der Politik nicht darauf hinausläuft, Hilflosigkeit zuzugeben, sondern Erfolge zu verkünden. Die Vision dient in diesem Falle als Beschönigung politischer Schwäche.

Schlussbemerkung Die sieben Dimensionen, die ich dargestellt habe und die jedem politisch interessierten Zeitgenossen geläufig sind, sollen nicht auf die banale Botschaft hinauslaufen, dass das Leben – oder die Politik – immer komplizierter ist, als es in wissenschaftlichen Analysen abgebildet werden kann. Der

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Fokus meiner Betrachtungen war vielmehr das Verhältnis zwischen den rationalen und irrationalen Komponenten des politischen Prozesses, vor allem aber interessiert mich die Frage nach dem rationalen Umgang mit derlei irrationalen Elementen wie Bildern, Stimmungen und Mythen. Deshalb haben wir bei einem harten nationalen Kern angesetzt, bei der Bestimmung einer Wahlentscheidung durch ökonomische Indikatoren. In der schrittweisen Erweiterung sind wir allerdings zu viel weicheren Elementen gelangt, und dabei ist auch klar geworden, dass sich rationale und irrationale Elemente überlagern und überschichten, ja dass selbst die Zuordnung von Elementen zu den einen oder den anderen eine Frage der Perspektive ist.

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Der ökonomische Imperialismus – die endgültige Lösung des Problems individueller und gesellschaftlicher Moral? Von Barbara Zehnpfennig I. Die Problemlage Die Grundfragen der Philosophie einer endgültigen Lösung zuzuführen, wurde immer wieder unternommen. So glaubte Epikur, unter Zuhilfenahme von Logik und Physik den natürlichen Ursprung der Welt beweisen und den Menschen damit von der Frage nach Gott entlasten zu können. Kant wollte mit seiner Erkenntniskritik Frieden auf dem Kampfplatz der Metaphysik schaffen, indem er die Ursache des Meinungskampfes auf eine unzulässige Überschreitung der Grenzen der reinen Vernunft zurückführte. Die Vernunft wieder in ihre Grenzen zu verweisen, sollte den Kampf beenden. Und Marx beanspruchte, mit der Aufdeckung der materiellen Bedingtheit aller geistigen Erzeugnisse der Menschheitsgeschichte eine ideologiekritische Entlarvung des philosophischen Denkens schlechthin geleistet zu haben; eine weitere Auseinandersetzung erübrigte sich dann, da sich unter den nachrevolutionären gesellschaftlichen Verhältnissen die bisherigen Fragen überhaupt nicht mehr stellen würden. Alle derartigen Versuche, Schlussstriche zu ziehen, sind allerdings geschichtlich wieder überholt worden. Insofern legt es die historische Erfahrung nahe anzunehmen, dass es geistige Herausforderungen gibt, mit denen sich das Denken immer wieder aufs neue konfrontiert sieht, ohne auf einen gesicherten, allgemein anerkannten Fundus von Erkenntnissen zurückgreifen zu können, der die Suche nach Lösungen beendet. Das Bestreben, solche Königswege zu finden, ist damit aber nicht aus der Welt geschafft, und um ein derartiges Bestreben scheint es sich auch bei der Theorie des „ökonomischen Imperialismus“ zu handeln, die im Folgenden dargestellt und untersucht werden soll. Denn in dieser Theorie geht es um eine Neubegründung der Moral, welche deren Fundamentalproblem lösen soll: das Problem, die Kluft zwischen Sein und Sollen zu überbrücken. Moralität bedeutet Verhaltensnormierung von innen, und zwar eine Normierung, die das gesellschaftliche Zusammenleben in einer für alle gedeih-

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liche Weise regelt. Die Konformität mit Regeln, welche ein gedeihliches Miteinander ermöglichen, kann natürlich auch von außen induziert werden: durch Sanktionen, die Regelverstöße ahnden. Solche Außenmotivation mag zwar effektiv erscheinen, letztlich ist sie aber nicht stabil, sofern sie nicht von einer zumindest rudimentären intrinsischen Motivation gestützt wird. Ist das Verhalten nämlich gänzlich außengeleitet, so wird jeder Versuch unternommen werden, die Regeln zu unterlaufen, wenn man der Sanktion, die sie schützt, ausweichen kann. Das innengeleitete Verhalten ist das viel verlässlichere, denn es bedarf keiner äußeren Kontrolle. Der Kontrolleur ist in diesem Fall im Inneren des Handelnden angesiedelt, und das bedeutet nicht nur die Möglichkeit einer lückenlosen Überwachung, sondern, was noch entscheidender ist, die Möglichkeit der Selbstbestimmung in Bezug darauf, was das eigene Verhalten normiert. Intrinsisch zu moralischem Verhalten motiviert zu sein, heißt, dem, was moralisch geboten zu sein scheint, freiwillig zuzustimmen, im Einverständnis mit dem geforderten Verhalten zu leben oder das Sollen zum eigenen Wollen zu machen. Die Kluft zwischen Sein und Sollen – das Fundamentalproblem der Begründung von Moral – ist in diesem Fall geschlossen. Doch was bringt Menschen dazu, Moral als für sich selbst verbindlich anzuerkennen? Und welche Art von Moral ist es, die eine solche Überzeugungskraft in sich birgt, dass sich ihr Menschen freiwillig unterwerfen? Im Grunde scheint es sich um eine zirkuläre Struktur zu handeln: Was per Moral etabliert werden soll, muss eigentlich schon vorausgesetzt sein, damit die Akzeptanz der moralischen Regeln gewährleistet ist. So wäre Ethik nicht eigentlich präskriptiv, sondern nur deskriptiv – etwa so, wie Aristoteles es in seiner Nikomachischen Ethik formuliert: Derjenige, der mit Gewinn etwas über das Schöne und Gerechte hören will, muss schon „eine gute Lebensführung aufweisen; denn der Ausgangspunkt ist das Daß, und wenn dieses hinreichend sichtbar geworden ist, dann bedarf es nicht mehr des Warum.“1 Letzteres bezeichnet die Position, von der auch der „ökonomische Imperialismus“ auszugehen scheint. Das Problem der Moralbegründung soll dadurch gelöst werden, dass die Moral keiner Begründung mehr bedarf – sie ist evident, weil sie dem entspricht, was im normalen Bewusstsein immer schon vorzufinden ist. Wieso blieb diese Evidenz bisher unentdeckt? Es war stets der Anspruch der Aufklärung, dasjenige ins Licht des Bewusstseins zu heben, was zwar latent vorhanden, aber in seiner Bedeutung unerkannt im Menschen schlummerte. Dieser Tradition ist der „ökonomische Imperialismus“ zuzurechnen, und da sich die Aufklärung in ihren verschiedenen historischen Gestalten2 grundsätzlich aus ihrem Gegensatz zu den je1 Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, griechisch-deutsch, übers. von Olof Gigon, neu hg. von Rainer Nickel, Düsseldorf/Zürich 2001, 1095b.

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weils dominanten Weltdeutungsmodellen heraus definierte, sollen auch im Fall des „ökonomischen Imperialismus“ zunächst jene Moralbegründungen noch einmal in Augenschein genommen werden, deren Defizite er zu beheben beansprucht. II. Drei Modelle der Moralbegründung Karl Homann, der als wesentlicher Vertreter des „ökonomischen Imperialismus“ gilt und dessen Theorie im folgenden Kapitel einer näheren Betrachtung unterzogen werden soll, kritisiert an den herkömmlichen Moralbegründungen, dass sie Moral und Interesse nicht in Einklang zu bringen vermögen. Denn das Grundempfinden ist, dass Moral etwas kostet. Sie bringt natürlich auch etwas, doch Geber und Empfänger sind nicht notwendig identisch. Auch wenn derjenige, der sich an die Regeln hält, in Gestalt eines auf diese Weise funktionierenden Regelsystems etwas Positives zurückbekommt, könnte doch der Zweifel bleiben, ob die Rechnung aufgegangen ist, ob der Verzicht nicht größer ist als der Gewinn. Darin liegt das grundsätzliche Dilemma der Moral, die Ursache dafür, weshalb sich das moralische Bewusstsein so schwer etablieren lässt. Es scheint ein Hintanstellen der eigenen Interessen zugunsten anderer zu beinhalten. Von daher rückt das Motivationsproblem in den Vordergrund. Wie überzeugend sind die Lösungsversuche, die bisherige Moralbegründungen hinsichtlich des Motivationsproblems zu geben vermochten? Karl Homann nennt zwei Ansätze, gegen die er seinen eigenen abgrenzt, und einen, in dessen Fortsetzung er sich sieht.3 Der erste ist die Theorie der ethischen Gefühle, die von der schottischen Moralphilosophie begründet wurde und mit der Namen wie Hutcheson, Hume und Adam Smith verbunden sind. Der zweite ist der Ansatz einer vernunftbegründeten Moral, deren herausragender Vertreter Kant ist, die Homann aber auch bspw. in der Habermasschen Diskursethik fortgeführt findet. Als ihm nahestehenden Ansatz kennzeichnet er den Utilitarismus; hier bemängelt Homann die fehlende Konsequenz in der Durchführung des Grundprinzips, welche ihn zu der Bemühung um eine stringentere Fassung veranlasste. 2

Zu nennen sind hier bspw. die Sophistik, der Humanismus, das „Enlightenment“ im engeren Sinn, die Marxsche Ideologiekritik etc. 3 Vgl. dazu: Karl Homann, Die Rolle ökonomischer Überlegungen in der Grundlegung der Ethik, in: Helmut Hesse (Hg.), Wirtschaftswissenschaft und Ethik, Berlin 1987, S. 217 ff. Es wird nicht ganz ersichtlich, ob Homann mit den genannten Ansätzen eine vollständige Erfassung der grundlegenden Modelle der Moralbegründung intendiert oder ob er nur solche herausgreift, bei denen der Gegensatz bzw. die Übereinstimmung besonders deutlich wird. Keine Erwähnung findet jedenfalls die eudaimonistische Ethik, die am Ende dieses Aufsatzes als Alternativmodell vorgeführt werden soll.

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Welche Defizite an den genannten Modellen sind es genau, auf die Homann verweist? Bei der Theorie der moralischen Gefühle ist es deren begrenzte Reichweite. Die geforderte Sympathie für den Mitmenschen, die egoistischen Antrieben entgegenwirken soll, kann sich nur auf das engste Umfeld beschränken. Bei der vernunftbegründeten Moral ist es die Tatsache, dass es ein sehr voraussetzungsreicher Vernunftbegriff ist, der moralbegründend wirken soll. Und die Inkonsequenz des Utilitarismus erkennt Homann darin, dass er, obwohl er auf das Eigeninteresse setzt, den Gegensatz zum Gemeininteresse dennoch bestehen lässt und somit in Bezug auf die Motivationsfrage keinen wirklichen Ausweg weist. Diese Auseinandersetzung mit alternativen Moralbegründungen, seitens Homanns nur sehr kursorisch geführt, soll noch etwas vertieft werden, um das Spezifische seines Ansatzes durch die Abgrenzung von den schon bestehenden Modellen besser fassen zu können. Den drei Modellen kommt dabei insofern paradigmatischer Charakter zu, als sie eine je andere Kraft im Menschen zur Grundlage moralischen Verhaltens erklären: das Gefühl, die Vernunft, das Interesse. Letztlich stellen alle drei schon eine implizite Reaktion auf das Motivationsproblem dar, da die Kluft zwischen Sein und Sollen eher überbrückbar erscheint, wenn die Moral an etwas bereits im Menschen Vorhandenes anknüpfen kann. Hat Homann recht, dennoch allen dreien, wenn auch in unterschiedlichem Maß, ein Zurückbleiben hinter ihrem eigenen Anspruch zu attestieren? Die fraglichen Ansätze sollen noch einmal kurz anhand ihrer herausragendsten Vertreter zusammengefasst und reflektiert werden. (1) Adam Smith’s Theorie der ethischen Gefühle ist explizit anti-utilitaristisch ausgerichtet: Es gibt Kräfte im Menschen, die ihn dazu bringen, „an dem Schicksal anderer Anteil zunehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein.“4 Das MitEmpfinden mit dem Mitmenschen, die Sympathie, ist tief im Menschen verwurzelt, und es ist kein Nutzenkalkül, das ihn einfühlsam macht, sondern eine natürliche Disposition. Nach dieser Theorie wäre der Mensch bereits auf die Sozialität hin angelegt und insofern immer schon über seine eigenen egoistischen Antriebe hinaus. Es herrschte eine Art prästabilierte Harmonie, da die Gefühle der Em- und Sympathie natürlich auf Reziprozität beruhen müssten; das Motivationsproblem wäre damit gelöst. Doch ist das wirklich so? Abgesehen davon, dass die Evidenz dieser Theorie eine nur behauptete ist, birgt die Theorie auch in sich einige Fallstricke. So konzediert Smith, dass ein unmittelbares Empfinden der Gefühle 4 Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle, übers. und hg. von Walter Eckstein, Hamburg 1994, S. 1.

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des anderen gar nicht möglich ist. Wir versuchen bestenfalls, uns in die Lage des anderen hineinzuversetzen, indem wir uns vorstellen, was wir in seiner Lage empfänden. Unsere Sinne „können uns nie über die Schranken unserer eigenen Person hinaustragen“5, und so liegt hier eine doppelte Vermittlung vor: Zum ersten ist das Gefühl nur gedacht, und zum zweiten wird der Überschritt zum anderen real überhaupt nicht vollzogen, denn das Ich verbleibt letztlich in sich selbst. Auch der Versuch, die Sympathie zu verobjektivieren, indem die Gefühle, denen sie gilt, am Maßstab der „Schicklichkeit“ gemessen werden, muss am Ende scheitern, wenn über die Schicklichkeit die intersubjektive Übereinstimmung entscheidet6 – welche nach den oben genannten Prämissen nur eine vorgestellte sein kann. Und auch die Position des „unparteiischen Zuschauers“, die durch den gedachten Perspektivenwechsel erreicht werden soll, ist nur scheinbar objektiv, da es immer wieder die Selbsterfahrung ist, auf deren Grundlage die Fremderfahrung gedacht wird. So wundert es nicht, dass nicht bloß in Smith’s „Wohlstand der Nationen“ die „unsichtbare Hand“ auftaucht, die aus der Ichbezogenheit des Menschen auf wundersame Weise das gemeinsame Wohl generiert, sondern dass sie ebenfalls in der „Theorie der ethischen Gefühle“ eine Rolle spielt – als die Kraft, die hinter dem Rücken der Menschen wirkt und ihr individuelles Wollen, das sich zunächst eben doch nicht im Einklang mit einem allgemeinen Wollen befindet, erst nachträglich in sozialverträgliche Bahnen lenkt.7 Dies will nun gar nicht mehr zu der zuvor entwickelten Theorie passen, verlegt sie das gemeinschaftsstiftende Moment doch in eine Kraft jenseits des Menschen. Es ist also nicht nur die von Homann als Gegenargument angeführte begrenzte Reichweite der Sympathie, die an der Smith’schen Theorie zweifeln lässt. Vielmehr scheint sie zur Lösung des Motivationsproblems deshalb nicht tauglich, weil das Gefühl, welches Moralität begründen soll, weder als gegeben vorausgesetzt werden kann, noch unmittelbar, d.h. vorreflexiv erfahrbar ist, noch die geforderte Ich-Transzendenz zu leisten vermag. Die Ausweichbewegung hin zur „unsichtbaren Hand“ offenbart das Begründungsdefizit, denn es ist doch wieder der zu bändigende Egoismus, der das Wirken dieses deus ex machina erforderlich macht. (2) Der Kantische „kategorische Imperativ“ ist das Musterbeispiel einer deontologischen Ethik, und eine solche wirft von sich aus die Frage nach einer Überbrückung zwischen Wollen und Sollen auf. Denn Pflicht und Neigung werden von vornherein als inkongruent gedacht. Im Kantischen An5 6 7

Ebd., S. 2. Ebd., S. 14 ff. Ebd., S. 315 ff.

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satz ist das besonders deutlich, wenn dem Menschen „als Bürger zweier Welten“ eine Zugehörigkeit zum Bereich des Empirischen attestiert wird, innerhalb dessen er – dabei naturgesetzlicher Kausalität unterworfen – seinen Neigungen folgt, und eine Zugehörigkeit zum Bereich des Intelligiblen, innerhalb dessen er in freier Selbstbestimmung dem Pflichtgebot gehorchen kann und soll. Schon diese „Zwei-Welten-Lehre“ deutet an, dass das Motivationsproblem ständig im Hintergrund lauert, auch wenn das moralitätsbegründende Prinzip im Menschen selbst angesiedelt sein soll. Die Zirkularität der Begründung ist offensichtlich. Gesucht ist ein apriorischer, d.h. von allem Empirischen gereinigter Grundsatz, der die Vernunft bindet. Als solche kann er nur in der Vernunft selbst gefunden werden, und da mit dem Empirischen auch alle materialen Bestimmungen fortfallen müssen, bleibt konsequenterweise nur die reine Form des Gesetzes übrig: „ich soll niemals anders verfahren als so, dass ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.“8 Weder die eigenen Neigungen noch die Berücksichtigung der Folgen sollen das Handeln gemäß dem kategorischen Imperativ bestimmen. Alleine „die Achtung fürs Gesetz“9 ist als Bestimmungsgrund des Handelns zulässig. Nur dann liegt pflichtgemäßes Tun vor, weil nur dann die Vernunft ganz bei sich ist und ausschließlich ihrem eigenen Gesetz folgt. Letztlich achtet das Subjekt in der Selbstgesetzgebung die eigene Vernunftnatur, und dies muss als Bestimmungsgrund des Handelns ausreichen. Auf die Probleme, die der Kantische Ansatz birgt, wurde schon oft hingewiesen. Mag der kategorische Imperativ in seinem reinen Formalismus noch unstrittig sein, weil er schlicht das Prinzip der Universalisierbarkeit verkörpert, so ist bei jeder konkreten Ausfüllung der Streit schon vorprogrammiert – kann z. B. das Gebot, nicht zu lügen, universell gelten? Abgesehen davon, dass es Situationen geben kann, in denen die Lüge moralisch geboten erscheint, wäre die Verurteilung der Lüge nur von ihren Folgen her zu begründen, d.h. unter Hinzuziehung empirischer Tatbestände, die das Tun eben nicht bestimmen sollten. So schwankt diese Ethik zwischen leerem Formalismus und einer Konkretion, deren Verallgemeinerbarkeit nur vorausgesetzt ist, aber nicht erwiesen werden kann. Die von Homann konstatierte Zirkularität, dass die Forderung, das moralbegründende Prinzip müsse von der Vernunft gebilligt werden, jene Vernünftigkeit bereits zugrunde legt, ist zweifellos gegeben; aber man kann das Argument noch weitertreiben. Der transzendentalphilosophische Ansatz geht schlicht davon aus, dass bereits Vernunft ist, was er als solche unter8 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt a. M. 1974, S. 26. 9 Ebd., S. 28.

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sucht. Aufgrund dieser unbewiesenen Prämisse steht natürlich auch die Unbedingtheit des aus der Vernunft abgeleiteten Sollens in Frage – und mit ihr die Motivation zur Erfüllung einer Pflicht, welche in der sich auf diese Weise bestätigenden Vernunftnatur des Menschen gründen soll. Was Kant als handlungsbegründend ersatzweise aufbietet, vermag auch nicht recht zu überzeugen. Da der pflichtgemäß Handelnde zwar „glückswürdig“, unter irdischen Verhältnissen aber nicht unbedingt auch tatsächlich mit Glück gesegnet ist, muss die Unsterblichkeit der Seele und der gerechte Ausgleich im Jenseits postuliert werden.10 Mit einer solchen Vertröstung auf ein nachirdisches Dasein lässt sich wohl kaum zufriedenstellen, wer moralisches Handeln nicht bereits als Selbstzweck behandelt. Insofern erscheint diese Hilfskonstruktion geradezu kontraproduktiv. Sie ist eine Konzession an ein Bedürfnis, das sie selbst doch niemals zu stillen vermag und auch als außermoralisch ächtet. (3) John Stuart Mill, neben Jeremy Bentham und Henry Sidgwick einer der Urväter des Utilitarismus, hält den eigenen utilitaristischen Ansatz im Vergleich zur Kantischen Pflichtethik für überlegen – schon weil die Befolgung des kategorischen Imperativs Konsequenzen mit sich bringen könnte, die niemand wirklich wünschen kann.11 Das Grundprinzip, dem er selbst huldigt, sieht er als Basis dessen, was gemeinhin moralisch praktiziert wird, und selbst die Ethiken, die dies Prinzip nicht als Handlungsmaxime akzeptieren wollen, müssen seine Relevanz in puncto Handlungsmotivation anerkennen: die Verfolgung des Nutzens, die Maximierung von Glück. Aus utilitaristischer Perspektive sind „Handlungen insoweit und in dem Maße richtig [ ], als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu befördern“12, wobei unter Glück Lust bzw. das Freisein von Unlust zu verstehen ist. Für Homann ist dies eine ethische Theorie, die das Motivationsproblem potentiell lösen könnte, es bislang jedoch nicht hinreichend vermochte; sie gründet die Moral im Interesse – dies wird Homann fortführen –, sie lässt den Gegensatz des Eigen- zum Gemeininteresse jedoch unaufgehoben. Wie stellt sich dieser Gegensatz dar, und ist das die einzige Schwachstelle der utilitaristischen Theorie? 10 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1974, S. 252 ff. 11 Vgl. John Stuart Mill, Der Utilitarismus, Stuttgart 1985, S. 8. Mill bezieht sich hier auf die bei Kant selbst angeführten Beispiele einer Konkretion des Imperativs. Gemeint sein könnte z. B. Kants Forderung, in Anwendung des Verbots der Lüge auch unschuldig Verfolgte nicht vor ihren Häschern zu verbergen. 12 Ebd., S. 13.

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In seinen modernen Varianten13 hat sich der Utilitarismus deutlich verkompliziert, weil man seinen Aporien auf mannigfache Weise abzuhelfen versuchte.14 Die Grundprobleme zeigen sich aber bereits im Beginn, und zwar bei Mill, der gedanklich inkonsequenter ist als sein Vorgänger Bentham, in einem Schwanken zwischen unvereinbaren Prinzipien; daran wird die Problemlage besonders gut erkennbar. Moralisch ist, was die Lust, das Glück, befördert. Lust ist per definitionem etwas rein Subjektives, und so müsste folgerichtig die individuelle Nutzenmaximierung der letzte Maßstab sein. Dem steht jedoch in Mills Theorie einiges entgegen. Zum einen lässt er eine qualitative Unterscheidung der Lustarten zu, die seinen Ansatz bereits sprengt. Denn wenn „einige Arten der Freude wünschenswerter und wertvoller sind als andere“15, geistige z. B. höherwertig sind als körperliche, dann wird die Lust einem externen Maßstab unterworfen. Zum anderen führt auch die Anwendung des qualitativen Arguments in Aporien. Sofern es nämlich das Gesamtquantum an Lust zu maximieren gilt, ist der Bezugsrahmen „die gesamte Menschheit“16 und nicht mehr nur das Individuum. So kann um der Menschheit willen sogar das Selbstopfer gerechtfertigt sein, ein für den einzelnen sicher nicht sehr lustvoller Schritt. Umgekehrt erscheint der „Egoismus“ nun auf einmal als Mangel, und als Erziehungsziel wird propagiert, darauf hinzuwirken, dass sich im einzelnen eine „unauflösliche gedankliche Verbindung . . . zwischen dem eigenen Glück und dem Wohl des Ganzen“17 herstellt. Selbst bei der Bemühung um quantitative Optimierung stellen sich also wieder qualitative Differenzen ein, womit die Rückführung dieser Ethik auf ein Prinzip als gescheitert betrachtet werden könnte. Die Begründung moralischer Prinzipien durch den eigenen Nutzen würde in der Tat die gewünschte intrinsische Motivation liefern; im Tun des Guten zugleich sich selbst das Gute zu erweisen, wäre ein unschlagbares Handlungsmotiv. So lange es aber um eine Mehrung der Glücksquanten schlechthin geht, bleiben individueller und allgemeiner Nutzen unversöhnt – das Problem, das Homann mit seinem „ökonomischen Imperialismus“ zu lösen beansprucht. Inwiefern das gelingen kann, bleibt zu prüfen, zumal die andere, oben angeführte utilitaristische Aporie ebenfalls droht: Entweder man lässt der je eigenen Nutzenvorstellung – in der Ökonomik: der individuellen Präferenzordnung – freien Raum und akzeptiert so auch gemein13 Moderne Vertreter des Utilitarismus sind bspw. Peter Singer, Dieter Birnbacher, R. M. Hare. 14 Vgl. dazu das Kapitel „Die Ethik des Utilitarismus“ in: Konrad Ott, Moralbegründungen, Hamburg 2001, S. 94–122. 15 John Stuart Mill, Utilitarismus (Anm. 11), S. 15. 16 Ebd., S. 21. 17 Ebd., S. 31.

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schaftsschädigende Verhaltensweisen oder man selektiert die Nutzenvorstellungen gemäß einem ihnen nicht inhärenten Maßstab. Was die drei vorgeführten Modelle der Moralbegründung angeht, so stehen sie in deutlicher Konkurrenz zueinander. Die Ethik, die das moralische Verhalten im Gefühl verankert, lehnt es ab, Moral an Nützlichkeit zu binden. Die vernunftbegründete Moral ist ebenfalls explizit anti-hedonistisch und verweist zudem das Gefühl in den außermoralischen Raum. Der Utilitarismus wiederum hält eine Pflichtethik für unwirksam, die auf die Vernunft statt auf das Interesse setzt. Abgesehen von ihren inneren Aporien, die an der Kohärenz der drei Ansätze zweifeln lassen, bestreiten sie sich auch gegenseitig das Existenzrecht. Der Versuch, einen dieser Ansätze auf neuer Grundlage zu restituieren, müsste also sehr überzeugend ausfallen, um der bereits bestehenden, durchaus nicht von der Hand zu weisenden Kritik zu begegnen. III. Die Moralbegründung des „ökonomischen Imperialismus“ Dass der „ökonomische Imperialismus“ an einem zentralen Punkt ansetzt, wenn er anlässlich der Frage nach der Begründung von Moral das Motivationsproblem aufwirft,18 lässt sich schwerlich bestreiten. Die herkömmlichen Moralbegründungen, so Homann, lassen das „Implementierungsproblem“19 ungelöst, weil sie vom einzelnen verlangen, dass er „auf die Aneignung von Vorteilen verzichten“ soll. Moralität wird mit dem „Domestizierungsparadigma“20 verbunden. Der Mensch soll sich in seinen Eigeninteressen mäßigen, er soll sich zugunsten des anderen, der anderen, der Gemeinschaft selbst zurücknehmen. Weil dieses Paradigma in der Geschichte nicht überzeugt hat und es auch in der Gegenwart nicht tut, unternimmt Homann einen an den Utilitarismus anknüpfenden Neuansatz: eine Begründung der Moral „aus Interessen“21 oder mit anderen Worten eine „ökonomische Begründung der Moral“. Galten Ökonomie und Ethik bisher als Gegensätze, weil ökonomisches Handeln eigennutzorientiert und ethisches Handeln altruistisch ist, so soll das öko18 Homann selbst betont zwar, sich nur mit der Frage nach der Moralbegründung und nicht mit der Frage, was den einzelnen zu moralischem Handeln motiviert, zu befassen. Vgl. Karl Homann, Die Rolle ökonomischer Überlegungen in der Grundlegung der Ethik (Anm. 3), S. 220 f. Letztlich liegt die Begründung aber in der scheinbar evidenten Motivationslage, s. u. 19 Karl Homann, Wirtschaftsethik: Dient die Moral dem eigenen Vorteil?, in: ders., Anreize und Moral, Münster 2003, S. 175. 20 Karl Homann, Die Rolle ökonomischer Überlegungen in der Grundlegung der Ethik (Anm. 3), S. 216, 220. 21 Ebd., S. 220.

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nomische Paradigma nun Eingang in die Ethik finden – und nicht nur das. „Die Methode der Vorteils-/Nachteilskalkulation kann auf alle menschlichen Interaktionen angewendet werden“22, und daraus ergibt sich das Programm des „ökonomischen Imperialismus“. Mit der spezifischen Methode der modernen Ökonomik sollen auch alle anderen relevanten Bereiche des menschlichen (Zusammen-)Lebens aufgeschlüsselt werden, der „Imperialismus“ bezieht sich also auf die Gegenstandsbereiche, nicht auf die Methoden, wie Homann betont. Denn den jeweiligen Gegenstand auch mittels anderer Methoden zu beleuchten, ist damit keinesfalls ausgeschlossen. Handelt es sich so doch um einen bescheidenen Imperialismus? Das bleibt zu prüfen. Zunächst gilt es zu zeigen, mittels welchen Modells Homann menschliches Verhalten zu erklären versucht und wie sich diese Erklärung auf den ethischen Bereich anwenden lassen soll. Wenig überraschend ist es das Modell des homo oeconomicus, des am eigenen Vorteil orientierten Nutzenmaximierers, das der weiteren Analyse zugrundegelegt wird. Nun ist schon oft festgestellt worden, dass sich die gesamte Bandbreite menschlichen Verhaltens wohl kaum auf ein solch einfaches Schema wie das des homo oeconomicus reduzieren lässt. Homann leugnet das nicht und begegnet der Kritik durch eine veränderte Definition des Status jenes konsequenten Nutzenmaximierers. Der homo oeconomicus23 ist nicht als Beschreibung dessen, was der Mensch ist, zu verstehen, in ihm ist auch nicht erfasst, wie der Mensch sein sollte. Vielmehr ist es ein weder empirisch belegbares noch normativ verbindliches Modell zur Erklärung spezifischer Strukturen, welche allerdings ihrerseits einen zentralen Stellenwert in unserer konkreten Wirklichkeit einnehmen. Gemeint sind Dilemmastrukturen. Bevor diese erläutert werden können, bleibt eines festzuhalten. Der Verweis darauf, dass es sich bei dem Modell des homo oeconomicus um ein „präempirisches Schema“24 handle, stellt natürlich eine Immunisierungsstrategie dar. Empirisch ist das Modell nicht widerlegbar. Wenn aber das, was die Wirklichkeit erklären soll, in der Wirklichkeit gar nicht vorfindbar sein muss, erhebt sich die Frage, welcher Wirklichkeitsstatus dem Modell selbst zukommt bzw. wie sich das Verhältnis zwischen Modell und Realität erkenntnistheoretisch fassen lässt. Diese Fragen bleiben unbeantwortet, erscheinen aber doch nicht ganz unerheblich angesichts der tragenden Rolle des Modells in dem Erklärungsschema. 22 Karl Homann, Die Relevanz der Ökonomik für die Implementation ethischer Zielsetzungen, in: Wilhelm Korff (Hg.), Handbuch der Wirtschaftsethik Bd. 1 (Verhältnisbestimmung von Wirtschaft und Ethik), Gütersloh 1999, S. 333. 23 Karl Homann, Homo oeconomicus und Dilemmastrukturen, in: Helmut Sautter (Hg.), Wirtschaftspolitik in offenen Volkswirtschaften. Festschrift für Helmut Hesse zum 60. Geburtstag, Göttingen 1994. 24 Ebd., S. 402.

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Nun zu den Dilemmastrukturen. Die Situation, auf die der homo oeconomicus reagiert, ist die der Knappheit, welche Konkurrenz erzeugt25. Bereits das mögliche, nur antizipierte Verhalten des Konkurrenten nötigt den homo oeconomicus zur eigenen Vorteilssicherung. Zugespitzt findet sich die beschriebene Situation in dem von der Ökonomik bevorzugt angeführten Gefangenendilemma. Danach können bekanntlich zwei Gefangene die Strafe für ein gemeinsam begangenes Verbrechen durch bestimmte Strategien vermindern, welche allerdings eine Abstimmung unter ihnen voraussetzte. Wird diese Absprache verhindert, wählt – so die Hypothese – jeder die für ihn individuell günstigste Verhaltensvariante und gewinnt so zwar etwas für sich, bringt sich und den anderen aber um den Vorteil, den ein gemeinsames Vorgehen erbracht hätte. Das Bild, das hier heraufbeschworen wird, ist das des Hobbes’schen Naturzustands, und Homann bezieht sich in diesem Zusammenhang auch explizit auf Hobbes’ Vorstellung, dass sich der Mensch, sofern er nicht durch ein gesellschaftliches Regelwerk daran gehindert wird, alle erreichbaren Machtmittel aneignen wird, um jeder potentiellen Schädigung durch andere zuvorkommen zu können. Dieses Verhalten ist dann rational. Es sichert den entscheidenden Vorsprung vor dem Konkurrenten und damit den eigenen Nutzen, der bisweilen nur in der Vermeidung einer Schädigung liegen mag. Der Krieg aller gegen alle ist also das Grundmodell, in das sich der homo oeconomicus harmonisch einfügt. Zunächst erscheint es so, als wäre dies nur das angemessene Modell „zur Erklärung des Verhaltens auf Märkten“26. Moderne Marktwirtschaften, so Homann, sind geradezu dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen „asymmetrische Interaktionsstrukturen“27, Dilemmastrukturen, bestehen. Und das ist nicht bloß faktisch so, das soll auch so sein, denn die fortgesetzte Konkurrenz der Marktteilnehmer untereinander erhöht die Effizienz des Ganzen. Doch wenn der „ökonomische Imperialismus“ das ökonomische Denken tatsächlich „auf alle menschlichen Interaktionen“28 angewendet wissen will, muss er unterstellen, dass die geschilderten Strukturen universell sind. Der Naturzustand liegt nicht nur dem Marktgeschehen zugrunde. Von Eigennutz und Eigeninteresse war bisher viel die Rede; es sind, zumindest nach herkömmlichem Verständnis, nicht die Kategorien moralischen Verhaltens. Auf welche Weise kommt nun die Moral ins Spiel? Die Antwort ist relativ einfach: sie verschiebt sich von dem einzelnen Akteur 25

Karl Homann, Homo oeconomicus und Dilemmastrukturen (Anm. 23), S. 397. Ebd. 27 Ebd., S. 400 28 Karl Homann, Die Relevanz der Ökonomik für die Implementation ethischer Zielsetzungen (Anm. 22), S. 333. 26

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auf die Rahmenordnung, innerhalb derer er agiert bzw. innerhalb derer er auf reales oder prospektives Verhalten anderer reagiert. Individuell moralisches Handeln ist unter den geschilderten Dilemmabedingungen gar nicht sinnvoll, weil es sofort Wettbewerbsnachteile nach sich zieht und weil zudem die Aufrechterhaltung der Konkurrenzsituation dem Gesamtinteresse dient. Der einzelne Akteur wird also von moralischen Forderungen entlastet, ein Faktum, das Homann als „Fortschrittsleistung der Moderne“29 feiert. Denn Ethik ist durchaus auch als Reflex der ökonomischen Verhältnisse zu deuten. Es ist nicht zufällig, dass die Tugendethik in der vormodernen Gesellschaft entstand, welche „gesamtwirtschaftliche Nullsummenspiele“30 spielte. Hier war bestenfalls „Bedarfsdeckung“ möglich, es gab „kein nennenswertes Wirtschaftswachstum“. Unter solchen Bedingungen waren Selbstrücknahme und Mäßigung die sozialverträglichsten Verhaltensweisen, die per Moral befestigt werden mussten. Denn Mehrhabenwollen wäre notwendig auf Kosten anderer gegangen. In der modernen Wachstumsgesellschaft hingegen wäre Mäßigung geradezu kontraproduktiv, und das Mehrhabenwollen impliziert keineswegs notwendig eine „Beraubung anderer“31. Hier ist demnach die „Verfolgung des Eigeninteresses unter einer klug geschnittenen Rahmenordnung“ das Gebotene; insofern ist die moderne Marktwirtschaft mit ihren Wachstumspotentialen der Ermöglichungsgrund einer Ethik, in der das „Domestizierungsparadigma“ endlich überwunden werden kann. Es muss nichts mehr domestiziert werden – jedenfalls ist das nicht länger die Aufgabe des einzelnen Menschen. Dieses erstaunlich weitgehend an die marxistische Basis-Überbau-These erinnernde Erklärungsschema liefert also die Begründung dafür, weshalb das „Implementierungsproblem“ jetzt endlich gelöst werden kann. Offenbar erlaubt der Stand der Produktivkräfte eine moralische Entlastung des Einzelnen; der Fortschritt in der Geschichte ist nicht nur technologischer und ökonomischer Natur, sondern hier scheint sich auch gattungsgeschichtlich eine Wendung zum Guten abzuzeichnen, die der Mensch den von ihm in Gang gesetzten überindividuellen Kräften und Prozessen verdankt. Kommt die Erlösung von außen? Diese Frage soll durch einen Blick auf Funktion und Anlage der von Homann postulierten Rahmenordnung beantwortet werden. Zur Rahmenordnung zählt alles, was die Interaktionen zwischen den Akteuren regelt, z. B. die Verfassung und das Rechtssystem; Homann nennt in 29 Karl Homann/Franz Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen 1992, S. 36. 30 Karl Homann, Wirtschaftsethik: Dient die Moral dem eigenen Vorteil? (Anm. 19), S. 169. 31 Ebd., S. 170.

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diesem Zusammenhang aber auch etablierte Verhaltensstandards.32 Die durch den Rahmen vorgegebenen Normierungen sind absolut verbindlich, Regelverstöße werden durch Sanktionen geahndet. Und das ist der entscheidende Punkt: In dem Wissen darum, dass jede Verletzung der Spielregeln gnadenlos sanktioniert wird, verfolgen die Akteure ihr Eigeninteresse nur so weit, wie es ihnen der Rahmen gestattet. Da das für alle gilt, besteht eine reziproke Verhaltenserwartung bzw. Verhaltenssicherheit. Die intrinsische Motivation kann sich demnach rein auf Eigennutzkalküle beschränken: die Nutzenmehrung auf der einen Seite, die Sanktionsvermeidung auf der anderen. Für Homann stellt sich das Geschehen innerhalb des Rahmens, der Wettbewerb, also quasi als „moralfreier Raum“33 dar. Die Moralität der Marktwirtschaft als Ganzer hängt nicht an solchen „Nischenphänomenen“34 wie der individuellen Selbstrücknahme des „ehrbaren Kaufmanns“ o. ä. Die „Spielzüge“ innerhalb des Systems sind von dergleichen Ansprüchen entlastet, weil die Moral sich auf die „Spielregeln“ verschoben hat. Und durch diese müssen die Anreize eben so gesetzt werden, dass letztendlich das gesellschaftlich erwünschte Verhalten produziert wird. Das gilt nicht zuletzt für die Verhinderung von Trittbrettfahrerverhalten, welches durch die auf dem Markt bewusst erzeugten asymmetrischen Dilemmastrukturen begünstigt wird. Einzelne oder Gruppen können in hochkomplexen Gesellschaften großen Schaden anrichten, wenn sie vorhandene Strukturen zu ihrem Vorteil ausbeuten oder durch regelwidrige Vorteilnahme gar das ganze Gefüge gefährden. Hier müssen dann eben die „allgemeinen Handlungsbedingungen“35 verändert werden; „Appelle an die Werteinstellungen der Bürger“ sind der falsche, sozusagen der vormoderne Weg zur Realisierung des Gemeinwohls. Doch zurück zu der Frage, ob die Erlösung von außen zu erwarten ist: Woher kommt eigentlich der Rahmen, der offenbar ganz anderen Prinzipien unterworfen ist als das, was er einrahmt? Haben wir es hier mit einer doppelten Buchführung zu tun, nämlich der Forderung, aus moralischen Gründen auf Moralität zu verzichten bzw. um des Gemeinwohls willen eigennützig zu handeln? Oder aus der umgekehrten Perspektive: Muss man zur Schaffung des Rahmens so viel Altruismus aufbringen, den eigenen Egoismus nicht zum Maßstab der Normierung zu machen? Dass der Rahmen32 Karl Homann/Franz Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik (Anm. 29), S. 23. 33 Ebd., S. 36. 34 Ebd., S. 38. 35 Karl Homann, Die Rolle ökonomischer Überlegungen in der Grundlegung der Ethik (Anm. 3), S. 123.

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ordnung und dem Handeln innerhalb des Rahmens zwei unterschiedliche Prinzipien zugrunde liegen, gibt Homann zu, wenn er resümiert: „Die Etablierung von Wettbewerb, d.h. Dilemmastrukturen, in den Spielzügen beruht . . . systematisch auf einer Überwindung der Dilemmastrukturen in den Spielregeln.“36 Das Allheilmittel ist der Wettbewerb und mit ihm die Verfolgung des Eigennutzkalküls ganz offenbar doch nicht, wenn erst aus seiner Beschränkung jene wohltätige Wirkung erwächst, die zuvor ihm selbst zugeschrieben wurde. Aber vielleicht ist das zu schnell geschlossen. Wie kommt es denn nach Homann zur Etablierung der Rahmenordnung? Hier wird es nun etwas kryptisch. Zunächst wird konzediert, dass von den Gestaltern der Rahmenordnung durchaus eine individuelle, zur „Hexis“37 verfestigte moralische Einstellung zu fordern ist. Ihnen obliegt es etwa, das Prinzip der „Solidarität aller Menschen“ ordnungspolitisch zu konkretisieren. Dann heißt es, es seien nicht unmittelbar moralische Intentionen, nach denen Regeln festgelegt werden, sondern Metaregeln wie etwa das parlamentarische Verfahren. Insofern verschiebt sich der „Ansatzpunkt für moralische Intentionen“ immer weiter nach oben. Könnte man aufgrund dessen meinen, dass die Moral – und hier kann nur von der traditionellen, eigentlich überwundenen Moral der Selbstrücknahme die Rede sein – die Sache einiger weniger Gestalter ist, z. B. der Verfassungsgeber oder der Verfassungsrichter, so ändert sich das Bild sogleich wieder. Denn nicht nur die Festlegung, sondern auch die „Akzeptierung“ und „Befolgung“ der Regeln erfordert laut Homann moralische Motive; d.h. auch die Marktteilnehmer sind betroffen, und zwar gerade in ihrem Wettbewerbsverhalten. Möchte man schon zustimmen und sich fragen, was von der ökonomischen Begründung der Moral eigentlich noch übriggeblieben ist, so nimmt die Argumentation wieder eine neue Wendung. Jetzt wird das Marktverhalten doch als rein ökonomisches, rentabilitätsorientiertes interpretiert, das Einwirken auf die Rahmenordnung aber als politisches. Und das bedeutet, dass Unternehmer bspw. versuchen, „die politischen Voraussetzungen des ökonomischen Erfolgs zu beeinflussen, indem sie die Rahmenordnung ändern“38. Hier ist das Motiv also wieder ein ökonomisches. Allerdings weiß der aufgeklärte Unternehmer um die „Vorteilhaftigkeit kollektiver Vereinbarungen“ und hält sich auch an diese, sofern er das reziproke Verhalten bei den anderen voraussetzen kann. Ist das seinerseits als moralisch oder ökonomisch oder politisch zu kategorisieren? Es scheint angesichts des Begriffsgebrauchs nicht ganz einfach, nicht die Orientierung zu verlieren. 36 Karl Homann/Franz Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik (Anm. 29), S. 44. 37 Ebd., S. 40. 38 Ebd., S. 41.

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Doch an den Begriffen zeigt sich wohl nur, dass sich in der dargestellten Position ein grundsätzliches Problem verbirgt. Der „ökonomische Imperialismus“ intendierte eine Begründung der Moral aus dem Interesse; so sollte das „Implementierungsproblem“ überwunden werden. Doch sobald das Interesse nicht mehr sich selbst überlassen wird – und das ist aufgrund seines zerstörerischen Potentials auch gar nicht möglich –, sobald es vielmehr instrumentalisiert wird, ist eben nicht länger das Interesse das Maßgebliche, sondern das, was es kanalisiert. So taucht ein neues „Domestizierungsparadigma“ auf; der am Gemeinwohl ausgerichtete Rahmen domestiziert den individuellen Eigennutz. Ganz eindeutig hat man es auf einmal mit zwei Prinzipien zu tun, eine für eine konsistente Moralbegründung fatale Lage. Denn wo immer man nicht auf ein letztes Prinzip zurückgehen kann, sondern bei einer Zweiheit stehen bleibt, bedarf es wieder eines übergeordneten Grundsatzes, der über das Verhältnis der Prinzipien zueinander entscheidet. Im vorliegenden Fall könnte man das Problem formal erledigen, indem man angesichts der Domestizierungsrolle der Rahmenordnung sie zum eigentlich dominanten Prinzip erklärte. Da aber von einer Gestaltung dieser Ordnung seitens der innerhalb des Rahmens Agierenden die Rede war, könnte auch der Anspruch auf ein umgekehrtes Begründungsverhältnis erhoben werden; der Eigennutz wirkt auf das Gemeinwohl hin. Argumentativ wird dies bisweilen durch den Hinweis darauf zu untermauern versucht, dass die individuelle Präferenzordnung, also das, worin man seinen Nutzen realisiert sieht, durchaus auch den Einsatz für den Nächsten beinhalten könne. Das stellt allerdings eine sehr weitreichende Auslegung des Begriffs „Eigennutz“ dar; für derlei Eigennützigkeit wurde bisher noch niemand getadelt, und der „ökonomische Imperialismus“ müsste auch keine Rehabilitierung des Eigennutzes betreiben, sollte dessen Kern der Altruismus sein. Gemeinwohl schlicht auf ein nur etwas längerfristig angelegtes Nutzenkalkül zurückzuführen, hilft ebenfalls nur begrenzt weiter. Die darin unausgesprochen vorausgesetzte Bezogenheit des Einzelnen auf die Sozialität (meinen eigenen Nutzen kann ich bloß in einem System wechselseitiger Beschränkung des Eigeninteresses realisieren) funktioniert nur unter einer Bedingung: dass alle gleich sind. Der Starke kann auf Reziprozität verzichten, und die Rahmenordnung dient nicht zuletzt dazu, die Starken in die Rolle der Gleichen zu nötigen. Ist auch die Rahmenordnung nur Ausdruck des Interesses, lässt sich dies labile Gleichgewicht nicht halten. Es fände eine Selbstkannibalisierung statt, in der schon nach dem von Homann entwickelten Naturzustands-Szenario der Raubtierdynamik des Eigennutzes alles zum Opfer fiele, was durchsetzungsschwächer ist als sie.

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Kurzum: Ist Gemeinwohl etwas prinzipiell anderes als Eigennutz, so kann nur jenes und nicht dieser entscheidend sein; soll aber der Eigennutz auch über das Gemeinwohl bestimmen, so hebt letzteres sich selbst auf. Insofern ist es sehr fraglich, ob der „ökonomische Imperialismus“ tatsächlich ein Modell gefunden hat, das schlechthin für menschliche Interaktion taugt. Wenn das „Domestizierungsparadigma“ sich via Rahmenordnung doch wieder einschleicht, ist das „Implementierungsproblem“ ebenfalls wieder da. Wie sich moralisches Verhalten begründen lässt, wäre nach wie vor offen. IV. Die eudaimonistische Begründung der Moral Am Anfang der Philosophiegeschichte, bevor also die eingangs vorgestellten Konzepte einer Begründung von Moral einander widersprachen und sich in Varianten stets aufs Neue wechselseitig ablösten, stand eine Ethik, die historisch keine Neuauflage fand: die sokratisch-platonische Ethik des Eudaimonismus. In ihr gibt es per definitionem kein „Implementierungsproblem“. Denn wenn das Leben der Tugend zugleich auch das gute, das glückliche Leben ist, bedarf es keiner weiteren Motivation, es zu wählen. Gerade unter dem Gesichtspunkt des eigenen Nutzens wäre es ganz im Gegenteil völlig unverständlich, etwas anderes als dieses Leben anzustreben. Das Problem bei der eudaimonistischen Moralbegründung ist allerdings, plausibel zu machen, inwiefern tatsächlich Glück zu nennen ist, was sich dem äußeren Augenschein nach keineswegs als solches präsentiert. Denn dem Protagonisten dieser Moral, Sokrates, war bekanntlich kein Schicksal beschieden, das zu großem Neid Anlass gäbe. Der Märtyrertod als Ergebnis einer moralischen Einstellung, die bspw. das Unrechtleiden für ein kleineres Übel als das Unrechttun hält39 oder der Treue gegenüber den Gesetzen den Vorzug vor der lebensrettenden Flucht gibt,40 erscheint zumindest von außen betrachtet kein überzeugender Beweis dafür, dass Tugend und Glück hier zusammengefunden hätten. Aber: Dies ist eben nur der Blick von außen. Was ist denn Glück? Was ist denn Nutzen? Was ist das Gute, das in jeder Moral als Endergebnis übrig bleiben soll?41 Genau an diesem immer schon Vorausgesetzten, selbst aber nicht mehr reflexiv Erfassten setzt die sokratisch-platonische Philoso39

Vgl. Platon, Gorgias 468e ff. Vgl. Platon, Kriton 50a ff. 41 Die Frage stellt sich genauso, wenn dies Gute wie in den drei vorgestellten moralischen Modellen näher konkretisiert wird, etwa als Mitempfinden mit dem Nächsten, Pflicht oder Lust. Denn all dies kann kaum als Wert an sich gelten und bedürfte so auf jeden Fall weitergehender Begründung. 40

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phie an und prüft die Ansprüche auf ihre Berechtigung hin. Es sind keine Lehrsätze, die bei dieser Prüfung herauskommen, und es ist auch kein System, das das Richtige Schritt für Schritt aus der Grundprämisse deduzierte. Die sokratisch-platonische Ethik lebt vielmehr von der dialektischen Untersuchung der Voraussetzungen, von denen die anderen Begründungsmodelle ausgehen, und es könnte sein, dass in diesen sehr fundamental ansetzenden Untersuchungen auch schon die Grundprobleme der historisch nachfolgenden Positionen angesprochen sind. Man denke z. B. an die Passage im sechsten Buch der Politeia, die die berühmten drei Gleichnisse über die Erkenntnis des Guten einleitet.42 Hier wird der Frage nachgegangen, was denn gemeinhin als gut gilt, womit natürlich auch das moralisch Gute gemeint ist. In zwei Antworten verdichten sich die Grundmöglichkeiten, das Gute zu denken. Entweder ist es die Lust oder die Erkenntnis. Unter die erste Kategorie lassen sich alle hedonistischen, utilitaristischen, subjektivistischen Ansätze subsumieren, unter die zweite alle vernunftorientierten, deontologischen, universalistischen. Wie sieht nun die sokratische Prüfung aus? Sie ist sehr einfach. Die Lust kann nicht selbst das Gute sein, denn es gibt gute und schlechte Lust. Aber auch die Erkenntnis kann nicht selbst das Gute sein. Denn welche Erkenntnis ist gemeint? Natürlich nicht jede Erkenntnis, sondern die des Guten, woraus folgt, dass das Gute etwas sein muss, das die Erkenntnis erst erfüllt, zu ihr also hinzukommen muss. Angewandt bedeutet das: Die Lust in der Gestalt des Eigennutzes, der individuellen Präferenzordnung etc. ist ambivalent; sie ist nicht schon in sich gut. Die Erkenntnis in Gestalt der Pflicht, der vernünftigen Rahmenordnung etc. ist leer, denn worin besteht die Pflicht, was macht die Vernünftigkeit der Rahmenordnung aus? Und auch die Kombination beider defizitären Modelle, etwa gemäß dem Homann’schen: „Ethik ohne Ökonomik ist leer, Ökonomik ohne Ethik ist blind“43 hilft nicht weiter. Denn die Prämissen stimmen ganz offenkundig nicht, und an ihnen müsste ansetzen, wer in dieser Frage der Moralbegründung weiterkommen wollte. Die Marx’sche Hoffnung, dass der Stand der Produktivkräfte das Problem der Moral einmal als geschichtlich überholt erweisen könnte, weil die ökonomischen Bedingungen das richtige gesellschaftliche Verhalten geradezu erzwingen, hat sich wohl als obsolet erwiesen. Und wenn, in merkwürdiger historischer Verkehrung, eine Variante des Liberalismus nun in gewisser Weise das Marx’sche Erbe anzutreten unternimmt, indem sie es als Fortschrittsdividende der Wohlstandsgesellschaft feiert, dass der Eigennutz auf 42

Platon, Politea 505a ff. Karl Homann, Die Relevanz der Ökonomik für die Implementation ethischer Zielsetzungen (Anm. 22), S. 341. 43

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einmal Gemeinwohl gebiert, dann scheint die Plausibilität nicht sehr viel größer als in dem Marx’schen Versuch, den einzelnen von moralischen Entscheidungen zu entlasten. Was ist die sokratisch-platonische Konsequenz aus der Einsicht in die mangelnde Begründung der untersuchten Ansätze? Es ist keine Erkenntnisresignation, sondern die Umwandlung des Mangels in ein Programm: Was fehlt, muss gesucht werden, und zwar gerade durch das Beschreiten der via negationis, durch die intellektuelle Durchdringung dessen, was sich als defizitär erwiesen hat. Dabei liegt die Aporie, die den sokratischen Dialog zu beenden scheint, nur auf Seiten der Dialogpartner: Die Widersprüchlichkeit ihrer Denkvoraussetzungen wird dialektisch zutage gefördert. Jene sachliche Orientierung aber, die sich in der sokratischen Prämissenreflexion durchhält und bewährt, ist das über die Aporie Hinausweisende – die Urteilskraft, die sich nicht in positiven Sätzen oder Theorien erschöpft, sondern nach Begründungen sucht. Diese Urteilskraft ist ebenso wie die moralfundierenden Prinzipien der drei vorgestellten Modelle eine Kraft im Menschen. Der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass sie anders als Gefühl, Vernunft und Interesse nicht als vorhanden vorausgesetzt wird, sondern in der dialogischen Tätigkeit erst geschaffen werden muss. Die eudaimonistische Moral in ihrer sokratisch-platonischen Form ist damit letztlich anspruchsvoller als alle anderen; sie fordert eine fundamentale Selbstveränderung. Das ist nicht gesellschaftlich zu erledigen, sondern bleibt Aufgabe jedes einzelnen Menschen. Insofern gibt es keine Entlastung des Individuums von der Frage nach der Begründung der Moral. Das wird auch keineswegs von allen akzeptiert werden. Insofern darf man nicht erwarten, dass sich eine Moral finden ließe, deren Richtigkeit jedermann einleuchtet. Ob der sokratische Weg zum Ziel führt, ist eine Frage der praktischen Erprobung. In der platonischen Darstellung des Sokrates lässt sich jedenfalls kein „Implementierungsproblem“ mehr erkennen. Offensichtlich ist es eine andere Vorstellung von Glück als die herkömmliche, die die sokratische Existenz trägt. Wahrscheinlich liegt dieses Glück in der Übereinstimmung mit sich selbst und damit in der Einsicht, dass weder der instrumentalisierte Eigennutz noch der ebenfalls begründungsbedürftige Altruismus als handlungsleitendes Prinzip hinreicht, sondern dass erst das vernünftige Verhältnis zu sich selbst auch das moralische Verhalten gegenüber dem anderen ermöglicht.

Schafft Handel Frieden? Politik und Ökonomie in der Globalisierung Von Hendrik Hansen I. Einleitung Die Debatte über den Zusammenhang von Handel und Frieden ist alt: Vor allem in der Aufklärung fand die These, dass Handelsbeziehungen zwischen Staaten den Frieden fördern, prominente Fürsprecher.1 Seither erlebt sie immer wieder eine Renaissance, so zuletzt im Rahmen der Globalisierungsdiskussion, in der viele Autoren das Ende des Ost-West-Konflikts als Beginn einer neuen Ära der wirtschaftlichen Verflechtung und des Friedens zwischen den Staaten deuteten.2 Doch zugleich gibt es eine Reihe von Kritikern der These „Handel schafft Frieden“. Sowohl Realisten als auch Strukturalisten bzw. Marxisten betonen das Konfliktpotential internationaler Handelsbeziehungen3 und gehen davon aus, dass der Handel zwischen wirtschaftlich ungleichen Nationen regelmäßig zum Nachteil der schwächeren Nationen ist; zudem fördert er ihrer Ansicht nach auch zwischen wirtschaftlich ähnlich starken Nationen die Rivalitäten und die Gefahr militärischer Konflikte.4 1

Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, in: ders., Werke Bd VI, Darmstadt 1983, S. 193–251, hier: 226 („Erster Zusatz“); Montesquieu, De l’Esprit des lois II, Paris 1995, S. 609–611 (Livre XX, 1–2). 2 Vgl. James N. Rosenau/Ernst-Otto Czempiel (Hg.), Governance Without Government: Order and Change in World Politics, Cambridge et al. 1992; Richard Rosecrance, Das globale Dorf. New Economy und das Ende des Nationalstaats, Darmstadt 2001. 3 Auf die Ähnlichkeit der Argumentation von Realisten und Strukturalisten wurde in der Literatur schon mehrfach hingewiesen, vgl. z. B. Robert Gilpin, The Political Economy of International Relations, Princeton 1987, S. 42; Katherine Barbieri/Gerald Schneider, Globalization and Peace: Assessing New Directions in the Study of Trade and Conflict, Journal of Peace Research XXXVI (1999), S. 387–404, hier: 389. 4 Z. B. Kenneth Waltz, Theory of International Politics, Reading, Ma., 1979, S. 138; Joseph M. Grieco, Anarchy and the Limits of Cooperation: A Realist Critique of the Newest Liberal Institutionalism, International Organization XLII (Summer), S. 485–529.

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Während die Befürworter der These „Handel schafft Frieden“ zur Zeit der Aufklärung überwiegend Vertreter eines politischen Liberalismus waren, der auf der anthropologischen Ebene neben dem Eigennutzstreben des Menschen eine besondere Fähigkeit zur Anerkennung des Rechts annimmt (vgl. bei Kant das „moralische Gesetz“), gehen moderne Befürworter dieser These zumeist von rein nutzenmaximierenden Akteuren aus.5 Interessanterweise legen sie damit das gleiche Rational-Choice-Verhaltensmodell wie der (Neo-)Realismus6 zugrunde: Beide Paradigmen unterstellen, dass die Akteure in ihren Entscheidungen allein ihren Eigennutz im Blick haben, und doch kommen (wirtschafts-)liberale Autoren zu dem Ergebnis, dass Handel den Frieden fördert, während (neo-)realistische Akteure zu der gegenteiligen These kommen, dass Handel zu Konflikten führt. Im Folgenden soll untersucht werden, wie auf der Grundlage derselben Verhaltensannahmen so konträre Ergebnisse hinsichtlich einer grundlegenden Frage der Internationalen Politischen Ökonomie möglich sind. Dazu werden zunächst die wirtschaftsliberale und die realistische Argumentation dargestellt (Abschnitte II–IV); anschließend wird im Vergleich beider Argumentationen gezeigt, dass die konträren Einschätzungen des Zusammenhangs von Handel und Frieden ihre Ursache in einem grundlegenden Problem des RationalChoice-Verhaltensmodells haben (Abschnitt V); schließlich wird im Ausblick die These aufgestellt, dass die Probleme des Rational-Choice-Ansatzes sich nur überwinden lassen, wenn man die Akteure nicht als nutzenmaximierende Individuen, sondern als potentiell wertorientiert handelnde Personen versteht (Abschnitt VI). II. Das wirtschaftsliberale Argument (1): Allgemeine Vorteilhaftigkeit des Freihandels Die liberale Wirtschaftstheorie geht davon aus, dass der Handel zwischen den Staaten zur Herausbildung eines arbeitsteiligen Systems führt, von dem alle Beteiligten profitieren, so dass niemand einen Anreiz hat, das Funktionieren des Systems durch unfriedliches Verhalten zu gefährden. Die Argumentation lässt sich in zwei Schritte unterteilen: Erstens wird auf der Grundlage der Annahmen des ökonomischen Verhaltensmodells die These formuliert, dass der Freihandel für alle Beteiligten vorteilhaft ist, so dass es in einem funktionierenden Freihandelssystem keinen Anreiz zu kriegerischem Handeln gibt; diese These wird mit der ökonomischen Theorie des Außenhandels begründet (Abschnitt II). Zweitens wird angenommen, dass die Institutionen und Regeln, die die Bedingungen für einen funktionieren5 6

So auch Barbieri/Schneider, a. a. O., S. 388. Zum Unterschied von Realismus und Neorealismus siehe Anmerkung 42.

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den Freihandel darstellen, das Ergebnis nutzenmaximierenden Handelns der beteiligten Akteure sind; die Begründung dieser These fällt in den Bereich der ökonomischen Theorie der Politik (Abschnitt III). Der methodische Ausgangspunkt des Wirtschaftsliberalismus ist das Verhaltensmodell des homo oeconomicus, das in dem Beitrag von Barbara Zehnpfennig in diesem Band bereits ausführlich behandelt wurde. Dieses Modell geht davon aus, dass alle individuellen Entscheidungen das Ergebnis einer eigennutzmaximierenden Wahl zwischen Handlungsalternativen sind.7 In rationalen Wahlhandlungen zielen die Individuen darauf, angesichts äußerer Restriktionen wie der Knappheit von Gütern und Ressourcen sowie der Sanktionen für regelwidriges Verhalten eine maximale Befriedigung der individuellen Wünsche und Bedürfnisse zu erreichen (Nutzenmaximierung). Der Begriff des Nutzens wird dabei rein formal verstanden: Was ein Individuum als Nutzen ansieht, hängt allein von seinen subjektiven Präferenzen ab.8 Es wird lediglich angenommen, dass die Präferenzen der Individuen sich im Zeitablauf nicht ändern, so dass Verhaltensänderungen als Folge einer Änderung exogener Faktoren erklärt werden können.9 Aus diesen Annahmen folgt, dass jeder Form von Kooperation zwischen Individuen eine Tauschhandlung zugrundeliegt: Individuen versprechen anderen einen Vorteil, um ihren eigenen Nutzen zu steigern. Tauschhandlungen sind für die Individuen um so vorteilhafter, je mehr Wahlmöglichkeiten sie haben und je mehr der Wettbewerb sie dazu zwingt, den Tauschpartnern möglichst günstige Angebote zu unterbreiten. Daraus folgt das wirtschaftsliberale Plädoyer für freien Wettbewerb, das sich auf Adam Smith zurückführen lässt. Er vertritt im Wohlstand der Nationen die These, dass die freie Entfaltung der Interessen der Individuen durch die Mechanismen des 7 Vgl. Michael Fritsch, Ökonomische Ansätze zur Legitimation kollektiven Handelns, Berlin 1983, S. 28 f.; Bruno S. Frey, Ökonomie ist Sozialwissenschaft. Die Anwendung der Ökonomie auf neue Gebiete, München 1990, S. 6 f.; Gebhard Kirchgässner, Homo economicus. Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Tübingen 1991. 8 Vanberg sieht in dem formalen Nutzenbegriff die entscheidende Stärke des sogenannten anti-reduktionistischen Individualismus, der auf jede Form von „Introspektion“ verzichtet und das Verhalten der Individuen allein aus einer Änderung der Anreize erklärt (Victor Vanberg, Die zwei Soziologien. Individualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie, Tübingen 1975, S. 81 f.). Zu den Problemen des ökonomischen Nutzenbegriffs siehe Marcel van Ackeren, Zum Verhältnis von Ökonomie und Ethik: Sind Nutzen und Interesse rein ökonomische Handlungsmotive?, Internationale Zeitschrift für Philosophie 14 (2005), S. 39–64. 9 Vgl. George J. Stigler/Gary S. Becker, De Gustibus Non Est Disputandum, American Economic Review 67 (1977), S. 76–90; Manfred Neumann, Artikel „Nutzen“, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften 5 (1980), S. 349–361; Frey, op. cit. (Anm. 7), S. 5.

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Tauschs automatisch zu einem Ausgleich der Interessen auf dem Markt führt und dass vor allem die Schwächsten in einer Gesellschaft durch das von dem Wettbewerb induzierte Wachstum profitieren. In einer Gesellschaft, in der der freie Wettbewerb herrscht, kann selbst „ein Arbeiter der untersten und ärmsten Schicht, sofern er genügsam und fleißig ist, [. . .] sich mehr zum Leben notwendige und angenehme Dinge leisten, als es irgendeinem Angehörigen eines primitiven Volkes möglich ist.“10 Smith und die auf ihm aufbauende liberale Volkswirtschaftslehre gehen davon aus, dass dieses Argument gleichermaßen für die nationale und die internationale Ebene gilt. Die Begründung der Vorteile des Freihandels im Wohlstand der Nationen beruht auf der Analogie zwischen dem Verhalten eines Familienvaters innerhalb einer Volkswirtschaft und dem Verhalten einer Volks- in der Weltwirtschaft. Der rational handelnde Familienvater – so Smith – wird stets die Produkte kaufen, die er selbst nicht billiger herstellen kann, und sich auf die Produktion der Produkte konzentrieren, bei denen er Vorteile gegenüber der Konkurrenz hat: „Ein Familienvater, der weitsichtig handelt, folgt dem Grundsatz, niemals selbst etwas herzustellen zu versuchen, was er sonstwo billiger kaufen kann. So sucht der Schneider, seine Schuhe nicht selbst zu machen, er kauft sie vielmehr vom Schuhmacher. Dieser wiederum wird nicht eigenhändig seine Kleider nähen, sondern lässt sie vom Schneider anfertigen.“11 Die Begründung der Arbeitsteilung und des Tauschs mit absoluten Kostenvorteilen überträgt Smith im nächsten Schritt auf die Ebene des internationalen Handels: „Was aber vernünftig im Verhalten einer einzelnen Familie ist, kann für ein mächtiges Königreich kaum töricht sein. Kann uns also ein anderes Land eine Ware liefern, die wir selbst nicht billiger herzustellen imstande sind, dann ist es für uns einfach vorteilhafter, sie mit einem Teil unserer Erzeugnisse zu kaufen, die wir wiederum günstiger als das Ausland herstellen können. Die Erwerbstätigkeit im ganzen Lande wird mithin genausowenig zurückgehen wie in unserem Beispiel mit den Handwerkern, denn sie steht ja in einem festen Verhältnis zum eingesetzten Kapital und nur seine vorteilhafteste Anlage unterliegt einer freien Wahl.“12 Im internationalen Wettbewerb wird sich somit jedes Land auf die Produktion derjenigen Produkte spezialisieren, die es günstiger als alle anderen Länder herstellen kann; diese Arbeitsteilung kommt im Ergebnis allen beteiligten Ländern zugute, weil sie dazu führt, dass das Kapital am Ort seiner produktivsten Verwendung eingesetzt wird. Da nun der Freihandel für alle 10

Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, München 2003, S. 3 (Vorwort). Smith, Der Wohlstand der Nationen (Anm. 10), S. 371 f. (Abschnitt IV.ii.11 in der „Glasgow-Ausgabe“, Oxford 1976). 12 Smith, Der Wohlstand der Nationen (Anm. 10), S. 372 (IV.ii.12). 11

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Beteiligten von Vorteil ist – und vor allem vorteilhafter ist als der Krieg – fördert er aus der Sicht von Smith nicht nur den Wohlstand der einzelnen Nationen, sondern auch den Frieden zwischen ihnen. Das betont Smith vor allem in seiner Auseinandersetzung mit dem Merkantilismus: Der Versuch, die Position der eigenen Nation im internationalen Handel durch eine Politik der Einfuhrhemmnisse und der Exportförderung zu stärken, führt zu „nationale[m] Hass“ und „merkantile[r] Eifersucht“, die beide Ursache von Krieg sind.13 Der Freihandel hingegen erlaubt es allen Beteiligten, ihre eigenen Gewinninteressen zu verfolgen; dadurch fördern sie wie von einer unsichtbaren Hand geleitet einen Zweck, den zu erfüllen sie in keiner Weise beabsichtigt hatten14 – und zwar nicht nur den des allgemeinen Wohlstands, sondern auch den des Friedens.15 Das Argument, dass der Freihandel für alle Beteiligten vorteilhaft ist, wurde von David Ricardo mit der Theorie der komparativen Kostenvorteile in einem entscheidenden Punkt verfeinert: Die Spezialisierung der Länder im Handel ist nicht nur bei absoluten, sondern auch bei relativen Kostenvorteilen sinnvoll. Angenommen, zwei Länder produzieren je zwei Güter (A und B), und eines der beiden Länder kann beide Güter kostengünstiger produzieren, hat aber bei Gut A einen besonders großen Effizienzvorteil. In dieser Situation ist es für dieses Land effizient, sich auf die Produktion von A zu spezialisieren und das Gut B von dem anderen Land hinzuzukaufen. Maßgeblich ist bei dieser Entscheidung der Effizienzgewinn der inländischen Produktion von A im Vergleich zur inländischen Produktion von B.16 Die volkswirtschaftliche Außenhandelstheorie hat die klassische Theorie der komparativen Kostenvorteile erweitert und modifiziert,17 doch Ricardos Überlegungen sind immer noch grundlegend für das wirtschaftsliberale Verständnis des Handels.18 Sie zeigen nämlich, dass ein Land im internationa13

Smith, Der Wohlstand der Nationen (Anm. 10), S. 409 f. (IV.iii.c.13). Vgl. zu dieser Formulierung: Smith, Der Wohlstand der Nationen (Anm. 10), S. 371 (IV.ii.9). 15 Smith, Der Wohlstand der Nationen (Anm. 10), S. 450 (IV.v.b.39). 16 David Ricardo, The Principles of Political Economy and Taxation, London/ New York 1973, S. 82; siehe auch Alfred Kruse, Geschichte der volkswirtschaftlichen Theorien, 6. Aufl., Berlin 1997, S. 80; Douglas A. Irwin, Against the Tide. An Intellectual History of Free Trade, Princeton 1996, S. 91. 17 Vgl. Wilfried J. Ethier, Moderne Außenwirtschaftstheorie, 2. Aufl., München/ Wien 1991, S. 140–169; Gustav Dieckheuer, Internationale Wirtschaftsbeziehungen, 3. Aufl., München/Wien 1995, S. 58–64; Irwin, op. cit. (Anm. 16), S. 177. 18 Siehe z. B. World Trade Organization (WTO), World Trade Report 2003, Genf 2003 (www.wto.org), S. 86 und 110; UNCTAD, Trade and Development Report 2003, New York/Genf 2003 (www.unctad.org), S. VII. Zur Verteidigung der Theorie der komparativen Kostenvorteile gegen ihre Kritiker siehe Juergen B. Donges/ 14

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len Wettbewerb auch dann erfolgreich sein kann, wenn es kein Gut kostengünstiger als die anderen Länder produzieren kann. Auch wird eine große Ungleichheit zwischen Handelspartnern nicht als Argument gegen die allseitige Vorteilhaftigkeit des Handels gesehen: Wenn Länder ein unterschiedliches Entwicklungsniveau haben, so erlaubt dies allen Seiten, im freien Handel die jeweiligen komparativen Vorteile zu verwirklichen. Die Liberalisierung des Handels ermöglicht damit die Ausschöpfung der Wachstumspotentiale eines Landes und die Hebung des Lebensstandards der Bevölkerung: Der freie Handel fördert das Wachstum und die wirtschaftliche Entwicklung. Im World Trade Report von 2003 hat die Welthandelsorganisation (WTO) diesen Zusammenhang zwischen Handel und Entwicklung zu ihrem Hauptthema gemacht und betont, dass die Öffnung einer Volkswirtschaft für Handel und ausländische Direktinvestitionen den Zufluss von ausländischem Kapital ermöglicht, das für die schnellere Entwicklung der Wachstumspotentiale einer Wirtschaft benötigt wird, und zugleich neue Ideen, Technologien und Kenntnisse in das Land bringt.19 Da die Liberalisierung die wirtschaftliche Entwicklung nur fördert, wenn die Regierung ein positives Investitionsklima schafft, entsteht zudem ein Druck auf die Regierung, gute Wirtschaftspolitik zu betreiben, die Rechtssicherheit zu verbessern und die politische Stabilität sicherzustellen. Zumindest mittelfristig kommt das durch den freien Handel induzierte Wachstum nicht nur den Oberschichten, sondern der gesamten Bevölkerung zugute (sogenannter „trickle-down-Effekt“).20 Dabei ist es aus wirtschaftsliberaler Sicht nicht entscheidend, wie sich die Lage der unteren Bevölkerungsschichten im Vergleich zum Rest der Gesellschaft verändert, sondern dass sie sich im Vergleich zum Zustand vor der Handelsliberalisierung verbessert. Für das Eintreten der positiven Effekte einer Handelsliberalisierung gelten jedoch auch aus wirtschaftsliberaler Sicht zwei wichtige Einschränkungen: Erstens treten sie in der Regel nur mittel- bzw. langfristig ein, während es kurzfristig im Rahmen einer Anpassungsphase zu einer erheblichen Verschlechterung der Lebensbedingungen der unteren Bevölkerungsschichten kommen kann.21 Dabei wird vom Wirtschaftsliberalismus durchgehend vernachlässigt, dass die Verarmung eines Teils der Bevölkerung erhebliche Konsequenzen für die politische Stabilität eines Landes haben kann. Stiglitz Kai Menzel/Philipp Paulus, Globalisierungskritik auf dem Prüfstand. Ein Almanach aus ökonomischer Sicht, Stuttgart 2003, S. 28–33. 19 WTO (Anm. 18), S. 82–113. 20 Zum „trickle-down-Effekt“ siehe auch Donges/Menzel/Paulus (Anm. 18), S. 34. 21 WTO (Anm. 18), S. 109 f.; Donges/Menzel/Paulus (Anm. 18), S. 34.

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wirft der Theorie daher zu Recht vor, dass sie weltfremd sei.22 Zweitens kommen die Vorteile des Freihandels nur zur Geltung, wenn sich alle beteiligten Länder an bestimmte Regeln halten und neben Zöllen auch die nichttarifären Handelshemmnisse abbauen. Es müssen somit auf der internationalen Ebene Regeln und Institutionen geschaffen werden, die die Offenheit der Märkte und die Freiheit des Wettbewerbs sicherstellen, damit tatsächlich alle eine Chance haben, von den Vorzügen des Freihandels zu profitieren. Die friedensfördernde Wirkung des Handels hängt entscheidend von der Qualität dieser Regeln und Institutionen ab, die sicherstellen sollen, dass der Freihandel für alle Seiten von Vorteil ist. Hinsichtlich der Begründung dieser Institutionen und Regeln gilt es nun zwischen zwei Gruppen von Wirtschaftsliberalen zu unterscheiden: Die eine Gruppe beschränkt die Anwendung des ökonomischen Verhaltensmodells auf die Wirtschaft und vertritt darüber hinaus einen politischen Liberalismus, der bei den Bürgern neben dem Eigennutzstreben die gegenseitige Anerkennung als Gleiche als Grundlage für die Respektierung des allgemeinen Charakters des Rechts voraussetzt; diese Gruppe soll hier als „gemäßigte Wirtschaftsliberale“ bezeichnet werden.23 Die andere Gruppe überträgt das ökonomische Verhaltensmodell auf die Politik und erklärt politische Institutionen aus dem nutzenmaximierenden Verhalten der Individuen; diese Gruppe soll hier als „radikale Wirtschaftsliberale“ bzw. „ökonomische Imperialisten“ bezeichnet werden. Mit Blick auf den internationalen Handel sind hier vor allem die Vertreter der Theorie des Systemwettbewerbs interessant, weil sie die Mechanismen des Güterwettbewerbs auf die Ebene der politischen Systeme übertragen und einen allgemeinen Interessenausgleich als Ergebnis des Systemwettbewerbs voraussagen. III. Das (radikal-)wirtschaftsliberale Argument (2): Ökonomische Erklärung der politischen Rahmenordnung des Freihandels Die Theorie des Systemwettbewerbs geht davon aus, dass die demokratische Kontrolle von Regierungen mangelhaft funktioniert und es einer ergänzenden Kontrolle durch den internationalen Wettbewerb um Arbeitskräfte, Finanzkapital und Investitionen bedarf. Die politischen Akteure wie Gemeinden, Regionen und Nationalstaaten werden in diesem Ansatz als Anbieter von Kombinationen öffentlicher Güter zu einem bestimmten Preis 22

Joseph Stiglitz, Die Schatten der Globalisierung, Berlin 2002, S. 51. Ein bekanntes Beispiel eines Wirtschaftsliberalen, der dem politischen Liberalismus nahesteht, ist Walter Eucken (Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1990). Zum politischen Liberalismus siehe unten, Abschnitt VI. 23

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verstanden („Steuer-Leistungs-Pakete“24). Diese Akteure bieten öffentliche Güter wie ein Club an: Jedes Mitglied kann die Güter frei nutzen, ist im Rahmen der Satzung des Clubs an der Wahl des Club-Managements (Regierung) und an Entscheidungen über die Produktion von Clubgütern beteiligt und muss als Gegenleistung einen Mitgliedsbeitrag bzw. bestimmte Gebühren entrichten.25 Die Clubs bieten ihre Leistungen im Wettbewerb um möglichst zahlungskräftige Mitglieder an, was sich positiv auf die Effizienz der Produktion und die Qualität des Angebots auswirkt. Als Beispiel für die Theorie des Systemwettbewerbs soll hier der Ansatz von Wolfgang Kerber skizziert werden,26 der sich mit den Bedingungen der Funktionsfähigkeit eines globalen Systemwettbewerbs auseinandersetzt. Kerber unterscheidet in seinem Ansatz zwischen der Produktion öffentlicher Güter, die in privatrechtlichen Beziehungen stattfindet (ebd., S. 225), und den „notwendigen Regeln für die Lösung von kollektiven Problemen“, insbesondere die Sicherung der Eigentumsrechte und der Vertragsfreiheit, bei denen die „Rechtssubjekte in einem Unterordnungsverhältnis gegenüber einer Instanz (Staat)“ stehen (ebd., S. 222). Der Wettbewerb zwischen den politischen Systemen beruht auf der Mobilität der Bürger (genauer: der Clubmitglieder), die unter den „Clubs“ denjenigen wählen, der ihren Präferenzen am ehesten entspricht. Dieser Wettbewerb führt zu einem allgemeinen Interessenausgleich, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: – Die Mobilität der Bürger muss sichergestellt werden; dazu ist es erforderlich, die Kosten der Mobilität zu senken, indem eine möglichst dezentrale politische Struktur geschaffen wird (ebd., S. 213). – Anreize zum sogenannten „Rosinenpicken“ müssen möglichst weitgehend reduziert werden. Eine hohe Mobilität der Bürger birgt die Gefahr, dass sie nicht bereit sind, sich in einem politischen System an Investitionen in Infrastruktur oder Bildung zu beteiligen, die vor allem einen langfristigen Nutzen haben. Um einen Anreiz zu schaffen, sich an solchen Investitionen zu beteiligen, schlägt Kerber „die Schaffung von Märkten für handelbare Clubmitgliedschaften (‚Staatsbürgerschaften‘)“ (ebd., S. 217) vor: Die Bürger müssen beim Zuzug in ein politisches System eine Art „Eintrittspreis“ (S. 216) bezahlen, der als „Beitrag für den in der Vergangenheit aufgebauten kollektiven Kapitalbestand“ zu verstehen ist. Wenn die 24 Wolfgang Kerber, Zum Problem einer Wettbewerbsordnung für den Systemwettbewerb, Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 17 (1998), S 199–230, hier: S. 200. 25 Grundlegend zur Theorie der Produktion von Clubgütern: James M. Buchanan, An Economic Theory of Clubs, Economica 32 (1965), S. 1–14. 26 Kerber (Anm. 24). Ein weiterer bekannter Vertreter dieses Ansatzes ist Bruno S. Frey, Ein neuer Föderalismus für Europa: Die Idee der FOCJ, Tübingen 1997.

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mit dem Eintrittspreis erworbene Mitgliedschaft handelbar ist, haben die Bürger einen Anreiz, für die Produktion öffentlicher Güter zu stimmen, die langfristig den Wert des politischen Systems steigern. – Wettbewerbsbeschränkendes Verhalten der politischen Akteure muss unterbunden werden. Bei einem lebhaften Wettbewerb der politischen Systeme besteht die Gefahr, dass die politischen Akteure versuchen, den Wettbewerb durch eine Reduktion der Mobilität der Bürger oder durch eine Kartellbildung mit anderen Systemen zu beschränken. Deshalb bedarf es analog zur Wettbewerbspolitik auf Gütermärkten einer unabhängigen Behörde, die im Falle von Wettbewerbsbeschränkungen eingreift und die Freiheit des Wettbewerbs sichert (ebd., S. 212). Aus Kerbers Sicht könnte die WTO langfristig zu einer solchen Institution umgebaut werden (ebd., S. 223 f.). Wenn diese drei Voraussetzungen erfüllt sind, führt der Systemwettbewerb zur Herausbildung von politischen Institutionen, die den Individuen eine optimale Verfolgung ihres individuellen Nutzens ermöglichen und einen allseitigen Interessenausgleich fördern. Kerber geht auf den Zusammenhang von Handel und Frieden zwar nicht direkt ein, aber er setzt fraglos voraus, dass es in der von ihm beschriebenen Form des Systemwettbewerbs keinen Anreiz zu kriegerischem Handeln gibt. Diese Konzeption eines globalen Systemwettbewerbs beruht auf Buchanans Unterscheidung des Rechtsschutz- und des Leistungsstaates.27 Buchanan zufolge besteht die oberste Aufgabe des Staates im Schutz der Eigentumsrechte. Im rechtlosen Naturzustand müssen die Individuen hohe Verteidigungsaufwendungen aufbringen; zur Vermeidung dieser Aufwendungen sichern sie sich im Gesellschaftsvertrag gegenseitig die Anerkennung der Rechte an ihrem jeweiligen Besitz zu und schaffen Institutionen, die mit der Durchsetzung dieser Rechte beauftragt werden. Dieser „Rechtsschutzstaat“ („protective state“) ist die Grundlage für alle postkonstitutionellen Verträge, bei denen es sich zum einen um individuelle Tauschverträge handelt, und zum anderen um kollektive Vereinbarungen über die Produktion öffentlicher Güter. Öffentliche Güter zeichnen sich durch die Nichtausschließbarkeit von der Nutzung aus, was zu dem sogenannten Trittbrettfahrerproblem führt, das Privaten den Anreiz nimmt, diese Güter auf dem Markt anzubieten.28 Deshalb bedarf es für die Bereitstellung öffentlicher Güter institutionalisierter Verfahren der kollektiven Entscheidungsfindung; 27 James M. Buchanan, Grenzen der Freiheit. Zwischen Anarchie und Leviathan, Tübingen 1984. 28 Buchanan, op. cit. (Anm. 27), Kapitel 3 (insb. S. 51–54). Genau genommen ist ein öffentliches Gut in der ökonomischen Theorie durch zwei Merkmale definiert: zur Nichtausschließbarkeit kommt der nichtrivalisierende Konsum hinzu.

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diese Verfahren und die entsprechenden Institutionen nennt Buchanan den Leistungsstaat („productive state“). In Kerbers Verständnis sollen nun die Aufgaben des Rechtsschutzstaates weiterhin hoheitliche Aufgaben sein, bei denen der Bürger in einem Unterordnungsverhältnis zum Staat steht, während der Leistungsstaat Dienstleistungen anbietet, die der Bürger in „privatrechtlichen Beziehungen“ als Konsument nutzt.29 Genaugenommen wird aber die Unterscheidung von Rechtsschutz- und Leistungsstaat im Systemwettbewerb aufgehoben: Aufgrund der Mobilität der Bürger wird die Sicherung der Eigentumsrechte auch zu einer Dienstleistung, die von den Staaten in unterschiedlicher Qualität angeboten wird und die für die Standortentscheidung ausschlaggebend sein kann. Das klassische Modell der Legitimation hoheitlicher Funktionen durch rechtsstaatliche Prinzipien (Verfassung) und demokratische Partizipationsrechte („voice“) wird im Systemwettbewerb sukzessive durch das Prinzip „exit“ ersetzt30: Jeder, der hinreichend mobil ist, fragt das Niveau an Rechtssicherheit nach, das seinen Präferenzen entspricht.31 Die gravierenden Konsequenzen zeigen sich mit besonderer Deutlichkeit im Fall der Bedrohung des Staates durch äußere Angriffe oder durch politische Instabilität. In diesen Fällen werden die Individuen den Vertragspartner wechseln; eine Bereitschaft, sich für die Zukunft eines Dienstleistungsanbieters einzusetzen, wird man von nutzenmaximierenden Individuen nicht erwarten können – zumindest nicht, solange sie sich die Mobilität leisten können und nicht in die Abhängigkeit eines einzelnen Anbieters geraten. Die Gefahr der Abhängigkeit der Individuen von einzelnen Anbietern führt zu einem weiteren Problem. Der globale Systemwettbewerb setzt offensichtlich eine machtvolle internationale Organisation voraus, die Praktiken des Behinderungswettbewerbs und Tendenzen zur Vermachtung durch Zusammenschlüsse einzelner Clubgüterproduzenten (also Staaten) verhindert. Diese Organisation muss über die Befugnisse eines Schiedsrichters hinaus die Möglichkeit zur Durchsetzung ihrer Entscheidungen haben. Da 29

Kerber (Anm. 24), S. 225. Zur Unterscheidung der Konzepte „exit“ und „voice“ siehe Albert O Hirschman, Abwanderung und Widerspruch. Reaktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmungen, Organisationen und Staaten, Tübingen 2004. 31 Das ist nicht automatisch ein hohes Niveau der Sicherung von Eigentumsrechten: Individuen, die den Schutz ihres Eigentums aus eigenen Mitteln sichern können, haben teilweise ein Interesse an einem mangelhaft funktionierenden Rechtsschutzstaat (z. B. Angehörige oligarchischer Gruppen oder Mafia-ähnlicher Organisationen). Den globalen Systemwettbewerb nutzen solche Individuen, indem sie sich zunächst in einem Staat mit einem schwachen Rechtsschutzstaat (z. B. Russland) bereichern und dann mit ihrem Vermögen in ein Land mit hohem Schutzniveau absetzen (z. B. Spanien oder Großbritannien). 30

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nun auf der Ebene der Einzelstaaten die Politik vollständig durch den Mechanismus der Abwanderung und nicht mehr durch die Partizipation gestaltet wird, müsste eine wirksame Kontrolle dieser Organisation durch demokratische partizipative Strukturen erfolgen, die ohne lokale Verwurzelung allein auf der globalen Ebene existieren – was völlig unrealistisch ist. Der Systemwettbewerb des radikalen Wirtschaftsliberalismus führt somit zur Auflösung des Staates mit der Konsequenz, dass die Individuen auf der lokalen bzw. regionalen Ebene nur noch einzelnen Dienstleistungsanbietern gegenüberstehen, und gleichzeitig auf der globalen Ebene einer unkontrollierten autokratischen Behörde ausgeliefert sind. Aus der Sicht des Realismus führt diese Konzeption internationaler Politik nicht zu einer Friedensordnung, sondern zu einem hohen Maß an Unsicherheit. Die wirtschaftsliberale Vorstellung eines globalen Ausgleichs individueller Interessen im Systemwettbewerb hält der Realismus für unrealistisch, weil er die entscheidende Aufgabe der Politik verkennt: mit politischer Macht dem Recht zur Durchsetzung zu verhelfen. IV. Realismus: Handel setzt Sicherheit voraus Die Kritik der wirtschaftsliberalen Überzeugung, dass Handel Frieden schafft, ist so alt wie der Liberalismus selbst. Sie richtet sich im Kern gegen Smith’ These, dass Volkswirtschaften sich in der gleichen Weise spezialisieren wie dies die einzelnen Individuen innerhalb eines Staates tun. Friedrich List reagiert in seinem „Nationalen System der politischen Ökonomie“ direkt auf das oben (Abschnitt II) angeführte Zitat aus dem Wohlstand der Nationen: „Nein! in der Nationalökonomie kann Weisheit sein, was in der Privatökonomie Torheit wäre, und umgekehrt, aus dem ganz einfachen Grunde, weil ein Schneider keine Nation und eine Nation kein Schneider ist; weil eine Familie etwas ganz anderes ist als ein Verein von Millionen Familien, ein Haus etwas ganz anderes als ein großes Nationalterritorium.“32 Die Varianten des Realismus zeichnen sich alle dadurch aus, dass sie auf der staatlichen Ebene ein anderes (nämlich politisches) Kalkül der Vor- und Nachteile internationaler Kooperation und Spezialisierung unterstellen; sie unterscheiden sich jedoch in der Benennung des Unterschieds zwischen dem politischen und dem ökonomischen Kalkül. Nach List dient die Ökonomie auf der privaten Ebene vornehmlich der Erwirtschaftung materiellen Reichtums, während sie auf der nationalen Ebene die Förderung des „Natio32 Friedrich List, Das nationale System der politischen Ökonomie, Tübingen/Basel 1959, S. 168.

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nalreichtum[s]“ zum Ziel hat, der mehr ist als „das Aggregat des Reichtums aller Individuen“ und in der Summe der produktiven Kräfte besteht.33 Die produktiven Kräfte bestehen wesentlich in geistigen Tätigkeiten, insbesondere „Unterricht und Religiosität, Wissenschaft und Kunst“.34 Während Lists Verständnis der produktiven Kräfte der Nation deutliche Einflüsse des deutschen Idealismus aufweist, wurde er in seiner Betonung des Unterschieds zwischen der einzel- und der volkswirtschaftlichen Ebene maßgeblich von Alexander Hamilton beeinflusst, dessen Schriften er während seines Exils in den Vereinigten Staaten kennengelernt hatte.35 Hamilton trat in der Gründungsphase der Vereinigten Staaten als dezidierter Gegner der Freihandelsdoktrin auf, in der er ein rhetorisches Instrument der Briten sah, die damit die Abhängigkeit Amerikas von der europäischen Industrie aufrechterhalten wollten. In seinem Report on the Subject of Manufactures36 wendet er sich mit zwei Argumenten gegen den Wirtschaftsliberalismus: – Erstens halten die Europäer sich selbst nicht an die Regeln des freien Wettbewerbs, sondern betreiben eine merkantilistische Politik und verfolgen „the vain project of selling every thing and buying nothing“ (ebd., S. 258, Hervorhebung im Original); deshalb haben die Vereinigten Staaten keine andere Wahl, als ihrerseits protektionistische Maßnahmen zu ergreifen. – Zweitens wäre der Freihandel auch dann von Nachteil für die heimische Industrie, wenn die Europäer sich an die Regeln des freien Wettbewerbs halten würden, weil die europäische Wirtschaft weiter entwickelt ist; die Europäer, allen voran Großbritannien, exportierten vor allem Manufakturprodukte, während die Wirtschaft der Vereinigten Staaten noch stark landwirtschaftlich geprägt war (ebd., S. 241). Aus diesen Gründen befürwortet Hamilton eine Wirtschaftspolitik, die von dem Grundsatz geleitet wird, ein „incitement and patronage of the 33

Ebd., S. 171. Ebd., S. 147. 35 Zum Einfluss von Hamilton auf List siehe: Karl Häuser, Friedrich List (1789–1846), in: Joachim Starbatty (Hg.), Klassiker des ökonomischen Denkens, Band I: Von Platon bis John Stuart Mill, München 1989, S. 225–244; Robert Gilpin, Global Political Economy. Understanding the International Economic Order, Princeton 2001, S. 201. 36 Alexander Hamilton, Report on the Subject of Manufactures (1791), in: H. C. Syrett/J. E. Cooke (Hg.), The Papers of Alexander Hamilton, Bd. X: December 1791 – January 1792, New York/London 1966, S. 230–340 [in Auszügen abgedruckt in: C. R. Goddard/J. T. Passé-Smith/J. G. Conklin (Hg.), International Political Economy. State-Market Relations in the Changing Global Order, Boulder/London 1996, S. 75–88]. 34

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government“ für Schlüsselindustrien (vor allem die Rüstungsindustrie) zu errichten (ebd., S. 267). Die These, dass Handel Frieden schaffen würde, lehnt er aber nicht nur unter den Bedingungen wirtschaftlich ungleicher Partner ab, sondern aus prinzipiellen Gründen. In den Federalist Papers wendet er sich vehement gegen die Auffassung, der Handel „glätte die Sitten der Menschen und wirke beruhigend auf jene leicht entflammbaren Temperamente, durch die so oft Krieg entfacht wurde“.37 Vielmehr bewirke der Handel nichts anderes „als eine Änderung der Ziele des Krieges“: „Ist nicht das Streben nach Reichtum eine ebenso beherrschende und anspornende Leidenschaft wie das Streben nach Macht oder Ruhm? Sind nicht ebensoviele Kriege aus kommerziellen Gründen entbrannt, seitdem diese zum Leitmotiv der Völker wurden, wie vorher durch die Gier nach Landgewinn oder Ausweitung der Herrschaft verursacht wurden? Hat der Handelsgeist nicht sogar in vielen Fällen dem Verlangen nach beidem neue Antriebe gegeben?“38 Hamilton argumentiert hier ganz im Sinne des Realismus in der Internationalen Politik, der in der Mitte des vorigen Jahrhunderts maßgeblich von Hans Morgenthau begründet wurde und der die Möglichkeit von Handelsbeziehungen zum beiderseitigen Vorteil davon abhängig macht, dass in der Außenpolitik mit politischer Macht Sicherheitsstrukturen geschaffen werden, die der Handel nicht selbst hervorbringen kann.39 Der Realismus geht allgemein davon aus, dass es in den internationalen Beziehungen aufgrund des Fehlens einer allgemein anerkannten Zwangsgewalt keine verbindlichen Regeln geben kann, so dass man sich in einer Situation der Anarchie befindet. In der Anarchie ist kooperatives Verhalten nur begrenzt möglich: Jeder Staat rechnet stets mit dem Machtstreben anderer Staaten und räumt dem Streben nach Sicherheit und Macht höchste Priorität ein. Damit wird das von den Liberalen betonte Motiv des Strebens nach Wohlstand durch Förderung des Handels nicht grundsätzlich ausgeschlossen, doch die Realisten betonen, dass ökonomische Interessen den Sicherheitsinteressen des Staates untergeordnet werden und der internationale Handel auf Rahmenbedingungen angewiesen ist, die von der Politik geschaffen werden. Die Schaffung dieser Rahmenbedingungen kann wegen der Gefahr des Trittbrettfahrerver37 Alexander Hamilton/James Madison/John Jay, Die Federalist Papers, übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Barbara Zehnpfennig, Darmstadt 1993, Nr. 6, S. 74 (neue Aufl.: München 2007). 38 Ebd., S. 75. 39 Hans Joachim Morgenthau/Kenneth W. Thompson, Politics among Nations. The Struggle for Power and Peace, 6. Aufl., New York 1985. Die Unterscheidung von Realismus und Neorealismus wird im Folgenden vernachlässigt; siehe dazu: Ulrich Menzel, Zwischen Idealismus und Realismus. Die Lehre von den Internationalen Beziehungen, Frankfurt a. M. 2001, S. 91–162.

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haltens nicht einfach das Ergebnis einer freiwilligen Kooperation zwischen Staaten sein; vielmehr erfordert sie in der Regel die gestaltende Macht eines Hegemons.40 Aus dem Machtstreben der Staaten und der prinzipiellen Unüberwindbarkeit der Anarchie ergeben sich die weiteren zentralen Merkmale des Realismus:41 (1) völkerrechtliche Normen gelten nur, solange Staaten die Macht und das Interesse haben, sie durchzusetzen; (2) Staaten sind als Garanten der Sicherheit die entscheidenden Akteure in den internationalen Beziehungen; (3) internationale Beziehungen sind ein Nullsummenspiel, weil Macht (als das oberste Ziel der Außenpolitik im Realismus) und Sicherheit (als das oberste Ziel der Außenpolitik im Neorealismus) nur auf Kosten anderer Staaten gewonnen werden können und allseitig vorteilhafte Kooperationen somit nicht möglich sind.42 Mit der Annahme des Macht- bzw. Sicherheitsstrebens der Staaten plädiert der Realismus nicht für ein maßloses Machtstreben in der Außenpolitik: Politik ist zwar vom Machtkampf geprägt, dient aber am Ende dem Zweck, Sicherheit (auch Rechtssicherheit) durchzusetzen. Das Machtstreben in der Außenpolitik ist somit nicht Selbstzweck, sondern dient höheren Zielen. Dieses Politikverständnis steht in der Tradition von Thomas Hobbes, der sich ebenso wie der Realismus dezidiert gegen ein machiavellistisches Verständnis von Politik wendet. Hobbes sieht in der Neigung der Menschen zum Machtkampf ein Problem und lehnt die Bejahung des Machtkampfes, die bei Machiavelli zum Ausdruck kommt, ab.43 Machiavelli wird zwar von 40 Zur Theorie hegemonialer Stabilität vgl. z. B. Robert O. Keohane, After Hegemony. Cooperation and Discord in the World Political Economy, Princeton 1984, S. 31–46. 41 Für eine Darstellung des Realismus siehe Robert Jervis, Realism in the Study of World Politics, International Organization Bd. 52 (1998), S. 971–991; Werner Link, Hegemonie und Gleichgewicht der Macht, in: Mir A. Ferdowsi (Hg.), Internationale Politik im 21. Jahrhundert, München 2002, S. 33–51. 42 Innerhalb des Paradigmas des Realismus wird zwischen dem traditionellen und dem Neorealismus unterschieden. Dieser Unterschied ist vor allem methodischer Natur und hängt mit der Debatte zwischen Traditionalismus und Szientismus zusammen; vgl. Ulrich Menzel, Zwischen Idealismus und Realismus (Anm. 39), S. 44. Der traditionelle Realismus geht von anthropologischen Annahmen aus, insbesondere der Annahme des Strebens nach Macht (akteurszentrierter Ansatz). Der Neorealismus hingegen setzt am internationalen System an und versteht das Verhalten der Akteure als Resultat systemischer Zwänge (strukturzentrierter Ansatz). Die Differenz zum traditionellen Realismus darf jedoch nicht überbewertet werden, denn auch die systemische Begründung von Konflikten beruht auf der Verhaltensannahme, dass Menschen und Staaten stets das Machtstreben anderer Menschen und Staaten fürchten müssen. In der Kernaussage, dass die internationale Politik von einer unüberwindbaren Anarchie gekennzeichnet ist, in der die Staaten nach Sicherheit und Macht streben, stimmen die beiden Theorien im wesentlichen überein.

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Hobbes an keiner Stelle namentlich erwähnt, ist aber der Sache nach an verschiedenen Stellen als Gegenposition präsent. Denn Hobbes geht anders als Machiavelli im „Principe“ gerade nicht davon aus, dass der im Leviathan herrschende Souverän der Stärkere ist, der aufgrund herausragender persönlicher Eigenschaften als „uomo virtuoso“ den „Pöbel“ unterwirft.44 Ihm geht es nicht um die Analyse von Techniken der Selbstdurchsetzung im politischen Machtkampf, sondern um die Errichtung einer politischen Ordnung, die den Machtkampf domestiziert. Hobbes lehnt damit wie Morgenthau die Reduktion von Politik auf das Recht des Stärkeren ab.45 Der Unterschied zwischen dem Realismus und dem Machiavellismus bzw. zwischen Hobbes und Machiavelli liegt in der Betonung der grundsätzlichen Gleichheit der Menschen bei Hobbes und der Annahme ihrer Ungleichheit bei Machiavelli. Hobbes schließt aus der Gleichheit der physischen und geistigen Fähigkeiten der Menschen auf einen Kampf aller gegen alle im Naturzustand.46 Die Folge des Kampfes aller gegen alle ist die Gleichheit der Todesfurcht: alle Menschen müssen im Naturzustand ständig fürchten, von einem Konkurrenten angegriffen zu werden. Das wirkt auch auf den Gesellschaftszustand zurück, denn der Souverän ist sich der Gefahr eines Rückfalls in die Anarchie bewusst; aus diesem Grund kann Hobbes davon ausgehen, dass der Souverän trotz seiner absolutistischen Machtfülle verantwortungsbewusst mit der Macht umgeht. Das wird an zwei Stellen im Leviathan deutlich: – Hobbes geht davon aus, dass der Souverän trotz seiner Machtfülle das Staatsziel der Durchsetzung von Sicherheit im Auge behält. Er lehnt u. a. die Vorstellung ab, dass der Souverän Versprechen nach Belieben brechen kann (wie Machiavelli es im Principe befürwortet, Kap. XVIII) und kritisiert die Lehre, dass erfolgreiche Verschlagenheit Tugend sei, mit dem Argument, dass ein verschlagener Souverän Rebellionen provoziert, die zum Rückfall in der Naturzustand führen können.47 43 Vgl. Vickie B. Sullivan, Machiavelli, Hobbes, and the Formation of a Liberal Republicanism in England, Cambridge 2004, S. 81: „The battles that thrill Machiavelli repel Hobbes.“ 44 So die Formulierungen von Niccolò Machiavelli, Il Principe – Der Fürst, Stuttgart 1986, S. 50 (Kapitel VII, „uomo virtuoso“), S. 140 (Kapitel XVIII, „il vulgo“). 45 Um das Ziel der Selbstdurchsetzung geht es Machiavelli auch in den Discorsi (Stuttgart 1977), die regelmäßig als Beleg für seine republikanische Gesinnung herangezogen werden. Dort lobt Machiavelli zwar die Freiheit, aber nur, weil sie die Fähigkeit eines Staates zur Selbstdurchsetzung im internationalen Machtkampf fördert; die Selbstdurchsetzung ist in den Discorsi und im Principe das letzte Ziel. 46 Thomas Hobbes, Leviathan, Frankfurt a. M. 1966, S. 94 (Kapitel XIII). 47 Ebd., S. 111 f. (Kapitel XV).

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– Auf der Ebene der internationalen Politik liegt es aus der Sicht von Hobbes im wohlverstandenen Eigeninteresse der Staaten, mit dem Instrument der Selbstverteidigung maßvoll umzugehen. Das maßlose Streben nach Ruhm und Expansion ruft die Gegenwehr der anderen Staaten hervor und führt langfristig ins Verderben.48 Diese Stellen, an denen Hobbes sich von Positionen abgrenzt, die unter der Annahme einer wesentlichen Ungleichheit der Menschen die Selbstdurchsetzung des Stärkeren befürworten, verdeutlichen, dass es zwei politische Theorien des Machtkampfes gibt: die eine, die in der Tradition von Machiavelli – oder präziser: in der Tradition griechischer Sophisten wie Kallikles und Thrasymachos – den Machtkampf offen bejaht (tyrannische Position), und die andere, die in der Tradition von Hobbes den Machtkampf wegen seiner unangenehmen Konsequenzen fürchtet und die Aufgabe der Politik in seiner Domestizierung sieht. Der (Neo-)Realismus knüpft an dem zweiten Verständnis des Machtkampfes an und steht damit methodisch dem Wirtschaftsliberalismus nahe, weil er davon ausgeht, dass die politischen Akteure grundsätzlich die Kooperation (d.h. die Vermeidung des Machtkampfes) bevorzugen; im Unterschied zum Wirtschaftsliberalismus ist er aber hinsichtlich deren Realisierbarkeit skeptisch. V. Anreiz und Abschreckung – Vergleich des Realismus und des Wirtschaftsliberalismus In den vorherigen Abschnitten wurde gezeigt, dass die Frage, ob zwischenstaatlicher Handel den Frieden fördert, vom Wirtschaftsliberalismus und vom Realismus konträr beantwortet wird: Der Wirtschaftsliberalismus geht davon aus, dass die Individuen die Vorteilhaftigkeit allseitiger Kooperation erkennen und die potentiellen Gewinne des Freihandels ein Anreiz sind, sich friedlich zu verhalten. Die Anwendung von Gewalt ist aus dieser Sicht eine Frage der Opportunitätskosten: Je höher die Gewinnmöglichkeiten kooperativen Verhaltens, desto unwahrscheinlicher wird der Rückgriff auf das Mittel der kriegerischen Auseinandersetzung. Die Gewinnmöglichkeiten wiederum hängen vom Grad der Freiheit ab: Der freie Wettbewerb gibt aus wirtschaftsliberaler Sicht jedem die Chance, am Wohlstand zu partizipieren, und verbessert – zumindest langfristig – auch die wirtschaftliche Lage der sozial Schwachen. Aus Sicht des Realismus hingegen sind Sicherheit und Frieden nicht Folge des freien Handels, sondern dessen Vorausset48 Thomes Hobbes, De Corpore Politico. Or: The Elements of Law, Moral and Politic, in: Hobbes’ Tripos in Three Discourses. The English Works of Thomas Hobbes Bd. IV, hg. von William Molesworth, Aalen 1962, Reprint der Ausgabe von 1840, S. 219 f. (Second Part, IX.9).

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zung. Sicherheit wird entweder durch ein Machtgleichgewicht der betreffenden Staaten oder durch einen benevolenten Hegemon geschaffen; internationale Wirtschaftsbeziehungen sind immer in politische Beziehungen eingebettet und stellen zudem wegen der mit dem Handel verbundenen Rivalität stets ein Konfliktpotential dar. Zusammengefasst postuliert also der Wirtschaftsliberalismus die Förderung des Friedens durch die positiven Anreize des Handels, während der Realismus die Gefährdung der Sicherheit durch den Handel betont und Sicherheit als Ergebnis negativer Anreize durch Abschreckung versteht. Die gegensätzliche Einschätzung des Verhältnisses von Handel und Frieden ist – wie eingangs bereits bemerkt wurde – um so erklärungsbedürftiger, als der Wirtschaftsliberalismus und der (Neo-)Realismus beide von dem Verhaltensmodell des Rational-Choice-Ansatzes ausgehen, demzufolge alle sozialen und politischen Phänomene auf individuelle Kosten-NutzenKalküle zurückzuführen sind, mit denen die Akteure nach der Maximierung ihrer individuellen Vorteile streben. Die politische Ordnung wird sowohl im Wirtschaftsliberalismus als auch im Realismus ausschließlich durch äußere Anreize hergestellt und aufrechterhalten: Gesetze werden nur beachtet und Verträge zwischen Individuen nur eingehalten, wenn es entsprechende positive oder negative Anreize gibt. Der Grund für die unterschiedliche Einschätzung der internationalen Beziehungen liegt in der Deutung des Kosten-Nutzen-Kalküls. Im Realismus wird davon ausgegangen, dass das dominierende Ziel der Akteure ihre Sorge um das Überleben ist: Individuen sorgen sich im Naturzustand um ihr physisches und im Gesellschaftszustand um ihr soziales Überleben (d.h. die Sicherung des sozialen Status); Staaten sorgen sich in den internationalen Beziehungen um ihre Existenz und ihre Unabhängigkeit, die die Grundlage ihrer Souveränität ist. Das „realistische“ Vorteilskalkül zielt somit auf den Erhalt oder die Verbesserung der eigenen Positionen eines Akteurs im Verhältnis zur Position konkurrierender Akteure. Wirtschaftlicher Wohlstand wird als ein Mittel zur Sicherung der eigenen Position gesehen, während er aus wirtschaftsliberaler Sicht um des spezifischen Nutzens der Güter willen angestrebt wird. Im wirtschaftsliberalen Vorteilskalkül zielen die Akteure auf eine Verbesserung ihrer Position im Vergleich zur Ausgangslage; sie wollen mehr Nutzen als vorher, statt mehr Macht bzw. Sicherheit im Vergleich zu anderen. Der Unterschied zwischen den beiden Deutungen des Vorteilskalküls lässt sich an einem einfachen Beispiel verdeutlichen: Wenn es um den Erwerb der Verfügungsrechte über eine Rohstoffquelle geht, fragt der Wirtschaftsliberalismus nach den wirtschaftlichen Vorteilen der verschiedenen Akteure. Wenn z. B. ein westeuropäisches Unternehmen Erdgasvorkommen in Russ-

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land erschließt, dann sind für die Analyse der Entscheidungen der Akteure die Gewinne des Unternehmens, die Vorteile Russlands (z. B. durch Technologietransfer) und die Vorteile der westeuropäischen Staaten, in die das Erdgas geliefert wird, relevant. Aus Sicht des Realismus vernachlässigt eine solche Konzentration auf ökonomische Interessen die Bedeutung der politischen Abhängigkeit. Die Entscheidungen der Akteure werden von der Frage geleitet, wie die wirtschaftliche Transaktion die Abhängigkeitsbeziehungen verändert; relevante Faktoren sind dabei z. B. die Sicherheit der Investitionen westlicher Unternehmen in Russland, die Abhängigkeit Russlands von ausländischer Technologie und die Abhängigkeit der westeuropäischen Länder von der langfristigen Bereitschaft Russlands zu zuverlässigen Erdgaslieferungen. Aus den Unterschieden in der Deutung des Vorteilskalküls ergeben sich die konträren Einschätzungen der Möglichkeit eines Interessenausgleichs und der Förderung des Friedens durch Handel. Wenn die Akteure darauf zielen, einen Vorteil gegenüber anderen zu erringen, dann sind sie als Individuen im ursprünglichen Naturzustand und als Staaten in den internationalen Beziehungen unmittelbare Konkurrenten: Solange es in der Anarchie keine Herrschaftsstrukturen gibt, die der Durchsetzung von Sicherheit dienen, gereicht der Vorteil des einen automatisch zum Nachteil des anderen Akteurs. Streben die Akteure hingegen nach ökonomischen Vorteilen, so ist der andere nur mittelbar ein Konkurrent: Eine Konkurrenzbeziehung ergibt sich, wenn mehrere nach demselben (nicht teilbaren) Gut streben. Grundsätzlich gibt es zwischen nutzenmaximierenden Individuen die Möglichkeit eines Ausgleichs durch Vereinbarungen, die alle Seiten besserstellen, während die Interaktionen beim Streben nach Macht bzw. Sicherheit Nullsummenspiele sind. Beide Perspektiven beanspruchen, der jeweils anderen überlegen zu sein. Aus Sicht des Wirtschaftsliberalismus genügt den Individuen die Sicherheit als Ziel nicht; vielmehr streben sie nach der Freiheit, ihren individuellen Nutzen zu maximieren. Das Streben nach Freiheit schließt ein gewisses Maß an Sicherheit mit ein, ist aber ein umfassenderes Ziel. Der Realismus hingegen hält diese Sicht für naiv, weil sie die Rückwirkung der Ausstattung mit ökonomischen Ressourcen auf politische Machtrelationen vernachlässigt. Der Wirtschaftsliberalismus beansprucht also ein aufgeklärtes Verständnis des Eigennutzstrebens, der Realismus hingegen beansprucht, die internationale Politik so zu beschreiben, wie sie ist: geprägt von Machtkämpfen. Tatsächlich erweisen sich jedoch beide Sichtweisen als problematisch, und zwar zunächst aus dem rein formalen Grund, dass sie zu einer Auflösung der Differenz von Politik und Ökonomie führen. Im radikalen Wirt-

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schaftsliberalismus erfolgt eine vollständige Ökonomisierung der Politik, indem in der Konsequenz auch die hoheitlichen Funktionen des Staates zu Dienstleistungen reduziert werden. Der Realismus hingegen führt zu einer völligen Politisierung der internationalen Ökonomie, weil Handel und internationale Investitionen stets nach ihrer Wirkung auf die relative Machtposition der betreffenden Staaten beurteilt werden. Beide Vereinseitigungen – die Ökonomisierung der Politik und die Politisierung der Ökonomie – sind in sich widersprüchlich, weil ihre Ergebnisse – Kooperation bzw. Machtgleichgewicht – sich nicht aus den Annahmen des Rational-Choice-Verhaltensmodells erklären lassen. Der Wirtschaftsliberalismus unterstellt, dass die freiheitliche Rahmenordnung, die der Handel benötigt, um seine postulierten Vorzüge zu entfalten, aus individuellen Kosten-Nutzen-Kalkülen entsteht; das ist jedoch aus drei Gründen nicht plausibel: (a) Wenn Individuen allein eigennutzorientiert handeln, hat niemand einen Anreiz, eine solche Rahmenordnung zu etablieren. Auch Autoren, die den ökonomischen Imperialismus vertreten, gehen deshalb davon aus, dass die Errichtung der Rahmenordnung eine besondere Verantwortlichkeit der Akteure voraussetzt.49 Damit wird im Grundsatz eingestanden, dass sich mit dem „homo oeconomicus“ kein Staat machen lässt. (b) Ein ähnliches Problem tritt bei der Durchsetzung von Verfassungsregeln und Gesetzen auf. Verwaltungsbeamte, Polizisten und Richter dürfen nicht so eigennützig sein, dass sie allein aufgrund eines Kosten-NutzenKalküls ihrer Aufgabe nachkommen: Wenn Richter nur solange nicht korrupt sind, wie sie fürchten, dass ihre Korruption nicht entdeckt wird, ist es um den Rechtsstaat schlecht bestellt. (c) Schließlich erfordert ein umfassendes Anreizsystem eine ständige gegenseitige Kontrolle und Evaluation, die mit dem Ziel einer freiheitlichen Ordnung nicht vereinbar ist. Eine ausschließliche Koordination durch Anreize erfordert es, dass diejenigen, die Leistungen evaluieren, sich wiederum gegenseitig (formell oder informell) in ihrer Evaluationstätigkeit evaluieren, damit deren Qualität sichergestellt wird. In diesem Prozess (der sich z. B. an US-amerikanischen Universitäten bei der Evaluation der Lehr- und Forschungstätigkeit gut beobachten lässt) kommt es regelmäßig zu einer weitgehenden Vereinheitlichung der Maßstäbe: Es setzt sich hinsichtlich der Evaluationskriterien eine Mehrheitsmeinung durch, der sich alle anpassen, um nicht schlecht evaluiert zu werden. Im Ergebnis wird nicht individuelle Freiheit gefördert, sondern ein System hervorgebracht, dass aufgrund seines Anpassungsdrucks eher an 49 Z. B. Karl Homann/Franz Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen 1992, S. 40.

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die „Tyrannei der Mehrheit“ erinnert, die Tocqueville in der US-amerikanischen Gesellschaft diagnostizierte.50 Die Institutionen, die den Freihandel ermöglichen, setzen also voraus, dass die Individuen nicht allein durch Kosten-Nutzen-Kalküle motiviert werden. Die Einhaltung von Regeln kann nicht ausschließlich eine Folge von Anreizen sein; vielmehr müssen die Individuen von der inneren Überzeugung geleitet werden, dass es richtig ist, die Regeln zu befolgen.51 Das wirtschaftsliberale Kosten-Nutzen-Kalkül ist somit ambivalent: Es kann sowohl zu kooperativem als auch zu konfliktivem Verhalten führen; ebenso kann der Handel sowohl friedliches als auch kriegerisches Verhalten fördern. Frieden ist nicht das Ergebnis eines Vorteilskalküls, sondern setzt offensichtlich eine grundsätzliche Friedensbereitschaft voraus – so dass die entscheidende Frage lautet, was die Grundlage dieser Bereitschaft ist. So wenig wie sich Frieden als Resultat von Handelsverflechtungen erklären lässt, so wenig lassen sich Sicherheitsstrukturen als Ergebnis einer Abschreckungslogik verstehen. Abschreckung ist ebenso ambivalent wie der Handel: Sie kann die Sicherheit fördern, aber sie kann ebenso zu einer Eskalation von sicherheitspolitischen Maßnahmen führen, die im Ergebnis eine größere Unsicherheit bewirkt. Auf der nationalen Ebene steht das Streben nach Sicherheit im Konflikt mit dem Ziel der Verwirklichung einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Ordnung. In Hobbes’ Leviathan wird Sicherheit durch „the terror of some power“, also: durch die Furcht der Untertanen vor dem Souverän erkauft.52 Wenn die Untertanen in Hobbes’ Staat in ständiger Furcht vor der Gewalt des Souveräns leben, so liegt nicht ein Missbrauch der Macht vor, sondern (aus der Perspektive von Hobbes) ihr legitimer Gebrauch zu dem Zweck, Sicherheit durchzusetzen. Ein ähnliches Problem ergibt sich auf der internationalen Ebene: Das Streben nach Sicherheit kann nicht nur zu einem Machtgleichgewicht führen, sondern ebenso zu einer Eskalation, wenn nämlich Staaten zum Zwecke der Erhö50 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Zürich 1987, S. 369–391. 51 Dies fällt auch Vertretern des ökonomischen Imperialismus gelegentlich auf, wenn z. B. Brennan und Buchanan feststellen, dass das ökonomische Verständnis der Strafe als Preis für einen Regelverstoß nicht genügt: Eine Strafe, so schreiben sie, müsse „mit dem moralischen Makel belastet sein, eine ‚ungerechte‘ Handlung begangen zu haben“, damit sie einen „mäßigenden Einfluss“ auf das Handeln habe. Siehe Geoffrey Brennan/James M. Buchanan, Die Begründung von Regeln. Konstitutionelle politische Ökonomie, Tübingen 1993, S. 134; zur ökonomischen Theorie der Strafe: Gary S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, 2. Aufl., Tübingen 1993, S. 47 f. Das Problem ist jedoch, dass sich ein solcher „moralischer Makel“ auf der Grundlage des ökonomischen Verhaltensmodells nicht begründen lässt. 52 Hobbes, Leviathan (Anm. 46), S. 131 (Kapitel XVII).

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hung ihrer Sicherheit Präventivkriege gegeneinander führen. Der Präventivkrieg wird zwar um der Sicherheit willen geführt, ruft aber – wenn es zu einer Eskalation kommt – nur eine Erhöhung der Unsicherheit hervor. Damit aber bewirkt das Streben nach Sicherheit sowohl auf der nationalen als auch auf der internationalen Ebene in bestimmten Fällen genau das Gegenteil, nämlich eine Erhöhung der Unsicherheit. Im Ergebnis führen also weder die Logik der positiven Anreize des Handels noch die Logik der Abschreckung zu einer politischen Ordnung, die Sicherheit und Frieden fördert. Wenn die Akteure allein ihren Eigennutz bzw. Machtzuwachs im Blick haben, herrscht der Grundsatz der Selbstdurchsetzung und damit letztlich das Recht des Stärkeren. Es kommt deshalb der Verdacht auf, dass der Realismus und der Wirtschaftsliberalismus der Legitimation bestimmter Strategien der Selbstdurchsetzung dienen: zum einen der „politischen“ Selbstdurchsetzung durch das Streben nach Macht und zum anderen der ökonomischen Selbstdurchsetzung durch das Erwerbsstreben. Die Legitimation erfolgt im Wirtschaftsliberalismus durch die These, dass das Erwerbsstreben einzelner Individuen allen zugute kommt und am Ende sogar den Weltfrieden fördert; im Realismus erfolgt es durch die Feststellung, dass alle Staaten nach Macht streben und der einzelne Staat bzw. der einzelne Politiker gar keine andere Wahl hat, als sich an dem Streben nach Macht und Sicherheit zu beteiligen, weil alles andere unverantwortlich wäre. Insofern enthält der Realismus deutliche normative Konsequenzen, auch wenn seine Vertreter regelmäßig mit dem Anspruch der normativen Abstinenz auftreten. Diese Strategien der Legitimation der Selbstdurchsetzung dienen nun primär den ökonomisch bzw. politisch erfolgreichen Akteuren (seien es Individuen oder Staaten) und können somit als oligarchische Legitimationsstrategien bezeichnet werden. Diese Bezeichnung knüpft an Aristoteles’ Analyse des politischen Ringens oligarchischer und demokratischer Kräfte in der antiken Polis an. Aristoteles führt die politischen Konflikte zwischen Oligarchen und Demokraten zurück auf einen Streit über das Verständnis des Interessenausgleichs.53 Die Staaten waren vom Ringen zweier Parteien um politische Macht gekennzeichnet: Die Oligarchen als Vertreter der reichen Oberschicht beanspruchten die politische Herrschaft für sich und wollten die Armen von der Herrschaft ausschließen; umgekehrt wollten die Demokraten als Vertreter der armen Unterschicht die Herrschaft der Vielen durchsetzen. 53 Der Demokratiebegriff bei Aristoteles unterscheidet sich signifikant vom heutigen Verständnis: Der Begriff bezeichnet die Herrschaft zum Vorteil der Armen (Aristoteles, Politik, Hamburg 1981, Kapitel III 7–8), die in ihrer extremen Form „nichts anderes als eine vielköpfige Gewaltherrschaft“ ist (ebd., Kapitel V 10, 1312 b 36–38) und das Analogon zur Oligarchie darstellt, die eine Willkürherrschaft der Reichen zu ihrem eigenen Vorteil ist (ebd., Kapitel III 8).

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Beide Seiten strebten danach, sich gegenüber der anderen durchzusetzen; vielfach waren den Akteuren in diesen Auseinandersetzungen alle Mittel recht, um auf Kosten der anderen Seite den eigenen Vorteil zu suchen. Als Kern des Streits zwischen Oligarchen und Demokraten sieht Aristoteles ein unterschiedliches Rechtsverständnis: Die Oligarchen schließen aus der Ungleichheit der Bürger hinsichtlich ihres Vermögens auf eine Ungleichheit schlechthin, so dass ihrer Auffassung nach alle Rechte den Reichen zuzuschreiben sind; die Demokraten wiederum folgern aus der Gleichheit der „freien Geburt“, dass die Bürger schlechthin in jeder Hinsicht gleich sind (Politik, 1280 a 20–25). Aristoteles analysiert an dieser Stelle die politischen Auseinandersetzungen in der Polis als eine Art Klassenkampf; doch im Unterschied zur marxistischen Deutung von Politik als Klassenkampf erklärt er den Kampf nicht aus ökonomischen Interessen, sondern als einen Kampf um die Legitimität der Ansprüche: Die Oligarchen wollen nicht nur Reichtum und Besitz, sondern sie streben nach der Anerkennung der Legitimität ihrer Ansprüche; ebenso wollen die Demokraten sich nicht nur durch Umverteilung die Güter der Oligarchen aneignen, sondern legen Wert auf die Anerkennung der Legitimität der Umverteilung. Anders als es das marxistische Entlarvungsargument unterstellt, geht es den Oligarchen – und mit ihnen auf der Begründungsebene den Wirtschaftsliberalen und Realisten – nicht allein um materielle Vorteile (Güter/Macht), sondern um die Legitimierung ihres Vorteilsstrebens. Eben diese Legitimität wird aber durch die aufgezeigten Widersprüche dieser Weltdeutungen in Frage gestellt: Das Eigennutzstreben einzelner Individuen ist nicht als solches für andere von Vorteil, sondern nur, wenn diese allgemeine Vorteilhaftigkeit intendiert und somit das Eigennutzstreben begrenzt wird.

VI. Personales Verständnis von Politik und Ökonomie Wenn der Friede nicht eine automatische Folge des Handels ist, sondern eine grundsätzliche Friedensbereitschaft seitens der Individuen bzw. Staaten voraussetzt, so stellt sich die Frage nach der Grundlage dieser Bereitschaft. Der politische Liberalismus, der auf Locke und Kant zurückgeht, zeichnet sich im Unterschied zum (radikalen) Wirtschaftsliberalismus dadurch aus, dass er das Handeln der Individuen nicht ausschließlich auf die individuelle Nutzenmaximierung zurückführt, sondern – in der Formulierung von Kant – als weiteren Antrieb die grundsätzliche Fähigkeit der Menschen zur bedingungslosen (kategorischen) Anerkennung des Sittengesetzes annimmt. Diese Fähigkeit entwickelt sich nach Kant erst im Laufe der Geschichte: In seiner rohen und gesetzlosen Form führt das menschliche Streben nach Macht und Besitz zunächst zum Krieg. Erst mit der Zeit entwickeln sich

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der „Handelsgeist“ und der wirtschaftliche Wettbewerb, der dieses Streben schrittweise zivilisiert:54 Das Streben nach Macht und Besitz wird nicht ausgelöscht, sondern durch das Recht domestiziert, das sich aus der Einsicht in die Vorteilhaftigkeit gesetzmäßiger Zustände entwickelt. Die Anerkennung des Rechts resultiert also ursprünglich aus einem bösen, nicht mit Sittlichkeit zu vereinbarenden Antrieb, nämlich der Nützlichkeitserwägung. Hierin liegt nach Kant die List der Natur: dass sie sich des Bösen bedient (nämlich des Freiheits- und Rechtsverständnisses, auf dem der ökonomische Liberalismus aufbaut), um dem Guten, der Sittlichkeit, zum Durchbruch zu verhelfen. Im Ergebnis führt dieser Prozess zur Entfaltung der Anlage des Menschen zur Sittlichkeit.55 In Kants Geschichtsphilosophie werden die hier behandelten Theorien zu Stufen der Selbstbewusstwerdung des Menschen: Auf das Zeitalter des Krieges (das dem Realismus zugeordnet werden kann) folgt dasjenige der Domestizierung der Selbstdurchsetzung durch den wirtschaftlichen Wettbewerb (Wirtschaftsliberalismus), bis schließlich das Zeitalter der Aufklärung und der Herrschaft des Rechts anbricht, in dem das Sittengesetz um seiner selbst willen respektiert wird. Das Problem dieses Ansatzes besteht darin, dass die Fähigkeit zur Respektierung des Sittengesetzes bloß postuliert, aber nicht hinreichend begründet wird. In Kants Philosophie lässt sich die Differenz aus der Pflicht (zur Respektierung des Sittengesetzes) und der Neigung (zur Verfolgung der eigenen Interessen) nicht aufheben. Die Antwort, die Kant auf die Frage, warum wir das Sittengesetz befolgen, in der Kritik der reinen Vernunft anbietet, ist nicht überzeugend: Das Befolgen der Pflicht mit der Absicht, sich der Glückseligkeit als würdig zu erweisen, ist wie ein Trick – ein Anreiz, der keiner sein darf.56 Die Anerkennung des Rechts aus der Pflicht heraus ist folglich noch keine hinreichende Begründung von Friedensbereitschaft solange die Motivation, der Pflicht zu folgen, nicht erklärt wird. Das Sittengesetz stellt lediglich eine Verinnerlichung der Begrenzung des Eigennutzstrebens dar, die im Wirtschaftsliberalismus und im Realismus als äußere, durch Anreize und Sanktionen durchgesetzte Schranke gedacht wird. Das Grundproblem liegt aber darin, dass das Sittengesetz überhaupt als eine Begrenzung der individuellen Interessen verstanden wird und nicht als deren Verwirklichung. Diesen Perspektivenwechsel vollzieht das personale Politikverständnis, das da54

Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (Anm. 1), S. 226 („Erster Zusatz“). Vgl. Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: ders., Werke Bd. VI, Darmstadt 1983, S. 171 (A 282); ders., Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: ebd., S. 37 f. (A 392). 56 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, ders., Werke Bd. II, Darmstadt 1983, S. B 834. 55

256

Hendrik Hansen

von ausgeht, dass die Menschen erst im Gespräch, in der politischen Gemeinschaft mit anderen, vernünftige Vorstellungen davon entwickeln, was gut und nützlich ist. Die Bürger sind nicht Individuen und damit unteilbare Monaden, sondern Personen, die sich aus der Bezogenheit aufeinander verstehen, und zwar nicht nur hinsichtlich der Mittel zum guten Leben nach individuellem Maß, sondern auch hinsichtlich der Bildung der Urteilskraft in der Frage, was als gutes Leben angesehen werden kann. Dieses aus der politischen Philosophie von Platon und Aristoteles entwickelte Konzept soll hier in drei Schritten skizziert werden:57 (1) Die anthropologische Prämisse des personalen Politikverständnisses knüpft an Aristoteles an: Der Mensch, so heißt es in der Politik, verfügt im Unterschied zum Tier nicht allein über die Stimme, um Lust und Schmerz mitzuteilen, sondern auch über die Sprache, die es ihm ermöglicht, das Gespräch darüber zu führen, was gut und böse, gerecht und ungerecht, nützlich und schädlich ist.58 Der Fähigkeit zum Gespräch über grundlegende Werte entspricht die Fähigkeit des Menschen zur Reflexion der Ziele und Maßstäbe seines Handelns. Zugleich ist mit der Fähigkeit zur Reflexion deren Notwendigkeit verbunden: Der Mensch muss die Maßstäbe seines Handelns reflektieren, weil er sich in ihrer Bestimmung irren kann. (2) Aus der anthropologischen Prämisse folgt ein entsprechendes Verständnis von Gemeinschaft. Wenn der Mensch seine Vorstellungen vom Gerechten und Nützlichen nicht für sich alleine festlegt, sondern im Gespräch mit anderen bildet, dann ist er nicht nur um der Sicherung des Überlebens und der Möglichkeiten der Besitzmehrung willen auf andere Menschen angewiesen, sondern in einer viel grundlegenderen Weise: Er bedarf der anderen für die Entwicklung und Prüfung seiner Vorstellungen vom Gerechten und Nützlichen im Gespräch. Der Vertrag, der in allen individualistischen Theorien die Gemeinschaft stiftet, setzt gegebene Interessen, gegebene Wertvorstellungen und ein gegebenes Verständnis von Rationalität voraus; im personalen Verständnis hingegen ist all das, was im Individualismus als gegeben angenommen wird, Gegenstand des Gesprächs. Das Verständnis des Menschen als Person bedeutet, ihn aus dieser grundlegenden Bezogenheit auf andere heraus zu verstehen: Gemeinschaft besteht nicht um der Mehrung des individuellen Nutzens willen, sondern um des Verständnisses willen, was überhaupt Nutzen ist. Daraus folgt, dass die Werte, die die Gemeinschaft 57

Ausführlich dazu: Hendrik Hansen, Politik und wirtschaftlicher Wettbewerb in der Globalisierung. Kritik der Paradigmendiskussion der Internationalen Politischen Ökonomie, Wiesbaden 2008. 58 Aristoteles, Politik, Hamburg 1981, 1253 a 9–11.

Schafft Handel Frieden?

257

konstituieren, und die auf ihrer Grundlage formulierten Regeln, nicht eine bloße Begrenzung der Interessenverfolgung darstellen, sondern Leitideen für das Verständnis von Interessen sind. So dient z. B. das Verbot des Diebstahls erst in zweiter Hinsicht dem Schutz der Eigentumsrechte; primär dient es der Erziehung der Bürger zur Mäßigung ihres Besitzstrebens. (3) Daraus folgt, dass die gemeinschaftliche Verfolgung ökonomischer Interessen – die der Wirtschaftsliberalismus in den Mittelpunkt seiner politischen Theorie stellt – nicht der oberste Zweck einer politischen Gemeinschaft ist, sondern einem höheren Zweck unterstellt wird. Die Ökonomie schafft die materiellen Voraussetzungen für die Entfaltung des personalen Charakters des Menschen und hat somit Mittelcharakter. Auch hier lässt sich wieder an Aristoteles anknüpfen, der die unbegrenzte Mehrung des Reichtums als „Chrematistik“ verurteilt und sie der durch das Ziel begrenzten wahren Ökonomie gegenüberstellt.59 So problematisch die Kritik der Chrematistik bei Aristoteles auch ist, weil sie (im Unterschied zu Platon60) die Bedeutung des Handels völlig verkennt, so sinnvoll ist doch die Bezeichnung des wirtschaftlichen Reichtums als Werkzeug, d.h. als Mittel zum Zweck. Das oberste Ziel der Volkswirtschaft ist nicht die bloße Mehrung der wirtschaftlichen Güter, sondern die Schaffung der materiellen Voraussetzungen für die Bildung der Bürger, die ihrerseits das Gespräch über das Gerechte und Nützliche ermöglicht. Die Friedensbereitschaft resultiert folglich nicht allein aus der formalen Anerkennung der Interessen anderer, sondern aus der substantiellen Anerkennung der anderen als Personen. Aus dieser Anerkennung folgt zum einen die grundsätzliche Offenheit für den Dialog, weil stets von der Möglichkeit ausgegangen wird, dass dadurch eine Erweiterung des Verständnisses nicht nur der Sachlage, sondern auch der eigenen Interessen erreicht wird. Zum anderen setzt die Anerkennung des Anderen als Person dem Eigennutzstreben (sowohl in seiner politischen Form als Streben nach Macht, als auch in seiner ökonomischen Form als Streben nach Wohlstand) enge Grenzen, weil dessen Nachteile für die eigene Lebensführung gesehen werden. Diese Konsequenzen ergeben sich sowohl auf der individuellen als auch auf der zwischenstaatlichen Ebene, weil die Anerkennung Anderer als Personen keine übergeordneten staatlichen Strukturen voraussetzt. Die Schwächen der These „Handel schafft Frieden“ lassen sich somit nicht durch die Behauptung der Gegenposition überwinden, wie sie im Rea59 60

a–d.

Ebd., Buch I, Kapitel 9. Platon, Nomoi, Werke in acht Bänden (gr.–dt.), Bd. 8, Darmstadt 1990, 918

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Hendrik Hansen

lismus vertreten wird. Realismus und Wirtschaftsliberalismus stehen sich in ihrer grundlegenden Argumentation wesentlich näher, als es mit Blick auf ihre konkreten Aussagen erscheint. Im Kern versuchen beide Ansätze, politische Ordnung als Resultat individueller Vorteilskalküle zu deuten, wobei der Vorteil im einen Fall als ökonomischer Nutzen und im anderen Fall als Zugewinn von Macht verstanden wird. Die Ambivalenz des Handels hinsichtlich seiner Wirkung auf den Frieden lässt sich nur überwinden, wenn zum „Handelsgeist“ eine grundsätzliche Friedensbereitschaft hinzukommt. Sie gründet in der Haltung, die politische Gemeinschaft nicht nur als Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen zu sehen, sondern als Voraussetzung dafür, das eigene Verständnis von Interessen zu bilden und zu reflektieren. Die bloße Interessendurchsetzung, wie sie sowohl vom Wirtschaftsliberalismus als auch vom Realismus legitimiert werden soll, führt auf der nationalen und der internationalen Ebene zu einer Spaltung in „oligarchische“ und „demokratische“ Interessen, und damit zu der Art von Klassenkampf, die Aristoteles für die Polis seiner Zeit beschrieben hat.

Markt versus Staat? – Über Denk- und Handlungsblockaden in Zeiten der Globalisierung Von Ingo Pies „Analytik ist selbst immer auch ein Moment des gesellschaftlichen Lebens, und die gesellschaftlichen Situationen werden andere, wenn wir lernen, sie anders aufzufassen.“ Niklas Luhmann (1981, 1994; S. 125)

Das Werk Niklas Luhmanns sensibilisiert für Diskrepanzen zwischen Sozialstruktur und Semantik – aber auch für das Niveau theoretischer Selbstreflexion, das erforderlich ist, um solche Diskrepanzen angemessen analysieren zu können. Eine theoriestrategische Selbstreflexion tut besonders dort Not, wo sozialwissenschaftliche Theorien Teil des Problems sind, indem sie den öffentlichen Diskurs mit Kategorien bedienen, die den Blick auf praktikable Lösungen eher verstellen. Hier können Denkblockaden zu Handlungsblockaden führen. In solchen Fällen ist ernsthafte Theorie-Arbeit erforderlich: der (fallible) Versuch, durch eine Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit einer Problemlösung die zugrunde liegende Problemstellung kategorial neu zu justieren. Eine solche Theorie will – und kann! – praktisch werden, indem sie zur gesellschaftlichen Selbstaufklärung der Semantik beiträgt und so die gesellschaftliche Selbststeuerung der Sozialstruktur verbessern hilft. Ganz in diesem Sinne verstehen sich die folgenden Ausführungen als eine Übung in konstruktiver Kritik. Sie gehen in Bezug auf das Problem der Globalisierung der Frage nach: Wie muss dieses Problem theoretisch gedacht werden, um praktisch lösbar zu sein? Die Argumentation setzt ein mit einer Rekonstruktion, wie das Problem der Globalisierung in den aktuellen Debatten typischerweise konzeptualisiert wird. Als Referenzposition hierfür dienen die einflussreichen Schriften von Jürgen Habermas. An ihnen wird in einem zweiten Schritt gezeigt, dass hier in der Tat – ungewollt, aber ebenfalls typisch – eine Konzeptualisierung vorliegt, die Denk- und Handlungsblockaden vorprogrammiert. In einem dritten Schritt erfolgt dann ein Gegenentwurf. Die Argumentation gliedert sich also in die Trias (I) Rekonstruktion, (II) De(kon)struktion und (III) Neukonstruktion: Abschnitt I kennzeichnet die weit verbreitete Wahrneh-

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Ingo Pies

mung, nach der das Problem der Globalisierung typischerweise bestimmt wird als Gefährdung und sogar Verdrängung demokratischer Politik durch eine entgrenzte, entfesselte Wirtschaft.1 Abschnitt II erläutert die Aporien eines solchen Ansatzes. Diese bestehen vor allem darin, dass der Argumentation die guten Gründe ausgehen, mit denen man normativ überzeugen – und eine der Globalisierung angemessene Politik der „Global Governance“ anleiten – könnte. Letztlich liegt das daran, dass Habermas der Politik eine Aufgabe zuweist, die so nicht lösbar ist – schon gar nicht im globalen Kontext. Da Sollen aber Können impliziert – ultra posse nemo tenetur –, gerät man theoriestrategisch in eine Verlegenheit, aus der die typischen Verlegenheits-„Lösungen“ – nämlich Einsichten bloß zu fordern, anstatt sie zu fördern – gerade keinen Ausweg bieten (können). Abschnitt III reagiert auf diesen Befund mit einer alternativen Konzeptualisierung. Der wirtschaftsethische Gegenentwurf zielt auf eine solidarische Indienstnahme von Systemleistungen ab: Hier wird das Verhältnis zwischen Markt und Staat grundlegend so bestimmt, dass „Global Governance“ als weltgesellschaftlicher Lernprozess aufgefasst und mittels normativer Aufklärungs- und Steuerungsbeiträge heuristisch so angeleitet werden kann, dass sich die Regelfindungs- und Regelsetzungsprozesse an gemeinsamen Regelinteressen orientieren können I. Das Problem der Globalisierung nach Jürgen Habermas: Diagnose und Therapie Jürgen Habermas übt in seiner Doppelrolle als öffentlicher Intellektueller und international renommierter Wissenschaftler über nunmehr mehrere Jahrzehnte hinweg auch weit über die Grenzen Deutschlands hinaus einen enormen – und bis heute unvermindert starken – Einfluss aus. Er hat dem demokratischen Diskurs für viele Auseinandersetzungen nicht nur wichtige 1

So die bis heute nachwirkende Orthodoxie der 1990er Jahre. Alternativ kann man Globalisierung aber auch als Chance wahrnehmen, die vermeintliche Abwicklung des Nationalstaates als eine Transformation von Staatlichkeit untersuchen und der Frage nachgehen, inwiefern Globalisierung neue Optionen für Demokratie und sogar für Sozialpolitik eröffnet. Vgl. etwa Zürn (1998), Zürn/Leibfried (2005), Pies (2000b) und vor allem die hellsichtige Analyse von Streeck (2004). – In noch radikalerer Weise liegt natürlich auch Niklas Luhmann (1997, S. 145 ff. et passim) quer zum Mainstream. Er geht davon aus, dass eine Weltgesellschaft bereits seit längerem existiert, so dass wir es nicht mit einer Globalisierung zur Weltgesellschaft, sondern gleichsam mit einer Globalisierung in der Weltgesellschaft zu tun haben. Vgl. hierzu bereits Luhmann (1971), aber auch Luhmann (1998). Er argumentiert kommunikations-theoretisch. Man kann den Gedanken der Weltgesellschaft aber auch interaktions-theoretisch einholen: als Zunahme globaler Interdependenzen. Lesenswerte Anregungen hierzu finden sich schon bei Kant (1784, 1975) und (1795, 1975), aber auch bei Marx und Engels (1848, 1959).

Markt versus Staat?

261

Stichworte geliefert, sondern auch – sei es als origineller Urheber, sei es als kompilierender Popularisierer – zentrale Kategorien bereitgestellt, die die Problemwahrnehmung zahlreicher Zeitgenossen beeinflussen und damit eine perspektivische Orientierung für die Suche nach Problemlösungen anbieten. Die aktuelle Globalisierungsdiskussion bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Sie ist von Habermas durch seine Zeitdiagnose einer „postnationalen Konstellation“ terminologisch bereichert und begrifflich mit geprägt worden. Im Folgenden wird eine Argumentationsskizze vorgestellt, die den Versuch unternimmt, einige wesentliche Grundzüge seines einflussreichen Ansatzes hervorzuheben. Der Gedankengang ist in vier Schritte aufgeteilt. Der erste Schritt skizziert die Habermassche Diagnose der Moderne und rekapituliert seine Formel von einer „Kolonialisierung der Lebenswelt“. Der zweite Schritt skizziert sein Programm einer Solidaritätspolitik zur Verwirklichung des Anliegens eines seiner Meinung nach zeitgemäßen Sozialismus. Der dritte Schritt zeigt auf, wie Habermas seine Zeitdiagnose als Globalisierungskritik modifiziert und wie er zu dem Schluss gelangt, dass die globalisierte Wirtschaft den demokratisierten Staat gefährdet. Der vierte Schritt erläutert abschließend, wie Habermas sich eine Therapie der postnationalen Konstellation vorstellt und welche Rolle er hierbei dem Bewusstsein kosmopolitischer Zwangssolidarisierung beimisst. (1) Jürgen Habermas hat 1981 mit seiner zweibändigen Theorie kommunikativen Handelns ein Werk vorgelegt, das die Theorie-Arbeit von Karl Marx, Max Weber und Talcott Parsons zu aktualisieren beansprucht.2 Die zugrunde liegende Idee besteht darin, eine Diagnose der modernen Gesellschaft zu entwickeln, die Grundzüge der Parsonschen Systemanalyse, der Weberschen Rationalisierungsanalyse und der Marxschen Verdinglichungsanalyse miteinander kombiniert. Habermas fokussiert seine Theorieperspektive auf die Ambivalenz der Moderne. Ihm geht es darum, die Marx und Weber interessierenden Pathologien der Moderne als Negativfolgen der zunehmenden Komplexität – und Leistungsfähigkeit – gesellschaftlicher Subsysteme ins Blickfeld zu rücken. Er will nicht nur die fortschrittlichen, sondern auch die rückschrittlichen Aspekte des Modernisierungsprozesses beleuchten, nicht nur die Gewinne bilanzieren, sondern auch die Verluste ausweisen. Zu diesem Zweck stützt er sich auf eine Typologie diverser Handlungsrationalitäten, um gesellschaftliche Entwicklungen der Systemrationalisierung mit handlungstheoretischen Kategorien für ihre Auswirkungen kritisieren zu können. Das Produkt dieser Handlungs- und Gesellschaftstheorie kategorial amalgamieren2

Vgl. Habermas (1981a, 1987) sowie (1981b, 1987).

262

Ingo Pies

System

Lebenswelt

Wirtschaft

Private Sphäre

Geld Sinnverlust

Solidarität

Staat

Öffentliche Sphäre

Macht Freiheitsverlust

Abbildung 1: Die Kolonialisierung der Lebenswelt

den Bemühungen um eine Diagnose der Moderne bringt Habermas auf die griffige Formel von einer „Kolonialisierung der Lebenswelt“. Dieser Diagnose liegen fünf Thesen zugrunde (Abb. 1): • erstens die These, dass es im historischen Prozess okzidentaler Rationalisierung zu einer Entkopplung von System und Lebenswelt gekommen ist; • zweitens die These, dass sich das System ausdifferenziert hat in die beiden Subsysteme Wirtschaft und Staat mit ihren jeweiligen Medien Geld und Macht; • drittens die These, dass sich die Lebenswelt ausdifferenziert hat in eine private und eine öffentliche Sphäre, die jeweils durch besondere Binnenstrukturen kommunikativen Handelns ausgezeichnet sind und im Medium der Solidarität operieren; • viertens die These, dass es zu Rückkopplungen kommt: zu Grenzübertretungen, zu – im wörtlichen Sinne – Grenz-„Verletzungen“, indem die ausdifferenzierten Subsysteme zur Invasion der lebensweltlichen Sphären ansetzen und dort eine Deformation der Strukturen kommunikativer Verständigung bewirken; sowie • fünftens die These, dass diese grenzverletzende Kolonialisierung der Lebenswelt zu einer Beeinträchtigung von Solidarität durch Geld und Macht führt, was von den Individuen als Verdinglichung und mithin als Sinnund Freiheitsverlust erfahren wird. Als Beleg für den Stand der Habermasschen Theorie um das Jahr 1980 sei folgendes Zitat angeführt: „Das Übergreifen von Formen der ökonomischen und der administrativen Rationalität auf Lebensbereiche, die dem Eigensinn moralisch- und ästhetisch-prakti-

Markt versus Staat?

System

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Lebenswelt

Wirtschaft

Private Sphäre

Geld Solidarität Staat Macht

Öffentliche Sphäre

Abbildung 2: Das Habermassche Programm radikal-reformerischer Solidarität

scher Rationalität gehorchen, führt zu einer Art Kolonialisierung der Lebenswelt. Damit meine ich die Verarmung an Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeiten, die, soweit wir sehen können, auch in komplexen Gesellschaften nötig bleiben, damit die Individuen lernen können, sich selbst zu finden, mit ihren eigenen Konflikten umzugehen und gemeinsame Konflikte gemeinsam, also auf dem Wege kollektiver Willensbildung zu lösen.“3

(2) Habermas geht es aber nicht nur darum, die Grenze zwischen System und Lebenswelt möglichst dicht zu machen, um solidarische Kommunikationsorientierungen vor funktionalistischen Übergriffen zu schützen. Ihm geht es umgekehrt auch darum, die Grenze zu öffnen und offenzuhalten, um die Lebenswelt auf das System einwirken zu lassen und so Solidarität in der Gesellschaft zu verwirklichen (Abb. 2). Besonders deutlich formuliert Habermas diese Stoßrichtung seines Denkens in einem Aufsatz aus dem Jahre 1990. Auf den Fall der Mauer, das Ende des Kalten Krieges und das Scheitern staatssozialistischer Totalitarismen reagiert er hier mit (s)einer programmatischen Neubestimmung des sozialistischen (radikal-reformistischen) Anliegens einer zeitgemäßen politischen Linken. Interessant ist, wie Habermas sein politisches Programm nicht inhaltlich, sondern strikt prozeduralistisch profiliert: „Moderne Gesellschaften befriedigen ihren Bedarf an Steuerungsleistungen aus drei Ressourcen: Geld, Macht und Solidarität. Ein radikaler Reformismus ist nicht mehr an konkreten Schlüsselforderungen zu erkennen, sondern an der auf Verfahren gerichteten Intention, eine neue Gewaltenteilung zu fördern: die sozialintegrative Gewalt der Solidarität soll sich über weit ausgefächerte demokratische Öffentlichkeiten und Institutionen gegen die beiden anderen Gewalten, Geld und administrative Macht, behaupten können. Das ‚Sozialistische‘ daran ist die Erwar3

Habermas (1979), S. 28 (H. i. O.).

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Ingo Pies

tung, dass sich die anspruchsvollen Strukturen gegenseitiger Anerkennung, die wir aus konkreten Lebensverhältnissen kennen, über die Kommunikationsvoraussetzungen inklusiver Meinungs- und demokratischer Willensbildungsprozesse auf die rechtlich und administrativ vermittelten sozialen Beziehungen übertragen. Lebensweltliche Bereiche, die darauf spezialisiert sind, tradierte Werte und kulturelles Wissen weiterzugeben, Gruppen zu integrieren und Heranwachsende zu sozialisieren, sind immer schon auf Solidarität angewiesen. Aus denselben Quellen kommunikativen Handelns muss auch eine radikal-demokratische Meinungs- und Willensbildung schöpfen, die auf die Grenzziehung und den Austausch zwischen jenen kommunikativ strukturierten Lebensbereichen auf der einen, Staat und Ökonomie auf der anderen Seite Einfluss nehmen soll.“4

(3) Die ursprüngliche Modernitätsdiagnose war auf eine Äquidistanz zwischen Lebenswelt und Subsystemen angelegt, mit einer quasi semi-permeablen Grenzziehung: Privater und Öffentlicher Bereich sollten vor der funktionalistischen Invasion durch Wirtschaft und Staat geschützt werden, während es umgekehrt galt, Solidarität gegen Geld und Macht durchzusetzen. Diese strikte Äquidistanz, welche die Kommunikationsorientierung einer lebens-weltlichen Perspektive gegenüber den beiden Subsystemen Wirtschaft und Staat einzunehmen nahe legt, gibt Habermas ebenfalls schon 1990 auf. Er erkennt jetzt explizit an, dass bestimmte Formen der Staatlichkeit Solidaritätsfunktionen ausüben. So schreibt er: „Die soziale und ökologische Bändigung der Marktwirtschaft ist die Allerweltsformel, zu der sich das sozialdemokratische Ziel der sozialen Bändigung des Kapitalismus zustimmungspflichtig verallgemeinert hat.“5 Dieser Befund erweist sich als besonders prekär, sobald Habermas seine Zeitdiagnose als Globalisierungsdiagnose aktualisiert. Dies erfolgt in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre.6 Abb. 3 verdeutlicht die Stoßrichtung seiner neueren Argumentation. Primär thematisiert wird nun nicht mehr eine Grenzverletzung zwischen System und Lebenswelt, sondern eine Grenzverletzung zwischen dem Subsystem Wirtschaft und dem Subsystem Staat. Habermas diagnostiziert, dass die sich globalisierende Wirtschaft den demokratisierten Staat – und hier insbesondere den Sozialstaat – in Schwierigkeiten bringt. Ihm werde die Möglichkeit entzogen, substantielle Regelungen herbeizuführen, die die Solidarität der Individuen untereinander absichern. Von Seiten der Lebenswelt reagiere man auf Deregulierung und Desolidarisierung mit Protest und Delegitimation, mit einem Entzug der Loyalität gegenüber staatlichen Institutionen. Habermas sieht die Demokratie in Gefahr. 4

Habermas (1990, 2003), S. 145 f. Habermas (1990, 2003), S. 143 (H. i. O.). 6 Vgl. hierzu die programmatischen Aufsätze von Habermas (1998b) und (1998c). 5

Markt versus Staat?

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System Wirtschaft Geld

Globalisierung

Staat

Private Sphäre

Deregulierung Solidarität

Macht

Öffentliche Sphäre

Delegitimation

Lebenswelt

Abbildung 3: Die Habermassche Globalisierungsdiagnose

Das ursprüngliche Bild, das Habermas als Zeitdiagnostiker malt, hat sich also radikal gewandelt: Der Staat erscheint nunmehr als Verbündeter der Lebenswelt. Er mutiert gleichsam vom Feind zum Freund des Menschen. Habermas bezieht dies insbesondere auf den demokratischen Rechtsstaat, zumal wenn dieser soziale Leistungen erbringt. Das eigentliche Problem wird nun darin gesehen, dass dieser Staat sich selbst nicht mehr vor den Systemimperativen der Wirtschaft schützen kann, mit der Folge, dass es ihm unmöglich wird, als Sozialstaat seine spezifischen Solidaritätsleistungen – insbesondere seine „Umverteilungsfunktionen“7 – zu erbringen. Im Original liest man hierzu Folgendes: Auf der einen Seite konstatiert Habermas mit Bezug auf die OECD-Staaten: „In der Gestalt sozialstaatlicher Massendemokratien ist hier die hochproduktive Wirtschaftsform des Kapitalismus zum ersten Mal sozial gebändigt und mit dem normativen Selbstverständnis demokratischer Verfassungsstaaten mehr oder weniger in Einklang gebracht worden.“8 So weit die gute Nachricht. Als schlechte Nachricht hat der Zeitdiagnostiker Habermas in petto, dass diese soziale Bändigung des Kapitalismus mittels Sozialstaat auf eine historische Konstellation zurückzuführen sei, die er für gefährdet und sogar für unwiederbringlich verloren hält.9 Globalisierung verwandle die nationale Konstella7 8

Habermas (1998c), S. 118. Habermas (1998b), S. 78.

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tion in eine postnationale Konstellation, und hier entziehe die grenzüberschreitende Wirtschaft dem nationalen Sozialstaat sein Fundament. Die Habermassche Globalisierungsthese lautet: „Diese Veränderung [des weltwirtschaftlichen Systems] schränkt die national-staatlichen Aktoren in ihrem Handlungsspielraum so weit ein, dass die ihnen verbleibenden Optionen nicht ausreichen, um sozial und politisch unerwünschte Nebenfolgen eines transnationalisierten Marktverkehrs hinreichend ‚abzufedern‘.“10 Die Folgen sind für Habermas absehbar: „Desolidarisierung muss . . . auf längere Sicht eine liberale politische Kultur zerstören, auf deren universalistisches Selbstverständnis demokratisch verfasste Gesellschaften angewiesen sind.“11 (4) Was könnte man dagegen tun? Wie sieht eine mögliche Solidaritätsstrategie aus? – Das sind die Fragen, deren sich Habermas annimmt, indem er seine Diagnose allmählich in Therapieüberlegungen münden lässt (Abb. 4): „Ein Ausweg könnte darin bestehen, dass die regulatorische Kraft der Politik den Märkten, die sich dem Zugriff der Nationalstaaten entzieh[en], nachwächst“.12 Das Motto lautet: Re-Regulierung statt De-Regulierung und Re-Distribution statt De-Solidarisierung. Habermas befürwortet einen „Kurswechsel von der Anpassung an das transnationale weltwirtschaftliche System zu einem Versuch der politischen Einflussnahme auf dessen Rahmenbedingungen“.13 Auf dem zu beschreitenden Weg hält Habermas theoretische Orientierung für erforderlich. Damit beschreibt er eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe wissenschaftlicher Theorie. Allerdings fällt sein Urteil über den wissenschaftlichen ‚state of the art‘ in dieser Hinsicht eher negativ aus. Sein ernüchternder Befund lautet: „Ohne nennenswerte sozialwissenschaftliche Anstrengungen ist (. . .) die Idee einer die Märkte einholenden Politik bisher nicht einmal zu einem ‚Projekt‘ ausgereift.“14 Immerhin sieht sich Habermas in der Lage, zwei Dinge zu tun: erstens die Hauptprobleme zu benennen, die einer nachholenden Politik im Wege stehen; und zweitens einen Hinweis zu geben, wie diese Probleme vielleicht gelöst werden können. Das erste Hauptproblem glaubt Habermas in grundlegenden Interessenkonflikten erkennen zu können, die in der postnationalen Konstellation auf 9

Vgl. Habermas (1998b), S. 79. Habermas (1998b), S. 82. 11 Habermas (1998b), S. 81. 12 Habermas (1998b), S. 79. 13 Habermas (1998b), S. 85 (H. i. O.). Habermas (1998c, S. 156, H. i. O.) formuliert als Desiderat einen „Kurswechsel zu einer Weltinnenpolitik ohne Weltregierung“. 14 Habermas (1998b), S. 86. 10

Markt versus Staat?

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kosmopolitische Solidaritätsimpulse Lebenswelt

re-distribuierende Weltinnenpolitik

Subsystem postnationale Politik

Subsystem Wirtschaft

Abbildung 4: Die Habermassche Globalisierungstherapie

die nationalstaatlichen Akteure zukommen. Die Lösung hierfür sieht er in Verfahren der Konfliktregulierung. Im Original liest man: „In einer stratifizierten Weltgesellschaft scheinen sich aus der asymmetrischen Interdependenz zwischen entwickelten, neu industrialisierten und unterentwickelten Ländern unversöhnliche Interessengegensätze zu ergeben. Aber diese Perspektive trifft nur solange zu, wie es keine institutionalisierten Verfahren transnationaler Willensbildung gibt, die global handlungsfähige Aktoren dazu bringen, ihre je eigenen Präferenzen um Gesichtspunkte einer ‚global governance‘ zu erweitern.“15

Das zweite Hauptproblem folgt jedoch sogleich auf dem Fuße. Für Habermas besteht es in der Frage, wie sich die nationalstaatlichen Entscheidungsträger in solchen Konfliktlösungsverfahren verhalten werden. Er rechnet mit taktischen Blockaden, aus denen die nationalen Regierungen nur herausgeholt werden können, wenn bei den Bürgern die entsprechende Einsicht gewachsen ist, kosmopolitische Solidarität nicht negativ, sondern positiv zu sanktionieren: „Gewiss, internationale Absprachen und Regelungen, die (. . .) Externalisierungen entgegenwirken, sind von Regierungen solange nicht zu erwarten, wie diese in ihren nationalen Arenen, wo sie sich um Zustimmung und Wiederwahl bemühen müssen, als unabhängig handelnde Aktoren wahrgenommen werden. Die Einzelstaaten müssten innenpolitisch wahrnehmbar in bindende Kooperationsverfahren einer kosmopolitisch verpflichtenden Staatengemeinschaft eingebunden werden. Die entscheidende Frage ist deshalb, ob in den Zivilgesellschaften und den politischen Öffentlichkeiten großräumig zusammenwachsender Regime ein Bewusstsein kosmopolitischer Zwangssolidarisierung entstehen kann. Nur unter diesem Druck einer innenpolitisch wirksamen Veränderung der Bewusstseinslage der Bürger 15

Habermas (1998b), S. 87 (H. i. O.).

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wird sich auch das Selbstverständnis global handlungsfähiger Aktoren dahingehend ändern können, dass sie sich zunehmend im Rahmen einer internationalen Gemeinschaft als Mitglieder verstehen, die alternativenlos zur Kooperation und damit zur gegenseitigen Interessenberücksichtigung genötigt sind. Ein solcher Perspektivenwechsel von ‚internationalen Beziehungen‘ zu einer Weltinnenpolitik ist von den regierenden Eliten nicht zu erwarten, bevor nicht die Bevölkerungen selbst aus wohlverstandenem Eigeninteresse einen solchen Bewusstseinswandel prämiieren.“16

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Habermas die gesellschaftliche Aufgabe sozial-wissenschaftlicher Theoriebildung dahingehend bestimmt, im Vorgriff auf eine Solidarität, die es jetzt noch nicht gibt, die Vorstellung zu entwickeln und öffentlichkeitswirksam zu kommunizieren, dass eine solidarische Politik den globalisierten Markt einholen, regulieren und mittels Umverteilung sozialverträglich gestalten sollte. Damit könnte die Theorie einem Bewusstsein „kosmopolitischer Zwangssolidarisierung“ vorarbeiten, für das Habermas in der Realität bereits Tendenzen ausmachen zu können glaubt: „Eine Regulierung der entfesselten Weltgesellschaft erfordert Politiken, die Lasten umverteilen. Das wird nur auf der Grundlage einer bisher fehlenden weltbürgerlichen Solidarität möglich sein, die allerdings eine schwächere Bindungsqualität haben würde als die innerhalb von Nationalstaaten gewachsene staatsbürgerliche Solidarität. Die Weltbevölkerung ist objektiv längst zu einer unfreiwilligen Risikogemeinschaft zusammengeschlossen worden. Nicht ganz unplausibel ist deshalb die Erwartung, dass sich unter diesem Druck jener große, historisch folgenreiche Abstraktionsschub vom lokalen und dynastischen zum nationalen und demokratischen Bewusstsein fortsetzt.“17

II. Die Aporien der Globalisierungsdiskussion: Denk- und Handlungsblockaden (1) Habermas hat im Laufe der Zeit an den theoretischen Fundamenten seiner Zeitdiagnose(n) so grundlegende Umbauten vorgenommen, dass – um im Bilde zu bleiben – die Statik seines Gebäudes theoriearchitektonische Sorgen rechtfertigt. Wie tragfähig ist die Konstruktion? Konkret: Wie überzeugend sind die Argumente, die sich mit diesem theoretischen Ansatz generieren lassen? Um diese Frage zu beantworten, sei zunächst noch einmal rekapituliert, wie Habermas seinen Gedankengang in drei Schritten aufbaut. Der erste Schritt besteht darin, die „nationale Konstellation“ zu charakterisieren. Habermas sieht sie gekennzeichnet durch 16 17

Habermas (1998b), S. 88 (H. i. O.). Habermas (1998b), S. 89.

Markt versus Staat?

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• ein – nicht völkisch, als Herkunftsgemeinschaft, sondern diskursiv – als Verfassungspatriotismus konstituiertes Bewusstsein nationaler Solidarität, • einen mittels umverteilender Solidaritätspolitik diesem Bewusstsein und Anspruch der Bürger Rechnung tragenden Staat und • eine Wirtschaft, die von diesem zur Solidarität verpflichteten Staat gebändigt wird, insbesondere in ihrer tendenziell solidaritätsauflösenden, solidaritätszersetzenden Auswirkung auf die Lebenswelt. Der zweite Schritt besteht darin, die „postnationale Konstellation“ zu charakterisieren. Habermas sieht sie gekennzeichnet durch • einen Mangel an kosmopolitischem Solidaritätsbewusstsein, • ein Unvermögen der Staaten, ihre Solidaritätspolitik national – und erst recht international – fortzusetzen, und • eine globalisierte Wirtschaft, die den Primat staatlicher Solidaritätspolitik unterminiert, indem sie den Staaten eine Standortkonkurrenz aufzwingt, die ihre Steuerbasis ebenso erodieren lässt wie die Standards sozialer Sicherung.18 Der dritte Schritt besteht darin, zur Bewältigung der „postnationalen Konstellation“ Empfehlungen zu generieren. Habermas fragt explizit: „Worin könnte eine politische Antwort auf die Herausforderungen der postnationalen Konstellation bestehen?“19 Abstrakt kennzeichnet er die Idee, auf die sein Ansatz hinausläuft, als eine nachholende, die globalisierte Wirtschaft einholende Politik kosmopolitischer Solidarität. Seine Antwort besteht darin, in der postnationalen Konstellation ein funktionales Äquivalent für die nationale Konstellation zu 18 Habermas (1998c), S. 119 f.: „Die Regulierungsmacht kollektiv bindender Entscheidungen operiert nach einer anderen Logik als der Regelungsmechanismus des Marktes. Nur die Macht lässt sich (. . .) demokratisieren, nicht das Geld. Deshalb entfallen per se Möglichkeiten demokratischer Selbststeuerung in dem Maße, wie die Regulierung gesellschaftlicher Bereiche vom einen Medium auf das andere übergeht.“ Habermas (1998c, S. 120) beobachtet eine „Verdrängung der Politik durch den Markt“. Seine Diagnose lautet (ebd., S. 119): „Geld substituiert Macht.“ Diese Diagnose findet sich auch bei zahlreichen anderen Autoren. Als Beleg möge hier eine markante Formulierung von Ulrich Beck (2000, S. 52) genügen: „Die Wirtschaft bricht aus dem territorialen Rahmen aus, ohne dass ein Weltstaat oder eine entsprechende Institution ihr neue staatliche Zügel anlegen könnte. Es handelt sich nicht um einen Übergang vom Nationalstaat zum Weltstaat, sondern vom Staat zum Markt. Dadurch entsteht ein Machtvakuum, weil das, was der Staat an Macht verliert, nicht interstaatlicher Macht zuwächst. Dem Verlust entspricht kein Gewinn, das addiert sich nicht zu einem Nullsummenspiel. Es ist nur ein Verlust: Politik wird abgebaut, Politik diffundiert.“ 19 Habermas (1998c), S. 96 (H. i. O.).

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finden, wohl wissend, dass man das nationale Arrangement nicht einfach auf der globalen Ebene – als Weltstaat – duplizieren kann. Konkret begegnen bei der Umsetzung dieser Idee jedoch immense Schwierigkeiten. Habermas selbst weist diese Schwierigkeiten mehrfach offen aus. Einige besonders markante Formulierungen seien hier als Beleg angeführt. Zum einen gesteht Habermas ein, dass seine normativen Empfehlungen auf gravierende Implementierungsschwierigkeiten stoßen, zumindest wenn sie an nationalstaatliche Akteure gerichtet werden: „Die (. . .) Analyse legt (. . .) eine Strategie nahe, die der perspektivelosen Anpassung an Imperative der Standortkonkurrenz mit dem Entwurf einer transnationalen Politik des Einholens und Einhegens globaler Netze begegnet. (. . .) An die nationalstaatlichen Akteure richtet ein solcher Entwurf die paradoxe Erwartung, heute schon in den Grenzen ihrer aktuellen Handlungsmöglichkeiten ein Programm zu verfolgen, das sie doch erst jenseits dieser Grenzen realisieren können.“20

Ein weiteres Eingeständnis gravierender Implementierungsschwierigkeiten, auf die seine normativen Empfehlungen stoßen, kann man daran erkennen, dass Habermas den politischen Parteien in den Nationalstaaten „Mut zur Antizipation“21 abverlangt und sie dazu auffordert, ihre Europapolitik nicht an nationalen und noch nicht einmal an europäischen, sondern vielmehr an globalen Interessen auszurichten: „Die politischen Parteien (. . .) müssen (. . .) innerhalb des nationalen Spielraums – des einzigen, in dem sie aktuell handeln können – auf den europäischen Handlungsspielraum vorausgreifen. Diesen wiederum müssen sie programmatisch mit der doppelten Zielsetzung erschließen, ein soziales Europa zu schaffen, das sein Gewicht in die kosmopolitische Waagschale wirft.“22

Auch die beiden folgenden Zitate belegen, wie skeptisch Habermas die Erfolgsaussichten seiner eigenen Ratschläge beurteilt: „Die Reregulierung der Weltgesellschaft hat bisher nicht einmal die Gestalt eines exemplarisch, an Beispielen erläuterten Projektes angenommen. Seine ersten Adressaten sind nicht Regierungen, sondern Bürger und Bürgerbewegungen. Aber soziale Bewegungen kristallisieren sich erst, wenn sich für die Bearbeitung von Konflikten . . . normativ befriedigende Perspektiven öffnen.“23 „Innovationen kommen nicht zustande, wenn die politischen Eliten nicht auch in den vorgängig reformierten Wertorientierungen ihrer Bevölkerungen Resonanz finden.“24 20 21 22 23 24

Habermas Habermas Habermas Habermas Habermas

(1998c), (1998c), (1998c), (1998c), (1998c),

S. S. S. S. S.

124 f. (H. i. O.). 168. 168 f. 168. 168 (H. i. O.).

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Die offen ausgewiesene Verlegenheit seiner Ratschläge besteht darin, den politischen Akteuren raten zu müssen, sich so zu verhalten, wie sie sich eigentlich nur dann verhalten könnten, wenn die Bürger sie dafür gratifizieren würden, was allerdings ein kosmopolitisches Solidaritätsbewusstsein voraussetzt, das es gegenwärtig noch nicht gibt. Die Katze beißt sich in den Schwanz. (2) Die eigentliche Verlegenheit des Denkansatzes ist theoriestrategischer Natur. Sie besteht darin, dass der Ansatz nicht das leisten kann, was er leisten will: Es fällt ihm schwer, die Theorie praktisch werden zu lassen. Das Implementierungsproblem ist nicht nur ungelöst. Es droht, im Rahmen des Ansatzes prinzipiell unlösbar zu sein. Damit ist ein echtes Grundlagenproblem identifiziert. Als These zugespitzt: Der von Habermas eingeschlagene Weg, Normativität ins Spiel zu bringen, ist hier – nota bene: durch seinen eigenen Ansatz! – kategorial versperrt. Habermas sucht den Zugang zur Normativität über konsistenztheoretische Argumente. Er stellt sich damit in eine große philosophische Tradition: Spätestens seit G. W. F. Hegels Kritik am abstrakten Sollen ist es in der Philosophie weit verbreitet, die fragliche Normativität als in den Institutionen der Gesellschaft bereits inkorporiert anzusehen, so dass sie von der Theorie lediglich nachbuchstabiert – und so den Bürgern explizit zu Bewusstsein gebracht – werden muss, um eine öffentlich selbstreflexive Stabilisierung des normativen Gehalts in den Institutionen zu bewirken. Ein mustergültiges Vorbild hierfür bietet die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls. Er bestimmt Gerechtigkeit als „die erste Tugend sozialer Institutionen“25 und kann dann darauf verweisen, dass „Gesetze und Institutionen abgeändert oder abgeschafft werden [müssen], wenn sie ungerecht sind“26. Auf diese Weise kann sich seine Theorie in die öffentlichen Diskurse einer demokratisch verfassten Gesellschaft einklinken und als Theorie zu einer selbstreflexiven Aufwärtsspirale beitragen, die mit ihrer Aufklärung über Gerechtigkeit zumindest indirekt auch zur Steuerung des Institutionensystems beiträgt (Abb. 5).27 Letztlich liegt einer solchen Theoriestrategie die Idee zugrunde, dass, sobald das normative Prinzip erst einmal klar vor Augen steht, es schwer(er) 25

Rawls (1971, 1979), S. 19. Rawls (1971, 1979; S. 19). 27 In Abbildung 5 symbolisiert der obere, nach rechts weisende Pfeil theoretische Aufklärungsleistungen, während der untere, nach links weisende Pfeil theoretische Steuerungsbeiträge symbolisiert. Der obere Pfeil ist dunkler eingezeichnet, um darauf aufmerksam zu machen, dass der Rawlssche Ansatz auf starke Aufklärungsleistungen zugeschnitten ist, während seine Steuerungsleistungen – methodisch bedingt – eher schwach ausfallen. Vgl. hierzu ausführlich Pies (2000a), S. 263–276 und S. 287–304. 26

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Sein

Bewusstsein

Institutionen

Intentionen

Abbildung 5: Der normative Ansatz bei John Rawls

fällt, dagegen zu verstoßen, weil öffentlich auf eine Inkonsistenz hingewiesen werden kann. Auch die Habermassche Diskursethik folgt diesem Ansatz, wenn sie bis in die Strukturen der Institution Sprache hinein jenen Verständigungsnormen nachspürt, die man implizit – die typische Formulierung lautet: „immer schon“ – anerkennt und gegen die explizit zu verstoßen ein performativer Selbstwiderspruch sein würde.28 Genau an dieser Stelle aber entwickelt die Habermassche Diagnose einer postnationalen Konstellation eine – methodisch betrachtet – selbstsubversive Sprengkraft, denn das Kennzeichen dieser Konstellation wird ja gerade darin gesehen, dass es an jenen Institutionen mangelt, die eigentlich vorausgesetzt werden müssten, um einen Ansatzpunkt für eine normative Konsistenzargumentation zu gewinnen. Hierzu schreibt Habermas mit einer Deutlichkeit, die kaum etwas zu wünschen übrig lässt: „Unter den gegebenen Bedingungen kann man sich nicht einmal auf eine weltweite Transaktionssteuer auf Spekulationsgewinne einigen. Erst recht fällt es 28 Otfried Höffe (1999, S. 278) scheint in dieser Hinsicht eine Ausnahmeposition zu vertreten – oder doch zumindest für vertretbar zu halten. Bei ihm liest man: „Gegen die Behauptung, einen Weltstaat zu verlangen sei unrealistisch, könnte man mit dem großen Moralisten Jean-Jacques Rousseau sagen: ‚Was schert der Irrtum der Menschheit die Wahrheit, und was ihre Barbarei die Gerechtigkeit? Suchen wir nicht nach dem, was getan wurde, sondern danach, was man tun soll.‘ Ein kompromissloses Sollen wie die Gerechtigkeit – wenn der Weltstaat denn diesen Rang hat – wird durch die ‚schlechte Wirklichkeit‘ in der Tat nicht getrübt. Im Gegenteil muss sich die Wirklichkeit vor dem Sollen und nicht das Sollen vor der Wirklichkeit rechtfertigen.“ Im Hinblick auf solche Positionen wird verständlich, mit welcher Berechtigung Niklas Luhmann (1990) die Ethik davor warnt, sich mit Moral zu identifizieren – oder gar zu infizieren.

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Sein

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Bewusstsein

? ? Institutionen

Intentionen

Abbildung 6: Der normative Ansatz bei Jürgen Habermas

schwer, sich eine Organisation oder eine ständige Konferenz, irgendein Verfahren vorzustellen, wonach sich beispielsweise die Regierungen der OECD-Staaten auf einen Rahmen für die nationalen Steuergesetzgebungen einigen könnten. Ein internationales Verhandlungssystem, das einen ‚race to the bottom‘ – einen kostensenkenden Deregulationswettbewerb, der sozialpolitische Handlungsspielräume einschnürt und soziale Standards beschädigt – begrenzt, müsste die Kraft zu umverteilungswirksamen Regulationen haben. Einschneidende Politiken dieser Art wären innerhalb einer Europäischen Union, die, ungeachtet der multinationalen Zusammensetzung und einer starken Stellung der nationalen Regierungen, staatliche Qualität annimmt, immerhin denkbar. Aber auf globaler Ebene fehlt beides, die politische Handlungsfähigkeit einer Weltregierung und eine entsprechende Legitimationsgrundlage.“29

Dass Habermas zufolge auf globaler Ebene eben beides fehlt: die institutionelle Grundlage einer Solidaritätspolitik ebenso wie das erforderliche Solidaritätsbewusstsein, raubt seiner Theoriestrategie den Ansatzpunkt für Normativität. Die Normativität verliert die Bodenhaftung und wird gleichsam freischwebend. Bildlich gesprochen, könnte man sagen: Seine Argumentation läuft nicht mehr rund (Abb. 6).30 (3) Die Diagnose einer postnationalen Konstellation versetzt den Ansatz von Habermas in eine äußerst prekäre Lage. Deshalb ist es gerade unter 29 Habermas (1998c), S. 158 f. (H. i. O.). Vgl. auch Habermas (1998c). S. 163. Er sieht strukturelle Hindernisse, die im Wege stehen, wenn man versuchen wollte, das Entstehen weltbürgerlicher Solidarität als stetigen Übergang von einem nationalen zu einem europäischen und schließlich globalen Verfassungspatriotismus zu denken. 30 In Abbildung 6 symbolisieren die Fragezeichen den fehlenden Ansatzpunkt für Normativität. Der argumentative Kreislauf schließt sich nicht mehr, denn die Aufklärungs- und Steuerungs-Argumente sind in sich selbst brüchig.

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methodischen Gesichtspunkten sehr interessant und aufschlussreich zu beobachten, wie er selbst darauf reagiert. Theoriestrategisch stehen mehrere Optionen zur Verfügung (Abb. 7).31 Zum einen könnte Habermas den Argumentationsmodus wechseln. Das tut aber er nicht. Weder verlegt sich Habermas aufs bloße Appellieren und Postulieren, noch schaltet er um auf die Generierung von Klugheitsargumenten. Stattdessen bleibt er seinem ursprünglichen Ansatz treu, operiert weiterhin im Modus von Konsistenzargumenten und nimmt dann aber konsequenterweise den Geltungsanspruch seiner Normativität immer stärker zurück. Da der Ansatzpunkt für die Generierung von Verpflichtungsgründen fehlt, verdünnt Habermas den normativen Gehalt seiner Theorie. Metaphorisch ausgedrückt, betreibt er Homöopathie.32 Das Resultat ist lähmende Ratlosigkeit: 31

Abbildung 7 unterscheidet zwischen Sollensparadigma und Wollensparadigma. Im Sozialisationsprozess erfährt ein Individuum Normativität zunächst als Sollen. Erst im Verlauf dieses Prozesses macht es dann die Erfahrung, dass das Gesollte – unter bestimmten Bedingungen – auch im eigenen Interesse gewollt werden kann. Das moralisch Gesollte individuell wollen zu können, konstitutiert die Autonomie der Person, während umgekehrt gilt, dass permanent und gravierend gegen eigene Interessen verstoßen zu sollen, die Würde der Person verletzt. Betrachtet man nun Sollensparadigma und Wollensparadigma als die beiden Modi der Moralkommunikation, so besteht nicht notwendig ein strikter Gegensatz. Entscheidend ist vielmehr, ob Aussagen, die – vielleicht nur aus pragmatischen Gründen – im Sollensparadigma formuliert sind, im Wollensparadigma rekonstruiert werden können. Abb. 7 versucht dies graphisch umzusetzen, indem das Wollensparadigma so eingezeichnet ist, dass es Teile des Sollensparadigmas umfassen kann. Ferner wurde versucht, graphisch zu verdeutlichen, dass nur Klugheitsargumente starke Argumente sind, dass Appellen und Postulaten die Qualität eines Arguments zumeist fehlt und dass Konsistenzargumente als schwache Argumente eine mittlere Stellung einnehmen, wenn es darum geht, mittels Theorie normative Aufklärungs- und Steuerungsbeiträge zu generieren. Als These formuliert: Während eine auf Konsistenz zielende Begründung – und sogar eine Letztbegründung – zur Implementierung weder notwendig noch hinreichend ist, kann (nur) ein Klugheitsargument als genuiner Implementationsanreiz fungieren. 32 Diese homöopathische Wendung hatte sich bei Habermas schon 1990 angekündigt, als er sich genötigt sah, seinen Sozialismus nicht mehr über „konkrete Schlüsselforderungen“ – so die bereits zitierte Stelle bei Habermas (1990, 2003), S. 145 –, sondern rein prozeduralistisch zu definieren. Bereits damals konstatierte er die Notwendigkeit – Habermas (1990, 2003), S. 149 (H. i. O.) –, „die sozialistischen Ideen umsetzen zu müssen in die radikalreformistische Selbstkritik einer kapitalistischen Gesellschaft, die in den Formen einer rechts- und sozialstaatlichen Massendemokratie gleichzeitig mit ihren Schwächen auch ihre Stärken entfaltet hat. Nach dem Bankrott des Staatssozialismus ist diese Kritik das einzige Nadelöhr, durch das alles hindurch muss. Dieser Sozialismus wird erst mit dem Gegenstand seiner Kritik verschwinden – vielleicht eines Tages, wenn die kritisierte Gesellschaft ihre Identität so weit verändert hat, dass sie alles, was sich nicht in Preisen ausdrücken lässt, in seiner Relevanz wahrnehmen und ernst nehmen kann.“ Dieser Idee zumindest ist Habermas über die Zeit hinweg treu geblieben. So liest man bei Habermas (2004),

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eine Denkblockade, die in Handlungsblockaden mündet, wie die Ratschläge zeigen, auf deren Befolgung nicht einmal Habermas selbst setzen mag. III. Wie generiert man Klugheitsargumente rationaler Selbstbindung? Zur normativen Heuristik weltgesellschaftlicher Ordnungspolitik Die folgenden Ausführungen weisen einen Weg aus der theoriestrategischen Sackgasse. Sie entwerfen eine „ordonomische“ – sc. ordnungstheoretische – Argumentationsskizze. Sie stellen vor, wie eine im Wollensparadigma angesetzte und mit Rational-Choice-Theoremen operierende Generierung von Klugheitsargumenten aussehen könnte. Der Gedankengang beginnt mit einer Vorüberlegung (1) und erläutert sodann den verwendeten Rationalitätsbegriff (2), die ordonomische Situationslogik (3), die daraus resultierende Funktionsanalyse des Marktes (4) sowie schließlich – dies wird sich als besonders wichtig erweisen – eine Relationierung von Markt und Staat (5), die einen systematischen Ansatzpunkt für Normativität aufweisen kann und damit das theoriestrategische Grundlagenproblem löst, an dem der Habermassche Ansatz methodisch scheitert. (1) Ausgehend von der Zeitdiagnose einer Kolonialisierung der Lebenswelt durch Systemimperative, war die Aufgabe der lebensweltlichen Äquidistanz gegenüber den beiden Subsystemen Staat und Wirtschaft – methodisch betrachtet – eine enorm riskante und folgenreiche Theoriebildungsentscheidung. Dieser Schritt ist Jürgen Habermas sichtlich nicht leicht gefallen, worauf etwa folgende Äußerung schließen lässt: „Bei aller Vorsicht gegenüber einem unkritischen Rückgriff auf die Errungenschaften des Sozialstaates sollten wir vor den Kosten seiner ‚Transformation‘ oder Auflösung nicht die Augen verschließen. Man kann für die normalisierende Gewalt von Sozialbürokratien empfindlich bleiben, ohne vor dem skandalösen Preis, den eine rücksichtslose Monetarisierung der Lebenswelt erfordern würde, die Augen zu verschließen.“33

Habermas will seine Anerkennung staatlicher Solidaritätsleistungen also nicht einfach als eine affirmative Wende verstanden wissen, nach der nun freudig begrüßt wird, was zuvor radikal kritisiert worden war. Er will seinen Ansatz sensibel halten für Gefährdungen der Lebenswelt von Seiten des Staates. S. 3 (H. i. O.): „[D]as dislozierte, an falscher Stelle angewendete wirtschaftliche Denken, das die nicht in Geld zu messenden Leistungen – ob nun in Psychiatrien und Kindergärten oder in Universitäten und Verlagen – den schlichten Maßstäben McKinseys unterwirft, ist zum gesellschaftlich wirksamen Kategorienfehler geworden.“ 33 Habermas (1998c), S. 133.

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Aufklärungs- und Steuerungsbeiträge

Appelle, Postulate

Sollensparadigma

KonsistenzArgumente

KlugheitsArgumente

Wollensparadigma

Abbildung 7: Die theoriestrategischen Optionen normativer Argumentation

Eine solche Differenziertheit legt die Frage nahe, ob es theoriearchitektonisch nicht vielleicht auch möglich sein könnte, den Habermasschen Ansatz wieder auf zwei Beine zu stellen – und der Normativität Bodenhaftung zu verleihen –, indem man auch dem Subsystem Wirtschaft bestimmte Solidaritätsleistungen zuspricht, ohne dadurch gleich affirmativ zu werden. Um hier kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Das ist bei Habermas nicht angelegt, ganz im Gegenteil. Er zeichnet ein reines Schwarz-Weiß-Bild, wenn es darum geht, die beiden Subsysteme Staat und Wirtschaft im Hinblick auf ihren Beitrag zu gesellschaftlicher Solidarität zu kontrastieren: „Auf längere Sicht wird nur ein demokratischer Prozess, der für die angemessene Ausstattung mit und eine faire Verteilung von Rechten sorgt, als legitim gelten und Solidarität stiften. Um eine Quelle von Solidarität zu bleiben, muss der Staatsbürgerstatus einen Gebrauchswert behalten und sich auch in der Münze sozialer, ökologischer und kultureller Rechte auszahlen. Insofern hat die sozialstaatliche Politik eine nicht unerhebliche Legitimationsfunktion übernommen. Das betrifft natürlich nicht nur das Kernstück des Sozialstaats, die redistributive Sozialpolitik, die für die Lebensführung der Bürger von existentieller Bedeutung ist. Von der Arbeitsmarkt- und Jugendpolitik über die Gesundheits-, Familien- und Bildungspolitik bis zu Naturschutz und Stadtplanung erstreckt sich ‚Sozialpolitik‘ im weiteren Sinne auf das ganze Spektrum der staatlichen Organisations- und Dienstleistungen, die kollektive Güter bereitstellen und jene sozialen, natürlichen, kulturellen Lebensbedingungen sichern, die die Urbanität, den öffentlichen Raum einer zivilisierten Gesellschaft überhaupt, vor dem Verfall bewahren. Viele Infrastrukturen des öffentlichen und privaten Lebens sind von Verfall, Zerstörung

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und Verwahrlosung bedroht, wenn sie der Regulierung durch den Markt überlassen werden.“34

Allerdings wird man stutzig, wenn man liest, wie sich hier ökonomische Metaphern einschleichen, z. B. das von Habermas selbst kursiv gesetzte „auszahlen“. Geht es nicht einfach darum, den Zusammenhalt der Gesellschaft dadurch zu sichern, dass man das Arrangement des sozialen Zusammenlebens so ausgestaltet, dass es als allgemein vorteilhaft empfunden wird? Geht es nicht einfach um die Anreizkompatibilität des Gesellschaftsvertrags? Und wäre es dann nicht angemessen(er), sich um die Generierung von Klugheitsargumenten zu bemühen? Wenn der Eindruck nicht täuscht, tendiert Habermas dazu, diese letzte Frage eher mit einem Nein beantworten zu wollen: „Mit dem Hobbesschen Problem, wie soziale Verhaltenserwartungen stabilisiert werden können, ist die Kooperationsfähigkeit rationaler Egoisten auch auf globaler Ebene überfordert.“35

Warum vertritt Habermas diese Auffassung? Letztlich dürfte hierfür ausschlaggebend sein, dass aus seiner Sicht der Staat den Markt bändigen und mittels einer Umverteilung für Stabilität sorgen soll, welche von den Bürgern nur dann nicht als Zumutung abgelehnt wird, wenn sie diese Umverteilung als eine Solidaritätspflicht wahrnehmen.36 Die im Folgenden einzulösende These lässt sich mithin im Vorgriff so formulieren: Das Verhältnis zwischen Markt und Staat muss von Grund auf anders konzeptualisiert werden, wenn im Rahmen einer Theorie der „Global Governance“ ein Ansatzpunkt für Normativität gefunden werden soll. Hierfür wird nun eine ordonomische Argumentationsskizze entwickelt. (2) Eine „rational-choice“-basierte Ordonomik hat zunächst einmal einige Vorurteile auszuräumen, die sich auch bei Habermas finden. Bei ihm liest man: „Der Begriff des ‚rationalen Entscheiders‘ ist unabhängig sowohl vom Begriff einer moralischen Person, die ihren Willen durch Einsicht in das, was im gleichmäßigen Interesse aller Betroffenen liegt, binden kann, als auch vom Begriff des Bürgers einer Republik, der sich gleichberechtigt an der öffentlichen Praxis der Selbstgesetzgebung beteiligt. Die neoliberale Theorie rechnet mit Privatrechtssubjekten, die in den Grenzen gesetzlicher Handlungsspielräume nach eigenen Präferenzen und Wertorientierungen ‚tun und lassen, was sie wollen‘. Sie brauchen 34 Habermas (1998c), S. 117 f. (H. i. O.). Aus dieser Befürchtung heraus wendet sich Habermas (2004, S. 3) gegen eine Politik, „die zentrale gesellschaftliche Bereiche einer Regulierung durch den Markt überlässt – und damit aus ihrer eigenen, demokratisch kontrollierten Verantwortung herausnimmt“. 35 Habermas (1998b), S. 90. 36 Vgl. hierzu Habermas (1998c), S. 150 et passim.

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sich wechselseitig nicht füreinander zu interessieren, sind also nicht mit einem moralischen Sinn für soziale Verpflichtungen ausgestattet.“37

Im Kern geht es um den Vorwurf, dass die Akteure der Rational-ChoiceTheorie nicht bindungsfähig sind und mit einem verkürzten Freiheitsbegriff operieren. Aus einer ordonomischen Perspektive ist zu diesen beiden Punkten wie folgt Stellung zu nehmen: Erstens: Selbst wenn „Rational Choice“ gleichzusetzen wäre mit „wirtschaftlichem Denken in Geldeinheiten“, wären rationale Akteure bindungsfähig. Der terminus technicus heißt „Investition“. Dieser Investitionsbegriff lässt sich in der zeitlichen wie in der sozialen Dimension entfalten: (a) Sparen bedeutet, heute auf Konsum zu verzichten, um morgen über einen erweiterten Handlungsspielraum zu verfügen. Erweist sich eine solche Bindung als produktiv, so wird sie vom Einzelnen als vorteilhaft empfunden und entspricht insofern zweckrationalem Verhalten. (b) Sanktionsbewehrte Gesetze oder vertragliche Vereinbarungen zu befolgen bedeutet analog, sich um bestimmter Vorteile wegen eine Bindung aufzuerlegen. Da „Rational Choice“ – verstanden als zweckrationales Verhalten – sich aber nicht nur auf i. e. S. wirtschaftliche Zwecke und schon gar nicht ausschließlich auf in Geld bewertbare Zwecke einschränkt, sondern vielmehr alle Zwecke – alle subjektiven Interessen – umfasst, die Individuen zu verfolgen belieben, sind die Akteure der „Rational-Choice“-Theorie auch zu moralischen Bindungen fähig. Die Konzeptualisierung erfolgt mithilfe der Kategorie des Humankapitals. Danach hat unmoralisches Verhalten einen (durchaus auch nicht-monetären) Preis. Es verursacht Opportunitätskosten. Diese bestehen in der Missachtung durch Mitbürger, die als Nutzeneinbuße empfunden wird, aber auch in einem schlechten Gewissen, das als Beeinträchtigung der eigenen Identität – und mithin als Abschreibung von Humankapital – modelliert werden kann.38 Zweitens: In der Tat geht das klassische Freiheitsverständnis traditionell davon aus, dass der Einzelne im Rahmen der Gesetze tun und lassen darf, was ihm beliebt, solange es nicht anderen schadet. Damit endet die Freiheit des einen dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Diesem Verständnis zufolge werden die anderen als Beschränkung der eigenen Freiheit erfahren. Hiergegen wendet sich bereits der junge G. W. F. Hegel. Er fordert zu ei37

Habermas (1998c), S. 142 (H. i. O.). Im ordonomischen Ansatz wird das Phänomen einer Moraldisposition nicht als deus ex machina eingeführt, sondern als Humankapitalakkumulation – vulgo: Gewohnheitsbildung. Diese ist systematisch auf eine begünstigende Anreizstruktur angewiesen, also auf eine moralisches Verhalten gratifizierende Interaktionsumwelt. Die im Rahmen der „Rational-Choice“-Literatur zentrale Referenzposition hierfür ist Gary S. Becker. Vgl. dazu Pies (1998) und (2000c). 38

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nem klaren Perspektivwechsel auf. In seiner Kritik an Fichte als einem Vertreter des klassischen Freiheitsverständnisses liest man: „[D]ie Gemeinschaft der Person mit anderen muss (. . .) wesentlich nicht als eine Beschränkung der wahren Freiheit des Individuums, sondern als eine Erweiterung derselben angesehen werden.“39 Die „rational-choice“-basierte Ordonomik erkennt dieses Argument vorbehaltlos an: Freiheit als soziale Freiheit gibt es folglich nicht von, sondern nur in der Gesellschaft. Um diesen Gedanken auf ein in der Ökonomik gebräuchliches Bild anzuwenden: Robinson Crusoe ist bis zu seiner Begegnung mit Freitag nicht frei, sondern einsam. Das Erscheinen von Freitag auf seiner Insel schränkt Robinsons Freiheit nicht ein, sondern erweitert diese – materiell und immateriell. (3) Die „rational-choice“-basierte Ordonomik ist keine Handlungstheorie, sondern eine Ordnungstheorie. Sie interessiert sich nicht primär für Handlungen, sondern für die gesellschaftlichen Auswirkungen von Handlungen. Handlungen sind in dieser Theorie Explanans, nicht Explanandum. Explanandum sind vielmehr die sozial aggregierten Ergebnisse individueller Handlungen. Diese stellen sich ein als nicht-intendierte Folgen intentionalen Handelns. Deshalb – nur deshalb – ist es zweckmäßig, mit einem auf alle denkbaren Interessen erweiterten Vorteilsbegriff zu arbeiten: Wollte man fragen, ob eine bestimmte Handlung vernünftig ist, so wäre die bejahende Antwort durch einen weiten Vorteilsbegriff präjudiziert – die Theorie geriete in die Nähe einer Tautologie. Hier wird aber eine völlig andere Problemstellung verfolgt: Gefragt wird, ob rationale Akteure in der Lage sind, ihre Intentionen zur Geltung zu bringen. Genauer: Gefragt wird, wovon es abhängt, ob rationale Akteure in der Lage sind, ihre Intentionen zur Geltung zu bringen. Die Antwort auf diese Frage wird nicht an internen, sondern an externen Faktoren festgemacht: Ähnlich wie seit dem Übergang von der aristotelischen zur galileischen Physik das Fallverhalten physischer Körper nicht mehr auf inhärente Körpereigenschaften – schwere Körper fallen schneller als leichte Körper –, sondern auf Situationseigenschaften zugerechnet wird – im Vakuum fallen alle Körper gleich schnell –, erfolgt auch hier nicht eine Zurechnung auf die inhärenten Eigenschaften der Akteure – ihre Intentionalität und Rationalität –, sondern eine Zurechnung auf Situationseigenschaften. Der programmatische Leitsatz des Erklärungsprogramms lautet: Im institutionellen Vakuum kommt Kooperation nicht zustande. Und von hier ausgehend wird dann untersucht, welche institutionellen Arrangements rationale Akteure in die Lage versetzen, gemeinsame Ziele zu verwirklichen. Die Ordonomik verwendet den Rational-Choice-Ansatz also als eine 39 Hegel (1801, 1986), S. 82. Vgl. hierzu auch die Schrift „Zur Judenfrage“ von Karl Marx (1843, 1956).

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situationslogische Zurechnungsheuristik zur Erforschung institutioneller Arrangements. So weit zur Kennzeichnung der ordonomischen Methode. Mit ihr lassen sich zahlreiche inhaltliche Einsichten über die Sozialstruktur und Semantik der modernen Gesellschaft generieren. Eine besonders wichtige Einsicht betrifft das Phänomen antagonistischer Kooperation. Auf der einen Seite kann festgestellt werden: Jede Kooperation enthält ein (latent) antagonistisches Element. Kooperation ist stets gefährdet, an einem Interessenkonflikt zu zerbrechen. Deshalb muss sie institutionell stabilisiert werden. Aber auf der anderen Seite kann auch festgestellt werden: Jeder Antagonismus enthält ein (latent) kooperatives Element.40 In jedem Konflikt gibt es nicht nur widerstreitende Interessen, sondern auch gemeinsame Interessen. Hier kann Normativität ansetzen. Verdeutlichen lässt sich diese Einsicht mit Hilfe einer Situationsanalyse sozialer Dilemmata.41 Ein soziales Dilemma ist eine Situation, in der rationale Akteure anreizbedingt nicht in der Lage sind, ein gemeinsames Interesse zu verwirklichen. Hier führt die Verfolgung des eigenen Vorteils zu einem Nachteil für alle. Rationales Verhalten mündet in eine kollektive Selbstschädigung. Technisch ausgedrückt, wird ein pareto-inferiores Nash-Gleichgewicht realisiert. Mit dem Ergebnis sind alle Beteiligten unzufrieden. Beispiele hierfür sind so zahlreich wie Sand am Meer. Sie reichen von der Übernutzung nicht-bepreister Ressourcen – Tragik der Allmende – bis hin zur Unterversorgung mit öffentlichen Gütern aufgrund des Trittbrettfahrerproblems. Die Überfischung der Weltmeere gehört hierzu ebenso wie der Treibhauseffekt. Der Kategorie sozialer Dilemmata zugehörig sind ferner alle Schwierigkeiten globaler Kooperation, sei es in der Entwicklungszusammenarbeit, etwa bei der Bekämpfung von Krankheiten, sei es in Fragen internationaler Sicherheit, etwa bei der Bekämpfung des Terrorismus. Stets geht es um Probleme, die dadurch verursacht werden, dass individuelle Anreize die Verwirklichung eines gemeinsamen Ziels zu unterminieren drohen. 40

Vgl. hierzu bereits Schelling (1960, 2003). Man könnte diesen theoretischen Zugriff auch als methodologischen Hobbesianismus bezeichnen: Es geht darum, den sozialen Konflikt nicht bloß als Gefährdung von Konsens, sondern zugleich auch als Quelle für Konsens thematisieren zu können. Im Hinblick auf die Ordnung von Gesellschaft setzt dieser ordonomische Ansatz programmatisch die schon bei Kant (1784, 1975) nachzulesende Aufforderung um, die Dialektik der „ungeselligen Geselligkeit“ institutionentheoretisch zu entfalten und mit dem Aufweis der sozialkonstitutiven Bedeutung von Konflikten einen Modus der konsensualen Konfliktbearbeitung durch Regelfindung und Regelsetzung vorzustellen, „zu dessen Herleitung [die] Idee, obgleich nur von sehr weitem, selbst beförderlich werden kann“. Zum methodologischen Hobbesianismus vgl. Pies (2006). 41 Vgl. Homann (1994, 2002), (2000, 2002) sowie Buttkereit/Pies (2006).

Markt versus Staat?

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Das unbefriedigende Ergebnis eines sozialen Dilemmas wird ordonomisch nicht auf Akteurseigenschaften zugerechnet – schon gar nicht auf deren Intentionen –, sondern vielmehr auf die Situationseigenschaften: auf jene institutionellen Spielregeln, die die je individuellen Spielzüge der Akteure mittels (monetären und/oder nicht-monetären) Anreizen kanalisieren. Damit wird eine theoriestrategisch wichtige Differenzierung möglich: die Basisunterscheidung zwischen Handlungs- und Regelinteressen, zwischen Interessen im Spiel und Interessen am Spiel. Mit ihrer Hilfe lässt sich situationslogisch dechiffrieren, wie das (latente) Kooperationselement in den Antagonismus eingelassen ist – und aktiviert werden kann. Der theoretische Kunstgriff besteht darin, die Simultaneität gemeinsamer und konfligierender Interessen auf zwei unterschiedlichen Ebenen anzusetzen. Im sozialen Dilemma gilt: Die konfligierenden Handlungsinteressen im Spiel konstituieren ein gemeinsames Regelinteresse an einem – für alle – besseren Spiel. Daraus folgt die situationslogische Erkenntnis: Der systematische Ansatzpunkt für Normativität ist das Meta-Spiel.42 Im sozialen Dilemma kann Normativität nicht direkt bei den Spielzügen ansetzen. Hier sind Ratschläge systematisch nicht möglich, weil die Theorie ja annimmt, dass sich die Akteure an die situativ gegebenen Anreize bereits rational anpassen. Ihre Strategiewahl ist „immer schon“ die bestmögliche Antwort auf die Strategiewahl der anderen, so dass noch bessere Antworten gar nicht empfohlen werden können. Im Spiel gibt es eben keine besseren Antworten. Will man trotzdem empfehlen, die Spielzüge zu ändern und eine andere Strategie zu wählen, dann empfiehlt ein solcher Ratschlag notwendig eine schlechte(re) Antwort, und die ist nicht kompatibel mit den Interessen eines rationalen Akteurs. Hier liegt der sozial-strukturelle Grund für die Implementierungsschwierigkeiten, auf die zahlreiche Ratschläge stoßen, die zwar gut gemeint sein mögen, aber eben nicht gut sind.43 Wenn man Normativität nicht darauf verkürzen will, den Akteuren im Spiel Opfer und Verzicht zuzumuten, muss man folglich als Ansatzpunkt die Ebene der Spielregeln wählen. Nur hier lässt sich die zur Lösung des Implementierungsproblems von Ratschlägen unabdingbare Logik der Besserstellung entfalten, und zwar als Logik wechselseitiger (!) Besserstellung, indem mittels einer Veränderung der Spielregeln die für ein besseres Ergebnis erforderlichen Spielzüge gratifiziert werden. Im ordonomischen Theoriedesign empfiehlt Normativität nicht, ein gegebenes Spiel besser zu spielen, sondern sie empfiehlt, ein besseres Spiel zu spielen. (4) Die ordonomische Situationslogik sozialer Dilemmata ist nicht nur in normativer Hinsicht aufschlussreich. Mit ihr lassen sich auch positive Er42 43

Vgl. Pies (1998). Vgl. Pies (2000d).

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kenntnisse generieren. Hier ist von besonderem Interesse, wie sich die Funktionslogik des Marktes auf ein institutionell differenziertes Management sozialer Dilemmata zurückführen lässt. Abbildung 8 hilft, die Grundzüge der Argumentation zu verdeutlichen.44 Zwischen den Anbietern (A) und Nachfragern (N) auf einem Markt bestehen bilaterale Tauschbeziehungen, symbolisiert durch die vertikalen Pfeile. Die Interaktionslogik lautet: do ut des. Dies erfordert eine Kopplung von Leistung und Gegenleistung. Ohne eine solche Kopplung – also ohne Vertrag, im institutionellen Vakuum – käme der Tausch nicht zustande. Die Akteure würden im sozialen Dilemma gefangen bleiben und das im Tausch liegende Potential wechselseitiger Besserstellung ungenutzt lassen (müssen). Der gelingende Tausch auf dem Markt ist mithin eine Form antagonistischer Kooperation, bei der der Antagonismus institutionell kontrolliert und in den Hintergrund gedrängt wird. Gelingender Tausch beruht auf der Überwindung eines (potentiellen) sozialen Dilemmas zwischen Anbieter und Nachfrager. Zwischen den Anbietern untereinander bestehen Konkurrenzbeziehungen, symbolisiert durch die horizontalen Pfeile. Im Idealfall herrscht Leistungswettbewerb mit einer wechselseitigen Unterbietungstendenz beim Preis und einer wechselseitigen Überbietungstendenz bei der Qualität. Leistungswettbewerb bedeutet, dass sich die Anbieter das Leben wechselseitig schwer machen. In ihrem kollektiven Interesse wäre es, sich bei der Leistung eher zurückzuhalten. Es ist wie im Sport: Die Distanz zwischen Start und Ziel lässt sich wesentlich gemütlicher überwinden, wenn die Gruppe versucht, ihre Fortbewegung nicht als Wettlauf zu organisieren. Konkurrenz ist kollektive Selbstschädigung. Mithin ist der gelingende Leistungswettbewerb auf dem Markt eine Form antagonistischer Kooperation, bei der der Antagonismus institutionell kontrolliert und in den Vordergrund gerückt wird. Gelingender Leistungswettbewerb beruht auf der Etablierung und Aufrechterhaltung eines sozialen Dilemmas zwischen den Anbietern untereinander.45 Wichtig ist nun, wie die diversen sozialen Dilemmata zusammenhängen. Zwei Punkte sind hier hervorzuheben. Erstens sind die beiden horizontalen Dilemmata durch ein Junktim miteinander gekoppelt. Der Wettbewerb auf der eigenen Marktseite ist gleichsam der Preis, den man zahlen muss, um in den Genuss zu kommen, dass auch die andere Marktseite unter Wettbewerb steht. Und zweitens ist die Etablierung der beiden horizontalen Di44

Vgl. hierzu ausführlich Pies (2000a), S. 52–62. Ähnlich verhält es sich auf der Nachfragerseite des Marktes. Die Nachfrager haben ein gemeinsames Interesse an möglichst niedrigeren Preisen, überbieten sich im Leistungswettbewerb jedoch wechselseitig und treiben so das Preisniveau in die Höhe. Auch sie befinden sich in einem sozialen Dilemma. 45

Markt versus Staat?

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Horizontales Anbieterdilemma

A

A

A Vertikale Dilemmata

N

N

N

Horizontales Nachfragerdilemma

Abbildung 8: Der Markt als Arrangement sozialer Dilemmata

lemmata ein wichtiger Beitrag zur Überwindung des vertikalen Dilemmas. Leistungswettbewerb hilft, Verträge anreizkompatibel zu machen. Vor dem Hintergrund dieser Rekonstruktion lautet die ordonomische These: Konkurrenz ist ein Instrument sozialer Kooperation. Wettbewerb ist kein Selbstzweck, sondern ein unverzichtbares Anreizinstrument, mit dem das gesellschaftliche Potential wechselseitig vorteilhafter Tauschakte besser angeeignet werden kann. (5) Die moderne Wachstumsökonomie, die statistisch nachweisbar – siehe Abb. 9 und 10 – seit etwa 1820 die Versorgung mit materiellen und immateriellen Gütern und damit den allgemeinen Lebensstandard (inklusive Gesundheit und Lebenserwartung) breiter Bevölkerungsschichten anhebt – in einem welthistorisch einmaligen Prozess, der in Europa beginnt, im 19. Jahrhundert auf die USA ausgreift und seit Mitte des 20. Jahrhunderts immer weitere Teile Asiens einbezieht –, beruht auf einer marktlichen Koordination individuellen Vorteilsstrebens. Marktlicher Wettbewerb zwingt Akteure dazu, ihre Leistungen in den Dienst anderer Menschen zu stellen. Auf diese Weise operieren Märkte im Modus institutionalisierter Solidarität. In die Zukunft gewendet, kann man diese These auch so formulieren: Solidaritätsziele wie die „Millennium Development Goals“ der Vereinten Nationen werden sich nicht ohne, schon gar nicht gegen, sondern allenfalls durch Marktwirtschaft realisieren lassen: durch eine marktliche Indienstnahme individuellen Vorteilsstrebens.46 46 Das Studium der einschlägigen Statistiken lässt keinen anderen Schluss zu: Die armen Länder dieser Welt sind arm, nicht weil sie – wie gelegentlich gemutmaßt wird – Opfer der Globalisierung geworden sind, sondern weil die Globalisie-

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Abbildung 9: Entwicklung des Pro-Kopf-Einkommens zwischen 1000 und 200147

Aus einer solchen Perspektive besteht die Aufgabe des Staates48 nicht darin, mittels Politik die Wirtschaft – respektive den Markt, den Wettbewerb, rung an ihnen vorbei geht. Sie sind nicht eingebunden in die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung. Dies hat zumeist innenpolitische Gründe. Inklusion in die Weltwirtschaft ist gegenüber den Menschen in diesen Ländern die wirksamste Form von Solidarität. Konkret bedeutet dies: Hilfe beim Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen, Korruptionsbekämpfung, Stärkung des zivilgesellschaftlichen Sektors, „capacity building“. Wirksame Solidarität wird hingegen verweigert, solange am Protektionismus (etwa im Agrar- oder Textilbereich) festgehalten wird, der gerade den Menschen aus armen Ländern den Marktzugang versperrt und sie dadurch in ihren Möglichkeiten einschränkt, sich aus ihrer Armut selbst herauszuarbeiten. – Vor diesem Hintergrund ist es zwar nur halbrichtig, aber immerhin aufrüttelnd, wenn Ulrich Beck (2000, S. 55, H. i. O.) pointiert formuliert: „Es gibt (. . .) nur eines, das noch schlimmer ist, als von Multis ausgebeutet zu werden, und dies ist: nicht von Multis ausgebeutet zu werden.“ Vgl. hierzu auch Streeck (2004), S. 6. 47 Quelle: Maddison (2005; Tabelle 2, S. 7). In der Kategorie „West“ sind zusammengefasst: Europa, USA, Australien und Japan. Die Angaben wurden berechnet auf der Basis des 1990er Dollar. 48 Ein Hinweis zur Terminologie: Präzise formuliert, ist mit „Aufgabe des Staates“ die „Funktion von Staatlichkeit“ gemeint. Definiert man als Kernelement von Staatlichkeit, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen, dann ist der Nationalstaat nur eine mögliche – und historisch kontingente – Manifestation von Staatlichkeit. Begrifflich hat das zwei wichtige Folgen: Erstens kann es Staatlichkeit auch unterhalb und oberhalb der Ebene eines Nationalstaats geben. Und zweitens ist eine Denationalisierung des Staates nicht unbedingt mit einem Abbau von Staatlichkeit gleichzusetzen. Die im nachfolgenden Text vorgenommene Relationierung von Markt und Staat ist substantiell also eine Relationierung von Wirtschaft und Politik, eine Relationierung zudem, die deren Verhältnis zueinander nicht – wie in der Globalisierungsdebatte üblich – als substitutiv, sondern als komplementär bestimmt: Staatlichkeit ist jene Organisationsform, die die (Welt-)Gesellschaft sich gibt, um sich selbst mit Leistungen versorgen, vor allem mit einem Regelrahmen, innerhalb dessen eine produktive Zusammenarbeit – und generell: ein sich wechselseitig bereicherndes Zusammenleben – stattfinden kann. Die Kernkompetenz organisierter Staatlichkeit besteht in der Produktion des Produktionsfaktors Recht.

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Abbildung 10: Entwicklung der Lebenserwartung zwischen 1000 und 200149

das individuelle Vorteilsstreben – zu domestizieren: zu bremsen, zu mäßigen, zu beschränken, einzugrenzen, an die Leine zu legen, zu zügeln, zu bändigen, zu zähmen oder zu bezwingen. Vielmehr besteht die Aufgabe des Staates darin, funktionierende Märkte zu fördern, zu forcieren. Erforderlich hierzu ist ein institutionelles Management sozialer Dilemmata, das sozial erwünschte Interaktionen – z. B. Tauschakte oder produktive Investitionen – stabilisiert und analog sozial unerwünschte Interaktionen destabilisiert – z. B. Kartellabsprachen oder andere Schädigungen Dritter wie durch Korruption.50 Der Staat ist hier in zweierlei Hinsicht gefordert: zum einen als Rechtsstaat, zum anderen als Sozialstaat. Als Rechtsstaat definiert und schützt er Eigentumsrechte, stellt mit der Institution des sanktionsbewehrten Vertrags 49 Quelle: Maddison (2005), Tabelle 1, S. 6. In der Kategorie „West“ sind zusammengefasst: Europa, USA, Australien und Japan. Die Angaben beziehen sich auf die durchschnittliche Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt und sind Kombinationswerte für Männer und Frauen. 50 Funktionierende Märkte sind nicht einfach naturwüchsig, sondern eine hochartifizielle Kulturleistung, eine zivilisatorische Errungenschaft. Vgl. hierzu sehr anschaulich de Soto (2000) sowie Olson (2000), insbes. S. 173 ff. Wie gut Märkte funktionieren, hängt primär von ihrer institutionellen Einrahmung ab. Beispiel Umwelt: Sind Umweltfaktoren vermeintlich kostenlos zu nutzen, treibt die Wettbewerbslogik marktliche Akteure unerbittlich zur Umweltbelastung. Werden hingegen Eigentumsrechte an Umweltfaktoren eingeführt, so entstehen Preise, von denen statische und dynamische Anreizwirkungen ausgehen, durch die Märkte in ein Instrument des Umweltschutzes verwandelt werden können. Aus einer solchen Perspektive geht es nicht darum, die Umwelt vor der Wirtschaft zu bewahren – sie zu externalisieren –, sondern gerade umgekehrt darum, sie zu internalisieren, d.h. in eine rationale Bewirtschaftung einzubeziehen, um Interessen an Umweltschonung zu aktivieren. Dies erfordert Staatlichkeit. – Nicht nur in Sachen Demokratie, sondern vor allem auch in Sachen Marktwirtschaft befindet sich die Weltgesellschaft seit Jahrhunderten in einem historischen Lernprozess der Implementierung funktionaler Staatlichkeit. In diesem Prozess markiert der Begriff „Global Governance“ lediglich die aktuelle Erwartung, dass uns (in beiderlei Hinsicht) neue Lektionen bevorstehen.

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eine wesentliche Stabilisierungshilfe für vertikale Interaktionen auf Märkten bereit und sorgt mittels Wettbewerbsrecht für eine Destabilisierung unerwünschter horizontaler Kooperation in Form von Kartellen. Aber nicht nur mittels Rechtspolitik, auch mittels Sozialpolitik kann der Staat wichtige Beiträge leisten, die die Produktivität des Marktes erhöhen.51 Hier sind drei Punkte hervorzuheben. • Erstens kann der Staat versuchen, die Versorgung mit marktlichen Versicherungsleistungen zu stimulieren und notfalls zu simulieren, um auf diese Weise Risikoproduktivität freizusetzen. • Zweitens kann der Staat versuchen, die Versorgung mit marktlichen Kreditleistungen zu verbessern, vor allem, damit Menschen in ihr Humankapital investieren können und zu potenten Anbietern am Arbeitsmarkt werden. • Drittens kann der Staat versuchen, Menschen durch die Gewährung von Kaufkraft im Spiel zu halten. Andernfalls würde die Versorgung dieser Menschen mit Gütern und Dienstleistungen es erfordern, Marktprinzipien außer Kraft zu setzen. Eine produktive Sozialpolitik zielt darauf, Menschen in die marktliche Zusammenarbeit einzubinden. Ihr geht es um Inklusion: um das Anliegen, möglichst alle Menschen an marktlichen Verfahren wechselseitiger Besserstellung aktiv partizipieren zu lassen. IV. Zusammenfassung und Ausblick: „Towards an Ordonomics of Global Governance“ Die zeitgenössische Globalisierungsdiskussion ringt mit dem Problem, wie eine Weltinnenpolitik ohne Weltstaat aussehen könnte. Globale Herausforderungen erfordern eine „Global Governance“. Aber wie kann man sich das vorstellen? Welche theoretischen Anregungen und Orientierungsleistungen lassen sich dafür generieren? Diese Fragen – und erst recht die Versuche, sie mit einer gewissen Ernsthaftigkeit zu beantworten – rufen selbst bei theoretisch ambitionierten Autoren typischerweise eine gewisse Ratlosigkeit auf den Plan. Im vorliegenden Beitrag wird dies anhand des Ansatzes von Jürgen Habermas exemplifiziert. Habermas diagnostiziert eine postnationale Konstellation. Er sieht sie dadurch gekennzeichnet, dass im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung dem Sozialstaat die Grundlage wegbricht, durch Umverteilung Solidaritäts51 Zum Konzept einer „Sozialpolitik für den Markt“ vgl. ausführlich Pies (2000a), Kapitel 2 und 3.

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leistungen zu erbringen, die von den Bürgern in der Form demokratischer Legitimation gratifiziert werden. Aus dieser Diagnose resultiert eine gewisse Verlegenheit, weil Habermas der Ansatzpunkt fehlt, an dem normative Empfehlungen ansetzen könnten. Auf globaler Ebene gibt es weder Institutionen noch Intentionen, die hierfür geeignet wären – weder Organisationen für Umverteilung im Weltmaßstab noch ein Bewusstsein kosmopolitischer Solidarität, obwohl Habermas beides als unabdingbare Voraussetzungen ausweist. Theoriestrategisch lautet daher die entscheidende Frage: Wie kommt die Normativität ins Spiel? Hierfür wird – unter der Bezeichnung „Ordonomik“ – eine alternative Konzeptualisierung entwickelt. Sie setzt auf Klugheitsargumente für „Global Governance“. Damit unterscheidet sich dieser ordonomische Ansatz in zweierlei Hinsicht vom Habermasschen Theoriedesign. Erstens wird dem Staat nicht die Aufgabe zugewiesen, den Markt in die Schranken zu weisen. Das moralische Anliegen weltweiter Solidarität wird nicht gegen die Wirtschaft in Stellung gebracht. So etwas führt nur zu (unnötigen) Denk- und Handlungsblockaden. Stattdessen wird die politische Herausforderung darin gesehen, funktionierende Märkte zu fördern. Es geht nicht um die Außerkraftsetzung, sondern gerade umgekehrt um die Inkraftsetzung von Märkten. Diese politische Aufgabe kann auch jenseits des Nationalstaats wahrgenommen werden und ist somit „global-governance“-fähig.52 Zweitens wird hier ein anderer Zugang zur Normativität offeriert. Anders als Habermas, der den Bürgern Sozialpolitik als Umverteilung ja nur dann zumuten kann, wenn sie sich zu dieser Umverteilung durch ein Solidaritätsbewusstsein verpflichtet fühlen, kann der ordonomische Ansatz die Idee einer „Sozialpolitik nicht gegen, sondern für den Markt“ so ausbuchstabieren, dass sich für bestimmte sozialpolitische Initiativen ebenso Klugheitsargumente ins Feld führen lassen wie für rechtspolitische Initiativen, die die institutionelle Rahmenbedingungen für Märkte zu verbessern suchen. Normativität wird hier an Konflikte nicht von außen – gleichsam besänftigend – herangetragen, sondern aus dem Konflikt selbst als im Regelinteresse der 52 Um der Klarheit halber noch einmal eine Analogie zu bemühen: Der Traum vom Fliegen konnte realisiert werden, weil das Fallgesetz nicht geleugnet, sondern anerkannt wurde, um dann die Frage zu stellen: Wie geht man damit konstruktiv um? – Ähnlich verhält es sich mit dem „Gesetz“ der Wirtschaft, der Wettbewerbslogik des wirtschaftlichen Sachzwangs, die sich als Situationslogik sozialer Dilemmata dechiffrieren lässt: Die Vision weltweiter Solidarität wird sich nur in dem Maße in Wirklichkeit überführen lassen, wie man diese Situationslogik nicht ignoriert oder gar bekämpft, sondern in Dienst nimmt. Hier gibt es Gestaltungsoptionen. Die sollte man nutzen.

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Konfliktparteien liegend ausgewiesen. Normativität wird methodisch interiorisiert und so zur Heuristik für auf Implementation angelegte Prozesse der Regelfindung und Regelsetzung.53 Diese beiden Punkte gehören zusammen. Sie sind systematisch aufeinander abgestimmt: Der erste Aspekt betrifft die Problemstellung, der zweite die Problembearbeitung. Gemeinsam versetzen sie den hier als „Ordonomik“ ausgewiesenen Theorie-Ansatz in die Lage, die Solidaritätssemantik korrigieren zu helfen und gerade dadurch Reformen der Sozialstruktur konstruktiv anzuleiten. Dieser ordnungstheoretische Ansatz ist beides: kategorial vorbereitet und kategorial vorbereitend auf neue Formen von Staatlichkeit. Dadurch avanciert die Ordonomik zu einer Theorie der „Global Governance“: Die spezifische Orientierungsleistung dieser Theorie besteht darin, „Global Governance“ als weltgesellschaftliche Zusammenarbeit von Nationalstaaten, zivilgesellschaftlichen Organisationen und – last not least – Unternehmen zu bestimmen und für diese Zusammenarbeit Klugheitsargumente zu generieren. Solche Klugheitsargumente betreffen Sozialstruktur und Semantik. Sie reichen sogar an das tradierte Selbstverständnis der drei beteiligten Akteursgruppen:54 • Nationalstaaten müssen lernen, dass sie Problemlösungen nicht (mehr) „par ordre du Mufti“ anordnen können. Sie müssen umstellen von Subordination auf Koordination und sich selbst stärker als Moderatoren für Regelsetzungs- und Regelfindungsprozesse im Rahmen einer „Global Governance“ verstehen. • Zivilgesellschaftliche Organisationen verdanken ihre Karriere dem Anprangern von Missständen und den zugehörigen Skandalisierungsstrategien zur Ressourcenmobilisierung. Für viele Probleme haben sie eine Expertise entwickelt, ohne die befriedigende Lösungen nicht gefunden und implementiert werden können. Allerdings müssen zivilgesellschaftliche Organisationen lernen, ihre kritischen Positionen zu beziehen, ohne sich dadurch davon abhalten – oder in ihrer Integrität beeinträchtigen – zu lassen, mit Staaten und – dies vor allem – mit Unternehmen im Rahmen von „Global-Governance“-Prozessen zur Regelfindung und Regelsetzung Formen partnerschaftlicher Zusammenarbeit zu pflegen. 53 Klugheitsargumente rationaler Selbstbindung für eine weltgesellschaftliche Ordnungspolitik, die – je nach funktionalem Erfordernis – soziale Dilemmata gezielt etabliert oder überwindet, benötigen kein vorgängiges Solidaritätsbewusstsein. Sie benötigen lediglich ein angemessenes Problembewusstsein: Mentalitätspolitisch können (und werden) die im globalen Kontext wünschbaren Gemeinsamkeiten letztlich nur aus der Erfahrung resultieren, gemeinsame Probleme erfolgreich gemeinsam bewältigt zu haben. Solidaritätsbewusstsein muss man sich erarbeiten. Es ist nicht als Vorgabe, sondern als Aufgabe zu begreifen. 54 Vgl. Pies/Sardison (2005).

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• Unternehmen müssen lernen, sich nicht ausschließlich nur als wirtschaftliche, sondern als gesellschaftliche Akteure zu verstehen, als „Corporate Citizens“. Ihr Engagement ist für eine gelingende „Global Governance“ unabdingbar, bedarf aber durchgehend eines „Business Case“, also einer belastbaren Rechtfertigung, warum ein solches Engagement im wohlverstandenen Interesse des Unternehmens liegt. Ohne elaborierte Klugheitsargumente werden sich die Befürworter einer „Global Governance“ hier von vornherein auf verlorenem Posten befinden.55 In der Auseinandersetzung um den „Global Compact“ der Vereinten Nationen kann man studieren, wie Denkblockaden in Handlungsblockaden münden und wie aufgrund verfehlter Theorieansätze falsche Erwartungen zu Enttäuschungen führen und dazu beitragen, dass ein solches Projekt unter seinen Möglichkeiten bleibt, d.h. das in ihm angelegte Potential gelingender „Global Governance“ bei weitem noch nicht voll ausschöpft.56 Theorie ist wichtig. Sie definiert die Brille, durch die Akteure auf die Realität schauen; sie bestimmt die Kategorien, in denen Probleme wahrgenommen werden; und sie bestimmt die Richtung, in der nach Problemlösungen gesucht wird.57 Auch wenn in Theorie und Praxis – zum einen im Wissenschaftsbetrieb selbst, zum anderen bei Politikern und Journalisten, bei den Vertretern von „Pressure Groups“ und erst recht bei Managern – die Sensibilität dafür nicht sonderlich ausgeprägt sein mag, so ist doch eine der gerade für das Gelingen von „Global Governance“ entscheidenden Fragen, wie leistungsfähigere, zu konstruktiver Kritik befähigende Theorien generiert werden können. Als Ausblick seien hierzu folgende Thesen zur Diskussion gestellt. 1. Ein zeitdiagnostisch ambitioniertes Theorieprogramm erfordert methodologische Selbstreflexion: Wissenschaft muss bedenken, wie die Wirkun55 Für die Praxis der „Global Governance“ ist dieser Aspekt von kaum zu überschätzender Bedeutung. Er muss auch in der Theorie stärker fokussiert werden. Dies betrifft Forschung und Lehre – bis hin zur Ausbildung von Führungskräften und zur Weiterbildung von Managern. Die entscheidende Frage lautet: Wie kann man die Wirtschaft ins Boot holen und daran interessieren, an Prozessen der „Global Governance“ auf breiter Front konstruktiv teilzunehmen? – Für ein ordonomisches „Corporate-Citizenship“-Konzept unternehmerischer „Ordnungsverantwortung“ („ordoresponsibility“) vgl. Beckmann/Pies (2006). 56 Vgl. Brinkmann/Pies (2004). 57 Theorie prägt die Problemwahrnehmungen, aber umgekehrt prägen Problemwahrnehmungen auch die Theorie. Dies gilt für die Sozialwissenschaften allgemein und ganz besonders für die Globalisierungs- und „Global-Governance“-Forschung. Vgl. hierzu die anregenden Beobachtungen und Reflexionen von Renate Mayntz (2005). Die angemessene Reaktion kann nur lauten: mehr Selbst-Bewusstsein – d.h. forcierter Aufbau von Methodenkompetenz zur Förderung reflektierter Polyperspektivität.

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gen des eigenen Denkens in der Gesellschaft so zu denken sind, dass Wissenschaft als Wissenschaft soziale Relevanz entfalten kann. 2. Zeitdiagnosen müssen modernitätstheoretisch justiert werden. Gerade aktuelle Stellungnahmen sollten sich in einem historischen Prozess verorten können und benötigen dafür ein elaboriertes Selbstverständnis gesellschaftlicher Entwicklung. 3. Auch wenn Nicht-Ökonomen (ähnlich wie auf den engen Bereich der Wirtschaft fixierte Ökonomen) es als Zumutung empfinden mögen: Wissenschaft muss zur Kenntnis nehmen – und sollte öffentlich zu Bewusstsein bringen –, dass die gesellschaftliche Moderne sich als Wachstumsökonomie entfaltet. 4. Theoretisch bedeutet dies, (a) dass ausnahmslos alle traditionalen Sozialstrukturen unter Anpassungsdruck geraten, mit der Folge, dass Anpassungskrisen und institutionelle Reformen zum Dauerphänomen werden, (b) dass die in den semantischen Traditionen tief verwurzelten Kategorien des Nullsummendenkens (wie z. B. „Solidarität = Umverteilung“) auf den Prüfstand gehören und gegebenenfalls korrigiert werden müssen, und (c) dass der Wissenschaft die Aufgabe zuwächst, konstruktive Aufklärungs- und Steuerungsbeiträge zu generieren. Sie muss sich mit Sozialstruktur und Semantik befassen, vor allem auch mit den Interdependenzen zwischen Sozialstruktur und Semantik. Die ordonomischen Überlegungen in diesem Beitrag skizzieren, wie ein entsprechender Theorie-Entwurf in sehr groben Konturen aussehen könnte. Am besten wäre es, dieses Forschungsprogramm ließe sich in der antagonistischen Kooperation mit alternativen Theorie-Entwürfen weiter entwickeln. Literatur Beck, Ulrich (2000): Freiheit oder Kapitalismus. Gesellschaft neu denken. Ulrich Beck im Gespräch mit Johannes Willms, Frankfurt a. M. Beckmann, Markus/Pies, Ingo (2006): Ordnungsverantwortung – Konzeptionelle Überlegungen zugunsten einer semantischen Innovation, Diskussionspapier Nr. 2006–10 des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, hg. von Ingo Pies, Halle. Brinkmann, Johanna/Pies, Ingo (2004): Der Global Compact als Beitrag zu Global Governance: Bestandsaufnahme und Entwicklungsperspektiven, in: Roland Czada/Reinhard Zintl (Hg.), Politik und Markt. PVS – Politische Vierteljahreszeitschrift, Sonderheft 34/2003, Wiesbaden 2004, S. 186–206. Buttkereit, Sören/Pies, Ingo (2006): The Economic Ethics of Social Dilemmas, Diskussionspapier Nr. 06–2, hg. vom Lehrstuhl für Wirtschaftsethik an der Martin-

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Die Politisierung der Ökonomisierung? Zum gegenwärtigen Verhältnis von Politik und Ökonomie Von Michael Zürn I. Einleitung Im Zuge der wirtschaftlichen Denationalisierung und der spezifischen Problemlagen der postindustriellen Gesellschaft erweisen sich manche der gewohnten Instrumente politischer Intervention in Marktprozesse durch den hierarchisch organisierten Nationalstaat als prekär. Infolgedessen haben zum einen neue, stärker marktkonforme und teilweise auch direkt durch die Unternehmen getragene Steuerungsinstrumente Bedeutung erlangt. Dazu zählen vom Staat gesetzte marktkonforme Anreizsysteme ebenso wie Private-Public Partnerships und Corporate Social Responsibility. Zum zweiten zeigt sich ein starker Trend, internationale Regelungen anzustreben, die allerdings – ganz gleich ob sie eine intergouvernementale oder transnationale Trägerschaft haben – gleichfalls auf hierarchische Durchsetzungsmechanismen weitgehend verzichten müssen. Dadurch verliert die hierarchisch gedachte Steuerung durch den demokratisch kontrollierten Nationalstaat relativ an Bedeutung. Demgegenüber werden weiche, marktkonforme Regelungsmechanismen wichtiger, deren Träger häufig Unternehmen und zivilgesellschaftliche Akteure sind, nicht aber der Staat. Damit ist jedoch die Geschichte noch nicht zu Ende. Das Ergebnis dieses Prozesses scheint nämlich weder eine Entstaatlichung noch eine Depolitisierung zu sein. Zum einen ist der Staat in fast allen neuen Arrangements ein integraler und notwendiger Bestandteil. Er macht es nicht mehr alleine, ist aber nach wie vor von zentraler Bedeutung. Und selbst dort, so die zentrale These des Beitrags, wo es zu einer weitreichenden Ersetzung nationalstaatlicher Politiken kommt, führt diese nicht zu einer Depolitisierung. Vielmehr werden zunehmend sowohl internationale Institutionen als auch das Handeln von Großunternehmen politisiert. Governance with and without government unterliegt also denselben normativen Ansprüchen wie governance by government. Oder noch pointierter: In dem Maße, wie der Markt gegenüber der Politik an Boden gewinnt, wird der Markt politisiert.

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II. Der demokratische Interventionsstaat Im Zuge der sozialen Differenzierung moderner Gesellschaften bilden sich Politik und Ökonomie als unterschiedliche Gegenstandsbereiche heraus (vgl. hierzu Koller in diesem Band). Die Ökonomie hat die Schaffung von Wohlstand zum Gegenstand. Als effizientestes Mittel hierfür gilt der Markt, der bei den richtigen Rahmenbedingungen das eigennützige Bestreben aller Akteure in einen allgemeinen Wohlfahrtsgewinn übersetzt. Die Politik zielt demgegenüber auf Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit. Als bestes Mittel zur Erreichung dieser Ziele gilt die demokratische Staatsform mit Gewaltenteilung, die das faktische Machtstreben der politischen Akteure erfolgreich kanalisieren und mithin das Gemeinwohl befördern kann. Entscheidend ist nun für unseren Zusammenhang, dass eine (zumindest gedachte) formale Hierarchie zwischen Politik und Markt eingeführt wird. Demnach zielt die Politik auf eine verbindliche Regelung der Dinge, der die Marktakteure zu gehorchen haben (vgl. statt vieler: Lindblom 1977). Die Politik setzt also in diesem Denkmodell die Regeln für den Markt. Diese gedachte Hierarchie schließt keinesfalls aus, dass Marktakteure im politischen Prozess eine gewichtige Rolle spielen oder ihn gar dominieren. Formal gilt jedoch das Primat der Politik. Auch der mächtigste wirtschaftliche Akteur muss sich der Politik bedienen, um die Regelsetzung in seinem Sinne zu gestalten. Insofern unterscheidet sich der Markt nicht von anderen gesellschaftlichen Teilbereichen wie Kultur oder Wissenschaft. Die gesellschaftlichen Teilbereiche unterliegen gemäß dieser Denkweise der politischen Regulierung. Im Verhältnis zum Markt werden der Politik im demokratischen Interventionsstaat des 20. Jahrhunderts drei substantielle Aufgaben zugeschrieben.1 Sie sollte zum einen die Voraussetzungen für einen möglichst reibungslosen Ablauf von Transaktionen innerhalb des Marktes schaffen. Man kann derartige Maßnahmen im Sinne einer Typologie von Politiken als marktschaffend bezeichnen (Windhoff-Heritier 1987; Streeck 1995). Das beste Beispiel hierfür ist die Beseitigung von Handelsbarrieren, seien sie tarifärer oder nicht-tarifärer Art. Zum zweiten sind die negativen Externalitäten des Marktes einzudämmen, die als gleichsam selbstgefährdend einzustufen sind. So müssen etwa umweltpolitische Maßnahmen dafür Sorge tragen, dass die natürlichen Ressourcengrundlagen des Wirtschaftens erhalten bleiben und bankenbezogene Maßnahmen sollen erreichen, dass die Finanzierung von Unternehmen auch in Krisenzeiten gesichert bleibt. Es handelt sich dann 1 Die Entstehung und Funktionsweise des demokratischen Rechts- und Interventionsstaates (DRIS) sowie seine Entwicklungsperspektiven angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen werden in Leibfried/Zürn 2006 beleuchtet. Die dort entfaltete Konzeptualisierung liegt diesem Beitrag zugrunde.

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um marktstabilisierende Politiken. Schließlich sollte die Politik sozial unerwünschte Marktergebnisse korrigieren, also marktkorrigierende Maßnahmen ergreifen. Eine Reichensteuer zum Zwecke der Erhöhung des Sozialhilfesatzes kann hierfür als Beispiel angeführt werden. Der ausgewachsene demokratische Rechts- und Interventionsstaat (DRIS) erfüllte diese drei Aufgaben relativ gut. Stilisiert gesprochen können bei den hochentwickelten Ländern im Kern der heutigen OECD-Welt dabei drei unterschiedliche Phasen ausgemacht werden, in denen jeweils ein bestimmter Politiktyp im Vordergrund stand. a) Nach der Etablierung des Gewaltmonopols im Innern und dessen zunehmender rechtstaatlicher Zivilisierung vollzog sich ein Wandel in der ökonomischen Philosophie, der mit der vollständigen Ausdifferenzierung der Subsysteme Politik und Ökonomie einherging. Das Prinzip der staatlichen Machtmehrung durch den Merkantilismus trat nun in Konkurrenz mit dem Ziel der Schaffung einer Wirtschaftsordnung, die effizientes Wirtschaften und die Ausbildung einer nationalen Verkehrswirtschaft ermöglichte. Die Eigentumsgarantie, die Vertragsfreiheit, die Reduktion bzw. Abschaffung von innerstaatlichen Barrieren beim Austausch von Gütern, Kapital und Arbeit sowie die Bereitstellung einer nationalen Infrastruktur für Transport und Kommunikation schafften den ordnungspolitischen Rahmen, der die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert erst möglich machte. Das Wohlfahrtsziel konnte sich mithin vom Ziel der äußeren Sicherheit emanzipieren. Im Mittelpunkt stand in dieser Zeit die Marktschaffung. b) Die Krisenhaftigkeit einer solchen politischen Ökonomie zeigte sich spätestens während der großen Weltwirtschaftskrise in den 1870er Jahren. In der Folge setzte sich zunehmend die Einsicht durch, dass eine freie Verkehrswirtschaft externer Eingriffe bedarf, damit die Kraft destabilisierender Prozesse das System nicht zum Einstürzen bringt. Zu den entsprechenden Maßnahmen gehörten zunächst Bankenkontrollen und der Einsatz der Währungspolitik zum Zwecke der wirtschaftlichen Steuerung. Aber auch damit konnte der Schwarze Freitag 1929 nicht verhindert werden. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich das Konzept der makroökonomischen Globalsteuerung. Nach dem Erfolg des New Deal in den USA setzte sich insbesondere in Westeuropa eine Politik durch, die auf die Linderung der Auswirkungen von Konjunkturkrisen und auf eine aktive Strukturgestaltung der nationalen Volkswirtschaft abzielte. Mittels einer staatlichen Nachfragesteuerung sollten konjunkturelle Tiefs eingeebnet und konjunkturelle Booms beruhigt werden. Gleichzeitig griff der Staat aktiv steuernd in bestimmte wirtschaftliche Sektoren ein, um den industriellen Strukturwandel zu befördern und seine sozialen Kosten zu lindern. Alle diese Maßnahmen können als versuchte Marktstabilisierung gedeutet werden.

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c) Die Entwicklung einer nationalen Marktwirtschaft und die industrielle Revolution produzierten einen ungekannten Wohlstand. Parallel dazu führten sie zur relativen Verarmung weiter Bevölkerungsschichten, da sie die sozialen Absicherungen zerstörten, die die feudal organisierte, dörfliche Gemeinschaft noch bereithielt. Mittels heftiger sozialer und politischer Auseinandersetzungen führte die „soziale Frage“ im Ergebnis zu einer staatlichen Politik, die auf die Linderung des sozialen Elends zielte. Eine staatlich getragene Sozialpolitik, mit der die Marktergebnisse aus sozialen Erwägungen heraus korrigiert werden sollten und die Gesellschaft Verantwortung für den Einzelnen übernahm, entwickelte sich ab dem Ende des 19. Jahrhunderts (Marshall 1975: 15). All dies stellte freilich bestenfalls einen Anfang dar. Zur Jahrhundertwende wurde in Deutschland ein Betrag von ungefähr einem Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP) für Sozialleistungen ausgegeben. Damit hatte Deutschland zu jener Zeit den höchsten Sozialanteil am BSP, wie auch noch 1960, als die Sozialleistungsquote in den westeuropäischen Demokratien zwischen acht und achtzehn Prozent lag. Heute (2004) besitzt Deutschland eine Sozialleistungsquote von 28,4 Prozent und Schweden liegt mit 31,7 Prozent trotz erheblicher Kürzungen immer noch an der Spitze (Eurostat, 18.12.2006). Sozialpolitik im demokratischen Wohlfahrtsstaat zeichnet sich im Wesentlichen dadurch aus, dass sie im Falle der Erwerbslosigkeit oder Krankheit greift, national organisiert ist, ein individueller Rechtsanspruch besteht und sie daher nicht mit einer politischen Diskriminierung einhergehen kann. Sozialpolitik korrigiert in diesem Sinne die primäre, exklusiv durch den Markt produzierte Einkommensverteilung. Wer etwas über die materielle Verteilung von Gütern in einer Gesellschaft wissen möchte, muss im demokratischen Interventionsstaat die sog. sekundäre Einkommensverteilung studieren. Insofern können derartige Maßnahmen als Korrektur der Marktergebnisse angesehen werden. Zum Zwecke der Schaffung von Märkten sowie später der Kontrolle von Marktprozessen und Korrektur von Marktergebnissen setzte der demokratische Rechts- und Interventionsstaat auf zwei dominante Instrumente: hierarchisch gedachte und staatlich durchgesetzte Regelungen sowie später die betriebliche Mitbestimmung. Die staatlichen Mittel der regulativen Gesetzgebung und Verwaltung sind, zusammen mit denen der fiskalischen Abschöpfung bzw. subventionierenden Zuweisung von Finanzmitteln, klassische Mittel einer Politik, die gleichzeitig den Markt schafft und auf das Management von Externalitäten mit dem Ziel gerichtet ist, den Markt zu stabilisieren und seine Ergebnisse partiell zu korrigieren. Erst später trat die Mitbestimmung hinzu. Die betriebliche Mitbestimmung wurde zumeist zwar auch staatlich gesetzt und könnte daher gleichfalls als marktstabilisierende Maßnahme gedeutet werden. Im Kern ging es hierbei aber nicht um eine externe Steuerung des Verhaltens von Unternehmen durch Verbote und

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Gebote, sondern um die Gestaltung von unternehmensinternen Entscheidungsprozessen, mit der die exklusive Ausrichtung der Unternehmen am Marktzweck – dem Unternehmensgewinn – relativiert werden sollte. Gesellschaftspolitische Ordnungskonzepte vom Typ der „sozialen Marktwirtschaft“, der „Wirtschaftsdemokratie“ (Naphtali), des „rheinischen Kapitalismus“, auch der stake holder society nahmen die ältere Koalitionstheorie des Wirtschaftsunternehmens auf. Teilnehmer dieser Koalition sind demnach nicht nur Eigentümer und Management, sondern auch Arbeitnehmer und Gewerkschaften, u. U. sogar Konsumenten, Zulieferer, Nachbarn, Banken etc. – also wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Akteure mit als irgendwie „berechtigt“ anerkannten Schutzinteressen. Während die „ökonomischen stakeholders“ wie die Konsumenten und die Zulieferer mit Ausnahme der Kreditgeber in den Aufsichtsräten keine formalen Mitsprachrechte erhielten, wurde die Beteiligung der „organisatorischen stakeholders“ (für diese Unterscheidung vgl. Werther/Chandler 2006, S. 4) in Form der betrieblichen Mitbestimmung durch gesetzliche Status- und Mitbestimmungsrechte abgesichert. III. Neue Herausforderungen für den demokratischen Interventionsstaat Der demokratische Rechts- und Interventionsstaat hat die politische Zähmung des Marktes also durch Verbote und Gebote sowie durch die betriebliche Mitbestimmung vorgenommen. Im Zuge der wirtschaftlichen Denationalisierung (Zürn 1992) und der spezifischen Problemlagen der postindustriellen Gesellschaft (Bell 1973) erweisen sich diese beiden Instrumente jedoch als zunehmend prekär. In der postindustriellen Gesellschaft erlangt das theoretische Wissen eine zentrale Bedeutung und die Dienstleistungswirtschaft ein Übergewicht über die produzierende Wirtschaft. Laut Bell war in der kapitalistischen Gesellschaft die axiale Einrichtung das Privateigentum, in der nachindustriellen Gesellschaft steht hingegen das theoretische Wissen im Mittelpunkt. Mit dieser Entwicklung werden die Institutionen geschwächt, die gleichsam auf das axiale Prinzip des Kapitalismus gebaut worden sind. Diese Entwicklung ist im Zuge der gesellschaftlichen Denationalisierung akzentuiert worden. Gesellschaftliche Denationalisierung lässt sich bemessen, indem man den Anteil der grenzüberschreitenden Transaktionen an allen gesellschaftlichen Transaktionen in einem Handlungsfeld ermittelt (Kearney 2003; Beisheim et al. 1999; Held et al. 1999). Während eine geringe Erhöhung des Anteils grenzüberschreitender Handlungszusammenhänge eine wachsende Interdependenz zwischen verschiedenen Einheiten anzeigt, bezieht sich der Begriff der gesellschaftlichen Denationalisierung auf ein

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Niveau, auf dem die Staatsgrenzen ihre Bedeutung verlieren oder sogar verschwinden. Mit K. W. Deutschs Worten: „National borders dissolve when there is no more critical reduction in the frequency of social transactions“ (Deutsch 1969). Entsprechende empirische Studien zur Globalisierung zeigen, dass sich die Zunahme der grenzüberschreitenden Austauschprozesse u. a. in den Bereichen Handel und ausländische Direktinvestitionen, aber auch bei Migration, dem Austausch von Informationen und Wissen sowie dem Im- und Export von kulturellen Gütern in den 1970er und 1980er Jahren deutlich beschleunigt hat, so dass in den meisten Feldern das hohe Verflechtungsniveau von 1914 wieder überschritten wurde. In den 1990er Jahren ergab sich eine weiterer Schub. Eine völlig neue Entwicklung ist die grenzüberschreitende Produktion (im Gegensatz zum Tausch) von goods and bads, die ebenfalls seit Beginn der 1990er Jahre vermehrt auftritt. Diese Phänomene – Internet, organisierte Kriminalität, globale Klimaänderungen, Finanzmärkte – stellen qualitativ etwas Neues dar. Hier ist die Anwendung solcher Termini wie Deterritorialisierung (Albrow 1996), Entgrenzung (Brock/Albert 1995) und Globalisierung (Scholte 2003) am angemessensten und die gesellschaftliche Denationalisierung am stärksten ausgeprägt. In der Folge dieser Entwicklungen liegen heute die Grenzen sozialer Handlungszusammenhänge in vielen Bereichen jenseits der politischen Grenzen des Nationalstaates. Zumindest sind alle Nationalgesellschaften erheblichen Einflüssen von Außen ausgesetzt. Es entstehen somit systematisch zwei Probleme für das nationalstaatliche Regieren (vgl. Zürn 1998, Kap. 2). Zum einen ergibt sich ein Reichweitenproblem. Angesichts der Ausweitung sozialer und ökonomischer Handlungszusammenhänge sind marktstabilisierende Eingriffe auf der nationalen Ebene ineffektiv, wenn sie nur einen Teil des betroffenen Handlungszusammenhangs abdecken, da deren Wirkung durch Externalitäten von sozialen Aktivitäten aus einem anderen Land gleichsam unterlaufen wird. In der Bundesrepublik Deutschland beispielsweise gibt es aus guten Gründen striktere Verbote für rechtsradikales Propagandamaterial als in anderen Ländern. Wenn nun aber ein Anbieter von solchem Material seinen Wohnsitz in den USA hat und es dort in das Internet einspeist, so laufen die deutschen Verbote ins Leere. Selbst wenn das Material von Fahndern ausgemacht würde und auf allen MainframeRechnern sowie von allen Online-Anbietern in Deutschland gesperrt werden könnte, kann der Anbieter nicht strafrechtlich verfolgt werden. Davon ist zweitens das Problem des Politikwettbewerbs zu unterscheiden. Nationalstaatliche Regelungen können auch angesichts der Denationalisierung prinzipiell nach wie vor tauglich sein, um ein gewünschtes Ziel zu erreichen. Die unmittelbaren Effekte einer erhöhten Sozialhilfe bleiben beispielsweise auch im Zeitalter der Globalisierung unbenommen. Sie können aber ein

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Land als attraktiven Wirtschaftsstandort schwächen und damit in die Falle der race to the bottom-Logik geraten. Überzogene sozialpolitische Regelungen können also die Produktionskosten in einer Weise erhöhen, dass die Produkte im Ausland mit geringeren Lohnnebenkosten billiger produziert werden können. Das gleiche Argument kann auch auf produktionsbezogene Umweltvorschriften angewendet werden. In dem Maße, in dem in anderen Ländern genauso gedacht wird, besteht die akute Gefahr einer Deregulierungsspirale, eines „Wettbewerbs der Besessenen“ (Krugman 1999). Davon sind auch marktstabiliserende, aber v. a. marktkorrigierende Maßnahmen betroffen. Vor diesem Hintergrund erweisen sich die klassischen Instrumente der Domestizierung des Marktes durch die Politik als prekär. Staatliche Regelungen geraten unter einen Deregulierungsdruck, der die Möglichkeiten zur Marktstabilisierung und Marktkorrektur einschränkt. Über die realen Effekte der Globalisierung und wirtschaftlichen Denationalisierung auf die Effektivität nationalstaatlicher Regulierung der Märkte ist inzwischen viel geforscht worden. Dabei zeigt sich, dass bis dato kein offensichtliches race to the bottom zu beobachten ist (statt vieler: Pontusson 2005) und sich umgekehrt sogar einige Produktstandards erst dank der Globalisierung verbessern und internationalisieren konnten. Das Phänomen ist von David Vogel (1997) sehr schön als trading up bezeichnet worden. Gleichwohl ist in allen Ländern der Druck gewachsen, die Wohlfahrtssysteme und allzu dirigistische Regulierungen umzugestalten (vgl. etwa Seeleib-Kaiser 2001). Überdies schwächt die wirtschaftliche Denationalisierung die Grundlagen der Mitbestimmung. Im Zuge des Standortwettbewerbs werden auch staatliche Mitbestimmungsregelungen zunehmend als Wettbewerbsnachteil begriffen und selbst dort, wo sie noch bestehen, hat die wirtschaftliche Denationalisierung die Arbeitnehmervertreter geschwächt und somit die Gewinnorientierung der Unternehmen wieder gefestigt. Die Gewichte sind in den letzten Jahren eindeutig in Richtung eines share holder-Modells der Unternehmenspolitik verschoben worden. Das Schicksal der Mitbestimmungskommission in Deutschland kann diese Entwicklung illustrieren. Die Arbeitnehmer haben erklärt, dass ohne die Abschaffung der paritätischen Mitbestimmung sich für sie jede weitere Reformdebatte erübrigt. Im Ergebnis ist die Expertenkommission zur Weiterentwicklung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Unternehmen nach gut einjähriger Arbeit also gescheitert, auch wenn die wissenschaftlichen Mitglieder der Kommission einen bemerkenswerten Bericht verfasst haben.

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IV. Governance im Zeitalter der Denationalisierung Angesichts dieser Herausforderungen für die Effektivität des demokratischen Interventionsstaates sind prinzipiell zwei Reaktionsweisen denkbar. Zum einen kann der demokratische Interventionsstaat neue Instrumente und Vorgehensweisen entwickeln, um den Effektivitätsproblemen zu begegnen. Zum anderen kann die Politik den Märkten folgen und die Geltungsreichweite politischer Regelungen durch die Schaffung internationaler Institutionen ausweiten. In der Praxis lassen sich beide Entwicklungen beobachten, wobei insbesondere eine dritte Reaktionsweise interessant ist, bei der neue Instrumente auf der transnationalen Ebene Anwendung finden. 1. Neue Instrumente marktkonformer Steuerung Was liegt näher: Wenn alte Instrumente aufgrund neuer Herausforderungen nicht mehr greifen, versucht man entweder noch mehr von den alten Instrumenten einzusetzen oder neue Instrumente zu entwickeln. Während die angelsächsische Variante des Verhältnisses von Regulation und Markt im Kapitalismus sehr schnell nach neuen Instrumenten suchte, glaubte insbesondere die kontinentaleuropäische Variante des Kapitalismus zunächst durch ein Mehr an erprobten Instrumenten die Herausforderungen bewältigen zu können. In dem Maße, wie sich dies als Irrglaube erwies, kamen auch hier neue Instrumente zum Einsatz. Es geht dabei im Wesentlichen um marktkonforme Instrumente. Wer „extrakontraktuelle“ Schäden anrichtet, also solche bei Dritten, der soll dafür im Wege „veranstalteter“ Marktmechanismen zahlen müssen. Ein Beispiel sind Luftverschmutzungsrechte, die es der Intention nach für Unternehmen abschreckend kostspielig machen sollen, schädliche Drittwirkungen auszulösen. Ein anderer Mechanismus ist der der Verbraucheraufklärung: je genauer Konsumenten über die Schädlichkeit von Gütern für Dritte informiert sind, desto sicherer werden sie die Anbieter solcher Güter durch Kaufverweigerung wirtschaftlich bestrafen. Derartige Instrumente haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Noch nie wurden so viel Emissionsrechte gehandelt und die bloße Anzahl von ranking und ratings (vgl. hierzu Kerwer 2006) produziert inzwischen schon eigene Informationsprobleme. Mit diesen neuen Instrumenten verbinden sich nicht selten weitreichende Hoffnungen, die allerdings etwas gedämpft werden müssen. Die Funktionstüchtigkeit solcher Regelungen ist nicht voraussetzungslos. Zum einen erfordert die Ingangsetzung solcher marktkonformen Steuerungsmechanismen nicht selten zunächst eine staatliche Gesetzesaktivität. So setzt logisch der Emissionshandel zunächst die Festsetzung von Obergrenzen voraus. Die

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Effektivität des ranking and rating erfordert informations- und qualitätssuchende Anleger und Konsumenten, um seine Wirkung entfalten zu können. Das labelling von Nahrungsmitteln wiederum beruht häufig sowohl auf staatlichen Vorschriften als auch auf einer qualitätsbewussten Käuferschicht. Marktkonforme Steuerungsinstrumente sind also äußerst voraussetzungsvoll. Damit scheitert eine Verallgemeinerung dieser Lösung. Neben den genannten Voraussetzungen können marktkonforme Instrumente auch daran scheitern, dass Schäden oft keinem bestimmten Verursacher zugerechnet werden können, dass sie wegen Informationsasymmetrie nicht zur Kenntnis gelangen, oder dass sie nicht als Schäden beherzigt werden, wie bei gesundheitsschädlichen Nahrungs- und Genussmitteln, die sich – im Falle der Suchtbildung – der Nachfrage abhängiger oder willensschwacher Konsumenten gerade wegen ihrer negativen Gebrauchseigenschaften erfreuen (vgl. Offe 2006). Hinzu tritt das Problem, dass diese marktkonformen Steuerungsinstrumente nur der Marktstabilisierung, kaum aber der Marktkorrektur dienen können. Ein anderes Instrument der marktkonformen Steuerung könnte in einer Ethisierung des Verhaltens transnational operierender Unternehmen gesehen werden. Hier sind Stichworte wie corporate social responsibility, corporate citizenship, die Proklamation von corporate codes durch Großunternehmen oder Wirtschaftsverbände, die einseitige und freiwillige unternehmerische Selbstbindung, die Leistungen von privaten Stiftungen und die wissenschaftlichen und politischen Diskurse zum Thema „Wirtschaftsethik“ einschlägig. Von zentraler Bedeutung sind hierbei die Debatten, die um den Begriff der corporate social responsibility ranken. Corporate social responsibility steht für die Aktivitäten von Unternehmen, die über das unmittelbare Produktions- und Verkaufsinteresse hinausreichen. Im Gegensatz zu allgemeinen philantropischen Aktivitäten, die häufig durch Unternehmensstiftungen betrieben werden, geht es hier um die Prävention bzw. die Bearbeitung von Nebeneffekten des Wettbewerbsverhaltens durch sog. codes of conduct. Dazu kann die einzelunternehmerische Unterstützung von Nachhaltigkeitsprojekten durch Plantagenbetreiber (etwa chiquita oder Dole) gehören, aber auch die gemeinsame Festlegung auf Arbeitsschutzbestimmungen in der Textil- oder Sportschuhproduktion durch mehrere Unternehmen. Solche codes of conduct haben seit Mitte der 80er Jahre rapide zugenommen, v. a. als öffentliche Verpflichtungen einzelner Unternehmen (etwas über 50% der Vereinbarungen), aber auch als Vereinbarungen zwischen den Unternehmen einer Branche, als sog. stakeholder-partnerships oder in Einzelfällen solche, die von NGO’s übernommen worden sind (siehe Kolk/Van Tulder 2005).

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Obgleich sich die absoluten Zahlen in Grenzen halten – eine OECD-Studie von 1999 hat 182 codes identifiziert (vgl. Hassel 2006) – sind die Wachstumskurven recht beeindruckend (Kolk/Van Tulder 2005, S. 6). Es lassen sich verschiedene Ursachen für diese Entwicklung vermuten (vgl. allgemein Werther/Chandler 2006, Kap. 1; Clapham 2006, Kap. 1). So können zum einen Veränderungen auf der Seite der Konsumenten als Erklärung angeführt werden, die rationale Unternehmen zur Entwicklung und Einhaltung von codes of conduct bringen. Aufgrund der zeitlichen Parallelität liegt es zunächst nahe, die Entgrenzung von Informations- und Kommunikationsprozessen als eine Ursache zu sehen. In dem Maße, wie die Konsumenten in den entwickelten Industrieländern über globale Produktionsweisen und -prozesse informiert werden, legen sie den Maßstab einer quasi-extraterritorialen Rechtsauffassung an: was auf dem Absatzmarkt nicht rechtens ist, darf demnach auch in der Produktionsstätte nicht rechtens sein. Kinderarbeit, erzwungene Arbeit, Menschenrechtsverletzungen am Arbeitsplatz, eine rücksichtslose Vernichtung der Umwelt etc. werden demnach als Normbrüche verstanden, die geahndet werden müssen – durch einen erheblichen Reputationsverlust des betroffenen Unternehmen. Neben der Zunahme von Informationen durch die Transparenz der globalen Kommunikationsprozesse hat sich gleichzeitig – und das verweist auf eine weitere denkbare Ursache – die Bedeutung solcher Informationen erhöht. Der wohlhabende Konsument in der westlichen Welt hat den materiellen Spielraum, um bei der Kaufentscheidung auch produktfremde, den Produktionsprozess betreffende Informationen zu berücksichtigen. Gemäß dieser Erklärung ist Geiz eben doch nicht geil, der politisch motivierte Konsument gilt demnach als sexy. Hinzu kommt die große Bedeutung, die das Markenimage bei vielen Produkten erlangt hat. In dem Maße, in dem sich der Kaufpreis des Produkts von den eingeflossenen materiellen und Arbeitswerten in der Markengesellschaft löst, gewinnen produktfremde Aspekte einer Marke an Bedeutung. Und da machen sich Kinderarbeit und maßlose Umweltzerstörung nicht gut. Zum zweiten kann aber auch eine veränderte Selbstkonstruktion der multinationalen Unternehmen, die aufgrund ihrer Größe sich unmittelbaren Wettbewerbszwängen zumindest partiell entziehen können, als Erklärung angeführt werden. Für eine solche veränderte Selbstkonstruktion spricht v. a., dass sich manche Unternehmen gar nicht mehr mit der Formel von der Corporate Social Responsibility zufrieden geben, sondern sich selbst als corporate citizen definieren. ExxonMobil schreibt auf Ihre homepage: „We pledge to be a good corporate citizen in all the places we operate.“ Beinahe wortgleiche Formulierungen finden sich beispielsweise bei Ford, Toyota, Nike und Nokia (Matten/Crane 2005, S. 167). In der Folge haben sich De-

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batten über die Nutzbarmachung des Konzeptes corporate citizen (Moon et al. 2005), aber auch über eine politische Legitimation von privaten Akteuren in solchen Prozessen ergeben (Palazzo/Scherer 2006). Nur eine veränderte Selbstkonstruktion der Unternehmen würde eine reine Ethisierung der Unternehmen zum Ausdruck bringen. Die vorhandenen empirischen Studien legen es aber nahe, die CSR-Aktivitäten von Firmen im Wesentlich als Reaktion auf veränderte Informationslagen und Nachfragestrukturen zurückzuführen und somit als Ausdruck eines wohl verstandenen Eigeninteresses zu deuten. Ganz gleich, wo die Ursachen für die Diskussionen über corporate social responsibility gesehen werden, es verbindet sich mit ihnen die Hoffnung auf einen Mechanismus, mit dem die Defizite traditioneller politischer Steuerung durch den DRIS oder zwischenstaatliche Institutionen ausgeglichen werden können. Unternehmen wird dabei die Übernahme von Staatsfunktionen (vgl. Matten/Crane 2005, S. 174) und der ausgleich der Regelungslücken, die internationale Institutionen hinterlassen (Kolk/Van Tulder 2005, S. 2), zugeschrieben. Es bleiben jedoch Zweifel, ob die deklarierten Governance-Ziele wirklich erreicht werden. Bei den Strategien unternehmerischer Selbstbindung entsteht zum einen immer das Kollektivgutproblem, dass kein Akteur sicher sein kann, dass alle Wettbewerber die gleichen Bindungen eingehen und v. a. einhalten, also eine Wettbewerbsverzerrung zu Lasten der „ethisch“ handelnden Akteure vermieden wird. Den inhärenten Voluntarismus der codes of conduct versuchen zwar genau die Arbeiten zu überwinden, die auf eine veränderte Selbstkonstruktion der Unternehmen als corporate citizen mit deliberativen Verpflichtungen abheben (Scherer et al. 2006). Das Problem bleibt aber bestehen. Auch die effektive Steuerung einer Bürgergesellschaft greift aus guten Gründen immer wieder auf Zwangsmechanismen zurück, die eben dafür Sorge tragen sollen, dass die Rollenverständnisse des citoyen und des bourgeois nicht beliebig vertauscht werden können. Eine Lösung dieses Voluntarismus-Problems könnte darin gesucht werden, dass Unternehmensverbände als „private Regierungen“ (Streeck) auftreten, die für ihre Mitglieder die Einhaltung der Selbstbindungen verpflichtend machen. Das würde allerdings nur dann zu überzeugenden Erfolgen führen, wenn die Mitglieder Pflichtmitglieder wären (wie im Falle der Kammern) und wenn außenstehende Wettbewerber durch Beschränkung des Zugangs zum nationalen Markt ferngehalten werden könnten. Da beide Bedingungen heute unrealistisch sind, steht zu vermuten, dass sich die Praxis der „wirtschaftsethischen“ Selbstbindung seinen voluntaristischen Charakter behalten wird. Auch der Markt kann nur bedingt als Mechanismus zur Sanktionierung der Missachtung solcher codes of conduct dienen. Er unterliegt genau denselben Beschränkungen, die bei der Diskussion der marktkonformen Instru-

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mente genannt worden sind. Informationsprobleme führen dazu, dass zumeist nur konsumentennahe Produkte mit Markenimage in den Blick geraten und dass staatliche Rahmensetzungen notwendig werden. So besteht also die reale Gefahr, dass die Ethisierung der Wirtschaftsunternehmen sich auf Strategien der einzelwirtschaftlichen Reputationspflege und prophylaktischen Vertrauenswerbung beschränkt. Damit wird dann letztlich doch denn frühen Warnungen von Milton Friedman (1962) Rechnung getragen, wonach die soziale Verantwortung der Unternehmung allein und genau darin besteht, Profite zu machen. Wenn nun für einzelne Unternehmen die Profitorientierung es erfordert, dann muss eben auch mit dem Konzept der corporate social responsibility gearbeitet werden. In der Summe kann jedenfalls festgehalten werden, dass corporate social responsibility und die damit zumeist verbundenen codes of conduct zwar fraglos an Bedeutung gewonnen haben, aber voraussetzungsvoll bleiben. Es lässt sich kaum erwarten, dass sie flächendeckend mit der notwendigen Verbindlichkeit eingesetzt werden können, jedenfalls bedürften sie dann einer staatlichen Rahmensetzung. Dieser Befund deckt sich mit dem zu den marktkonformen Instrumenten, er gilt also generell für die neuen Instrumente der politischen Steuerung ökonomischen Verhaltens. 2. Supranationalisierung und Transnationalisierung Vor dem Hintergrund der Effektivitätsprobleme der neuen Steuerungsintrumente kann es nicht überraschen, dass alternativ und ergänzend die Option beschritten wird, die herkömmlichen, aber auch die neuen Instrumente in Räumen wieder zu errichten, die den denationalisierten Problemlagen entsprechen. Die entsprechende Dynamik ist bekannt (vgl. Zürn et al. 2006). Die Anzahl internationaler Verträge stieg linear von weniger als 15.000 im Jahre 1960 auf über 55.000 im Jahre 1997 an. Gut ein Drittel der Gesetze, die in den nationalen Parlamenten der europäischen Länder verabschiedet werden, haben inzwischen ihren Ursprung auf der europäischen oder internationalen Ebene. Neben der wachsenden Quantität internationaler Vereinbarungen kann als zweites Maß der institutionellen Dynamik auch eine neue Qualität der internationalen Regelungen beobachtet werden. Es lässt sich eine Zunahme von Regelungen beobachten, die behind-the-border issues (Kahler 1995) mit gesellschaftlichen Akteuren als den Endadressaten in Angriff nehmen und daher neue institutionelle Anforderungen aufwerfen. Die traditionelle internationale Verpflichtung beispielsweise, die Importzölle für bestimmte Güter nicht zu erhöhen, stellt sich im Nachhinein in vielerlei Hinsicht als recht einfach dar. Im Gegensatz dazu erweist sich die Verpflichtung, den Ausstoß von bestimmten Schadstoffen substantiell zu verringern,

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als viel anspruchsvoller. Da der letztendliche Adressat dieser Regelung nicht der Staat, sondern gesellschaftliche Akteure (die Industriebetriebe und Autofahrer) sind, stellt die Reduzierung beispielsweise des CO2-Ausstoßes nicht bloß eine exekutive Willenssache dar. Anders als bei den meisten anderen internationalen Regelungen ist ein Scheitern auch dann möglich, wenn die unterzeichnenden Regierungen die gute Absicht haben, die CO2-Emission zu reduzieren. Denn zur Erfüllung einer solchen Verpflichtung werden beträchtliche finanzielle, administrative und technologische Ressourcen benötigt. Schwerer wiegt noch, dass die Überwachung der Regelbefolgung bei behind-the-border issues wesentlich schwieriger ist als bei Schnittstellenproblemen. Darüber hinaus ist das Problem selbst so kompliziert, dass die Diskussionen über eine geeignete Form der Regelung immer wieder von den Fragen nach den wahren Ursachen und dem tatsächlichen Grad der globalen Erwärmung überschattet werden. Supranationalisierung und Transnationalisierung können somit als eine institutionelle Reaktionsform auf die neuen Regelungsprobleme verstanden werden. Supranationalisierung bezeichnet einen Prozess, bei dem institutionelle Komponenten und Verfahren zunehmen, die Entscheidungen von internationalen Institutionen auch gegen den Willen einer betroffenen Regierung ermöglichen. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass das westfälische Konsensprinzip zwischenstaatlicher Politik in vielen Bereichen überwunden und durch Mehrheitsentscheidungen oder rechtsförmige Verfahren ersetzt wird. Supranationalisierung bleibt dabei keineswegs auf die Europäische Union beschränkt – wenngleich sie hier besonders ausgeprägt ist, sondern findet zunehmend auch in anderen Institutionen Anwendung. Neben dem Internationalen Währungsfond und der Weltbank lassen sich als Beispiele für solche Entscheidungsverfahren die UN-Sonderorganisationen, der internationale Strafgerichtshof, der WTO „Dispute Settlement Body“ oder das „Tribunal Permanente de Revisión“ innerhalb des Mercosur anführen. Neben der Errichtung supranationaler Institutionen lässt sich als Reaktion auf die abnehmende staatliche Handlungseffektivität vermehrt auch das Entstehen transnationalen Regierens beobachten, bei dem mindestens ein Regelungsträger ein nicht-staatlicher Akteur ist (Risse-Kappen 1995, S. 3). In diesen Formen der politischen Steuerung verbindet sich die Denationalisierung mit der Nutzung neuer marktkonformer und weicher Steuerungsinstrumente. Auch auf der transnationalen Ebene kann dies die Form rein privater Regulierung annehmen. Tatsächlich haben die meisten branchenweit gültigen codes of conduct transnationalen Charakter. Hier kooperieren transnationale Konzerne (TNCs) in privatwirtschaftlichen Regimen oder es schließen sich privatwirtschaftliche mit zivilgesellschaftlichen Akteuren in Netzwerken zusammen. Beispiele für solche privaten Formen transnationa-

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len Regierens sind etwa die „International Chamber of Commerce“, das „International Accounting Standards Board“ (IASB) oder die zahlreichen Verhaltenskodizes (codes of conduct) und Zertifizierungssysteme („Forest Stewardship Council“, „Rugmark“ etc.). In der Literatur zu den Internationalen Beziehungen wird dabei von private authority und kaum von corporate social responsibility gesprochen (vgl. etwa Cutler et al. 1999; Hall/ Biersteker 2002; sowie Wolf 2005). Eine zweite Form der Kompensation abnehmender staatlicher Handlungseffektivität besteht in der gemeinsamen Erbringung von Governanceleistungen durch Staaten und wirtschaftliche und/oder gesellschaftliche Akteure innerhalb so genannter Public-Private Partnerships (Villancourt Rosenau 2000). Beispiele für solche privat-öffentlichen Modelle sind die ICANN, der „Global Compact“ oder „Consultative Group on International Agricultural Research“ oder der Kimberley Prozess. In all diesen Fällen erbringen gesellschaftliche Akteure Regelungsleistungen oder produzieren öffentliche Güter auf der transnationalen Ebene, die von Staaten nicht oder nicht allein bereitgestellt werden können. Die Entstehung effektiver Steuerungsmechanismen auf der supra- und transnationalen Ebene ist gleichfalls enorm voraussetzungsvoll. Die Grenzen transnationaler Steuerungsmechanismen entsprechen denen, die bei der Diskussion der neuen Steuerungsinstrumente (siehe oben) bereits genannt worden sind. Flächendeckende Maßnahmen sind kaum zu erwarten. Im Global Compact wirken gerade mal 5% der multinationalen Unternehmen mit (Benner/Witte 2006). Wolf (2005, S. 222) hält daher fest: „Private contributions to governance beyond the nation state can add to, but will not replace, public governance.“ Auf die Rolle des Staates wird nicht gänzlich verzichtet werden können. Damit hängt die Effektivität transnationaler Regelungen aber wiederum von zwischenstaatlichen Einigungsprozessen ab, die selbst nur unter bestimmten Bedingungen gelingen können und zudem sehr schwerfällig sind (vgl. als Überblick Hasenclever et al. 1997). Und selbst bei erfolgreicher Supra- und Transnationalisierung bleiben systematisch zwei Probleme: Die mangelnde demokratische Legitimität solcher Regelungen und das Fehlen marktkorrigierender Institutionen jenseits des Nationalstaates (Zürn 1998, S. 409–414).

V. Politisierung ohne Staat Die beschriebene Doppelverschiebung – der Instrumentenwahl und der politischen Ebene – kann sicherlich als eine Reaktion auf die nachlassende Effektivität des demokratischen Interventionsstaates gelesen werden. Trotz der Grenzen ihrer Effektivität können die neuen Instrumente der Steuerung und die politische Denationalisierung die Mängel traditionaler staatlicher

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und hierarchischer Steuerung teilweise ausgleichen. In jedem Falle verbindet sich mit dieser Verschiebung eine relative Schwächung des traditionell agierenden demokratischen Interventionsstaates. Man sollte sich allerdings nicht täuschen lassen: Das Ergebnis ist weder eine Entstaatlichung noch eine Depolitisierung. Zum einen ist der Staat in fast allen neuartigen Arrangements ein integraler und notwendiger Bestandteil. Er macht es nicht mehr alleine, aber er ist von zentraler Bedeutung. Das Steuer- und das Gewaltmonopol verbleiben innerhalb der OECD-Welt fest in der Hand des Staates. Damit sichert er sich ein zentrales Mittel des Einflusses und behält gleichsam das Steuerungsmonopol im Bereich der marktkorrigierenden Politik. Marktschaffende und marktsichernde Regelungen können zwar an private und internationale Akteure abgegeben werden, der Nationalstaat behält aber zumeist ein Letzteingriffsrecht. Ohne einen Schatten der Hierarchie erweisen sich die neuen Steuerungsmechanismen als zumeist wenig effektiv. Der traditionelle Staat bleibt damit von zentraler Bedeutung auch für eine neue Konstellation von Staatlichkeit. Aber selbst dort, wo es zu einer weitreichenden Ersetzung nationalstaatlicher Politiken kommt, führt dies nicht zur De-Politisierung. Vielmehr werden zunehmend sowohl internationale Institutionen als auch das Handeln von Großunternehmen politisiert. a) Der beschriebene Prozess der Supra- und Transnationalisierung ist mit einem zweiten eng verbunden: der zunehmenden Sensibilisierung von Gesellschaften für Macht- und Legitimitätsfragen globalen Regierens und dessen damit verbundene Politisierung. Unter der Politisierung globalen Regierens soll ein Prozess verstanden werden, in dessen Folge gesellschaftliche Akteure, seien sie national oder transnational organisiert, vermehrt normative Anforderungen an das Regieren jenseits des Nationalstaates richten.2 Im Ergebnis führt dies zu einer Pluralisierung der Akteure und Positionen in internationalen und transnationalen Institutionen. Dieser Prozess erscheint vergleichbar mit der Politisierung nationalen Regierens in vielen europäischen Ländern im Laufe des 19. Jahrhunderts. Die mit neuen Einflussmöglichkeiten ausgestatteten Institutionen erhalten von einer wachsenden Zahl gesellschaftlicher Akteure subjektiv mehr Relevanz zugesprochen. Dies führt dazu, dass die Transparenz der Institutionen und die Einbindung von gesellschaftlicher Expertise erfolgt und mithin der Modus des rein exekutiven Multilateralismus verlassen wird. Dies verstärkt 2 Dies deckt sich mit der allgemeinen Definition von Iris Young (2004, S. 377), wonach als politisch einzustufen sind: „(. . .) activities in which people organize collectively to regulate or transform some aspects of their shared social condition, along with the communicative activities in which they try to persuade one another to join such collective actions or decide what directions they wish to take.“

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aber nur die Ansprüche einer demokratischen Legitimation (latente Politisierung), so dass in Folge Widerstände gegen diese internationalen Institutionen erwachsen, deren Erscheinungsformen von mangelnder Folgebereitschaft oder einer kritischen Thematisierung in der Öffentlichkeit bis hin zu gewaltsamen Protesten reichen können (manifeste Politisierung). Im Endeffekt, so die weitergehende Erwartung, bleibt möglicherweise nur der Weg der erneuten institutionellen Anpassung an die artikulierten Ansprüche, insbesondere die weitere Öffnung der Verfahren für gesellschaftliche Akteure (Demokratisierung) oder eben eine Rückkehr zu einem Intergouvernmentalismus, der mit Konsensprinzip internationaler Politik kompatibel ist. Die Logik der Internationalisierung ändert sich also von einer Rationalität der effektiven Problemlösung zu einer Logik des legitimen Regierens. Internationale Politik wird dann nicht mehr nur aufgrund des Maßstabs der politischen Klugheit und Effektivität bewertet, vielmehr unterliegt dann die Bewertung internationaler Politik den Kriterien einer guten politischen Ordnung: Fairness und Legitimität. Damit verlieren territoriale Grenzen ihre normative Dignität und universalistische Konzeptionen von Politik entfalten sich. In der Folge entsteht ein Konflikt zwischen Staatenwelt und Gesellschaftswelt im Sinne transnationalisierter sozialer Handlungssphären. Diese Politisierung durch zivilgesellschaftliche Akteure und Arenen birgt gleichzeitig ein Widerstandspotential gegen die politische und nicht zuletzt auch gesellschaftliche Denationalisierung. b) Auch Unternehmen werden politisert. Der Prozess der zunehmenden shareholder-Orientierung und die Schwächung der Arbeitnehmermitbestimmung werden durch Aktivitäten im Kontext der sog. corporate social responsibility konterkariert. Unternehmen bauen Stiftungen, gründen Corporate Universities und beteiligen sich am sozialen oder kulturellen Sponsoring (Mosdorf 2005, S. 73). Die Devise Robert Boschs, die einst eine spezifische Unternehmensstrategie zum Ausdruck brachte, lässt sich heute verallgemeinern. Sie lautet: „Lieber Geld verlieren als Vertrauen“. Das zeigt sich vielleicht am Besten daran, dass schon darüber diskutiert wird, ob die politische Einflussnahme nicht gänzlich besser über den Markt als über demokratische Prozesse erfolgen könnte. Noreena Hertz (2001) etwa fragt: „Better to shop than to vote?“ und beantwortet diese Frage positiv. „It is because of the fact that instead of showing up at the voting booth to register their demands and wants, people are turning to corporations. The most effective way to be political today is not cast your vote at the ballot box but to do so at the supermarket or at a shareholder’s meeting. Why? Because corporations respond.“ Diese Handlungslogik führt aber zu Legitmationsproblemen eigener Art (vgl. Palazzo/Scherer 2006). Schon Milton Friedman (1962) hat in einem

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Plädoyer für die Beschränkung der Unternehmen auf den Zweck der Profitmaximierung vor der Gefahr einer Politisierung der Unternehmen gewarnt. Während er philantropische Aktivitäten von Unternehmensinhabern begrüßt, kritisiert er Manager die Aktienunternehmen im öffentlichen Bereich wildern lassen. Das geschehe ohne Mandat und auf Kosten der Aktionäre. In seiner ihm eigenen gedanklichen Konsequenz folgert Friedman: Wenn Unternehmen politische Akteure werden, dann sollte die betroffene Bevölkerung auch die Manager auswählen dürfen. Robert Reich (1998, S. 17), sonst kein Freund der Friedmanschen Lehre, bestätigt diese Einsicht knapp 20 Jahre später. Eine zu weitreichende Übernahme von Staatsfunktionen durch Unternehmen führe zu einer problematischen „politization of the corporation“. Eine Analyse aus dem Bereich der Management Studies geht noch einen Schritt weiter: „Legitimacy has become one of the most critical business issues, especially for those companies who operate globally“ (Kostova/ Zaheer 1999, S. 74). Der corporate citizen untersteht also inzwischen einem eigenen Legitimationsdruck, neben den Kapitalgebern haben sie auch die Interessenlagen der Kunden und der politischen Öffentlichkeit zu berücksichtigen. Ob mittels einer derartigen Politisierung das Primat der Politik über den Markt zurück gewonnen werden kann, bleibt sicherlich zweifelhaft. Gleichwohl verweisen die aufgezeigten Veränderungen keinesfalls auf einen Prozess der Depolitisierung. Vielmehr werden zunehmend sowohl internationale Institutionen als auch das Handeln von Großunternehmen politisiert. Governance with and without government unterliegt also denselben normativen Ansprüchen wie governance by government. Oder noch pointierter: In dem Maße, wie der Markt gegenüber der Politik an Boden gewinnt, wird der Markt politisiert.

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Die Politisierung der Ökonomisierung?

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II. Rezensionen

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Gerhard Paul: Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Ferdinand Schöningh – Wilhelm Fink, Paderborn/München u. a. 2004, 527 Seiten. Die spielerische Vertauschung von Nominativ und Genitiv, im Junghegelianismus ein philosophisches Prinzip, in jüngster Zeit eher eine aufmerksamkeitsheischende Spielerei, steht in diesem Fall für eine Entwicklung im Verhältnis von Kriegsgeschehen und medialer Repräsentation: Lange Zeit waren Bilder eine nachträgliche Darstellung von Ereignissen, die diese im kollektiven Gedächtnis präsent hielten und sich allmählich an deren Stelle schoben. Dabei konkurrierten und ergänzten sie sich mit Erzählungen der aus dem Krieg Zurückgekehrten. Narration und Imagination bildeten also eine Einheit bei der Prägung und Ausgestaltung des Gedächtnisses, wobei sie sich wechselseitig verstärken, aber auch relativieren konnten. Das hat sich seit dem Vietnamkrieg geändert, und im Golfkrieg von 1991 sind die weitreichenden Folgen dieser Umkehrung allgemein erkennbar geworden: Die Bilder sind an die Stelle des Krieges getreten und haben Waffenqualität bekommen. Bilder zeigen nicht mehr unabhängig von der medialen Präsentation geführte Kriege, sondern Kriege werden durch das Zeigen von Bildern geführt. Diese Entwicklung hat Gerhard Paul in seiner voluminösen und reich bebilderten Studie nachgezeichnet. Das Herangehen an das Thema der Kriegs-Bilder hat auf (mindestens) zwei Ebenen zu erfolgen: einer der Kriegs- und einer der Mediengeschichte, und eigentlich gehört auch noch eine mentalitätsgeschichtliche bzw. sozialpsychologische Komponente dazu. Wiewohl Pauls Untersuchung erst mit dem Krimkrieg einsetzt, als die Fotografie für die Repräsentation des Kriegsgeschehens relevant wird, ist daraus ein opulentes Werk geworden, für das nicht nur eine kaum noch zu handhabende Fülle wissenschaftlicher Untersuchungen, sondern auch eine gewaltige Menge Bildmaterial zu verarbeiten war. Im Anschluss an jede der acht Entwicklungsetappen im Verhältnis von Krieg und Bildlichkeit findet sich eine sorgfältig kommentierte Zusammenstellung von Bildern, durch die das zuvor begrifflich Entwickelte Anschaulichkeit erhält. Die von Paul gewählten Entwicklungsetappen sind: die Kriege des 19. Jahrhunderts vom Krimkrieg bis zum spanisch-amerikanischen Krieg von 1898, der Erste Weltkrieg, der Spanische Bürgerkrieg, der Zweite Weltkrieg, der Vietnamkrieg, der Golfkrieg, der Kosovokrieg und schließlich der Terrorangriff vom 11. September 2001. Diese acht Etappen werden gerahmt durch ein einführendes Kapitel, das sich mit Kriegsdarstellungen vor Erfindung der Fotografie beschäftigt, und einem konkludierenden Schlusskapitel, das sich grundsätzlich mit den Problemen der Darstellbarkeit und Anschaulichkeit von Kriegsgewalt auseinandersetzt. Gerhard Paul hat sich bei der Komposition des Buches eher durch die Geschichte der Repräsentationstechnologien und insbesondere die These von iconic bzw. visual turn als durch die Probleme der Kriegsgeschichte anleiten lassen. Die Geschichte des Krieges wird nach Maßgabe seiner Visibilität und der Techniken seiner Visibilisierung dargestellt und analysiert. Das hat u. a. zur Folge, dass in dem Band eine stark europa- und amerikazentrierte Perspektive vorherrscht. Aber es ist doch bemerkensund erwähnenswert, dass die Kolonialkriege des 19. und 20. Jahrhunderts so gut wie nicht vorkommen, von den Kriegen, in die keine westlichen Mächte involviert waren, ganz zu schweigen. Von vielen dieser Kriege gibt es nämlich keine oder nur wenige Bilder. So wird der blutigste und verlustreichste Krieg, der nach Ende des Zwei-

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ten Weltkriegs geführt worden ist, der Krieg im Kongo, überhaupt nicht erwähnt. Darin zeigt sich ein Problem, das vielleicht doch eine genauere Reflexion verdient hätte: Dass es nämlich nur bestimmte Kriege sind, an denen die Visualisierungsstrategien ansetzen, während andere Kriege weitgehend invisibel bleiben und dementsprechend im Gedächtnis der westlichen Gesellschaften auch keinen Platz finden. Kriegsgeschichte ist als eine Geschichte der Bilder des Krieges nicht zu schreiben. Aber das ist ein Einwand, der sich weniger gegen Pauls Werk als gegen die unter den Medientheoretikern verbreitete These richtet, derzufolge die Mediengeschichte die Kriegsgeschichte in sich aufgenommen habe und an ihre Stelle getreten sei. Diese Auffassung ist bei Paul nur indirekt anzutreffen. Dafür fällt das gänzliche Fehlen des Seekrieges auf, der, von den U-Booten einmal abgesehen, ein Krieg mit großer Visibilität ist, freilich nicht vom terranen, sondern vom maritimen Standpunkt aus. Für einen englischen oder amerikanischen Autor wäre dieses Beiseitelassen des Seekriegs undenkbar gewesen. Deutsche Autoren schreiben, selbst wenn sie sich mehr den Fragen der Visualisierung als dem Geschehen selber widmen, aus der Perspektive von „Landtretern“ und nicht der von „Seeschäumern“ (Carl Schmitt). In dem „Imagined Battles“ überschriebenen einführenden Kapitel hat Paul die Grundelemente einer Repräsentation des Kriegsgeschehens entwickelt, wie sie auch in den anschließenden Entwicklungsetappen einer Mediengeschichte des Krieges immer wieder auftauchen. Zentral ist dabei immer wieder die Frage von Chaos oder Struktur: Wird der Krieg bzw. die Schlacht als ein wesentlich geordnetes oder als ein überwiegend chaotisches Geschehen dargestellt? Sehen wir die geometrischen Strukturen zum Kampf bereitgestellter Truppenkörper oder wird uns ein wilder, tumultarischer Kampf vor Augen geführt? Hier ist die Frage nach Publikum und Auftraggeber der Gemälde ausschlaggebend: Der Kriegsherr und seine höfische Umgebung sind eher an Übersicht und Ordnung interessiert, die zeigen, dass sie die Dinge im Griff haben, während für jene, denen der Krieg eine störende, gelegentlich katastrophale Unterbrechung der Alltagsgeschäfte war, er als wilden Tumult und bloße Zerstörung visualisiert wird. In der Regel interessieren sich erstere vor allem für den Sieger, während letztere ihre Aufmerksamkeit den Opfern des Krieges zuwenden. Es ist schade, dass Paul sich nicht mit Menzels Illustrationen zum Siebenjährigen Krieg auseinandergesetzt hat, in denen es diesem gelungen ist, die von Paul separierten und oppositionell gegliederten Elemente in einen Zusammenhang zu bringen, Opfer und Sieger nebeneinander zu stellen sowie Struktur und Chaos miteinander zu verbinden. Menzels Kriegsbilder haben dadurch eine sehr viel größere Komplexität als die Fotografien aus späteren Kriegen. Des weiteren zeigt Paul in seiner Einführung, wie mit der Französischen Revolution die Darstellung des leidenschaftlichen Kriegers vorherrschend wird, der für eine politische Idee kämpft und stirbt, während mit dem Abebben der revolutionären Energie der Krieg wieder nach den Vorgaben des Genrebildes repräsentiert wird und sich nicht selten wie ein bewaffneter Betriebsausflug ausnimmt. Auch dieser Gegensatz wird die Kriegsfotografie stark prägen. Paul hat darauf verzichtet, zwischen Staaten- und Bürgerkrieg systematisch zu unterscheiden. Tatsächlich sind das späte 19. und das 20. Jahrhundert dadurch gekennzeichnet, dass diese auf das 17. Jahrhundert zurückgehende Unterscheidung zunehmend an Bedeutung verloren hat. Immerhin zeigen die von Paul zusammengestellten Bilder zum amerikanischen Bürgerkrieg und zum Aufstand der Pariser Com-

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mune, dass innergesellschaftliche Kriege nicht nur grausamere Gewaltformen an den Tag legen, sondern sich in ihnen auch eine höhere Bereitschaft zur Visualisierung von Grausamkeit zeigt. Diese Visualisierung hat nicht selten eine den Gegner denunzierende Qualität, wie sie aus dem zwischenstaatlichen Kriegsgeschehen zunächst herausgehalten wurde. Das endete, wie Paul am Beispiel der alliierten Propaganda über deutsche Kriegsgreuel zeigt, in den ersten Monaten des Ersten Weltkriegs. Nach dessen Ende waren in Deutschland einige der Auffassung, dass das Reich den Krieg unter anderem wegen seiner unterlegenen Propagandapolitik verloren habe. Die Aufstellung von Propagandakompanien, die dann deutscherseits die Bilder des Zweiten Weltkriegs geprägt haben, war die Konsequenz daraus. In den PK-Bildern vom Krieg ist das Statuarische verschwunden und dynamische Bewegung beherrschte die Visualisierung. Das grundlegende Problem bei der Darstellung jüngerer Kriege ist die Leere des modernen Gefechtsfelds. Wenn in den jüngsten Golfkriegen Surrogatbilder an die Stelle des realen Kriegsgeschehens getreten sind, so hat das nicht nur mit den so viel leichter erzielbaren politischen Effekten zu tun, sondern ist auch eine Folge dessen, dass auf dem modernen Gefechtsfeld kaum etwas zu sehen ist. Der Bajonettangriff geschlossener Infanterieverbände ist ebenso verschwunden wie blitzartige Kavallerieattacken, und selbst größere Panzerverbände werden zumeist so getarnt, dass sie für den Gegner – und damit auch für das beobachtende Fernsehpublikum – unerkennbar sind. Parallel zur Verfeinerung der Visualisierungsinstrumente hat der Krieg also an Visibilität verloren. Was zu sehen ist, sind nur noch seine Spuren, nicht aber das Geschehen selbst – sieht man einmal vom Einschlag der beiden Flugzeuge in das World Trade Center ab. Es kommt deswegen nicht von ungefähr, dass diese Bilder bei der Prägung unseres Gedächtnisses so überragende Bedeutung erlangt haben. Die Kriegsspuren, die sich der Visualisierung anbieten, sind menschliche Opfer und physische Zerstörungen. Das Bild des Krieges ist nicht mehr bestimmt durch die Schlacht, sondern durch die Opfer. Das ist sicherlich nicht nur eine Folge von Visualisierungsmöglichkeiten, sondern auch dem Umstand geschuldet, dass postheroische Gesellschaften nur bestimmte Bilder vom Krieg sehen wollen: glänzende Waffen und hochentwickelte Technik, so lange sie nicht in Aktion getreten sind, und bedauernswerte Opfer, in denen sich die Sinnlosigkeit des Ganzen zeigt. Von den auf dem Berliner Alexanderplatz errichteten Panorama der Schlacht von Sedan bis zu dieser Perspektive des heutige Fernsehzuschauers ist ein langer Weg, den Gerhard Paul umsichtig abgeschritten hat. Herfried Münkler

III. Nachruf

Karl Graf Ballestrem (1939–2007) Karl Graf Ballestrem war in vielem das, was man an einem Aristokraten schätzen und lieben kann. Für jeden Menschen, gleich welcher Herkunft, hatte er seinen eigenen höchst angenehmen Ton des Umgangs. In vielen Sprachen, vom Englischen und Französischen bis zum Italienischen und Russischen konnte er sich mühelos bewegen. Frühe Frucht dieser Sprachbegabung war sein Lexikon über russische philosophische Terminologie, das 1964 erschien. Studiert hatte er in Rom und beim Dominikaner Bochenski in Fribourg. Bochenski war ein Fachmann für formale Logik, für Aristoteles, Hegel und das, was man damals Sowjetologie nannte. Nach Lehrtätigkeiten an amerikanischen Universitäten wie der Katholischen Universität Notre Dame (1967–71) kam er an das Geschwister-Scholl-Institut in München, an dem er sich mit einer Arbeit über die Schottische Aufklärung habilitierte. Zusammen mit Norbert Waszek war er wohl der erste, der die Bedeutung der schottischen Philosophen wie David Hume, Adam Smith oder Lord Kames für das politische Denken erfaßte. 2001 erschien sein Buch über Adam Smith, in dem sich seine jahrzehntelange Beschäftigung mit den Schotten niederschlug. Berufen an die Katholische Universität Eichstätt (1984) hat er dort mehrere Tagungen zu ihn bewegenden Themen wie zum Naturrecht oder zur Internationalen Gerechtigkeit organisiert, die 1993 und 2001 im Druck erschienen sind. Er tat dies als Präsident der „Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens“, der er ca. ein Jahrzehnt vorstand. Ballestrems Lehrveranstaltungen am Geschwister-Scholl-Institut, oft zusammen gehalten mit Thomas McCarthy, waren legendär. Neben seiner großen Begabung als akademischer Lehrer stand seine Fähigkeit, scharfsinnige und historisch sehr dichte Artikel zu schreiben, die sich von den schnell produzierten Veröffentlichungen unserer Tage fundamental unterscheiden. Erwähnt sei nur sein Artikel über „Vertragstheoretische Ansätze in der Politischen Philosophie“, der 1983 in der „Zeitschrift für Politik“ erschien, oder sein Aufsatz über „Das Politische Denken des Marxismus“ im Sammelband Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts (1990). Graf Ballestrem war ein treuer Sohn seiner Kirche. Noch kurz vor der Emeritierung hatte er damit begonnen, ein großes von der VW-Stiftung gefördertes Projekt zu organisieren, das das Verhältnis von Kirche und Staat in verschiedenen europäischen Ländern zum Thema hatte. Karl Graf Ballestrem ist am 9. Mai 2007 verstorben – mitten in einem Vortrag, den er schwindlig werdend kurz unterbrochen hatte. München, im Sommer 2007

Professor Dr. Henning Ottmann

Zu den Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Michael Baurmann, Professor für Soziologie (Soziologische Theorie) am Sozialwissenschaftlichen Institut der Universität Düsseldorf PD Dr. Hendrik Hansen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte der Universität Passau Prof. Dr. Dr. Peter Koller, Professor für Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz Prof. Dr. Herfried Münkler, Professor für Politikwissenschaft am Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, Staatsminister a.D., Professor für Politische Theorie und Philosophie am Geschwister-Scholl-Institut der Universität München Prof. Dr. Hans G. Nutzinger, Professor für Nationalökonomie (Theorie öffentlicher und privater Unternehmen) an der Universität Kassel Prof. Dr. Henning Ottmann, Professor für Politische Theorie und Philosophie am Geschwister-Scholl-Institut der Universität München Prof. Dr. Ingo Pies, Professor für Wirtschaftsethik an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Prof. Dr. Mag. Manfred Prisching, Professor für Soziologie an der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz Prof. Dr. Thomas Simon, Professor für Österreichische und Europäische Rechtsgeschichte an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien Prof. Dr. Richard Sturn, Professor für Finanzwissenschaften an der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig, Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Passau Prof. Dr. Reinhard Zintl, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bamberg Prof. Dr. Michael Zürn, Direktor der Abteilung „Transnationale Konflikte und Internationale Institutionen“ am Wissenschaftszentrum Berlin und Direktor der Hertie School of Governance in Berlin