Politisches Denken. Jahrbuch 2016 [1 ed.] 9783428551446, 9783428151448

Das »Jahrbuch Politisches Denken« 2016 ist von der Kontroverse geprägt. Ein aktueller Schwerpunkt diskutiert die Grundla

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Politisches Denken. Jahrbuch 2016 [1 ed.]
 9783428551446, 9783428151448

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JAHRBUCH

POLITISCHES DENKEN 2016

Band 26

Herausgegeben von V. Gerhardt, C. Kauffmann, H.-C. Kraus, F.-L. Kroll, P. Nitschke, H. Ottmann, M. P. Thompson Peter Nitschke: Nachruf auf Horst Dreitzel  Jürgen Gebhardt: Westliche Zivilreligion, europäisches Denken und die globale Welt multipler Modernitäten  Frank-Lothar Kroll: Räume – Ideen – Identitäten. Gibt es eine europäische Geschichte?  Emanuel Richter: Die Suche nach einer neuen Erzählung von Europa  Karl Albrecht Schachtschneider: Zur politischen Finalität der Europäischen Union  Manuel Becker: Der Humboldt-Mythos auf dem Prüfstand  Rainer Enskat: Ruinen schaffen ohne Waffen?  Pierpaolo Ciccarelli: Politische Philosophie versus Geschichtsphilosophie  Felix Dirsch: Demokratie und Relativismus – ein notwendiger Konnex?  Cristiana Senigaglia: Max Weber und die demokratische „Umbildung des Charisma“

Duncker & Humblot

JAHRBUCH POLITISCHES DENKEN 2016

Band 26

In Verbindung mit dem Vorstand der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens als Geschäftsführenden Herausgebern: Prof. Dr. Clemens Kauffmann, Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Prof. Dr. Peter Nitschke

Redaktion: Prof. Dr. Clemens Kauffmann Dr. Eva Odzuck Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Institut für Politische Wissenschaft Kochstraße 4/21, D-91054 Erlangen E-Mail: [email protected]

Wissenschaftlicher Beirat: Karl Dietrich Bracher (Bonn), Reinhard Brandt (Marburg), John Dunn (Cambridge), Iring Fetscher † (Frankfurt), Wilhelm Hennis † (Freiburg), Dieter Henrich (München), Otfried Höffe (Tübingen), Hasso Hofmann (Berlin), Nikolaus Lobkowicz (Eichstätt), Hermann Lübbe (Zürich), Odo Marquard † (Gießen), Kenneth Minogue (London), J. G. A. Pocock (Hopkins University), Melvin Richter (New York), Quentin Skinner (Cambridge), Michael Stolleis (Frankfurt)

Das „Jahrbuch Politisches Denken“ (JPD) erscheint seit 1991 in Zusammenarbeit mit der „Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens“ (DGEPD). Den Zielen der Gesellschaft entsprechend fördert das Jahrbuch die fächerübergreifende, wissenschaftliche Forschung, die das politische Denken international und in seiner ganzen Breite zum Gegenstand hat, sowie den Austausch zwischen politischem Denken und praktischer Politik. Zur Publikation eingereichte Texte durchlaufen ein Begutachtungsverfahren. Typoskripte sind anonymisiert und in zweifacher Ausfertigung als Ausdruck sowie in elektronischer Form (in einem üblichen Datei-Format) bei der Redaktion einzureichen. Hinweise zur Formatierung sind zugänglich unter www.dgepd.de. Verlage senden Rezensionsexemplare ihrer Publikationen bitte an die Redaktion. Für unverlangt bei der Redaktion eingereichte Exemplare bestehen keine Besprechungszusage und kein Anspruch auf Rücksendung.

Jahrbuch Politisches Denken 2016 Band 26 Herausgegeben von Volker Gerhardt, Clemens Kauffmann, Hans-Christof Kraus, Frank-Lothar Kroll, Peter Nitschke, Henning Ottmann, Martyn P. Thompson

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH Printed in Germany ISBN 978-3-428-15144-8 (Print) ISBN 978-3-428-55144-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-85144-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nachruf auf Horst Dreitzel (6. April 1931 – 18. März 2016) Von Peter Nitschke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Europa denken Westliche Zivilreligion, europäisches Denken und die globale Welt multipler Modernitäten Von Jürgen Gebhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Räume – Ideen – Identitäten. Gibt es eine europäische Geschichte? Von Frank-Lothar Kroll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Suche nach einer neuen Erzählung von Europa. Politische und demokratische Potentiale Von Emanuel Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur politischen Finalität der Europäischen Union Von Karl Albrecht Schachtschneider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Aufsätze Der Humboldt-Mythos auf dem Prüfstand. Wilhelm von Humboldt als Theoretiker und Praktiker von Bildungs- und Hochschulpolitik Von Manuel Becker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Ruinen schaffen ohne Waffen? Zu den politischen Widerfahrnissen der Geisteswissenschaften und der Autonomie der Universität Von Rainer Enskat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Politische Philosophie versus Geschichtsphilosophie. Leo Strauss’ Interpretation von Husserls „Philosophie als strenge Wissenschaft“ Von Pierpaolo Ciccarelli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Demokratie und Relativismus – ein notwendiger Konnex? Verfassungsrechtliche und ideengeschichtliche Hintergründe eines viel diskutierten kulturkritischen Topos der Gegenwart Von Felix Dirsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

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Inhaltsverzeichnis

Max Weber und die demokratische „Umbildung des Charisma“ Von Cristiana Senigaglia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

III. Rezensionsessay Neues von und über Carl Schmitt Von Hans-Christof Kraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

IV. Rezensionen Wolfgang Neugebauer: Otto Hintze. Denkräume und Sozialwelten eines Historikers in der Globalisierung 1861 – 1940. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, 661 S. Von Ewald Grothe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Otfried Höffe: Geschichte des politischen Denkens. Zwölf Porträts und acht Miniaturen. C. H. Beck, München 2016, 416 S. Von Clemens Kauffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Samuel Salzborn: Kampf der Ideen. Die Geschichte politischer Ideen im Kontext. Nomos, Baden-Baden 2015, 201 S. Von Peter Nitschke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Lothar Fritze: Kritik des moralischen Universalismus. Über das Recht auf Selbstbehauptung in der Flüchtlingskrise. Schöningh Verlag (Schönburger Schriften zu Recht und Staat), Paderborn 2017, 277 S. Von Friedrich Pohlmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Christoph Hübner: Die Rechtskatholiken, die Zentrumspartei und die katholische Kirche in Deutschland bis zum Reichskonkordat von 1933. Ein Beitrag zur Geschichte des Scheiterns der Weimarer Republik. Lit Verlag (Beiträge zu Theologie, Kirche und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, hrsg. von Rainer Bendel, Lydia Bendel-Maidl und Joachim Köhler; Bd. 24), Berlin 2014, 875 S. Von Markus Schubert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Raul Heimann: Die Frage nach Gerechtigkeit. Platons Politeia I und die Gerechtigkeitstheorien von Aristoteles, Hobbes und Nietzsche. Duncker & Humblot, Berlin 2015, 261 S. Von Dennis Stammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Aurel Kolnai: Der Krieg gegen den Westen. Herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Bialas. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015, 763 S. Von Rolf Zimmermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Editorial Der Band 26 des Jahrbuchs Politisches Denken erscheint unter einer veränderten Herausgeberschaft. Barbara Zehnpfennig und Reinhard Mehring haben sich nach vielen Jahren unermüdlichen Einsatzes für das Jahrbuch aus dem Herausgebergremium zurückgezogen. Für ihre Arbeit und ihr Engagement gebührt ihnen der Dank des Herausgeberkollegiums ebenso wie des Vorstands und der Mitglieder der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens. Ohne ihren wissenschaftlichen Eintrag wäre das Jahrbuch nicht, was es heute ist: eine der renommiertesten interdisziplinären Zeitschriften für politisches Denken und politische Theorie in Europa. Wir freuen uns, daß beide dem Jahrbuch aktiv verbunden bleiben. Zugleich dürfen wir Frank-Lothar Kroll im Herausgeberkollegium willkommen heißen. Frank-Lothar Kroll ist seit Herbst 2015 Mitglied des Vorstands der DGEPD und somit „geborener“ Mitherausgeber des Jahrbuchs. Wir freuen uns über die neue Zusammenarbeit und die Stärkung der historischen Expertise in unserem trans-disziplinären Unternehmen. Inhaltlich ist dieser Band deutlich von der Kontroverse geprägt – und das ist gut so in Zeiten, in denen das politische Denken durch die Erschütterung sicher geglaubter Errungenschaften herausgefordert wird. Die erste Abteilung führt vier Arbeiten zusammen, die aus der Jahrestagung der DGEPD im Jahr 2015 zum Thema „Europa denken“ hervorgegangen sind. Die Tagung ist auf großes Interesse gestoßen und hat ein vielschichtiges Bild vom Stand der europäischen Integration vermittelt. Vertreter eines differenzierten Spektrums von Perspektiven und Standpunkten haben intensiv diskutiert und den Austausch mit der Politik gesucht, mit dem ungarischen Staatssekretär Gergely Pröhle ebenso wie mit dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments, Elmar Brok. Die vier Artikel zeigen, zu welch unterschiedlichen Ergebnissen der Versuch, Europa zu denken, kommen kann. Frank-Lothar Kroll legt die historischen und geopolitischen Fundamente frei, auf denen ein europäisches Denken Fuß gefaßt hat. Er stellt sich damit als neuer Mitherausgeber des JPD programmatisch vor und zeigt sich als Historiker, der den „Papierrosen der Dichter und Denker“ durchaus distanziert gegenüber steht. Jürgen Gebhardt macht darauf aufmerksam, daß eine Europäische Union sich nur dann sinnvoll selbst verstehen kann, wenn sie sich als Teil der Konstruktion des „Westens“ in transatlantischer Perspektive begreift. Karl A. Schachtschneider formuliert eine fundamentale Kritik an der – wie er es nennt – „Europaideologie“ und am Integrationsprozeß der Europäischen Union. Diese Kritik kann aus der Perspektive von Emanuel Richter als eines jener „neuen Narrative“ eingeordnet werden, das als solches zur Demokratisierung der EU gehört. Diese Beiträge stellen eine ei-

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Editorial

gene Debatte dar – die fortzuführen lohnend wäre. Wie immer geben die Texte ausschließlich die Auffassungen ihrer jeweiligen Verfasser wider. Kontrovers geht es auch in der zweiten Abteilung zu, wenn Manuel Becker den „Mythos Humboldt“ auf den Prüfstand stellt, wenn Rainer Enskat pointiert gegen die derzeitige Hochschulpolitik polemisiert und Felix Dirsch die Wertgrundlagen der Demokratie untersucht. In ruhigeren Fahrwassern bewegen sich die beachtenswerten Überlegungen, die die Italiener Cristiana Senigaglia und Pierpaolo Ciccarelli zu den deutschen Denkern Max Weber, Edmund Husserl und Leo Strauss anstellen. Im Rezensionsessay und den Buchkritiken, die diesen Band abrunden, weht wiederum manches Mal ein stürmischer Geist – lesen Sie selbst! Erlangen, im Frühjahr 2017

Clemens Kauffmann

Nachruf auf Horst Dreitzel (6. April 1931 – 18. März 2016) Von Peter Nitschke An der Reformuniversität in Bielefeld, an der Horst Dreitzel auch promoviert wurde (1969) und sich habilitiert hatte (1980), nahm er seit 1983 eine Professur für die Geschichte der Frühen Neuzeit wahr. Die Promotionsschrift ist die bis heute immer wieder als Standardwerk zitierte Studie über „Protestantischer Aristotelismus und Absoluter Staat. Die Politica des Henning Arnisaeus“ (1970) gewesen. Die Arbeit zeigt zugleich an, was die Schwerpunkte von Dreitzels Forschungen in den nächsten Jahrzehnten werden sollten: Eine dezidierte Auseinandersetzung mit einem schwierigen Kapitel der Politischen Ideengeschichte in Deutschland: Schwierig war dieses Unternehmen gleich in doppelter Hinsicht, a) wegen der Texte, um die es ihm ging, die oft nur auf Lateinisch vorlagen, b) wegen der damit verbundenen Themen, die alles andere als mainstreamfähig waren, weder in der Geschichtsschreibung zur Frühen Neuzeit, noch in der Politischen Ideengeschichte der deutschen Politikwissenschaft, von der Schulphilosophie, wie sie an den deutschen Universitäten nach 68 vertreten wurde, ganz zu schweigen. Dreitzel wurde durch seine Themenstellung zum Grenzgänger und Außenseiter. Der Themenstoff setzt viel voraus, sonst kann man die Autoren und Texte, um die es ihm ging, gar nicht adäquat verstehen. Wie souverän er die frühneuzeitlichen Autoren beherrschte, das hat er eindrucksvoll in seiner Habilitationsschrift über die „Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft“ demonstriert, die erst 1991 in zwei Bänden publiziert wurde. Der Untertitel zeigt signifikant an, um was es hier geht, nämlich die „Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz“ zu dokumentieren und zu bilanzieren. In einer grandiosen Übersicht wird nicht nur das Format der ideologischen Bestimmungsmuster zur monarchischen Herrschaft in all ihren Facetten vom reformatorischen Ständeprofil über den Frühabsolutismus bis hin zum liberalen Spektrum des deutschen Vormärz anschaulich ausdifferenziert, sondern auch die diversen Lagerbildungen, sei es vom christlichen Humanismus her, dem Politischen Aristotelismus, dem Tacitismus oder den Vertretern einer Politica Christiana bis hin zu den Anhängern einer machiavellistischen Doktrin der Staatsräson akribisch notiert und analytisch mit großer Genauigkeit bis hin in die Details erörtert. Ob das immer in den Zuordnungen angemessen war, darüber kann man streiten. Unbestritten ist jedoch, dass sich niemand aus der deutschen Geschichtswissenschaft seitdem mit dieser Ernsthaftigkeit und Übersicht zum Thema wieder geäußert hat. Die deutsche Politikwissenschaft und Philosophie haben ohnehin keinen Anteil an diesen Studien und Themen genommen, was Einiges aussagt über das ak-

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Peter Nitschke

tuelle Selbstverständnis im seriösen Umgang mit der Geschichte politischer Ideen in Deutschland. Insofern ist Dreitzel, auch wenn er Gründungsmitglied der „Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens“ auf jener mittlerweile ehrwürdigen Tagung in Tübingen im Jahr 1989 gewesen ist, eher ein Randgänger im interdisziplinären Zuschnitt der Gesellschaft geblieben. Historiker waren und sind ohnehin hier nicht in großer Zahl vertreten, erst recht stieß jemand wie Dreitzel auf wenig Zuspruch, wusste er doch von seiner enormen Quellenkenntnis her bei den Tagungsdebatten der DGEPD stets kritisch die allgemeinen philosophischen und politologischen Statements zu attackieren. Kritiker, die mit profundem historischem Wissen argumentieren, werden vom Mainstream nicht unbedingt geliebt. Und so blieb Dreitzel, wie schon in der eigenen historischen Fachwelt auch im interdisziplinären Format der DGEPD ein Außenseiter. In all seinen Arbeiten hat Dreitzel nicht einfach den Ansatz der Begriffsgeschichte seines Bielefelder Kollegen Koselleck übernommen, sondern diesen durchaus kritisch um Formen der Sprach-, im eigentlichen Sinne der Diskursanalyse erweitert. Das ist, wenn auch nicht in Deutschland, so doch im internationalen Format durchaus aufgefallen und rezipiert worden. So war die Anerkennung für Dreitzel etwa in Cambridge bei der dortigen, so genannten „Cambridge School“ Mitte der 1990er Jahre durchaus ehrenvoll, blieb jedoch eine Episode, da auch in der angelsächsischen Debatte zur Geschichte politischer Ideen, die wesentlich umfassender und subtiler zu den politischen Klassikern der Frühen Neuzeit Stellung bezieht als die deutsche, die Verweise auf die Spezifika für die politischen Strömungen im Alten Reich nur für eine Handvoll von Experten eine Rolle spielen. Neben seinen diversen Studien zum ständischen prämodernen Föderalismus des Johannes Althusius, den er jenseits einer ikonographischen Darstellung mit Skepsis betrachtet hat, ist es vor allem seine mit großer Treffsicherheit in der Sache vorgetragene Übersicht zur Politischen Philosophie für das 16., 17. und 18. Jahrhundert im von Holzhey und Schmidt-Biggemann herausgegebenen vierten Band zum „Grundriss der Geschichte der Philosophie“ (2001), die einen bleibenden Wert von seiner akribischen Arbeit und dem damit verbundenen Wissen hinterlässt. Der Verfasser dieser Zeilen hat Dreitzel zuletzt anlässlich einer Preisverleihung für Quentin Skinner 2008 in Bielefeld getroffen. Schon damals sagte er, dass es ihm gesundheitlich nicht gut gehe, er immer mehr Abstand von allem nehmen müsse. Seitdem wurden Korrespondenz und Telefonate immer spärlicher und versiegten am Ende völlig. Im Frühjahr 2016 ist Horst Dreitzel dann verstorben. Für seinen eindringlichen Blick auf die lateinischen Texte zur politischen Theorie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung gibt es in der Geschichtswissenschaft leider keine Nachfolge in der Forschung.

I. Europa denken

Westliche Zivilreligion, europäisches Denken und die globale Welt multipler Modernitäten Von Jürgen Gebhardt Abstract Was heißt „Europa denken“ angesichts der fundamentalen Krise der Europäischen Union? Es heißt notwendig „den Westen denken“ – doch welchen Westen? Das Europa, von dem wir hier und heute sprechen, verdankt seine Entstehung, seine sinnstiftende Ordnungsidee substanziell jenem normativen Projekt des Westens, dessen wirkungsmächtige Gestaltungskraft Heinrich August Winkler in seiner „Geschichte des Westens“ beschrieben hat. Es hat in der atlantischen Revolution seinen Ursprung und findet seinen ersten geschichtsmächtigen Ausdruck im republikanischen Paradigma bürgerschaftlicher Selbstregierung in den USA.1 Vorbehaltlich weiterer Überlegungen zur europäischen Geschichte dieses Ordnungsparadigmas und der fundamentalen Krise der nationalstaatlichen Ideen- und Sozialwelt im 20. Jahrhundert beschränke ich mich hier vorerst auf jene für die politische Welt entscheidende Genesis einer rekonfigurierten transatlantischen Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist dem radikalen und tiefgreifenden Umbruch der Weltinnenpolitik gedankt, dass unter amerikanischer Führung die Ära des neuen, des transatlantischen Westens eingeleitet wird und dieser – politisch, militärisch und kulturell definiert – für die Sinn- und Ordnungsgehalte des verfassungsstaatlichen Paradigmas einen universal verpflichtenden, normativen Geltungsanspruch erheben sollte. Eine solche denkgeschichtliche und ideenpolitische Erinnerung ist um so mehr geboten, als das politische und sozio-ökonomische Fundament des atlantischen Westens erodiert und sich die geistige Substanz des Legitimitätsglaubens in der postulierten „Wertegemeinschaft“ auflöst.

I. „Europa denken“ heißt „den Westen denken“. Diese These soll zum Eingang der folgenden Überlegungen ideengeschichtlich erläutert, belegt und auf ihre Relevanz für die Problematik des europäischen Projektes hin betrachtet werden. Gleichsam diskursübergreifend ist die semantische Prägung „der Westen“ zum Schlüsselbegriff der weltgeschichtlichen Ideenwelt im 20. Jahrhundert geworden. Begrifflich und konzeptionell löste sich das europäische Selbstverständnis erst im 19. Jahrhundert von den überkommenen, auf die Christlichkeit Europas fixierten kategorialen Bestimmungen des Okzidents oder des Abendlandes und der Nation und Staatlichkeit als Wesenszüge einer auf nationaler Identität gründenden europäischen Gemeinsam1

Winkler, 2009: 21.

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Jürgen Gebhardt

keit. „Das Abendland ist untergegangen“, schreibt rückblickend Rosenstock-Huessy, „und seine weltliche Gegenspielerin, Europa, ist nur noch ein geographischer Begriff. [ …] Eine atlantische Welt entsteigt dem Strudel der Weltkriege.“2 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts (um 1890) setzt sich zuerst im Kontext des angelsächsischen Machtzuwachses im anglophonen Raum die schon transatlantisch konnotierte und das Christentum relativierende Idee des Westens durch. In Verbindung mit dem Zivilisationsbegriff markiert diese Idee einen geschichtlich-politisch und geographisch-kulturell ausgewiesenen, zivilisatorischen Ordnungskomplex unter anderen Weltzivilisationen, der seit Toynbee die universal- und geschichtstheoretischen Diskussionen beherrscht. Ein solch generalisierter Begriff der westlichen Zivilisation stieß von vornherein auf die gegenläufige Position insbesondere in Deutschland, wurde doch dort der erste Weltkrieg als Kulturkampf gedeutet, in dem die Deutschen und ihre Verbündeten ihre „Ideen von 1914“ gegen die „Ideen von 1789“ der ,Westmächte‘ England, Frankreich und USA ausspielten. Toynbees stets kontrovers diskutiertes Konzept der Zivilisation im Allgemeinen und der westlichen Zivilisation im Besonderen heißt für letztere, dass hier die gewaltträchtigen Konfliktlinien der europäischen Welt in den Begriff des Westens eingehen. Toynbee widersteht jener teleologischen Deutung der westlichen Geschichte, von der noch zu sprechen ist, welche totalitäre Ideologien (faschistisch, nationalsozialistisch oder kommunistisch) nicht dem modernen Westen zurechnen möchte. Sie sind natürlich, sagt Toynbee, Resultate der westlichen Zivilisationsgeschichte, was mit Blick auf die heterodox-sektiererischen religiösen Ursprünge einerseits gut dokumentiert ist.3 II. Andererseits aber – und damit komme ich zum zweiten Punkt – entsteht durch den anti-totalitären Konsens ein gleichsam „liberal“ geläuterter Westen, der sich nunmehr kategorial „aus der Idee eines übergreifenden transatlantischen Zivilisationsmodells“ begründet.4 Die Rede vom Westen in diesem Sinn setzt nach Osterhammel „die kulturelle und weltpolitische Gleichrangigkeit zwischen Europäern und Nordamerikanern voraus.“5 Dieser Westen und seine Geschichte definieren sich durch die Prinzipien der atlantischen Revolution und den freiheitlich-demokratischen Konstitutionalismus. Diese begriffliche Weichenstellung bildete sich anfänglich in der Zwischenkriegszeit unter dem Eindruck des Zerfalls der europäischen Demokratien heraus, das heißt des Scheiterns des Wilsonschen Projektes einer Demokratisierung Mittel- und Osteuropas, dem der Aufstieg der faschistisch-nationalsozialistischen Allianz und des Kommunismus folgte. Durch die Aufkündigung der Prinzipien europäischer Gesittung erlebten sich die angelsächsischen Demokratien im Kampf 2

Rosenstock-Huessy, 1987: 56. Vgl. Toynbee, 1964: 531 f. 4 Osterhammel, 2009: 143. 5 Osterhammel, 2009: 144. 3

Westliche Zivilreligion, europäisches Denken und multiple Modernitäten

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gegen die Achsenmächte als die letzten Repräsentanten einer den gemeineuropäischen Traditionen verpflichteten politischen Ordnung. Dies implizierte eine grundsätzliche ideenpolitische Revision der anglophonen Selbstdeutung, welche die Symbolordnung der atlantischen Welt zum Ende des Zweiten Weltkrieges nachhaltig umgestalten sollte. Eine ideengeschichtliche Zwischenbemerkung mag diesen Sachverhalt erläutern. Sie besagt, dass der amerikanische Gründungsmythos und der diesem zugeordnete Komplex des „American creed“ mit dem vorwiegend englisch, das heißt liberalwhiggistisch, geprägten Geschichtsdiskurs verknüpft wird, der im frühen 20. Jahrhundert in den USA rezipiert wurde. Solchermaßen gewinnt die amerikanische Gründungsgeschichte gleichsam eine zivilisationsgeschichtliche Tiefendimension, die sich auf eine teleologisch konnotierte Traditionslinie beruft, die von der Antike bis in die Moderne geradewegs zum Triumph der angelsächsischen konstitutionellen Regime führt: „From Plato to Nato“, wie dieses terminologisch folgenreiche ideengeschichtliche Konstrukt einmal ironisch charakterisiert werden sollte.6 Doch ideenpolitisch wird das konstitutionell-demokratische Ordnungsparadigma erst unter dem Eindruck des weltpolitischen Konfliktes mit den Ordnungs- und Sinngehalten der „westlichen“ Zivilisation schlechthin identifiziert, deren Prinzipien die Totalitarismen prinzipiell in Frage stellten: Alles in allem, bemerkt C. J. H. Hayes 1940, sei „the dictatorial totalitarianism of today […] a revolt against the whole civilization of the West.“7 In dieser Konfrontation wuchs den USA die Führungsrolle in der Verteidigung dieser historischen Kultur zu: „the future of Western Civilization depends on America“, wie es J. U. Nef in einem Appell an die amerikanischen Universitäten 1939 formulierte.8 Es war Präsident Roosevelt, der den genuin universalen Geltungsanspruch der amerikanischen Ordnungsideen generalisierte und in Erwartung des westlichen Sieges das globale Konzept einer moralisch-politischen Welt westlicher Prägung verkündete, wovon noch zu sprechen sein wird. Die realpolitische institutionelle Konsequenz einer politisch-kulturellen Vergemeinschaftung der dem konstitutionell-demokratischen Regime verpflichteten Staaten angesichts der totalitären Gefahr wurde in den USA schon vor dem Krieg diskutiert. So schlug Clarence Streit 1939 eine atlantische Konföderation der westlichen Demokratien („union now“) vor, die insbesondere die atlantischen Völker Englands, Frankreichs und Amerikas umfassen sollte. Nach 1945 plädierten Streit und Abgeordnete des Kongresses unter Führung des Senators Kefauver erneut für einen Bundesstaat der atlantischen Völker und propagierten die Idee einer „atlantischen Gemeinschaft“, die auf dem Fundament einer ihnen gemeinsamen Tradition westlicher Zivilisationswerte beruhen sollte.9 6

Gress, 1998. Hayes, 1940: 100. 8 Nef, 1939: 260. 9 Gebhardt, 1996: 6. 7

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Jürgen Gebhardt

Die diskursive Auslegung dieses Wertkonsenses vollzog sich in der Rekonzeptualisierung des Begriffs des Liberalismus, der nunmehr semantisch generalisiert die „westliche“ Ordnungsidee begrifflich gegen den Totalitarismus von links und rechts absetzen sollte. D. Bell bemerkte im Jahr 2014 in diesem Zusammenhang: „As representative forms of political order came under sustained fire, intellectuals propagated an all-encompassing narrative that simultaneously pushed the historical origins of liberalism back in time while vastly expanding its spatial reach. For the first time, it was widely presented as either the most authentic ideological tradition of the West (a pre-1945 storyline) or its constitutive ideology (a view popular after 1945). […] The second development was, if anything, even more significant: the emergence and proliferation of the idea of ,liberal democracy‘. […] Barely visible before 1930, in the ensuing decade it began to supplant existing appellations for Euro-Atlantic states. During the 1940 s and 1950 s it became a commonplace.“10 Durch das modifizierende Beiwort „liberal“ wurde fortan der Realtypus des demokratischen Verfassungsstaates in seiner spezifischen Eigenart beschrieben, wenngleich diese sich nur bedingt geschichtlich auf den europäischen Liberalismus berufen kann.11 Bell vermerkte des weiteren: „This change in meaning is captured in the evolution of George Sabine’s influential conspectus of Western political thought, which was the standard text book in the United States during the mid twentieth century.“12 In der ersten Auflage von 1937 handelte Sabine über den europäischen insbesondere britischen Liberalismus und zog mit Blick auf dessen Geschichte die Folgerung, „that it has been a diminishing force in modern society.“13 Die Neuauflage von 1951 proklamierte hingegen, „liberalism may be understood, with good historical justification, as the present-day culmination of the whole ,Western political tradition‘ and as the ,secular form of Western civilization‘“, wie Sabine unter Berufung auf Frederick Watkins (1948) ausführte. „In the broad sense liberalism would be practically identical in meaning with what, in practical political usage, is more likely nowadays to be called democracy.“14 Die „philosophy of liberal democracy“ umschreibt die Idee der freien Gesellschaft und markiert die fundamentale Differenz zu Kommunismus und Nationalsozialismus. Dieser ideenpolitischen Logik folgend interpretierte Louis Hartz in seiner brillanten Studie „The Liberal Tradition in America“ (1955) nunmehr die Geschichte der amerikanischen Ordnung auf deren „liberalen“ Wesensgehalt hin, der sich anders als das liberale Element in der europäischen Revolution in einer Welt jenseits der feudalistischen Tradition des „Ancien Régime“ gesellschaftlich durchzusetzen ver10

Bell, 2014: 699, 703 Der Begriff ist zum politikwissenschaftlichen Dogma geronnen. Vgl. Welzel/Moreno Alvarez, 2014: 63: „Neither in ideological discourses nor in political practice is there a credible alternative to liberal democracy as the lead model of democracy.“ 12 Bell, 2014: 701. 13 Sabine, 1937: 679. 14 Sabine, 1951: 620. 11

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mochte. Hartz selbst war sich der Problematik des Liberalismusbegriffs bewusst: „There has never been a ,liberal movement‘ or a real ,liberal party‘ in America: we have only had the American way of life, a nationalist articulation of Locke which usually does not know that Locke himself is involved. […] Ironically ,liberalism‘ is a stranger in the land of its greatest realization and fulfillment.“15 Ungeachtet aller Kritik an Hartz’ Konzept eines alle Konfliktpotentiale überwölbenden liberalen Gesellschaftskonsenses ist festzuhalten, dass, erstens, Liberalismus und liberale Demokratie als Definitionsmerkmale in den amerikanischen Ordnungsdiskurs eingeschmolzen wurden, zweitens, dieser – wie ausgeführt – schließlich als authentischer Ausdruck der Traditionsbestände der westlichen Zivilisation, das heißt euro-atlantisch gedeutet und, drittens, als formative „idée directrice“ der emergenten atlantischen Gemeinschaft demokratischer Nationen unter amerikanischer Führung politisch in der Nordatlantischen Verteidigungsorganisation (NATO) 1949 wirksam wird. Die NATO war die Antwort des „Westens“ auf die Herausforderung des kommunistischen Totalitarismus im beginnenden Zeitalter des Kalten Krieges unter den Bedingungen der weltpolitischen Bipolarität von „West“ und „Ost“. „Im Zeichen des Kalten Krieges wurde der ,Westen‘“, so Heinrich August Winkler, „zur Kurzformel für das atlantische Bündnis: die Allianz der beiden großen Demokratien Nordamerikas, der USA und Kanadas, mit anfangs zehn, später vierzehn Staaten auf der anderen Seite des Atlantiks, darunter seit 1955 die Bundesrepublik Deutschland.“16 Erstmals gab es eine ihrem Selbstverständnis nach euro-atlantische, institutionell, politisch und militärisch verfasste „Wertegemeinschaft“. Die Präambel legte nieder, dass die Vertragspartner entschlossen sind „die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten“. Mit dieser Formulierung beruft sich die Präambel der Nato auf die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und anerkennt insbesondere die in der „Universal Declaration of Human Rights“ von 1948 niedergelegten Prinzipien. Diesem verpflichtenden Kanon zivilreligiöser, das heißt letzthin transzendentaler Glaubenswahrheiten, wächst eine transatlantische Verbindlichkeit zu, die wiederum die Wertegemeinschaft der in der gleichen Zeit sich formenden Union europäischer Staaten politisch-kulturell legitimiert. Rückblickend muss man feststellen: Das politische und militärische Erscheinungsbild der Nato-Allianz über die Jahre hinweg ist gleichsam der Gradmesser

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Hartz, 1955: 11. Mit der Eingemeindung des Liberalismus stellte sich sogleich die Frage ein, wer denn der wahre Liberale im Land sei, ein Anspruch, den die amerikanische „Linke“ nach ihrer Abkehr von Marxismus und Kommunismus erheben sollte. Eine Folge war die bis heute geltende parteipolitische Differenzierung von rechts („conservative“) und links („liberal“). 16 Winkler, 2016a: 18.

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für die jeweilige Binnenverfassung der transatlantischen Ordnung und insbesondere für das amerikanisch-europäische Beziehungsgefüge. III. Die „Universal Declaration of Human Rights“ von 1948 lieferte gleichsam eine Letztbegründung für die Prinzipien, welche den atlantischen Verbund demokratischer Staaten als ordnungspolitische Gemeinschaft auswiesen. In Heinrich August Winklers normativer Sprache: In den Menschheitsideen der beiden atlantischen Revolutionen, der amerikanischen Revolution von 1776 und der französischen Revolution von 1789, verfügen die westlichen Demokratien über einen gemeinsamen Werthorizont, der tendenziell zum Welthorizont erweitert wird.17 Denn der „universelle […] Charakter der unveräußerlichen Menschenrechte“ ist es, „was den Kern des normativen Projektes des Westens ausmacht. […] Solange diese Rechte nicht weltweit umfassend verwirklicht sind, bleiben die Ideen von 1776 und 1789 ein unvollendetes Projekt.“18 Solchermaßen verstanden ist den Menschenrechten die Funktion eines metaphysischen ordnungsstiftenden Zentrums in der westlichen Selbstinterpretation zugewachsen, das der Historiker Berman auf jene historische Rechtstradition zurückführt, die geprägt ist vom Glauben „in the existence of a body of law beyond the law of the highest political authority, once called divine law, the natural law, and recently human rights.“19 In dieser Deutung des „Westens“ als ein auf universale Verbindlichkeit hin angelegtes Projekt scheint ein grundsätzliches Dilemma auf: Einerseits verpflichtet dieses Projekt zur rechtlichen Positivierung der Menschenrechte in der normativen Verfassungsordnung einer jeden „westlichen“ Demokratie. Andererseits aber begründet sich hieraus ein explizit global konzipierter Auftrag des „Westens“ als kollektiver Akteur, den Menschenrechten weltweite Geltung zu verschaffen oder sogar, wie Jürgen Habermas glauben möchte, die internationale Welt in eine „kosmopolitische Gemeinschaft“ zu verwandeln.20 17

Winkler, 2016b: Vorwort. Winkler, 2016b: 18. 19 Bermann, 1983: 45. 20 Eine solche Wendung zu einer „an überpositiven Gerechtigkeitsvorstellungen orientierten internationalen Gemeinschaft“ jenseits des herrschenden völkerrechtlichen Positivismus setzt allerdings, wie jüngst Hans-Georg Dederer angemerkt hat, eine „naturrechtliche[ ] Grundierung des Völkerrechts“ voraus. Dederer verweist auf die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs, die sich auf überpositive, von „civilized nations“ anerkannte Prinzipien (nicht zuletzt die fundamentalen Menschenrechte) berufe und damit den überkommenen positivistischen Rekurs auf den souveränen Staat als vorgegebenes Völkerrechtssubjekt transzendiere. Die „civilized nations“, so Dederer, sind jedoch „keine empirisch fassbare Größe“, sondern stehen gleichsam „als Chiffre für das ,öffentliche Gewissen‘ der an überpositiven ,zivilisierten‘ Werten materieller Gerechtigkeit orientierten internationalen Gemeinschaft.“ Diese Formel verdeckt in gewisser Hinsicht die Tatsache, dass ein solches naturrechtlich grundiertes Völkerrecht seinen globalen Geltungsanspruch allein durch die Berufung auf die 18

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Die Sache mit den Menschenrechten ist aber komplizierter, als die Berufung auf die moralisch-politische Selbstevidenz einer menschenrechtlichen Argumentation im Wertediskurs des Westens vermuten lässt, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Erstens, der amerikanische „novus ordo seclorum“ verstand sich von Anbeginn an als die revolutionäre Inauguration einer weltgeschichtlich neuen Ordnungsidee. Doch die angelsächsische, heterodox-christlich-republikanische Tradition der „natural human rights“21, welche die „Declaration of Independence“ von 1776 und die ersten Staatsverfassungen der Kolonien proklamiert hatten, hieß keineswegs, dass die von Gott verliehenen unveräußerlichen Rechte des Menschen als konstitutive Grundnorm in die Bundesverfassung von 1789 eingeschrieben wurde. Schließlich galt es die sklavenstaatlichen Regime in eine bundesstaatliche Ordnung einzubinden. So beschränkte man sich auf die Positivierung der Bürgerrechte. Erst mit dem Bürgerkrieg und dem Ende der Sklavokratie wurde die Idee der universalen Menschenrechte im politischen Glaubenskreis der amerikanischen Zivilreligion durch Abraham Lincoln reaktiviert und verfassungsrechtlich realisiert. Dieser Rekurs auf die weltweite Geltung der amerikanischen Ordnungsidee bestimmte schon Wilsons missionarische Weltpolitik, die letzthin scheiterte. Ihm sollte Roosevelt folgen. Als der Führer der Anti-Hitler-Koalition hatte er den Kriegszug („crusade“) gegen Hitler 1941 in seiner „Four-Freedoms-Speech“ mit dem Konzept einer politisch-moralischen Befriedung der Welt in Gestalt der vier global verbindlichen Freiheiten menschenrechtlich legitimiert. Die hier intendierte Globalisierung des westlichen Credos vollzog sich unter dem Aufstieg der USA zur einzigen Führungsmacht des Westens letztlich in Gestalt der Gründung der UNO und der unter der Federführung von Eleanor Roosevelt formulierten „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ 1948, die von der UNO in eine universale Rechtsform verwandelt wurde. Gleichsam im Einklang mit dieser Entwicklung wurde die Metaphysik der universalen Menschenrechte sukzessive zum symbolischen Kernstück des Legitimitätsglaubens des euro-atlantischen Westens. Zweitens, diese emergente transatlantische Wertegemeinschaft kann sich zu Recht auf gemeinsame alteuropäische Ordnungsprinzipien und insbesondere auf die transatlantische revolutionäre Tradition berufen, die in der französischen „Declaration des droits de l’homme et du citoyen“ von 1789 ihren folgenreichen europäischen Ausdruck gefunden hat. Aber anders als in den USA vollzog sich die Konstitutionalisierung der Herrschaft in Europa im Spannungsfeld von Staatssouveränität und Staatskirchentum, woraus folgte, dass im Europa des 19. Jahrhunderts weder in Frankreich noch in den Verfassungen der übrigen europäischen Staaten die Grundrechte und die konstitutionellen Ordnungen insgesamt menschenrechtlich legitimiert wurden (womit natürlich nicht die Bedeutung der konstitutionell-demokratischen Bewegungen Europas bestritten werden soll). Doch Lüthy macht auf den entscheihistorische Rechtstradition des Westens im Sinne Bermans legitimieren kann. Vgl. Dederer, 2016: 146, 148. 21 Vgl. hierzu Gebhardt, 1998; Gebhardt, 2004.

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denden Punkt aufmerksam: ,,Sahen die Konservativen in der Ausstattung des Menschen mit unveräußerlichen natürlichen vorpolitischen Rechten einen ständigen Aufruf zu Revolte und Anarchie, so destruierten auch fortschrittliche Denker wie Karl Marx, August Comte und Jeremy Bentham jede naturrechtliche Legitimation des Menschenrechtsdiskurses.“22 „Natural rights is simple nonsense: natural and imprescriptible rights, rhetorical nonsense, – nonsense upon stilts“,23 schrieb Bentham in seiner radikalen Kritik der französischen Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte und trug damit erheblich dazu bei, dass die Idee der Menschenrechte dem englischen Verfassungsdenken fremd geblieben sind. „Die positiven Bürgerrechte innerhalb der 1815 restaurierten Staatenwelt Europas welkten und erblühten wieder im Zyklus der restaurativen und liberalen Konjunkturen des Jahrhunderts; von allgemeinen Menschenrechten war fortan nur in humanitären Zirkeln die Rede. [ …] Die universellen Menschenrechte entrückten wieder in den apolitischen, ort- und zeitlosen Raum der voraussetzungslosen Ideen, die Philosophien, aber nicht Staaten gründen.“24 Dieser ideenpolitische Rückblick versteht sich nicht als geschichtliche Deutung einer europäischen Staatenwelt, die sich in den Krisen des 20. Jahrhundert auflöste. Es galt nur am Beispiel des Menschenrechtsdiskurses die Metamorphose des Sinnund Ordnungsgehaltes des europäischen Selbstverständnisses im Zuge seiner Atlantisierung zu demonstrieren, die erst das durchaus heterogene Multiversum demokratischer Politien geistig-kulturell und politisch auf einen gemeinsamen „westlichen“ Begriff gebracht hat. Transatlantisch vermittelt erscheint der Menschen- und Grundrechtskomplex jenseits des traditionell völkerrechtlichen Rahmens der UNO gleichsam als Legitimationskern erstmals in den nationalen Verfassungen Westeuropas (Frankreich: Verfassung der IV. Republik 1946; Italien: Constituzione 1948; Deutschland: Grundgesetz der BRD 1949) und determiniert zeitgleich das Rechtsfundament der institutionellen Vergemeinschaftung der europäischen Staaten, wie es in der Präambel der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarates 1950 niedergelegt wurde, deren Einhaltung dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte obliegen sollte. Entsprechend bekennen sich die Präambeln aller EUVerträge bis zum Vertrag von Maastricht und dem „Reform“-Vertrag von Lissabon zu dem verpflichtenden Wertkomplex universaler Prinzipien von Freiheit, Demokratie, Menschen- und Bürgerrechten sowie Rechtsstaatlichkeit. Dieser Sachverhalt ist Gemeingut europäischer Selbstinterpretation oder, wie es heute in einer nahezu unübersichtlichen Deutungsliteratur heißt, Ausdruck eines europäischen Narrativs, das eine sinnstiftende Gemeinsamkeit der heterogenen Staatenverbindung begründen kann, die die politische und ökonomische Architektur der Union geistig und kulturell krisenfest auf Dauer stellt. „Gibt es also eine große Erzählung von Europa, die den Verstand überzeugt und das Gemüt ergreift 22

Lüthy, 1989: 54. Bentham, 1843: 501. 24 Lüthy, 1989: 54.

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und in der sich das Gros der Unionsbürger wiederfindet?“ lautet die entscheidende Frage, die Dieter Grimm jüngst aufgeworfen hat.25 So gestellt erfordert die Frage eine Antwort, die sich nicht begnügt mit dem pragmatisch-utilitären Verweis auf den unbestreitbaren kollektiven Nutzen (sei es ökonomisch, sei es politisch) des europäischen Experiments. Aber, und das ist der Kern des hier vorgetragenen Arguments, die Idee eines europäischen Narrativs blendet die euro-atlantische Dimension eines solchen Narrativs aus, wenn dessen Formensprache nicht das geschichtlich-kulturelle Ganze der politischen Welt des neuen „Westens“ in den Blick bringt, das jenseits der pluriformen politischen und sozialen Kulturen und Traditionen im Zivilisationsraum des Westens einen bürgerschaftlichen Gemeingeist evoziert. Eine „große Erzählung“, ein Mythos des Westens ist nicht beliebig. Dessen vielgestaltiges symbolisches Repertoire zielt nicht nur auf die „innere Rechtfertigung“ des Legitimationsglaubens der westlichen Ordnung, sondern schreibt dieser jenseits aller geschichtlichen Kontingenz die Repräsentation einer überindividuell gültigen tendenziell unverfügbaren „Wahrheit“ zu. Die Normativität des „westlichen Projektes“ muss ihre Letztbegründung in einem transhistorischen universalen Gesetz ausweisen: „The Laws of Nature and of Nature’s God“ heißt es in der „Declaration of Independence“. Heinrich August Winkler erläutert diese Konsequenz der transatlantischen Perspektive in einfachen, klaren Worten: „[W]ann immer Europäer und Amerikaner über Grundsätzliches streiten, handelt es sich um unterschiedliche Auslegung gemeinsamer Werte. […] Die normative Identität Europas wird westlich sein oder sie wird nicht sein. Wer an der Herausbildung eines europäischen Wir-Gefühls mitwirken will, tut gut daran, diese conditio sine qua non nicht aus dem Auge zu verlieren.“26 Dieser Gedanke gewinnt eine ungeahnte Aktualität angesichts der mächtigen zentrifugalen Kräfte, welche die Binnenordnung der USA einerseits und Europas andererseits bestimmen und in der Folge die euro-atlantische Gemeinschaft in ihrer Existenz bedrohen, wenn der tendenziell neue Isolationismus Amerikas und die latente Renationalisierung der Unionsstaaten die Vision des Westens unterminieren. IV. Blicken wir zurück auf die Gründung des europäischen Gemeinschaftsprojektes, die Stiftung einer Friedensordnung unter der politischen und insbesondere atomar abgesicherten militärischen Schirmherrschaft der USA in der bipolaren Welt des Kalten Krieges. Europa, d. h. Westeuropa, war in dieser Situation ein von den Wunden des Krieges gezeichnetes konfliktträchtiges Gebilde, gezeichnet von einem tiefen Misstrauen allem Deutschen gegenüber. In der „Schuman-Erklärung“ von 1950 25 26

Grimm, 2016: 21. Winkler, 2015b: 160.

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zur Begründung der französisch-deutschen Montanunion entwickelte der damalige französische Außenminister seine christlich grundierte Friedensvision einer demokratischen europäischen Föderation, die sich die Gründungsväter der europäischen Einigung zu eigen machten. Nach dem Wesen des Europäertums wurde schon deswegen nicht gefragt, weil dieses Bewusstsein eines gemeinsamen, das heißt christlichen Erbes das europäische Projekt somit gleichsam karolingisch-abendländisch unterfüttert hatte. Im Fortgang des sozio-ökonomischen und politischen Integrationsprozesses schob sich das atlantische Ordnungsparadigma über die konfliktträchtigen und in sich geschichtlich widersprüchlichen Restbestände alteuropäischer Traditionen, womit das christliche Leitbild dieser Einigungsvision zunehmend verschwand. Die neue, emergente politische und ökonomische Ordnung verstand sich als Gemeinschaft vereint im Glauben an den atlantischen Wertekatalog, wie er in den Unionsverträgen niedergelegt worden war.27 Ursprünglich war Europa konzipiert als ein antitotalitäres Gegenprojekt. Deswegen kam es auf den politischen und ökonomischen Erfolg im Wettbewerb mit der sozialistischen Konkurrenz und die Einbindung in die transatlantische Gemeinschaft an. Die Frage einer europäischen Identität des Kollektivs und der Bürger in den Gründungsstaaten der Union stellte sich zunächst nicht. Zudem erlaubte die wirtschaftliche Rekonstruktion und Durchsetzung einer funktionierenden Marktgesellschaft das Zusammenspiel der nationalen Identitäten in dem konstitutionellen Hybrid, das die von sechs auf elf Mitglieder anwachsende Staatenverbindung de facto geworden war. Die Expansion der Union insbesondere nach 1990 zeigte die Schwäche des Selbstverständnisses eines expandierenden Europas, das sich durch seine ökonomische Leistungsfähigkeit und einen Katalog von politischen und zivilen Werten definierte. Aber weder die Ökonomie noch diese atlantischen Werte bestimmen das Wesen des Europäischen. Insofern die Werte zum Beitritt zur Union berechtigen, so sagten Kritiker, kann auch Australien oder Neuseeland beitreten. Das Problem war schon in den 1970er Jahren klar, es bedurfte einer geistigen Formung durch die Erziehung eines prototypischen EU Bürgers, der die atlantischen Werte als identitätsstiftend erlebt und sich lebenspraktisch aneignet. Schon 1973 unterzeichneten die Staatchefs der neun Mitgliedsstaaten eine „Declaration of European Identity“. Man betonte die gemeinsamen „attitudes toward life, based on the determination to build a society which measures up to the needs of the individual“ auf der Grundlage der „cherished values of their legal, political, and moral order“,28 wonach die Auflistung der abstrakten Prinzipien wie üblich rekapituliert wurde. Dieser Identitätsdiskurs verkündet eine gemeinsame Wertebasis, ohne zu prüfen, in wie weit denn die abstrakten atlantischen Werte und zivilreligiösen Glaubenssätze jenseits ihrer Institutionalisierung spirituell, intellektuell und moralisch ein bürgerschaftliches Gemeinschaftsbewußtsein generieren. Im folgenden Jahrzehnt prägte das Ringen um eine europäische Identität, um die Evokation 27 28

Gebhardt, 2013: 383 – 396. von Rautenfeld, 2011: 61.

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eines europäischen Bürgerethos die Politik der Gemeinschaft, verbunden mit einem Aufbau einer Gemeinschaftssymbolik: Fahne, Wappen, Hymne, Unionsbürgerschaft und Führerschein. Europäische Intellektuelle forderten die „American solution for the Problem of European community building.“ Die Antwort der zuständigen EU-Kommission, der „De Clerq Report on Information Policy“ (1993), wirft ein bezeichnendes Schlaglicht auf die transatlantische Problematik. „The United States of America recognized the need for symbols to rally many disparate people and cultures to a common cause, to reaffirm and reinforce its unity summarized in its national motto: ,E pluribus unum‘. The USA’s solution, ,out of many one‘, cannot be Europe’s solution, since we have been one ever since Greeks, Romans, Celts, Norsemen, Teutons, Slavs, and other Europeans realized long ago that they shared a common heritage. We are Europeans, and are proud of it. What is happening is that we are realizing our identity. In asserting our position in the world, we assert the richness of our culture, which is diverse and deep, a rich mosaic rather than an artificial ,–ism‘. European Union has deep, diverse, and powerful roots. We are many in one: In uno plures, and we want to keep and nurture our diverse cultures that together make us the envied focus of culture, civilization. “29 Das „shared common heritage“ konnte sich einmal auf jene nationalen Wertwelten beziehen, die einst die binneneuropäischen Konflikte der Vergangenheit bestimmten, oder der Bezug auf das gemeinsame Erbe evoziert das Bewusstsein der christlichen Wurzeln Europas. 2004 scheiterten sieben Staaten bei dem Versuch, die christlichen Traditionen Europas in die Präambel der Verfassung zu schreiben. Dies demonstriert eine fundamentale Ambivalenz des Werte- und Identitätsdiskurses, ist doch die neue liberale zivilreligiöse Metaphysik des atlantischen Westens nur schwer mit den hochkirchlichen christlichen Traditionen Europas zu vereinbaren. Die Identitätspolitiken der Gemeinschaftsinstitutionen arbeiten unter der Prätention, dass die Europäer im Begriff sind, eine Identität auszubilden: charakteristisch für diese Identitätspolitik ist ein Bürgerbegriff, welcher „allows a person to identify himself or herself as a European, providing a continuation of a perception of life in family, a community, region, nation, EU, leading ultimately to a perception of being a world citizen“ wie ein EU- Programm zur Erziehung des Unionsbürgers ausführte. Die Entwirklichung und Entpolitisierung bürgerschaftlicher Existenz zeitigt natürlich Folgen. Die europäische Dimension beschränkt sich auf überkommene Traditionsbestände wie „creation, maintenance, exchange and enjoying of a diverse, vital and rich heritage in terms of environment, architecture, music, literature and visual art.“30 In anderen Worten: der Europäer definiert sich politisch als ein Bürger der Welt, hört Mozart, besucht gotische Kathedralen, liest Goethe und genießt Rembrandts Bilder. Eine Kluft tut sich auf zwischen den atlantischen Werten und der nationalen kulturellen Verwurzelung, heute weiter als je zuvor. Die Erweiterung der 29 30

De Clercq, 1993: 33. von Rautenfeld, 2011: 145.

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Union auf achtundzwanzig Mitglieder getragen von der Vision der finalen Vollendung des Projektes einer politisch und kulturell integrierten handlungsfähigen supranationalen Staatenverbindung unter transatlantischen Vorzeichen stürzte die Union in eine Krise, die mit dem Austritt Großbritanniens offenkundig wurde. Schon die Aufnahme der ost- und mitteleuropäischen Nationen in die Union nach dem Ende des Sowjetblocks signalisierte diese ordnungspolitische Krisenanfälligkeit der Union. Die Rückkehr dieser Nationen nach Europa hieß erst einmal die Restitution ihrer nationalen Existenz. Dies implizierte die Akzeptanz der ökonomischen und demokratischen Prinzipien. Aber: Es bedeutete auch die nationale Selbstbehauptung und nationale Unabhängigkeit nach der Emanzipation von der sowjet-russischen Herrschaft – und nicht zuletzt die Bewahrung der nationalen Traditionen, die auch europäische Traditionen sind. Hier zeichnete sich zuerst der zentrifugale Trend innerhalb des neuen Europas ab, der sich mit der Eurokrise verschärfte und die Strukturprobleme dieses konstitutionellen Hybrids offenkundig machte, eine allgemeine Tendenz der Renationalisierung beförderte und die Europäische Union existenziell bedroht. V. Der neue Westen – die atlantische Ordnung – ist schwer zu denken ohne die euroatlantische Gemeinschaft, noch weniger ist mit Blick auf die globale Struktur multipler Modernitäten zu erwarten, dass der neue Westen im Konzert der Weltpolitik ohne euro-atlantisches Europa handlungsfähig bleibt. Seiner Selbstdeutung nach verstand sich der Westen als Repräsentant und Träger einer historischen Entwicklung, die geschichtsteleologisch auf eine globale Zivilisation auf der Grundlage des wissenschaftlich-technischen und politisch-kulturellen Rationalismus hinaus zu laufen versprach, das heißt die ,traditionalen‘ Gesellschaften in eine globale, homolog strukturierte ,moderne‘ Gesellschaft umgestaltet, die sich von den Fesseln überkommener zivilisationsgeschichtlicher Bindungen befreit. Der Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung löste eine große historische Krise aus. Eine beschleunigte Bewegung des Weltprozesses hat nicht nur das Strukturgefüge der internationalen Politik kontinuierlich umgestaltet, sondern wirkt auch bis in die Binnenpolitik der großen und kleinen Akteure auf der Weltbühne. Mit dem Zerfall des kommunistischen Modells einer alternativen Modernität sah es nach dem weltweiten Triumph von liberaler Demokratie und kapitalistischer Ökonomie in einer verwestlichten Welt aus. Doch diese Annahme beruhte auf einer fundamentalen Selbsttäuschung über die Logik des Weltprozesses. Erstens, die Genese eines spezifischen historischen Gesellschaftstyps, der auf den Kollektivbegriff der Modernität gebracht wurde, entstand in Europa und dominierte unter dem Vorzeichen europäischer Macht die globale Oikoumene. Doch in der Perspektive einer vergleichenden Zivilisationsgeschichte heißt „Modernisierung“ nicht Verwestlichung der Welt, sondern die Genese eines globalen Feldes „multipler Modernitäten“, wie das For-

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schungsprogramm Shmuel Noah Eisenstadts und seiner Schule überzeugend gezeigt hat. Zweitens, schon 1995 skizzierte Eisenstadt dieses Konzept der Modernisierung: „A great variety of modernizing societies developed […] out of the interaction between the expanding civilization of modernity in the various Asian, African and Latinamerican civilizations. They share common characteristics but also evince great differences among themselves. These differences crystallize out of the selective incorporation – hence, also transformation – of the major symbolic premises and institutional formations of the original Western civilization as well as that of the traditions and the historical experiences of their own civilization.“31 Die Gestalt der multiplen Modernitäten entfaltet sich im Rahmen der verschiedenen großen Zivilisationen, die ihrem Ursprung nach muslimisch, hinduistisch, buddhistisch und konfuzianisch geprägt wurden, und rekonfiguriert die globale politische Welt,32 in der sich der atlantische Westen behaupten muss. Er ist nicht nur konfrontiert mit der multipolaren Konstellation, die bestimmt wird von machtvollen nicht-westlichen Akteuren wie China, Indien oder dem zaristisch reorganisierten Rußland, sondern ebenso von der explosiven Dynamik, welche die islamische Welt durchzieht und potentiell Afrika erschüttert. Angesichts dieser globalen Herausforderungen ist die geistige, politische und soziokulturelle Konsolidierung der transatlantischen Gemeinschaft eine Existenzfrage, die letzthin über die Zukunft des normativen Projektes des Westens entscheidet.

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Räume – Ideen – Identitäten Gibt es eine europäische Geschichte? Von Frank-Lothar Kroll Kaum jemand, dem „Europa“ mehr bedeutet als eine wirtschaftliche Interessengemeinschaft oder ein abstraktes Rechtsgebilde, wird den Rang in Frage stellen wollen, dessen sich historisch-kulturelle Erinnerungswerte angesichts aktueller Diskussionen über die mittlerweile keineswegs mehr allseits zufriedenstellende Gesamtverfassung unseres Kontinents erfreuen. Nicht die Ökonomie – wie sich unlängst erneut erwiesen hat –, und auch nicht die Jurisdiktion – wie man leider schon seit langem weiß –, sondern allein die Geschichte – mit den ihr zugeordneten Kognitionsgrößen „Bewahrung“, „Erinnerung“ und „Gedächtnis“ – bietet einen verlässlichen Orientierungsrahmen zur Verortung gemeinsamer europäischer Erfahrungswelten und Bewusstseinshorizonte. Anlässlich des kühnen Versuchs, „Europa zu denken“1, darf daher die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen europäischer Geschichte vor dem Hintergrund des Weltenumbruchs von 1989/90 einen prominenten Platz für sich beanspruchen. Die Beantwortung dieser Frage ist bei genauerem Zusehen durchaus nicht so einfach, wie man auf den ersten Blick vielleicht vermuten mag. Eine dezidiert „europäische“ Geschichtsschreibung – also doch wohl eine solche, die sich jenseits der geläufigen nationalstaatlichen Referenzmuster bewegt –, ist bisher erstaunlicherweise schwach entwickelt und weder in ihren theoretischen Prämissen ausreichend durchdacht noch in ihren methodologischen Möglichkeiten zufriedenstellend ausgelotet worden.2 Auch in den folgenden knappen Darlegungen kann dies selbstverständlich nicht erschöpfend geboten werden. Hier geht es vielmehr darum, das Phänomen „Europäische Geschichte“ überhaupt erst einmal als Problem zu erfassen, einige damit 1 So lautete das Thema der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens 2015, in deren Rahmen diese Skizze präsentiert wurde. Die Vortragsform wurde konzeptionell beibehalten, der Text allerdings erheblich erweitert und um Nachweise und Literaturempfehlungen ergänzt. Eine Kurzfassung des Textes in tschechischer Übersetzung erschien in: Historická dílna X. Pilsen 2015, S. 188 – 200. 2 Erste Ansätze dazu bieten Oskar Halecki, Das europäische Jahrtausend. Salzburg 1966; Wolfgang Schmale, Geschichte Europas. Wien/Köln/Weimar 2000; zuletzt sehr anregend Michael Gehler und Silvio Vietta (Hrsg.), Europa – Europäisierung – Europäistik. Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte. Wien/Köln/Weimar 2010; vorzüglich ferner das ebenso voluminöse wie gelehrte Kompendium von Michael Gehler, Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung. 2. Aufl. München 2010, mit umfassendem Literaturverzeichnis (S. 689 – 734).

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verbundene Leitkoordinaten zu vermessen und die dabei für relevant gehaltenen Eckpunkte miteinander in Beziehung zu setzen. Dabei soll zunächst (I.) die Raumkomponente in der Geschichte Europas erörtert werden – konkretisiert in der Frage nach den kulturellen Binnengrenzen des Kontinents und nach den daraus abzuleitenden politischen Konsequenzen. Anschließend (II.) werden einige Inhalte und Schwerpunkte der Europa-Historie erwogen – charakteristische Themen ebenso wie prägende Grundkräfte, die den Entwicklungsrhythmus des Kontinents in der Vergangenheit bestimmten, ihn bis in die Gegenwart hinein maßgeblich mitformten, und die von einer modernen europäischen Geschichtsschreibung angemessen rekonstruiert werden müssen, wenn diese Geschichtsschreibung Gehör und Resonanz im politischkulturellen Diskurs der Gegenwart finden will. Schließlich (III.) gelangt ein Bündel jener identitätsstiftenden Hauptmotive zur Erörterung, die sich bei einem integralen Blick auf die Gesamtgeschichte Europas als mögliche Bausteine für ein gemeinsames europäisches Bewusstsein anbieten. Ein solches Bewusstsein ist – horribile dictu – im heutigen EU-Europa keineswegs stark ausgeprägt. Wer aber könnte sachgerechter und zielorientierter zu dessen Entfaltung beitragen als – der Europahistoriker? I. Die Geschichte Europas spielt sich nicht im Bodenlosen ab. Sie ist an den Raum gebunden, Räume jedoch besitzen Grenzen – und daher ist die Frage nach den räumlichen Begrenzungen der europäischen Geschichte, unter Einschluss ihrer mannigfachen Formwandlungen, der erste und vielleicht grundsätzlichste Gesichtspunkt, den eine problemorientierte Europa-Historie zu bedenken hat. Sogleich werden dabei umstrittene Themen aktueller europapolitischer Diskussionen berührt: Welche historisch gewachsenen und kulturell ausgewiesenen Binnengrenzen gibt es innerhalb des europäischen Geschichtsraumes? Welche Landschaften gehören überhaupt zu Europa? Und: Welche Geschichtsregionen folgen anderen, europafernen Entwicklungsverläufen und stehen daher außerhalb der europäischen Grenzen? Geographisch spielt sich die Geschichte Europas zwischen dem Atlantischen Ozean im Westen und den Gebirgszügen des Urals im Osten ab, dort beginnt bekanntlich Asien. Doch mit dieser geographischen Definition3 kann der Historiker wenig anfangen.4 Die für ihn sinnvollste, zugleich älteste „europäische“ Grenzziehung wird durch eine konfessionelle Trennlinie markiert – jene zwischen der Ostkirche und der Westkirche, zwischen den im Osten von Konstantinopel, im Westen von Rom christianisierten Herrschaftsräumen, deren Religionsverständnis zunächst 3 Erstmals mustergültig vorgetragen (und seitdem von bleibendem Wert) von Carl Ritter, Europa. Vorlesungen an der Universität zu Berlin gehalten. Hrsg. von H. A. Daniel. Berlin 1863. 4 Zum Problem sehr erhellend Oskar Halecki, Europa. Grenzen und Gliederung seiner Geschichte. Darmstadt 1964, bes. S. 94 ff., 111 ff.; instruktiv ferner die knappe Skizze bei Rolf-Joachim Sattler, Europa. Geschichte und Aktualität des Begriffes. Braunschweig 1971, S. 12 – 18.

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noch weitgehend konform ging, seit dem 9. Jahrhundert dann aber zusehends voneinander abwich und nach dem Kirchenschisma von 1054 endgültig in unterschiedliche Richtungen wies.5 Diese früheste europäische Binnengrenze ist niemals nur eine bloß kirchlich-konfessionelle, sondern stets auch eine kulturelle Scheidelinie gewesen, deren Trennungspotential über die Jahrhunderte hinweg ein erhebliches Gewicht besaß.6 Serbien und Bulgarien, Griechenland und Makedonien, und seit dem 10. Jahrhundert auch das Reich der Kiewer Rus wurden byzantinisch-orthodox christianisiert. Sie bildeten damit – und bilden seither – einen eigenen Kulturraum: Osteuropa, mit kyrillischem Alphabet, einer besonderen Kirchenstruktur und einer davon weithin geprägten Lebenswelt. Hingegen wurden Böhmen und Mähren, Polen, Ungarn und Kroatien, gleichfalls im 10. Jahrhundert, römisch-katholisch christianisiert. Sie gehören seitdem zum Einzugsfeld lateinisch geprägter Kultur und firmieren gemeinhin unter der Raumbezeichnung Mitteleuropa.7 Beiden Regionen wiederum, dem „byzantinisch-orthodoxen“ Osteuropa und dem „römisch-lateinischen“ Mitteleuropa, tritt ein dritter europäischer Geschichtsraum zur Seite: Westeuropa als jener ebenfalls „römisch“ dominierte, jedoch – im Vergleich zum „Osten“ und zur „Mitte“ – zeitlich bereits weitaus früher christianisierte „alte“ Teil des Kontinents, allen voran die Welt des Mittelmeers mit Italien, der Iberischen Halbinsel und Frankreich (Gallien). Auch weite Gebiete Britanniens sowie das von den Römern unter Kontrolle gebrachte Territorium Deutschlands (Germaniens) zählten zu diesem westeuropäischen Kulturraum, wohingegen die nicht vom römischen Imperium unterworfenen und beherrschten Regionen östlich der Elbe-Saale-Grenze bis zum Beginn der um 1150 einsetzenden deutschen Ostsiedlung mit ihren „strukturverbessernde[n] und strukturverfestigende[n] Impulsen[n]“,8 ähnlich wie der Norden Europas, zunächst außerhalb des Einzugsfeldes des westlichen Christentums lagen. Die historische Dreigliederung europäischer Lebenswelten in die Großregionen des „Osten“, 5

Zur Glaubenswelt Ostroms im Unterschied zum „abendländischen“ Christentum vgl. in diesem Zusammenhang sehr instruktiv Hans Georg Beck, Das byzantinische Jahrtausend. München 1978, S. 178 ff., 257 ff. 6 Dazu erhellend Paul Egon Hübinger, Abendland, Christenheit, Europa. Eine Klärung der Begriffe in geschichtlicher Sicht (1954). In: ders., Ausgewählte Aufsätze und Vorträge. Beiträge zur Geschichte Europas und der Rheinlande in Mittelalter und Neuzeit. Hrsg. von Magnus Ditsche und Raymund Kottje. Siegburg 1990, S. 1 – 20. 7 Zur alternativen Bezeichnung dieser Region als „Ostmitteleuropa“ und den damit verbundenen terminologischen Differenzen vgl. umfassend Dieter Segert, Die Grenzen Osteuropas. 1918, 1945, 1989 – Drei Versuche im Westen anzukommen. Frankfurt/New York 2002, bes. S. 13 ff. Die von Giselher Wirsing, Zwischeneuropa und die deutsche Zukunft. Jena 1932, für den ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Geschehensraum vorgeschlagene Bezeichnung „Zwischeneuropa“ hat sich nicht durchsetzen können; zum Problem instruktiv auch Günther Stökl, Die kleinen Völker und die Geschichte. In: Historische Zeitschrift 212 (1971), S. 19 – 40. 8 So Klaus Zernack, Osteuropa. Eine Einführung in seine Geschichte. München 1977, S. 70; vgl. als Bilanz in europäischem Rahmen Walter Schlesinger (Hrsg.), Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte. Reichenau-Vorträge 1970 – 1972. Sigmaringen 1975.

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der „Mitte“ und des „Westen“ hat sich seit über einem Jahrtausend als kulturräumliche Konstante der kontinentalen Geschichtslandschaft erwiesen.9 Westeuropa, die Geschehensregion mit den längsten und ältesten geschichtlich nachweisbaren Traditionen, besaß dabei die vergleichsweise größte innere Entwicklungsdynamik, womit sich wiederum eine in sich sehr stark aufgefächerte Binnenstruktur verband. Das aus der „Erbschaft“ des Karolingischen Imperiums nach der Gebietsteilung von 843 hervorgegangene Reich der Westfranken, das spätere Frankreich, fand seit der Königswahl Hugo Capets (940/41 – 996) 987 den Weg zur Errichtung einer „nationalen“ Monarchie, ebenso wie das 1066 von den Normannen eroberte England. Beide Länder akzeptierten bis ins ausgehende Mittelalter fraglos die geistliche Autorität des Papstes, in dessen Kirchenamt sich die Einheit der europäischen Völker am sichtbarsten manifestierte. Doch sie zeigten keinerlei Bereitschaft, sich darüber hinaus der politischen Autorität des aus der Teilung von 843 hervorgegangenen Ostfränkischen Reiches zu beugen, dessen Monarchen seit der programmatischen Wiederaufnahme der römischen Kaiseridee durch Otto I. (912 – 973) 962 oberherrschaftliche Superioritätsansprüche über den Völkerkosmos des Abendlandes erhoben.10 Das damit gegebene Spannungsverhältnis zwischen dem Universalismus der von den deutschen Stämmen getragenen „ostfränkischen“ Reichsidee, des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ einerseits, und dem zusehends erstarkenden Souveränitätswillen der Könige und Völker des europäischen „Westens“ andererseits prägte die gesamte Geschichte des Mittelalters11 – mit der bekannten Konsequenz, dass die „Deutschen“, eingesponnen in imperiale Kaiserträume, die vermeintliche Mission ihres „Reiches“ teils im Osten (Heinrich I. [876 – 936]), teils im Süden (Friedrich I., Barbarossa [1122 – 1190]) zu erfüllen suchten. Den Weg zu einem eigenen „deutschen“ Nationalstaat vermochten sie dabei, anders als die Nachbarn im Westen, ebensowenig zu finden, wie ihnen die Etablierung einer erblichen königlichen Zentralgewalt glückte.12 9 Zum Ganzen instruktiv Jenö Szücs, Die drei historischen Regionen Europas. Mit einem Vorwort von Fernand Braudel. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1994. 10 Zum Verständnis grundlegend Percy Ernst Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio. Studien zur Geschichte des römischen Erneuerungsgedankens vom Ende des karolingischen Reiches bis zum Investiturstreit. 2. Aufl. Darmstadt 1957, bes. S. 68 ff.; ferner bereits Robert Holtzmann, Der Weltherrschaftsgedanke des mittelalterlichen Kaisertums und die Souveränität der europäischen Staaten. In: Historische Zeitschrift 159 (1939), S. 251 – 264. 11 Dazu noch immer anregend Walther Holtzmann, Das mittelalterliche Imperium und die werdenden Nationen. Köln/Opladen 1953, gegen die allzu idealisierende Sicht von Gerd Tellenbach, Vom Zusammenleben der abendländischen Völker im Mittelalter. In: Festschrift für Gerhard Ritter zu seinem 60. Geburtstag. Hrsg. von Richard Nürnberger. Tübingen 1950, S. 1 – 60. 12 Zum Problem resümierend Egon Boshof, Königtum und Königsherrschaft im 10. und 11. Jahrhundert. 2. Aufl. München 1997, S. 93 ff.; für den vorliegenden Zusammenhang originell Timothy Reuter, The Medieval German „Sonderweg“? The Empire and its Rulers in the High Middle Ages. In: Anne J. Duggan (Hrsg.), Kings and Kingship in Medieval Europe. London 1993, S. 179 – 211.

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Frühe „nationale“ Monarchien, fernab von allen universalen Herrschaftsansprüchen des „Reiches“, entstanden darüber hinaus in jenen Gebieten des europäischen Nordens und Nordostens, die zunächst außerhalb der römischen Grenzziehungen geblieben waren. Seit dem 10. Jahrhundert durch Christianisierung und Staatsbildung in die lateinisch geprägte Gemeinschaft der Völker Westeuropas eingebunden, bildeten Dänemark, Schweden und Norwegen einen eigenen, regional noch einmal enger umgrenzten historischen Geschehensraum mit speziellen Problemlagen, eine „Geschichtslandschaft“13 von relativer Eigenständigkeit, zugleich „Kontaktund Durchdringungszone […] skandinavischer, mitteleuropäischer und osteuropäischer Geschichte“,14 der das Meer als „Mitte“ diente.15 Im äußersten Süden Westeuropas, auf der Iberischen Halbinsel wiederum, hatten sich die Europäer jahrhundertelang mit islamischen Invasoren auseinanderzusetzen – mit den Repräsentanten einer fremden, zweifellos nicht-europäischen Kultur, deren Rang jedoch zeitweise den christlichen Standard erheblich übertraf. Die islamische Herrschaft dauerte in Spanien weit über 700 Jahre.16 Sie bezog die Halbinsel vorübergehend vollständig in die islamische Welt ein und rückte damit ein Gebiet, das kulturell zu Westeuropa gehörte, während des gesamten Mittelalters außerhalb des Raumes der europäischen Geschichte. Zwar war die christliche „Reconquista“ der Iberischen Halbinsel gegen Ende des 15. Jahrhunderts abgeschlossen, Spanien beschritt mit der dynastischen Verbindung der Kronen Kastiliens und Aragons zu einer Doppelmonarchie 1474/79, wie zuvor schon England und Frankreich, den Weg zum Nationalstaat und stieg, befördert durch die überseeischen kolonialen Entdeckungen und Eroberungen, in kürzester Zeit zur Groß- und Weltmacht auf.17 Gleichwohl blieben die Länder der Iberischen Halbinsel – mit ihren kolonialen Verbindungen, ihrer Nähe zum islamischen Afrika und ihren speziellen Beziehungen zum mittel- und südamerikanischen Raum – bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts Geschichtsräume eigener Prägung, die in ihrer Orientierung mit den anderen Regionen des europäischen Westens nur begrenzt übereinstimmten.18

13 Zu diesem Begriff grundlegend Karl-Georg Faber, Was ist eine Geschichtslandschaft? (1968). Wiederabgedruckt in: Pankraz Fried (Hrsg.), Probleme und Methoden der Landesgeschichte. Darmstadt 1978, S. 390 – 424. 14 Klaus Zernack, Grundfragen der Geschichte Nordeuropas (1985). Wiederabgedruckt in: ders., Nordosteuropa. Skizzen und Beiträge zu einer Geschichte der Ostseeländer. Lüneburg 1993, S. 9 – 21, hier S. 9. 15 So Walther Hubatsch, Im Bannkreis der Ostsee. Grundriss einer Geschichte der Ostseeländer in ihren gegenseitigen Beziehungen. Marburg 1948, S. 9; vgl. zuletzt umfassend Michael North: Geschichte der Ostsee. Handel und Kulturen. München 2011, bes. S. 32 ff. 16 Dazu maßgeblich René Alexander Marboe, Von Burgos nach Cuzco. Das Werden Spaniens 530 – 1530. Essen 2006, S. 41 – 122. 17 Zu den Konsequenzen dieser europäischen Machtstellung vgl. Henry Kamen, Imagining Spain. Historical Myth and National Identity. New Haven/London 2008, S. 96 – 125. 18 Dazu sehr erhellend Eberhard Straub, Das spanische Jahrhundert. München 2004, bes. S. 21 ff.

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Der zweite binneneuropäische Geschichtsraum, Mitteleuropa, besitzt eine wesentlich andere Entwicklungsdynamik als der Westen des Kontinents. Die Landschaften zwischen Elbe und Donau, Theiss und Bug wurden, ähnlich wie der nordeuropäische Raum, fernab von allen römischen Kultureinflüssen und den Erfahrungswerten der frühchristlichen Welt, erst im 10. Jahrhundert lateinisch-katholisch christianisiert. Dabei formierten sich die vier großen „Adelsnationen“19 der Kroaten, Magyaren, Polen und Tschechen politisch zunächst allesamt unter nationalen Königsdynastien – Kroatien 925, Ungarn 1000/1001, Polen 1025, Böhmen 1085/ 1158 bzw. 1198. Mit alledem waren die ostmitteleuropäischen Reiche in den abendländischen Kulturkreis einbezogen und agierten hinfort als vollwertige Mitglieder der „Familie der Könige“20 des mittelalterlichen europäischen Völkerkosmos. Anders als in den großen Königreichen des Westens und Nordens ist es jedoch bei keiner dieser vier fürstlich-aristokratischen Herrschaftsformationen zur dauerhaften Herausbildung eines „modernen“ Staates gekommen, in dessen Einzugsfeld seit Beginn der Neuzeit eine starke monarchische Exekutive die Kräfte der Nation zu bündeln wusste – sei es durch bürokratisch-rationalistische Zentralisierung der Verwaltung oder durch konsequente Einfühlung gestraffter Regierungsstrukturen.21 Die Kroaten und ihr Königreich, „das älteste […] von allen Kronländern, die später das Habsburgerreich bildeten“,22 wurden nach dem frühen Erlöschen ihrer angestammten Herrscherdynastie der Trpimiriden 1091, nach Thronstreitigkeiten und Prätendentenhader, ab 1102 – und letztlich bis 1918 – im Rahmen einer Personalunion mit Ungarn als „Doppelmonarchie“ von den magyarischen Königen regiert.23 Die Länder der Wenzelskrone – Böhmen mit seinen Nebengebieten Mähren, Schlesien und den beiden Lausitzen – wuchsen unter dem nationalen Fürstenhaus der Prˇemysliden zu einem eigenständigen Staatsgebilde heran, das zwar in enger Verbundenheit mit dem römisch-deutschen Reichsverband stand, doch auch nach dem Aussterben der heimischen Prˇemysliden 1306 zunächst unter der auswärtigen Dynastie der Luxemburger in kontinuierlichem Landesausbau fortschritt, bevor das böhmische Königtum – immerhin der einzige Reichsfürstenstand, der neben dem römisch-deutschen König diesen Titel trug – nach dem Tod Kaiser Karls IV. (1316 – 1378) 1378 für anderthalb Jahrhunderte als bestimmender Machtfaktor ausfiel. Der daraufhin zunehmende Einfluss macht- und selbstbewusster Magnaten des 19

So Werner Conze, Ostmitteleuropa. Von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert. München 1992, S. 11, 22. 20 So Franz Dölger, Die „Familie der Könige“ im Mittelalter. In: Historisches Jahrbuch 60 (1940), S. 397 – 420. 21 Dazu prägnant Stephan Skalweit, Der moderne Staat. Ein historischer Begriff und seine Problematik (1975). Wiederabgedruckt in: ders., Gestalten und Probleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze. Berlin 1987, S. 208 – 229, bes. S. 221 ff.; vgl. auch ders., Der Beginn der Neuzeit. Epochengrenze und Epochenbegriff. Darmstadt 1982, S. 123 – 162. 22 Rudolf Kiszling, Die Kroaten. Der Schicksalsweg eines Südslawenvolkes. Graz/Köln 1956, S. 6. 23 Vgl. instruktiv József Deér, Die Anfänge der ungarisch-kroatischen Staatsgemeinschaft (1936). Neudruck Darmstadt 1970.

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Hochadels, die sich immer mehr als Vertreter des Landes empfanden und unter schwachen Königen aus mehrfach wechselnden Herrscherhäusern die politischen Geschäfte dominierten, untergrub Stellung und Autorität der Krongewalt.24 Er ließ lange Zeit keine gefestigte Landesherrschaft aufkommen und kollidierte erst unter den landfremden habsburgischen Königen mit den Machtinteressen einer zur Durchsetzung des Erbrechts entschlossenen Dynastie – bis hin zur gewaltsamen Entladung dieses Spannungszustandes in der Schlacht am Weissen Berg 1620. Danach wurde das Land bekanntlich zum Opfer einer mit äußerster Gewaltsamkeit durchgeführten Rekatholisierung und büßte nach der Zwangsintegration in den habsburgischen Länderverband jegliche konfessionelle und politische „Libertät“ ein. In auffallender Strukturähnlichkeit zur Entwicklung in den böhmischen Ländern vollzog sich der politische Herrschaftswandel bei den beiden anderen großen mitteleuropäischen Adelsnationen. In Ungarn starb 1301, fünf Jahre vor dem Erlöschen der böhmischen Prˇemysliden, das dort seit der Jahrtausendwende einheimische Herrscherhaus der Arpaden aus. Wie in Böhmen der landfremden Dynastie der Luxemburger, so gelang auch in Ungarn den aus Sizilien importierten Anjous für die Dauer von zwei Generationen die nochmalige Stabilisierung der Königsmacht unter einer bedeutenden Herrscherpersönlichkeit, Ludwig dem Großen (1326 – 1382). Nach dessen Ableben 1382 – er starb nur vier Jahre nach seinem böhmischen Amtskollegen Karl IV. ohne männliche Erben – wurde das Land, wiederum wie das benachbarte Böhmen, zum Spielball der miteinander konkurrierenden „Großen“ des Reiches, der Oligarchen, Magnaten und landbesitzenden Aristokraten, die in rascher Folge böhmisch-luxemburgische, österreichisch-habsburgische und polnisch-jagiellonische Dynasten auf den Thron wählten. Gegenüber ihren Machtansprüchen und Mitspracherechten vermochte selbst eine so überragende Herrschergestalt wie Matthias Corvinus (1443 – 1490) nicht dynastiegründend im Sinne der Etablierung eines erblichen nationalen Königtums zu wirken. Stattdessen steigerten die Rivalitäten der großen Magnatenfamilien, denen zwecks Erhalts der eigenen Vorherrschaft an einer Schwächung der königlichen Machtstellung gelegen war, die Zerrissenheit des Landes – und provozierten so die militärische Katastrophe beim Abwehrkampf gegen die Osmanen in der Schlacht von Mohacs 1526.25 Die daraufhin zunächst in Ober- und Westungarn etablierten Könige aus dem Haus Habsburg brachten, nach Beseitigung der osmanischen Herrschaft im späten 17. Jahrhundert, wie zuvor schon den Böhmen, nun auch den Magyaren die zweifelhaften Segnungen einer dem Absolutismus verpflichteten, auf gewaltsame Rekatholisierung und Beschränkung der Adelsrechte drängenden landfremden Dynastie. Stärker noch als in den Ländern der Stephans- und der Wenzelskrone waren Adelsmacht und Adelsprivilegien im frühneuzeitlichen Polen präsent: auch hier, 24 Zu diesem Prozess in vergleichender Perspektive Gotthold Rhode, Stände und Königtum in Polen/Litauen und Böhmen/Mähren. In: Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas, N. F. 12 (1964), S. 211 – 246. 25 Für den Zusammenhang vgl. Janos M. Bak, Königtum und Stände in Ungarn im 14. bis 16. Jahrhundert. Wiesbaden 1973, bes. S. 11 – 26, 54 – 61.

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in den Territorien des „regnum Poloniae“ zwischen Oder und Weichsel, hatte sich seit der Jahrtausendwende unter der Dynastie der Piasten zunächst eine veritable monarchische Herrschaft als fester Bestandteil des mittelalterlichen „Europas der Könige“ installiert, die im 14. Jahrhundert durch Kasimir den Großen (1310 – 1370) glanzvoll erneuert worden war. Infolge der 1386 geschlossenen Union Polens mit dem rasch expandierenden Großfürstentum Litauen, dessen Herrscher erst kurz zuvor den römisch-katholischen Glauben angenommen hatte, gewann das neu formierte Großreich unter der Dynastie der Jagiellonen riesige ostslawische Regionen – unter Einschluss weißrussischer und ukrainischer Gebiete des ehemaligen Kiewer Reiches – und übertraf in der Folgezeit an territorialer Ausdehnung – von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer – wie an politischer Machtentfaltung alle anderen europäischen Staaten bei weitem. Dann jedoch, nach Erlöschen der Jagiellonendynastie 1572, entwickelte sich auch die „rˇzespospolita polska“ mehr und mehr zu einer ausgesprochenen Adelsoligarchie,26 die geprägt war von der Konkurrenz zwischen mächtigen Magnatengeschlechtern und verarmtem Kleinadel („szlachta“) und dem Land einen Aristokratenanteil von fast zehn Prozent der Bevölkerung einbrachte, dem – neben Spanien – zahlenmäßig höchsten in ganz Europa.27 Das Ideal verantwortungsvoller Teilhabe der aristokratischen Landeselite an politischen Entscheidungsprozessen verkam zunehmend zu einem zehntausendfach gesteigerten Partizipationswirrwarr, der alles staatliche Leben zu paralysieren drohte. Polens „corona regni“, einst hochgeachtetes Symbol eines übergeordneten, von der Person des Königs losgelösten Herrschaftsverständnisses,28 wurde ein Spielball innerer Parteikämpfe und auswärtiger Begehrlichkeiten, denen das Land im 18. Jahrhundert als letzte mitteleuropäische Herrschaftsformation zum Opfer fallen sollte. Aufs Ganze gesehen erlebten damit in Polen, Ungarn und Böhmen die auch dort einstmals stabilen, landesverbundenen monarchischen Institutionen allesamt eine vollständige und dauerhafte Marginalisierung. Das unterschied die Entwicklungsrichtung der Länder Mitteleuropas von der in den „alten“ Nationalstaaten des europäischen Westens vorherrschenden Tendenz. Dort, in Frankreich und Spanien ebenso wie in den nordischen Ländern, doch auch in zahlreichen deutschen Landesherrschaften, Österreichs und Brandenburg-Preußens zumal, und in abgeschwächter 26 Zu diesem Prozess vgl. Gotthold Rhode, Staaten-Union und Adels-Staat. Zur Entwicklung von Staatsdenken und Staatsgestaltung in Osteuropa, vor allem in Polen-Litauen. In: Zeitschrift für Ostforschung 9 (1960), S. 185 – 215. 27 Noch am Vorabend der ersten Landesteilung von 1772 überschritt die Zahl der polnischen Adligen die Millionengrenze, vgl. Hans Roos, Ständewesen und parlamentarische Verfassung in Polen (1505 – 1772). In: Dietrich Gerhard (Hrsg.), Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert. Göttingen 1969, S. 310 – 367, hier S. 313, 320. 28 Zu dieser monarchiegeschichtlich bedeutsamen Konzeption, die auch für andere mitteleuropäische Königsherrschaften, zumal in Böhmen und in Ungarn, einige Relevanz gewann, vgl. eingehend Jan Dabrowski, Die Krone des polnischen Königtums im 14. Jahrhundert. Eine Studie aus der Geschichte der Entwicklung der polnischen ständischen Monarchie (1956). Wiederabgedruckt in: Manfred Hellmann (Hrsg.), Corona Regni. Studien über die Krone als Symbol des Staates im späteren Mittelalter. Darmstadt 1961, S. 399 – 548.

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Form auch in England (nicht freilich in Italien), hatte sich bis zum ausgehenden 17. Jahrhundert nach teilweise sehr heftigen Auseinandersetzungen mit den auf politischen Mitspracherechten beharrenden Landeseliten (Ständen, Parlamenten)29 eine starke Fürstenmacht zu etablieren vermocht, mit festen monarchischen Institutionen und Kompetenzen in der Staatsverwaltung, im Heerwesen, bei der Gesetzgebung und bei der Steuerbewilligung.30 Dieser frühneuzeitliche „Fortschrittsprozeß des modernen Machtstaates“31 wurde im mitteleuropäischen Raum (wie auch in Italien) nicht mitvollzogen. Im Ergebnis führte das zu der letztlich verhängnisvollen Konsequenz, dass die gesamte Region machtpolitisch nicht mehr von innen her autonom gestaltet worden ist, sondern durch fremde Gravitationszentren bestimmt wurde.32 Mitteleuropa geriet zum Teilstück umfassenderer dynastischer Reichsbildungen der Habsburger, der Romanows und der Hohenzollern, deren Großmonarchien bis zu ihrem Zusammenbruch 1917/18 das Terrain beherrschen sollten. Osteuropa schließlich, die dritte europäische Großregion, stand seit der Annahme des byzantinischen Christentums durch die ostslawischen Fürsten der Kiewer Rus 988 unter der Dominanz Russlands, der bis heute unbestrittenen Hauptmacht der Region.33 Das Kiewer Reich hatte zunächst vielfältige Kontakte nicht nur zum byzantinischen Raum, sondern auch zum lateinisch geprägten Westen gepflegt, westliches und östliches Christentum waren bis zum Schisma von 1054 kirchlich noch keineswegs vollständig voneinander getrennt. Neben lebhaften Handelsbeziehungen gab es vor allem dynastische Verbindungen zwischen dem großfürstlichen Hof in Kiew und zahlreichen europäischen Herrscherfamilien.34 Dann freilich, seit 1240, verschwand Russland unter den verheerenden Einfällen der Mongolen für fast ein Vierteljahrtausend lang aus dem Blickfeld der abendländischen Christenheit, die sich infolgedessen ohne den Faktor Russland formierte. Weite Gebiete des Landes standen nun unter 29 Dieser Prozess ist oft beschrieben worden; vgl. als Bilanz der Forschung Kersten Krüger, Die Landständische Verfassung. München 2003, mit Erörterung der maßgeblichen Forschungsbeiträge von Otto Hintze (S. 54 ff.), Otto Brunner (S. 56 ff.), Dietrich Gerhard (S. 61 f.), Fritz Hartung (S. 65), Gerhard Oestreich (S. 72 f.) und Helmut Georg Koenigsberger (S. 76 ff.). 30 Dazu in gesamteuropäischer Perspektive die vorzügliche Zusammenfassung bei Johannes Kunisch, Absolutismus. Europäische Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zur Krise des Ancien Régime. Göttingen 1986, S. 54 – 63. 31 So Leo Just, Stufen und Formen des Absolutismus (1961). Wiederabgedruckt in: Walther Hubatsch (Hrsg.), Absolutismus. Darmstadt 1973, S. 288 – 308, hier S. 291. 32 Dazu in vergleichender Perspektive Orest Subtelny, Domination of Eastern Europe. Native Nobilities and Foreign Absolutism, 1500 – 1715. Kingston/Montreal 1986. 33 Vgl. den perspektivenreichen Aufriss von Günther Stökl, Die Christianisierung Osteuropas. In: ders. und Bruno Geissler, In Oriente Crux. Versuch einer Geschichte der reformatorischen Kirchen im Raum zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer. Hrsg. von Herbert Krimm. Stuttgart 1963, S. 17 – 31. 34 Dazu noch immer Francis Dvornik, The Kiev State and its Relations with Western Europe. In: Transactions of the Royal Historical Society 29 (1947), S. 27 – 46; spezieller Julius Forsman, Die Beziehungen altrussischer Fürstengeschlechter zu Westeuropa. Bern 1970.

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der Kontrolle islamisch-tatarischer Nomadenstämme und wurden zu den westlichen Außenposten eines Imperiums, das seinen Mittelpunkt in der mongolischen Metropole Karakorum hatte. Erst am Ende des 15. Jahrhunderts konnten sich die Russen unter Führung des aufstrebenden, um die „Sammlung der russischen Erde“ bemühten Moskauer Großfürsten Iwan III. (1440 – 1505, reg. 1462 – 1505) vom lastenden Joch der mongolischen Eroberer befreien. Anders als die Herrschaft der Araber in Spanien, die sich durch ein beachtliches Maß an Zivilisationsleistungen empfahl, beruhte das Mongolenregiment in Russland auf Ausbeutung, Erpressung und Versklavung.35 Es mag eine Folge der jahrhundertelang währenden mongolischen Fremdherrschaft gewesen sein, dass es im Moskauer Staat, der nach ihrem Ende den osteuropäischen Geschichtsraum maßgeblich dominieren sollte, anders als in West- und Mitteleuropa, keine regional gebundenen korporativen oder kommunalen „Zwischengewalten“ gegeben hat.36 Es gab weder einen selbstbewussten landbesitzenden Adel (wie in Böhmen, Ungarn oder Polen) noch ständisch-parlamentarische Körperschaften (wie in Frankreich oder England) noch gar städtische Magistrate (wie im Heiligen Römischen Reich, in Oberitalien oder in den nördlichen Niederlanden), die als eigenständige Gesellschaftsfaktoren Anspruch auf politische Mitsprache und auf beratende Teilhabe an der Macht erhoben.37 Die Autokratie der Moskauer Großfürsten und späteren Zaren in Sankt Petersburg blieb unbeschränkt und stand dadurch – auch in der Epoche des Absolutismus – in deutlicher Distanz zu west- und mitteleuropäischen Vorstellungen von monarchischer Herrschaft und staatlicher Macht.38 35 Dazu zusammenfassend Peter Nitsche, Mongolensturm und Mongolenherrschaft in Rußland. In: Stephan Conermann und Jan Kusber (Hrsg.), Die Mongolen in Asien und Europa. Frankfurt am Main 1997, S. 65 – 79. 36 Ausführliche und perspektivenreiche Diskussion der damit zusammenhängenden Probleme bei Ekkehard Klug, Wie entstand und was war die Moskauer Autokratie? In: ders., Eckhard Hübner und Jan Kusber (Hrsg.), Zwischen Christianisierung und Europäisierung. Beiträge zur Geschichte Osteuropas in Mittelalter und Früher Neuzeit. Festschrift für Peter Nitsche zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1998, S. 91 – 113. 37 Dazu bereits die gründliche und ausgewogene Untersuchung von Günther Stökl, Gab es im Moskauer Staat „Stände“? (1963). Wiederabgedruckt in: ders., Der russische Staat in Mittelalter und Früher Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze aus Anlaß seines 65. Geburtstages. Hrsg. von Manfred Alexander, Hans Hecker und Maria Lammich. Wiesbaden 1981, S. 146 – 167; ferner Werner Philipp, Zur Frage nach der Existenz altrussischer Stände. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 27 (1980), S. 64 – 76, sowie zuletzt in europäischer Perspektive Hans-Heinrich Nolte, Gab es im Moskauer Staat Stände? Ein Plädoyer für nichtlinear vergleichende Forschung. In: Hübner/Klug/Kusber (Hrsg.), Zwischen Christianisierung und Europäisierung (wie Anm. 36), S. 115 – 128. 38 Zu diesem Aspekt Michael Cherniavsky, Tsar and People. Studies in Russian Myths. New York 1961; Helmut Neubauer, Car und Selbstherrscher. Beiträge zur Geschichte der Autokratie in Rußland. Wiesbaden 1964; zuletzt vorzüglich Richard S. Wortman, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy. 2 Bde. Princeton 1995 – 2000. Ob man daraus – mit allzu oberflächlich urteilenden Beobachtern wie Max Weber (1864 – 1920) oder Karl Wittfogel (1896 – 1988) – bereits den Schluss ziehen darf, Osteuropa leide seit den Zeiten der Mongolen unter dem unausrottbaren Makel eines „orientalisch-despotischen Herrschaftssystems“ (so Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. 2. Aufl. Tübingen 1925,

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Infolge des Mongolensturms sind darüber hinaus die für das Selbstverständnis des römisch-katholisch geprägten Abendlandes maßgeblichen Zivilisationsfaktoren der Renaissance, der Reformation und des Humanismus, das Erbe der Antike, des christlichen Mittelalters und des Römischen Rechts, im Moskauer Russland nicht zum Tragen gekommen. Sie konnten sich dort nicht entfalten, und sie konnten auch nicht nachgeholt werden.39 Russland gehörte infolgedessen fraglos zum europäischen Kulturkreis, doch es zählte nicht zum Abendland, d. h. zum Völkerkosmos des „Westens“ und der „Mitte“. Die hoch- und spätmittelalterliche „res publica christiana“ mit ihren eingeübten Normen und Werten, ihren politischen Maßstäben und Leitvorstellungen hatte sich ohne den Faktor „Russland“ gebildet, und sie war keineswegs bereit, die erst allmählich ins Blickfeld der Zeitgenossen geratende neue Macht des Ostens vorbehaltlos als „zur Christenheit“ gehörig anzuerkennen.40 Russland wurde, vom ausgehenden 15. Jahrhundert bis in das letzte Drittel des 17. Jahrhunderts, als jenseits der Rechtsordnung Europas stehend betrachtet. Es galt, nicht zuletzt infolge der byzantinisch-orthodoxen Orientierung seiner Bevölkerung, nicht als integraler Bestandteil der abendländischen Staatengemeinschaft. Das Schicksal einer „entwürdigenden Fremdherrschaft“41 traf im 14. Jahrhundert auch alle anderen byzantinisch-orthodox geprägten Territorien des europäischen Ostens und Südostens, die nacheinander, trotz heftigster Gegenwehr, dem schier unaufhaltsamen Expansionsstreben der Osmanen erlagen: 1393 Bulgarien, 1396 die Walachei, 1430 Makedonien, 1459 Serbien, 1463 Bosnien, 1468 Albanien.42 Die Eroberung des Balkans und großer Teile des Donauraumes durch die Osmanen ist gelegentlich mit der Unterwerfung Russlands durch die Mongolen verglichen worden.43 Subjektiv mag die osmanische Okkupation im europäischen Osten und Südosten von den jeweils betroffenen christlichen Völkern als schwere Bedrückung empfunden worden sein und im historischen Gedächtnis rückblickend als Schmach und Schande erinnert werden44 – tatsächlich war die Region für die Dauer von über S. 719 ff.; Karl A. Wittfogel, Die orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht. Köln/Berlin 1962, S. 234 ff., 424 ff.), mag angesichts vielfältiger Reformbestrebungen und Entwicklungsperspektiven, zumindest in der Geschichte des Zarenreiches, doch sehr bezweifelt werden. 39 Vgl. Günther Stökl, Das Echo der Renaissance und Reformation im Moskauer Rußland (1959). Wiederabgedruckt in: ders., Der russische Staat (wie Anm. 37), S. 255 – 272. 40 Zur zeitgenössischen Perzeption vgl. in großem Rahmen Klaus Oschema, Der EuropaBegriff im Hoch- und Spätmittelalter. Zwischen geographischem Weltbild und kultureller Konnotation. In: Jahrbuch für Europäische Geschichte 2 (2001), S. 191 – 234. 41 So überspitzt Oskar Halecki, Europa (wie Anm. 4), S. 69. 42 Instruktive Skizze dieser Entwicklung bei Georg Stadtmüller, Aufstieg und Untergang der balkanslawischen Staatenwelt. In: Geschichtliche Landeskunde und Universalgeschichte. Festgabe für Hermann Aubin zum 23. Dezember 1950. Hamburg o. J., S. 131 – 147. 43 So z. B. von Henri Pirenne, Geschichte Europas. Von der Völkerwanderung bis zur Reformation. Frankfurt am Main 1961, S. 472 – 477. 44 Vgl. beispielhaft Radmila Radicˇ , Der serbische Kosovomythos. In: Joachim Bahlcke, Stefan Rohdewald und Thomas Wünsch (Hrsg.), Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleu-

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400 Jahren von einer aktiven Teilnahme an gesamteuropäischen Belangen ausgeschlossen. Allerdings genoss die unterworfene christliche Bevölkerung in religiöser Hinsicht weitgehende Duldung ihres Bekenntnisses seitens der islamischen Eroberer, im Unterschied zum gegenreformatorischen Furor der von den Habsburgern okkupierten Territorien. Ihren Weg zurück nach Europa fanden die von den Osmanen beherrschten Völker des Ostens und Südostens im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert allesamt durch die Verknüpfung von Königsherrschaft und Nationalstaatsgründung. Jedes Balkanland formierte sich nach seiner Trennung vom Osmanischen Imperium als konstitutionelle Monarchie: Serbien 1829, Griechenland 1830, Rumänien 1866, Bulgarien 1887 und zuletzt Albanien 1912. Bis auf den serbischen Sonderfall wurden überall Prinzen aus deutschen Herrscherhäusern auf die neu errichteten osteuropäischen Throne berufen. In Rumänien bewährten sich die Hohenzollern (Sigmaringische Linie), in Bulgarien die Ernestinischen Wettiner (Coburg-Gothaische Linie) als Promotoren des Nationsbildungsprozesses und der nationalen Identitätsstiftung.45 Auch wenn die Wittelsbacher mit diesem Projekt in Griechenland 1863 Schiffbruch erlitten und der letzte derartige Versuch in Albanien 1914 scheiterte, wird man die Einbindung der neu entstandenen Balkanländer und ihrer monarchischen Führungsspitzen in die Gemeinschaft der europäischen Souveräne doch als eine angemessene, weil zeitgemäße Form der Wiederangliederung an die abendländische Staatenwelt werten können.46 Das Modell des monarchischen Konstitutionalismus, das seit dem Erlass der französischen „charte constitutionelle“ 1814 als Leitbild des zeitgenössischen Liberalismus in ganz Europa firmierte und sich zum „Normalfall“ europäischer Verfassungsstandards im 19. und frühen 20. Jahrhundert entwickeln sollte,47 bot den vor 1914 im europäischen Osten etablierten „jungen“ Nationalstaaten einen Ausgangsund Bezugspunkt für die Entfaltung diskursiver politischer Handlungsformen und für die Erfüllung partizipatorischer bürgerschaftlicher Ansprüche im Rahmen aktiver Mitwirkung gewählter Volksvertretungen an den staatlichen Entscheidungsprozessen.48 Dass selbst Russland 1906 den Übergang zum konstitutionellen System grundropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff. Berlin 2013, S. 823 – 832. 45 Vgl. für Rumänien: Edda Binder-Iijima, Heinz-Dietrich Löwe und Gerhard Volkmer (Hrsg.), Die Hohenzollern in Rumänien 1866 – 1947. Eine monarchische Herrschaftsordnung im europäischen Kontext. Köln/Weimar/Wien 2010; für Bulgarien: Thomas Nicklas, Das Haus Sachsen-Coburg. Europas späte Dynastie. Stuttgart 2003, S. 123 – 143. 46 Dazu bereits Georg Stadtmüller, Westliches Verfassungsmodell und politische Wirklichkeit in den balkanischen Staaten. In: Saeculum 9 (1958), S. 405 – 424. 47 Vgl. dazu als Pionierstudie Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich. Göttingen 1999, bes. S. 11 – 39, 45, 49 f., sowie neuerdings Arthur Schlegelmilch, Die Alternative des monarchischen Konstitutionalismus. Eine Neuinterpretation der deutschen und österreichischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Bonn 2009. 48 Erst die Verwerfungen der Zwischenkriegszeit in den Jahren nach 1919 führten dieses Verfassungsmodell in Südosteuropa zunehmend in eine Krise; vgl. dazu die freilich allzu

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sätzlich vollzogen hatte und davon bis 1917 nicht wieder abrücken mochte, war auch dort ein Indiz wachsender „Europäisierung“.49 II. Die räumliche Umschau hat die Geschichtslandschaften Ost-, Mittel- und Westeuropas in ihrer Verschiedenartigkeit vor Augen geführt und Gründe für die fortwährende Existenz damit verbundener Besonderheiten benannt. Dass sich die drei deutlich voneinander abhebenden großen europäischen Geschichtsräume, trotz aller aufgewiesenen Trennlinien, dennoch aufeinander beziehen lassen, verdeutlicht ein Blick auf einige große Themen der Geschichte Europas, die nun wiederum keineswegs so mannigfaltig differenziert sind, wie man dies angesichts der unterschiedlichen historischen Entwicklung der einzelnen Geschehensregionen zunächst vermuten könnte. Allen zweckoptimistischen Beteuerungen der Gegenwart zum Trotz muss der Historiker feststellen, dass als ein vorherrschendes Grundprinzip in der Geschichte Europas nicht das Streben nach Zusammenhalt und Einheit, sondern die Tendenz zum Auseinandergehen, zur Wahrung einer in ihren Erscheinungsformen zwar wechselhaften, in ihrer Grundrichtung jedoch weitgehend durchgehaltenen Vielfalt gewesen ist. Eine Deutung Europas und seiner Geschichte, die – in gleichsam vorauseilendem Gehorsam gegenüber retrospektiv gewendeten Wunschbildern kenntnisloser EU-Kulturbürokraten – vom Dogma politischer Einheit bestimmt wäre, könnte diese Geschichte über die Jahrhunderte hinweg doch stets nur als eine defizitäre Aneinanderreihung von Fehlschlägen und Misserfolgen interpretieren50 und ist daher grundsätzlich verfehlt. Vielmehr muss an die vorherrschende Tradition der Differenzierung des Kontinents in eine Vielzahl von Kulturen und Sprachen, Regionen und Landschaften, Stämmen, Ländern und Staaten erinnert werden, wenn man sein spezifisches Erscheinungsbild in Geschichte und Gegenwart angemessen erfassen will. Die Legitimierung politischer Herrschaft durch das alle diese Elemente überformende Prinzip der Nationalität – der nationalen Vielfalt ebenso wie der nationalstaatlichen Bündelung – erscheint denn auch, recht besehen, nicht als ein europäischer Seitenweg des 19. Jahrhunderts, sondern als eines der wenigen umfassenden Phänome-

knappe Skizze von Holm Sundhaussen, Die Königsdiktaturen in Südosteuropa. Umrisse einer Synthese. In: Erwin Oberländer (Hrsg.), Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919 – 1944. Paderborn/München/Wien/Zürich 2001, S. 337 – 348. 49 Dazu speziell Frank-Lothar Kroll: Rußland und Europa. Historisch-politische Probleme und kulturelle Perspektiven. In: Peter Jurczek und Matthias Niedobitek (Hrsg.), Europäische Forschungsperspektiven. Elemente einer Europawissenschaft. Berlin 2008, S. 13 – 58, bes. S. 50 f. 50 Das betont Theodor Schieder, Begriff und Problem einer europäischen Geschichte. In: Handbuch der europäischen Geschichte. Bd. 1: Europa im Wandel von der Antike zum Mittelalter. Hrsg. von Theodor Schieffer. Stuttgart 1976, S. 1 – 11, hier S. 2.

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ne in der neueren Geschichte Europas, mithin auch als ein erstes zentrales Thema europäischer Geschichtsschreibung. Schon vor über einem halben Jahrhundert hat Theodor Schieder (1908 – 1984),51 ältere Überlegungen Giselher Wirsings (1907 – 1975) aufgreifend,52 den europäischen Nationalisierungsprozess in drei räumlich, zeitlich und qualitativ klar voneinander unterschiedene Etappen zu differenzieren versucht. In der ersten Etappe formierten sich, Schieder zufolge, die Nationalstaaten des „Westens“, England und Frankreich, jeweils im Verlauf dort stattgefundener Revolutionen – der Englischen im 17. Jahrhundert und der Französischen Ende des 18. Jahrhunderts – gleichsam „von innen“ heraus, indem die „Gemeinschaft der Bürger“ ihre bereits bestehenden Königsstaaten auf veränderte politische Werte hin orientierte und sie damit letztlich einer Neugründung unterwarf. Sich zu dieser am „Volkswillen“ orientierten Neugründung zu bekennen war nun maßgeblich für die Zugehörigkeit zur „politischen Nationalität“ Englands und Frankreichs, nicht hingegen der Verweis auf sprachliche oder kulturelle Prägungen oder auf einen irgendwie gearteten „Nationalcharakter“.53 Die zweite Etappe europäischer Nationalstaatsgründungen stand im Zeichen der Entstehung von Nationalstaaten aus staatlich voneinander getrennten Teilstücken einer Nation. Die deutsche und die italienische Einheitsbewegung verdankten diesem Bestreben die Dynamik ihrer zunächst durchaus revolutionären, dann jedoch, durch Einbindung in das Verfassungsmodell des monarchischen Konstitutionalismus, bürgerlich „gezähmten“ Antriebskräfte.54 Anders als in Frankreich und England konnten sich in Deutschland und Italien Idee und Gestalt der Nation nicht an einer bereits vorhandenen politischen Einheit orientieren, denn hier gab es keinen echten Staatsverband, der alle Glieder der Nation umfasste und als deren sichtbare Manifestation entsprechende Gefühlswerte auf sich zu fokussieren vermochte.55 Infolgedessen entwi51 Vgl. Theodor Schieder, Der Nationalstaat in Europa als historisches Phänomen (1964). Wiederabgedruckt in: ders., Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa. Hrsg. von Otto Dann und Hans-Ulrich Wehler. 2. Aufl. Göttingen 1992, S. 87 – 101, bes. S. 89 ff.; ders., Typologie und Erscheinungsformen des Nationalstaates in Europa (1964). Wiederabgedruckt in: ebd., S. 65 – 86, bes. S. 68 ff.; ders., Probleme der Nationalismus-Forschung (1971). Wiederabgedruckt in: Ebd., S. 102 – 112, bes. S. 110 f. 52 Vgl. G. Wirsing, Zwischeneuropa (wie Anm. 7), S. 161 f. 53 Dazu direkt Theodor Schieder, Das Problem des Nationalismus in Osteuropa (1956). Wiederabgedruckt in: ders., Nationalismus und Nationalstaat (wie Anm. 51), S. 347 – 359, hier S. 348. 54 Zu den damit verbundenen Konsequenzen Frank-Lothar Kroll, Zwischen europäischem Bewußtsein und nationaler Identität. Legitimationsstrategien monarchischer Eliten im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In: Hans-Christof Kraus und Thomas Nicklas (Hrsg.), Geschichte der Politik. Alte und Neue Wege. München 2007, S. 353 – 374, hier S. 360 ff. 55 Zum Problem grundsätzlich Reinhard Wittram, Die nationale Vielfalt als Problem der Einheit Europas. Zur Geschichte und Problematik der kontinentaleuropäischen Nationalitätenfragen (1953). Wiederabgedruckt in: ders., Das Nationale als europäisches Problem. Beiträge zur Geschichte des Nationalitätsprinzips vornehmlich im 19. Jahrhundert. Göttingen 1954, S. 9 – 32, hier S. 10 f.; ferner Ulrich Scheuner, Nationalstaatsprinzip und Staatenord-

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ckelten sich in Deutschland und Italien Nationalbewusstsein und „Nationalität“ nicht am Staat und im Staat, sondern ohne Staat und außerhalb eines Staates. Sie orientierten sich stattdessen am Gedanken des Volkes, das vor und über dem Staat die „Nationalität“ schaffe; am Gedanken der Sprache, die der Einheitlichkeit der Nation Ausdruck verleihe; am Gedanken der Abstammung, die den jeweiligen „Nationalcharakter“ bedinge. Volk, Sprache und Abstammung fanden wiederum in der Geschichte und deren künstlerischer Vergegenwärtigung als variabel ausdeutbaren Verkörperungen der imaginierten Gemeinschaft der Nation ideale Orientierungsgrößen, die für beide Nationalbewegungen, die deutsche wie die italienische gleichermaßen, maßgebliche Bedeutung erlangten.56 Das Bekenntnis zu abstrakten Werten ersetzte mithin den Bezug zur fehlenden, erst noch zu schaffenden Staatlichkeit, deutsches und italienisches Nationalbewusstsein agierten daher bis zum Zusammenschluss der vielfach zersplitterten Einzelterritorien zum gemeinsamen Staat in einem staatenlosen, politisch luftleeren Raum. Der lang andauernde, mühselige und erst nach opferreichen kriegerischen Auseinandersetzungen mit auswärtigen Mächten erfolgreich vollzogene Übergang von einem freischwebenden „Kulturnationalismus“ zu einem von realpolitischen Sachzwängen eingehegten Nationalgefühl hat einem Autor wie Helmuth Plessner (1892 – 1985) schon 1959 zur Erklärung manch übersteigerter Artikulationsformen des deutschen Nationalempfindens gedient.57 Die dritte Etappe europäischer Nationalstaatsgründungen vollzog sich im ost- und südosteuropäischen Raum, mithin in jenen Gebieten, die vor 1914 durch die multinationalen Imperien der Habsburger, der Romanows und der Osmanen bestimmt waren. Vielen Vertretern der südost- und ostmitteleuropäischen Nationalbewegungen galten solche Großmonarchien als „Völkergefängnisse“ – eine Sichtweise, der zumindest mit Blick auf die Schicksale der polnischen und der tschechischen Nation eine historische Berechtigung nicht abgesprochen werden kann.58 Das Nationalbenung seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Peter Alter und Theodor Schieder (Hrsg.), Staatsgründungen und Nationalitätsprinzip. München/Wien 1974, S. 9 – 37, hier S. 12 f. 56 Für Deutschland exemplarisch Frank-Lothar Kroll, Kaisermythos und Reichsromantik. Bemerkungen zur Rezeption des Alten Reiches im 19. Jahrhundert. In: Axel Gotthard, Andreas Jakob und Thomas Nicklas (Hrsg.), Studien zur politischen Kultur Alteuropas. Festschrift für Helmut Neuhaus zum 65. Geburtstag. Berlin 2009, S. 77 – 95; für Italien instruktiv Susanne von Falkenhausen, Italienische Monumentalmalerei im Risorgimento 1830 – 1890. Strategien nationaler Bildersprache. Berlin 1993, S. 239 – 253, und Kathrin Mayer, Mythos und Monument. Die Sprache der Denkmäler im Gründungsmythos des italienischen Nationalstaates 1870 – 1915. Köln 2004, bes. S. 31 – 48, 72 ff. 57 Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. Stuttgart 1959, bes. S. 47 ff., 65 ff. 58 Zur historiographischen Einordnung für die Habsburgermonarchie vgl. noch immer Hugo Hantsch, Die Nationalitätenfrage im alten Österreich. Das Problem der konstruktiven Reichsgestaltung. Wien 1953, bes. S. 25 ff., sowie – mit Blick auf die rücksichtslose Ausrottung des evangelischen Bekenntnisses in Böhmen – Grete Mecenseffy, Geschichte des Protestantismus in Österreich. Graz/Köln 1956, bes. S. 109 ff., 134 ff., 149 – 174, 186 ff.; für Russland Georg von Rauch, Russland. Staatliche Einheit und nationale Vielfalt. Föderalistische Kräfte und Ideen in der russischen Geschichte. München 1953, bes. S. 73 ff., 146 ff.

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wusstsein der hier jeweils betroffenen Völker formierte sich daher in einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Frontstellung zu den übernationalen dynastischen Imperien. Alle ostmittel- und südosteuropäischen Nationen verdankten ihre Staatswerdung der Abspaltung von diesen Großreichen – Serbien, Griechenland, Rumänien, Bulgarien und Albanien ebenso wie später Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien und, nicht zuletzt, die baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen. Auch hier wurden, wie im Fall der vermeintlich verspäteten deutschen Nation, schon früh geschichtspsychologische Deutungsmuster bemüht,59 um die teilweise sehr militant und präzedenzlos aggressiv anmutenden Charakterzüge „balkanischer“ Nationalismen im Blick auf die „sezessionistischen“ und in der Regel gewaltsamen Begleitumstände der mit ihnen verbundenen Staatsbildungsprozesse einigermaßen schlüssig zu erklären. Der seit 1918 in Ostmittel- und Südosteuropa vollzogene Übergang von den dort bisher weithin vorherrschenden übernationalen Großreichsordnungen zum System souveräner Nationalstaaten60 brachte freilich nicht jene stabilisierenden Wirkungen und Erfolge, welche die Schöpfer des Systems des „Staatenpluralismus“61 bei der Etablierung des Prinzips des nationalen Selbstbestimmungsrechts der Völker in der Region seinerzeit wohl erhofft hatten. Zwar folgten alle nun entstandenen bzw. neu formierten ostmittel- und südosteuropäischen Länder der am „westlichen“ Modell orientierten Fiktion eines ethnisch homogenen, von einem führenden Staatsvolk dominierten Nationalstaates. Tatsächlich entsprach jedoch kein einziger Nachfolgestaat der 1917/18 untergegangenen Vielvölkerreiche diesem von Anfang an unrealistischen Anspruch. Infolge der spezifischen nationalitätenpolitischen Gemengelage lebten überall in Ostmittel- und Südosteuropa starke fremdnationale Minderheiten. So betrug der Anteil des tschechischen Staatsvolkes an der Gesamteinwohnerzahl der 1918 gebildeten Tschechoslowakischen Republik nur etwa 46 Prozent. Und das 1918/19 durch den Gewinn Siebenbürgens, Bessarabiens, der Bukowina und großer Teile des Banats territorial und bevölkerungsmäßig um mehr als das Doppelte seines bisherigen Umfangs erweiterte Königreich Rumänien („Großrumänien“, 59 So wohl erstmals, und seitdem vielfach abgewandelt, von Max Hildebert Boehm, Europa Irredenta. Eine Einführung in das Nationalitätenproblem der Gegenwart. Berlin 1923, S. 86 ff., 274 ff. 60 Zu diesem Entwicklungsprozess erneut perspektivenreich Theodor Schieder, Nationale und übernationale Gestaltungskräfte in der Geschichte des europäischen Ostens. Krefeld 1954; ähnlich ders., Nationale Vielfalt und europäische Gemeinschaft (1954). Wiederabgedruckt in: ders., Nationalismus und Nationalstaat (wie Anm. 51), S. 271 – 286, bes. S. 281 f.; neuere Bilanz bei Hans Lemberg, Der Weg zur Entstehung der Nationalstaaten in Ostmitteleuropa. In: Georg Brunner (Hrsg.), Osteuropa zwischen Nationalstaat und Integration. Berlin 1995, S. 45 – 71; zuletzt Holm Sundhaussen, Die Ethnisierung von Staat, Nation und Gerechtigkeit. Zu den Anfängen nationaler „Homogenisierung“ im Balkanraum. In: Matthias Beer (Hrsg.), Auf dem Weg zum ethnisch reinen Nationalstaat? Europa in Geschichte und Gegenwart. Tübingen 2007, S. 69 – 90. 61 So Theodor Schieder, Zum Problem des Staatenpluralismus in der modernen Welt. Köln/ Opladen 1969, bes. S. 22 ff.; vgl. ferner bereits ders., Friedenssicherung und Staatenpluralismus. In: Europa-Archiv 24 (1968), S. 881 – 896.

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„romania mare“) konnte gar mit nur knapp 67 Prozent indigener Staatsbürger aufwarten. Staatsgrenzen und Volkszugehörigkeiten stimmten während der Zwischenkriegszeit nirgendwo in Ostmittel- und Südosteuropa miteinander überein. Minderheitenpolitische Probleme waren daher in einer Region, die theoretisch vom Nationalstaatsprinzip dominiert wurde, praktisch jedoch aus zahlreichen „Vielvölkerstaaten im Kleinen“ bestand, geradezu vorprogrammiert.62 Gegenüber der Tendenz zur nationalen Differenzierung, die den Gesamtverlauf der europäischen Geschichte weithin dominiert hat, nimmt die Idee der Einheit Europas aus historischer Perspektive – als zweites großes Thema der europäischen Geschichte und Geschichtsschreibung – einen deutlich nachgeordneten Rang ein. Europäisches Einheitsstreben hat sich nicht erst nach den katastrophalen Niederbrüchen von 1914/18 und 1939/45 vernehmlich artikuliert. Staatsdenker und Philosophen, Politiker und Publizisten erwogen seit mehr als einem halben Jahrtausend immer erneut die Möglichkeit und Wünschbarkeit eines Zusammenschlusses der europäischen Länder und Nationen.63 Entsprechende Überlegungen reichten von humanistischen und frühaufklärerischen Plänen zur Einhegung einzelstaatlicher Souveränitätsansprüche zugunsten eines übernationalen föderativen Vereins der europäischen Völker bei Erasmus von Rotterdam (ca. 1466 – 1536)64 oder Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716)65 bis zu daran anknüpfenden Konzeptionen für ein System kollektiver Friedenssicherung,66 wie sie vor allem im Umkreis französischer Diplomaten und Politiker des 16. und 17. Jahrhunderts vorgetragen worden sind.67 Später, im Vorfeld wachsender mächtepolitischer Auseinandersetzungen während des Revolutionszeitalters, verdichteten sich die Europa-Planungen in zunehmend realpolitischer Perspektive zur Überzeugung von der Notwendigkeit eines „Gleichgewichts der

62 Dazu jetzt Frank-Lothar Kroll und Hendrik Thoß (Hrsg.), Europas verlorene und wiedergewonnene Mitte. Das Ende des Alten Reiches und die Entstehung des Nationalitätenproblems im östlichen Mitteleuropa. Berlin 2011. 63 Vgl. den Überblick von Federico Chabod, Der Europagedanke. Von Alexander dem Großen bis Zar Alexander I. Stuttgart 1963, bes. S. 100 ff.; knapper ders., Der Europagedanke (1947). Wiederabgedruckt in: ders., Italien – Europa. Studien zur Geschichte Italiens im 19. und 20. Jahrhundert. Mit einem Vorwort von Rudolf von Albertini. Göttingen 1962, S. 13 – 57; ferner pointiert Geoffrey Barraclough, Die Einheit Europas als Gedanke und Tat. Göttingen 1964, bes. S. 23 ff. 64 Vgl. Frank-Lothar Kroll, Erasmus von Rotterdam. Humanismus und Theologie im Zeitalter der Reformation. In: Helmut Altrichter (Hrsg.), Persönlichkeit und Geschichte. Erlangen/Jena 1997, S. 57 – 67. 65 Vgl. Jochen Zenz-Kaplan, Das Naturrecht und die Idee des Ewigen Friedens im 18. Jahrhundert. Bochum 1995, S. 65 – 121. 66 Dazu speziell Fritz Dickmann, Friedensrecht und Friedenssicherung. Studien zum Friedensproblem in der Geschichte. Göttingen 1971, bes. S. 36 ff., 112 ff. 67 Vgl. Klaus Malettke, Konzeptionen kollektiver Sicherheit in Europa bei Sully und Richelieu. In: August Buck (Hrsg.), Der Europa-Gedanke. Tübingen 1992, S. 83 – 106.

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Staaten“,68 welches das Zusammenleben der europäischen Nationen durch ein völkerrechtlich gesichertes „Konzert der Mächte“ garantierte, „das keiner einzelnen, die Hegemonie anstrebenden Macht gestattete, stärker als die anderen zusammen zu sein“.69 Kein Geringerer als Immanuel Kant (1724 – 1804) hatte das aus alledem resultierende, den Traditionen zahlreicher bedeutender Vorgänger verpflichtete Sehnsuchtsbild eines „Ewigen Friedens“ 1795 in gültiger Form und mit weitstrahlender Wirkung präsentiert.70 Dennoch führt ein Blick auf die Ereignisgeschichte des Kontinents zu der ernüchternden Erkenntnis, dass nicht die Papierrosen der Dichter und Denker für das europäische Einheitsstreben entscheidend gewesen sind, sondern dass alle realpolitisch maßgeblichen Versuche zur Einigung Europas bis zum Epochenjahr 1945 ausnahmslos im kriegerischen Gewand hegemonial-imperialistischer Vergewaltigungsszenarien dahergekommen sind. Vier derartige Anläufe zur „Vereinigung“ Europas in einem gemeinsamen Herrschaftsraum lassen sich, im Rückgriff auf entsprechende Beobachtungen Ludwig Dehios (1888 – 1963), während des letzten Halbjahrtausends europäischer Geschichte diagnostizieren.71 Den ersten, noch halbwegs eingehegten Versuch zur Erlangung einer europäischen Hegemonialstellung unternahm, im ausgehenden 16. Jahrhundert, König Philipp II. von Spanien (1527 – 1598). Gestützt auf sein – seit 1580 durch Portugal und dessen Überseebesitzungen – zusätzlich vermehrtes Imperium schickte er 1588, nach dem kläglich gescheiterten Versuch einer dynastischen Liaison mit dem Inselreich, seine schwerbewaffnete „Armada“ in die Seeschlacht gegen das Elisabethanische England, um den letzten ernsthaft noch verbleibenden machtpolitischen Rivalen in Europa auszuschalten – Frankreich war damals infolge innerer konfessioneller Streitigkeiten weitestgehend gelähmt. Spanien verlor den Kampf gegen England – und versank danach zusehends in die politische Bedeutungslosigkeit. Der zweite Versuch zur gewaltsamen Etablierung einer hegemonial begründeten Einheit des Kontinents erwuchs dem europäischen Mächtesystem seit den späten 1680er Jahren aus den kriegerischen Unternehmungen König Ludwigs XIV. von Frankreich (1638 – 1715). Dessen Eindringen in die südlichen Niederlande 1667/ 68 Zum gesamten Themenkomplex weiterhin maßgeblich und unübertroffen Heinz Gollwitzer: Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. 2., neubearb. Aufl. München 1964, bes. S. 71 – 77, 128 – 145; spezieller Kurt Kluxen, Zur Balanceidee im 18. Jahrhundert (1978). Wiederabgedruckt in: ders., England in Europa. Studien zur britischen Geschichte und zur politischen Ideengeschichte der Neuzeit. Hrsg. von Frank-Lothar Kroll. Berlin 2003, S. 106 – 121. 69 Theodor Schieder, Begriff und Problem (wie Anm. 50), S. 6. 70 Dazu noch immer maßgeblich Kurt von Raumer, Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance. Freiburg/München 1953, S. 151 – 207; vgl. die weiterführende Kritik von Heinz Gollwitzer, Ewiger Friede. Zu einem Buche Kurt v. Raumers. In: Archiv für Kulturgeschichte 37 (1955), S. 352 – 357. 71 Vgl. Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte. Krefeld 1948.

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68 ebenso wie die seit 1679 systematisch betriebene Zerstörung und Okkupation elsässischer, saarländischer, luxemburgischer und rheinpfälzischer Städte,72 und erst recht der 1701 angezettelte Krieg zur Gewinnung Spaniens für die Bourbonendynastie zielten allesamt auf die Errichtung einer französischen „Universalmonarchie“.73 Damals bedurfte es, unter Aufbietung ungeheurer Blutopfer, einer großen Allianz der europäischen Mächte, die England, die Niederlande, das Habsburgische Imperium, Portugal, Savoyen und die meisten deutschen Reichsterritorien zur erfolgreichen Abwehr der französischen Hegemonialbestrebungen und ihrer bis dahin präzedenzlosen Völkerrechtsbrüche zusammenführte. Vergleichbares galt für die dritte, ebenfalls von Frankreich ausgehende hegemonialpolitische Unternehmung. Deren Initiator, Napoleon Bonaparte (1769 – 1821), seit 1804 selbsternannter „Kaiser der Franzosen“, erstrebte, nach vorbereitenden Expansionsschritten französischer Revolutionsarmeen, eine staatenbündische Zusammenfassung des Kontinents unter seiner Oberherrschaft. In weitgehender Übereinstimmung mit den hegemonialpolitischen Zielen des „Roi Soleil“74 beschwor die napoleonische Europa-Ideologie75 immer erneut die Tradition des karolingischen Imperiums als einheitsstiftende Referenzgröße für ein „gesamteuropäisches“ Bewusstsein.76 Immerhin gehörten seit Anfang 1812, kurz vor der Erhebung Europas gegen das imperialistische Eroberungsbestreben des korsischen Diktators, norddeutsche Städte wie Münster, Minden, Lübeck oder Lüneburg bereits zum Territorialbestand des französischen Kaiserreichs. Die vierte und, wie man hoffen darf, wohl letzte hegemonial-politische Vergewaltigung des Kontinents unternahm – nach dem spanischen Versuch im 16. und den beiden französischen Versuchen im 18. und 19. Jahrhundert – das nationalsozialistische Deutschland unter Planung und Führung Adolf Hitlers (1889 – 1945). Dessen düsteres Zukunftsszenarium eines „germanisch“ besiedelten und beherrschten Ostimperiums, begleitet von deutschen Superioritätsansprüchen im europäischen Westen, Nor72 Dazu paradigmatisch Kurt von Raumer, Die Zerstörung der Pfalz von 1689. Im Zusammenhang der französischen Rheinpolitik. München/Berlin 1930, bes. S. 54 ff. 73 Das kümmerliche Produkt von Franz Bosbach, Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegriff der frühen Neuzeit. Göttingen 1988, S. 107 – 121, ist von der Thematik intellektuell überfordert. 74 Dazu perspektivenreich Rudolf Vierhaus, Überstaat und Staatenbund. Wirklichkeit und Ideen internationaler Ordnung im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons. In: Archiv für Kulturgeschichte 43 (1961), S. 329 – 254. 75 Darüber zuletzt Thomas R. Kraus, Napoleon – Aachen – Karl der Große. Betrachtungen zur napoleonischen Herrschaftslegitimation. In: Mario Kramp (Hrsg.), Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos. Katalog zur Ausstellung des Vereins Aachener Krönungsgeschichte e. V., 11. Juni bis 3. Oktober 2000. Bd. 2. Mainz 2000, S. 699 – 707. 76 Zur „Karlsideologie“ vgl. in diesem Zusammenhang Wolfgang Burgdorf, „Chimäre Europa“. Antieuropäische Diskurse in Deutschland 1648 – 1999. Bochum 1999, S. 41 – 46, 87 – 91; ferner ders., „Süße Träume“. Vorbehalte gegen europäische Einigungskonzeptionen in der Frühen Neuzeit. In: Jahrbuch für Europäische Geschichte 2 (2002), S. 133 – 162, hier speziell S. 152 ff.

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den und Südosten, mochte sich in seiner Monstrosität von den vorausgegangenen Bestrebungen zur Etablierung eines europäischen Universalreiches einigermaßen unterscheiden. Prinzipiell jedoch, zumal aus machtpolitischer Perspektive, waren Hitlers Ziele solchen Bestrebungen verwandt und wurden von den Promotoren und Propagandisten des „Dritten Reiches“ in entsprechend konstruierte Traditionszusammenhänge einzubinden versucht.77 Auch die Modalitäten, mittels derer sich das europäische bzw. Welt-Staatensystem der nationalsozialistischen Bedrohung zu erwehren wusste – gipfelnd im solidarischen Handeln der Gefährdeten und Unterworfenen unter führender Stellung Englands78 –, ähnelten den Abwehrmechanismen gegenüber hegemonialen Pressionen in vorangegangenen Zeiten. Im Rückblick auf solch immer wieder gebotene Vergewaltigungsszenarien triumphierte letztlich das Freiheitsverlangen der existenziell gefährdeten Nationen. Nur ein einziges Mal unterlagen dabei große Teile des Kontinents dem Imperialstreben einer regionalpolitisch dominierenden Hegemonialmacht: Mittel- und Osteuropa, die zwar der Eingliederung in Hitlers rassenideologisch motiviertes „Weltreich“ glücklich zu entkommen vermochten, jedoch stattdessen zur Unterwerfung unter ein kaum weniger barbarisch agierendes System brutalster Fremdherrschaft gezwungen wurden. Die revolutionären Umwälzungen von 1989/90 haben dann bekanntlich nicht nur die Befreiung Mittel- und Osteuropas vom Druck sowjethöriger Satellitenregime gebracht, sondern zugleich auch das gepeinigte Russland vom Jahrhundertfluch des Bolschewismus erlöst. Dieses unverhoffte Wandlungsgeschehen hat, einmal mehr, die Idee der Freiheit als ein beherrschendes Thema der europäischen Geschichte ins Licht gesetzt – der Kampf um ihre Realisierung erscheint daher, ebenso wie das Ringen um ihre Stabilisierung, als eine dritte maßgebliche Entwicklungsperspektive, die das neuzeitliche Europa gegenüber allen anderen Weltregionen auszeichnet. Dass „der Mensch durch sich selbst bestimmt ist, frei zu sein“, hatte bereits Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) als Fundament eines genuin europäischen Selbstbewusstseins identi-

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Dazu noch immer maßgeblich Paul Kluke, Nationalsozialistische Europaideologie (1955). Wiederabgedruckt in: ders., Außenpolitik und Zeitgeschichte. Ausgewählte Aufsätze zur englischen und deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Hellmut Seier und Dieter Rebentisch. Wiesbaden 1974, S. 188 – 222; ferner Michael Salewski, Europa. Idee und Wirklichkeit in der nationalsozialistischen Weltanschauung und politischen Praxis. In: Otmar Franz (Hrsg.), Europas Mitte. Göttingen/Zürich 1987, S. 85 – 106; Frank-Lothar Kroll, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich. 2. Aufl. Paderborn/München/Wien/Zürich 1999, S. 147 ff., 220 f., 304 ff.; ders., Die Reichsidee im Nationalsozialismus (1999). Wiederabgedruckt in: ders., Totlalitäre Profile. Zur Ideologie des Nationalsozialismus und zum Widerstandpotenzial seiner Gegner. Berlin 2017, S. 169 – 187; ders., Europavorstellungen und europäische Neuordnungspläne im deutschen Widerstand. In: ebd., S. 253 – 274, bes. S. 267 ff. 78 So die treffende Beobachtung von Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie (wie Anm. 71), S. 288 ff.

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fiziert.79 Ein solches Selbstbewusstsein konkretisiert sich in der Sphäre des Geschichtlichen als Forderung nach einer durch Recht und Gesetz gewährleisteten Sphäre individueller Daseinsgestaltung und, politisch gewendet, nach Etablierung einer dem entsprechenden Gesellschaftsordnung. Alle drei europäischen Geschichtsregionen, der „Osten“ ebenso wie der „Westen“ und die „Mitte“ des Kontinents, haben an dem damit einhergehenden Emanzipationsprozess, dem Weg zur Freiheit als „Losungswort“80 europäischen Wesens, ihren Anteil genommen. Zwar besaß der westeuropäische Raum, besaßen England und Frankreich zumal, bei der Herausformung dieser „freiheitlichen“ Entwicklungsperspektive einen gewissen zeitlichen Vorlauf gegenüber den Regionen der „Mitte“ und denen des „Ostens“. Auch mögen hier gewisse retardierende Momente – etwa die gewaltsame Rekatholisierung in Böhmen und Ungarn, oder die zeitlich versetzten Impulse der Aufklärung in Südosteuropa – mancherlei Verzögerungen mit sich gebracht haben. Russland jedoch hatte am Formierungsprozess europäischer „Modernität“ seit Beginn des 18. Jahrhunderts seinen Anteil81 und befand sich spätestens nach den umfassenden Modernisierungsmaßnahmen, mit denen Zar Alexander II. (1818 – 1881) sein Land an „europäische“ Standards anzupassen versuchte, endgültig auf dem Weg in die „moderne Welt“, deren Errungenschaft Ernst Troeltsch (1865 – 1923) 1903 als „Kultur der freien Ausgestaltung der humanen Lebenszwecke“ treffend gerühmt hat.82 Das bolschewistische Russland hingegen hat sich einer solchen Zielvorgabe von Anfang an entschieden widersetzt, weder Lenin (1870 – 1924) noch gar Stalin (1879 – 1953) gestanden dem (im sozialistischen Sinn) „allseitig entwickelten Menschen“ das Recht zur Entfaltung individueller Lebensweisen zu, von emanzipatorischen oder partizipatorischen Formen politischen Agierens ganz zu schweigen. Die bolschewistische Ideologie unterwarf den Einzelnen – in unbedingter Gegnerschaft zu allen freiheitlichen Traditionen europäischer Gesittung und Kultur – vielmehr der absoluten Verfügungsmacht einer dirigierenden und kontrollierenden Staats- und Parteispitze, die über das „richtige“ Bewusstsein der Menschen zu wachen hatte.

79 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Sämtliche Werke. Hrsg. von Hermann Glockner. Bd. 11: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Mit einem Vorwort von Eduard Gans und Karl Hegel. Stuttgart 1928, S. 524. 80 Jürgen Schlumbohm, Freiheitsbegriff und Emanzipationsprozeß. Zur Geschichte eines politischen Wortes. Göttingen 1973, S. 23. 81 Dazu perspektivenreich Felix Philipp Ingold, Die Faszination des Fremden. Eine andere Kulturgeschichte Rußlands. München 2009, S. 125 ff.; ferner die gelehrte Darstellung von Alexander von Schelting, Rußland und der Westen im russischen Geschichtsdenken der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aus dem Nachlaß hrsg. und bearb. von Hans-Joachim Torke. Berlin 1989, bes. S. 61 ff., 183 ff. 82 Ernst Troeltsch, Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie. Hrsg. von Hans Baron. Tübingen 1925, S. 825.

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Im Blick auf das spezifische Freiheitsverständnis in der altrussischen, vorbolschewistischen Tradition83, das stark vom Gedanken einer gemeinschaftsbezogenen Selbstverwirklichung bestimmt war, empfiehlt sich allerdings ein Hinweis darauf, dass Freiheit nicht nur gemäß westlich-liberaler Überlieferung „im Sinne eines bedingungslosen Beliebens“84 als Realisierung persönlichen Emanzipationsverlangens verstanden werden kann, was bekanntlich schon von Montesquieu (1689 – 1755) im Bezug auf die englischen Freiheitsrechte mahnend betont worden war.85 Das Gegenbild einer Freiheit in der verantwortungsvollen Gebundenheit des Dienstes hatten, mehr noch als manche russischen Denker, vor allem Vertreter der deutschen konservativen Staatslehre des 19. Jahrhunderts formuliert,86 gemäß derer der Einzelne nur dann wirklich „frei“ war, wenn er sich in eine als notwendig und zugleich sinnvoll erkannte Ordnung einfügte, wenn er sich einer Lebensform verschrieb, deren Bindungen er zu akzeptieren und innerhalb derer er sich seinen Fähigkeiten entsprechend entfalten konnte. Freiheit galt hier nicht als Freiheit von etwas – beispielsweise als bloße Abwesenheit von staatlichen Zwängen oder als Verneinung gesellschaftlicher Konventionen. Freiheit erschien vielmehr als Freiheit zu etwas hin – als Entscheidung für einen übergeordneten Wert und für eine transpersonale Institution, die diesen Wert verkörperte.87 Unverkennbar steht eine solche Interpretation von „Freiheit“ in denkbar größtem Kontrast zum libertinären Freiheitsverständnis der „western civilization“, das mittlerweile zumeist als einzig denkbare Variante „freiheitlicher“ Gesinnung erscheint. Unter einer umfassenden historischen Perspektive, die auch alternative „Freiheits“Konzeptionen der skizzierten Art einbezieht, gewinnt das Thema „Freiheit in der Geschichte Europas“ indes eine weit über alle geläufigen westlich-liberalen „Modelle“ hinausweisende Attraktivität.

83 Dazu Reinhard Wittram, Das Freiheitsproblem in der russischen inneren Geschichte. Gedanken zu einigen Fragestellungen. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 2 (1954), S. 369 – 386; spezieller Isaiah Berlin, Russische Denker. Frankfurt am Main 1981, S. 124 – 103; ders., Zwei Freiheitsbegriffe (1958). Wiederabgedruckt in: ders., Freiheit. Vier Versuche. Frankfurt am Main 1995, S. 197 – 256. 84 So Rudolf Bultmann, Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit für die abendländische Kultur. In: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze. Bd. 2. 5., erw. Aufl. Tübingen 1968, S. 274 – 298, hier S. 281. 85 Dazu grundlegend und umfassend Hans-Christof Kraus, Englische Verfassung und politisches Denken im Ancien Régime 1689 bis 1789. München 2006, S. 169 – 178. 86 Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Die „deutsche Idee der Freiheit“ (1992). Wiederabgedruckt in: ders., Bürgerliche Kultur und politische Ordnung. Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle in der deutschen Geschichte 1830 – 1933. Frankfurt am Main 2000, S. 133 – 157. 87 Zur entsprechenden Tradition Frank-Lothar Kroll, Konservatismus in Deutschland nach 1945 – Probleme und Perspektiven. In: Hans Zehetmair (Hrsg.), Zukunft braucht Konservative. Freiburg/Basel/Wien 2009, S. 12 – 38, hier S. 30 f.; vgl. bereits ders., Die kupierte Alternative. Konservatismus in Deutschland nach 1945. In: ders. (Hrsg.), Die kupierte Alternative. Konservatismus in Deutschland nach 1945. Berlin 2005, S. 3 – 24.

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III. Eine zumindest partielle Abkehr von wohlfeilen Geschichtsinterpretationen „westlicher“ Prägung, wie sie vor 1989 im intellektuellen Milieu der „Bonner Republik“ dominierten, empfiehlt sich angesichts der Rückkehr der Länder Mittel- und Osteuropas in das „Gemeinsame europäische Haus“ seit der Weltwende von 1989/ 90 ohnehin als Richtlinie für eine integrale europäische Geschichtsschreibung am Beginn des 21. Jahrhunderts. Nicht nur den Verfechtern einer dezidiert „ostmitteleuropäischen“ Historiographie88 dürfte nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ eine Inblicknahme des europäischen Ostens als bloßes Anhängsel zur „Mitte“ und zum „Westen“ in hohem Maße verfehlt erscheinen. Jahrzehntelang waren solch „westliche“ Denkmuster nachdrücklich kultiviert worden. Kein Geringerer als Leopold Ranke (1795 – 1886) hatte 1824 im Einleitungskapitel zu seinem Erstlingswerk „Geschichte der Romanischen und Germanischen Völker 1494 – 1514“ ein Geschichtsbild präsentiert, das ausdrücklich nur die romanisch-germanische Welt einer historiographischen Berücksichtigung für würdig hielt, den slawischen Völkern hingegen eine solche „Geschichtsfähigkeit“ kategorisch absprach und damit den gesamten Ostraum vom Tableau europäischer Geschichtsschreibung faktisch ausschloss.89 Die seitdem weithin dominierende Vorstellung einer „romanisch-germanischen Kulturgemeinschaft als Inbegriff der […] europäischen Geschichte“90 war dann unter dem Eindruck der verheerenden Zwangsherrschaft des Bolschewismus in Osteuropa noch einmal nachhaltig befördert worden. Selbsternannte Apologeten einer derart oberflächlichen „abendländischen“ Geschichtsschau – allen voran Arnold Bergstraesser (1896 – 1964),91 Christopher Dawson (1889 – 1970),92 Albert Mirgeler (1901 – 1979)93 und Gonzague de Reynold (1880 – 1970)94 – überboten sich seit 88

Etwa – in brillanter Interpretation – Karl Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang. München/Wien 2002, bes. S. 234 ff. 89 Vgl. bereits Gerhard Masur, Rankes Begriff der Weltgeschichte. München/Berlin 1926, S. 66 ff. 90 So – in kritischer Sicht – Herbert Ludat, Die ältesten geschichtlichen Grundlagen für das deutsch-slawische Verhältnis (1959). Wiederabgedruckt in: ders., Deutsch-slawische Frühzeit und modernes polnisches Geschichtsbewußtsein. Ausgewählte Aufsätze. Köln/Wien 1969, S. 131 – 162, hier S. 132; ähnlich ders., Ostmitteleuropa und unser Geschichtsbild (1955). Wiederabgedruckt in: Ebd., S. 283 – 292, bes. S. 285 f. 91 Z. B. Arnold Bergstraesser, Europa als geistige und politische Wirklichkeit. In: Martin Göhring (Hrsg.), Europa – Erbe und Aufgabe. Internationaler Gelehrtenkongress Mainz 1955. Wiesbaden 1956, S. 289 – 298. 92 Christopher Dawson, Die Gestaltung des Abendlandes. Eine Einführung in die Geschichte der abendländischen Einheit. 2., verbesserte Aufl. Köln 1950, S. 275 ff.; ders., Die Religion im Aufbau der abendländischen Kultur. Düsseldorf 1950, S. 163 – 184; ders., Europa. Idee und Wirklichkeit. München 1953, S. 83 – 99. 93 Albert Mirgeler, Geschichte Europas. Freiburg 1953; ders., Revision der europäischen Geschichte. München 1971. 94 Gonzague de Reynold, La Formation de l’Europe. Bd. 1: Qu’est ce que l’Europe. Freiburg/Schweiz 1944, S. 55 ff.

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den 1950er Jahren geradezu im Lobpreis des „karolingischen“ Europas, das als Muster für die eigene, überdies katholisch beschränkte Weltsicht diente, die sich, merkwürdig genug, jeder Bezugnahme auf ein „Europa“ östlich der Trennlinien des „Eisernen Vorhangs“ starköpfig verschloss. Doch auch manche liebevoll gepflegten Deutungsschablonen der neueren westdeutschen Geschichtsschreibung sind seit der „Öffnung“ des Ostens hinfällig geworden. Das gilt besonders für die von den Repräsentanten einer „Historischen Sozialwissenschaft“ zeitweise mit großem Aplomb verfochtene „Modernisierungstheorie“. Orientiert an der Kategorie gesellschaftlichen „Fortschritts“ als vermeintlicher Folgeerscheinung der Industriellen Revolution des frühen 19. Jahrhunderts, erhoben die Vertreter dieser „Theorie“, allen voran Hans-Ulrich Wehler (1931 – 2014), den Entwicklungsstandard des „Westens“ vollmundig zur normativen Leitgröße jeglicher geschichtswissenschaftlicher Analyse.95 Sie versuchten damit nicht nur das Wahngebilde eines „deutschen Sonderwegs“ zu legitimieren,96 sondern vermochten darüber hinaus die vergangene politische Wirklichkeit Mittel- und Osteuropas stets nur defizitär zu deuten: als „nachholende Modernisierung“, als rückständig und verspätet gegenüber den „vorbildlichen“ zivilisatorischen Errungenschaften des „Westens“. Gegenüber solchen Blickverbiegungen hat eine zeitgemäße europäische Geschichtsschreibung den besonderen Beitrag der „Mitte“ und des „Ostens“ zur Gesamtgeschichte Europas angemessen zu gewichten. Dazu zählt, nicht zuletzt, jenes spezifisch ständisch-korporative Element in den Verfassungsstrukturen der mitteleuropäischen Länder – Böhmens, Ungarns und Polens –, deren libertäre und partizipatorische Elemente zwar dem einstmaligen „Erfolgsmodell“ absoluter Fürstenmacht seinerzeit nicht gewachsen waren, die jedoch „unterhalb der landesfürstlichen Zentralsphäre“97 Vorformen „moderner“ parlamentarischer Kommunikation zu realisieren, vielleicht gar zu antizipieren vermochten.98 Auch die bis zum Einbruch des Bolschewismus in den östlichen Regionen Europas weitaus länger als im Westen bewahrte traditionelle Sozialordnung mit bäuerlichem Gemeinschaftsbesitz, solidarischer Gesamthaftung der Agrarkommune gegenüber dem Grundherrn und einer 95

So Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte. Göttingen 1975, bes. S. 8 ff.; zögerliche Relativierung dieser mittlerweile gründlich verfehlten Sichtweise bei Thomas Mergel, Geht es weiterhin voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne. In: ders. und Thomas Welskopp (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte. München 1997, S. 203 – 232. 96 Zu dessen Delegitimierung vgl. jetzt Frank-Lothar Kroll, Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg. Berlin 2013, bes. S. 7 ff. 97 So Wolfgang Neugebauer, Standschaft als Verfassungsproblem. Die historischen Grundlagen ständischer Partizipation in ostmitteleuropäischen Regionen. Mit einem Geleitwort von Klaus Zernack. Goldbach 1995, S. 14. 98 Diese Sicht vor allem bei Klaus Zernack, Osteuropa (wie Anm. 8), S. 38 f, 71 f., 80; vgl. explizit ders., Staatsmacht und Ständefreiheit. Politik und Gesellschaft in der Geschichte des östlichen Mitteleuropa. In: Hugo Weczerka (Hrsg.), Stände und Landesherrschaft in Ostmitteleuropa in der Frühen Neuzeit. Marburg 1995, S. 1 – 10.

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daraus – jenseits aller slawophilen Mystifikationen99 – resultierenden vor-kapitalistischen, nicht-profitorientierten Wirtschaftsmentalität wirken, als spezifische Entwicklungsmomente des osteuropäischen Geschichtsraums, gerade in ihrer Unzeitgemäßheit mittlerweile beinahe bereits wieder „modern“ und bieten wertvolle Bausteine für eine vom „westlichen“ Paradigma Abstand nehmende Sichtweise. Dass im Blick auf den Prozess der Kulturvermittlung und Kulturvereinheitlichung, universalhistorisch betrachtet, ein gewisser Zivilisationsvorsprung der westlichen, speziell der mediterranen Welt gegenüber dem europäischen Osten (und Norden) zu verzeichnen ist, haben im übrigen gerade die Verfechter einer dezidiert „ostmitteleuropäischen“ Geschichtsschreibung stets betont – und dabei auch die hochmittelalterliche deutsche Ostsiedlung, jenseits aller Polemik, als „Anpassung und Gleichwertigmachung [des Ostens] an den Bereich der abendländischen Hochkultur“ zu sehen gelehrt.100 Angesichts der Fülle des bisher Dargebotenen mag die abschließend erneut gestellte Frage nach dem inneren Gehalt der europäischen Geschichte, nach ihren einheitsstiftenden Motiven und ihren gemeinsamen, allseits verbindlichen Grundlagen, weiterhin auf eine gültige Antwort warten. Eine „Europäische“ Geschichte, soviel dürfte mittlerweile deutlich geworden sein, kann es, ebenso wie eine ihre Verläufe und Strukturen nachzeichnende „Europäische“ Geschichtsschreibung, nur geben in Ansehung einer europäischen Identität.101 Eine europäische Identität aber bezieht sich auf Normen und Werte, die – jenseits aktueller Erfordernisse – von historischkulturellen Gegebenheiten gespeist werden. In historischer Perspektive war es das Christentum in seiner westlichen und östlichen Variante, das, länger als ein ganzes Jahrtausend, als identitätsformendes Moment, als stärkster Faktor eines gesamteuropäischen Bewusstseins wirkte und in dieser Funktion heute keineswegs ausgedient hat. Dieses Bewusstsein wird indes überlagert und ergänzt von anderen Formelementen, aufklärerischen Traditionen etwa, die sich dem Prinzip der Menschenwürde und der Menschenrechte verdanken und einen weit über Europa hinausweisenden Wirkungsraum beanspruchen. Doch das sind Werte und Maßstäbe, die sich dem christlichen Erbe Europas nicht nur bruchlos einfügen, sondern, recht besehen, überhaupt erst aus ihm hervorgehen. Die Erfahrung europäischer Gemeinsamkeiten – und mithin die europäische Identität – orientiert sich mittlerweile nicht mehr nur, wie in allen Jahrhunderten zuvor, an 99 Dazu eingehend Carsten Goehrke, Die Theorien über Entstehung und Entwicklung des „Mir“. Wiesbaden 1964, bes. S. 14 – 28. 100 So Herbert Ludat, Der polnische Beitrag zu einem europäischen Geschichtsbild (1963). Wiederabgedruckt in: ders., Deutsch-slawische Frühzeit (wie Anm. 90), S. 305 – 326, hier S. 312; vgl. zuletzt Klaus Zernack, Der hochmittelalterliche Landesausbau als Problem der Entwicklung Ostmitteleuropas (1980). Wiederabgedruckt in: ders., Preußen – Deutschland – Polen. Aufsätze zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen. Hrsg. von Wolfram Fischer und Michael G. Müller. 2. Aufl. Berlin 2001, S. 185 – 202. 101 Zum Problem erhellend Rudolf Speth, Europäische Geschichtsbilder heute. In: Petra Bock und Edgar Wolfrum (Hrsg.), Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich. Göttingen 1999, S. 159 – 175.

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abstrakten Leitgrößen. Sie wird vielmehr durch die sehr konkrete Tatsache mitbestimmt, dass sich, jedenfalls im Westen des Kontinents, seit über 70 Jahren ein lebenspraktisch sehr wohl wahrnehmbares „Europa der Bürger“ formiert, dessen Gesellschaften sich zusehends einander annähern – sei es in den Modalitäten des Konsum-, Kommunikations- und Freizeitverhaltens, des Wirtschaftslebens oder der Geschmackskultur –, dessen politisch-institutioneller Rahmen jedoch, trotz entsprechender Bemühungen von europarechtlicher Seite,102 noch immer an bürgerschaftlichen Legitimationsdefiziten leidet. Ob sich darüber hinaus weitergehende Gemeinsamkeitsgefühle eines „BürgerEuropa“ identifizieren lassen, ob sich gar – in wirtschaftlichen Krisenzeiten – jenseits offiziell verordneter Maßnahmen und getroffener Entscheidungen einer oftmals nicht recht greifbaren EU-Bürokratie Solidaritätsempfinden und Opferbereitschaft in grenzüberschreitender Partnerschaft dauerhaft zu entfalten vermögen, ist bisher nicht zweifelsfrei erwiesen. Aktuelle Entwicklungen der Flüchtlings- und Asylproblematik weisen eher in eine entgegengesetzte Richtung. Vielleicht kann der Rückblick auf Probleme und Perspektiven einer Europäischen Geschichte, wie er hier versucht wurde, dazu beitragen, Orientierungspunkte auf dem auch weiterhin nicht leicht zu bewältigenden Weg der Europäer nach Europa anzubieten.

102 Vgl. z. B. Matthias Niedobitek und Simone Ruth (Hrsg.), Die neue Union. Beiträge zum Verfassungsvertrag. Berlin 2007; ders. und Jirˇí Zemánek (Hrsg.), Continuing the European Constitutional Debate. German and Czech Contributions from a Legal Perspective. Berlin 2008; zuletzt Patrick Stellbrink, Wesen und Wert der Europäischen Union. Gestalt und Entwicklungsperspektiven des europäischen Integrationsprojekts im Lichte der Gedanken Hans Kelsens. Berlin 2014, bes. S. 119 ff.

Die Suche nach einer neuen Erzählung von Europa Politische und demokratische Potentiale Von Emanuel Richter Abstract Es gibt alte und neuartige Narrative über Europa. Die alten unterlegen der supranationalen Integration eine immer weiter voranschreitende Eigenstaatlichkeit oder die bevorstehende Vollendung in Gestalt eines europäischen Bundesstaats; die neuen rekapitulieren die europäische Einigung sehr skeptisch als eine Geschichte von ökonomischer Dominanz der reichen über die armen Mitgliedstaaten, als eine kulturelle Hegemonie des „protestantischen“ über das „katholische“ Europa oder als zentralistisch ausgerichteten Angriff auf die nationale Homogenität. Demokratietheoretisch aufschlussreich erscheint dabei, dass die neuen Narrative der Europäischen Union zwar die Demokratiefähigkeit absprechen, aber ihrerseits als politischer Einspruch aus dem Volk gegen ein zweifelhaftes, bürgerfernes Institutionengefüge und damit als eine europapolitisch bedeutsame, demokratische Regung an der Basis zu betrachten sind. Prozesse der öffentlichen Bewusstmachung des Integrationsgeschehens setzen vermehrt politische Infragestellungen in Gang; die Europäische Union wird mit Gestaltungsalternativen konfrontiert. Es zeichnet sich ab, dass sich mehr Demokratie in Europa nicht unbedingt als ein Gewinn für die demokratische Legitimationsgrundlage der Europäischen Union niederschlägt, sondern sich gegen sie wenden kann. Es könnte ein europäischer Demos entstehen, der in dem supranationalen Regulierungssystem gar nicht mehr die ihm angemessene Polity erkennt.

I. Einleitung: Der Mangel an Demokratie in der europäischen Integration Die europäische Integration wird immer nachdrücklicher aus ihrem trägen Fluss breiter öffentlicher Akzeptanz gerissen und sieht sich vermehrt nagenden Zweifeln und tabulosen Infragestellungen ausgesetzt. Langjährige Europapolitiker rechnen schon mit einem Ende der Integration, Minister in Mitgliedstaaten fordern angesichts von Flüchtlingsströmen den Ausbau einer „Festung Europa“ – bislang eine Formel für das, was die Europäische Union (EU) gerade zu überwinden trachtet.1 Die auffällig gehäuften Stellungnahmen zur grundsätzlichen Lage europäischer Integration markieren zunächst einmal Stationen eines erstaunlichen „Quantensprungs in der öffentlichen Sichtbarkeit Europas.“2 Die darin zum Ausdruck kommende Skepsis und 1 2

Verheugen, 2015: 3; Leinen/Möller, 2015: 4; Mikl-Leitner, 2015: 2; Streeck, 2016: 47. Grande/Kriesi, 2015: 479.

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der Hang zu politischen Tabubrüchen signalisieren darüber hinaus bröckelnde Identitätskonstruktionen. Das kann man aus der Perspektive der Wahrung politischer Ordnung bedauern. Das kann man aber auch aus der Perspektive demokratischer Gestaltungsmacht für ein Indiz einer ganz neuartigen Entdeckung von Alternativen halten, die offen und kontrovers abgewogen werden. Es entstehen bislang völlig unbekannte oder verschwiegene, sich untereinander widersprechende Narrative der europäischen Integration. Ihr vermehrtes Aufkommen erscheint auch demokratietheoretisch interessant, weil sie ein öffentlich vollzogenes Nachdenken über die mögliche, gewünschte und verworfene Gestalt eines politischen Gebildes signalisieren, dessen Struktur, dessen Wirken und dessen Dynamik die Bürgerinnen und Bürger Europas bisher einfach nur hingenommen haben. Die in diese neuartigen Narrative eingebetteten Infragestellungen und kritischen Nachfragen gegenüber dem politischen Geschehen durchbrechen die bisher gepflegte, widerspruchslose öffentliche Hinnahme des Integrationsverlaufs. Das neuerwachte Interesse an der Vergegenwärtigung von unterschiedlichen Gestaltungsoptionen könnte möglicherweise Demokratiegewinne anzeigen. Zur Bereitschaft, auch nur vagen Aussichten auf Demokratiegewinne nachzujagen, liefert die mittlerweile seit 60 Jahren anhaltende Demokratieferne der europäischen Integration allen Anlass. Sie zeigt das notorische, seit Beginn der supranationalen Institutionenbildung zu beklagende Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit an, in Gestalt der Europäischen Union ein demokratisches Herrschaftssystem zu schaffen. Die Demokratie sollte darin in Gestalt eines voluntaristischen Einverständnisses mit der supranationalen Herrschaftsgewalt und durch ein seit 1979 vom Volk direkt gewähltes Europäisches Parlament (EP) mit entsprechenden legislativen Funktionen und entsprechenden Elementen der Gewaltenteilung entfaltet werden. Tragend in Hinblick auf die demokratische Legitimation war die Erwartung einer im öffentlichen Bewusstsein verankerten europäischen Solidar- und Schicksalsgemeinschaft sowie einer heranwachsenden Homogenität und Identität. Zugespitzt kann man sagen: Alle Demokratieerwartungen blieben hinter ihrem Erfüllungsanspruch zurück. Das vorausgesetzte voluntaristische Einverständnis schrumpfte, falls es überhaupt jemals konturiert ausgeprägt war, rasch zu einem „permissive consensus“, der eine bemerkenswert große Akzeptanz und Hinnahme der supranationalen Dynamik seitens der europäischen Bürgerinnen und Bürger hervorbrachte, aber mit öffentlichem Desinteresse und mit Ignoranz gegenüber der wachsenden politischen Machtfülle und vor allem gegenüber den vorhandenen oder nachträglich eingeführten bürgerschaftlichen Teilhaberechten einherging. Das EP hat sich tapfer und unnachgiebig die Direktwahl und eine beständige Befugniserweiterung erkämpft. Aber es ging nicht in der Entfaltung eines parlamentarischen Regierungssystems auf, in dem das Parlament die Exekutive bestellt, kontrolliert und die Zentralinstanz der Gesetzgebung bildet. Außerdem fehlt dem EP immer noch ganz fundamental die Öffentlichkeits- und Rekrutierungsfunktion. Die Bürgerinnen und Bürger behandeln das EP nicht als ihre repräsentative Vertretungskörperschaft, was sich daran zeigt, dass wachsende Parlamentsbefugnisse von sinkender Wahlbe-

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teiligung begleitet werden. Die europäischen Funktionseliten entstammen nicht einem Ausleseprozess aus dem EU-Parlament, sondern sind die Begünstigten von mitgliedstaatlichen Selektionsprozessen. Schließlich ist die Umstellung der Identitätskonstruktion von nationalstaatlich-antagonistisch auf transnational-kooperativ auf halbem Weg steckengeblieben. Die Abkehr von einer kollektiven Konfrontation unter den Angehörigen kriegerisch rivalisierender Nationalstaaten ist zwar nachhaltig gelungen. Aber die Kreation einer europäischen Solidargemeinschaft mit wechselseitiger Hilfs- und Haftungsbereitschaft hat ihre Grenzen erreicht, wie die Eurokrise, die Griechenland-Krise und die Flüchtlingskrise eindrucksvoll demonstrieren. Kurz: Das europäische Volk wendet sich nicht interessiert, überzeugt und solidarisch seiner kooperativen Verflechtung zu. Das europäische Volk als Gemeinschaft aller EU-Bürgerinnen und Bürger gibt es vielmehr gar nicht – es zerfällt in Angehörige einzelner Mitgliedstaaten, die wachsende Kooperationszumutungen irritiert zur Kenntnis nehmen. Den demokratischen Restbestand bildet vor diesem Hintergrund die „output“-Legitimation der EU: Die Bürgerinnen und Bürger üben sich in der bislang eher widerspruchsarmen Akzeptanz von supranationaler Regulierungsvollmacht, die sich, zumindest für die Bürgerinnen und Bürger einiger EU-Mitgliedstaaten, in materiellem oder strategischem Nutzen niederschlägt. In dieser demokratisch trostlos wirkenden Ausgangslage sind allerdings einige markante Veränderungen zu beobachten, die sich in der zunehmenden Infragestellung von vermeintlichen Errungenschaften supranationaler Politikgestaltung und von gängigen Narrativen der europäischen Integration niederschlagen. Was man seit einigen Jahren, insbesondere seit der Eurokrise, verstärkt wahrnehmen kann, ist eine ungemein kritische, bisweilen despektierliche und feindselige öffentliche Prüfung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Erfüllungsansprüche europäischer Integration. Es entstehen schonungslos kritische, breitenwirksame Kontroversen darüber, aus welchen Impulsen und Dynamiken sich die gegenwärtige, eher erbärmliche Gestalt der supranationalen Integration speist, welchen Zielen sie zu genügen versucht und welche demokratischen Ansprüche sich damit verbinden.3 Entsprechende Prozesse des Hinterfragens gipfeln in vermehrten, öffentlich verkündeten Zweifeln an der Zweckerfüllung der bestehenden Ordnung. Sie äußern sich als – höchst unterschiedlich ausfallende – Rekapitulationen der Triebkräfte, die überhaupt in der supranationalen Entwicklung zur Geltung gelangen. Die Versuche einer hintergründigen Deutung des Integrationsgeschehens und der damit verbundene Streit über das angemessene Verständnis dessen, was in der politischen Realität vor sich 3 Bemerkenswerterweise erstreckt sich der Trend zur kritischen historischen Vergewisserung der Integrationsentwicklung auch auf die einschlägigen Wissenschaftsdisziplinen, insbesondere die Geschichtswissenschaft, die neuerdings ihre eigene Geschichtsschreibung der europäischen Integration mit viel Skepsis gegenüber den vordergründigen Narrativen disziplingeschichtlich rekapituliert, vgl. Kaiser/Varsori, 2010. Aber auch die Sozialwissenschaften pflegen ihre Zweifel hinsichtlich ihres Vertrauens auf eine linear verlaufende Erfolgsgeschichte der europäischen Integration, indem sie sich vermehrt mit den Tendenzen zur „Desintegration“ auseinandersetzen, vgl. De Bardeleben/Hurrelmann, 2011; Zimmermann/Dür, 2012.

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geht, können zunächst einmal als Anstöße zu einer „Politisierung“4 der öffentlichen Debatte über die europäische Integration bewertet werden: Es entstehen unter Betroffenen Kontroversen über diejenigen Vorgänge des Regierens, in die sie selbst als Urheber und Adressaten eingebunden sind. Diese Kontroversen schlagen sich in unterschiedlichen „Erzählungen“ über die Geschichte, die Struktur und den Richtungsverlauf der supranationalen Entwicklungen nieder. Ich möchte mich im Folgenden näher mit solchen Narrativen auseinandersetzen, um ihre demokratischen Implikationen zu prüfen: Sind sie Anzeichen nicht nur einer Politisierung der europäischen Öffentlichkeit, sondern auch Indikatoren einer nachdrücklicher denn je reklamierten demokratischen Anspruchshaltung? Es lassen sich vier auffällige Narrative ausfindig machen, die parallel nebeneinander existieren, sich teilweise untereinander ähneln, teilweise widersprechen, und insofern nicht alle eine richtige Lagebeschreibung liefern können. In diesen Narrativen sind bestimmte Vorstellungen über die Demokratie im Rahmen der supranationalen Integration angelegt, auf die ich besonderes Augenmerk richten werde (2). Danach möchte ich die Existenz sich einander widersprechender Narrative und die darin zum Ausdruck kommende Konkurrenz bei der Suche nach einer neuen, angemessenen Erzählung von Europa insgesamt demokratietheoretisch bewerten. Das ermöglicht eine genauere Einschätzung des demokratischen Potenzials, das der europäischen Integration vor dem Hintergrund neuartiger Narrative beigemessen werden kann (3). Ein Fazit hinsichtlich der demokratischen Konsequenzen aus der systemoppositionellen Dynamik, die sich in einigen der neuen Narrative ankündigt, beschließt diesen Aufsatz (4). II. Vier europäische Narrative Die Einsicht, dass es keine authentische, objektive Geschichte der europäischen Integration gibt, die verbindlich wiedergibt, wie die supranationale Integration einschließlich ihrer Organstruktur und Politikfelder wirklich verläuft und wie sie sich entwickelt hat, ist keineswegs selbstverständlich. Das bisher zu beobachtende Fehlen einer lebhaften, kontroversen öffentlichen Auseinandersetzung mit dem supranationalen Geschehen hat vielmehr lange Zeit über den Eindruck erweckt, es gäbe tatsächlich eine authentische Mastererzählung von Europa, die schlicht darstelle, was tatsächlich geschieht und geschehen sei. Diese scheinbar wahre Geschichte von der EU identifiziert die Initialimpulse zur europäischen Einigung in der europaweiten Sehnsucht nach Frieden nach zwei verheerenden Weltkriegen. Sie leitet daraus die stetig fortentwickelte Kooperationsbereitschaft ab, die bereitwillige Hinnahme einer den Nationalstaaten übergeordneten Entscheidungsinstanz und die Gründe für die kontinuierliche Ausdehnung des Teilnehmerkreises und der supranational zu regulierenden Politikfelder. Sie erkennt die Legitimationsgrundlagen der europäischen Integration in einem stillschweigenden Einverständnis aller betroffenen Bürgerinnen und Bürger mit der dabei entstehenden supranationalen Staatlichkeit, die 4

Grande/Kriesi, 2016: 481.

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zunächst die nationalstaatlichen Ordnungen überwölbt und sie dann ersetzt. Die Gründungsverträge der EU und die später hinzugekommenen Grundsatzdokumente liefern bis in die 1990er-Jahre hinein den wörtlichen Ausdruck einer solchen, aller Deutungsbedürftigkeit und aller Zweifel enthobenen, von der Finalität der vollendeten Staatlichkeit gekrönten Integrationsgeschichte. Die Überzeugungskraft der Präsentation einer solchen objektiven Geschichte der europäischen Einigung schwindet aber seit den massiven europäischen Krisen in der jüngsten Vergangenheit rapide. Es sind ganz neuartige Rekapitulationen der EU-Geschichte und der Integrationsdynamik entstanden, die das Geschehen und seine Triebkräfte mit bisher unbekannten Erklärungen versehen und damit die Logik einer einzig gültigen Mastererzählung torpedieren. Es handelt sich bei diesen Erklärungen nicht um akribische Versuche einer historisch authentischen Rekonstruktion der EU-Genese und ihrer Dynamik, sondern vielmehr um Interpretationen, die hinter dem realen Geschehen die internen Defekte und Ursachen für das gegenwärtig krisenhafte Erscheinungsbild ausfindig zu machen versuchen. Insofern findet weniger ein Streit um den wahren Verlauf des Integrationsgeschehens statt als vielmehr eine öffentliche, kontroverse Präsentation von Narrativen, die die Genese und Dynamik der supranationalen Integration als Problemgeschichte und als Folge einer von bestimmten Absichten getragenen, aber nicht planmäßig verlaufenden Politikgestaltung neu rekapitulieren und damit neu erklären. Das Aufeinandertreffen widerstreitender Narrative hinsichtlich des Integrationsverlaufs insgesamt ist insofern neu. Bisher existierte allenfalls eine kleine Kontroverse darüber, wie der Finanzierungsbedarf der supranationalen Organe zu beurteilen sei. Es gab die dichotomischen Argumentationen des „Europa-rechnet-sich“ gegen die Aufrechnung des „Cost-of-Non-Europe“.5 Nunmehr erstrecken sich die Kontroversen auf die europäische Integration insgesamt, werden weitgreifender und auch radikaler. Sie bleiben so antagonistisch, dass sie nicht gleichermaßen Anspruch auf eine glaubwürdige Erklärung des Geschehens reklamieren können. Im Moment lassen sich mindestens vier, kaum untereinander anschlussfähige Erzählungen über die supranationale Entwicklung ausfindig machen: Erstens gibt es das nahe an der erwähnten Mastererzählung angesiedelte Narrativ der schrittweisen Schaffung eines europäischen Bundesstaats, der aus einem konstitutionellen Gründungsdokument oder aus einer akuten Krisenlage hervorgehen, mithin durch Rechtsetzung oder Exekutivbeschlüsse geschaffen werden soll, nicht durch republikanische Basisbewegungen ertrotzt wird. Die Demokratie ist darin den konventionellen Legitimationsmustern nationalstaatlicher Regierungsgewalt nachempfunden. Zweitens existiert die Erzählung von der supranationalen Integration als Form einer Krisenverarbeitung bezüglich der zweiten industriellen Revolution, in deren Rahmen eine übermäßige staatliche Ausgabenpolitik in den 70er-Jahren mit hoher Überschuldung der öffentlichen Haushalte stattgefunden habe, was wiederum den einheitlichen Binnenmarkt als Instrument der Krisenbewältigung durch koordinierte Austeritätspolitik er5

Göler, 2012: 130.

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scheinen lasse, die aber mit dem Problem unterschiedlicher Wirtschaftsniveaus und Staatsverständnisse in den Nord- und Südländern der EU einhergehe. Nicht Demokratie erscheint hier als der Bezugspunkt der supranationalen Dynamik, sondern marktkonforme Wettbewerbsfähigkeit, die auf Kosten der politischen Teilhabe ganzer gesellschaftlicher Klassen geht. Drittens ist im Rahmen der Eurokrise die Erzählung einer Rivalität unter europäischen Kulturverständnissen entstanden, die im Moment die Dominanz des protestantischen Europa unter Führung Deutschlands hervorbringe und die romanischen Länder mit ihrer Vorstellung von einem lebensfrohen „Europe latin“ unterdrücke. Demokratie als Möglichkeit zur kulturellen Selbstentfaltung wird demnach nur den Bewohnern dominanter Regionen zuteil. Das vierte Narrativ bezieht sich auf die Europabilder im Rahmen eines rechtspopulistischen Euroskeptizismus. Dort wird die EU als ein verschwörerisches Projekt von politischen Eliten und ökonomischen Lobbyisten beschrieben, die danach trachten, sich mit Hilfe eines bürokratischen Zentralismus und supranationalen Dirigismus materielle Vorteile auf Kosten von Geringverdienern zu verschaffen. Die nationale Eigenständigkeit und der nationale Wohlfahrtsstaat würden den Zielen eines kompetitiven Binnenmarkts geopfert, Überfremdung durch die Anwerbung billiger Arbeitskräfte aus Drittstaaten werde hingenommen, die Bereitschaft zur Aufnahme von weltweiten Flüchtlingen werde als fadenscheiniges Tribut an einen abendländischen Kulturkosmos verbrämt. Die Entfaltung der Demokratie wird in diesem Narrativ nicht im EUSystem verortet, sondern in einer ethno-nationalistischen Gemeinschaftlichkeit angesiedelt, die mit einer stärkeren direktdemokratischen Präsenz der „kleinen Leute“ einhergehen muss. Einige der vier Narrative weisen Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Schnittstellen auf, insofern bleibt die Trennung teilweise künstlich, aber doch insofern gerechtfertigt, als dass sie sehr unterschiedlichen politischen Begründungszusammenhängen und Arenen entspringen. Die Ursprünge des ersten Narrativs, nämlich des Impulses, in Europa eine großräumige, verfasste Staatlichkeit nach dem Muster der USA zu etablieren, lassen sich bis zu einem Zeitpunkt zurückverfolgen, zu dem die supranationale Integration noch gar nicht in Gang gekommen war. Bereits im Verlauf des 19. Jahrhunderts standen aus europäischer Perspektive die USA für erfolgreichen Konstitutionalismus und Föderalismus auf großräumigem Gebiet, zugleich für eine politische Kohärenz, für Modernisierung und für wirtschaftlichen Fortschritt. Europa stand dagegen erst einmal für Zersplitterung, für die napoléonischen Kriege mit kontinentalen Ausmaßen, für wechselnde Konstellationen brisanter nationaler Rivalitäten unter Preußen, Russland, dem Habsburger Reich, Frankreich und Großbritannien, sowie für mühselige, blutige und diskontinuierliche Prozesse der nationalen Selbstfindung. Das Arsenal an ausgearbeiteten, aber nicht realisierten Ordnungsmodellen nach dem Muster der amerikanischen, konstitutionellen Staatlichkeit in der gesamten Geschichte europäischer Einigungsideale und späterer Reformvorstellungen ist legendär.6 Es zieht sich seit entsprechenden Einigungsplänen im 19. Jahrhundert über die europäischen Wi6

Richter, 1983; Hüttenberger, 1991; Loth, 2002.

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derstandskämpfer und ihre auf einen supranationalen Föderalismus fixierten Friedensvisionen bis zur bundesstaatlichen Gestaltungsvision des damaligen deutschen Außenministers Joschka Fischer in seiner berühmten „Humboldt-Rede“ aus dem Jahr 20007 und bis zu aktuellen Stellungnahmen aus dem Kreis nationalstaatlicher Exekutiven unter dem Druck der anhaltenden Eurokrise. In der seit Jahren schwelenden Europakrise erhält die Vision der staatlichen Einheit wieder Auftrieb. Einer der Wege zur Lösung scheint in einer resoluten, einem Bundesstaat nachempfundenen supranationalen Zentralisierung zu liegen, die schließlich auch das Steuerrecht und damit Finanzhoheit, Haushaltskontrolle und soziale Regulierung einschließt.8 Das alles entspricht dem Trend einer „wachsenden Verselbständigung der exekutiven und judikativen Unionsorgane.“9 Schon zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind angesichts der Hilfsbedürftigkeit einzelner Staaten in Krisenregionen die Einflüsse von exekutiven Kontrollorganen im Auftrag der EU beträchtlich angewachsen. Schaut man auf Griechenland, dann trifft die Aussage zu: „Stärker kann das Gewaltmonopol eines Nationalstaates gar nicht demoliert werden.“10 Die akut gefährdete Vollendung eines europäischen Binnenmarkts scheint eine zentralistische Staatlichkeit zu erfordern, weshalb es angemessen erscheint, von einem „Krisenkonstitutionalismus“ zu sprechen.11 Der europäische Bundesstaat soll von oben als Notmaßnahme dekretiert werden. Das schmälert alle demokratischen Erwartungen an eine neue supranationale Staatlichkeit. Möglichkeiten zu einer demokratischen Initialisierung von supranationaler Staatlichkeit werden gar nicht erst erwogen: beispielsweise das Lancieren einer Bürgerbewegung, die eine entsprechende Staatsbildung einfordert und in Gang setzt; oder öffentliche Kontroversen über alternative Ordnungsentwürfe; oder auch gestufte Verfahren der öffentlichen Information, Meinungsbildung und Referenda in dem schrittweise vorangetriebenen Prozess einer europäischen Konstitutionalisierung. Nicht einmal die Teilnahme der europäischen Bürgerinnen und Bürger an der Europawahl wird als Mittel begriffen, um auf die von Exekutiven veranlasste Konstitutionalisierung Europas irgendeinen spürbaren Einfluss nehmen zu können. Die Staatsbildung würde gegebenenfalls als „Sachzwang“ dekretiert, nicht als voluntaristische Gemeinschaftsbildung auf der Basis von Bürgerbewegungen, parlamentarischen Beratungsprozessen oder Referenda vollzogen.12 Vor diesem Hintergrund wirkt das Plädoyer, die europäischen Bürgerinnen und Bürger sollten sich verstärkt ihrer doppelten Rolle als nationale Souveräne und als supranationale Unionsbürger bewusst werden, wie ein verzweifelter Aufruf zum Einverständnis mit einer von oben verordneten Föderalisierung auf europäischer Ebene. 7

Fischer, 2000. Vgl. Glienicker Gruppe, 2013: 30 f. 9 Grimm, 2015: 328. 10 Hank, 2013: 17. 11 Bieling, 2013: 51. 12 Grimm, 2015: 332. 8

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Jürgen Habermas tritt in diesem Sinne erstaunlicherweise als prominentester Verfechter einer in seinen Augen konsequenten Demokratisierung im Rahmen der europäischen Krise in Erscheinung.13 Er sieht die Chance und dringende Notwendigkeit, aus der Perspektive der Bürgerinnen und Bürger Europas die Wirren der Krise gewissermaßen dazu zu nutzen, die „Konstituierung eines höherstufigen Gemeinwesens“ zu betreiben, in dem sie sich – das ist der Unterschied zu den konventionellen Vorstellungen eines europäischen Bundesstaats – zugleich als „künftige Unionsbürger und als Angehörige eines der Staatsvölker“ begreifen.14 Sie sollen sich zur Ausübung einer „geteilten Souveränität“ bereit finden.15 Zur Zielmarke dieses Prozesses erhebt aber auch Habermas einen supranationalen „verfassungsgebenden Prozess“, also die Konstitutionalisierung der EU.16 Im „Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik“ der europapolitischen Aktivistin Ulrike Guérot und des Schriftstellers Robert Menasse aus dem Jahr 2013 sowie in Guérots Buch „Warum Europa eine Republik werden muss“ von 2016 wird eine Rückbesinnung auf die Gründungsimpulse der europäischen Integration empfohlen, um das evidente Erfordernis eines europäischen Zusammenwachsens zu einer europäischen Republik zu vergegenwärtigen – gerade als Lösung für die Eurokrise und den drohenden Rückfall in eine Renationalisierung.17 Die europäische Republik erweist sich in der Substanz als ein föderaler Gesamtstaat mit unitarischen Tendenzen. Die demokratische Pointe des Republikanismus fällt auch in diesem Modell eher schwach aus: Die Beiden erwarten von einem „neu gestalteten Parlamentarismus“, der ein GesetzgebungsInitiativrecht und ein einheitliches Wahlrecht aufweist, den erwünschten partizipativen Schub.18 Die zweite Variante eines supranationalen Narrativs geht aus den historischen Rekapitulationen hervor, die sich angesichts der anhaltenden Krise der supranationalen Integration aufdrängen. Sie ist die von Sozialwissenschaftlern lancierte, eher akademische historische Narration einer europäischen Krise des Kapitalismus, mit der die Entwicklung der EU als Instrument einer „neoliberalen“ Dynamik eng verwoben ist. In jüngster Zeit ist sie pointiert von Wolfgang Streeck ausgearbeitet worden, andere Autoren wie Peter A. Hall, Claus Offe, Etienne Balibar oder Fritz W. Scharpf haben aber ihrerseits intensiv dazu beigetragen.19 Um den Bedürfnissen des Kapitals nach günstigen Produktionsbedingungen, Absatzmärkten und Investitionsmitteln genügen zu können, tendierten die öffentlichen Haushalte in den europäischen Nationalstaaten seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer fatalen Politik der Verschuldung – die zunächst einmal die erforderlichen Rahmenbedingungen für eine 13

Habermas, 2011; Habermas, 2013a; Habermas, 2013b. Habermas, 2011: 67. 15 Habermas, 2011: 73. 16 Habermas, 2011: 68. 17 Guérot/Menasse, 2013. 18 Vgl. Guérot/Menasse, 2013: 3. 19 Vgl. Balibar, 2005; Streeck, 2013a; Scharpf, 2015; Offe, 2016; Balibar, 2016.

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marktgerechte Wirtschaftsdynamik bereitstellte, aber langfristig die politischen Steuerungspotentiale der wirtschaftlichen Entwicklung verminderte. Die unumgängliche Internationalisierung der Märkte macht verstärkt grenzüberschreitende Regulierung, Einlagensicherung und Schuldeneintreibung erforderlich – wie sich anhand der Krisen in der Eurozone deutlich zeige.20 Das vollziehe sich in Gestalt neoliberaler Arrangements, verbunden mit Opfern der Bevölkerung involvierter Staaten. Streeck sieht einen Vormarsch „demokratisch gehörloser supranationaler Disziplinierungsagenturen“ in Gang.21 Insofern lässt sich die Entwicklung der supranationalen Integration, insbesondere das seit Jahrzehnten dominante Projekt des „Europäischen Binnenmarkts“, auch als Geschichte einer wachsenden „Abtretung von Allokationsentscheidungen an freie Märkte“ lesen.22 Wo aber diese Dynamik dominiert, droht die „Diktatur einer vor demokratischer Korrektur geschützten kapitalistischen Marktwirtschaft.“23 Die nationalen Regierungen werden in der Semantik der „Alternativlosigkeit“ zur vorherrschenden Dynamik dazu gezwungen, ihre Wirtschafts-, Sozial- und Rechtsordnungen den neoliberalen Maximen auf höherer Ebene anzupassen, und die supranationalen Institutionen wachsen zu demokratiefernen Erfüllungsgehilfen des Marktkonformismus empor.24 Im Rahmen der Eurokrise scheint eine technokratische Expertenherrschaft auf der Basis „machtvoller informaler Intergouvernementalität“ gefragt zu sein.25 Sie rückt von demokratischer Verfügungsgewalt weit ab, was sich beispielsweise in der wachsenden Macht eines Organs außerhalb jeglicher demokratischer Legitimation ausdrückt – der Rolle der Europäischen Zentralbank. Bemerkenswerterweise treten verstärkt intergouvernementale Vereinbarungen zur Krisenbewältigung, wie etwa „European Financial Stability Facility (EFSF)“, „European Stability Mechanism (ESM)“ an die Stelle supranationaler Verträge – womit die exekutive Steuerung durch politische Eliten außerhalb des EU-Vertragswerks in den Vordergrund tritt. Solche Tendenzen lösen Volkssouveränität durch einen undemokratischen „Souverän in Krisenzeiten“ ab26 und scheinen gar einen europapolitischen „autoritären Schwenk“ einzuleiten.27 Fritz W. Scharpf klassifiziert den gegenwärtigen Zustand in der Eurokrise dementsprechend als „Notstandsregime“, dem auf nationaler Ebene und erst recht auf europäischer Ebene die demokratische Legitimation abhanden komme.28 Die europäische Integration scheint einem postdemokrati20

Vgl. Streeck, 2013a: 139. Streeck, 2013a: 139. 22 Streeck, 2013a: 146. 23 Streeck, 2013b: 62. 24 Vgl. Streeck, 2013a: 153. 25 Möllers, 2015: 356. 26 Vgl. Guérot, 2013: 6. 27 Vgl. Vogel, 2013: 11. 28 Vgl. Scharpf, 2012: 60.

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schen Trend zu folgen, in dessen Verlauf sich die Elitenherrschaft festigt und umfassende demokratische Legitimationsansprüche einem partizipationsfernen öffentlichen Einverständnis mit exekutiven Notmaßnahmen weichen. Entschieden benennt Wolfgang Merkel die daraus resultierenden Vorbehalte gegen die supranationale Integration in ihrer gegenwärtigen Dynamik: „Das Demokratiedefizit der Europäischen Union wird sich vergrößern und weitere positive Integrationsschritte in der Zukunft verhindern. Einer Europäischen Union, die mit exekutiven Notstandsverfahren regiert, sollten keine weiteren Kompetenzen gegeben werden. […] Die Europäische Union ist aber als technokratische Gemeinschaft unter einem deutschen Praeceptor Europae weder überlebensfähig noch überlebenswert.“29 Am Ende ist ein von wirtschaftlichen Zwängen bestimmter „internationaler Superstaat ohne Demokratie“ zu erwarten – ein „marktwirtschaftliches Imperium“.30 Eine Demokratisierung im umfassenden Sinne müsste dem europäischen Binnenmarkt in seiner gegenwärtigen Gestalt entgegenarbeiten: „Demokratisierung heute müsste heißen, Institutionen aufzubauen, mit denen Märkte wieder unter soziale Kontrolle gebracht werden können […].“31 Die in der Eurokrise erwogene Stärkung supranationaler Regulierungsgewalt oder gar die Perspektive eines europäischen Bundesstaats markiere unter dem Gesichtspunkt der Demokratie die völlig falsche Richtung. Ein authentisches „Demokratieprojekt für Europa“ müsste „sich scharf von Projekten für eine ,politische Union‘ absetzen […].“32 Stattdessen sei den unterschiedlichen ökonomischen Strukturen und Entwicklungen in den EU-Mitgliedstaaten in aller Deutlichkeit Rechnung zu tragen und eine „Entschleunigung der rasch voranschreitenden kapitalistischen Landnahme“ einzuleiten33 – was unausgesprochen einem Rückbau der EU gleichkäme. Gefordert wird eine Art „verantwortlicher Nationalismus“.34 Die dritte Variante eines supranationalen Narrativs verdankt sich einer Debatte, die jüngst vom italienischen Philosophen Giorgio Agamben in Gang gesetzt worden ist. Agamben beruft sich auf einen Text des russisch-französischen Philosophen Alexandre Kojève, der in Deutschland studiert hatte, zeitlebens als Hegel-Kenner galt und dazu publizierte, als Widerstandskämpfer gegen den Faschismus wirkte, aber auch als Bediensteter im französischen Wirtschaftsministerium und im OEEC-Sekretariat als französischer Experte für den Bereich der Europapolitik tätig war. In einem auf den 27. August 1945 datierten Text „Esquisse d’une doctrine de la politique française“, eine Art Memorandum für die provisorische Regierung unter Charles de Gaulle, spricht Kojève von den „civilisations latines“, zu denen 29

Merkel, 2013: 2 f. Streeck, 2013a: 161, 202. 31 Streeck, 2013b: 63. 32 Streeck, 2013b: 64. 33 Streeck, 2013b: 68. 34 Streeck, 2016: 26. 30

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er in erster Linie die großen romanischen Staaten in Europa zählt – Frankreich, Italien, Spanien. Sie seien geeint durch eine „mentalité latine“, die vor allem aus einer Art ungezwungenem Lebensstil und einer kreativen Lebenslust in Verbindung mit dem Desinteresse am materiellen Komfort bestehe. Zu ihr gehörten die Wertetrias der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – und daraus folgend die Demokratie. Sie erwachse teilweise aus dem Katholizismus dieser Kulturen.35 Im Gegenzug dazu gebe es den Kulturraum mit den Attributen „germano-anglo-saxon“, der von protestantischen Einflüssen zehre und kapitalistisch ausgerichtet sei. Gerade das protestantische Deutschland tendiere zur europäischen Dominanz auf der Basis wirtschaftlicher Stärke. Kojève fordert demgegenüber nicht nur eine lockere Zusammengehörigkeit unter den „civilisations latines“, sondern deren politische Union, eine Art „Empire“, das gleichrangig neben den British Commonwealth und die Sowjetunion trete – und übrigens durchaus in Afrika weiterhin als starke Kolonialmacht wirken solle.36 Agamben greift einige Stichworte daraus auf, die freilich aus dem historischen Zusammenhang gerissen werden und damit nur als plakative Belegstellen für seine eigene europapolitische Lageeinschätzung dienen sollen. Die Mutmaßungen Kojèves, die Symbiose von Protestantismus und Kapitalismus könne Deutschland in die Position einer hegemonialen europäischen Großmacht hieven und sich über das „Europe latin“ erheben, sieht er durch die aktuelle deutsche Dominanz im Rahmen der Euro-Krise bestätigt.37 Insoweit handelt es sich um einen authentischen Rückgriff auf Kojève. Die Interessen der wenigen Reichen in Europa dominierten die Mehrheit der Ärmsten.38 Der im protestantischen Europa gepflegte Kapitalismus setze „die völlige Abhängigkeit jedes Einzelnen vom Markt voraus.“39 Agamben geht freilich über Kojève hinaus und entfernt sich damit wieder von dessen historisch zweifelhafter Argumentation, indem er allgemeiner das Ökonomische als untauglichen transnationalen Einigungsimpuls klassifiziert und die Partikularität der Kulturund Lebensformen in Europa als Hindernis einer europäischen Einigungsidee schlechthin interpretiert.40 „Und eine politische Einheit, die es bevorzugt, unterschiedliche Lebensformen zu ignorieren, ist nicht nur zur Kurzlebigkeit verdammt, sondern schafft es auch nicht, wie es Europa gerade sehr beredt demonstriert, sich in

35

Vgl. Kojève, 1945: 94. Vgl. Kojève, 1945: 96. 37 Vgl. Agamben, 2013. 38 Vgl. Agamben, 2013: 1. 39 Agamben, 2015: 40. 40 Katholisch geprägte Länder wie Irland oder Luxemburg, die durchaus trotz aller Krisen prosperierende Volkswirtschaften hervorzubringen vermochten, scheinen die These der Abhängigkeit der Wirtschaftsleistung von Glaubensbekenntnissen ebenso zu widerlegen wie die wirtschaftlichen Erfolge katholisch geprägter deutscher Bundesländer, vgl. Zielcke, 2015: 11. 36

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dieser Art zu konstituieren.“41 Die Empfehlung Agambens ist es, das „Empire latin“ an die Stelle des von Deutschland dominierten Europas zu setzen – gewissermaßen die Hegemonie der kompetitiv und ökonomistisch ausgerichteten deutschen Kultur durch die Hegemonie der integrativ und auf Gemeinschaftlichkeit ausgerichteten romanischen Kultur abzulösen – also nicht den Modus zu ändern, sondern nur die beherrschenden Mitspieler. Insofern bedient diese Ordnungsvision zunächst einmal „alte Klischees“ von „den Deutschen als lebensfeindlichen Zuchtmeistern.“42 Agamben betrachtet aber nicht nur das gegenwärtige Erscheinungsbild als Ausgeburt eines antagonistischen Dominanzverhältnisses, sondern auch dessen Ursachen: in die deutsche Kultur sei gewissermaßen die hegemoniale Dynamik eingeschrieben, und die gegenwärtige Krisenentwicklung sei nicht der Auslöser des Kulturimperialismus, sondern dessen Folge. Die Diskussion um Agambens medienwirksam verbreitete These hat ein intensives, kontroverses Echo hervorgerufen. Der erste Vorwurf lautet, er habe die gegenwärtige wirtschaftliche Lage historisch-kulturalistisch umgedeutet: „Agambens Idee ist die kulturgeschichtliche Mythologisierung eines wirtschaftlichen Streits.“43 Einen seinerseits widersprüchlichen Gegenspieler findet Agamben in dem in Italien und Belgien lehrenden Sozialwissenschaftler Mario Telò, der den Begriff der „Hegemonie“ seiner pejorativen, auf Unterdrückung fixierten Gehalte entkleiden möchte und in diesem Sinne bemerkenswerterweise eine „wohlwollende und konstruktive Hegemonie“ und eine „verantwortliche deutsche Hegemonie“ fordert – verstanden als eine Macht, die „Kollektivgüter für die gesamte Völkergemeinschaft“ bereitstellt.44 Die provokanten Formulierungen entschärft er dadurch, dass ihm eigentlich eine Art „Marshall-Plan für den Süden Europas“ vorschwebt, bei dessen Initialisierung und finanzieller Ausstattung Deutschland eine führende Rolle einnehmen solle. Eine solche Hegemonie-Diskussion beruht zweifelsohne auf einer Überschätzung jener nationalspezifischen Spielräume, die im Geflecht der integrationspolitischen Kooperationszwänge zur Geltung gelangen können. Sie ist auch nicht in erster Linie als empirisch triftiger Diskurs über real aufkommende Asymmetrien im Rahmen der EU aufschlussreich, sondern als Verweis auf einen Kulturkampf, der allem Integrationsgeschehen innewohnt. Die Demokratie wird in diesem Narrativ nicht als ein institutionelles Set begriffen, bestehend aus Wahlen, Gewaltenteilung und Öffentlichkeit. Als Demokratie gilt vielmehr der Freiraum zur kulturellen Selbstentfaltung, der ihrer politischen Institutionalisierung eher feindlich gegenübersteht. Insofern wird in diesem Narrativ eigentlich der supranationalen Integration die Demokratiefähigkeit grundsätzlich abgesprochen. Als demokratisch gehaltvoll erscheinen nur die gelebten Erfahrungen der Gemeinschaftlichkeit und der Zusammengehörigkeit, nicht die 41

Im französischen Original heißt es: „Et une unité politique qui préfère ignorer les formes de vie n’est pas seulement condamnée à ne pas durer, mais, comme l’Europe le montre avec éloquence, elle ne réussit pas même à se constituer comme telle.“ Agamben, 2013: 1. 42 Streeck, 2013c: 77. 43 Ash, 2013: 11; vgl. auch Assmann/Giesen, 2013. 44 Telò, 2013: 4.

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Legitimationsprozesse von großräumigen kooperativen Beziehungen. Die EU ist mit ihren Integrationszielen und mit ihrer Entwicklungsdynamik daher auf demokratieferne Zwecke festgeschrieben. Das vierte Narrativ schließt an das zweite und dritte an, besitzt aber doch noch einige besondere Merkmale, die eine eigenständige Erörterung sinnvoll erscheinen lassen. Dieses Narrativ verdankt seine Prominenz vor allem der Eurokrise, der Flüchtlingskrise und der öffentlichen Diskussion um den bevorstehenden Austritt Großbritanniens aus der EU. Es speist sich aus den Wahlprogrammen rechtspopulistischer Parteien in zahlreichen EU-Mitgliedstaaten, aus den Aussagen von deren führenden Politikern und aus den dadurch ausgelösten öffentlichen Debatten. Manifestiert hat sich dieses Narrativ vor allem anlässlich der Wahlen zum EP 2014, bei der zahlreiche rechtspopulistische und europafeindliche Parteien Sitze im EP errungen hatten, und angesichts des Flüchtlingsstroms, der seit einigen Jahren in Richtung der EU unterwegs ist. Ein in der akademischen und öffentlichen Debatte gebräuchlicher Begriff für die Position, die dieses Narrativ trägt, ist der „Euroskeptizismus“. Er weist eine rechts- und eine linkspopulistische Variante auf. Der europäische Rechtspopulismus tritt in Gestalt von entsprechenden Parteien oder Bewegungen vor allem in Deutschland, in Österreich, in Frankreich, in den Niederlanden, in Großbritannien, in Schweden, Finnland und in Ungarn auf, der Linkspopulismus vor allem in Spanien, Italien und Griechenland.45 Da die linkspopulistische Variante der EU im Prinzip wohlwollend gegenübersteht, aber eine weiterreichende Demokratisierung und eine bessere demokratische Legitimation der bestehenden Institutionen fordert, erscheint sie in dieser Riege von profilierten Narrativen weniger spektakulär als die rechtspopulistische Variante.46 Diese bringt ein sehr grundlegendes Ressentiment gegen die europäische Integration zum Ausdruck und gipfelt in zugespitzter Form darin, zum Austritt aus der EU aufzufordern – die europäische Integration erscheint als eine kardinale Fehlentwicklung, die den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedstaaten weniger denn je gerecht wird und statt dessen dazu tendiert, einen zentralistischen, autoritären und geradezu totalitären Dirigismus zu etablieren. Man pflegt die bislang in Europa unbekannte Haltung einer grundsätzlichen Europaskepsis, die den bisherigen Integrationsverlauf als einen fatalen strategischen Irrtum auf Kosten nationalstaatlicher Souveränität betrachtet und daher eine radikale Lösung propagiert: Rückbau der EU oder gar deren Auflösung, notfalls Austritt aus der EU gemäß dem Beispiel Großbritanniens. Man pflegt im Rechtspopulismus eine drastische Sprache, um die Fundamentalkritik an der EU zum Ausdruck zu bringen: „Brüsseler Zentralismus“, „technokratischer Kunststaat“, „Moloch“, „totalitärer Repressionsstaat“, Raum einer „Masseneinwanderung“ auf der Basis eines „multikulturellen Einheitswahns“, um nur einige Beispiele herauszugreifen.47 Die europäische Integration wird nicht länger als eine Chance auf friedliche Kooperation, sondern als 45

Luengo/Marin/Fernández-Garcia, 2016: 254, 264. Elsas/Hakhverdian/Brug, 2016: 1182 f. 47 Vgl. Ketelhut/Kretschmer/Lewandowski/Roger, 2016: 298 ff.

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ein Risikofaktor für die Bestandsfähigkeit von bewährten nationalstaatlichen Ordnungen und für die Funktionstüchtigkeit nationaler Volkswirtschaften betrachtet.48 Die sich immer deutlicher abzeichnende Allzuständigkeit der EU müsse gebrochen werden. Alle markanten supranationalen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte werden als Fehlentwicklungen klassifiziert: der fiskalische und finanzielle Zwangscharakter der einheitlichen europäischen Währung, die schleichend eingeführte Schulden- und Haftungsunion im Rahmen der Eurokrise, die Freizügigkeit für den EU-internen Personenverkehr und die Zuwanderung aus Drittstaaten, und natürlich alle EU-Erweiterungsrunden und neuen politischen Zuständigkeiten für die Europäische Kommission. Die politische, ökonomische und kulturelle Fundamentalkritik geht einher mit einer Beschwörung der in der EU vernachlässigten Demokratie. Der EU wird zunächst einmal eine tragfähige demokratische Legitimation abgesprochen, die auch nicht durch eine Stärkung des EP erzielt werden könne, weil einige zentralistisch agierende politische Eliten und Lobbyisten durchweg ihre Interessen auf allen Ebenen durchzusetzen vermögen – in dieser Kritik sind sich rechtspopulistische und linkspopulistische Parteien und Bewegungen einig.49 Die Bürgerinnen und Bürger hätten keinerlei substantielle Mitsprache bei jeglichen wichtigen Entscheidungen und würden mit völlig überzogenen Solidaritätszumutungen belastet, wie die Griechenlandkrise augenfällig gemacht habe. Hätte man ihnen direktdemokratische Mitwirkungsmöglichkeiten zugestanden, wie Referenda zu allen bedeutsamen politischen Fragen innerhalb der EU, dann hätten die Bürgerinnen und Bürger einer weiteren Kompetenzanmaßung seitens der EU schon längst einen Riegel vorgeschoben. Dieses Argument markiert einen bemerkenswerten Aspekt der europäischen Demokratiefrage: Es besteht die – tatsächlich berechtigte – Mutmaßung, dass die Bevölkerung der EU-Mitgliedstaaten aufgrund der Tatsache, dass sie bislang über keine nennenswerten Oppositionsmöglichkeiten, Einspruchsrechte und Revisionsoptionen verfügte, dem daraus resultierenden demokratischen Unbehagen dann, wenn sich die Gelegenheit zu einem Referendum ergäbe, durch eine fundamentale Systemkritik Luft machen würde, die das ganze Gebilde pauschal als demokratiefern verwerfen würde.50 Darauf komme ich später noch einmal zurück. Eine erweiterte direktdemokratische Mitwirkung der Bürgerschaft in EU-Fragen wird im rechtspopulistischen Lager daher mit stiller Häme befürwortet – gewissermaßen als erwartbarer Beschleuniger für ihre öffentliche Ablehnung und als demokratische Initialzündung für ihren vom Volk vermutlich befürworteten Rückbau oder für ihre vollständige Auflösung. Die nationale oder gar regionale Identität und die Selbstbestimmung national geschlossener Völker würde aber gerade dadurch gegen den supranationalen Zentralismus bewahrt und gestärkt werden. Die Konzentration auf eine im Kleinraum ausgeübte Bürgerpartizipation bedeute auch eine generelle Stärkung der Demokratie. Die 48

Ketelhut/Kretschmer/Lewandowski/Roger, 2016: 288. Elsas/Hakhverdian/Brug, 2016: 1184. 50 Guérot, 2016b: 61.

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Demokratie in Europa verwirkliche sich gewissermaßen vorzugsweise in den Gemeinden, Regionen und im Nationalstaat, jedenfalls nicht auf der Makroebene des EU-Raums. Allerdings treten die rechts- und auch die linkspopulistischen Kräfte in Gestalt so genannter „Challenger“-Parteien auf: Sie streben – vorerst – nicht nach Regierungsverantwortung, sondern suchen die Rolle der Oppositionspartei, die es sich erlauben kann und auch der bürgerschaftlichen Erwartung folgt, scharf und heftig zu kritisieren, überzogene und unrealistische Forderungen zu erheben und den Politikbetrieb mit fundamentalen Infragestellungen alles Herkömmlichen zu provozieren.51 Diese Überzeichnung bezieht sich auch auf die im Euroskeptizismus enthaltenen demokratischen Postulate. Insofern wird der Widerstand in der EU-Bevölkerung gegen das bestehende System doch überschätzt, die mutmaßlich drastische Ablehnung der EU bei Referenda allzu eilfertig prognostiziert, und die Bereitschaft zur bürgerschaftlichen Teilhabe in kleinen, kulturell und ethnisch homogenen Gemeinschaften geradezu karikaturartig stilisiert. Aber es geht hier ja auch nicht um eine Beurteilung nach dem Maßstab der Realitätsnähe von europapolitischen Positionen, sondern um die Beschaffenheit von europäischen Narrativen. Insofern ist der Euroskeptizismus unverkennbar ein markantes Narrativ, weil er unverhohlener denn je die EU in ihrer gegenwärtigen Gestalt als fatale Fehlentwicklung einstuft und die Vorstellung darüber ausbreitet, dass es ein nationalstaatlich gestärktes Europa gänzlich ohne supranationale Integration geben könne – und erst diese Entwicklung der Entfaltung von Demokratie den angemessenen Raum verschaffe. III. Konkurrierende Narrative und ihre demokratietheoretische Bewertung Die vier zugespitzten Narrative, die ich skizziert habe, sind in demokratietheoretischer Hinsicht zunächst einmal deshalb aufschlussreich, weil sie jeweils ein unterschiedliches Licht auf die demokratischen Qualitäten und Potenziale der EU werfen und damit neue Facetten des viel beklagten „Demokratiedefizits“ der supranationalen Integration beleuchten. Im ersten Narrativ reduziert sich die demokratische Erwartung auf die Errichtung eines europaweit ausgedehnten parlamentarischen Regierungssystems, das konstitutionelle Garantien für bürgerschaftliche Wahlakte und parlamentarische Kontrollmöglichkeiten, gewaltenteilige Organbeziehungen und transparente Regierungsfunktionen schafft. Ein vom Volk in Gang gesetzter Prozess der Kreation und Inauguration des europäischen Herrschaftssystems durch Referenda und direktdemokratische Verfahren ist nicht vorgesehen, weil einige Basiselemente der supranationalen Staatsqualität bereits etabliert sind. Das Narrativ des europäischen Bundesstaats verspricht gegenüber den in der EU bereits vorhandenen Anteilen an demokratischer Legitimation keine wesentlichen Demokratiegewinne.

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Schwarzbözl/Fatke, 2016: 278.

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Das zweite Narrativ des neoliberalen Binnenmarktprojekts klassifiziert sogar noch die in der EU reklamierten Ansprüche demokratischer Legitimation als vorgetäuscht. Die äußerst schwierige, durch marktkonforme Disziplinierungsmaßnahmen der Bevölkerung erkaufte Erhaltung der globalen Wettbewerbsfähigkeit lässt keinen Raum für die Entfaltung von demokratischen Qualitätsstandards. Stattdessen trete eine resolut agierende Exekutivspitze in Erscheinung, die im Interesse der europäischen Marktfähigkeit demokratische Kontroll- und Einspruchsmöglichkeiten, bürgerschaftliche Mitwirkung und eine öffentliche, kontroverse Diskussion politischer Gestaltungsoptionen beschränke und verwerfe. Das Europa des Binnenmarkts erscheint schlicht als völlig demokratiefern. Das dritte Narrativ spricht der supranationalen Integration nicht nur die Erfüllung, sondern gewissermaßen auch das Erfordernis einer Demokratisierung pauschal ab. Europa wird als Raum konkurrierender kultureller Selbstverständnisse betrachtet, die eine regionale Zusammengehörigkeit hervorbringen, aber nicht unbedingt politisch-institutionelle Folgen haben müssen. Jegliche Stärkung eines supranationalen Herrschaftssystems steht unter dem Verdacht, die Hegemonie des protestantischen Kulturraums zur Geltung zu bringen, dessen supranationale Regierungsformen ihrerseits kaum demokratische Qualitäten aufweisen, weil sie – ähnlich wie in der Einschätzung des zweiten Narrativs – auf exekutive Effizienz, nicht auf bürgerschaftliche Teilhabe am politischen Geschehen ausgerichtet sind. Aber selbst die angestrebte Umkehrung der Hegemonie und die Entfaltung eines „Europe latin“ geht nicht mit konturierten demokratischen Erwartungen an die europäische Integration einher: Die ökonomische und politische Kooperation und ihre demokratische Legitimation spielen darin kaum eine Rolle, stattdessen beschränkt sich die Entfaltung der Demokratie auf die kooperative Gestaltung kleinräumiger Lebensformen. Im vierten Narrativ wird die supranationale Demokratiefrage ähnlich eingeschätzt wie im zweiten und dritten Narrativ. Das Projekt des Binnenmarkts verdrängt demnach jegliche demokratischen Legitimationsansprüche durch die bislang gebilligte Handlungsvollmacht einer zentralistischen Exekutive. Das supranationale Organgefüge und seine ökonomischen wie politischen Ziele werden den größten Teilen des europäischen Volkes nicht gerecht und haben daher keine ausreichende demokratische Legitimationsgrundlage. Nehme man die Demokratie als eine vom Volk gewollte, volksnahe und vom Volk beeinflussbare Politikgestaltung ernst, dann müsse man eigentlich ein Gebilde wie die EU verwerfen. Demokratie lässt sich viel intensiver in kleinräumigen Zusammenhängen entfalten. Eine Ausdehnung partizipatorischer Mitwirkungsmöglichkeiten auf die EU-Ebene würde allemal zu negativen Voten führen, in denen das europäische Volk die bestehenden Systemmerkmale ablehne und die EU als zentralistisches Elitenprojekt verwerfe. Betrachtet man diese vier Narrative als Ausschnitte aus einem Panorama neuer, skeptischer Bewertungen des supranationalen Geschehens, dann treten in allen vier Varianten die Demokratiedefizite des gegenwärtigen EU-Systems schärfer denn je hervor. Unabhängig von der Glaubwürdigkeit der Narrative, von ihrer kon-

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zeptionellen Konsistenz und von ihrer politisch-strategischen Instrumentalisierung werfen sie allesamt nachdrücklich Zweifel an der Demokratiefähigkeit der politischen und ökonomischen Ziele der EU, ihres Organgefüges, ihrer wesentlichen Akteure und ihrer Entwicklungsdynamik auf. Die daraus abgeleiteten Befunde sind niederschmetternd: Die EU verfehlt ihr selbst gesetztes demokratisches Anforderungsprofil, die Demokratie lässt sich nur durch eine Umkehr zu verloren gegangenen Integrationszielen, durch eine radikale Umgestaltung des bestehenden Systems oder gar durch eine Auflösung des supranationalen Gebildes wiedergewinnen. Solche fundamentalen Infragestellungen stellen zweifelsohne keine politisch konstruktiven Beiträge zur Kritik eines Herrschaftssystems dar, dessen Existenz und Profil nicht einfach komplett revidiert oder ausgelöscht werden können. Die basale, auf das Modell gerichtete Systemkritik steht gegen die realpolitischen Sachzwänge der etablierten, einflussreichen Wirkungstiefe des Systems. Aber sie bringen Nachfragen gegenüber den demokratischen Qualitäten der supranationalen Integration hervor, die bislang vom Mainstream einer Mastererzählung, die das ganze System als bürgerschaftlich gewollte und unterstützte Eigendynamik eines über den Nationalstaat hinausweisenden Kooperationserfordernisses betrachtet hatte, vernachlässigt und verschluckt worden sind. Insofern sind die Prozesse der aufkeimenden Infragestellungen selbst als demokratische Errungenschaften zu verstehen. Die in den skizzierten Narrativen zum Ausdruck kommende Art der öffentlichen Auseinandersetzung mit grundlegenden Dynamiken europapolitischer Entwicklungen verdeutlicht die wachsende öffentliche Bereitschaft zur Suche nach einer Interpretation der Genese, Dynamik und Wirkungen supranationaler Entwicklungen. Sie steht für eine kontroverse Rekapitulation der politischen Gehalte und Implikationen und der treibenden Akteure, die sich hinter der scheinbaren Eigengesetzlichkeit des supranationalen Geschehens verbergen. Insofern sind sie ein erstes, vorerst nur als Konfrontation von Narrationen durchgespieltes Symbol für eine kritische Auseinandersetzung mit der europäischen Integration, der Alternativen der politischen Entwicklung vorschweben. Solche kontroversen Narrative stellen zwar noch keine demokratische Gestaltungsmacht dar, aber sie sind ein Indikator für einen neuen Grad an Reflexion über die Integrationsdynamik, der zum ersten Mal in der Geschichte der europäischen Einigung den trüben öffentlichen Konsens, den desinteressierten „permissive consensus“ mit der bestehenden Ordnung aufbricht. Sie verdanken sich vor allem den skeptischen Fragen nach der Legitimation der wechselseitigen Solidaritätszwänge, die mit der EU-Mitgliedschaft in der gegenwärtigen Krise einhergehen, und leiten daraus unterschiedliche Rekapitulationen der Antriebe und Dynamiken supranationaler Integration ab. Die als Narrationen präsentierten Infragestellungen und Kontroversen um die Entwicklung der supranationalen Integration sind als erste, zarte Proklamation einer demokratischen Gestaltungsmacht zu werten, weil sie die Zweckerfüllung der supranationalen politischen Ordnung in Frage stellen, Revisionen des Integrationsverlaufs einfordern, Alternativen zum institutionellen Design, zu den Entscheidungsverfahren und zu den Politikfeldern geltend machen. Das Integrationsgeschehen wird seiner

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Zwangsläufigkeit enthoben und als spezifisches Kooperationsmodell disponibel. „Es vollzieht sich ein Deutungswettkampf, in dem die beteiligten Akteure ihre jeweilige Sichtweise auf die EU begründen und durchzusetzen versuchen.“52 Die Rekonstruktion der Realgeschichte in Gestalt von divergierenden Narrativen markiert den Anfang einer Suche nach passenden Erklärungen, in denen das problematische Verhältnis zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und der Dynamik des EU-Systems zu einem interpretations- und reflexionsbedürftigen Gegenstandsbereich erhoben wird. Die Narrative signalisieren den Beginn eines kontroversen öffentlichen Diskurses auch über die politischen und demokratischen Desiderate und Errungenschaften europäischer Integration. Diese Schlussfolgerungen hinsichtlich der demokratischen Implikationen konkurrierender Narrative zeigen, was ich eigentlich bei deren Betrachtung vorausgesetzt habe: dass Demokratie nicht einfach ein Set an institutionellen Mechanismen darstellt, die in den herkömmlichen gewaltenteiligen Regierungssystemen aufgehen. Die konventionellen Bestimmungselemente genügen nicht, wie die Funktionstüchtigkeit von Wahlakten, Konstitutionalismus und Gewaltenteilung, Repräsentationsmechanismen, öffentliche Kontrolle und Transparenz, Medien und vor allem, wie in der EU, die Systemloyalität der Bürgerinnen und Bürger.53 Die Demokratie ist jenseits ihrer sehr wechselhaften Realisierungsstufen und Erscheinungsformen als eine Bewegung aufzufassen, in deren Verlauf Menschen zu Teilhabern der kollektiven Lebensbewältigung aufsteigen. Erst wenn man davon Abstand nimmt, die Demokratie mit einer bestimmten Herrschaftsform zu identifizieren, wird diese Betrachtung der demokratischen Erscheinungsformen von höherer Warte aus möglich. Das Mittel dazu ist die Konzentration auf die symbolische Funktion der Demokratie. Dieser Symbolismus liegt in dem Anspruch auf öffentliche Sichtbarkeit begründet, die jedem Subjekt aufgrund einer unhintergehbaren, gleichrangigen Wechselseitigkeit aller Menschen zusteht.54 Die Demokratie bildet die gleichrangige Wechselseitigkeit der Menschen in der politischen Sphäre ab. Das Symbolische drängt zur Suche nach dieser Funktionserfüllung der Demokratie jenseits ihrer jeweiligen Erscheinungsformen. Es lässt sich nicht in eine ideale Formgebung gießen, sondern unterstellt alle verwirklichten Formen der Demokratie einem Prüfungsverfahren, das kontinuierlich nach dem Grad der Verwirklichung von gleichrangiger Wechselseitigkeit sucht. Deshalb bedeutet die Ausübung von Demokratie vielfach Skepsis und Widerstand gegenüber den bestehenden demokratischen Ordnungsmustern und Verfahrensabläufen, Störungen des trüben Einverständnisses mit allen politischen Praktiken, die gerade als Errungenschaft der Demokratie gelten. Es scheint also in Hinblick auf die demokratischen Potenziale der europäischen Integration vorerst wenig Sinn zu machen, nur nach Verbesserungsmöglichkeiten im Rahmen derjenigen Integrationsdynamik zu suchen, die gegenwärtig als Masterer52

Lichtenstein, 2012: 4. Vgl. Kriesi, 2013. 54 Vgl. Richter, 2016. 53

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zählung der EU fungiert. Das würde nur einen sehr konventionellen Forderungskatalog gegenüber dem bestehenden Organgefüge eröffnen, der schon in der Vergangenheit nicht gefruchtet hat: mehr Rechte für das EP und für die nationalen Parlamente, mehr demokratische Einflussnahme auf die Zusammensetzung und auf die Befugnisse der Europäischen Kommission, größere europäische Öffentlichkeit. Die demokratischen Implikationen der dargelegten, kontroversen Narrative sind hingegen auf einer politischen Ebene vor der Legitimation tatsächlich bestehender Herrschaftsgewalt angesiedelt. Sie spielen mögliche Integrationsverläufe kontrovers durch und begründen die Macht des Volkes hinsichtlich der Politikgestaltung in dem Entwurf von beanspruchten Dispositionen über die regulativen Systeme, die das Volk umgeben. Da die EU solche Dispositionen nicht bereithält, erweisen sich die Narrative als phantasievolle Produktionen von möglichen Alternativen, die zwar denkbar sind, aber im Moment nicht realistisch erscheinen. In keinem der erwähnten Narrative wird im gegenwärtigen Integrationsgeschehen ein Ansatzpunkt erkennbar, der als viel versprechende Ausgangsbasis für eine umfassende Demokratisierung der supranationalen Integration bewertet werden könnte. Somit gibt es Demokratisierungsbestrebungen und Politisierungswünsche, die sich im Moment und auf absehbare Zeit nicht plausibel auf die supranationale Integration projizieren lassen. Es könnte also sein, dass die EU gar nicht den probaten Rahmen für die Bestrebungen einer europäischen Bürgerschaft abgibt, einen angemessenen Rahmen für eine demokratisch fundierte transnationale Kooperation zu finden. Mindestens eines der Narrative geht ja sogar so weit, diese als Ausdruck demokratischer Gestaltungsfreiheit nicht einmal für nötig zu befinden. Vielleicht indiziert die Kluft zwischen den demokratischen Ansprüchen und der bestehenden europäischen Ordnung den Wunsch nach einer Herrschaftsform, die entweder einen flexibleren, die EU unterschreitenden Interaktionsraum etabliert, oder den Wunsch nach einem institutionell schwächeren System, das entschieden mehr politische Gestaltungsoffenheit aufweist – oder das im Moment überhaupt nicht plausibel zu konfigurieren ist. Wolfgang Streeck, der Gewährsmann für das zweite Narrativ, hat aus seinem bitteren europapolitischen Resümee zur Anpassung der Demokratie an die Direktiven der Marktwirtschaft den Schluss gezogen, dass eine „demokratische Wende“ nicht im Rahmen des von der neoliberalen Dynamik vereinnahmten EU-Institutionengefüges eingeleitet werden könne, sondern eine Art alternativen „Gründungsakt“ erfordere, „eine Neugründung mehr oder weniger ab ovo“, einen auf Dezentralisierung gerichteten „Sprung aus der Geschichte der letzten drei Jahrzehnte, der die in Europa gewachsenen supranationalen Institutionen durch revolutionären Beschluss innerhalb derselben fundamental umkrempeln würde […].“55

55

Streeck, 2013c: 87.

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IV. Fazit Im bisherigen Integrationsgeschehen gab es bereits einige aufschlussreiche Momente, in denen politische Gestaltungsoptionen zumindest für einige der Bürgerinnen und Bürger der EU-Mitgliedstaaten kurzzeitig aufschienen. Ihre demokratischen Effekte bringen genau das zum Ausdruck, was die konkurrierenden Narrative als demokratische Botschaft bereithalten: Demokratiepostulate geraten leicht in die grundsätzliche Distanz zur Gestalt und Dynamik der EU. Solche Gestaltungsoptionen eröffneten sich in den Referenda zur einstmals geplanten europäischen Verfassung. Um ihren Entwurf rankte sich eine erstaunlich intensive EU-interne und öffentliche Diskussion über die konstitutionelle Fortentwicklung der EU, die zwischen 2005 und 2008 zu Referenda in Frankreich, in den Niederlanden und in Irland über diese Option einer bundesstaatlichen Konstitutionalisierung der europäischen Integration führte. Die Vehemenz der ablehnenden Stellungnahmen kam überraschend, in Frankreich votierten 54,6 % gegen die Annahme, in den Niederlanden 61,6 %, in Irland 53,4 %. Dreimal wurde eine staatsähnliche EU-Verfassung von der Bevölkerung einzelner Mitgliedstaaten abgelehnt. Diese Entscheidungsmaterie ließ den Gestaltungsspielraum eines möglichen Gründungsaktes erkennen, in dem immerhin ein Teil des europäischen Volkes über seine politische Ordnung inaugurativ entscheiden konnte. Die mehrheitliche Ablehnung entsprechender Optionen war sicherlich auch ein Denkzettel für die gerade regierenden nationalstaatlichen Parteien und Politiker. Aber die genuin europapolitischen Anteile in der vorausgehenden Informationsund Diskussionsphase waren doch beträchtlich und bislang ohne Beispiel.56 Die Bürgerinnen und Bürger erschraken offenbar über das bereits etablierte regulative Potenzial und die Eigendynamik supranationaler Integration in dem Moment, in dem sie zum ersten Mal deren Ausmaß realisierten und zur Zustimmung gegenüber noch erheblich weiter reichenden Integrationsschritten aufgerufen waren. In den Aufrufen zum Referendum und in den Kampagnen trat einerseits die regulative Reichweite der EU erstmalig deutlich ins öffentliche Bewusstsein, während andererseits gleichzeitig die politische Unverfügbarkeit der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem bereits staatsähnlichen Gebilde prägnant hervortrat. Die EU wurde als überraschend machtvolles Institutionengefüge erkannt, dem die voluntaristische Grundlage im Sinne eines konstitutiven Einverständnisses der Bürgerinnen und Bürger ganz offenkundig fehlte. Diese nun erstaunt zur Kenntnis genommene Lücke führte zu einer mehrheitlichen demokratischen Verweigerung gegenüber dem umfassenden regulativen Potential der EU. Es schien für einen kurzen Moment eine genuin politische Option der Entscheidungsvollmacht von Bürgerinnen und Bürgern über ihre – supranationale – politische Ordnung auf, und sie führte prompt zu deren Ablehnung. Der über die ablehnenden Referenda erteilte Bescheid ist als ein reflexartiger Ausdruck einer dezidierten „politischen“ Positionierung zu werten, weil er eine Art spontanes demokratisches Gespür für die Problematik der Legitimationsschwächen des EUSystems zum Ausdruck brachte. Die Unberechenbarkeit und Spontaneität, die sich 56

Lieb, 2008; Hobolt, 2009.

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in den ablehnenden Voten einiger EU-Bürgerinnen und -Bürger ausgedrückt haben, bleiben in diesem Sinne als hoch politisch einzustufen und als dezidiert demokratischer Akt zu bewerten. Sie war konzeptionell viel produktiver, als ihr das die offiziell politischen und allgemein öffentlichen Reaktionen zugestanden haben. Aus dem Ausgang dieser Referenda lässt sich ein ähnlicher Schluss ziehen wie aus den demokratischen Implikationen der erläuterten Narrative: Sobald die supranationalen Herrschaftszumutungen, Regulierungsvollmachten und Solidaritätserwartungen im europäischen Demos präsent werden und sich in kontroversen Erörterungen niederschlagen, regt sich bei den Bürgerinnen und Bürgern Europas dagegen Widerstand – anstelle von fortgesetzter Akzeptanz nach dem Muster des „permissive consensus“. Prozesse der öffentlichen Bewusstmachung setzen Infragestellungen in Gang. Das ist nicht nur als eine fatale Akzeptanzkrise der EU, sondern auch als ein demokratischer Gewinn zu werten, denn die bestehende Ordnung wird somit der Konfrontation mit alternativen Entwürfen der Politikgestaltung ausgesetzt – das Volk imaginiert seine demokratische Gestaltungsfreiheit und die Resultate in Hinblick auf die daraus hervorgehende politische Ordnung. Das bezeichnet exakt den demokratischen Gewinn der vorgestellten europäischen Narrative: Sie symbolisieren eine Infragestellung des Bestehenden, die einen proklamierten „Willen des Volkes“ als Grundlage jeglicher Herrschaftsgewalt geltend macht. Die Projektion des Volkswillens auf die europäische Integration produziert allerdings nicht Zustimmungsquoten, sondern Grundsatzzweifel. Demokratie kann sich als voluntaristische Abwehrhaltung artikulieren und unverblümt gegen eine als demokratiefern bewertete Ordnung richten. Es könnte deshalb in der europäischen Bürgerschaft zur Konstituierung eines „Demos“ kommen, dem im Moment seiner Formation die geeignete „Polity“ abhanden kommt. Der in den erörterten Narrativen zum Ausdruck kommende „Euroskeptizismus“ kann als eine voluntaristische, systemkritische Form der Identitätsbildung verstanden werden, die nicht mit einer klaren Akzeptanz des ihr eigentlich zugewiesenen ordnungspolitischen Rahmens einhergeht.57 Daraus würde im besten Falle eine „deterritorialized democracy“ erwachsen,58 eben jener „Demos“ ohne Aussicht auf eine ihm gemäße „Polity“. Solch ein heimatloser Demos bringt aber immerhin ein Bewusstsein der diffusen Zusammengehörigkeit unter denjenigen hervor, die mit der gegebenen Rahmenordnung ihrer Kooperation unzufrieden sind. Wenn es, wie im November 2012 und später mehrfach geschehen, zum „ersten grenzüberschreitenden südeuropäischen Massenstreik“59 gekommen ist, dann sind darin tatsächlich genau jene Erscheinungsformen eines „Demos“ zu erkennen, der zumindest in der bestehenden EU nicht mehr die ihm angemessene „Polity“ zu identifizieren vermag – wenn er überhaupt eine zu erkennen oder zu akzeptieren trachtet.

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Trenz/de Wilde, 2009: 12. Besson, 2006. 59 Offe, 2013: 69. 58

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Die kontroversen europäischen Narrative sind Indikatoren für die wachsenden Zweifel unter den Bürgerinnen und Bürgern Europas, ob die EU in ihrer gegenwärtigen Dynamik den geeigneten Rahmen dafür abgibt, demokratische Versprechen einzulösen. Wie aber eine Politisierung und das Wirken eines europäischen „Demos“ außerhalb der EU eine stabile Gestalt gewinnen könnte, bleibt vorerst schleierhaft. Aber vielleicht ist gerade diese irritierende Gestaltlosigkeit demokratischer Anspruchshaltungen ein Ausweis dessen, was von der Demokratie im Großraum des europäischen Kooperationsverbundes zu erwarten ist – viel weniger, als es die Mastererzählung eines fortschreitenden Zusammenwachsens des europäischen Volkes zu einem neuen Staatsganzen suggeriert, aber mehr als nur das stille öffentliche Einverständnis mit halbwegs funktionstüchtigen politischen Institutionen. Literatur Agamben, Giorgio (2013): Que l’Empire latin contre-attaque! Aufgerufen unter: www.liberation.fr/monde/2013/03/24 (Stand: 21. 4. 2013). – (2015): Europa muss kollabieren. Interview vom 27. 8. 2015, geführt von Iris Radisch. In: Die Zeit, Nr. 35, S. 39 – 40. Ash, Timothy Garton (2013): Nirgendwo hat es etwas Vergleichbares gegeben. Die Zukunft Europas, das lateinische Imperium und Deutschlands Aufgabe: Ein Gespräch zur Lage mit dem britischen Historiker Timothy Garton Ash. Interview, geführt von Stephan Speicher. In: Süddeutsche Zeitung, 4. 7. 2013, S. 11. Assmann, Aleida/Giesen, Bernhard (2013): Dieser Philosoph will der Chirurg Europas sein. In: Süddeutsche Zeitung, 11. 6. 2013, S. 11. Balibar, Etienne (2005): Europe, Constitution, Frontière. Bègles: Éditions du Passant. – (2016): Europa: Krise und Ende? Münster: Westfälisches Dampfboot. Besson, Samantha (2006): Deliberative Demoi-cracy in the European Union. Towards the Deterritorialization of Democracy. In: Dieselbe/Marti, José Luis (Hrsg.), Deliberative Democracy and its Discontents. Aldershot/Burlington: Ashgate, S. 181 – 214. Bieling, Hans-Jürgen (2013): Zum gesellschafts- und integrationspolitischen Charakter des europäischen Krisenkonstitutionalismus. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 26/1, S. 51 – 60. DeBardeleben, Joan/Hurrelmann, Achim (Hrsg.) (2011): Transnational Europe: Promise – Paradox – Limits. Basingstoke: Palgrave Macmillan. Elsas, Erika J. van/Hakhverdian, Armen/Brug, Wouter van der (2016): United against a common foe? The nature and origins of Euroscepticism among left-wing and right-wing citizens. In: West European Politics, Vol. 39, No. 6, S. 1181 – 1204. Fischer, Joschka (2000): Vom Staatenverbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität der europäischen Integration. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Zur politischen Finalität der Europäischen Union Von Karl Albrecht Schachtschneider Abstract Politische Finalität der Europäischen Union (EU) fragt nach Ziel und Ende der europäischen Integration, welche nach ihrem Selbstverständnis, aber auch nach Art. 23 GG, dem Integrationsartikel Deutschlands, auf dem Weg zu „einem vereinten Europa“ ist. Die Integration muss das demokratische, das soziale, das föderale und das Rechtsstaatsprinzip wahren. Die Europäische Union strebt den unitarischen Bundesstaat an, der durch die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse gekennzeichnet ist. Das setzt um der Demokratie willen ein Unionsvolk und damit die Aufgabe der Souveränität der Völker der Mitgliedstaaten voraus. Ohne unmittelbare Zustimmung der Völker geht das nicht. Die kleinen Einheiten und die vertikale Gewaltenteilung stützen Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat. Die ökonomische Heterogenität der Volkswirtschaften ist schwer zu überwinden. Die bestmögliche Integration der Völker Europas ist der echte Bundesstaat, der die Souveränität der Völker respektiert und deren Zusammenarbeit völkerrechtlich regelt. Die Freiheit der Völker und der Frieden unter den Völkern gebietet ein solches europäisches Europa.

I. Integrationsziele der Gründungsverträge Alle Integrationsverträge waren „eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ (so die Präambel und Art. 1 Abs. 2 EUV Maastricht 1992). In der Präambel des Vertrages von Lissabon 2007 haben die Vertragsparteien wie im gescheiterten Verfassungsvertrag von 2004 sich entschlossen gezeigt, „den mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben, schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben, eingedenk der historischen Bedeutung der Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents und der Notwendigkeit, feste Grundlagen für die Gestalt des zukünftigen Europas zu schaffen, in Bestätigung ihres Bekenntnisses zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit, in Bestätigung der Bedeutung, die sie den sozialen Grundrechten beimessen, […] in dem Wunsch, die Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen zu stärken, in dem Wunsch, Demokratie und Effizienz in der Arbeit der Organe weiter zu stärken, damit diese in die Lage versetzt werden, die ihnen übertragenen Aufgaben

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in einem einheitlichen institutionellen Rahmen besser wahrzunehmen, entschlossen die Stärkung und die Konvergenz ihrer Volkswirtschaften herbeizuführen und eine Wirtschafts- und Währungsunion zu errichten, die im Einklang mit diesem Vertrag und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union eine einheitliche, stabile Währung einschließt, in dem festen Willen, im Rahmen der Verwirklichung des Binnenmarkts sowie der Stärkung des Zusammenhalts und des Umweltschutzes den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Völker unter Berücksichtigung des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung zu fördern und Politiken zu verfolgen, die gewährleisten, dass Fortschritte bei der wirtschaftlichen Integration mit parallelen Fortschritten auf anderen Gebieten einhergehen, entschlossen, eine gemeinsame Unionsbürgerschaft für die Staatsangehörigen ihrer Länder einzuführen, entschlossen, eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu verfolgen, wozu nach Maßgabe des Artikels 42 auch die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte, und so die Identität und Unabhängigkeit Europas zu stärken, um Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa und in der Welt zu fördern, entschlossen, die Freizügigkeit unter gleichzeitiger Gewährleistung der Sicherheit ihrer Bürger durch den Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts […] zu fördern, entschlossen, den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas, in der die Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden, weiterzuführen, im Hinblick auf weitere Schritte, die getan werden müssen, um die europäische Integration voranzutreiben.“ Wie kann, darf und soll das „in Vielfalt geeinte“, das vereinigte Europa, gestaltet sein und welches ist das Verfahren zum Ziel der Europäischen Union? Unsere Pflicht ist es, die Völker Europas so weit wie möglich zu integrieren, aber auch nicht weiter als möglich. Das Recht darf weder auf dem Wege der Integration verletzt werden noch gar durch die finale Integration. Es gibt Prinzipien des Rechts, welche gerade das Europäische an Europa sind, die nicht zur Disposition stehen, nämlich die Freiheit, die Gleichheit und die Brüderlichkeit, die ihre Wirklichkeit nur in Demokratie, im Rechtsstaat und im Sozialstaat, also in Republiken, zu finden vermögen. Die Integration darf die Kultur, für die in Europa, aber auch anderswo viel gedacht, viel geschrieben und viel geblutet wurde, die Kultur der Aufklärung, in die die griechische Philosophie, aber auch das römische Recht und das europäische Christentum eingegangen sind, nicht aufgeben. II. Freiheit und Recht – Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat Aus dem Prinzip der allgemeinen Freiheit folgt die Pflicht zur gemeinsamen Rechtlichkeit, zur Rechtsgemeinschaft. Eine Gemeinschaft des Rechts ist der Frieden, nicht schon eine Befriedung, etwa durch militärische Unterwerfung, auch nicht die militärische Balance, sondern eben die Ordnung des Rechts, die Rechtsordnung. Rechtlichkeit ist die Wirklichkeit von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Rechtlichkeit ist Staatlichkeit und Staatlichkeit ist Rechtlichkeit. Die Form

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der politischen Willensbildung dieses sozialen Rechtsstaates, der Republik also, ist die Demokratie. Das demokratische Prinzip gründet in der Freiheit als der Autonomie des Willens. Nur wenn jeder Mensch unter dem eigenen Gesetz lebt, das Gesetz, das er sich selbst gibt, nur wenn der Mensch Gesetzgeber seines Handelns ist, ist er frei. Diese Freiheit ist das mit jedem Menschen geborene Recht1. Sie ist ausweislich des Art. 1 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von 1948 das Weltrechtsprinzip: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ Gesetze sind dem Begriff nach allgemein und müssen wegen der Gleichheit in der Freiheit der übereinstimmende Wille aller Bürger sein,2 also auf demokratischer Willensbildung beruhen. Der Wille der Bürgerschaft, die „volonté générale“, zielt auf das gute Leben aller in allgemeiner und gleicher Freiheit und damit Gleichheit. Das bedarf der Brüderlichkeit. Die Materie des guten Lebens aller, Gegenstand aller Politik, bedarf der Erkenntnis des ganzen Volkes. Die Gesetze werden von den Vertretern des Volkes in den Volksvertretungen beschlossen (repräsentative, mittelbare Demokratie), wenn nicht vom Volk in seiner Gesamtheit (unmittelbare Demokratie). Die Wahlen der Volksvertreter, die die Besten des Volkes, eine republikanische Elite, sein sollten, müssen egalitär sein.3 Irgendeine Zweckmäßigkeit gubernativer Rechtsetzung oder irgendeine funktionale Effizienz4 vermögen die demokratische Legalität durch freiheitliche und gleichheitliche, also allgemeine, Parlamentswahlen nicht zu ersetzen, auch nicht mittels gewisser Transparenz elitärer Politik.5 Ein Freiheitsbegriff, der nicht mehr leistet, als Herrschaft in Grenzen zu weisen, dogmatisiert lediglich Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat und verfehlt sowohl das demokratische Prinzip als auch die politische Form der Republik.6 Das liberalistische Freiheitsverständnis, das Herrschaft nicht nur voraussetzt, sondern geradezu legitimiert, fällt in den vom monarchischen Prinzip gekennzeichneten Konstitutionalismus der Trennung von Staat und Gesellschaft zurück.7 Herrschaft und Freiheit sind unvereinbar.8

1

Zur kantianischen, grundgesetzlichen und weltrechtlichen Freiheitslehre siehe Schachtschneider, 1994: 1 ff., 35 ff., 71 ff., 253 ff., 325 ff., 410 ff., 427 ff., 441 ff. 519 ff., 637 ff.; ders., 2007: 34 ff., 274 ff., 405 ff.; ders., 2005: 23 ff. 2 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag: II, 1, 2, II, 3, II, 6; Kant, 1968: §§ 45, 46, 52, S. 431 ff., 464 f. 3 BVerfGE 1, 208 (247, 249); 4, 31 (39 f.); 4, 375 (383 ff.); 11, 266 (272); 11, 351 (360 f.), und ständig; dazu Schachtschneider, 1975: 89 f. 4 „Demokratie und Effizienz“ verbindet die Präambel des EUV im 5. Erwägungsgrund. Kritisch zur Output-Legitimation Schachtschneider, 2015: 174 ff. (zu Utz Schliesky). 5 Transparenz will Art. 11 Abs. 3 EUV fördern. 6 Dazu Schachtschneider, 1994: 441 ff.; ders.: 2007: 343 ff. 7 Dazu Schachtschneider, 1994: 159 ff.; ders., 2007: 207 ff. 8 Schachtschneider, 1994: 71 ff.; ders., 2007: 115 ff.

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Das demokratische Prinzip steht ausweislich Art. 20 Abs. 1 und 2 GG, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG als Strukturprinzip des Grundgesetzes nicht zur Disposition der europäischen Integration. Die Demokratie ist nach Art. 2 EUV ein „Wert“, auf dem die Union gründet. Weil dieser Wert verbunden ist mit den Werten der Freiheit, der Menschenwürde, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte, kann der Begriff der Demokratie nur freiheitlich im Sinne der allgemeinen Gesetzgeberschaft der Bürger verstanden werden. Das gegenwärtig geltende vertragliche Verfassungsrecht der Europäischen Union jedoch mißachtet das demokratische Prinzip, das die Gleichheit in der Freiheit gebietet. Die Europäische Union ist nicht demokratisch, schlimmer noch, die Mitgliedstaaten haben ihren demokratischen Status durch die Integration in die Europäische Union weitgehend eingebüßt. Das republikanische Freiheitsprinzip wird durch die Republik, den Staat des Rechts, den demokratischen Rechtsstaat, verwirklicht. Eine „Menge von Menschen“ wird durch das Verfassungsgesetz zu einem Staat, einer „civitas“, vereinigt9 und wird dadurch zum Staatsvolk, zum Staat im weiteren Sinne. Der Staat im engeren Sinne ist die Organisation des Volkes für die Verwirklichung des gemeinen Wohls, also die Einrichtungen des Staates, seine Organe, Behörden und Gerichte. Das demokratische Prinzip läßt nicht jede Größe eines Staates zu; denn die Freiheit gebietet, daß jeder Mensch als Bürger auf die politische Willensbildung einwirken kann. Bloße Wahlen von Repräsentativorganen, etwa des Parlaments, machen noch keine materiale Demokratie aus. Vielmehr müssen die politischen Freiheiten, die Rechte der freien Rede mit der Presse-, Rundfunk- und überhaupt der Medienfreiheit, die Rechte der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, sowie die Koalitionsfreiheit, nicht nur genannt und auch geschützt werden, sondern auch Wirksamkeit entfalten. Die Menschen müssen um ihrer Selbständigkeit willen Eigentum haben. Um Eigentum erwerben zu können, müssen sie Beruf und Arbeit haben u.a.m. Die Rechte müssen wirksam geschützt sein. Das verlangt nicht nur unabhängige Gerichte, sondern die Teilung der staatlichen Gewaltausübung. Vor allem aber verlangt die lebendige Demokratie die kleine Einheit.10 Großstaaten können nicht demokratisch sein, schon gar nicht ein Weltstaat.11 Die wichtigste Sicherung der Freiheit und des Rechts ist die vertikale Gewaltenteilung, die Teilung der Welt in Staaten. Das demokratische Prinzip gebietet mit der kleinen Einheit den Föderalismus und Kommunalismus in den Staaten. Wegen der Bindung der politischen Willensbildung an die Sprachen ist das demokratische Prinzip prinzipiell an die Spracheinheit gebunden, wie das die Entwicklung

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Vgl. den Staatsbegriff bei Kant, 1968: 431. Schachtschneider, 2006: 90 f., 171. 11 Schachtschneider, 2015: 367 ff.

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der europäischen Völker zeigt. Kulturelle Homogenität ist Voraussetzung demokratischer Republikanität, die eine Kommunikationsgemeinschaft sein muß.12 III. Unitarischer oder staatenbündischer Bundesstaat Die europäische Integration muß die Eigenständigkeit der verbundenen Völker, deren „nationale Identität“, wahren.13 Die bestimmenden Prinzipien für eine Integrationskonzeption müssen die dargelegten Rechtsprinzipien sein, an die auch Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG die Mitwirkung Deutschlands bei der Entwicklung der Europäischen Union zur Verwirklichung eines vereinten Europas bindet. Näher ins Auge zu fassen sind der unitarische Bundesstaat nach dem Beispiel der Bundesrepublik Deutschland und der staatenbündische Bundesstaat nach dem Beispiel etwa des Deutschen Bundes und auch der bisherigen Europäischen Union, also einer Republik der Republiken. Wenig tragfähig wären eine völkerrechtliche Organisation nach dem Beispiel der Welthandelsorganisation (WTO) oder ein Einheitsstaat ohne bündische Elemente, in denen die Mitgliedstaaten lediglich Regionen der Selbstverwaltung in einem zentralistisch geführten Großstaat wären, wenn auch der zentralistische Bürokratismus der gegenwärtigen Union in diese Richtung weist. Der unitarische Bundesstaat ist ein unechter Bundesstaat, weil er auf einem sowohl den Bund als auch die Länder ordnenden Verfassungsgesetz beruht, nicht auf einem Bündnisvertrag, wie der echte Bundesstaat. Bund und Länder sind im unechten Bundesstaat existentielle Staaten mit jeweils originärer Hoheit der unterschiedlichen Völker, also des Bundesvolkes und der Landesvölker. Ihre Souveränität ist kompetentiell geteilt. Die jeweilige Ausübung der Staatsgewalt ist eigenständig demokratisch legitimiert. Der unechte Bundesstaat ist tendenziell unitarisch, weil sein Prinzip die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im ganzen Bundesgebiet ist.14 Dem dient vor allem der Finanzausgleich (Art. 107 Abs. 2 GG) und das bewirkt zudem die funktional rechtsetzende Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes. Vom unechten Bundesstaat dürfen sich Länder nur in existentieller Lage separieren, wenn etwa der Bund die grundlegenden Verfassungsprinzipien des Landes zu verwirklichen unterbindet, etwa durch eine Integrationspolitik, die das demokratische Prinzip aushöhlt, oder wenn der Bund verfassungswidrige Kriege führt, etwa Angriffskrie12

Habermas, 1992: 109 ff., 329 ff., 516 ff.; ders., 1996: 277 ff., 293 ff.; Schachtschneider, 1994: 584 ff. 13 Art. 6 Abs. 3 EUV: „Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten.“ Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV L: „Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt.“ 14 Vgl. Art. 106 Abs. 3 Nr. 2 GG in der Finanzverfassung; Art. 72 Abs. 2 GG als Voraussetzung der konkurrierenden Gesetzgebungsbefugnisse des Bundes in bestimmten Bereichen, auch Art. 105 Abs. 2 GG für die Steuergesetzgebung seit der Föderalismusreform.

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ge,15 aber auch wenn der Bund die Sicherheit und Ordnung nicht mehr gewährleistet. In der existentiellen Lage setzt sich die existentielle Staatseigenschaft der Länder durch, welche in Normallagen dem Bund zur Bundestreue verpflichtet sind (vgl. auch Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG). Die Aufgaben und Befugnisse der Europäischen Union haben sich derart erweitert und vertieft, daß sie der Staatsgewalt eines unitarischen Bundesstaates allemal genügen. Die Union hat die existentielle Währungshoheit, weitgehend wegen der Handhabung der Grundfreiheiten des Binnenmarktes die Wirtschaftshoheit, ausschließlich die außenwirtschaftliche Handelshoheit16 u.a.m. Die Subsidiarität wird nicht gelebt. Freilich fehlt der Union die originäre Hoheit mangels einer existentiellen Staatseigenschaft, die ein Verfassungsgesetz oder einen entsprechenden Verfassungsvertrag voraussetzen würde. Vor allem sind die Unionsbürger kein Staatsvolk.17 Der staatenbündische Bundesstaat ist ein echter Bundesstaat, weil er auf einem Bündnis, einem Bundesvertrag, beruht. Der unechte Bundesstaat wird durch ein Verfassungsgesetz staatsrechtlichen Charakters, der echte Bundesstaat durch einen völkerrechtlichen Vertrag begründet und geordnet. Der echte Bundesstaat ist föderalistisch. Sein Vertragsprinzip bringt es mit sich, daß das Bündnis aufgelöst werden und jeder Bündnispartner (Mitgliedstaat) den Bundesstaat verlassen kann, ohne daß das besonderer Voraussetzungen bedarf. Der staatenbündische Bundesstaat hat nur abgeleitete Hoheit aufgrund der ihm von den Bündnisstaaten zur gemeinsamen Ausübung übertragenen Hoheitsrechte. Er hat keine eigenständige demokratische Legitimation. Seine Politik wird vielmehr von den Vertragsstaaten, insbesondere deren Volksvertretungen, legitimiert und legalisiert. Er ist keine Schicksalsgemeinschaft wie der unechte Bundesstaat. Seine Aufgaben und Befugnisse sind begrenzt und zielen nicht auf einheitliche Lebensverhältnisse. Er ist also nicht unitarisch. Das Bundesverfassungsgericht qualifiziert die Europäische Union in etwa im Sinne eines staatenbündischen Bundesstaates als Staatenverbund (BVerfGE 89, 155 [184, 186, 188 ff.]; 123, 267, Rn. 233) und hat das wesentliche Austrittsrecht, nämlich das Recht der Mitgliedstaaten, den Rechtsanwendungsbefehl für das Gemeinschaftsrecht durch Aufhebung des Zustimmungsgesetzes zu beseitigen, festgestellt (BVerfGE 89, 155 [190]).18 Das Gericht sieht die Mitgliedstaaten als die „Herren der Verträge“ (BVerfGE 89, 155 [190]; 123, 267, Rn. 231, 235, 271, 298, 334), welche die „Souveränität“ wahren (BVerfGE 89, 155 [188 ff.]; 123, 267, Rn. 223 ff., 231, 247 f, 262 f., 275, 281, 329, 338 ff., 347). Das Konzept einer Vereinigung Europas muß „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität ver15

Dazu Schachtschneider, 2007. Freilich zu Unrecht, siehe Schachtschneider, 2010: §§ 2 f., S. 51 ff., 71 ff., § 4, S. 128 ff., § 11, S. 430 ff. 17 Zum Ganzen Schachtschneider, 2003: 279 ff.; ders., 2015: 460 ff. 18 Vorbereitend Schachtschneider, 1991: 178; ders./Emmerich-Fritsche/Beyer, 1993: 758 f.; dazu ders., 2015: 24 ff.; auch schon Krüger, 1966: 767. 16

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pflichtet sein und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleisten“ (Art. 23 Abs. 1 S. 1 und 3, Art. 79 Abs. 3 GG). Insofern bereitet die reale Integration der Europäischen Union größte Sorgen. IV. Europäische Union – funktional unitarischer, legitimatorisch staatenbündischer Bundesstaat 1. In der Verfassung der Unionsverträge tendiert die Europäische Union funktional zum unitarischen Bundesstaat, ja nach ihren Aufgaben und Befugnissen existentieller Staatlichkeit ist sie ein solcher Bundesstaat. Legitimatorisch aber ist sie mangels der originären Hoheit eines Unionsvolkes ein staatenbündischer Bundesstaat oder eben ein Staatenverbund geblieben. Darum hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder ausgesprochen, daß die Union „kein Staat, kein Bundesstaat“ sei (BVerfGE 22, 293 [296]; 89, 155 [188]; 123, 267, Rn. 179 f.; auch BVerfGE 75, 223 [235, 242]; 113, 273 [296]), und sich dabei an der Bundesrepublik Deutschland orientiert. Wegen ihrer funktional weitgehend existentiellen Staatlichkeit verletzt die Europäische Union die existentielle Staatseigenschaft und damit die Souveränität der Mitgliedstaaten, aber auch alle Strukturprinzipien des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG. Sie ist keine Demokratie, sie ist kein Rechtsstaat und sie ist kein Sozialstaat. Der Grundrechtsschutz leidet Not. Die föderativen Grundsätze sind so gut wie bedeutungslos. Jedenfalls sind die Länder Deutschlands funktional weitgehend ihrer souveränen Staatlichkeit beraubt und sollen nach Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV auf „regionale […] Selbstverwaltung“ reduziert werden. Das Subsidiaritätsprinzip entfaltet so gut wie keine Wirkung. 2. Das demokratische Defizit der Europäischen Union ist nicht behebbar.19 Das Europäische Parlament repräsentiert kein Volk, die Abgeordneten werden nicht gleichheitlich gewählt. Es kann einen Kommissionspräsidenten verhindern, nicht auswählen. Die Gesetze machen die Kommission und der Rat, Exekutivorgane. Das Parlament hat kein Gesetzesinitiativrecht und muß Gesetzen nur zustimmen, wenn diese nicht wirklich wichtig sind. Es hat begrenzten Einfluß auf den Haushalt, nicht aber auf die Wirtschafts- und Handelspolitik, nicht auf die Sicherheits- und Verteidigungspolitik u. a. Mächtig ist der Europäische Gerichtshof, dessen Richter, aus jedem Mitgliedstaat einer, von den Regierungen ausgewählt werden. Das gibt keinerlei demokratische Legitimation. Der Gerichtshof pflegt die Verträge mehr als kreativ zu handhaben, wenn das der Integration dienlich zu sein scheint. Er behandelt seit 1963 die völkerrechtlichen Gründungsverträge der Gemeinschaft, insbesondere die Wirtschaftsfreiheiten des Binnenmarktes, wie verfassungsrechtliches Staatsrecht mit Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten und hat seine Gestaltungsmacht durch subjektive Rechte jedes Menschen auf Einhaltung des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten außerordentlich erweitert, weil er darüber das letzte 19

Dazu näher zuletzt Schachtschneider, 2015: 460 ff.

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Wort beansprucht. Das hat die Gemeinschaft entgegen der Souveränität der Völker umgewälzt, das demokratische Prinzip der begrenzten Ermächtigung, das die Hoheit der Völker respektiert, ist ausgehebelt. Freilich hat sich das Bundesverfassungsgericht dem Diktat unterworfen. 3. Wegen des essentiellen Demokratiedefizits genügt die Europäische Union auch nicht dem Rechtstaatsprinzip, aber auch nicht dem Sozialprinzip; denn es gibt keinen Rechtsstaat ohne Demokratie, und dem Sozialprinzip fehlt ohne demokratische Willensbildung das entscheidende Movens.20 Auch das freiheitliche Prinzip der Gewaltenteilung21 ist durch die im Wesentlichen exekutivistische Rechtsetzung der Union so gut wie aufgehoben. Freilich leidet dieses auch seit langem durch die Parteienstaatlichkeit in Deutschland und anderswo große Not.22 V. Umgestaltung der Wirtschaftsordnung durch die Europäische Union 1. Das Grundgesetz gestaltet den Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gemäß eine marktliche Sozialwirtschaft,23 in der die Wirtschaft eine dienende Funktion für die Menschen hat, ganz im Sinne der katholischen Soziallehre, vor allem der Enzyklika „Quadragesimo Anno“ von 1931. Die Wirtschaftsordnung der Europäischen Union ist demgegenüber neoliberal, kapitalistisch und wenig sozial. Die Union ist wesentlich ein Markt, für den politische Gewalt eingesetzt wird, nicht ein solidarisches Gemeinwesen, weil sie wegen der ökonomischen Heterogenität der Mitgliedstaaten kein Sozialstaat sein kann. Mit aller Härte setzen die Kommission und der Gerichtshof ein wenig bestimmtes Markt- und Wettbewerbsprinzip durch,24 freilich aus besonderen Gründen nicht in der Agrarpolitik. Der Binnenmarkt ist die Wirklichkeit der Grund- oder Wirtschaftsfreiheiten.25 Das Herkunftslandprinzip, das Prinzip der allseitigen Anerkennung der Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten,26 entzieht die Legalität der Waren und Dienstleistungen, aber auch die der Unternehmensformen der politischen Willensbildung der unionsweit betroffenen Menschen. Das hat ökonomisch die Nivellierung der Standards erzwungen. Der angestrebte Binnenmarkt der Europäischen Union mit Kanada und den USA wird diese Lage verschlechtern. 20 Habermas, 1992: 151 ff.; ders., 1996: 251, auch 277 ff., 293 ff.; Schachtschneider, 1994: 14 ff., 685 ff.; ders., 2006: 16 f., 23 ff., 54, 298 ff.; ders., 2007: 74 f. 21 Schachtschneider, 2006: 167 ff. 22 Schachtschneider, 2006: 45 ff., 176 ff. 23 Schachtschneider, 2006b: 41 ff.; ders., 2010: § 1, S. 25 ff. 24 Schachtschneider, 2010: §§ 2, 3, 6, 7, 8, 9, S. 71 ff. 25 Schachtschneider, 2010: S. 51 ff., 71 ff. 26 Grundlegend EuGH vom 20. 02. 1979 – Rs. 120/78 (Rewe/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649, Rdn. 8, 14; st. Rsp., etwa EuGH vom 22. 10. 1998 – Rs. C-184/ 96 (Kommission/Frankreich), Slg. 1998, I – 6197, Rdn. 28; dazu Schachtschneider, 2015: 490 ff.

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Der Grundsatz „einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“, der nach Art. 119, 120 und 127 AEUV weltweit angelegt ist, ist die Essenz der Union, gerade weil sie kein wirklicher Staat ist. Wettbewerb unter divergenten Volkswirtschaften und soziale Gerechtigkeit sind unvereinbar. Wirtschaft, Währung und Soziales sind eine Einheit, deren Gestaltung in einer Hand, in der von Einzelstaaten, liegen muß. Nur mittels wirklicher demokratischer Willensbildung ist ein tragfähiger Ausgleich der gegenläufigen Interessen im Volk zu erwarten, zumal eine alle Bürger befriedigende Verteilung dessen, was das Gemeinwesen erwirtschaftet. Der Verfall der Verteilungsgerechtigkeit ist ein Zeichen der fortschreitenden Entdemokratisierung der Politik. Auch weil das wesentliche Verfahren der Verwirklichung des Binnenmarktes nicht die Rechtsetzung, sondern die Rechtsprechung ist, werden systemisch die sozialen Belange vernachlässigt. Sozialpolitik, immer zugleich Finanzpolitik, ist nur durch Rechtsetzung möglich, während die Markt- und Wettbewerbspolitik aufgrund der Grundfreiheiten (Art. 26 ff., 45 ff., 49 ff., 56 ff., 63 ff. AEUV) und der Wettbewerbsregeln (Art. 101 ff. AEUV) im Wesentlichen durch die Kommission und den Gerichtshof gemacht wird. Die Sozialpflichtigkeit unternehmerischen Handelns (Art. 14 Abs. 1 GG)27 kann in der Union nicht durchgesetzt werden, nicht einmal die Gleichheit deren Besteuerung, erst recht nicht global. Sogar staatliche Agenden, zumal die Daseinsvorsorge, werden mehr und mehr dem privattypischen Markt- und Wettbewerbsprinzip unterworfen, als sei der Staat Unternehmer.28 Die Freihandelspolitik weitet den demokratiewidrigen Privatismus und sozialwidrigen Kapitalismus weltweit aus und entrechtet damit das Leben. Die mittels der Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 Abs. 1 AEUV) erzwungene internationalistische Öffnung des Unternehmenseigentums ist das bestimmende Instrument des globalen Kapitalismus und der sozialwidrigen Einkommensverteilung.29 Die Freihandelsdoktrin geht zu Lasten der schwächeren Volkswirtschaften.30 Den Einzelstaaten ist es nicht möglich, ihr Gemeinwohl gegen die Zwänge der globalen Märkte zu behaupten. Sie bedürfen des Schutzes, einer hinreichenden Protektion ihrer Wirtschaft. Die Wirtschaft eines europäischen Europas kann nicht der Doktrin eines unechten Freihandels folgen, dessen eigentliches Prinzip – die komparativen Vorteile, nämlich allseitige Auslastung der Ressourcen – nicht erfüllt wird, in dem vielmehr absolute Kostenvorteile für die Bereicherung weniger mißbraucht werden. Ein globaler Markt und nationale Sozialsysteme mit hohen Standards sind in der realen Welt unvereinbar. Die Nivellierung der Standards ist in der internationalistischen Wirtschaft ökonomisch erzwungen, auch die der Unternehmenssteuern. Die Völker sind entmündigt, weil die Politik entdemokratisiert ist. Eine regionale Wäh27

Schachtschneider, 2007: 551 ff. Etwa EuGH vom 23. 04. 1991 – Rs C-41/90 (Höfner u. Elser/Macrotron), Slg. 1991, I – 1979, – Rdn. 21 ff.; vgl. Schachtschneider, 2010: § 8 II, S. 353 ff. 29 Schachtschneider, 2002: 253 ff., insb. 289 ff.; ders., 2005b, 668 ff. 30 Dazu Schachtschneider, 2014: 514 ff. 28

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rungseinheit schafft zusätzliche Widersprüche. Eine derartige Mehrebenenverfassung führt in Unregierbarkeit und Rechtlosigkeit. Die Entwicklung der Europäischen Union, integriert in die globale Wirtschaftsordnung und mit einer besonderen Währungszone, erweist die Schwächen einer solchen politischen Struktur. Sie setzt auf die Ordnungskraft der Märkte und vernachlässigt die Notwendigkeit staatlicher Politik – irrtümlich oder absichtlich, jedenfalls gibt es Profiteure. Überall mißrät die Verteilung des Volkseinkommens. Die Wirtschaftsverfassung muß volkswirtschaftlich, also einzelstaatlich, sein. Ein Grundprinzip des gemeinsamen Lebens in Freiheit ist die wirtschaftliche Eigenverantwortung. Sie gehört zur Selbständigkeit des Bürgers, die zu fördern, aber auch zu fordern der wesentliche Gegenstand des Sozialprinzips ist. Dem ist der sozialistische Egalitarismus zuwider, der zu den machtvollen, bestimmenden Ideologien unserer Zeit gehört, aber zunehmend in Konflikt mit der nationalen Selbstbehauptung der Völker gerät. Ein gewisses Maß an Autarkie der Völker ist notwendig, nicht nur um der Demokratie, sondern auch um der volkswirtschaftlichen Einheit der Wirtschaft, der Währung und des Sozialen willen, ganz abgesehen von dem kulturellen Eigenstand jedes Volkes. Diese Einheit schafft nur der Staat, der die Souveränität des Volkes auch wahrnimmt. An die Stelle von Demokratie tritt Plutokratie. 2. Als Vision wird den Menschen der weltweite Frieden in einer geeinten Welt vorgegaukelt. Aber der Weltstaat, die „civitas maxima“, ist Utopie. Abgesehen von der fortdauernden Realität der Kriege und Konflikte wäre ein Weltstaat nicht der Frieden unter den Menschen, sondern die weltweite Unfreiheit, die globale Gewaltherrschaft, das Gegenteil von Frieden. Es gibt keine Freiheit ohne die Vielheit der Staaten, der hinreichend kleinen politischen Einheiten, die der Demokratie fähig sind und damit die wichtigste, die vertikale Gewaltenteilung ermöglichen. Der Frieden ist die Wirklichkeit des Rechts unter den Völkern, das gelebte Völkerrecht, wie ihn Kant im „Ewigen Frieden“ gelehrt hat. Die Völker aber müssen um ihrer Souveränität willen, die nichts anderes ist als die Freiheit der Bürger, selbständig sein. Die Wirtschaft und damit der Markt können somit nicht aus der Politik der Staaten herausgelöst werden, genausowenig wie die Währung und die Handelspolitik, vor allem weil der Staat für die soziale Realisation verantwortlich ist. Die Staaten müssen allemal die Hoheit über ihre Währungen, aber auch die Hoheit über ihren Außenhandel unabhängig ausüben können. In einem europäischen Europa müssen Markt und Währung von den Einzelstaaten geordnet werden, die auch das Sozialprinzip nach ihren Möglichkeiten verwirklichen. Jede Volkswirtschaft, jedes Volk und jeder Staat also, müssen die Herausforderungen der Globalisierung selbst bewältigen. Nur sie können es, solange sie Sozialstaaten bleiben wollen. 3. Mittels der souveränitäts- und demokratiewidrigen Währungsunion will die Union die größtmögliche Integration zu einem Vereinten Europa ertrotzen, den unitarischen Bundesstaat, der durch einen Finanzausgleich zwischen den Teilstaaten charakterisiert ist. Die Einheitswährung, der Euro, war von vornherein zum Scheitern

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verurteilt und ist gescheitert, weil er ohne hinreichende wirtschaftliche Konvergenz der Staaten nicht bestehen kann. Seine Praxis hat die Divergenz verstärkt und die schwächeren Volkswirtschaften in Not gebracht. Die für sie überbewertete Währung hat trotz ,subventionierter‘ Zinsen ihrer Wettbewerbsfähigkeit existentiell geschadet und schadet ihr weiter. Die unverzichtbare Möglichkeit der Abwertung ist ihnen genommen. Der Wettbewerbsnachteil der geringeren Industrialisierung und der höheren Produktionskosten wurde durch die zinsgünstig kreditfinanzierte Angleichung der Lebensstandards weiter verschärft. Die Kreditfähigkeit ging erwartungsgemäß verloren. Die Eurostaaten haben dennoch Kredite gegeben und „Rettungsschirme“, EFSF und ESM, aufgespannt, um einerseits den Euro als Hebel zum unitarischen Bundesstaat zu verteidigen und andererseits die überschuldeten Banken, vermeintlich wegen deren Systemrelevanz, zu stützen. Die Währungseinheit verschärft den Strukturfehler eines Binnenmarktes unter hoch heterogenen Volkswirtschaften, die eben keinen optimalen Währungsraum bilden. Mangelnde Konvergenz der Wirtschaftsgebiete kann nur ein Staat mittels Finanzausgleich und mittels beitragsoder steuerfinanzierter Sozialpolitik ausgleichen. Auch darum ist der Unionsstaat als Sozialstaat Ziel der Integrationspolitik, der aber wegen der Überforderung der leistungsstärkeren Mitgliedstaaten noch die Souveränität entgegengesetzt wird. Die Europäische Zentralbank hat schließlich entgegen ihren Befugnissen ihre Instrumente der Währungspolitik für die Finanzstabilitätspolitik, also Wirtschaftspolitik, eingesetzt, für die mittelbare Staatsfinanzierung durch aus dem Nichts gewonnenes Zentralbankgeld, getarnt durch das automatische monetäre Bail-out des Verrechnungssystems TARGET 2, offen durch die durchaus wirksame Zusage des OMTProgramms und schließlich durch die Praktizierung einer extremen Politik des billigen, ja kostenlosen Geldes, das „Quantitative Easing“. Es hilft alles nicht. Investitionen und Wachstum hat die Geldmengenschwemme nicht gebracht. Es fehlt in den hilfsbedürftigen Ländern an Voraussetzungen dafür, am Unternehmertum, an ausgebildeten Arbeitskräften, vor allem an der Chance, den Wettbewerb gegen die starken Wettbewerber, insbesondere Deutschland, zu bestehen, das durch eine kraß unterbewertete Währung einen uneinholbaren Wettbewerbsvorteil hat, ein völkerrechtlich bedenkliches, unsittliches Preisdumping. Deutschlands Exportüberschuß kommt den international agierenden Unternehmen und dem kreditfinanzierten Staat zugute, nicht der Bevölkerung, die durch die Nullzinspolitik der Zentralbank um vielerlei Vermögen enteignet wird. Die allgemeine Kaufkraft in Deutschland ist nicht entsprechend dem Wirtschaftswachstum gestiegen, sondern seit Jahren gesunken, vielfach in die Armut hinein. Der Bevölkerung wird die „Sozialdividende“ der Aufwertung vorenthalten. Wegen der integrationistischen Praxis des Europäischen Gerichtshofs, die jede Maßnahme, die dem Bestand und der Förderung der Europäischen Union dienlich erscheint, ob zu recht oder zu unrecht zu rechtfertigen pflegt, der sich jedenfalls das Bundesverfassungsgericht entgegen der eigenen Rechtserkenntnis (ausweislich des Vorlagebeschlusses vom 14. Januar 2014 und des Urteils selbst) unterworfen hat (Urteile zum OMT-Programm: EuGH vom 16. Juni 2015 [C-62/14]; BVerfG vom 21. Juli 2016 [2 BvR 2729/13]), ist der Weg zum Recht durch Rechts-

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schutz und damit zur ökonomischen Vernunft nicht mehr zu erwarten. Es wird weiter um die Politik des lockeren Geldes prozessiert, dessen Wirkung den Zusammenbruch der Finanzstabilität befürchten läßt. Der Zahlungsbilanzausgleich, gewissermaßen eine Balance von Importausgaben und Exporteinnahmen einer Volkswirtschaft, gehört zum verfassungsgebotenen Stabilitätsprinzip, nämlich dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht (Art. 109 Abs. 2 GG), dem magischen Viereck des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes Deutschlands. Es ist im Sozialprinzip verankert, das zur Identität jedenfalls der Verfassung Deutschlands gehört. Die verheerende Geldpolitik erweist die Chancenlosigkeit des realen Projekts der Integration Europas. Die finanzielle Verantwortung für ihren Staat und ihre Wirtschaft haben ohne jede Einschränkung die Völker der Mitgliedstaaten. Die Völker können nur verbrauchen, was sie erwirtschaftet haben. Die ausufernde Finanzhilfe für fremde Staaten oder gar deren Banken ist staatswidrig (striktes Bail-out-Verbot). Schon die staatswidrigen Rettungsschirme EFSF und ESM hat das Bundesverfassungsgericht wegen des Integrationsprinzips zu Lasten der Bürger hingenommen, weil die Gewährleistungen und Kapitalzusagen Deutschlands die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages nicht evident „leerlaufen“ lassen würden (Urteil vom 18. März 2014, 2 BvR 1421/12 , BVerfGE 135, 317 ff.). Sie nützen weder dem eigenen Volk noch gar den Völkern der kreditierten Staaten. Die „strengen Auflagen“ für die Wirtschafts- und Finanzpolitik sind interventionistisch, souveränitäts- und demokratiewidrig, sind abgenötigte Austerität, die das Elend der Völker vergrößert. Sie stützen vor allem das Fiat-Money, die rein spekulative private Geldschöpfung der international agierenden Banken, die mit Hilfe botmäßiger Politiker, der Europaideologie verhaftet, ihre unvermeidlichen Verluste auf die steuerzahlenden Bürger abzuwälzen vermögen. Das ethische, sowohl ökonomisch wie rechtlich, begründete Prinzip: Wer handelt, der haftet, wird durch ein Rechtsprinzip der Systemrelevanz von Banken nicht relativiert. Zum Zusammenhalt eines Volkes, das gemeinsam wirtschaftet, gehört mit dem Sozialprinzip auch die Solidarität mit den Jungen, Alten, Kranken und Schwachen. Das Volkseinkommen muß gerecht im Volk verteilt werden. Maßstäbe der Verteilung sind auf der Grundlage der Gleichheit in der Freiheit der Bedarf und die Leistung. Aber auch die Ergebnisse des Marktes und der Nutzen des Eigentums, einschließlich der Erbschaft, müssen in einer Markwirtschaft, die wesentlich auf Eigentum gründet, berücksichtigt werden. Diese Solidarität ist aber auf die Bürgerschaft des gemeinsamen Staates beschränkt, weil nur diese existentiell mit dem Staat verbunden ist. Nur sie unterliegt den Gesetzen dieses Staates, die sie sich selbst als der Souverän im allgemeinen Willen gibt. Solidarität kann es nur in hinreichender Nähe und in gegenseitiger Verantwortung geben. Das Sozialprinzip ist untrennbar mit dem demokratischen Prinzip verbunden. Beide bestimmen das Recht des Gemeinwesens. Einem Großstaat Europa als Region eines Weltstaates hat bisher kein Volk zugestimmt, genausowenig wie der Veränderung der Völker durch Masseneinwanderung,

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die dasselbe Ziel verfolgt. Die politische Klasse mißachtet die Grenzen ihrer Befugnisse. Darüber hilft auch die Zustimmung von Parlamenten nicht hinweg. Deutschland ist zwar faktisch, aber nicht seiner Verfassung nach eine Verwaltungsregion der Europäischen Union, genauso wie deren andere Mitgliedstaaten. Die Unionsstaaten sind existentielle und unabhängige politische Organisationen der souveränen Bürgerschaften Europas; denn nach wie vor „geht alle Staatsgewalt vom Volke aus“, in jedem Mitgliedstaat. VI. Begriff Europa 1. Die großstaatliche Erweiterung wird die Europäische Union über die gegenwärtig 28 Mitgliedstaaten hinausführen. Weitere Balkanstaaten drängen in die Union, seit dem Machtwechsel auch die westlich orientierten Kräfte der Ukraine, vielleicht sogar nach einer Revolution Weißrußland, vor allem, bereits in Beitrittsverhandlungen, die Türkei, danach auch die nordafrikanischen Mittelmeeranrainer und, so ist zu erwarten, Israel, irgendwann vielleicht auch die GUS-Staaten, insbesondere das große Rußland, ein ebenso europäischer wie asiatischer Großstaat. Die Erweiterung ist auch eine Rechtsfrage, weil jedenfalls Deutschland sich durch das Grundgesetz, sowohl in der Präambel als auch in dem Integrationsartikel, entschieden und verpflichtet hat, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ bzw. „zur Verwirklichung eines vereinten Europas […] bei der Entwicklung der Europäischen Union“ mitzuwirken. Nach Art. 49 Abs. 1 S. 1 EUV kann jeder „Europäische Staat, der die in Artikel 2 genannten Werte (Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einschließlich der Personen, die Minderheiten angehören) achtet und sich für ihre Förderung einsetzt, Mitglied der Union werden.“ Nicht jedes Gebiet dieser Welt ist Europa. Der Europabegriff wird meist geographisch verstanden31 und bezeichnet einen Erdteil, nicht eine Kultur und schon gar nicht ein strategisches Gebiet. Die Türkei ist ein asiatischer Staat, der seit der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 mit dem kleineren Teil des jetzigen Istanbul nach Europa hineinragt. Das verschafft nicht wirklich einen europäischen Status, wenn auch der Türkei seit dem Assoziierungsvertrag vom 12. September 1963 die spätere Mitgliedschaft zunächst in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft versprochen und in der Regierungskonferenz vom 13. Dezember 2002 ihr Status als Beitrittskandidat zur Europäischen Union begründet wurde. Über den Beitritt wird formal ergebnisoffen, material und politisch weitestgehend gebunden, seit dem 3. Oktober 2005 verhandelt. Die Massenmigration nach Deutschland hat die Verhandlungen beschleunigt. Die Versprechen der Regierungen verpflichten nicht die Völker, die gemäß ihren Verfassungsgesetzen über den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union zu entscheiden

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Oppermann, 2005: § 32, Rdn. 8, S. 699; vgl. Murswiek, 2005: 657 ff.

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und damit auch zu befinden haben, ob die Türkei zu Europa gehört.32 Einer Homogenität der Bevölkerung dient die Aufnahme der Türkei nicht, weil trotz aller Religionsgrundrechte die kulturelle Einheit der Europäer dem gemeinsamen Christentum verbunden ist, sei dies auch noch so sehr säkularisiert. Die Türkei ist ihrerseits trotz des säkularisierenden Kemalismus, dessen Wirkung schwächer geworden ist, ein islamisches Land. Wenn die Europäische Union den Weg zum existentiellen Bundesstaat weitergeht, den der Vertrag von Lissabon beschritten hat, ist ein Mindestmaß an religiöser Homogenität unverzichtbar.33 Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind berechtigt, ihre religiöse Homogenität zu wahren, wenn sie auch die Religionsgrundrechte jedes einzelnen Menschen in ihrem Staat wegen der Religionsgrundrechte (Art. 18 AEMR, Art. 9 EMRK, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) zu wahren verpflichtet sind. Kein Mensch muß jedoch die Hand dafür reichen, daß aus seinem christlichen ein islamisches Land wird. Wenn freilich die Integration auf eine Wirtschaftsgemeinschaft und die Grundfreiheiten auf völkerrechtliche Verpflichtungen zurückgeführt werden, welche vor allem das Bestimmungslandprinzip respektieren, stellt sich die Frage nach dem Beitritt der Türkei anders, jedenfalls ist das Problem der unterschiedlichen Religionen dann weniger bedeutsam. Maßgeblich ist jedoch der Begriff Europa, der letztlich ein formaler Begriff ist. Darum muß politisch von den Völkern der Union entschieden werden, ob ein Staat zu Europa gehört. Einen Anspruch auf Mitgliedschaft verschafft der Europabegriff nicht.34 2. Deutschland ist zwar faktisch, aber der Verfassung nach kein Einwanderungsland. Alle „Flüchtlinge“ haben jedenfalls die Grenze nach Deutschland illegal überschritten. Keiner von ihnen kann das Asylrecht beanspruchen, keiner den internationalen Schutz, auch nicht den Flüchtlingsstatus, der massenhaft zuerkannt wird.35 Humanität an die Stelle von Recht zur Maxime staatlichen Handelns machen zu wollen, verkennt, daß allein Gesetzlichkeit Menschlichkeit ist, wenn die Gesetze human sind, also der Menschenwürde und den Menschenrechten genügen, wie im Prinzip und in der Regel in Deutschland und in den anderen Ländern der Union. Wenn die islamische Landnahme nicht unterbunden wird, wird Europa seinen europäischen Charakter gänzlich einbüßen, so daß eine europäische Integration allenfalls noch geographisch denkbar ist. Europa ist aber durch seine Kultur gekennzeichnet. Die ist ebenso christlich wie aufklärerisch, insbesondere säkularistisch.36

32 Dazu Oppermann, 2005: § 32, Rdn. 31 f., 710, selbst skeptisch („Schicksalsfrage des europäischen Einigungsprozesses“). 33 Zur republikanischen Homogenität Schachtschneider, 1994: 1177 ff. 34 Oppermann, 2005: § 32, Rdn. 6, 699. 35 Näher dazu Schachtschneider: Verfassungsbeschwerde gegen die Masseneinwanderung vom 30. Januar 2016 (ohne Begründung nicht zur Entscheidung angenommen, siehe http:// www.kaschachtschneider.de/images/VerfbeschwerdeFluechtlinge.pdf). 36 Dazu Schachtschneider, 2011.

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VII. Für den staatenbündischen Bundesstaat Europas 1. Das demokratische, das rechtsstaatliche und das soziale Prinzip sprechen geradezu gebieterisch für die zweite Konzeption des staatenbündischen Bundesstaates, für die Republik der Republiken, und gegen die erste Konzeption, den unitarischen Bundesstaat. Vor allem kann auf die demokratische Legalität der Ausübung der Staatsgewalt durch die Völker nicht verzichtet werden. Darum muß die existentielle Staatlichkeit mit der existentiellen Staatseigenschaft verbunden sein. Das gebietet die Souveränität der Völker, die Freiheit deren Bürger. Keinesfalls kann das Demokratieprinzip dahin umgedeutet werden, daß demokratische Legitimität durch die sachliche Richtigkeit von Entscheidungen gewonnen würde, deren Effizienz und Transparenz dem demokratischen Prinzip genügten (Output-Legitimation37). Die sachliche Richtigkeit der Politik, die notwendig mit dem Ausgleich der Interessen verbunden ist,38 kann von Experten bedacht und vorgeschlagen, nicht aber verbindlich gemacht werden. Es ist gerade die demokratische Form der politischen Willensbildung, welche gewährleisten soll, daß alle Menschen unter den eigenen Gesetzen leben, Gesetzen, die ihrem Willen entsprechen. Das sichert die materiale Gerechtigkeit, insbesondere die Gleichheitlichkeit, nicht die Egalität, der Verteilung der Lebensmöglichkeiten. Wer auf die größtmögliche Legalisierung der Politik durch die Bürgerschaft, also alle Bürger, zugunsten bürokratisch gestützter Führung verzichtet, redet der Despotie das Wort, dies mag ein „sanft aufgeklärter Despotismus“ sein, wie Jacques Delors das für die Europäische Union eingeräumt hat,39 kann aber in eine harte Despotie oder eine Tyrannis umschlagen, wenn sie in falsche Hände gerät. Besonders gefährdet sind insoweit Großstaaten, weil sie den Widerspruch und erst recht den Widerstand so gut wie unmöglich machen. Im staatenbündischen Bundesstaat hat die Union keine originäre Hoheitsgewalt; denn sie ist nicht die staatliche Organisation eines Unionsvolkes. Vielmehr ist sie der Verbund existentieller Staaten souveräner Völker durch einen völkerrechtlichen Vertrag. Die Hoheitsrechte sind ihr von den Mitgliedstaaten zur gemeinschaftlichen Ausübung übertragen (BVerfGE 89, 155 [184, 186 f.]).40 Wegen der demokratischen Verantwortbarkeit der Unionspolitik durch die Mitgliedstaaten, entweder unmittelbar durch deren Völker oder mittelbar durch deren Volksvertretungen, kann die Union nur begrenzt ermächtigt werden. Die Ermächtigungen müssen hinreichend bestimmt sein, so daß die Politik der Union durch ihre Voraussehbarkeit auch verantwortbar ist (Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, BVerfGE 89, 155 [189, 191 ff.]; 123, 267 Rn. 226, 234 ff., 262 ff., 298 ff., 326).41 Die gegenwärtigen Ermächtigungen der Europäischen Union gehen weit über dieses Prinzip hinaus und müssen um der Demokratie willen zurückgedrängt werden, am besten durch neue 37

Dazu kritisch Schachtschneider, 2015: 190 ff. Schachtschneider, 1994: 617 ff.; ders., 2007: 557 f. 39 Delors, 2007 (Zitat aus „Erinnerungen eines Europäers“, 2004). 40 Schachtschneider, 2006: 66 ff., insb. 74 f. 41 Schachtschneider, 2006: 71 f.

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Verträge. Es ist auch nicht tragfähig, daß ein Unionsorgan, der Europäische Gerichtshof, die Ermächtigungen definiert und dabei usurpatorisch erweitert. Die Integration muß im staatenbündischen Bundesstaat die existentielle Staatlichkeit der existentiellen Staaten, die Souveränität der Nationen, achten, also deren Wirtschafts-, Währungs- und Sozialhoheit, auch deren Kulturhoheit, vor allem aber deren Rechtshoheit und auch Verteidigungshoheit. Der staatenbündische Bundesstaat schließt differenzierte völkervertragliche Verhältnisse der Mitgliedstaaten nicht aus, also ein Europa der verschiedenen Integrationsstufen. In Betracht kommen auch gemeineuropäische Rechtsetzungen, welche aufgrund einheitlicher Gesetzesentwürfe von den verschiedenen Mitgliedstaaten verabschiedet werden. Die demokratisch vertretbare Ermächtigung der Union reicht nicht, um allen Integrationsbedürfnissen gerecht zu werden. Das rechtfertigt aber keinesfalls, das demokratische Prinzip zu relativieren. Die Gerichtsbarkeit der Union muß strikt auf die Vertragsauslegung und Vertragsanwendung beschränkt bleiben. Das letzte Wort in Sachen des Rechts muß die nationale Gerichtsbarkeit auch auf die Gefahr hin haben, daß das Gemeinschaftsrecht unterschiedliche Wirkung in den Mitgliedstaaten entfaltet. Das hat es ohnehin wegen dessen durch die Verfassungen der Mitgliedstaaten begrenzten Vorranges. So gilt der Lissabon-Vertrag in Deutschland nur nach Maßgabe der umfangreichen Urteilsgründe des Bundesverfassungsgerichts im Urteil vom 30. Juni 2009 (2 BvR 1010/08, BVerfGE 123, 267 ff., Rn. 207, 273). Die Verbindlichkeit der Judikate der Unionsgerichtsbarkeit muß gemäß den völkerrechtlichen Prinzipien begrenzt bleiben. 2. Um die Europäische Union zum staatenbündischen Bundesstaat mit tragfähiger demokratischer Legitimation zurückzuführen, bedarf es der Revision der Verträge. Diese müssen für flexible und differenzierte Entwicklungen unter den Mitgliedstaaten geöffnet werden. Die weitgehend usurpierten Hoheitsrechte müssen die Mitgliedstaaten wieder an sich ziehen. Vor allem muß der Europäische Gerichtshof entmachtet werden. Der staatenbündische Bundesstaat ist eine Konzeption eines europäischen Europas. Die Verträge sind gemäß den unterschiedlichen Verfassungsgesetzen der Mitgliedstaaten zu schließen und zu ratifizieren. Art. 48 EUV sieht dafür ein Verfahren vor, das den Zusammentritt einer Regierungskonferenz von einer Stellungnahme des Rates abhängig macht, also von einer Mehrheitsentscheidung. Das widerspricht dem völkerrechtlichen Prinzip der ständigen Freiwilligkeit der Mitgliedschaft in einer solchen Organisation.42 Demgemäß hat das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen, daß jedenfalls Deutschland die Europäische Union verlassen kann, indem es das Zustimmungsgesetz und damit den Rechtsanwendungsbefehl für das Gemeinschaftsrecht aufhebt (BVerfGE 89, 155 [190]; 123, 267, Rn. 242, 248 f., 333, 335, 339, 343). Freilich würde ein Austritt Deutschlands aus der Union oder auch nur dessen Androhung das „Problem Deutschland“ aufwerfen, für viele Politiker eine Frage 42

Schachtschneider, 2006: 79 f.

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des Weltfriedens. Zu befürchten wäre, daß die Feindstaatenklausel der Charta der Vereinten Nationen aktiviert würde.43 3. Der Weg zum unitarischen Bundesstaat mit existentieller Staatseigenschaft der Union ist mit Steinen gepflastert. Der Schleichweg des Verfassungsvertrages ist gescheitert. Ein offener Weg setzt voraus, daß die Völker durch Referenden ihr Einverständnis damit erklären, daß ein existentieller Unionsstaat, eben als unitarischer Bundesstaat, verfaßt wird, in Deutschland auch die Länder, die souveräne Staaten sind.44 Die Volksabstimmungen sind nötig, weil die Völker dadurch ihre Hoheit ganz oder zum Teil zugunsten einer originären Hoheit dieses Unionsstaates aufgeben. Wenn sich die Völker, was keinesfalls zu erwarten ist, für einen solchen Unionsstaat geöffnet haben, bedarf dessen Konstituierung eines Verfassungsgesetzes, das von einem von den Unionsbürgern gewählten Verfassungskonvent erarbeitet wird. Es muß in einer unionsweiten Abstimmung angenommen werden. Ein solcher Schritt würde wie im unechten Bundesstaat Deutschland die Hoheit zwischen dem Bundesstaat und den Mitgliedstaaten teilen.45 Diesen Schritt können die verfaßten Organe der Mitgliedstaaten nicht selbst gehen, weil deren Befugnisse durch die Verfassungsgesetze begrenzt sind; denn: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Das jeweils gemeinte Volk ist das nationale Volk. Die Verfassungsorgane der Mitgliedstaaten überschreiten ihre Befugnisse und verletzen die Souveränität der Völker, wenn sie offen oder verdeckt, so wie das geschieht, den existentiellen Unionsstaat herbeizuführen versuchen. So hat der Vertrag von Lissabon in Art. 2 ff. AEUV die geteilten Zuständigkeiten eingeführt, die typisch für den unechten Bundesstaat mit originärer Hoheit des Bundes/der Union sind. Das Europäische Parlament soll dem Vertragstext nach die „Bürger auf Unionsebene unmittelbar“ bzw. die „Unionsbürger“ vertreten (Art. 10 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 2 S. 1 EUV), als gäbe es bereits ein Unionsvolk, das originäre Hoheit hat. Ein Weg zum unitarischen Bundesstaat ist keinesfalls eine bloße Abstimmung aller Unionsbürger über ein dahingehendes Verfassungsgesetz oder einen derartigen Verfassungsvertrag, weil eine solche Abstimmung die Souveränität und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, also die originäre Hoheit der Mitgliedstaaten, nicht ohne schweren Völkerrechtsverstoß (Art. 2 Nr. 1 Satzung der Vereinten Nationen; vgl. BVerfGE 89, 155 [190]) aufheben kann. Dennoch wird ein solches Verfahren immer wieder in der Hoffnung vorgeschlagen, Mehrheiten für einen solchen Schritt zu finden – fraglos völkerrechts- und verfassungswidrig. 4. Das Dilemma der Integrationspolitik ist nicht gering. Die gegenwärtige Verfassung der Europäischen Union und damit auch die ihrer Mitgliedstaaten ist mit Rechtsprinzipien nicht vereinbar. Die Europäisierung der Union im Sinne der Konzeption des staatenbündischen Bundesstaates, welche zum Recht zurückfinden würde, ist nicht das Konzept der maßgeblichen Politiker und schon gar nicht das Kon43

Schachtschneider, 2015: 452 ff. Schachtschneider, 2015: 402 ff. 45 Schachtschneider, 2015: 402 ff.

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zept der Integrationisten in Wissenschaft und Praxis. Es würde den Völkern, deren Bürgersouveränität unaufhebbar ist, die Hoheit zurückgeben und damit auch den Kräften entgegenwirken, welche gegenwärtig die Europäische Union und deren Völker beherrschen. Dazu gehören nicht nur die Brüsseler Bürokraten und die Funktionäre der sogenannten Europaparteien, sondern auch die Manager, vor allem die der international agierenden Unternehmen, die die großen Gewinner der rechtlosen Integration sind. Im Übrigen birgt der Großstaat Europa, der manch einen fasziniert, die Gefahr der Tyrannei oder, wenn man so will, der Diktatur im Inneren und der kleinen und großen Kriege nach außen. In Europa spricht das Recht für den Verbund kleinerer Einheiten, also der Nationen, das demokratische Prinzip, das rechtsstaatliche Prinzip und das soziale Prinzip, eben das Friedensprinzip. Die Chance des „Glücks“ der Europäer46 liegt in der Europäisierung Europas und damit auch im „l’Europe des états“, wie das Charles de Gaulle in den Mund gelegt wird. Wer Europäer sein will, darf das Recht nicht verleugnen – um der Freiheit willen. Wenn die schönen Worte der oben zitierten Präambel des Lissabon-Vertrages Wirklichkeit finden sollen, muß die Europäische Union revolutioniert werden, zu einem europäischen Europa, zur Republikanität, zum wirklichen Staatenbund. Revolution ist Befreiung zum Recht. Literatur Delors, Jacques (2007): „Das wäre der Niedergang“. Interview, geführt von Eric Bonse und Ruth Berschens. In: Handelsblatt, 23./24./25. 03. 2007, S. 2. Habermas, Jürgen (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. – (1996): Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kant, Immanuel (1968): Die Metaphysik der Sitten. In: ders.: Werke in zehn Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bd. 7. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Krüger, Herbert (1966): Allgemeine Staatslehre, 2., durchgesehene Auflage. Stuttgart: Kohlhammer. Murswiek, Dietrich (2005): Der Europa-Begriff des Grundgesetzes. In: J. Bröhmer u. a. (Hrsg.), Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte. Festschrift für Georg Ress zum 70. Geburtstag. Köln: Carl Heymanns Verlag, S. 657 – 684. Oppermann, Thomas (2005): Europarecht. 3., vollständig neu bearbeitete Auflage. München: Beck. Schachtschneider, Karl A. (1975): Das Nominationsmonopol der Parteien in Berlin. In: Juristische Rundschau, 1975, S. 89 – 94. 46 Vgl. die „Berliner Erklärung“ vom 25. März 2007, die verfassungswidrig von „Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union“ spricht.

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– (1991): Der Verfassungsstaat als Glied der Europäischen Gemeinschaft, Aussprache. In: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Band 50. – (1994): Res publica res populi. Grundlegung einer Allgemeinen Republiklehre. Ein Beitrag zur Freiheits-, Rechts- und Staatslehre. Berlin: Duncker & Humblot. – (2002): Grenzen der Kapitalverkehrsfreiheit. In: ders. (Hrsg.): Rechtsfragen der Weltwirtschaft. Berlin: Duncker & Humblot, S. 253 – 328. – (2003): Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa“. In: W. Hankel, K. A. Schachtschneider, J. Starbatty (Hrsg.): Der Ökonom als Politiker – Europa, Geld und die soziale Frage. FS Wilhelm Nölling. Stuttgart: Lucius und Lucius, S. 279 – 323. – (2005): Sittlichkeit und Moralität. In: ders.: Freiheit – Recht – Staat. Eine Aufsatzsammlung zum 65. Geburtstag. Hrsg. von D. I. Siebold/A. Emmerich-Fritsche. Berlin: Duncker & Humblot. – (2005b): Demokratische und soziale Defizite der Globalisierung. In: ders.: Freiheit – Recht – Staat. Eine Aufsatzsammlung zum 65. Geburtstag. Hrsg. von D. I. Siebold/A. EmmerichFritsche. Berlin: Duncker & Humblot. – (2006): Prinzipien des Rechtsstaates. Berlin: Duncker & Humblot. – (2006b): Marktliche Sozialwirtschaft. In: Farmer, K./Harbrecht, W. (Hrsg.): Theorie der Wirtschaftspolitik, Entwicklungspolitik und Wirtschaftsethik. Festschrift für Werner Lachmann zum 65. Geburtstag. Wien; Münster: LIT, S. 41 – 60. – (2007): Freiheit in der Republik. Berlin: Duncker & Humblot. – (2007b): Das Recht auf Eigenstaatlichkeit oder das Recht Bayerns, sich von der Bundesrepublik Deutschland zu separieren. – (2010): Verfassungsrecht der Europäischen Union, Teil 2: Wirtschaftsverfassung mit Weltwirtschaftsordnung. Berlin: Duncker & Humblot. – (2011): Grenzen der Religionsfreiheit am Beispiel des Islam. 2., überarbeitete Auflage. Berlin: Duncker & Humblot. – (2014): Unechter Freihandel. In: Aufklärung und Kritik, 22. Jg., Heft 1, S. 14 – 21. – (2015): Souveränität. Grundlegung einer freiheitlichen Souveränitätslehre. Ein Beitrag zum deutschen Staats- und Völkerrecht. Berlin: Duncker & Humblot. Schachtschneider, Karl A./Emmerich-Fritsche, A./Beyer, Th. C. W. (1993): Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz. In: Juristen Zeitung, S. 751 – 760.

II. Aufsätze

Der Humboldt-Mythos auf dem Prüfstand Wilhelm von Humboldt als Theoretiker und Praktiker von Bildungs- und Hochschulpolitik1 Von Manuel Becker Abstract Ziel der vorliegenden Ausführungen ist es, sich mit der ideengeschichtlichen, historischen und aktuellen politischen Bedeutung Wilhelm von Humboldts auseinanderzusetzen, auf den in hochschulpolitischen Debatten bemerkenswert häufig rekurriert wird. Auf der einen Seite wird in theoretischer Perspektive anhand seiner Schriften auf die von ihm entfalteten Ideen zur höheren Bildung und zur Universität eingegangen. Auf der anderen Seite wird in praxisorientierter Perspektive seine Rolle als politischer Reformer und der Einfluss seines Wirkens beleuchtet. Die eingehende Analyse im Spiegel der Forschung zeigt, dass die lange als herausragend eingestufte Bedeutung Humboldts für die moderne Universitätsentwicklung gleich in mehrfacher Hinsicht relativiert werden muss und dass er daher als Referenzfigur sowohl für Befürworter als auch für Gegner aktueller hochschulpolitischer Reformen nur bedingt geeignet erscheint.

Der Philosoph und Universitätsreformer Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835) gehört in Deutschland zum bildungsbürgerlichen Kanon. Auch in den aktuellen hochschulpolitischen Debatten ist der Schöpfer des klassischen Universitätsideals der deutschen Moderne der zentrale Referenzautor. Insbesondere Kritiker des „Bologna-Prozesses“ rekurrieren auf Humboldt, etwa wenn sie die europäischen Hochschulreformen wahlweise als „Humboldts Albtraum“2 oder „Humboldts Begräbnis“3 verunglimpfen. Von welchem „Humboldt“ aber ist hier eigentlich die Rede: von dem Bildungstheoretiker oder dem Bildungspolitiker? Handelt es sich bei Humboldts Universitätsideal tatsächlich um einen „Exportschlager“, der von Berlin ausgehend Hochschulen in der ganzen Welt inspiriert hat? Geht es in den aktuellen Debatten tatsächlich um Humboldts bildungspolitisches Programm oder wird Humboldts Bildungskonzept zu einem Ideenreservoir, das für ganz unterschiedliche bildungspolitische Ziele genutzt wird? Dem kritischen Beobachter aktueller hochschulpolitischer Debatten drängt sich nicht selten der Eindruck auf, dass Anhänger vermeintlich tradierter Humboldtscher Ideale und progressive Bildungsforscher und -praktiker oftmals aneinander vorbeireden und es verweigern, sich überhaupt auf die Begriffs- und 1 Für wertvolle Hinweise und Anregungen danke ich Prof. Dr. Clemens Albrecht, Prof. Dr. Volker Kronenberg und Prof. Dr. Grit Straßenberger. 2 Schultheis et al., 2008. 3 Lieb, 2009: 89 – 96.

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Konzeptwelt der jeweils anderen Seite einzulassen. Dabei täte ein verständnisorientierter Dialog gerade bei diesem Thema im Dienste der Zukunftspolitik der Bundesrepublik Not. Auch wird man durchaus in Frage stellen dürfen, ob diejenigen, die sich auf Humboldt berufen, ihn tatsächlich auch einmal gelesen bzw. sich mit seiner Vita auseinandergesetzt haben. Im Folgenden soll daher der „Mythos Humboldt“4 in politiktheoretischer wie bildungspolitischer Perspektive kritisch geprüft werden. Im Folgenden werden zunächst die theoretischen Grundbestimmungen und die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen für die Rolle des Staates sowie für das Universitätsideal rekonstruiert (I.). Im Anschluss daran wird Humboldts Rolle als Bildungspolitiker in seiner Funktion als preußischer Geheimer Staatsrat und Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht beleuchtet (II.). Danach wird auf die Bedeutung von Humboldts Reformen für die Universitätslandschaft des 19. und 20. Jahrhunderts eingegangen – im deutschen wie im internationalen Kontext (III.). Die Analysen werden in einem abschließenden Fazit zusammengefasst und synthetisiert (IV.). I. Wilhelm von Humboldt als Bildungstheoretiker 1. Anthropologische und bildungstheoretische Grundbestimmungen Eine Annäherung an Wilhelm von Humboldts philosophisch fundierte Bildungstheorie fällt nicht leicht. Seine sehr disparaten Schriften zu Altertumskunde, Geschichte, Anthropologie, Ästhetik, Bildung und Politik bilden keine „Bausteine oder Elemente eines oder gar seines philosophischen Systems.“5 Seine Texte lassen sich vielmehr als facettenreiche Reflexionen eines freigeistigen Denkers verstehen, der nach Ganzheitlichkeit und Vielseitigkeit strebte. Wie noch zu zeigen sein wird, bleibt sein Werk der unabgeschlossene Versuch einer Theorie der Bildung des Menschen. Gerade dieses „Unfertige und Fragmentarische“ hat dazu geführt, dass seine Ideen in sehr unterschiedlichen Kontexten rezipiert und durchaus ideenpolitisch eingesetzt wurden.6 Eine Rekonstruktion von Humboldts Bildungstheorie muss bei seiner normativen Anthropologie ansetzen. Für Humboldt ist der wahre Zweck des Menschen – „nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt“ – die „höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“7 Eine auf die Freiheit fokussierte und die „Mannigfaltigkeit der Situationen“8 einbeziehende Bildung steht im Zentrum dieses Menschenbildes.9 Der 4

Ash, 1999. Benner, 1990: 14. 6 Vgl. Menze, 1972: 5 – 27. 7 Humboldt, 1980a: 64. 8 Humboldt, 1980a: 64. 9 Vgl. Dippel, 1990. 5

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Rekurs auf die Freiheitlichkeit des Menschen fügt sich nahtlos in den aufklärerischen Diskurs jener Zeit ein. Bildung und Freiheit sind hier unauflöslich aneinander gebunden und verweisen wechselseitig aufeinander: Ebenso wie die Freiheit die Bildung des Menschen erst ermöglicht, vermag es die Bildung zu garantieren, dass sich Freiheit immer neu konstituiert und erhalten bleibt.10 Humboldt verbindet die kardinale Norm der Freiheit mit der Pluralität menschlicher Verhältnisse. Im Unterschied zu den bildungstheoretischen Schriften aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit wird der höhere gesellschaftliche Differenzierungsgrad gegenüber den zuvor ständisch organisierten Gesellschaften nicht nur selbstverständlich vorausgesetzt, sondern nunmehr selbst zur Norm: Entgegen der Neigung des Menschen, die komplexe und plurale Lebenswelt zu reduzieren und sich in einer praktikablen Einseitigkeit einzurichten, müsse der Mensch danach streben bzw. dazu befähigt werden, „die Kräfte, womit er wirkt, durch Verbindung zu vervielfältigen“.11 Die eigentliche Entfaltung der Naturanlagen des Menschen kann dabei immer nur von ihm selbst kommen: „Was nun der Mensch von aussen empfängt, ist nur Samenkorn.“12 Erst seine energiegeladene Tatkraft könne die äußerlich empfangene Bildung zu etwas Segensreichem machen: „Das höchste Ideal des Zusammenexistierens menschlicher Wesen wäre mir dasjenige, in dem jedes nur aus sich selbst, und um seiner selbst willen sich entwickelte.“13 Humboldt zufolge trachtet der Mensch nach der Erweiterung seiner Kenntnisse und Wirksamkeiten. Selbst, wenn er sich dessen nicht immer bewusst ist, sei ihm stets „an seiner inneren Verbesserung und Veredlung, oder wenigstens an der Befriedigung der innern Unruhe, die ihn verzehrt“ gelegen. Der Antrieb eines jeden Menschen läuft darauf hinaus, „so viel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.“14 Die höchste Aufgabe des Menschen, wenn man so will: der Sinn seiner Existenz, besteht für Humboldt in der „Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regsten und freiesten Wechselwirkung.“15 Bildung – so lassen sich diese philosophischen Überlegungen von Humboldt zusammenfassen, ist die Einübung in das reziproke Verhältnis des Menschen zur Welt.16 In dieser Vermittlung von Universalität und Individualität17 tritt Humboldts holistischer Bildungsbegriff klar hervor, der sich ganzheitlicher und umfassender nicht bestimmen lässt.18 Zugleich ist mit diesem Endziel der Maßstab beschrieben, an dem sich jede Form von konkreter bildungspolitischer Einzelmaßnahme messen lassen muss. Durchaus 10

Vgl. Menze, 1993: 69. Humboldt, 1980a: 65. 12 Humboldt, 1980a: 67. 13 Humboldt, 1980a: 67. 14 Humboldt, 1980b: 235. 15 Humboldt, 1980b: 236. 16 Humboldt, 1980d: 3. 17 Vgl. auch Tintemann/Trabant, 2012. – Vgl. ferner Benner, 1990: 77 – 80. 18 Vgl. Geier, 2012: 63. 11

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selbstkritisch merkt Humboldt an, dass die Begriffsbestimmung von Bildung als „Verknüpfung des Ichs mit der Welt“ auf den ersten Blick etwas unverständlich oder vielleicht sogar als „überspannter Gedanke“ – wie er wörtlich schreibt – erscheinen mag. Er besteht jedoch darauf, an dieser Prämisse festhalten zu müssen, wenn man dem Menschengeschlecht insgesamt einen Wert oder eine Würde beimessen wolle. Davon ausgehend leitet er zu einer wesentlichen Konsequenz seines holistischen Bildungsverständnisses über, nämlich zur Weitergabe von Erkenntnissen und Wissen an die kommenden Generationen.19 Der Holismus von Humboldts Bildungskonzept läuft mit innerer Konsequenz darauf hinaus, den Menschen auch umfassend und ganzheitlich bilden zu müssen. Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Methoden und Instrumenten müsse der Mensch die Natur aufzufassen versuchen, nicht in erster Linie, um sie von allen Seiten kennen zu lernen, sondern „vielmehr, um durch diese Mannigfaltigkeit der Ansichten die eigene innewohnende Kraft zu stärken“.20 Gerade weil die Welt so pluralistisch, heterogen, in Humboldts Worten „mannigfaltig“ ist, darf der Mensch nicht davor kapitulieren, sie in ihrem Ganzen erfassen zu müssen: Um der „zerstreuenden und verwirrenden Vielheit“ zu entgehen, muss er danach trachten, die „Allheit“ zu begreifen.21 Humboldt differenziert zwischen der allgemeinen und der speziellen Bildungsform, die jeweils von unterschiedlichen Grundsätzen geleitet seien: „Durch die allgemeine sollen die Kräfte, d. h. der Mensch selbst gestärkt, geläutert und geregelt werden; durch die spezielle soll er nur Fertigkeiten zur Anwendung erhalten.“22 Diese Differenzierung drückt nichts anderes aus als die von vielen Bildungstheoretikern vorgenommene Unterscheidung zwischen ganzheitlicher, zweckbefreiter Bildung und anwendungs- und nutzenorientierter Ausbildung. Humboldt betrachtet es als unhintergehbaren Fakt, dass der freie und vernunftbegabte Mensch naturgemäß stets nach von Finalitätserwägungen und Zweckbestimmungen befreiter höherer Bildung strebt.23 Die durchaus voraussetzungsvolle und ambitionierte Anthropologie, die Humboldts Bildungstheorie in ihrer Vermittlung von menschlicher Freiheitlichkeit und dem Menschen inhärenten Forschungsdrang unter Bedingungen erkenntnistheoretischer und gesellschaftspolitischer Mannigfaltigkeit zu Grunde liegt, fokussiert im Wesentlichen zwei Aspekte: das Streben nach Ganzheitlichkeit und die intrinsische Motivation. Vor dem Hintergrund dieser anthropologischen und bildungstheoretischen Bestimmungen kann nun zu den daraus folgenden politischen Konsequenzen übergeleitet werden. 19

Humboldt, 1980b: 236. Humboldt, 1980b: 237. 21 Humboldt, 1980b: 238. 22 Humboldt, 1980c: 188. 23 Vgl. Humboldt, 1980a: 69. 20

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2. Politische Schlussfolgerungen: Die Rolle des Staates Das Humboldtsche Bildungsideal markiert klar die Grenzen staatlicher Steuerbarkeit. Politisch können bestenfalls gewisse Rahmenbedingungen gesetzt werden, die eigentliche Motivation zur Entfaltung persönlicher Naturanlagen und Kräfte kann für ihn immer nur durch den Einzelnen selbst erbracht werden. Humboldt weist dem Staat eine sehr zurückgenommene Rolle bei der Organisation von höherer Bildung zu. Den Gewinn, den ein Staat von höherer Bildung hat, kann er nicht herstellen bzw. erzwingen, sondern die Früchte von Forschung und Wissenschaft kommen dann am besten zur Geltung, wenn der Staat sich mit seinem steuernden Einfluss zurückhält: „Er [der Staat, M.B.] muss sich eben immer bewusst bleiben, dass er nicht eigentlich dies bewirken kann, ja, dass er vielmehr hinderlich ist, sobald er sich einmischt, dass die Sache an sich ohne ihn unendlich viel besser gehen würde“.24 Infolgedessen müsse auch der Einfluss von Erziehern, bei denen „ihr Schicksal von dem Erfolg ihrer Arbeiten“ abhängig ist, deutlich positiver ausfallen als bei öffentlich Beschäftigten, bei denen „es von der Beförderung abhängt, die sie vom Staat zu erwarten haben“, wie sie ihrer Tätigkeit nachgehen.25 Im Mittelpunkt von Bildung und Erziehung habe stets der Mensch in seiner Individualität und nicht der Bürger in seiner Rolle als politisches Subjekt zu stehen: „Gewiss ist es wohltätig, wenn die Verhältnisse des Menschen und des Bürgers soviel als möglich zusammenfallen. […] Ganz und gar aber hört es auf, heilsam zu sein, wenn der Mensch dem Bürger geopfert wird.“26 Es ist eine eigentümliche Dichotomie, die hier zwischen dem Mensch in seiner individuellen und persönlichen Humanität und dem Bürger als politisch-gesellschaftlichem Wesen konstruiert wird. Die Eingebundenheit in staatsbürgerliche Loyalitäten kann also für Humboldt der Bildung als individueller Entfaltung der im Menschen schlummernden Naturanlagen abträglich sein: „Jede öffentliche Erziehung aber, da immer der Geist der Regierung in ihr herrscht, gibt dem Menschen eine gewisse bürgerliche Form.“27 Ein Vorzug der Monarchie als Regierungsform sei es, dass sie sich, sobald der Untertan sich an die Gesetze halte, aus der weiteren Lebensführung heraushalte. Hierin erweist sich Humboldt als überzeugter Monarchist und bleibt ein Kind seiner Zeit, wenngleich es ein ausgesprochen liberaler Monarchiebegriff ist, der hier vertreten wird. Dietrich Benner hat Humboldts Anliegen dahingehend interpretiert, dieser habe nachweisen wollen, dass der Staat unter neuzeitlichen Bedingungen nicht länger im aristotelischen Sinne als etwas Selbstzweckhaftes angesehen werden dürfe, sondern seinerseits einer Legitimation bedürftig sei.28 Es ist dies eine sehr wohlwollende Interpretation, denn unter dem Strich bleibt es gerade mit Blick auf die Bildung des Menschen ein äußerst staatsskeptisches Bild, das Humboldt pflegt: „Öffentliche, 24

Humboldt, 1980e: 256. Vgl. Humboldt, 1980a: 109. 26 Humboldt, 1980a: 107. 27 Humboldt, 1980a: 108. 28 Benner, 1990: 40. 25

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d.i. vom Staat angeordnete Bildung“ ist für ihn „von vielen Seiten bedenklich.“29 Während Humboldt hier als Gegner öffentlich beeinflusster Bildungspolitik vorgestellt wird, weist er dem Staat dennoch eine wichtige Rolle bei der Gestaltung von Bildungspolitik zu: Wenn es sich nun einmal so verhalte, dass politische Rahmenbedingungen die Mittel und Formen für Wissenschaft und Bildung bereit stellten, so solle tunlichst darauf geachtet werden, dass „das Geistige und Hohe“ nicht „in die materielle und niedere Wirklichkeit“ herabgezogen werde und dass der Staat jederzeit darum bemüht sein müsse, das wieder gut zu machen, „was er selbst, wenngleich ohne seine Schuld, verdirbt oder gehindert hat.“30 Mit anderen Worten: Humboldt würde den Bereich von Bildung, Wissenschaft und Forschung am liebsten gänzlich dem Einflussbereich der Politik entziehen. Er sieht jedoch gleichzeitig die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens ein. Wenn die staats- und politikfreie Existenz von höherer Bildung notwendigerweise eine Utopie bleiben müsse, so solle der Staat wenigstens darum bemüht sein, die durch ihn automatisch entstehenden Nachteile für Forschung und Wissenschaft auszugleichen und ein möglichst freies Lehren und Forschen zu ermöglichen: „Die Politik hat die Aufgabe, (Selbst-)Bildungsmöglichkeiten zu schaffen und Zwänge abzubauen.“31 Ursula Krautkrämer zufolge hat Humboldt nicht die Vor- und Nachteile bereits erfolgter Staatstätigkeit im Bildungsbereich beurteilt, sondern sich ganz grundsätzlich mit der Frage auseinander gesetzt, ob Erziehung und Bildung zu Staatsfunktionen zählen sollten.32 Daher sei seine Auffassung von der Rolle des Staates stark durch die absolutistischen Verhältnisse des Erfahrungshorizonts seiner Zeit geprägt gewesen. Es sei ihm nicht gelungen, so Krautkrämers Kritik, „die Erfordernisse, die er als notwendig erkannt hat, die Freiheit der Bürger und die allgemeine Bildung, im Zusammenhang der neuen Gesellschaftsform zu begreifen.“33 Im Wesentlichen reduziert Humboldt die hochschulpolitische Rolle des Staates auf zwei Funktionen: erstens auf die „Wahl der zu versammelnden Männer“, die für die Universität verantwortlich sind, sowie zweitens auf einige „wenige und einfache, aber tiefer als gewöhnlich eingreifende Organisationsgesetze“.34 Mit seiner Vision eines freiheitlichen Staates, wie Humboldt sie in seiner bereits 1792 abgeschlossen, aber erst 1851, anderthalb Dekaden nach seinem Tod veröffentlichten Schrift „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ entwirft, setzt Humboldt einen reformorientierten Kontrapunkt zu den Tendenzen der Französischen Revolution,35 die die Denker der Aufklärung maßgeb29

Vgl. Humboldt, 1980a: 105. Humboldt, 1980e: 257. 31 Borsche, 1990: 57. 32 Vgl. Krautkrämer, 1979: 76. 33 Krautkrämer, 1979: 77. 34 Humboldt, 1980e: 258. 35 Vgl. Menze, 1990: 25. – Vgl. zur Bedeutung der Französischen Revolution in Humboldts Schriften Benner, 1990: 35 – 39. 30

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lich bewegte. Zugleich gilt der Text heute als eine der wichtigsten Grundschriften des deutschen Liberalismus. Was die politischen Aspekte seines Bildungsideals angeht, so bleibt festzuhalten, dass „Humboldt durchweg als Repräsentant eines neuzeitlichen, auf Selbstfindung angelegten Bildungsbegriff[s] gelten“ kann. „Humboldts ,Bildung‘ dient der Entelechie des Ich, sie ist nirgends soziale oder gar funktionalisierte Bildung.“36 3. Die Entfaltung eines neuen Universitätsideals Diese begrenzte Rolle, die Humboldt dem Staat zuweist, bildet den Hintergrund, vor dem der preußische Reformer seine Idee der modernen Universität entwickelt. Humboldt hält seine Idee von der Organisation höherer Bildung für so neu, dass er zunächst sogar den Begriff Universität zu vermeiden versucht und noch 1807 lieber von einer „höheren Lehranstalt“ bzw. „Bildungsanstalt“ spricht.37 Er wird diesen begriffsprägenden Anspruch zwar bereits bald aufgeben und wieder zur herkömmlichen Terminologie „Universität“ zurückkehren, aber deutlich wird hier, dass er die „höheren wissenschaftlichen Anstalten“ als den „Gipfel“ des Bildungssystems begreift. Ihnen allein komme es zu, „die Wissenschaft im tiefsten und weitesten Sinne des Wortes zu bearbeiten“, um dadurch unmittelbar „für die moralische Kultur der Nation“ zu wirken und ihr den „Stoff der geistigen und sittlichen Bildung“ zu liefern.38 Damit dieser hohe Anspruch erfüllt werden kann, müssen „Einsamkeit und Freiheit die in ihrem Kreise vorwaltenden Prinzipien“ sein. Für den „Selbstactus im eigentlichsten Verstand“ erscheint Humboldt die Freiheit als notwendig, die Einsamkeit als hilfreich.39 In der Rezeption ist der humboldtianisch inspirierte „Kult um die reine Wissenschaft“ und die damit angeblich verbundenen anti-politischen Tendenzen vereinzelt kritisiert worden: „Das Syndrom deutscher Innerlichkeit als Kultivierung des individuellen ,inneren Daseins‘ hat in dem perfekt durchorganisierten Erziehungssystem, das auf die Universität, als krönende Institution der apolitischen ,inneren Daseins‘-Gestaltung, hin ausgerichtet ist, seinen Ursprung.“40 Oftmals wird die viel zitierte Passage Humboldts mit der berühmten Formel von „Einsamkeit und Freiheit“ nur verkürzt wiedergegeben. Gleichwohl er Freiheit und Einsamkeit als die beiden wichtigsten Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens betrachtet, so ist er sich doch bewusst, dass jedes „geistige Wirken der Menschheit nur als Zusammenwirken gedeiht“.41 Wissenschaft hat es demnach, so legt es die Interpretation dieses Zitats nahe, ebenso mit Dialog, Austausch und Kooperation zu tun, einerseits um wechselseitige 36

Kost, 2004: 141. Vgl. Mittelstraß, in: Bachmeier/Fischer, 1997: 18. 38 Humboldt, 1980e: 255. 39 Humboldt, 1980c: 190. 40 Henningsen, in: Gebhardt, 1968: 152. 41 Humboldt, 1980e: 255.

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Mängel gegenseitig auszugleichen, andererseits um die vielen im Verborgenen schlummernden Kräfte von Individuen zur Entfaltung zu bringen. Insofern ist unter „Einsamkeit und Freiheit“ keinesfalls der Rückzug in den viel gescholtenen „elfenbeinernen Turm“ zu verstehen.42 Um die Dichotomie zwischen freiheitlicher Einsamkeit und reguliertem Miteinander aufzulösen, muss die innere Organisation von Universitäten „ein ununterbrochenes, sich selbst immer wieder belebendes, aber ungezwungenes und absichtsloses Zusammenwirken hervorbringen und unterhalten.“43 Wissenschaft sollte stets als etwas „noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes“ betrachtet werden. Sie müsse „aus der Tiefe des Geistes heraus geschaffen“ werden und könne nicht durch „Sammeln extensiv aneinander gereiht werden“.44 Mit dieser Beschreibung von Wissenschaft und Forschung wird auch die Messbarkeit ihrer Güte mit quantitativen Instrumenten und mit gesellschaftspolitischer Relevanz in Frage gestellt. Humboldt entwickelt drei natürliche, aufeinander aufbauende Stadien eines Bildungssystems: den Elementarunterricht, der die Grundfähigkeiten des Lernens überhaupt vermitteln soll; den Schulunterricht, der in Mathematik, Sprache und Geschichte einführen und auf die höhere Bildungslaufbahn vorbereiten soll; und den Universitätsunterricht, dem allein „die Einsicht in die reine Wissenschaft“ vorbehalten bleibt.45 Universitäten und Schulen sollten grundsätzlich verschiedenen organisatorischen Prinzipien und bildungstheoretischen Zielen folgen. Schule habe es „nur mit fertigen und abgemachten Kenntnissen“ zu tun, wohingegen „die Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem“ zu betrachten sei. Dies hat auch Folgen für das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern. Während in der Schule der Lehrer für den Schüler da ist, sind Lehrer und Schüler in der Universität beide für die Wissenschaft da: „Was man höhere wissenschaftliche Anstalten nennt, ist […] nichts anders als das geistige Leben der Menschen, die äußere Muße oder inneres Streben zur Wissenschaft und Forschung hinführt.“46 Im Unterricht an den Universitäten betrachtet Humboldt das Hören von Vorlesungen nur als nebensächlich, entscheidender sei es, „dass man in enger Gemeinschaft mit Gleichgestimmten und Gleichaltrigen, und dem Bewusstsein, dass es am gleichen Ort eine Zahl schon vollendeter Gebildeter gebe, die sich nur der Erhöhung und Verbreitung der Wissenschaft widmen, eine Reihe von Jahren sich und der Wissenschaft lebe.“47

42 Bereits Helmut Schelsky hat dies in seiner Münsteraner Antrittsvorlesung erläutert: Schelsky, 1960. 43 Humboldt, 1980e: 255. 44 Humboldt, 1980e: 258. 45 Humboldt, 1980c: 190. 46 Humboldt, 1980e: 256. 47 Humboldt, 1980c: 191.

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Es solle streng darauf geachtet werden, „die Trennung der höheren Anstalten von der Schule […] rein und fest“ zu erhalten,48 wobei eben die Schulen „den höheren wissenschaftlichen Anstalten gehörig in die Hände arbeiten“ müssen,49 und nicht umgekehrt: Die Universität hat Humboldt zufolge ganz klar nicht die Aufgabe, mangelnde Schulbildung auszugleichen, vielmehr müssen die Schulen ihren „Zöglingen“ das physische, sittliche und intellektuelle Rüstzeug mit auf den Weg zu geben, um an der Universität bestehen zu können.

II. Wilhelm von Humboldt als Bildungspolitiker Wenn im bildungspolitischen Diskurs auf Humboldt rekurriert wird, so wird in der Regel nicht erwähnt, dass er in seinen 68 Lebensjahren gerade einmal sechzehn Monate als aktiver Bildungspolitiker tätig war: konkret vom Februar 1809 bis zum Juni 1810. Zuvor im juristischen Staatsdienst und als Diplomat in Rom beim Päpstlichen Stuhl beschäftigt, wurde er im Gefolge des Preußischen Wiederaufbaus unter den Reformen der Freiherren Karl von Stein (1757 – 1831) und Karl August von Hardenberg (1750 – 1822) als Leiter des Preußischen Unterrichtswesens vorgeschlagen. 1809 wurde er zum Geheimen Staatsrat und Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht ernannt. Humboldt wollte diese Stelle gar nicht antreten, lehnte zunächst ab und wurde per Kabinettsorder schließlich doch in diese Position gezwungen.50 Karrieretechnisch betrachtet handelte es sich also eher um einen Verlegenheitsposten, den der Freigeist Humboldt, der niemals eine Schule von innen betreten, sondern nur Privatunterricht genossen hatte, 1809 antrat. Auch seinem Scheiden aus dem Amt lag die Frustration über seine mangelnden Gestaltungsmöglichkeiten51 zu Grunde: Sein Entlassungsgesuch begründete er wesentlich damit, dass die Bildungsreform als Teil der Politik des Innenministers gestaltet werden sollte und ihr kein eigenständiges Ressort zugesprochen wurde.52 Dennoch gelang es ihm, in den knapp anderthalb Jahren Amtszeit das gesamte preußische Bildungssystem zu reformieren und gänzlich neu zu organisieren. Er setzte die Gliederung des Bildungsgangs in die drei oben bereits erläuterten Stadien Elementarunterricht, Schulunterricht und Universitätsunterricht durch.53 Wo es in den Schulen zuvor keinerlei geregelte Lehrerausbildung sowie keine festgelegten Lehrpläne gab, wurde ein einheitliches System der öffentlichen Bildung installiert, das die Standesschulen, die bis dato unter lokalem Patronat standen, einer zentralen Organisation unterwarf.54 48

Humboldt, 1980e: 256. Humboldt, 1980e: 259. 50 Vgl. Gall, 2011: 138 – 141. – Geier, 2009: 260 – 262. 51 Vgl. dazu Gall, 2011: 185 – 187, 192 – 197. 52 Vgl. Benner, 1990: 171. – Geier, 2009: 269 – 270. 53 Vgl. Gall, 2011: 151 – 152. 54 Vgl. Borsche, 1990: 58 – 59. 49

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In die kurze Periode seiner Amtszeit fällt auch die Gründung der Berliner Universität am 16. August 1809, die ihren Lehrbetrieb zum Oktober 1810 aufnahm,55 zur Blaupause für weitere Reformuniversitäten wurde und die das gesamte deutsche Universitätssystem der Folgezeit prägen sollte. Auch wenn es schon seit längerem Pläne für die Gründung einer neuen Universität Berlin gab,56 so war es Humboldts persönlichem Engagement und seinem diplomatischen Geschick, die verschiedenen Personengruppen bis hin zum König an einen Tisch zu bringen, zu verdanken, dass die Universitätsgründung letztendlich trotz schwieriger Umstände und finanzieller Engpässe auf den Weg gebracht werden konnte.57 An der neu gegründeten Universität zu Berlin gelang es Humboldt und seinen Mitarbeitern durch gezielte Berufungspolitik, neue und aufgeschlossene Professoren zu gewinnen und innerhalb eines Jahres nach der erfolgten Gründung ein umfängliches Lehrprogramm anbieten zu können.58 Die Gründung der Berliner Universität bezeichnet Humboldts Biograf Manfred Geier als dessen „bildungspolitische Großtat, die ihn zugleich als ideenreichen Meisterdenker und zielstrebigen Organisator erkennen lässt.“59 Sie reiht sich in den generellen Kontext des kulturellen Klimas in Berlin um das Jahr 1810 ein und wurde von den intellektuellen Kreisen und politischen Eliten als ein wesentliches Element der geistigen Regeneration in Deutschland nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und der Niederlage gegen die napoleonischen Truppen wahrgenommen. Hans-Christof Kraus hat drei wegweisende Neuerungen benannt, die die neu gegründete Berliner Universität kennzeichneten: Erstens handelte es sich um eine Nationaluniversität, die die bis dato geltenden landesspezifischen Einschränkungen transzendierte; zweitens orientierte sie sich an einem strikten Exzellenzprinzip, wonach möglichst der jeweils beste Fachvertreter berufen werden sollte; und drittens war sie geprägt durch das Ideal der Einheit von Forschung und Lehre.60 Differenziert zu beurteilen ist die neue Rolle der Philosophischen Fakultäten, die die alten Artistenfakultäten ersetzten. Mit der Humboldtschen Universitätsidee ist untrennbar eine Aufwertung der Philosophischen Fakultäten verbunden. Kam den artistischen Disziplinen bis dato klassischerweise eher eine propädeutische Funktion zu, so spielten sie nun eine wichtigere Rolle. Allerdings nicht, wie man irrtümlicherweise aus der Bildungstheorie Humboldts einseitig ableiten könnte, weil er ihnen einen hohen Stellenwert bei der Bildung des Menschen beimisst, sondern aus einem wesentlich schlichteren Grund. Die vormals dienende Rolle der artistischen Disziplinen basierte ganz wesentlich darauf, dass sie im Gegensatz zu Medizin, Jurisprudenz und Theologie nicht auf ein konkretes Berufsbild hin ausgerichtet waren. Mit Humboldts Reformen wurden sie Hermann Lübbes kluger Analyse zufolge „zum 55

Vgl. Tenorth, 2013: 1 – 130. Vgl. zur Vorgeschichte Lenz, 1910. 57 Vgl. Gall, 2011: 157 – 166. 58 Vgl. Gall, 2011: 171 – 175. 59 Geier, 2009: 267. 60 Vgl. Kraus, 2008: 23. – Vgl. zum Überblick über die preußische Reformuniversität auch Charle 2004: 33 – 80, 47 – 53. 56

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institutionellen Ort einer grundständigen akademischen Berufsausbildung“, nämlich „zu einer primär gymnasiallehrerausbildenden Fakultät.“61 Die vormals für andere Fakultäten dienstbare Philosophische Fakultät wurde so „berufsausbildungspraktisch autonom“, womit ihr Bestand auf lange Sicht allerdings auch an den Bedarf der Lehrerausbildung geknüpft wurde.62 Konsequenter als jemals zuvor wurde die Universität unter Humboldt „auf Zwecke qualifizierender Berufsvorbereitung konzentriert“ und die „Erziehung künftiger Staatsdiener“ in den Mittelpunkt gerückt.63 Mit anderen Worten: Bei der in Humboldts Bildungstheorie entwickelten Vision zweckfrei und selbstbestimmt arbeitender Geisteswissenschaft war es in der Praxis die Verknüpfung mit einer konkreten Ausbildungsfunktion, die die Philosophische Fakultät gegenüber den anderen aufwertete, ihr zugleich aber neue Abhängigkeiten und Restriktionen auferlegte. Auch in Bezug auf die anderen Fakultäten wurde in den Statuten als Hauptanliegen der neuen Anstalt unmissverständlich definiert, die Bildung „wissenschaftlich gehörig vorbereiteter Jünglinge […] fortzusetzen und sie zum Eintritt in die verschiedenen Zweige des höheren Staats- und Kirchendienstes tüchtig zu machen.“64 Das wollte so gar nicht zu der in Humboldts Schrifttum immer wieder geforderten Freiheit der Bildung und der Wissenschaft von politischer Bevormundung und staatlichem Nutzendenken passen. Als Pragmatiker, als der er sich in seiner kurzen politischen Amtszeit erwies, war ihm bewusst, dass eine von staatlichen Zuschüssen abhängige Universität nur schwer die geistige Unabhängigkeit würde gewährleisten können, die er für unverzichtbar hielt; daher bemühte er sich, die „wissenschaftliche Autonomie durch wirtschaftliche Autarkie abzusichern, nämlich durch ein ausreichendes Stiftungsvermögen aus königlichem Domänenbesitz,“65 womit er aber letztendlich scheiterte. Widersprüche wie die hier genannten haben verschiedene Autoren dazu veranlasst, in Humboldts politischem Wirken eine Abkehr von den Prinzipien seiner Jugend zu erkennen.66 Dieser frühen Kritik steht gleichwohl eine dominante Rezeption gegenüber, die keine Widersprüche zwischen Bildungstheorie und Reformpolitik zu erkennen vermag oder auffällige „Unstimmigkeiten“ entweder generalisierend als klassisches Vermittlungsproblem von Theorie und Praxis67 auffasst oder – aus historischer Perspektive argumentierend – das Scheitern von Humboldts Reformprogramm mit den restaurativen Bestrebungen des Adels und der Reaktion begründet.68 Eine Position, wie die von Clemens Menze, Humboldts politisches Programm sei auf ganzer Linie gescheitert und die Reformen hätten bereits bei Inkrafttreten nicht mehr 61

Lübbe, 1986: 241 – 258, 242. Vgl. Lübbe, 1986: 242 – 243. 63 Lübbe, 1986: 244 – 245. 64 Entwurf der Kommittierten, in: Lenz, 1910: 223 – 224. 65 Bruch, 1999: 265. 66 Etwa bereits Kaehler, 1927: 275 – 280. 67 Als Beispiel für diese Lesart Kessel, 1955: 409 – 425. – Vossle, 1954: 251 – 268. 68 Vgl. exemplarisch Freese, 1987: 32.

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mit seinen Überzeugungen im Einklang gestanden, von einem prägenden Einfluss Humboldts auf den weiteren Gang der Bildungsgeschichte könne also nicht die Rede sein,69 stellt eher die Ausnahme dar. In der öffentlichen Wahrnehmung bleibt Humboldt der Vater der modernen Universität und Schöpfer einer neuen Bildungsidee, die als herausragende Leistung in das kollektive Gedächtnis der Deutschen Einzug erhalten hat.70 Erst in jüngerer Zeit kommt es zu differenzierten Einschätzungen, die der lange Zeit dominanten Lesart, es gebe keinerlei Brüche zwischen dem Philosophen und dem Politiker Humboldt, und seine Universitätspolitik stelle die konsequente „Applikation seiner philosophischen Grundsätze“ dar,71 in Frage stellen. Jürgen Kost erklärt die aus seiner Sicht erstaunliche Ignoranz angesichts des politischen Scheiterns von Humboldts bildungstheoretischer Konzeption72 mit der Faszination und Ästhetik seiner freiheitlich-humanitären Bildungsvision. Für Kost entwickelt Humboldt jedoch einen extrem privatistischen Ansatz, der nur sehr schwer zwischen Individuum und Gesellschaft zu vermitteln vermag, womit er die Politikfähigkeit von Humboldts Überlegungen freilich ganz grundsätzlich in Frage stellt. Wenn man dem Gemeinwesen keine eigentliche Zweckhaftigkeit zubillige, so daraus eine politische Position nur sehr schwer zu formulieren: „Da Humboldt den Menschen radikal durch Exklusion bestimmt und der Mensch überhaupt nicht als zoon politikon erscheint, ist es Humboldts Denken zufolge kaum möglich, eine Brücke zwischen privater und öffentlicher Existenz zu schlagen.“73 Ähnlich kritisch argumentiert auch Hans-Ulrich Wehler, wenn er sich in seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ gegen die „überdimensionierte Rolle“ verwahrt, „die Wilhelm v. Humboldt als einem wahren Halbgott der Bildungsreform nicht selten zugeschrieben wird“.74 Eine mittlere Position in diesem Diskurs vertritt Heinz-Elmar Tenorth. Zwar ließen sich Humboldts Bildungsreformen kaum noch ungebrochen als unmittelbare politische Zeugnisse seines philosophisch begründeten Gestaltungswillens begreifen, dennoch verdiene Humboldts Leistung als Universitätsgründer allen Respekt, vor allem für seine Tat- und Schaffenskraft und für seine Fähigkeit, sich als freigeistiger Denker auf die Grammatik der Macht im Zentrum Preußens erfolgreich eingelassen zu haben.75 Frank Becker hat aus systemtheoretischer Perspektive Humboldts Wirken in den Kontext einer Verselbstständigung der Wissenschaft gegenüber anderen gesellschaftlichen Teilsystemen eingeordnet. Mit den Kategorien der Systemtheorie lasse sich sein Wirken in einen allgemeinen gesellschaftlichen Prozess einordnen, 69

Vgl. Menze, 1985: 390. – Vgl. ferner Menze, 1986: 55 – 81. So wurde es in den klassischen Darstellungen Eduard Sprangers und Helmut Schelskys dargestellt. Vgl. Spranger, 1960. – Schelsky, 1963: 63 – 67. 71 Rippe, 1998: 45. – So auch Borchmeyer, 1994: 86. 72 Vgl. Kost, 2004: 164. 73 Kost, 2004: 165. 74 Wehler, 1996: 504. 75 Vgl. Tenorth, 2013: 67 – 75. 70

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womit ihm zwar die Mystifikation genommen werde, aber seine grundsätzliche Bedeutung für die Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte nicht in Frage gestellt werde.76 In dergleichen Würdigungen wird ein nüchternerer Grundton angeschlagen, als es frühere Studien mit ihren Glorifizierungstendenzen taten. Auch der Historiker Lothar Gall plädiert für eine prinzipiell positive, gleichwohl distanzierte Gesamtwürdigung: Humboldt habe gerade mit der Universitätsgründung in Berlin dazu beitragen wollen, sämtliche Institutionen des öffentlichen Unterrichts auf Dauer in die „finanzielle und damit indirekt auch in die inhaltliche Autonomie zu entlassen“.77 In dieser Lesart waren die Reformansätze eine Akzentuierung seiner Schriften um 1792, die entschieden auf die Zurückdrängung des patriachalisch-absolutistischen Staates gerichtet waren. Eine normative Bewertung der Rolle Humboldts im Kontext der preußischen Bildungsreformen und für die neuere Universitätsgeschichte darf einerseits nicht übersehen, dass viele Reformen bei seinem Amtsantritt bereits vorbereitet worden waren und er sich in erster Linie als deren Ausführer profilieren konnte78 und andererseits muss ebenso in Rechnung gestellt werden, dass Humboldts Amtsnachfolger Joachim Wilhelm Süvern (1775 – 1829) und Georg Heinrich Ludwig Nicolovius (1767 – 1839) sowie Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834) einen nicht unwesentlichen Anteil an den Reformen hatten.79 Abgesehen davon verselbständigten sich viele Entwicklungen auch: „Der spätere geschichtliche Erfolg der Reform stimmt nur zum Teil mit den Intentionen überein, die 1809/10 im Zentrum der Reformmaßnahmen standen.“80 Am besten wird man Humboldt wohl gerecht, wenn man seine in den Schriften entfalteten Ideen als motivational handlungsleitend betrachtet, zugleich aber auch eine realpolitische Anpassung an die Verhältnisse im Preußen seiner Zeit in Rechnung stellt. III. Der nationale und internationale Einfluss von Humboldts Reformen Die Bewertung der persönlichen Leistung Humboldts in seiner Amtsführung und bei der Gründung der Berliner Universität muss von dem Einfluss seines Universitätsmodells für den weiteren Gang der Geschichte universitärer Bildung unterschieden werden. Gerade im Zuge der kritischen medialen Berichterstattung zum Bologna-Prozess ist immer wieder die Auffassung vertreten worden, die moderne Hochschule à la Humboldt habe von Berlin aus „ihren Siegeszug um die Welt“ angetreten.81 Aussagen wie diese sind tief im deutschen Kulturbewusstsein verankert. Sie 76

Vgl. Becker, 2004: 296 – 298. Gall, 2011: 164. 78 Vgl. Borsche, 1990: 31. – Vgl. zur Vorgeschichte der Gründung kompakt Bruch, 1999: 260 – 268. 79 Vgl. Geier, 2009: 263. 80 Vgl. Benner, 1990: 168. 81 Vgl. statt vieler Spiewak, 2003. 77

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rühren aus der Zeit des Humboldt-Mythos um 1900 herum, wie man ihn beispielsweise an einem Zitat des Kirchenhistorikers Adolf Harnack (1851 – 1930) nachvollziehen kann, der 1909 an den Kaiser anlässlich der Gründung der Kaiser-WilhelmGesellschaft schrieb: „Die heutige Organisation der Wissenschaft und des höheren Unterrichts in Preußen beruht auf den Gedanken und Grundsätzen Wilhelm von Humboldts. […] Sie haben von Preußen auf ganz Deutschland einwirkend unser Vaterland in seinem wissenschaftlichen Ansehen an die Spitze aller Kulturnationen gerückt.“82

In einschlägigen historischen Standardwerken83 und vielen weiteren bildungstheoretischen Ausarbeitungen84 galt diese These lange Zeit als gesicherte Erkenntnis. In Epocheneinteilungen zur Universitätsgeschichte markierte die Humboldt-Universität den Beginn einer neuen Phase, die sich qualitativ von den vorangegangenen Perioden abhebt.85 Für den Großteil der Forschung bestand kein Zweifel darin, dass „die Maximen des Berliner Modells trotz aller Konflikte dem Realtypus der deutsche Universität im 19. Jahrhundert den Stempel aufdrückten.“86 In den vergangenen Jahren hat die Forschung jedoch ein differenzierteres Bild zum Einfluss des Humboldt-Modells gezeichnet und dabei in Teilen Neubewertungen und Nachjustierungen vorgenommen, die zu einer Entmythisierung Humboldts beigetragen haben.87 Begibt man sich auf die Spuren des „Mythos Humboldt“,88 muss zunächst einmal betont werden, dass der Topos der Humboldtschen Universität erst im 20. Jahrhundert geprägt wurde, während er im 19. Jahrhundert kaum eine Rolle gespielt hatte: Weder wurde die Gründung der Berliner Universität 1810 von den Zeitgenossen außerhalb der damit betrauten Universitätsreformer als Zäsur wahrgenommen, noch spielten Humboldts Schriften in der Universitätsdiskussion des 19. Jahrhunderts eine nennenswerte Rolle.89 Wie Walter Höflechner herausgefunden hat, findet der Name Humboldt in einschlägigen deutschen Lexika und Enzyklopädien mit Bezug auf das deutsche Universitätssystem lange Zeit keine Erwähnung. Weder im 19. Jahrhundert noch in der um die Jahrhundertwende erschienenen Jubiläumsedition des Brockhaus geschweige denn in der in den 1930er Jahren erschienenen vierbändigen Brockhaus-Reihe lässt sich eine Verbindung des Namens Humboldt

82

Zit. nach Brocke, 1999: 191 – 192. Vgl. etwa Nipperdey, 1983: 470 – 482. 84 Vgl. Anrich, 1956. – Boehm, 1996: 596. 85 Vgl. Moraw, 2008: 7. 86 Bruch, 1994: 20. – Arbeiten wie diejenige von James Dennis Cobb, die auf die außerhalb Preußens zur gleichen Zeit parallel stattfindenden Reformbestrebungen hinwiesen und damit implizit den Originalitätscharakter des Berliner Modells in Frage stellten, bildeten lange Zeit eine Ausnahme. Vgl. Cobb, 1980. 87 Vgl. Schwinges, 2001. – Ash, 1999. – Anderson, 2004: 51 – 65. 88 Tenorth, 2012: 69 – 80. 89 Vgl. Paletschek, 2001: 76. 83

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mit der Institution Universität feststellen. Erst die 20-bändige Edition von 1966 – 1974 verknüpft Humboldt mit der neuen Epoche der abendländischen Universität.90 Humboldts oben zitierte Schrift „Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin“ wurde erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert publiziert und somit vergleichsweise spät dem intellektuellen Publikum zur Rezeption zugänglich. Warum es im Zuge dieser Publikation im 20. Jahrhundert zur Konstruktion des Humboldt-Mythos kam, dafür gibt Sylvia Paletschek fünf Gründe an: (1) ebenjene späte Veröffentlichung von Humboldts Universitätsschrift um 1900; (2) das groß begangene Universitätsjubiläum in Berlin von 1910 und die diese Feierlichkeiten flankierenden Publikationen; (3) das Vordringen neoidealistischer Denkströmungen in die Geisteswissenschaften um 1900; (4) das Bedürfnis nach einer Hervorhebung der Weltgeltung deutscher Wissenschaft91 sowie (5) die Instrumentalisierung der Humboldt-Reformen als Projektionsfläche für alle weiteren Neuerungen und Reformen, die aber mit ihrem Urbild im Zweifelsfall wenig zu tun hatten: „Der Rekurs auf Humboldt und den Neuhumanismus wurde im 20. Jahrhundert zu einer Allzweckwaffe.“92 Es ist sicher kein Zufall, dass der Humboldt-Mythos in einer Phase der schwelenden kulturellen Krisenstimmung geboren wurde. Die Modellierung eines Idealbilds aus vergangenen Zeiten, unterstützt durch die komplexitätsreduzierende Stilisierung einer konkreten Person bzw. einer konkreten Universitätsgründung wirkte als Kontrastfolie für die als trist empfundene Gegenwart. Auch die Wiederentdeckung Humboldts in den Debatten des von vielen als Fehlentwicklung empfundenen BolognaProzesses scheint dem gleichen Muster zu folgen: In Zeiten, in denen bildungspolitische Prozesse als Fehlentwicklungen perzipiert werden, hat die mythische Stilisierung und Heroisierung Humboldts Konjunktur. Welchen Einfluss hatte die Berliner Universitätsrefom nun jenseits des Mythos auf das deutsche Hochschulsystem und welche internationale Karriere hat das Humboldt-Modell tatsächlich erfahren? Immerhin gehörte es zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum souveränen Selbstbewusstsein und Selbstverständnis der Preußen, dass ihr Staat mit Berlin an der Spitze das bildungspolitische Gravitationszentrum in Deutschland bildete, ebenso wie umgekehrt das Bildungsniveau der preußischen Bürokratie in einem hohen Ansehen stand.93 Tatsächlich kann der Berliner Universität im 19. Jahrhundert eine ähnliche Vorbildfunktion zugeschrieben werden, wie sie die Universitäten in Halle und Göttingen im 18. Jahrhundert erfüllten.94

90

Höflechner, 2001: 263. Vgl. dazu auch Paletschek, 2010: 29 – 54. 92 Vgl. Paletschek, 2001: 100 – 104, Zitat 103. – Vgl. den gleichen Tenor bei Langewiesche, 2011: 15 – 37. 93 Vgl. Vierhaus, 1974: 531. 94 Vgl. Kraus, 2008: 23. 91

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Dennoch hat die Forschung relativ klar herausgearbeitet, dass es bereits im 19. Jahrhundert zu einem grundlegenden Spannungsverhältnis zwischen den idealistischen Zielsetzungen der Universitätsreformer und der Realität einer sich immer weiter spezialisierenden Großuniversität gekommen ist.95 Noch klarer formuliert Michael G. Ash: „[S]pätestens […] um die Jahrhundertwende hatten sich das Humboldt zugeschriebene Universitätsideal und die institutionelle Wirklichkeit an deutschen Universitäten sehr weit auseinanderentwickelt.“96 Dem lässt sich mit Wolfgang Hardtwig entgegen halten, dass, selbst wenn der Diskurs und die Rezeption von Humboldts Ideen erst im 20. Jahrhundert stattfand und seine Konzepte mit der politischen Praxis im 19. Jahrhundert noch nicht allzu viel zu tun hatten, bereits die explizite Formulierung eines neuen Konzepts an Gewicht nicht unterschätzt werden dürfe und insofern zu würdigen sei.97 Auch Marita Baumgarten schreibt der Berliner Universität eine gewichtige Bedeutung als Kristallisationspunkt der Reformen zu. Ein besonderes Verdienst Humboldts sieht Baumgarten in dessen Neujustierung der Rolle des Forschenden: Durch Humboldts Überhöhung der Wissenschaft habe er an die Stelle der „Universität als Versorgungsanstalt für Professorengeschlechter“ die „Universität des befähigten und erfolgreichen Wissenschaftlers“ gesetzt. Mit anderen Worten: Erstens galt nun persönliche Qualifikation mehr als Sozialbeziehungen und zweitens wurden die Voraussetzungen für eine dauerhafte Entfaltung des Leistungsprinzips geschaffen.98 Peter Moraw hält nach wie vor an seiner periodischen Einteilung der Universitätsgeschichtsschreibung fest, im Rahmen derer die Humboldt-Universität den Übergang zwischen der klassischen und nachklassischen Phase markiert. Er hat sein ursprüngliches Modell allerdings mit der differenzierenden Bemerkung versehen, dass sein Ordnungsschema weniger im Sinne einer chronologischen Periodisierung als vielmehr im Sinne einer idealtypischen Klassifizierung zu verstehen sei.99 Diese Modifizierung ist charakteristisch für eine generelle Tendenz der neueren Forschungen zu diesem Themenkomplex, in den Jahren um 1800/1810 weniger den Zäsurcharakter zu betonen, sondern stärker auf die Kontinuitätslinien abzustellen. Sylvia Paletschek hat im Gegensatz zu anderen Autoren die These vertreten, dass die Berliner Universitätsgründung kein radikal neues Konzept verfolgte, sondern vielmehr an die modernisierte Gestalt bereits existierender deutscher Universitäten anknüpfte: Weder in den institutionellen Regelungen noch in einer besonders forschungsorientierten akademischen Kultur vermag sie Innovationen zu erkennen. Es habe zwar durchaus ein „deutsches Modell“ der Universität im 19. Jahrhundert gegeben, das jedoch nicht in einem spezifischen „Berliner Modell“ aufgegangen sei.100 95

Vgl. Bruch, 1999: 38 – 42. Ash, 1999: 10. 97 Vgl. Hardtwig, 2001: 157. 98 Vgl. Baumgarten, 2001: 128 – 129. 99 Vgl. Moraw, 2001: 19 – 21. – Mit „klassisch“ ist vor allem die Ordinarienuniversität und nicht die Gruppenuniversität, nicht der wissenschaftliche Großbetrieb gemeint. 100 Vgl. Paletschek, 2011: 77 – 100. 96

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Neben der Bedeutung von Humboldts Modell für die deutsche Universitätsentwicklung hat die neuere Forschung sich auch ausführlich mit dem Exportmodell Humboldt in andere Teile der Welt auseinandergesetzt. In Frankreich war der Geist der Humboldtschen Universitätsidee – weniger als institutionelles Organisationsprinzip, sondern vielmehr als Wissenschaftsidee verstanden – vor allem bei der Schaffung der so genannten „grandes écoles“ von Bedeutung, die bis heute Eliteanstalten für verschiedene Fächergruppen im französischen Hochschulsystem darstellen.101 Marc Schalenberg hat in der Erschließung von historischem Quellenmaterial die Bezüge auf das deutsche Universitätssystem im 19. Jahrhundert im Schrifttum aus Paris und Oxford untersucht102 und ist dabei zu einem sehr heterogenen Befund gelangt: Bis zur Mitte der 1840er Jahre waren die deutschen Universitäten häufig entweder in affirmierender oder in abgrenzender Weise in den untersuchten Diskursen präsent. Auch im Gefolge der nationalen Abgrenzung in den 1860er Jahren intensivierte sich das Interesse am deutschen Bildungssystem, da man auf diesem wichtigen Politikfeld nicht ins Hintertreffen geraten wollte.103 Unter dem Strich steht bei Schalenberg allerdings kein einheitlicher Befund, sondern ein von Widersprüchen und Heterogenität durchzogenes Gesamtbild.104 Humboldts Reformmodell stand ganz wesentlich in Österreich105 und bei der Neuordnung des italienischen Universitätssystems Pate, das nach der nationalen Einigung die katholischen, revolutionären und napoleonischen Teilsysteme ablöste.106 Im ordnenden Rückblick auf die universitäre Bildungsgeschichte Europas im 19. Jahrhundert haben Wolfgang von Hippel und Bernhard Stier zwei miteinander konkurrierende Modelle identifiziert: (1) das zweckorientierte und auf Spezialisierung hin ausgelegte Modell der „grandes écoles“ „im Geist rationalisierten Fortschritts- und Nützlichkeitsdenkens“ in Frankreich; und (2) das frei von Nützlichkeitserwägungen funktionierende und auf allseitige Persönlichkeitsbildung hin orientierte Humboldt-Modell, das sich ihrer Auffassung nach mittel- und langfristig als erfolgreicher erweisen sollte.107 Auf der anderen Seite muss aber auch konzediert werden, dass Bildung, Wissenschaft und Forschung in dem im Vergleich zur konservativen Restauration in Deutschland politisch liberaleren Frankreich des 19. Jahrhunderts durchaus auch offener gedeihen konnten.108 Während sich die ideenhistorischen Spuren der Humboldtschen Universität, was den europäischen Raum angeht, vor allem in Österreich, in Italien und mit Abstrichen auch in Frankreich noch am deutlichsten zurück verfolgen lassen, so legen Studien für andere Länder wie etwa Belgien oder die Niederlande nahe, dass die These von 101

Vgl. Rüegg, 2001: 247 – 261. Vgl. Schalenberg, 2002. 103 Vgl. Schalenberg, 2002: 354 – 355. 104 Vgl. Schalenberg, 2002: 327 – 370. 105 Vgl. Höflechner, 2001: 268 – 269. 106 Vgl. Schwinges, 2001: 8. 107 Vgl. von Hippel/Stier, 2012: 430. 108 Vgl. Anderson, 2004: 65. 102

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einer direkten Übertragung oder Übersetzung des deutschen Modells kaum begründet ist.109 Nicht das deutsche oder Humboldtsche Universitätsmodell wurde überführt, „sondern es wurden Elemente eingeführt, die entweder dem deutschen Modell entnommen wurden oder auch im deutschen Modell vorhanden waren – nicht jede Ähnlichkeit kann auf eine Übernahme zurückgeführt werden“.110 Humboldts persönliche Gedanken zur Bildung und zur Universität lassen sich in einen allgemeinen Trend bildungstheoretischer Überlegungen und gesellschaftlicher Ausdifferenzierungsprozesse einbetten, die im 19. Jahrhundert insgesamt en vogue waren.111 Ein interessantes Bild ergibt sich auch mit Blick auf die Einflüsse des deutschen Universitätsmodells auf die amerikanischen Eliteuniversitäten, die heute als hochschulpolitische Musterbeispiele im weltweiten Maßstab gelten: Der Princeton-Reformer Abraham Flexner nannte die Berliner Universitätsgründung als Vorbild für die 1876 gegründete Johns Hopkins University in Baltimore.112 Daher bezeichnet Rainer C. Schwinges die amerikanischen Elite-Universitäten – zumindest in einem idealtypischen Sinne – als „Humboldtianer“.113 Allerdings sollte der deutsche Einfluss auf die Entwicklung der nordamerikanischen Hochschulsysteme nicht überschätzt werden, da sich dieser mit englischen und originär amerikanischen Elementen mischte.114 In ähnlicher Weise hat Jürgen Osterhammel für Japan einen „halben Import des deutschen Universitätsmodells“ diagnostiziert.115 Auch wenn sich vereinzelt dergleichen Bezugnahmen auf Humboldt im internationalen Kontext nachweisen so lassen, so scheinen die Begriffe „Transfer“ oder „Export“ wenig angemessen zu sein, da sie eine statische Sicht auf Wissenschaft und Kultur implizieren. Wie Michael G. Ash sinnvollerweise argumentiert hat, wird man dem dynamischen Charakter von Bildungskulturen und Wissenschaftssystemen mit den Begrifflichkeiten „Rezeption“ oder „Begegnung“ besser gerecht.116

IV. Fazit Ist nun Wilhelm von Humboldt eine geeignete Referenzfigur für den aktuellen hochschulpolitischen Reformdiskurs? Zunächst einmal sollte festgehalten werden, dass seine spannungsreiche, ja bisweilen widersprüchliche Einschätzung zur bildungspolitischen Rolle des Staates wie auch Humboldts Doppelrolle als philosophierender Bildungstheoretiker und praktischer Bildungsreformer ihn aus politikwissenschaftlicher Perspektive zu einem besonders interessanten Denker machen, denn ge109

Vgl. Wachelder, 2001: 203. Höflechner: 2001: 264. 111 So die Kernthese bei Becker 2004. 112 Zitiert nach Rüegg, 1997: 155. 113 Vgl. Schwinges, 2001: 8. 114 Vgl. Ash, 2001: 340 – 341. 115 Vgl. Osterhammel, 2009: 1145 – 1147. 116 Ash, 2001: 335 – 336.

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rade in der Bildungs- und Universitätsgeschichte finden sich nur sehr selten Personen, die Theorie und Praxis miteinander biografisch in dieser Form verknüpfen. Gleichwohl hat die kritische Prüfung des Humboldt-Mythos in theoretischer wie in praktischer Perspektive verschiedene Ernüchterungen zu Tage gefördert. Die lange Zeit als herausragend eingestufte Bedeutung Wilhelm von Humboldts für den Gang der abendländischen Bildungs- und Universitätsgeschichte ist in gleich dreifacher Hinsicht zu relativieren: (1) Zunächst einmal wird die Bildungstheorie und -philosophie Humboldts massiv überschätzt. Vor allem sein ausgesprochen staatskeptischer, wenn nicht gar staatsfeindlicher Politikbegriff, der darüber hinaus noch durch eine beachtliche Realitätsferne gekennzeichnet war, bietet kaum einen systematischen Anknüpfungspunkt für eine bildungspolitische Reformagenda. Für das aufklärerische Bildungs- und Universitätsideal waren die Einflüsse Immanuel Kants (1724 – 1804), Johann Gottfried Herders (1744 – 1803), Johann Wolfgang von Goethes (1749 – 1832), Friedrich Schillers (1759 – 1805), Johann Gottlieb Fichtes (1762 – 1814), Friedrich Schleiermachers (1768 – 1834), Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770 – 1831) und vieler weiterer erheblich bedeutsamer als der im Grunde bescheidene Beitrag Humboldts. (2) Darüber hinaus ist auch der Einfluss Humboldts auf das deutsche Universitätssystem lange überschätzt worden. In die gerade einmal 16 Monate seiner Amtszeit als Geheimer Staatsrat und Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht fällt zwar die Gründung der Berliner Universität. Diese war auch durchaus modellbildend für die universitäre Entwicklung des 19. Jahrhunderts, ihre Gründung war jedoch von anderen Personen ebenso vorbereitet worden wie ihre Weiterentwicklung nach dem Abgang Humboldts von anderen gestaltet wurde. Wie gezeigt wurde, ist die Mythisierung Humboldts ein Produkt des 20. Jahrhunderts. Zuvor wurden weder seine bildungstheoretischen Schriften noch sein bildungspolitisches Wirken zur Kenntnis genommen. (3) Schließlich ist auch der Exportcharakter des Humboldt-Modells in andere Teile der Welt von der neueren Forschung deutlich relativiert worden. Humboldts Gedanken lagen eher in einem allgemeinen Trend bildungstheoretischer Überlegungen und gesellschaftlicher Ausdifferenzierungsprozesse, die in der westlichen Welt überall von statten gingen. Insofern wird man Wilhelm von Humboldt als historische Person nur mit sehr großen Einschränkungen als kontrastierenden Pol für die Kritik an der gegenwärtigen Hochschulpolitik sowie als Projektionsfläche für Wünsche und Hoffnungen in Anschlag bringen können. Humboldt mag für Kritiker des Bologna-Prozesses als Fundus für wohl klingende Zitate taugen, einen theoretisch gehaltvollen Entwurf oder ein durchdachtes praxisorientiertes Konzept hat er nicht hinterlassen. Als Autorität für die Kritiker aktueller Hochschulpolitik scheint er daher kaum geeignet zu sein. Es ist wohl weniger die historische Figur als der ihn umspannende Mythos, der die aktuelle Debatte bestimmt. Das macht ihn zwar nicht weniger wirkungsvoll, es darf aber bezweifelt werden, ob damit ein substantieller und zukunftsorientierter Beitrag für aktuelle Problemstellungen geleistet werden kann. Im Lichte der wechselvollen Aneignungsgeschichte von Humboldts Gedankengut aus unterschiedlichen Richtungen klingt es beinahe wie ein Nachruf auf sich selbst, als er zwei Jahre vor seinem Tod

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in einem Brief an eine Freundin über das Vermächtnis von verblichenen Geistesgrößen schrieb: „Vieles, was sie an sich tragen, erlischt, und das Übrigbleibende wird nun zu einer ganz andern Erscheinung. Dabei wird noch, was man von ihnen weiß, nach dem Geist der jedesmaligen Zeit aufgenommen.“117 Exakt dies ist es, was mit Humboldts Werk geschehen ist und was sich im Grunde bis in die heutige Zeit stetig wiederholt. Literaturverzeichnis Quellen Entwurf der Kommittierten (1910). In: Lenz, Max: Geschichte der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Bd. 4, Berlin: Buchhandlung des Waisenhauses, S. 223 – 224. Humboldt, Wilhelm von (1980a): Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. In: Flitner, Andreas/Giel, Klaus (Hrsg.): Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Bd. 1, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 56 – 233. – (1980b): Theorie der Bildung des Menschen: Bruchstück. In: Flitner, Andreas/Giel, Klaus (Hrsg.): Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Bd. 1, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 234 – 240. – (1980c): Der Königsberger und der Litauische Schulplan. In: Flitner, Andreas/Giel, Klaus (Hrsg.): Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Bd. 4, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. S. 168 – 195. – (1980d): Bruchstücke einer Selbstbiographie. In: Flitner, Andreas/Giel, Klaus (Hrsg.): Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Bd. 5, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 1 – 10. – (1980e): Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten zu Berlin. In: Flitner, Andreas/Giel, Klaus (Hrsg.): Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Bd. 4, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. S. 255 – 261.

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– (2001): Humboldt in Frankreich. In: Schwinges, Rainer Christoph (Hrsg.): Humboldt International. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert. Basel: Schwabe, S. 247 – 261. Schalenberg, Marc (2002): Humboldt auf Reisen? Die Rezeption des „deutschen Universitätsmodells“ in den französischen und britischen Reformdiskursen (1810 – 1870). Basel: Schwabe. Schelsky, Helmut (1960): Einsamkeit und Freiheit: Zur sozialen Idee der deutschen Universität. Münster: Aschendorff. – (1963): Einsamkeit und Freiheit: Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Schultheis, Franz et al. (Hrsg.) (2008): Humboldts Albtraum: Der Bologna-Prozess und seine Folgen. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft. Schwinges, Rainer Christoph (Hrsg.) (2001): Humboldt International. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert. Basel: Schwabe. – (2001): Humboldt international. Der Export des deutschen Universitätsmodells. Eine Einführung. In: Schwinges, Rainer Christoph (Hrsg.): Humboldt International. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert. Basel: Schwabe, S. 1 – 13. Spiewak, Martin (2003): Humboldts Totengräber. In: DIE ZEIT vom 19. 4. 2003, S. 1. Spranger, Eduard (1960): Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens. Tübingen: Max Niemeyer Verlag. Tenorth, Heinz Elmar (2012): Mythos Humboldt. In: Behrmann, Carolin et al. (Hrsg.): Intuition und Institution. Kursbuch Bredekamp. Berlin: Akademie Verlag. – (2013): Die Universität zu Berlin. Vorgeschichte und Einrichtung. In: ders. (Hrsg.): Geschichte der Universität Unter den Linden. Bd. 1: Gründung und Blütezeit der Universität zu Berlin 1810 – 1918. Berlin: De Gruyter, S. 3 – 75. – (Hrsg.) (2013): Geschichte der Universität Unter den Linden. Bd. 1: Gründung und Blütezeit der Universität zu Berlin 1810 – 1918. Berlin: De Gruyter. Tintemann, Ute/Trabant, Jürgen (Hrsg.) (2012): Wilhelm von Humboldt: Universalität und Individualität. Paderborn: Wilhelm Fink. Vierhaus, Rudolf (1974): Bildung. In: Otto Brunner et al. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 508 – 551. Vossler, Otto (1954): Humboldts Idee der Universität. In: Historische Zeitschrift, 178, 95. Jg., S. 251 – 268. Wachelder, Joseph (2001): The German University Model and its Reception in the Netherlands and Belgium. In: Schwinges, Rainer Christoph (Hrsg.): Humboldt International. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert. Basel: Schwabe, S. 179 – 204. Wehler, Hans Ulrich (1996): Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815 – 1845/49. München: C. H. Beck.

Ruinen schaffen ohne Waffen? Zu den politischen Widerfahrnissen der Geisteswissenschaften und der Autonomie der Universität Von Rainer Enskat I. „Die deutsche Universität ist in eine tiefe Krise hineingetreten“. Die mehr als vier Jahrzehnte alte Diagnose aus der Feder des 2013 verstorbenen Politikwissenschaftlers Wilhelm Hennis hat nichts von ihrer Aktualität verloren.1 Wie die allmähliche Überhitzung der Kernbrennstäbe in einem Atomreaktor hat die von ihm diagnostizierte Krise einen Punkt erreicht, an dem auch die inzwischen wichtig gewordenen Ursachen ihrer Vertiefung hinreichend klar vor Augen stehen können. Diese Ursachen und die alltäglich gewordenen Epiphänomene ihrer verschleppten Behandlung sollen aus dem Erfahrungshorizont des Verfassers dieses Artikels allerdings nur insofern zum Ausgangspunkt genommen werden, als sie die in sachgebiets- und methodenspezifischer Hinsicht extrem heterogen strukturierte Gruppe der Geisteswissenschaften betreffen. Nach über vier Jahrzehnten in Forschung und Lehre der Philosophie sowie als ehemaliger Ko-Direktor eines geisteswissenschaftlichen DFG-Graduiertenkollegs, eines interdisziplinären geisteswissenschaftlichen Forschungszentrums und eines interdisziplinären geisteswissenschaftlichen Landesforschungsschwerpunkts hat der Verfasser genügend Gelegenheit gehabt, Erfahrungen zu machen und Indizien zu sammeln, die die disziplinären, die institutionellen, die personellen und die haushaltsökonomischen Faktoren der von Hennis diagnostizierten Krise und deren gegenwärtige Bedingungen und Tragweite beleuchten können. Alle relevanten Epiphänomene dieser Krise sind während der vergangenen Jahre schon vielfach öffentlich benannt, beleuchtet und erörtert worden. Ihr teilweise funktionaler, teilweise konditionaler und teilweise intentionaler, also politisch gewollter Zusammenhang mag hier noch einmal in sechs Punkten in Erinnerung gerufen werden, bevor die Hennis noch unbekannte strukturelle Grundbedingung dieser Krise und ihrer gegenwärtigen Epiphänomene zur Sprache kommen kann. 1. Vor allem Hennis’ Prognose, daß die „ungeheure Vermehrung der Stellen des Mittelbaus […] die deutsche Universität mit ihrem voraussichtlich schwersten sozialen Problem belastet hat“,2 ist inzwischen längst in einem seinerzeit unvorherseh1 2

Hennis, 1969: 61. Hennis, 1969: 61 – 62.

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baren Maß in Erfüllung gegangen: In den geisteswissenschaftlichen Fächern wird bis zu mehr als die Hälfte der Lehrveranstaltungen von Angehörigen des Mittelbaus getragen, und dies in der Regel auf befristeten halben Stellen bei entsprechend dürftiger Besoldung und auch bei den Talentiertesten unter ihnen ohne jegliche zuverlässige Aussicht auf die wohlverdiente unbefristete Anstellung. 2. Von den gegenwärtig zum nicht geringen Teil sogar unpromovierten Mitarbeitern galt in der Regel selbstverständlich schon damals und gilt nicht weniger heute, was Hennis zu bedenken gab: Von ihnen „kann […] schlechterdings kein bedeutsamer Beitrag zur Lehre erwartet werden“.3 Welche Konequenzen dies für die Entwicklung des wissenschaftlichen Niveaus der immer zahlreicher werdenden ihnen anvertrauten Studenten vor allem in den lehramtsrelevanten geisteswissenschaftlichen Fächern – und damit für die zukünftigen Schullehrer und deren Schüler – hat, ist inzwischen keine bloß rhetorische Frage mehr. 3. Die kriterienlose Steigerung von Lehrkräften – einschließlichlich von Privatdozenten – auf befristeten Stellen ist gleichzeitig nichts als eine für die Betroffenen ruinöse Kompensation der finanziellen Aushungerung der Geisteswissenschaften durch Verweigerung der Einrichtung unbefristeter Professorenstellen in Proportion zur kriterienlosen Steigerung der Studentenzahlen. 4. Die vergleichsweise riesigen Summen der Exzellenzinitiative dienen den Geisteswissenschaften daher tendenziell dazu, die unerträglich gewordene Verknappung der Personalmittel zugunsten der Etablierung von Einrichtungen zu verwenden, auf deren Stellen die sonst vor dem bürgerlichen Nichts stehenden wissenschaftlich hinreichend Begabten wenigstens für einige Jahre „überwintern“ können – allerdings ohne berechtigte Hoffnung auf einen akademischen „Frühling“. Ob die in diese Einrichtungen investierten Gelder angesichts der Antrags-Rhetorik für noch nicht erwiesene Leistungen von wissenschaftlichen Anfängern Früchte tragen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Doch strukturpolitische Entgleisungen wie diese gehören in den Geisteswissenschaften inzwischen zu einem ganzen Bündel von fast schon selbstverständlich gewordenen Akten systemischer Notwehr gegen eine Universitäts- und Wissenschaftspolitik, für die die Strukturbedingungen einer wissenschaftlichen Hochschule, die diesen Namen verdient, nur noch den Inhalt einer blackbox zu bilden scheinen. 5. Durch eine finanzpolitische Strukturmaßnahme ist die kriterienlose Steigerung der Studentenzahlen inzwischen zu einer betriebswirtschaftlichen Zwangsmaßnahme der Universitätspolitik der Bundesländer und zu einem Fetisch der Universitätsleitungen selbst entartet. Denn der Umfang des universitären Globalhaushalts wird direkt proportional an den Verlauf der Studentenzahlen gekoppelt. Gleichzeitig suggeriert die Politik durch diese Strukturmaßnahme – auch sich selbst? – in Gestalt dieser Haushaltsform einen Gewinn an Autonomie für die Universität. 3

Hennis, 1969: 61.

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6. Hätte man nicht über Jahrzehnte hinweg einen energischen deutschlandweiten Neubau von nichtuniversitären wissenschaftlichen Hochschulen und von fachspezifisch differenzierten Fachhochschulen vernachlässigt, hätte man einem erheblichen Teil der universitären Studienabbrecher bzw. wissenschaftlich insuffizienten Bachelor-Absolventen im Rahmen eines kraftvollen dualen Hochschulsystems unmittelbar erfolgsträchtige Ausbildungsmöglichkeiten auf der Grenze zwischen Wissenschaft und Praxis eröffnen können. Im Ganzen dieser Entwicklung zeigt sich nicht zuletzt unter Stichworten wie Bologna, Pisa und Bertelsmann, daß eine erhebliche Hilflosigkeit im Umgang mit den Kategorien und mit den Kriterien herrscht, die dem Kern der Universität – ihrer Autonomie in Lehre und Forschung – angemessen sind. Im rhetorischen und argumentativen Nebel dieser Hilflosigkeit verschwindet eine reale Entwicklung vor allem der Geisteswissenschaften, die zeigt, daß Ruinen schaffen ohne Waffen nicht nur ein Signum sozialistischer Politik ist, sondern auch das Signum einer betriebswirtschaftlich verblendeten Universitäts-Wissenschaftspolitik sein kann. II. Den vorläufigen Höhepunkt in der ruinösen Entwicklung zu dieser Hilflosigkeit bildet, wie es eben auch bei gruppenspezifischen Hilflosigkeiten oft der Fall ist, eine kompensatorische Entwicklung: Mit mehr oder weniger dreisten Dominanzansprüchen suchen ambitiöse wissenschaftsorganisatorische Akteure den durch Hilflosigkeit leer gewordenen Platz zu besetzen. Den Höhepunkt dieser Entwicklung bildet eine Auffassung, wie sie von 1994 – 2008 in Deutschland in äußerst einflußreicher Weise von dem Universitäts-, Wissenschafts- und Bildungsmanager, dem Wirtschaftswissenschaftler Professor Dr. Detlef Müller-Böling praktiziert worden ist. 14 Jahre der erste Geschäftsführer des „Centrums für Hochschulentwicklung“, einer gemeinnützigen Einrichtung, die 1994 aus einer Verbindung der Bertelsmann-Stiftung und der Stiftung zur Förderung der Hochschulrektorenkonferenz hervorgegangen ist, hat Müller-Böling diese Auffassung im Jahr 2000 als Zwischenbilanz und als Aufruf in seinem Buch „Die entfesselte Hochschule“ mit der These zusammengefaßt: „Globalhaushalte für Hochschulen sind das Fundament, auf dem ihre Autonomie beruht“.4 Doch das einzige, was sich in diesem Buch als entfesselt zeigt, sind die Allmachtsphantasien einer irregeleiteten betriebswirtschaftlichen Urteilskraft. Wenn der Wissenschaftsminister eines in der Universitätspolitik als besonders vorbildlich geltenden Bundeslandes Studenten öffentlich als „Kunden“ tituliert, dann hat nur allzu offensichtlich auch die amtliche Universitäts-Wissenschaftspolitik die tiefste Stufe des Verfalls dieser betriebswirtschaftlichen Degeneration betreten. Dieser inzwischen fast schon zum Automatismus gewordene Verfall ist umso skandalöser, als seit nunmehr über vierzig (!) Jahren ein empirisch wohlfundierter 4

Müller-Böling, 2000: 174.

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und theoretisch tief durchdachter Entwurf vorliegt, der allen Beteiligten die Mittel rechtzeitig an die Hand hätte können geben, dem wahren Autonomie-Fundament der Universität und seinen ökonomischen Folgelasten gerecht zu bleiben. Es handelt sich um das 1972 erschienene Buch „The American University“, das der vielleicht bedeutendste Soziologe des 20. Jahrhunderts Talcott Parsons gemeinsam mit seinem Kollegen Gerald Platt publiziert hat – 1990 auch auf Deutsch veröffentlicht. Den beiden Autoren ist es gelungen, die Kategorien und die Kriterien – und eine Sprache – zu entwickeln, die geeignet sind, die schon zur Zeit ihrer Prägung längst obsolete Kategorie der Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden durch eine empirisch evidente und theoretisch wohldurchdachte neue Kategorie zur Beschreibung des uralten autonomen Kerns der Universität als einer wissenschaftlichen Hochschule zu ersetzen. Für Parsons und Platt kam es darauf an, überhaupt erst einmal eine Kategorie zu finden, die sowohl in empirischer – also auch in institutioneller – wie in theoretischer und normativ-rechtlicher Hinsicht der nur allzu offenkundigen strukturellen kognitiven Asymmetrie zwischen Lehrenden und Lernenden an einer Universität gerecht wird. Für den Status und die Rolle der Lehrenden an einer solchen Einrichtung haben die beiden Autoren daher in bester kategorial-analytischer Tradition die auch empirisch bestens angemessene asymmetrische Kategorie der Treuhänderschaft geprägt. Das Mißliche an der alten Kategorie der Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden bestand im Grunde schon seit ihrer lateinischen Prägung („societas scholarum et studiorum“) im 13. Jahrhundert darin, daß sie durch ihre „societas“- bzw. Gemeinschafts-Komponente eine generelle Symmetrie zwischen Lehrenden und Lernenden suggeriert, wie es sie in empirischer Hinsicht nie gegeben hat und wie sie in theoretischer Hinsicht ebenfalls von Anfang an ins Leere gelaufen ist. Lediglich in den ,wilden‘ Jahren der deutschen Universitäts- und Wissenschaftspolitik zwischen 1965 und 1975 haben sich sozialistisch präokkupierte, aber verfassungsund hochschulrechtlich blinde und wissenschaftlich unerfahrene selbsternannte Vertreter einer verschwindenden Minderheit von Studenten und wissenschaftlichen Mitarbeitern – aber auch desorientierte Hochschullehrer – durch irreführende „societas“-Assoziationen der mittelalterlichen Formel an einer sozialistisch-pseudodemokratischen Wiederbelebung dieses Trugbildes versucht. Status und Rollen in der Treuhänderschaftsbeziehung ergeben sich jedoch aus dem eigentlich evidenten empirischen Umstand, daß die Lehrenden den Lernenden faktisch in vielfacher kognitiver, speziell wissenschaftlicher, also methodischer und theoretischer Hinsicht überlegen sind, sowie aus dem normativen – also rechtlich und politisch wichtigen – Umstand, daß sie kraft ihrer kognitiv-wissenschaftlichen Überlegenheit den Lernenden dazu verhelfen sollen, ihre wissenschaftlichen Talente so weit zu entwickeln, wie die diversen Zeitspannen es erlauben, die das Gemeinwesen ihnen mit Rücksicht auf seinen jeweiligen Bedarf an wissenschaftlich tüchtigen Mitgliedern in den diversesten Berufen einer wissenschaftlich-technisch basierten Gesellschaft einzuräumen bereit ist. Der rechtlich und politisch wichtige Punkt an dieser Konzeption des Kerns der universitären Autonomie besteht darin, daß er – also die

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asymmetrische kognitive Treuhänderschafts-Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden – es ist, was mit allen rechtlichen und politischen Mitteln gegen jede Infektion durch ausschließlich betriebswirtschaftliche Kriterien geschützt werden muß. Denn niemand kann so zuverlässig wie die Treuhänder selbst beurteilen, was für eine gedeihliche Ausgestaltung einer erfolgsträchtigen Wahrnehmung ihrer Treuhänderschaft angemessen ist und was nicht – und zwar nicht nur in der Lehre und in der für diese unverzichtbaren Forschung, sondern auch in der personellen, der prüfungstechnischen, der „facility“-relevanten und der haushaltsökonomischen Gestaltung ihrer jeweiligen fachspezifischen Einrichtung. Es ist vor allem diese an den Aufgaben der Lehre und der Forschung orientierte Beurteilungskompetenz der Treuhänder, die in den Geisteswissenschaften von der Universitäts-Wissenschaftspolitik durch eine kriterienlose Massenimmatrikulation von Studenten bei gleichzeitiger Unterfinanzierung der Personalhaushalte für die Lehre systematisch unterlaufen wird. Es bedarf daher auch nicht erst eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts, um einzusehen, daß das „outsourcing“ der treuhänderschaftlichen Kompetenz zur Beurteilung des Formats von neu einzurichtenden Studiengängen an privatwirtschaftlich organisierte Akkreditierungsagenturen nur ein weiteres Epiphänomen der inzwischen Jahrzehnte alten universitätspolitischen Krise bildet. Diese Aufgaben der wissenschaftlichen Treuhänderschaft als Kern der Autonomie haben selbstverständlich nichts mit der von Hennis scharfsinnig und gründlich kritisierten Strategie der Hochschulrektoren-Konferenz zu tun, die Universitäten unter Berufung auf eine fadenscheinige exklusive wissenschaftliche Autonomie gegen die berufsspezifischen Orientierungen der Lehre abzuschirmen.5 Denn es ist die „primäre […] Aufgabe einer Universität, eine Stätte der Ausbildung für wissenschaftliche Berufe zu sein“,6 aber nicht, wie zu ergänzen ist, um der wissenschaftlichen Tüchtigkeit um ihrer selbst willen. Der asymmetrische kognitive Kern der Hochschulautonomie ist selbstverständlich seit den geschichtlichen Anfängen der Universität und anderer wissenschaftlicher Hochschulen geradezu aus strukturellen Gründen offen für eine planmäßige schrittweise Überwindung dieser kognitiven Asymmetrie. Nichts anderes ist unter den Vorzeichen der Treuhänderschafts-Beziehung der Lehrenden zu den Lernenden das Ziel der Lehre – die planmäßige Förderung der wissenschaftsspezifischen, also der methodischen und der theoretischen Fähigkeiten der Studenten mit dem Ziel, ihnen schrittweise zu einem berufsspezifisch hinreichenden Grad wissenschaftlicher Tüchtigkeit zu verhelfen. Die irreführende Symmetrie-Suggestion der Gemeinschaft der Lehrenden und der Lernenden hat daher zu ihrem Kern eine spezifisch didaktische, aber immer noch asymmetrische Solidaritätsbeziehung: Die Lehrenden sind in ihrer Lehre und Forschung um der schrittweisen Überwindung der Lernbedürftigkeit der Lernenden willen praktisch solidarisch mit dem authentischen Ziel der Lernenden selbst, ihre Lernbedürftigkeit mit Hilfe der Lehrenden zugunsten von berufsspe5 6

Vgl. Hennis, 1969: 9 – 65. Hennis, 1969: 22.

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zifisch hinreichenden Graden wissenschaftlicher Tüchtigkeit zu überwinden. Doch nur weil dies schon vor allem positiven Recht die selbstgestellte solidarische Aufgabe jedes Lehrenden gegenüber einem sich ihm anvertrauenden Lernbedürftigen ist, kann und muß es in einem rechtlich wohlgeordneten und wissenschaftsbasierten Gemeinwesen auch eine Amtspflicht eines Lehrers an einer Universität und jeder anderen Art von wissenschaftlicher Hochschule sein. Selbstverständlich werden in dieser Autonomie-Konzeption der kognitiven Treuhänderschaft keinerlei ökonomische Faktoren berücksichtigt. Doch diese Schwundstufe des Ökonomischen bildet lediglich das Spiegelbild der Schwundstufe, auf der in der betriebswirtschaftlichen Autonomie-Konzeption alle kognitiv relevanten Kategorien, Kriterien, Regeln und Normen gänzlich im Dunkeln bleiben. Die Absurdität der betriebswirtschaftlichen Autonomie-Konzeption zeigt sich allerdings schon dem einfachsten verblüffungsfesten Blick darin, daß sie die elementarsten Abhängigkeitsverhältnisse zwischen erfolgsträchtigem Forschen und Lehren einerseits und andererseits erfolgsträchtigem Wirtschaften auf den Kopf stellt: Die Fragestellungen und die Leithypothesen, die erfolgsträchtiger Forschung und Lehre zu deren Erfolgen verhelfen, verhelfen ihr nicht deswegen zu solchen Erfolgen, weil sie von irgendjemand in irgendwelchen ökonomischen Größenordnungen alimentiert werden, sondern deswegen, weil diese Fragestellungen und Leithypothesen in methodischer und theoretischer Hinsicht gut genug durchdacht sind, damit ein in methodischer und theoretischer Hinsicht entsprechend tüchtiger Forscher und Lehrer sie auch selbst in Forschung und Lehre fruchtbar machen kann. Es ist zwar ebenso trivial, daß auch der tüchtigste Forscher und Lehrer mit der konkreten, mehr oder weniger zeitaufwendigen und anstrengenden Arbeit auch mit Hilfe der ausgereiftesten und erfolgsträchtigsten Fragestellung und Leithypothese erst dann anfangen und sie fruchtbar machen kann, wenn für die ökonomischen Voraussetzungen dieser Tätigkeit während dieser Zeit gesorgt ist. Doch dieser ökonomische Aufwand braucht in der strikt treuhänderschaftlichen Autonomie-Konzeption keine Rolle zu spielen. Denn wo auch immer man im Wissenschaftsystem den ökonomischen Faktor antreffen mag – er ist von keinerlei kognitiver, spezifisch wissenschaftlicher methodischer, technischer und theoretischer Relevanz für die um den Treuhänderschafts-Faktor zentrierte Autonomie der Universität und anderer wissenschaftlicher Hochschulen. Daß er spätestens seit dem 19. Jahrhundert von außerordentlicher funktionaler Relevanz für den täglichen Unterhalt, Betrieb, Wettbewerb und Ausbau dieses Systems geworden ist, übersieht kein verblüffungsfest gebliebener Insider und Beobachter dieses Systems. Verwechselt wird die funktionale Relevanz dieser ökonomischen Pseudo-Autonomie mit der für die wissenschaftliche Autonomie konstitutiven treuhänderschaftlichen methodischen und theoretischen Tüchtigkeit der in Lehre und Forschung professionell Tätigen nur von betriebswirtschaftlich verblendeten Akteuren dieses Systems.

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III. Die formalen und die prozeduralen administrativen Normen, die in Deutschland die Reform-Prozesse unter den Namen von Bologna, Pisa, Bertelsmann u. a. tragen und steuern, sind nicht nur in einem fast schon irreversibel scheinenden Maß miteinander verwachsen. Der ideologische Schutz durch den grotesken betriebswirtschaftlichen Fundamentalirrtum über die Grundlagen der Autonomie der Universität und anderer wissenschaftlicher Hochschulen verleiht ihnen in der Politik inzwischen de facto einen Nimbus von Unangreifbarkeit. Sie haben sich nahezu in sich selbst erhaltende Prozesse verwandelt – nicht zuletzt durch zähneknirschende resignative Anpassung der wissenschaftlichen Treuhänder selbst wie durch Studenten und Nachwuchswissenschaftler, die das Vorfindliche verständlicherweise für das Normale halten. Es ist daher mehr als fraglich, ob eine Kritik, geschweige denn eine Korrektur des grotesken betriebswirtschaftlichen Fundamental-Irrtums überhaupt noch mit irgendeiner praktischen Durchschlagskraft möglich ist. Es mag daher sein, daß die verselbständigten Reformprozesse im deutschen universitären System nicht nur für die Geisteswissenschaften zu Ruinen ohne Waffen führen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht 2014 das universitäre Kollegialitätsprinzip – also im Grunde das Treuhänderschaftsprinzip – noch einmal für alle entscheidungs- und mehrheitsrelevanten Abstimmungen betont. Doch bis auf weiteres werden diese einfachsten klassischen Selbstverständlichkeiten über den wissenschaftlichen Kern der Autonomie der Universität in Forschung und Lehre in einem immer dichter werdenden Nebel von teilweise sozialistisch-pseudodemokratischen und teilweise betriebswirtschaftlichen Verblendungen und Anmaßungen verschwinden. Leider ist die Ruine dessen, was eine Universität ausmacht, nicht so für jedermann sichtbar wie die Ruine, die ein Atomreaktor hinterläßt, wenn er durch eine Kernschmelze zerstört worden ist. Für die allmähliche Überhitzung ihrer Brennstäbe hat die Universitätspolitik leider keinerlei Meßapparate. Man mag sich nicht ausmalen, in welcher Mißgestalt – und mit welchen Konsequenzen für das Gemeinwohl eines wissenschafts- und technikbasierten Gemeinwesens – die Ruine der Universität dereinst für alle hinreichend sichtbar wäre, falls sie ihre Kernschmelze irgendwann einmal hinter sich haben sollte. Unter den Fächern der Universität gehört es seit jeher zu den vornehmsten Aufgaben der klassischen Geisteswissenschaften – also der philologischen und der historischen Wissenschaften sowie der Philosophie – das geschichtlich gewachsene und überlieferte Bewußtsein auch dieser Bedingungszusammenhänge auf einem möglichst hohen methodischen und theoretischen Niveau für jede neue Generation wachzuhalten und neu zu schärfen. Gegenwärtig obliegt es ihnen in einem beispiellosen Maß, dieses Bewußtsein auch gegen die Einflüsterungen notorisch geschichtsvergessener Disziplinen wie der Betriebswirtschaftslehre zu verteidigen.

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Literatur Hennis, Wilhelm (1969): Die deutsche Unruhe: Studien zur Hochschulpolitik. Hamburg: Christian Wegner Verlag. Müller-Böling, Detlef (2000): Die entfesselte Hochschule. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung.

Politische Philosophie versus Geschichtsphilosophie Leo Strauss’ Interpretation von Husserls „Philosophie als strenge Wissenschaft“* Von Pierpaolo Ciccarelli Abstract In one of his latest articles Strauss interprets Husserl’s essay „Philosophy as Rigorous Science“ to understand the contribution of Husserl’s phenomenology to political philosophy. The article has an autobiographical character. Strauss shows how Husserl’s critique of the „philosophy of Weltanschauung“ allowed him to understand the peculiar difficulty that each philosophy has to face, namely to resist the „temptation“ to become a „philosophy of Weltanschauung“, i. e., to join a particular ideology. According to Strauss, the „political philosophy“ has to be understood as the awareness of such a „temptation“. As such it is the opposite of the „philosophy of history“ (e. g. the one of Heidegger), which makes its own historical moment absolute, and therefore neglects its own unavoidable entanglement in the political conflict.

I. 1971 veröffentlichte Leo Strauss einen kurzen Aufsatz mit dem Titel: „Philosophy as Rigorous Science and Political Philosophy.“1 Der Aufsatz zielt unter anderem darauf ab zu verstehen, „ob es in Husserls Philosophie“ – vor allem in der 1911 veröffentlichten programmatischen Schrift „Philosophie als strenge Wissenschaft“ – „Raum für politische Philosophie“2 gibt. Eine merkwürdige Absicht: Denn die Themen, die Husserl in diesem Aufsatz behandelt, sind offensichtlich nicht diejenigen, die man der politischen Philosophie zuschreiben würde. Husserls Schrift ist von einer im Wesentlichen polemischen Absicht geleitet: Er will seine eigene Philosophie, nämlich die Phänomenologie, von der Gesamtheit der zeitgenössischen Philosophien absetzen, die er nach drei Etiketten anordnet: Naturalismus, Historizismus und Weltanschauungsphilosophie. Warum sucht Strauss, der berühmte gelehrte Interpret der klassischen, altgriechischen und lateinischen Tradition der politischen Philosophie, den „Raum für politische Philosophie“ gerade in dieser Schrift von Husserl? Um * Der vorliegende Artikel ist die stark erweiterte und überarbeitete Fassung eines Vortrags, den der Autor zuerst am 8. Juni 2010 am Institut für Philosophie der Universität Potsdam gehalten hat. 1 Vgl. Strauss, 1983: 29 – 37. Der Aufsatz erschien zunächst auf Hebräisch in einer Festschrift für Shlomo Pines, später auf Englisch, s. Strauss, 1971. 2 Strauss, 1983: 34: „Let us see whether a place for political philosophy is left in Husserl’s philosophy.“

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Strauss’ unkonventionellen Interpretationsansatz zu verstehen, muss in Strauss’ Schrift zuvorderst auf den begrifflichen Zusammenhang geachtet werden, in welchem der Ausdruck „politische Philosophie“ auftritt. Der Begriff „Political Philosophy“ stellt hier nahezu den Gegenpart zu jenem der „Philosophy of History“ dar. Strauss’ Absicht, bei Husserl den Ort für die „politische Philosophie“ auszumachen, ist demzufolge gleichbedeutend mit der Absicht, durch Husserl eine Alternative zu dem zu suchen, was nach Strauss der Grundcharakter des zeitgenössischen Denkens ist. Denn für Strauss entstammt die zeitgenössische Denkweise geradezu in Gänze der modernen Geschichtsphilosophie. Strauss bezieht sich dabei vor allem auf den Positivismus und Existentialismus, die damals als die vorherrschenden Stile der Philosophie galten. Der Positivismus ist insofern eine geschichtsphilosophische, oder eine von der Geschichtsphilosophie zumindest indirekt geprägte Denkweise, als er durch die Grundannahme charakterisiert ist, dass die wissenschaftliche Erkenntnis, nämlich die für die Positivisten einzig mögliche Erkenntnis, kein Werturteil abgeben darf. Die Werte gelten den Positivisten als der Wissenschaft unzugänglich: Dies bedeutet nach Strauss, dass der Positivismus die politische Philosophie als völlig unwissenschaftlich ablehnen muss, da politische Philosophie vorwiegend mit Werten und Werturteilen befasst sei.3 Der positivistische Ausschluss der Werturteile aus dem Bereich der Erkenntnis ist also im Sinne von Strauss eine mehr oder minder direkte Folge der Historisierung von Werten und Wahrheiten, die der modernen Geschichtsphilosophie entspringt. Der geschichtsphilosophische Charakter des Existentialismus ist evidenter: Existentialismus ist die Auffassung, nach der alle Erkenntnis- und Handlungsprinzipien geschichtlich sind, das heißt, keinen anderen Grund haben als die menschliche Entscheidung oder die schicksalhafte Fügung.4 Positivismus und Existentialismus, zwei Philosophien oder zwei Denkschulen, die sich selber in Opposition zueinander begreifen, kommen trotz allen äußerlichen Unvereinbarkeiten vollkommen darin überein, dass es keine ewige Wahrheit, bzw. keinen ewigen Wert gibt, der eine sichere Orientierung für das menschliche Zusammenleben gewährleisten könnte. Folglich verbindet sie auch die Ablehnung der politischen Philosophie, einer Denkweise nämlich, die nach Strauss auf Werturteile nicht verzichten kann, ohne sich selbst preiszugeben. Denn, seiner Definition entsprechend, beschäftigt sich politische Philosophie mit der besten oder der richtigen Ordnung der Gesell3 Strauss, 1983: 29 f.: „Positivism may be described as the view according to which only scientific knowledge is genuine knowledge; since scientific knowledge is unable to validate or invalidate any value judgments, and political philosophy most certainly is concerned with the validation of sound value judgments and the invalidation of unsound ones, positivism must reject political philosophy as radically unscientific.“ 4 Strauss, 1983: 30: „Existentialism appears in a great variety of guises but one will not be far wide of the mark if one defines it in contradistinction to positivism as the view according to which all principles of understanding and of action are historical, i. e. have no other ground than groundless human decision or fateful dispensation: science, far from being the only kind of genuine knowledge, is ultimately not more than one form among many of viewing the world, all these forms have the same dignity. Since according to existentialism all human thought is historical in the sense indicated, existentialism must reject political philosophy as radically unhistorical.“

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schaft, der Ordnung nämlich, die immer und überall, bzw. ohne räumliche und zeitliche Begrenzungen, besser und richtiger ist.5 Strauss’ Kritik des zeitgenössischen Denkens als eines im Grunde genommen nihilistischen Denkens, das bedauerlicherweise auf die Ewigkeit und Stabilität von Wahrheit und Werten verzichtet habe, ist im öffentlichen Diskurs recht bekannt. Sie vermittelt unweigerlich den Eindruck einer „laudatio temporis acti“. Strauss’ Kritik der Moderne scheint nämlich darauf abzuzielen, ein unangetastetes Wissen über das Gute und das Wahre zu rehabilitieren. Diese Verortung von Strauss als konservativem Denker erlangt scheinbar Plausibilität angesichts der Tatsache, dass sein Interesse vor allem dem antiken und klassischen Naturrecht gilt6, und der Begriff „Naturrecht“ im öffentlichen Diskurs zumeist mit einer konservativen, antimodernen Konnotation belegt ist. In diesem Zusammenhang sei zuerst die Auslegung von Strauss erwähnt, die vor allem in den USA eine breite, nicht nur akademische öffentliche Resonanz gefunden hat. Wir meinen die These, dass Strauss’ Lehrtätigkeit zur Bildung einer konservativen politischen Elite – die sogenannten „Neocons“ – beigetragen habe und dadurch für die amerikanische „imperialistische“ Außenpolitik im Nahen Osten mitverantwortlich sei.7 Die methodische Schwäche dieses Interpretationsschlüssels ist nur allzu offensichtlich: Um das „interpretandum“ um jeden Preis zu „aktualisieren“, das heißt, seine Bedeutung für die gegenwärtigen politischen Angelegenheiten zu beweisen, läuft er darauf hinaus, sein eigentliches Profil zu verzerren. Der methodische Fehler besteht hier genauer besehen darin, Strauss’ Lehre von Fragen ausgehend deuten zu wollen, die offensichtlich nicht diejenigen Fragen sein können, die Strauss selber gestellt hat, weil sie chronologisch später sind. Es gibt auch andere Untersuchungen über Strauss’ Konservatismus, die eine viel größere Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen können, weil sie sich eines wissenschaftlich zuverlässigen methodologischen Instruments, nämlich der historischen Kontextualisierung bedienen. Eine Übersicht darüber zu geben, gehört selbstverständlich nicht zu den Zwecken des vorliegenden Aufsatzes.8 Es sei aber hier eine kurze Betrachtung einer dieser Studien, nämlich des 2016 erschienenen Buches von Andreas Kellner „Politik im Posthistoire. Die politische Philosophie von Leo Strauss“, unseren Überlegungen vorangestellt, nicht so sehr, weil sie eine der neueren ist, sondern weil sie es ermöglicht, den besonderen Beitrag zur Geltung kommen zu lassen, welchen das bis-

5

Strauss, 1983: 29: „Political philosophy was concerned with the best or just order of society which is by nature best or just everywhere or always, while politics is concerned with the being and well-being of this or that particular society (a polis, a nation, an empire) that is in being at a given place for some time.“ 6 Siehe beispielsweise das bekannteste Buch von Strauss „Natural Right and History“ (= Strauss, 1953). 7 Es sei hier nur auf zwei bekannte Beispiele für einen solchen Interpretationsansatz verwiesen: Drury, 1999, und Norton, 2014. 8 Vgl. zum Beispiel unter den neueren Beiträgen Steiner, 2013, und McCormick, 2016.

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her nicht besonders beachtete Thema „Husserls Phänomenologie und Strauss’ Hermeneutik“ zur Strauss-Forschung leisten kann.9 Die durch die eingehende Textanalyse eines breiten Spektrums von Strauss’ Schriften untermauerte Grundthese Kellners kann auf folgende Weise zusammengefasst werden: Strauss habe eine – mit dem Ausdruck gesagt, den Pierre Bourdieu mit Bezug auf Heidegger prägte – „philosophische Sublimierung der konservativen Revolution“ vollzogen.10 Sein Konservatismus sei demnach gar nicht restaurativ bzw. „nostalgisch“, sondern durchaus „revolutionär“: Strauss’ Denken, fern von „ein[em] politische[n] Denken, das im Kern unpolitisch ist,”11 sei als „ein in Inhalt und Form dezidiert politisches philosophisches Projekt”12 zu betrachten, dessen grundsätzliche Intention durch das Motto der „konservativen Revolution“ zum Ausdruck kommt: „Ursprung ist das Ziel“ oder „Zurück nach vorn.“13 Das Ziel eines derartigen Projekts bestehe vom Anfang an, nämlich schon in Strauss’ frühen zionistischen Schriften, darin, „das politische Zentralproblem von Herrschaft und Vergesellschaftung

9 Dem Thema „Strauss und Husserl“ hat die Strauss-Forschung zumeist das verschwägerte, aber mit dem ersten nicht zu verwechselnde Thema „Strauss und Heidegger“ vorgezogen. Dies erklärt sich in einigen Fällen dadurch, dass Heideggers Biographie viel direkter und einfacher mit politischer Philosophie in Verbindung gebracht werden kann. Vgl. dazu zum Beispiel Altman, welcher Strauss’ bekannte lobenden Äußerungen über Heidegger als ein verkapptes Zugeständnis seiner eigenen Nähe zu Heideggers Nazismus zu entlarven versucht (Altman, 2011: 143 ff.). Dieser fast grotesken Extremisierung des Bildes von Strauss als rechtskonservativen Denker sei hier nur folgendes entgegen gehalten. Der Einfluss von Heideggers phänomenologischer Methode auf Strauss’ Hermeneutik, die Altman oft scharfsinnig zur Geltung bringt (vgl. z. B. Altman, 2011: 210 ff., wo er „the Heideggerian orientation“ von Strauss’ Hobbes-Buch auftauchen lässt), ist unleugbar. Man versteht aber nicht, warum dieser, von Strauss anerkannte Einfluss, der wohlgemerkt vorwiegend methodologischen, nicht inhaltlichen Charakter hat, mit Heideggers Nazismus gleichbedeutend wäre. Eine derartige Folgerung von der Philosophie zur Ideologie ist unseres Erachtens nach unterkomplex und ebenso ungerechtfertigt wie der Vorwurf, den jemand gegen Altman dummerweise erheben könnte, dass sein entschlossener Platonismus (vgl. Altman, 2011: 13) mit der Bereitschaft gleichbedeutend wäre, nach Syrakus zu reisen. Über „Strauss und Heidegger“ sei auf zwei ausgeglichenere Beiträge hingewiesen, wie Smith, 2006, und Velkley, 2011. Zum Thema „Strauss und Husserl“ siehe – neben den unten in Anm. 23 erwähnten wichtigen Beiträgen von Stanley Rosen – Chacón, dem zufolge von einem „Husserlian Strauss“ die Rede sein kann (Chacón, 2014: 296). Es sei schließlich auf die folgenden Beiträge vom Autor hingewiesen: Ciccarelli, 2009; 2015; 2017a; 2017b. 10 Kellner, 2016: 37, wo Bourdieu, 1976: 75, erwähnt wird. Kellner verweist hier auch auf Brumlik, 2004 (unveröffentlicht, aber vgl. Brumlik, 2008) und auf Quéllenec, 2007. Zur Ausführung seiner Textanalysen scheint Kellner auf die von ihm oft zitierte Studie Altman, 2011, zurückgegriffen zu haben. 11 So Bluhm, 2002: 22, zitiert in Kellner, 2016: 250, wo Bluhms Interpretationsthese mit der Behauptung von Heinrich Meier, der zufolge Strauss „sich zu [k]einem politischen Gegenentwurf verstehen“ konnte (Meier, 1998: 184), in Verbindung gebracht wird. 12 Kellner, 2016: 401. 13 Vgl. Kellner, 2016: 176 und 238. Für die Formel „Ursprung ist das Ziel“ verweist der Autor erneut auf Brumlik, 2004: 26.

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unter den Bedingungen des Historismus-Problems zu lösen.“14 In einer „posthistorischen Epoche“, die durch das Problem der Vergesellschaftung bzw. dessen, was die Bürger „auf einer ,symbolischen‘, ,ideologischen‘ Ebene“15 zusammenhält, wesentlich geprägt ist, biete Strauss eine Art „hermeneutische Lösungsstrategie“. Im „Gewand des Kommentators und Interpreten antiker, mittelalterlicher, moderner Texte“ produziert er Kellner zufolge „Ideologeme“ – wie zum Beispiel das „theologisch-politische Problem“, das „esoterisch-exoterisch Schreiben“, die „natürliche Ordnung“, die „zweite Höhle“ oder den „Römischen Gedanken “16 –, die den unserer „posthistorischen“ Epoche innewohnenden Sinnverlust kompensieren und dadurch die politische Funktion gewährleisten, den Staat zusammenzuhalten. Kellner argumentiert, wie gesagt, diese Interpretationsthese durch eine ausführliche historische Kontextualisierung, deren erster Schritt die im ersten Kapitel des Buches ausgeführte Rekonstruktion des genannten „Historismus-Problems“ ist. Nun, vom Standpunkt unseres Themas gesehen, erscheint es als bemerkenswert, dass der letzte Paragraph dieses Kapitels Husserls „Philosophie als strenge Wissenschaft“ gewidmet ist, und – noch bemerkenswerter – dass dieser Paragraph „Wegbereiter wider Willen – Edmund Husserl“17 betitelt ist. Mit diesem Titel deutet der Autor offensichtlich darauf hin, dass Husserls „Lösungsstrategie“ des „Historismus-Problems“, nämlich die „transzendentale Phänomenologie“, obwohl sie den Weg zu Heideggers „konservativ-revolutionärer Lösungsstrategie“ bereitete, mit dieser nicht zu verwechseln sei. Die „Einordnung“ von Husserl „in die Vordenker der hermeneutischen Lösung“ sei wohl „[ge]rechtfertigt“, aber, fügt Kellner hinzu, die „von Husserl angerufene Vernunft, die als apriorischer Maßstab letztlich das Historismus-Problem lösen soll, wird allerdings von Heidegger ,abgewickelt‘ werden“.18 Eine derartige Charakterisierung von Husserl als „Wegbereiter“ erscheint in dem vorliegenden Zusammenhang insofern als besonders bemerkenswert, als sie der Charakterisierung merkwürdigerweise ähnlich ist, die Strauss von Heidegger gibt, nämlich – wie hier genauer gezeigt werden wird – als demjenigen, der „went much further than Husserl in the same direction.“19 Noch merkwürdiger aber ist es, dass Kellner, obwohl er Strauss’ Interpretation von Husserl bestimmt kennt,20 sie weder im Hus14

Kellner, 2016: 401. Kellner, 2016: 92. 16 Kellner, 2016: auf der Rückseite des Einbandes. 17 Kellner, 2016: 125 – 128. 18 Kellner, 2016: 128. 19 Strauss, 1983: 31; vgl. Anm. 45. 20 Strauss’ Aufsatz „Philosophy as Rigorous Science and Political Philosophy“ ist im bibliographischen Verzeichnis des Buches aufgeführt, wo offensichtlich nur vom Autor tatsächlich gelesene Texte aufgelistet sind. Kellner bespricht den Aufsatz salvo errore nur einmal indirekt in einer Anmerkung (Kellner, 2016: 260), wo er Pangle, 1983: 25, vorwirft, das in „Philosophy as Rigorous Science and Political Philosophy“ enthaltene Diktum, nach dem Heidegger „surely leaves no place whatever for political philosophy” (Strauss, 1983: 33 f.), zu erwähnen, „ohne zu fragen, was Strauss hier mit ,Political Philosophy‘ meint“ (Kellner, 2016: 260). Aber ausgerechnet diese Frage nach der spezifischen Bedeutung, die der Begriff „poli15

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serl-Paragraphen des ersten Kapitels noch an anderer Stelle im Buch in Betracht zieht. Damit wollen wir natürlich nicht dem Autor den pedantischen Vorwurf machen, dass die von ihm ausgeführte Kontextualisierung von Strauss’ „politischer Philosophie“ unvollständig sei. Wir wollen eher bemerken, dass die Unterbelichtung bzw. Ausblendung des Einflusses von Husserls Phänomenologie auf Strauss’ Denken ihn daran hindert, Strauss’ Begriff der „political philosophy“ angemessen zu bestimmen. Denn, wie sich aus der vorliegenden Analyse von „Philosophy as Rigorous Science and Political Philosophy“ ergeben wird,21 steht Strauss’ Begriff von politischer Philosophie zu demjenigen, den Kellner ihm zuschreibt, im ausdrücklichen Gegensatz. Mit genaueren Worten gesagt: Strauss erkennt Husserls „contribution to political philosophy“, d. h. seinen Beitrag zu derjenigen Auffassung der politischen Philosophie, die für Strauss selbst maßgebend ist, an Husserls entschlossener Verweigerung, die Philosophie in „Weltanschauungsphilosophie“, nämlich – mit einem Wort, das Kellner in der ihm von Antonio Gramsci verliehenen Bedeutung anzunehmen scheint – in „Ideologie“, in Hervorbringung einer „symbolischen Ebene“ zu verwandeln. Strauss zufolge widersteht Husserl der „temptation“, der Heidegger umgekehrt keinen Widerstand leistet, nämlich der „Versuchung“, eine weltanschauungsphilosophische „Antwort auf die Rätsel des Lebens und der Welt“ zu geben, so Husserl, „die auf die bestmögliche Weise die theoretischen, axiologischen, praktischen Unstimmigkeiten des Lebens […] zur Auflösung und befriedigenden Klärung bringt.“22 Strauss’ These, dass eine derartige Verweigerung auf die Ideologisierung der Philosophie bzw. – mit Kellners Ausdruck – auf die Herstellung von „Ideologemen“ nicht als eine Entpolitisierung der Philosophie, sondern umgekehrt als eine „contribution to political philosophy“ zu verstehen ist, klingt etwas paradox. Die folgende Analyse von Strauss’ Text wird versuchen, dieses Paradoxon zu deuten. Es ist jedoch schon evident, dass der politische Charakter von Strauss’ Hermeneutik von der spezifischen Bedeutung von Strauss’ Begriff der politischen Philosophie nicht zu lösen ist. Demnach muss wohl auch Strauss’ Hermeneutik nach einem in Kellners Buch oft wiederholten Satz von Stanley Rosen definiert werden: Wie „every hermeneutical programm“, ist sie „at the same time [her]self a political manifesto or the corollary of a political manifesto“.23 Es handelt sich aber – und darüber war sich der erwähnte „Strauss-Schüler“ Rosen sehr wohl bewusst – um eine philosophische politische Hertische Philosophie“ im Kontext von Strauss’ Auseinandersetzung mit Husserls „Philosophie als strenge Wissenschaft“ annimmt, wird merkwürdigerweise von Kellner selbst völlig „versäumt“. 21 Vgl. unten Abschnitt IV. 22 Husserl, 1987: 50; vgl. Anm. 28. 23 Rosen, 1987: 141. Die wiederholte Erwähnung von Stanley Rosen in Kellners Buch ist vom Standpunkt unseres Themas deswegen von Interesse, weil Rosen in anderen, von Kellner nicht erwähnten Aufsätzen Strauss’ Hermeneutik mit der Methode der „desedimentation“ des späten Husserl in der „Krisis der europäischen Wissenschaften“ und im Fragment über den „Ursprung der Geometrie“ in Verbindung bringt (vgl. Rosen, 2009: 121, der das Motto „back to the future“ wohl in Betracht zieht [Rosen, 2009: 135 f.], aber auf eine andere Weise als Kellner deutet; vgl. auch Rosen, 2000 und 2002).

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meneutik, wie Kellner selbst übrigens volens nolens zugibt, wenn er Strauss’ Denken als „philosophische Sublimierung“ (Hervorhebung von mir, P. C.) der konservativrevolutionären Kulturmotive versteht. Zum Schluss dieser kurzen Besprechung von Kellners Buch sei also wiederholt: Ohne vorgängige Klärung von Strauss’ Begriff der „political philosophy“ bleibt der politische Charakter von Strauss’ hermeneutischem Philosophieren unverständlich. Eine derartige Klärung muss unseres Erachtens vor allem darauf zielen, die oft verkannte methodische Tragweite von Strauss’ Begriff der politischen Philosophie freizulegen. Mit anderen Worten, Strauss’ Begriff der politischen Philosophie zeichnet nahezu ein „Wie“ bzw. eine Modalität des Philosophierens vor, die – wie es aus der darauffolgenden Kontextualisierung von Strauss’ Denken in Husserls Phänomenologie klar werden wird – als phänomenologisch zu charakterisieren ist. Von dem hier vorgeschlagenen phänomenologischen Interpretationsansatz aus gesehen, erscheint jede ideologisch-politische, „weltanschauliche“ Lektüre von Strauss, egal ob sie rechtsliberal oder rechtsrevolutionär oder auch linksliberal orientiert ist, als zu kurz greifend. Damit sei natürlich weder die politisch eher konservative, persönliche Einstellung von Strauss und noch weniger die Sinnhaftigkeit jedes unparteiischen Versuchs, sie auf der historisch-biographische Ebene zu ermitteln, geleugnet. Eine einseitig ideologisch-politisch orientierte Rezeption seines Werkes läuft jedoch Gefahr, sich über das philosophische Problem, genauer über die philosophische Brisanz der Fragestellung hinwegzusetzen, von welcher Strauss’ politische Hermeneutik des antiken Denkens stets geleitet wurde. Strauss’ Aufsatz über Husserl kann eben dazu dienen, sein philosophisches Problem zu erfassen, und ihn dadurch „als einen politischen Philosophen und nicht als einen Ideologen oder Mythologen“24 zu begreifen. Es gilt hier insbesondere, den phänomenologischen Sinn von Strauss’ Gegenüberstellung von „politischer Philosophie“ und „Geschichtsphilosophie“ zu verstehen. Der Husserl-Aufsatz ist demnach als eine autobiographische „confessio“ zu betrachten, in der Strauss herausstellt, wie eine solche für ihn entscheidende Gegenüberstellung von einem Problem angeregt oder zumindest mitangeregt wurde, das Husserls „Philosophie als strenge Wissenschaft“ auf exemplarische Weise thematisiert hatte. In diesem Sinne wird man hier „Philosophy as Rigorous Science and Political Philosophy“ als Versuch einer intellektuellen Autobiographie lesen. Dieser Interpretationsansatz findet genauer besehen auch darin Berechtigung, dass Strauss selbst gerade den Husserl-Aufsatz an erster Stelle einer Reihe von „Studies in Platonic Political Philosophy“ setzte, die als eine letzte „summa“ seines Denkens betrachtet werden kann.25 24 So formuliert Strauss die Intention seiner Hobbes-Interpretation in dem 1964 verfassten Vorwort zur deutschen Ausgabe des erstmals 1936 in englischer Übersetzung veröffentlichten Hobbes-Buches (vgl. Strauss, 2001: 9). 25 Die Sammlung „Studies in Platonic Political Philosophy“ erschien zwar erst posthum; Strauss selbst legte jedoch kurz vor seinem Tod die Reihenfolge der Beiträge in der Sammlung fest (vgl. Strauss, 1983: vii). Vgl. den autobiographisch anmutenden Ton der in Anm. 44 erwähnten Textstellen.

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II. Es gilt zunächst, eine bestimmte Passage von Husserls Gedankengang in „Philosophie als strenge Wissenschaft“,26 hervorzuheben, nämlich diejenige, in welcher Husserl die Weltanschauungsphilosophie kritisiert. Wie bereits angedeutet kritisiert Husserl in dieser Schrift den Naturalismus, den Historizismus und die Weltanschauungsphilosophie: keine dieser Arten von Philosophie ist für Husserl der Aufgabe einer Philosophie als strenger Wissenschaft gewachsen. Strauss hebt das spezifische Motiv von Husserls Kritik der Weltanschauungsphilosophie mit besonderer Klarheit hervor: ein Motiv, das bei der Lektüre von Husserls Aufsatz leicht unbemerkt bleiben könnte. Die Motive, aufgrund derer Husserl den Naturalismus, den Historizismus und die Weltanschauungsphilosophie kritisiert, sollten nicht miteinander vermengt werden. Die Motive sind tatsächlich ganz verschieden, ja einander entgegengesetzt. Naturalismus und Historizismus sind Husserl zufolge zu kritisieren, weil beide im Skeptizismus münden. Der Naturalismus impliziert insofern den Skeptizismus, als der Naturalismus selbst die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis naturalisiert. Beispiel dieses notwendigerweise zum Naturalismus führenden Skeptizismus ist der sog. „Logische Psychologismus“, demzufolge die logischen Gesetze (z. B. das Prinzip der Widerspruchsfreiheit) nichts anderes als Naturgesetze sind, und zwar jene, welche die Abfolge der empirischen Bewusstseinserlebnisse regeln. Als Naturgesetze interpretiert können die logischen Prinzipien nicht diejenige Universalität und Notwendigkeit einlösen, die jedes logische Prinzip als solches beansprucht. Die Naturalisierung der ewigen Wahrheiten der Logik (sowie der Ästhetik, der Ethik, des Rechts, kurz: jeder axiologischen Wissenschaft, die mit Werten befasst ist) führt also nach Husserl zum selben Resultat des Historizismus, nämlich zu einer empirischen Relativierung dessen, was einen Anspruch auf metaempirische Geltung erhebt. Die naturalistische und historizistische Relativierung der Bedingungen der Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeit stellt bei Husserl einen „Widersinn“ dar: Die ganze menschliche Erfahrungswelt erscheint in der Perspektive dieser skeptischen Relativierung der Bedingungen der Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeit als völlig unverständlich. Es handelt sich also um Theorien, die zu absurden, bzw. dem natürlichen Weltverständnis widersprechenden Folgen führen.27 Indessen ist nach Husserl die Weltanschauungsphilosophie aus entgegengesetzten Gründen zu kritisieren. Während nämlich Husserl den Naturalismus und den Historizismus wegen ihrer skeptischen Zerstörung jener Gewissheiten kritisiert, die die „natürliche“, bzw. normale, ordinäre Welterfahrung ermöglicht, kritisiert er die Weltanschauungsphilosophie umgekehrt deswegen, weil die Weltanschauungsphilosophie das menschliche Bedürfnis nach Gewissheit auf eine ganz bestimmte Weise erfüllt. Denn, wie ist der Philosophietypus beschaffen, den Husserl „Weltanschauungsphilosophie“ nennt? Husserl schreibt: 26 27

Husserl, 1987: 51 ff. Vgl. dazu Husserl, 1987: 8 – 25, 41 – 47.

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„[…] Weltanschauungsphilosophie [gibt] die in den großen Systemen […] relativ vollkommenste Antwort auf die Rätsel des Lebens und der Welt, [sie bringt] nämlich auf die bestmögliche Weise die theoretischen, axiologischen, praktischen Unstimmigkeiten des Lebens, die Erfahrung, Weisheit, bloße Welt- und Lebensanschauung nur unvollkommen überwinden können, zur Auflösung und befriedigenden Klärung […].“28

Weltanschauungsphilosophie hat also Husserl zufolge überhaupt keine skeptische Implikation: Sie zerstört nicht wie der Naturalismus und der Historizismus diejenigen axiologischen Gewissheiten, die die Menschen brauchen, um zu leben. Ganz im Gegenteil stellt die Weltanschauungsphilosophie, verstanden als eine Art begriffliche Vervollkommnung der Kulturmotive einer bestimmten Zeit, „eine relativ vollkommene konkrete Abschattung der Idee der Humanität“29 dar. Weltanschauungsphilosophie ist so wenig widersinnig und hat so viel Anziehungskraft, dass Husserl sogar einräumt, dass es „scheinen möchte, dass nichts uns abhalten dürfte, das Streben nach solcher Philosophie unbedingt zu empfehlen“.30 Trotzdem fügt er sofort hinzu: „Vielleicht läßt sich doch zeigen, daß in Hinblick auf die Idee der Philosophie, noch anderen und von gewissen Gesichtspunkten höheren Werten genug zu tun ist, nämlich denjenigen einer philosophischen Wissenschaft.“31 Aus welchen Gründen lehnt also Husserl die Weltanschauungsphilosophie ab? Er beginnt damit, das hervorzuheben, was er sowohl hier in diesem Aufsatz, als auch in der späteren „Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie“ als das Grundfaktum der Modernität ansieht. Dieses Grundfaktum, das als die eigentliche Triebfeder von Husserls Denken anzusehen ist, wird hier auf folgende Weise zum Ausdruck gebracht: „Für das neuzeitliche Bewusstsein haben sich die Ideen Bildung oder Weltanschauung und Wissenschaft – als praktische Idee verstanden – scharf getrennt, und sie bleiben von nun an für alle Ewigkeit getrennt. Wir mögen es beklagen, aber als eine fortwirkende Tatsache müssen wir es hinnehmen, die unsere praktischen Stellungnahmen entsprechend zu bestimmen hat.“32

Das Grundfaktum unserer Epoche („die eine Zeit zu gewaltigen Mächten objektivierter strenger Wissenschaft ist“33) ist also die Trennung zwischen zwei „praktischen Ideen“: der praktischen Idee der Bildung oder Weltanschauung und der praktischen Ideen der Wissenschaft. Sie haben sich insofern getrennt, als die zweite praktische Idee, die Idee der Wissenschaft, eine „überzeitliche, und das sagt hier, durch keine Relation auf den Geist einer Zeit begrenzte Idee“ darstellt: „Wissenschaft ist ein Titel für absolute, zeitlose Werte“.34 Das bedeutet, dass die Zielrichtung der prak28

Husserl, 1987: 50. Husserl, 1987: 50. 30 Husserl, 1987: 51. 31 Husserl, 1987: 51. 32 Husserl, 1987: 51. 33 Husserl, 1987: 51. 34 Husserl, 1987: 51. 29

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tischen Idee der Wissenschaft von einer „transfiniten“ Unendlichkeit gegeben wird. Sie ist nämlich eine Idee, und als solche hat sie Bezug auf ein Unendliches: Die Unendlichkeit aber, auf die sich die Wissenschaft ausrichtet, ist dadurch gekennzeichnet, dass sie „transfinit“ ist, bzw. jenseits des Endlichen liegt. Die Idee der Bildung oder der Weltanschauung impliziert umgekehrt keine transfinite Unendlichkeit. Diese eher subtile Unterscheidung zwischen den zwei verschiedenen Unendlichkeiten wird von Husserl auf folgende Weise geklärt: „Auch Weltanschauung ist zwar eine ,Idee‘, aber die eines in Endlichkeit liegenden Zieles, in einem Einzelleben in der Weise steter Annäherung prinzipiell zu verwirklichen, ebenso wie die Sittlichkeit, die ja ihren Sinn verlieren würde, wenn sie die Idee von einem prinzipiell transfiniten Unendlichen wäre.“35

Husserl vergleicht indes die Wissenschaft mit einem gewaltigen „Bau“, dem „Generationen und Generationen ihre bescheidenen Werkstücke einfügen“ in dem Bewusstsein, dass „der Bau ein unendlicher, nie und nimmer abzuschließender sei“.36 Husserls Ablehnung der Weltanschauungsphilosophie gründet also eben auf diesem Unterschied von praktischen Ideen. Es handelt sich um ganz verschiedene Lebensideale. Die Idee der Weltanschauung steht und fällt damit, dass sie realisierbar ist: Sie lebt – wir könnten sagen – von der möglichen Erfüllung ihrer selbst, bzw. von der Möglichkeit, dass sie sich in einer „lebendigen Gegenwart“ konkretisiert. Indessen setzt die Idee der Wissenschaft gerade umgekehrt voraus, dass sie keine Erfüllung in einer „lebendigen Gegenwart“ finden kann. Husserl ist sich natürlich völlig, ja, man könnte sagen, gerade wie Max Weber tragisch bewusst, dass die praktische Idee der Wissenschaft, bzw. die Idee einer Aufgabe, die prinzipiell keine mögliche Erfüllung in einer „lebendigen Gegenwart“ voraussetzt, als höchst fragwürdig erscheint, weil sie den menschlichen Grundbedürfnissen nach gegenwärtiger Gewissheit widerspricht. So bemerkt er: „In dem Drange des Lebens, in der praktischen Not35

Husserl, 1987: 52. Es sei hier nebenbei bemerkt, dass Husserls Beschreibung der „transfiniten“ Unendlichkeit der Wissenschaftsarbeit Ähnlichkeit mit jener aufweist, die Max Weber 1919 im berühmten Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ gebraucht, um das Problem des Sinnes der Wissenschaft aufzuwerfen. Vgl. Weber, 2002: 486 f.: „Die wissenschaftliche Arbeit, ist eingespannt in den Ablauf des Fortschritts. […] Jeder von uns […] in der Wissenschaft weiß, daß das, was er gearbeitet hat, in 10, 20, 50 Jahren veraltet ist. Das ist das Schicksal, ja: das ist der Sinn der Arbeit der Wissenschaft, dem sie, in ganz spezifischem Sinne gegenüber allen anderen Kulturelementen, für die es sonst noch gilt, unterworfen und hingegeben ist: jede wissenschaftliche ,Erfüllung‘ bedeutet neue ,Fragen‘ und will ,überboten‘ werden und veralten. Damit hat sich jeder abzufinden, der der Wissenschaft dienen will. Wissenschaftliche Arbeiten können gewiß dauernd, als ,Genußmittel‘, ihrer künstlerischen Qualität wegen, oder als Mittel der Schulung zur Arbeit, wichtig bleiben. Wissenschaftlich aber überholt zu werden, ist – es sei wiederholt – nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck. Wir können nicht arbeiten, ohne zu hoffen, daß andere weiter kommen werden als wir. Prinzipiell geht dieser Fortschritt in das Unendliche. Und damit kommen wir zu dem Sinnproblem der Wissenschaft. Denn das versteht sich ja doch nicht so von selbst, daß etwas, das einem solchen Gesetz unterstellt ist, Sinn und Verstand in sich selbst hat. Warum betreibt man etwas, das in der Wirklichkeit nie zu Ende kommt und kommen kann?“ 36

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wendigkeit, Stellung zu nehmen, konnte der Mensch nicht warten, bis – etwa in Jahrtausenden – Wissenschaft da sein würde“.37 Husserl spricht deswegen von einer „philosophischen Not als Weltanschauungsnot“, die „immer größer wird, je weiter der Umkreis positiver Wissenschaften sich dehnt“.38 Denn die Ausdehnung der Naturwissenschaften und ihrer technischen Anwendung haben zu einer „ungeheuren Fülle von wissenschaftlich erklärten Tatsachen“ geleitet, die „prinzipiell eine Dimension von Rätseln mit sich führen, deren Lösung uns zur Lebensfrage wird“.39 Im Grundfaktum der modernen Epoche, nämlich in der Trennung zwischen Weltanschauung und Wissenschaft erkennt also Husserl genauer gesehen beinahe eine paradoxe Konfliktsdynamik: Die praktische Idee der Wissenschaft ruft ein Bedürfnis nach Weltanschauung hervor, dessen Erfüllung die Weltanschauung nur unter der Bedingung gewährleisten kann, dass die praktische Idee der Wissenschaft als solche preisgegeben wird. Gegen diese mögliche Preisgabe führt aber Husserl an: „Die Not stammt hier von der Wissenschaft. Aber nur Wissenschaft kann die Not, die von Wissenschaft stammt, endgültig überwinden“.40 Damit kommen wir zu dem, was Husserl zufolge die Weltanschauungsphilosophie ausmacht: Sie ist im Grunde eine Versuchung: „temptation“41 ist das Wort, das Strauss in seinem Kommentar zu Husserls Text gebraucht. Husserl ist sich der verführerischen Anziehungskraft der Weltanschauungsphilosophie völlig bewusst, die er auf folgende Weise zum Ausdruck bringt: „Es ist sicher, dass wir nicht warten können. Wir müssen Stellung nehmen, wir müssen uns mühen, die Disharmonien in unserer Stellungnahme zur Wirklichkeit – zur Lebenswirklichkeit, die für uns Bedeutung hat, in der wir Bedeutung haben sollen – auszugleichen in einer vernünftigen, wenn auch unwissenschaftlichen ,Welt- und Lebensanschauung.‘ Und wenn uns der Weltanschauungsphilosoph darin hilfreich ist, sollten wir es ihm nicht danken?“42

Trotz dieser offensichtlichen Konzession eines wünschenswerten Wirkens der Weltanschauungsphilosophie sagt Husserl: „Hier müssen alle Vermittlungsversuche abgelehnt werden […]. Sofern dies als Vermittlung gemeint ist, dazu bestimmt, die Linie zwischen Weltanschauungsphilosophie und wissenschaftlicher Philosophie zu verwischen, müssen wir dagegen unsere Verwahrung einlegen.“43 Die „temptation“ der Weltanschauungsphilosophie ist also die Versuchung der Vermittlung zwischen Wissenschaft und Leben, oder – um ein altes Begriffspaar aufzugreifen, das dem Sinn von Husserls Gedanken bestimmt nicht fern ist und uns in die Nähe von Strauss’ Fragestellung bringt – die Versuchung der Vermittlung zwischen „episteme“ und „doxa“. 37

Husserl, 1987: 54. Husserl, 1987: 55. 39 Husserl, 1987: 55. 40 Husserl, 1987: 57. 41 Strauss, 1983: 36. 42 Husserl, 1987: 56. 43 Husserl, 1987: 58. 38

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III. Von Husserls Kritik der Weltanschauungsphilosophie ausgehend soll an dieser Stelle versucht werden, Strauss’ Kontrastierung von politischer Philosophie und Geschichtsphilosophie zu begreifen. Strauss gebraucht Husserls Kritik der Weltanschauungsphilosophie, seine ungebrochene Verteidigung der unendlichen Aufgabe einer philosophischen Wissenschaft, als Argument gegen die Geschichtsphilosophie. Dabei führt Strauss als paradigmatische Beispiele von Geschichtsphilosophen Hegel, Marx, Nietzsche und Heidegger an. Er ist sich natürlich bewusst, dass diese Denker sehr unterschiedlich und sogar entgegengesetzt sind. Trotzdem erkennt Strauss in der Denkweise dieser Philosophen einen gemeinsamen Zug, den er insbesondere bei Heidegger klar herausarbeitet. Diese Sonderstellung von Heidegger in Strauss’ Gedankengang erklärt sich dadurch, dass sich Heideggers Philosophie in Strauss’ Perspektive als eine direkte Fortsetzung von Husserls Philosophie begreifen lässt. In einem durch einen autobiographisch anmutenden Ton charakterisierten Absatz, schreibt er, dass Husserl derjenige war, der – so in etwa läßt sich der englische Text wiedergeben – besser als alle anderen eingesehen hatte, daß das wissenschaftliche Weltverständnis, weit entfernt davon, die Vervollkommnung unseres natürlichen Verständnisses zu sein, von diesem letzten dergestalt abgeleitet ist, dass es die eigentlichen Gründe des wissenschaftlichen Verständnisses selbst in Vergessenheit geraten lässt: Die gesamte philosophische Einsicht muss von unserem gemeinen Verständnis ausgehen, nämlich von der Welt wie sie vor jeder Theoretisierung wahrgenommen wird.44 Unmittelbar danach fügt Strauss hinzu, um die Besonderheit von Heideggers Ansatz im Vergleich zu jenem seines Lehrers Husserl hervorzuheben: „Heidegger went much further than Husserl in the same direction.“45 Heideggers extreme Weiterent44 Strauss, 1983: 31: „Husserl however had realized more profoundly than anybody else that the scientific understanding of the world, far from being the perfection of our natural understanding, is derivative from the latter in such a way as to make us oblivious of the very foundations of the scientific understanding: all philosophic understanding must start from our common understanding of the world, from our understanding of the world as sensibly perceived prior to all theorizing.“ Der autobiographische Ton herrscht besonders in der unmittelbar vorausgehenden Textstelle vor: „When I was still almost a boy, Husserl explained to me who at that time was a doubting and dubious adherent of the Marburg school of neo-Kantianism [Hervorheb. P. C.], the characteristic of his own work in about these terms: ,the Marburg school begins with the roof, while I begin with the foundation’.” (Strauss, 1983: 31). Vgl. auch Strauss, 1983: 34: „Let us see whether a place for political philosophy is left in Husserl’s philosophy. [/] What I am going to say is based on a re-reading, after many years of neglect [Hervorh. P. C.], of Husserl’s programmatic essay ,Philosophy as Rigorous Science‘.“ 45 Zu diesem und den weiteren Zitaten im Absatz vgl. Strauss, 1983: 31: „Heidegger went much further than Husserl in the same direction: the primary theme is not the object of perception but the full thing as experienced as part of the individual human context, the individual world to which it belongs. The full thing is what it is not only in virtue of the primary and secondary qualities as well as the value qualities in the ordinary meaning of that term but also of qualities like sacred or profane: the full phenomenon of a cow is for a Hindu constituted much more by the sacredness of the cow than by any other quality or aspect. This

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wicklung von Husserls Grundeinsicht besteht Strauss zufolge in der geschichtlichen Verortung der vorwissenschaftlichen Grundlagen jeglicher Theorie, die bei Husserl dagegen noch als natürliches Weltverständnis gedacht werden. Die vorwissenschaftliche Einstellung zur Welt, die Husserl als eine natürliche, bzw. allen Menschen als solchen, ohne Rücksicht auf kulturelle, bzw. weltanschauliche Unterschiede, gleichermaßen zukommende Disposition begreift, wird von Heidegger umgekehrt als Produkt der Kulturgeschichte wahrgenommen. Eine derartige Kulturalisierung dessen, was bei Husserl noch als eine natürliche Invariante auftritt, zeigt nach Strauss an, dass Heideggers Philosophie dem Historizismus, und zwar seiner existentialistischen Variante, zuzuordnen sei. Diese Zuordnung Heideggers zu einem im weitesten Sinne „historizistischen Existentialismus“ ist eigentlich eher konventionell und doxographisch. Sie stellt aber noch nicht das „punctum saliens“ von Strauss’ Heidegger-Interpretation dar. Denn Strauss ist davon überzeugt, dass – um wiederum seine englischsprachigen Ausführungen zusammenzufassen – der Existentialismus eine „Bewegung“ ist, die, wie all diese Arten von Bewegungen, eine weiche Peripherie und ein hartes Zentrum hat: Dieses harte Zentrum ist Heideggers Denken. Nur diesem Denken verdankt der Existentialismus seine Wichtigkeit oder geistige Ehrbarkeit.46 Strauss bringt Heideggers philosophische Tiefe zum Ausdruck, indem er eine Grundschwierigkeit betont, zu der Heidegger eben durch seine eigene historizistische Einstellung gezwungen wird. Es lohnt sich, genauer zu betrachten, wie Strauss diese philosophische Grundschwierigkeit darstellt. Zunächst bemerkt Strauss, dass das geschichtliche Verständnis dessen, was Husserl noch als natürliche Einstellung zur Welt bezeichnet, „a philosophic task“ stellt: Die Aufgabe nämlich des Verständnisses der universalen Struktur, die allen geschichtlichen Welten gemeinsam sei.47 Eine derartige Aufgabe könne aber nur insofern erfüllt werden, als die Einsicht in die Geschichtlichkeit jedes Denkens aufbewahrt werde. Strauss’ Bemerkung zielt genauer betrachtet darauf ab, das zur Geltung zu bringen, was die spezifische Kohärenz und Radikalität einer „historicist insight“ ausmacht. Der Vertreter der historizistiimplies that one can no longer speak of our ,natural‘ understanding of the world: every understanding of the world is ,historical‘. Correspondingly, one must go back behind the one human reason to the multiplicity of historical, ,grown‘ not ,made‘, languages.” Das treffende Beispiel der heiligen Kuh ist salvo errore nicht Heidegger entlehnt. Strauss verweist auf den Paragraphen 21 von „Sein und Zeit“: „Die hermeneutische Diskussion der cartesischen Ontologie der ,Welt‘“ (Heidegger, 1967: 95 – 102). 46 Strauss, 1983: 30: „Existentialism is a ,movement‘ which like all such movements has a flabby periphery and a hard center. That center is the thought of Heidegger. To that thought alone existentialism owes its importance or intellectual respectability.“ 47 Zu diesem Zitat und den folgenden Ausführungen siehe Strauss, 1983: 31 f.: „Accordingly there arises the philosophic task of understanding the universal structure common to all historical worlds. Yet if the insight into the historicity of all thought is to be preserved, the understanding of the universal or essential structure of all historical worlds must be accompanied and in a way guided by that insight. This means that the understanding of the essential structure of all historical worlds must be understood as essentially belonging to a specific historical context, to a specific historical period. The character of the historicist insight must correspond to the character of the period to which it belongs.“

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schen Einsicht ist nur dann kohärent und radikal, wenn er die philosophische Aufgabe nicht umgeht, die universale Struktur aller geschichtlichen Welten, bzw. die Geschichtlichkeit des Denkens als solche zu begreifen. Er, der „radikale Historizist“ darf nämlich in keinem Punkt die Einsicht preisgeben, dass alles Denken ein geschichtliches Produkt ist. Er muss demzufolge einräumen, dass selbst die Einsicht in die wesentliche Struktur aller geschichtlichen Welten als zu einem besonderen geschichtlichen Zusammenhang, zu einer geschichtlichen Periode gehörend verstanden werden muss. Der Charakter der historizistischen Einsicht muss dem Charakter der Periode entsprechen, zu der sie gehört. Anders gesagt, der besondere geschichtliche Zusammenhang, der besondere geschichtliche Moment, in dem die historizistische Einsicht auftritt, muss als ein „absoluter Moment“ gedacht werden. Denn die historizistische Einsicht wäre die letzte Einsicht, die letzte oder endgültige in dem Sinne, dass sie all die früheren Einsichten im Hinblick auf den entscheidenden Punkt als mangelhaft enthüllt.48 Der „radical historicism“ ist also dazu gezwungen, die eigene historizistische Einsicht als die absolute Einsicht, und demzufolge auch den eigenen geschichtlichen Moment als den „absoluten Moment“ der ganzen Geschichte zu setzen. Eben diese Notwendigkeit, den eigenen geschichtlichen Moment zu verabsolutieren, zwingt Heidegger dazu, – Strauss formuliert es mit einer gewissen Vorsicht – „etwas auszuarbeiten, zu skizzieren oder anzudeuten, was man im Falle von jedem anderen Denker seine Geschichtsphilosophie nennen würde“. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle darauf einzugehen, wie Strauss an jedem der von ihm kurz in Betracht gezogenen Autoren – nämlich, neben Heidegger, Hegel, Marx und Nietzsche – derartige Verabsolutierungen des jeweiligen geschichtlichen Moments herausstreicht.49 Für die vorliegende Fragestellung ist es zweckmäßiger, die Aufmerksamkeit auf das zu richten, was Strauss als Widerpart der Geschichtsphilosophie anführt, nämlich auf die politische Philosophie. Strauss stellt die politische Philosophie deswegen in Opposition zur Geschichtsphilosophie, weil letztere den Anspruch erhebt, der gesamten Dimension des politischen Widerstreits überlegen zu sein. Indem die Geschichtsphilosophien von Hegel, Marx, Nietzsche und Heidegger ihre jeweilige geschichtliche Gegenwart verabsolutieren, entpolitisieren sie zugleich sich selbst. Die geschichtsphilosophische Verabsolutierung des eigenen historischen Moments verleitet den Geschichtsphilosophen dazu, die eigene Überlegenheit gegenüber der widerstreitenden Relativität der politischen Meinungen zu behaupten und sich folglich der politischen Auseinandersetzung zu entziehen. Nun 48 Diese Ausführungen geben folgenden Text wieder: Strauss, 1983: 32: „The historicist insight is the final insight in the sense that it reveals all earlier thought as radically defective in the decisive respect and that there is no possibility of another legitimate change in the future which would render obsolete or as it were mediatise the historicist insight. As the absolute insight it must belong to the absolute moment in history. In a word, the difficulty indicated compels Heidegger to elaborate, sketch or suggest what in the case of another man would be called his philosophy of history.“ 49 Vgl. Strauss, 1983: 32 – 34.

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erhellt sich der eigentliche Sinn von Strauss’ Gegenüberstellung von Geschichtsphilosophie und politischer Philosophie. Die Geschichtsphilosophen sind nach Strauss durch die Unfähigkeit gekennzeichnet, den unvermeidbaren politischen Charakter ihrer eigenen Weltanschauung und den daraus erwachsenden Konflikt anzuerkennen. In diesem Sinne ist die Geschichtsphilosophie als eine unpolitische Philosophie anzusehen. Der unpolitische Charakter der Geschichtsphilosophie, nämlich das Ausbleiben der politischen Dimension bei jeder Geschichtsphilosophie, ist also nicht mit dem Ausbleiben der Politik als philosophisches Thema gleichbedeutend.50 Strauss’ Gegenüberstellung von politischer Philosophie und Geschichtsphilosophie ist vielmehr in dem Sinne zu begreifen, dass der Geschichtsphilosoph wegen der Verabsolutierung seines jeweiligen geschichtlichen Moments nahezu einer gewissen ,Blindheit‘ für die politische Bedingtheit der eigenen Weltanschauung anheimfällt. Strauss’ kritische Hervorhebung des Defizits an politischer Aufmerksamkeit der Geschichtsphilosophie könnte man etwas paradoxer formuliert auf folgende Weise paraphrasieren: Das, was bei dem Geschichtsphilosophen ausbleibt, ist eben das Bewusstsein der unumgänglichen Geschichtlichkeit, bzw. zeitlichen Relativität von sich selbst, und demzufolge auch das Bewusstsein der eigenen unumgänglichen Zugehörigkeit zu einem geschichtlich gegebenen, politischen Kontext. Und dieses Ausbleiben des Bewusstseins der eigenen geschichtlichen und politischen Bedingtheit – darin liegt das Paradox – ist Strauss zufolge gerade davon abhängig, dass die Geschichtsphilosophie keine ewigen Wahrheiten und Werte anerkennt, bzw. alles als geschichtlich ansieht. Denn nur die bedingungslose Anerkennung der unüberbrückbaren Kluft zwischen „doxa“ und „episteme“, Kultur und Philosophie oder – mit Husserls Worten – „Weltanschauungsphilosophie“ und „wissenschaftlicher Philosophie“ gewährleistet Strauss zufolge das Bewusstsein, dass die eigene geschichtliche Gegenwart, der Moment nämlich, in dem der Philosoph gerade lebt, handelt und denkt, kein „letzter“ bzw. „endgültiger“ Moment ist. IV. Abschließend möge zur Erläuterung der eingangs gestellten Frage fortgeschritten werden: Warum sucht Strauss, der berühmte gelehrte Interpret der klassischen Tradition der politischen Philosophie, den „Ort für politische Philosophie“ gerade in dieser Schrift von Husserl? Das bereits Gesagte sollte herausgestellt haben, welch sachlicher Grund Strauss veranlasst, diese in Bezug auf Husserl so unkonventionell klin50 Würde dies Strauss behaupten, wäre seine These einfach als falsch zu beurteilen: Denn wer würde ernsthaft meinen, dass bei Hegel oder bei Marx, oder auch bei Nietzsche, die Politik kein Thema darstellte? Und weiter: Gab es nicht ganz eindeutige politische Einlassungen in Heideggers Schriften zu Beginn der Nazi-Zeit? Strauss ignoriert diese Dimension keineswegs. Im Gegenteil, er geht so weit zu behaupten, dass es eine „intimate connection“ zwischen Heideggers politischem Engagement für den Nationalsozialismus und dem „Kern seines Denkens“ (Strauss, 1983: 30) gibt. Gleichzeitig behauptet er aber, dass Heidegger „leaves no place whatever for political philosophy.“ Zu Strauss’ paradoxer Interpretation der Politik bei Heidegger vgl. Ciccarelli, 2009.

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gende Frage zu stellen. Denn bei Husserl hat Strauss den dezidiertesten Widerstand gegen die „temptation“ der Weltanschauungsphilosophie, nämlich gegen die Versuchung der Verabsolutierung und Entpolitisierung der jeweilig gültigen Weltanschauung, gefunden. Husserls Philosophie als strenge Wissenschaft stellt also sicherlich ein Gegengift, ja Strauss zufolge das einzige51 Gegengift im zeitgenössischen Denken gegen die Geschichtsphilosophie dar. Aber inwiefern ist Husserls philosophische Wissenschaft „politische Philosophie“? Nun, Strauss behauptet eigentlich nicht, dass Husserls Philosophie als strenge Wissenschaft „politische Philosophie“ sei. Gegen Ende des Aufsatzes spricht er genauer von Husserls „contribution to political philosophy“ (Hervorheb. P. C.).52 Dieser „Beitrag zur politischen Philosophie“ besteht im Wesentlichen darin, dass Husserl zu der Einsicht gelangt ist, dass die Besinnung auf das Verhältnis zwischen diesen Arten von Philosophie, nämlich der Philosophie als strenger Wissenschaft und der Weltanschauungsphilosophie, zu dem Bereich der Philosophie als strenger Wissenschaft gehöre.53 Husserls „contribution to political philosophy“ besteht also in der Thematisierung nicht so sehr der Politik, sondern der notwendigen Zugehörigkeit des Philosophierens bzw. der Philosophie als Lebensweise zu dem, was die „politische Doxa-Welt“54 genannt werden könnte. Die Besinnung auf das Verhältnis zwischen Philosophie als strenger Wissenschaft und Weltanschauungsphilosophie gehört insofern zu dem Bereich der Philosophie als strenger Wissenschaft, als letztere stets der Versuchung ausgesetzt bleiben muss, ihre unendliche Aufgabe aufzugeben und sich in Weltanschauungsphilosophie zu verwandeln.55 Der Anerkennung von Husserls spezifischem Beitrag zur politischen

51 Strauss, 2004: 12, betont Husserls Sonderstellung im zeitgenössischen Denken in seinem Briefwechsel mit Ernst Voegelin: „Husserl is the only one [Hervorheb. P. C.] who really sought a new beginning, integre et ab integro; the essay on the crisis in modern science is the clearest signpost – and it points to the beginning, or to the social sciences.“ Vgl. Strauss, 2004: 17: „Husserl’s phenomenological analysis ended in the radical analysis of the whole development of modern science (the essay in Philosophia and the essay on geometric evidence, as well as the great fragment on space consciousness in the Husserl Memorial Volume) – I know nothing in the literature of our century that would be comparable to this analysis in rigor, depth, and breadth [Hervorheb. P. C.]. Husserl has seen with incomparable clarity that the restoration of philosophy or science – because he denies that what which today passes as science is genuine science – presupposes the restoration of the Platonic-Aristotelian level of questioning. His egology can be understood only as an answer to the Platonic-Aristotelian question regarding the Nous – and only on the level of this question is that answer to be discussed adequately.“ 52 Strauss, 1983: 37. 53 Strauss, 1983: 36: „The reflection on the relation of the two kinds of philosophy obviously belongs to the sphere of philosophy as rigorous science.“ 54 Es sei hier auf die phänomenologischen Studien Held, 1980: 1 – 126, und Held, 2010, verwiesen, von denen die Untersuchungen des Autors zum phänomenologischen Ansatz von Strauss’ Denken wichtige Anregungen erhalten haben. 55 Nebenbei sei bemerkt: Strauss suggeriert, dass Heidegger durch sein politisches Engagement für den Nationalsozialismus seine Unfähigkeit gezeigt habe, dieser Versuchung zu widerstehen. Dies behauptet Strauss nicht direkt, Strauss, 1983: 36, sagt nur, dass „from

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Philosophie fügt Strauss jedoch kritisch hinzu, Husserl habe sich nicht weiter gefragt, ob das unbeirrbare Streben nach einer Philosophie als strenger Wissenschaft eine nachteilige Wirkung auf die Weltanschauungsphilosophie haben könnte, derer die meisten Menschen zum Leben bedürften, und damit auf die Verwirklichung der Ideen, welcher jener Art von Philosophie dienlich wäre, in erster Linie bei denjenigen, die die Philosophie als strenge Wissenschaft vollziehen, aber auch bei denen, die von solchen Philosophierenden beeinflusst würden.56 Husserls „contribution to political philosophy“ kommt für Strauss also einem begrenzten Beitrag gleich. Die Begrenztheit liegt darin, dass Husserl den politischen Antagonismus zwischen Philosophie als strenger Wissenschaft und Weltanschauungsphilosophie außer Acht lässt. Anders gesagt, Husserl berücksichtigt das alte politische Phänomen der Verfolgung der Philosophen – das Thema von Strauss’ bekanntem Buch „Persecution and Art of Writing“57 – nicht, die unvermeidbar eben der Kluft zwischen „doxa“ und „episteme“ entspringt. In Strauss’ Perspektive tritt die Begrenztheit von Husserls Beitrag zur politischen Philosophie ähnlich der charakteristischen Begrenztheit des politischen Liberalismus vor der nationalsozialistischen Machterlangung auf. Denn Strauss bemerkt, es scheine, als hielte Husserl es für selbstverständlich, dass es immer eine Vielfalt von Weltanschauungsphilosophien geben müsse, die in ein und derselben Gesellschaft friedlich koexistieren. Er lasse jene Gesellschaften außer Acht, die ihren Bürgern eine einzige Weltanschauung oder Weltanschauungsphilosophie auferlegen. Ebensowenig berücksichtige er, dass auch eine Gesellschaft, die unendlich viele Weltanschauungen toleriere, dies aufgrund einer bestimmten Weltanschauung tut.58 Nur ganz spät, in dem 1935 in Wien gehaltenen Vortrag über „Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie“,59 findet bei Husserl das politische Husserl’s point of view one would have to say that Heidegger proved unable to resist that temptation“ (Hervorheb. P. C.). 56 Vgl. Strauss, 1983: 37: „He did not go on to wonder whether the single-minded pursuit of philosophy as rigorous science would not have an adverse effect on Weltanschauungsphilosophie which most men need to live by and hence on the actualization of the ideas which that kind of philosophy serves, in the first place in the practitioners of philosophy as rigorous science but secondarily also in all those who are impressed by those practitioners.“ 57 Strauss, 1952. 58 Strauss, 1983: 37: „He seems to have taken it for granted that there will always be a variety of Weltanschauungsphilosophien that peacefully coexist within one and the same society. He did not pay attention to societies that impose a single Weltanschauung or Weltanschauungsphilosophie on all their members and for this reason will not tolerate philosophy as rigorous science. Nor did he consider that even a society that tolerates indefinitely many Weltanschauungen does this by virtue of one particular Weltanschauung.“ 59 Strauss zitiert die folgende Textstelle aus Husserl, 1976: 335: „Die in der Tradition konservativ Befriedigten und der philosophische Menschenkreis werden einander bekämpfen, und sicherlich wird der Kampf sich in der politischen Machtsphäre abspielen. Schon in den Anfängen der Philosophie beginnt die Verfolgung [Hervorheb. P. C.]. Die Menschen, die auf jene Ideen hinleben, werden geächtet. Und doch: Ideen sind stärker als alle empirischen Mächte.“ Strauss behauptet hier (Strauss, 1983: 37), dass Husserls Vortrag in Prag stattfand.

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Phänomen der Verfolgung Berücksichtigung. Nichtsdestotrotz bleibt Husserls Besinnung auf das Verhältnis zwischen der Philosophie als strenger Wissenschaft und der Weltanschauungsphilosophie für Strauss radikalisierungsbedürftig. Denn der wesentliche Charakter dessen, was Husserl Philosophie als strenge Wissenschaft bezeichnet, kann nur dadurch geklärt werden, dass „man den politischen Konflikt zwischen den beiden Antagonisten, bzw. den wesentlichen Charakter dieses Konflikts beachtet.“60 Strauss’ Anliegen ist es, Husserls „Beitrag zur politischen Philosophie“ durch die Hermeneutik der antiken und modernen Tradition der politischen Philosophie zu radikalisieren. Strauss’ lange und sorgfältige Interpretationsarbeit der Tradition ist nämlich als eine Art phänomenologische Besinnung anzusehen – analog zu Husserls „Ursprungsklärung“ der modernen Wissenschaft durch „Galileis Mathematisierung der Natur“ in der Krisis-Abhandlung. Sokrates, Platon, Aristoteles, Xenophon oder Hobbes, Rousseau und Spinoza treten in Strauss’ phänomenologischer „Ursprungsklärung“ als Zeugen eben des politischen Konflikts zwischen den beiden Antagonisten, bzw. des wesentlichen Charakters dieses Konflikts auf.

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Demokratie und Relativismus – ein notwendiger Konnex? Verfassungsrechtliche und ideengeschichtliche Hintergründe eines viel diskutierten kulturkritischen Topos der Gegenwart Von Felix Dirsch I. Diktatur des Relativismus? Von der Kritik eines postmodernen Lebensgefühls zur Zeitdiagnose des demokratischen Wahrheitsfundaments Vor über einem Jahrzehnt erregt der damalige Kurienkardinal Joseph Ratzinger kurz vor seiner Wahl zum Nachfolger Papst Johannes Pauls II. Aufsehen, als er in seiner Predigt anlässlich des Konklaves eine in der westlichen Welt vorherrschende „Diktatur des Relativismus“ anprangert.1 Sie lasse als letzten Maßstab lediglich das Ich und seine Gelüste gelten. Diese Hinweise sind insofern bemerkenswert, als ein hoher Vertreter einer christlichen Glaubensgemeinschaft Kritik an verbreiteten westlichen Lebens- und Sichtweisen übt – eine Vorgehensweise, die man zumeist nur von Repräsentanten des Islam kennt, haben sich die Kirchen und ihre Oberhäupter doch in starkem Maße an den westlichen Wertewandel angepasst. Hätte es dafür noch eines Beleges bedurft, so haben ihn die Bischöfe beider Konfessionen letztes Jahr im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise in Deutschland erbracht. Dass die Migrationsphänomene aus christlicher Perspektive auch anders bewertet werden können, zeigen Äußerungen von ranghohen Kirchenmännern in einigen östlichen Staaten der EU, die daran erinnern, dass eine etwaige Islamisierung durchaus nicht dem Erhalt der christlichen Kulturidentität diene. Ein solcher Oppositionsgeist ist grundsätzlich auch Ratzinger, nicht erst im Amt des Pontifex, zu Eigen. Der Tenor seiner viel diskutierten Predigt ist durchaus kämpferisch. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Beschleunigung der Lebenswelt ist es eine der Konsequenzen, dass sich die Moden des Zeitgeistes immer schneller abwechseln, so Ratzinger: „vom Marxismus zum Liberalismus bis hin zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum radikalen Individualismus; vom Atheismus zu einem vagen religiösen Mystizismus; vom Agnostizismus zum Synkretismus, und so weiter“. Diesen sich wandelnden weltanschaulichen Strömungen stellt Ratzinger ein durchgehend bleibendes, wahres Fundament für Christen gegenüber: die Verwurze1 http://www.vatican.va/gpII/documents/homily-pro-eligendo-pontifice_20050418_ge.html (Stand: 11. 10. 2016).

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lung „tief in der Freundschaft mit Christus“ als dem wahren Menschen. Er markiere das authentische Maß des Menschen. Obwohl diese Zeitdiagnose im Rahmen einer Predigt natürlich nicht näher ausgeführt werden kann, ist doch unschwer zu erkennen, dass sie ein weit verbreitetes postmodernes Lebensgefühl kritisiert, das der Popper-Schüler Paul Feyerabend auf den Punkt bringt:2 anything goes. Man darf demnach alles, es ist alles erlaubt. Diese Analyse trifft nicht nur aus der Perspektive des Philosophen zu, sondern auch aus der des Soziologen. Angesichts eines tendenziell verbesserten Lebensstandards immer größerer Bevölkerungsschichten in den Staaten Mittel-, Süd- und Westeuropas seit den 1960er Jahren und damit einhergehender größerer Freiheitsspielräume und Individualisierung,3 weiterhin immer geringerer Bedeutung der Milieubindung haben Wahl- und Veränderungsmöglichkeiten der meisten Menschen sowie die soziale Pluralität deutlich zugenommen. Vertreter der Postmoderne4 – man kann sie jedenfalls im weiteren Sinne so bezeichnen – erinnern an die Konstitutionsbedingungen neuzeitlicher Philosophie und Wissenschaftlichkeit:5 Diese sind in ihren Grundströmungen bestimmt von einem einheitlichen Wahrheitsideal, das vor allem René Descartes formuliert. Auf diese Weise wird das Heterogene ausgeschaltet. Bereits Descartes betrachtet die Vielfalt der Erscheinungen als unsicher im Vergleich zum Zertismus der Denkprinzipien. Während die äußeren Sinneswahrnehmungen vielfältig sind und deren Wahrnehmung stets irrtumsanfällig, verhält es sich bei der Reflexion über die eigene Existenz anders. Das Eine, das Mentale, so könnte man es verkürzt darstellen, ist sicher, das Viele und Äußere unsicher. Die eigene Existenz ist Voraussetzung eines etwaigen Falschverständnisses, aber nur, wenn sie unbezweifelbar ist. Das so bei Descartes angelegte subjektphilosophische Einheitsdenken findet bei Hegel seinen Höhepunkt, der wiederum Marx stark beeinflusst. Welcher Irrtum in diesen philosophischen Grundlinien zeigt sich für einen Kritiker des rationalistischen Homogenismus wie Jean-Francois Lyotard? Er widerspricht primär den beiden abstrakten Zentren des Philosophierens: dem cartesischen wie auch dem hegelianischen. Beide „Orte der Wahrheit“ negieren das Heterogene. Hier erkennt Lyotard eine Engführung der Rationalität, die der Legitimierung der Vielfalt entgegengesetzt sei.6 So unterschiedlich die Varianten der Postmoderne sein mögen: Zentral ist die Forderung nach Überwindung unifizierender Narrationen. Wenn auch ein Protagonist wie Lyotard in seiner wirkmächtigen Schrift „Das postmoderne Wissen“ das Chris2

Feyerabend, 1991. Beck, 1986. 4 Zu den unterschiedlichen Voraussetzungen und Hintergründen der vielfältigen Ausprägungen vgl. aus der Literaturfülle: Koslowski u. a., 1986; Koslowski, 1987. 5 Zusammengefasst bei Engelmann, 2010: 14. 6 Vgl. Engelmann, 2010: 16. 3

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tentum nicht explizit nennt und stattdessen Strömungen wie Aufklärungsdenken, Idealismus oder die totalitären Richtungen des 20. Jahrhunderts im Blick hat, die jedwede pluralistische Regung radikal bekämpfen,7 so kann doch die wichtigste Herkunftsreligion nicht außen vor bleiben. Vor dem Hintergrund ihrer Geschichte wird sie von den meisten, die den Standpunkt postmoderner Einwände gegen eine Engführung der Moderne schon seit Jahrzehnten vertreten, wohl als inkompatibel mit zentralen Vorstellungen der Postmoderne bezeichnet. Es bedarf bestimmter Nuancierungen. Obwohl jede zumindest der mono-theistischen Religionen Elemente der Totalität in der Verkündigung des eigenes Gottes nicht verbergen kann, was auch Zusammenhänge mit dem jeweils inhärenten Konfliktpotenzial erkennen lässt,8 gibt es unter den spezifischen Bedingungen von „Religion nach der Aufklärung“ (Hermann Lübbe) viele Möglichkeiten der Verbindung zwischen postmodernen Sichtweisen und christlichen Strömungen und Perspektiven des 20. Jahrhunderts. Peter Koslowski betrachtet die häufig diskutierte Vernunftkritik der Postmoderne im Sinne der Ablehnung einer totalisierenden Vernunft.9 Darüber hinaus ruft er das Misstrauen eines für den Katholizismus des letzten Jahrhunderts so grundlegenden Denkers wie Romano Guardini in Erinnerung, der einer der Vordenker der Postmoderne gewesen ist10 – gerade mit seinem Wort von der „Nachneuzeit“. Guardini verschließt mit Nietzsche und Foucault nicht die Augen vor dem Diskurs der Macht, der auch da am Werk ist, wo man ihn nicht erkennt oder vermutet. Weiterhin fordert Guardini in seinem Buch „Das Ende der Neuzeit“ eine kritische Reflexion neuzeitlicher Konstitutionsbedingungen, von denen er drei nennt: Persönlichkeit, Natur und Kultur.11 Alle diese entspringen dem autonomen, also nicht von Gott hergeleiteten menschlichen Herrschaftswillen, der nach Jahrhunderten der Ausübung der Prädominanz einsieht, keine Macht mehr über die Macht zu haben, wie Guardini pointiert bemerkt.12 Trotz dieser Möglichkeiten von Verbindungslinien, die sich im Fortgang des 20. Jahrhunderts ergeben, werden die meisten Verfechter postmoderner Lebensentwürfe die Anhänger dogmatisch geprägter Theologie und kirchlicher Lehre wohl als Gegner vernehmen, ebenso wie Ratzinger die Gegenseite. Angesichts des Trends solcher Lebensstile hin zur Beliebigkeit und angesichts des Grundzugs zentraler postmoderner Vorstellungen zur – überspitzt formuliert – Vergötzung der Pluralität, gilt der christliche Wahrheitsanspruch im Gegenwartsdiskurs als anstößig. Jesu’ in der Bibel bekundetes Zeugnis, er sei der „Weg, die Wahrheit und das Leben“ liegt bis 7

Lyotard, 1983. Vgl. nur die Debatten über die These von Assmann, 1998, der einen Zusammenhang herstellt zwischen dem Monotheismus („Mosaische Unterscheidung“), der Wahrheitsfrage und zahlreichen Religionskriegen der Geschichte, darüber hinaus: Assmann, 2003; eine knappe Antwort auf derartige Gedankengänge findet sich bei Ratzinger, 2003: 170 – 175. 9 Vgl. Koslowski, 1987: 26. 10 Vgl. dazu Biser, 1991: 23 – 33. 11 Guardini, 1950. 12 Guardini, 1951. 8

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heute quer zu relativistisch-pluralistischen Sichtweisen, so sehr diese längst in der Theologie Einzug gehalten haben,13 wenn auch eher als marginales Phänomen. Von der Frühzeit des Christentums im römischen Reich an bringt diese Glaubensrichtung einen spezifischen Wahrheitsanspruch hervor,14 der sie seit den ersten Glaubenszeugen zu Außenseitern macht. Wie ein wesentlicher Strang der neuzeitlichen Geistesgeschichte von Descartes bis Hegel ein maßgebliches Zentrum des Subjekts kennt, das die Einheit der Vernunft in den Mittelpunkt des Denkens rückt, existiert auch im Christentum ein Zentrum: Jesus Christus, der Gekreuzigte, der den grundlegenden Gegenstand christlicher Glaubensverkündigung darstellt. Bisher hat dieses Zentrum in kirchlicher Lehre wie praktischer Verkündigung weithin stärker monologisch denn pluralistisch gewirkt. Dass Ratzingers philosophischer Horizont stark von Platon, dem Anti-Relativisten schlechthin, gebildet wird, ist weithin bekannt.15 Der Begründer der berühmten Athener Akademie setzt der Aussage des Protagoras, der Mensch sei das Maß aller Dinge, in den „Nomoi“ den Satz entgegen, Gott sei das Maß aller Dinge, und wird daher häufig als Vater der vormodernen politischen Theologie betrachtet. Bereits in der Antike setzen so die Diskussionen über den Relativismus ein, insbesondere über den der Sophisten. Das Pro und Contra über entsprechende Formen und ihr Wesen dauert bis in die Gegenwart.16 Bis heute wird das so genannte Retorsionsargument vorgebracht. Dieses besagt: Auch wenn grundsätzlich die Wahrheit geleugnet wird, muss sie in diesem einen Fall, dem der Negation, doch wenigstens praktisch befürwortet werden, damit die Stringenz gewahrt bleibt. Ein vollkommener Ausschluss der Wahrheit ist demnach unmöglich. Man mag solche Einwände „armselig“ (Theodor W. Adorno) nennen. Über ihre Stimmigkeit ist damit nichts gesagt. Weitere Einwände gegen Protagoras‘ Formulierung von Sätzen mit gleicher Gültigkeit im Hinblick auf Wahrheit und Falschheit werden seit unvordenklichen Zeiten in immer wiederkehrenden Varianten debattiert.17 Aufgrund der – von der Mehrzahl der Interpreten behaupteten – inhärenten Widersprüche der relativistischen Vertreter sind dialektische Umschwünge logisch unvermeidlich und damit fast schon notwendig. Ratzingers Formulierung von der „Diktatur des Relativismus“ mag ein Stück weit der Tagespolemik geschuldet sein. Durchdenkt man die Aussage, kommt man jedoch zu dem Schluss, dass sie in praktischer Hinsicht nicht unbedingt als contradictio in adiecto einzustufen ist. Auch Relativisten müssen ihren Anspruch verteidigen und für wahr erklären. So ist das Überschießen in ein absolutistisches Ansinnen vorprogrammiert. Vor dem Hintergrund 13

Schmidt-Leukel, 2013; zur Kritik der pluralistischen Theologie vgl. die päpstliche Enzyklika „Dominus Iesus“; dazu die Beiträge bei Rainer, 2001. 14 Herausragend aus der patristischen Forschung der letzten Jahre: Fiedrowicz, 2006. 15 Vgl. den grundlegenden Überblick bei Verweyen, 2007. 16 Aus der umfangreichen Literatur sind anzuführen: Thyssen, 1941; Cajthaml, 2003; Schwarz, 1996; Seifert, 1976. 17 Vgl. Cajthaml, 2003: 33 f.

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einer massenhaften Verbreitung relativistischen Gedankenguts, wie es heute üblich ist, ist ein solches Umschlagen keineswegs selten oder außergewöhnlich. Etliche der Impulse, Hintergründe und Motive der Predigt Ratzingers werden in einigen Sammelbänden dargelegt, die hauptsächlich Beiträge von kirchlich verbundenen Autoren beinhalten.18 Daneben liegen auch kritische Analysen vor.19 Alan Posener liefert in seiner Streitschrift ein Argument im Hinblick auf den historischen Horizont des ehemaligen Pontifex: Dieser betrachtet die Situation der Kirche aus einer sehr langen Perspektive und kann von einer solchen Warte aus ein anderes Urteil fällen als die üblichen. In der Tat ist die oft und besonders medial attackierte Kirche eine mit einem „Elefantengedächtnis“ (Rüdiger Safranski) ausgestattete. Ihre Gläubigen sind Zeitgenossen römischer Kaiser, mittelalterlicher Könige, frühneuzeitlich-absolutistischer Herrscher, autoritärer Regenten, Diktatoren des 20. Jahrhunderts und demokratischer Repräsentanten, um nur einige Beispiele zu nennen. So gesehen ist es nachvollziehbar, dass Ratzinger nicht die Kurzzeitperspektive einnimmt und über das referiert, was kommt und bald wieder geht. Menschen werden von Moden oft nicht nachhaltig beeinflusst. Sie drücken keine tieferen Wahrheiten aus. Es bedürfte einer längeren Untersuchung, um zu entscheiden, ob die Aussage von der Dominanz des Relativismus, um Ratzingers Wendung etwas abzumildern, Belege präsentieren kann. Jedenfalls existieren viele Formen des Relativismus, auch moderne wie beispielsweise die politische Korrektheit.20 Viel diskutiert wird in den letzten Jahren die gesellschaftliche Wertigkeit von Lebensformen. Traditionell werden Ehe und Familie in vielen Verfassungstexten privilegiert. In den letzten Jahren zeichnet sich in der öffentlichen Meinung ein Wandel ab. Mehr und mehr findet die Vorstellung der Gleichwertigkeit diverser Lebensformen Zustimmung, etwa von homosexuellen Verbindungen und Ehepaaren. Selbst der Ehebegriff wird in einigen europäischen Staaten auf homosexuelle Partnerschaften angewendet, obwohl hinsichtlich der Fortpflanzungsmöglichkeit Unterschiede bestehen zwischen hetero- und homosexuellen Paaren. Hier lässt sich sehr wohl ein Relativismus mit erheblichen sozialen Auswirkungen erkennen. Darüber hinaus geht der Vorrang bei der Kindererziehung von subsidiären Lebensgemeinschaften wie der Familie mehr und mehr auf den Staat 18 Nissing, 2011 (darin besonders heranzuziehen: Christopher Böhr: Relativismus der Demokratie. Politik und Religion im Pluralismus [221 – 245], der sich aber mit anderen Denkern beschäftigt als die vorliegende Arbeit, besonders mit Ernst Fraenkel, der hier nur en passant thematisiert wird); Gruber, 2014; Haaland Matláry, 2006: bes. 181 – 201; Thomas/ Hattler, 2009 (darin wichtig: Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Wahrheit in der Postmoderne: Verschüttungen und Neuaufbrüche [45 – 57]); die Politikwissenschaft greift die Bedeutung von Ratzingers differenzierter Kritik des Relativismus nur selten auf, vgl. die vorsichtigen Bemerkungen bei Meyer, 2009: 51 f.; zum Überblick über die Demokratiedebatte in der unmittelbaren Gegenwart vgl. von Beyme, 2013, der den intensiven Religionsdiskurs der letzten Jahre vollständig ausklammert, obwohl Protagonisten des Diskurses, an erster Stelle Habermas, die Bedeutung des religiösen Elements für die Gegenwartsdemokratie hervorheben. 19 Als Beispiel: Posener, 2009. 20 Zu diesen Formen vgl. Häberle, 2007.

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über, wodurch das Elternrecht tangiert wird.21 Die Erziehung der unter Dreijährigen in Kinderkrippen wird zunehmend zum Regelfall. Wer das umfangreiche Œuvre Ratzingers studiert, der sogar im Papst-Amt eine viel diskutierte theologische Trilogie über Jesus von Nazareth publiziert,22 kommt zu dem Ergebnis, dass die Aussage von der „Diktatur des Relativismus“ Ansätze in seinem publizistischen Werk findet. Immerhin umkreist er in seinen Schriften die Themen Demokratie und Relativismus.23 Die Dialektik von relativistischem Liberalismus und – in zugespitzter Art und Weise – Totalitarismus ist nicht neu. Vor Jahrzehnten wird sie von einigen dem klassischen Denken verpflichteten Wissenschaftlern, die sich gleichwohl als nicht religiös motivierte Gelehrte verstehen, vertreten. Man kann als Beispiel den Philosophen Leo Strauss erwähnen, dessen Affinitäten mit Ratzinger offen zutage liegen,24 insbesondere Strauss’ bis heute grundlegende Schrift „Naturrecht und Geschichte“, aber auch den Staatsrechtslehrer Gerhard Leibholz.25 Ratzinger leugnet nicht, dass im politischen Bereich der Relativismus bis zu einem gewissen Grad unverzichtbar ist, will das Gemeinwesen demokratisch-rechtsstaatliche „Verfassungswerte“ verwirklichen.26 Ohne Relativismus scheinen nicht nur Freiheit und Gleichheit unmöglich zu sein, sondern weitere konstitutive Prinzipien der Demokratie. Jedoch kann auch zu viel Relativismus die Freiheit zerstören, was nicht zuletzt die Geschichte der auf einem explizit wertrelativistischen Verfassungsfundament beruhenden Weimarer Republik zeigt. Demnach bedarf Demokratie eines Wahrheitsfundamentes, worauf unterschiedliche Denker in den letzten Jahren hinweisen. Wo liegen die Grenzen von unverrückbaren Wahrheitsfundamenten und wandelbaren Passagen im Grundgesetz? Es erschwert die Abänderbarkeit der Grundrechte sowie den Eingriff in den Wesensgehalt eines Grundrechts. Die in Artikel 20 I-III GG genannten Staatsstrukturprinzipien sind bekanntlich überhaupt nicht aufhebbar, auch nicht durch entsprechend große Mehrheiten. Der Relativismus ist einerseits unabdingbar für freiheitliche Staatswesen, andererseits stößt er an Grenzen der durch feste Fundamente gestützten Demokratie. 21

Spieker, 2009: 105 – 119. Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., 2008 – 2012. 23 Ratzinger, 1999: 76 – 79; Ratzinger, 2003: 94 – 96; Ratzinger/Pera, 2005a; zu einigen Hintergründen vgl. Ahrens, 2014: 244 – 255; zum Thema Christentum und Relativismus im Allgemeinen vgl. Antonello/Girard, 2008; eine umfassendere Studie zu den politischen Implikationen der Auffassungen Joseph Ratzingers, vor allem in seinen Stellungnahmen nach der Wahl zum Papst, liegt m. W. noch nicht vor. Für seine Äußerungen vor 2005 finden sich instruktive Hinweise bei Pfeiffer, 2007. 24 Vgl. Ahrens, 2011: 90 – 103. 25 Vgl. das Vorwort Leibholz’ zu „Naturrecht und Geschichte“: Strauss, 1989: IX. Aus heutiger Perspektive vgl. Häberle, 2009: 19 – 42: 36 – 42. 26 Zu Begriff und Inhalt der Verfassungswerte vgl. Detjen, 2009. 22

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Spiegelverkehrt verhält es sich mit dem, was man „Wahrheit“ nennen könnte – ein Fundament, das der Platon und der Bibel besonders verpflichtete Theologe für grundlegend hält.27 Dogmatische Wahrheiten bestimmen – so hört und liest man öfter – Gottesstaaten und Diktaturen, indessen keine freiheitlichen Gemeinwesen. Allerdings lassen sie sich auch nicht völlig negieren. Wie kämen sonst die Grundrechte zustande, die den Mehrheiten vorangehen und von diesen respektiert werden wollen, aber keineswegs von ihnen geschaffen sind, etwa durch einen Beschluss? Sie können lediglich festgestellt werden, beispielsweise von einer verfassungsgebenden Versammlung. Wahrheiten implizieren also in diesem Kontext ein Gut, das nicht kreiert, nur einsichtig gemacht werden kann. Ein solcher Sachverhalt deckt sich zumindest partiell mit der herkömmlichen Vorstellung vom Naturrecht, das eine lange Tradition besitzt,28 spätestens aber im 19. Jahrhundert mit dem Siegeszug des Darwinismus in die Krise geraten ist.29 Dieser koppelt die Natur endgültig von etwaigen Einflüssen eines Schöpfergottes ab und findet weithin ein zustimmendes Echo in den Naturwissenschaften. Natur ist demnach nur ein mechanisch-kausales Gebilde. Traditionell ist Natur gleichzusetzen mit Vernunft. Das Naturrecht ist demnach durch die Vernunft zu erkennen.30 Wahrheit scheint heute nur noch im privaten Bereich ihren Ort zu besitzen. Sie zählt nicht zum „überlappenden Konsens“, wie John Rawls den öffentlich-politischen Bereich benennt. Trotzdem ist auch sie, in wohlbestimmter Hinsicht, unverzichtbar für den Verfassungsstaat – jedoch ebenso wie ihr Widerpart, der Relativismus, in Grenzen, die sie im konstitutionellen Gefüge nicht übersteigen darf. II. Antirelativismus in der Demokratietheorie der frühen Neuzeit: Rousseau und Tocqueville Besteht eine notwendige Verbindung von Relativismus und demokratischer Grundlegung des Gemeinwesens? Ein Blick in die Geschichte des politischen Denkens soll den Versuch einer Klärung bringen. Mit Jean-Jacques Rousseau, dem vielleicht ambivalentesten Theoretiker der frühneuzeitlichen Staatsphilosophie, lässt sich zeigen, dass Demokratie keineswegs mit Relativismus verbunden sein muss. Der Genfer Autodidakt, dem nichts fremder ist als Schulen und Universitäten, gilt 27

Vgl. Ratzinger, 1999, 67 f., der sich bei den staatsphilosophischen Teilen insbesondere auf Veröffentlichungen des Münchner katholischen Philosophen Helmut Kuhn bezieht; zur Wahrheitsbekundung Jesu in der Heiligen Schrift vgl. unter anderen Johannes-Evangelium 18,37 und Johannes 14,6. 28 Dazu die Rede Benedikts XVI. vor den Angehörigen des Bundestages 2011: Benedikt XVI., 2012: 26 – 34. Die Ansprache stützt sich in zentralen Passagen auf Waldstein, 2010. 29 Ratzinger, 2005b: 34 – 36. 30 Definiert man Naturrecht auf diese Weise, so ist es von der Darwin’schen, naturwissenschaftlichen Bestimmung der Natur nicht berührt, wie Ratzinger, 2005b: 35, fehlerhafterweise meint. Demnach kann es auch durch die Einwände des Evolutionismus nicht „zu Bruche gegangen“ sein.

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als enorm wirkmächtiger Vordenker des „demokratischen Zeitalters“.31 Trotz vielerlei Besonderheiten seines Ansatzes ist er doch auf verschiedene Weise eingebettet in den Verlauf der frühneuzeitlichen Staatsphilosophie. Im vorliegenden Rahmen können diese Verbindungslinien nicht im Detail verfolgt werden. Grundlegend ist jedoch Rousseaus Argumentationsfigur des modernen Naturrechts.32 Die wichtigsten neuzeitlichen Staatstheoretiker berufen sich auf das Naturrecht, das sich – vorbereitet bereits in der Spätscholastik – seit Hobbes von theologisch-religiösen Begründungsfiguren mehr und mehr löst. Das schließt nicht aus, dass sich maßgebliche Philosophen im Einzelfall doch auf transzendente Grundlagen beziehen, die im gesellschaftlichen Leben ihrer Zeit eine starke Verwurzelung besitzen. Der Naturbegriff wird im Allgemeinen nunmehr mechanistisch und nicht mehr aristotelisch-teleologisch gefasst. Bei allen verschiedenen Varianten des Naturzustandes finden sich so Gemeinsamkeiten, die eine Basis für politische Legitimation stiften. Ein solcher naturrechtlicher Konsens, der nach der Französischen Revolution durch den langsamen Vormarsch des Rechtspositivismus und durch zunehmenden Pluralismus schwindet,33 wird häufig kritisiert und wirkt nicht selten brüchig. Bis heute jedoch erhält er von anderer Seite Lob. Man kann das naturrechtliche Fundament als umfassend begreifen, gerade weil es theologische Streitigkeiten ausklammert und im Sinn der berühmten Formulierung Hugo Grotius‘ gleich „etsi deus non daretur“ konstruiert ist. Diese Ausrichtung beschert dem Naturrecht eine noch umfassendere Reichweite. Derartige Grundlagen lassen eine relativistisch-plurale Gestaltung des Gemeinwesens noch als entbehrlich erscheinen. Ein Diskurs über Wahrheit, wie er unter postmodernen Verhältnissen stattfindet, liegt damals noch in weiter Ferne. Auch das „moderne Naturrecht“ (Leo Strauss), so sehr man es gegen das traditionelle abgrenzen muss, bietet einen Damm gegen den Relativismus, wenngleich in deutlich weniger starkem Maße als das klassische. Nehmen wir die Hobbes’sche Lesart von Naturgesetz und Naturrecht, ehe Rousseau thematisiert wird. Beide kann man als Vertreter des modernen Naturrechts deuten. Zu den (auch im status civilis) nicht abtretbaren Rechten des Individuums, um exemplarisch zu argumentieren, zählt das natürliche Recht auf Selbsterhaltung. Alle Pflichten sind wiederum relativ auf das absolute Gesetz der Selbsterhaltung bezogen. Auch für den Leviathan ist es nicht disponibel. Im Gegenteil: Er ist sogar zur Wahrung des Naturrechts auf Selbsterhaltung bestimmt. Wenngleich Hobbes mit seinem viel zitierten Satz „Auctoritas non veritas facit legem“ als einer der Ahnherrn des Rechtspositivismus gilt, sind die Zusammenhänge doch komplizierter. Obwohl das klassische Naturrecht bei Hobbes nur in Restbeständen existiert, widersetzen sich auch diese der Möglichkeit einer vollständig relativistisch-positivistischen Disponibilität, etwa durch die Gesetzgebung. Insofern stellt selbst die Schwundstufe noch Maßstäbe zur Verfügung, an dem das auf positive 31

Zum Siegeszug der demokratischen Strömungen nach 1789 vgl. Bajohr, 2014. Aus der Fülle an Literatur über das Verhältnis des Naturrechts zu Rousseaus politischer Philosophie ist zu nennen: Herb, 1989; Strauss, 1989: 363 – 307. 33 Einen ersten Einschnitt bedeutet das wirkmächtige Werk von Hugo, 1819. 32

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Weise, d. h. im Sinne eines bestimmten Verfahrens, zustande gekommene Gesetz gemessen werden kann. Von Hobbes soll der Weg zu Rousseau beschritten werden.34 Ohne ausreichend nuancieren zu können, sind doch einige Elemente der Naturauffassung Rousseaus zu erwähnen. Sie werden lange Zeit gegen gesellschaftliche Entfremdung, etwa als Folge des Privateigentums, als der ideale, verlorengegangene Zustand ins Feld geführt. Bekanntlich fasst Rousseau den Naturzustand nicht negativ, wie beispielsweise in dezidierter Weise Hobbes, der ihn auf die Überwindung hin anlegt. Rousseau deutet ihn so, dass Menschen sich darin „ewig“ hätten aufhalten können.35 Er zeichnet ein positives Bild vom Menschen.36 Der Mensch verfügt noch über eine tierähnliche Natur, die ihm den Anschein von Zufriedenheit verleiht. Stets sehen die Interpreten, im Laufe der Jahrhunderte längst Legionen, hierin einen Zustand des Glücks, mindestens aber Freude am Dasein.37 Allemal taugt die Beschreibung im „Discours“, um ein Gegenbild gegen die zahlreichen Formen der Dekadenz zu zeichnen. Durch Zufälligkeiten, etwa Erdbeben oder Katastrophen, endet das autark-solipsistische Leben, das die natürliche Unschuld einschließt. Häufig sieht man darin eine säkularisierte Erzählung vom Paradies. In der gemeinhin üblichen Auslegung gilt der Rousseau zugeschriebene Satz: „Der Mensch ist gut“. Tatsächlich ist der Mensch des „Discours“ vor-moralisch, besitzt mithin weder die Fähigkeit zur Güte noch zum Schlechten. Mit dem Ende des zufriedenen Robinson-Daseins sind ungerechte Zustände in Staat und Gesellschaft die unausweichlichen Folgen des Zusammenschlusses, der im Zuge dieser kontingenten Ereignisse und Umstände nötig wird. Unheilvolle Konsequenzen sind das Privateigentum wie ungerechte Herrschaftsverhältnisse. Wie können die Freiheiten im Naturzustand, der einen besseren Menschen kennt, wiederhergestellt werden? Sicherlich nicht mittels eines – sehr häufig kolportierten – direkten „Zurück zur Natur“. Rousseau schlägt eine Alternative vor. Jeder stellt seine Person vollständig und uneingeschränkt unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens.38 Dieser bildet den Kern des Gesellschaftsvertrages. Alle Partikularinteressen werden im Prozess der Beschlussfassung ausgefiltert. Hier koinzidieren für den Einzelnen, der Teil des Gemeinwillens ist, Beherrschtwerden und Freiheit. Freilich muss er dem Gemeinwillen Folge leisten. Bei der Konstruktion des Rousseau’schen Gesellschaftsvertrages ist eine fundamental antirelativistische Tendenz zu erkennen. Sie ist auch als homogenistisch zu beschreiben. Ohne sie in allen Facetten beleuchten zu können: Der Grund liegt – jedenfalls im Kern – im absoluten Charakter, der dem Souverän in der frühneuzeitlichen Staatsphilosophie zugesprochen wird. Rousseau übernimmt diesen Grundzug 34

Zu dieser Verbindung vgl. Mayer-Tasch, 1991. Rousseau, 2008: 166. 36 Zu Rousseaus Menschenbild vgl. die erschöpfende Studie von Rang, 1959. 37 Vgl. Rang, 1959: 133. 38 Jean-Jacques Rousseau, 1994: 1. Buch, 6. Kapitel. 35

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von wichtigen Vorgängern, vornehmlich von Hobbes. Im „Gesellschaftsvertrag“ wird wortmächtig begründet, dass die Souveränität unveräußerlich sei, weiter dass sie unteilbar sei.39 Der Gemeinwille ist, anders als der Gesamtwille, der sich aus der Summe der Partikularinteressen zusammensetzt, immer auf dem rechten Weg.40 Häufig wird nach dem Hintergrund dieser intransigent-absoluten Definition gefragt. Der Grund liegt wohl in der Übertragung transzendenter Prädikationen auf den politischen Herrscher, egal ob es sich um den Leviathan handelt oder um den Volkssouverän. Hier wirkt Göttliches in der Immanenz.41 Ein solches Element, egal wie es im Einzelnen bestimmt wird, zeigt sich als Gravitationszentrum einer unbedingten Wahrheit: in seiner theologischen ebenso wie in der säkularisierten Variante. So sehr die Volkssouveränität homogenistisch-antirelativistisch gefasst wird, ist Rousseau im Kontext seiner Bewertung der Demokratie als Regierungsform die relativistische Sichtweise nicht fremd.42 Hier schließt er sich Montesquieu an, der die Regierungsform von gewissen Parametern abhängig sieht, die Demokratie im Sinne der Republik unter anderem von einem kleinen Staatswesen, in dem die Bürger untereinander Kontakt miteinander haben. Montesquieu kennt keine Staatsform, die immer und überall für die Menschen geeignet ist, sondern sie ist abhängig von Voraussetzungen wie Kultur, Religion, Klima, der Größe des Staatsgebiets und anderen Faktoren. Der Umfang des Territoriums ist auch für Rousseau relevant, ebenso spielt das Klima eine Rolle. Eine echte Demokratie schätzt er als Utopie ein. In diesem Zusammenhäng fällt der viel zitierte Satz, nur eine vollkommene Regierung, die für Menschen nicht passt, wäre demokratisch. Dies setzt ein „Volk von Göttern“ voraus.43 Trotz der Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung wird man sagen müssen: Mit Ausnahme von Hobbes verwirft kein frühneuzeitlicher Staatstheoretiker den Relativismus so sehr wie Rousseau. Dieses Urteil wird untermauert, wenn man einen Blick auf die „bürgerliche Religion“ wirft. Dieser Abschnitt des „Contract social“ findet bis heute im Hinblick auf sein Gesamtwerk maßgebliche Interpretationen.44 Rousseau stellt sich in die Tradition, welche die „zwei Köpfe des Adlers“, also Religion und Politik, wieder zu vereinigen beabsichtigt. Diese Aussage bezieht sich auf Hobbes, der Ähnliches intendiert. In dieser Sichtweise steckt eine unüberhörbare Kritik am Christentum. Es habe das Staatswesen partikularisiert und damit relativiert, was in vor- und außerchristlichen Religionen selbstverständlich ver39

Vgl. Jean-Jacques Rousseau, 1994: 2. Buch, 1. und 2. Kapitel. Aus der Fülle der Interpretationen vgl. Kersting, 2002; Brandt/Herb, 2012; Fetscher, 1990: 118 – 133. 41 Epochemachend diesbezüglich Schmitt, 2009. An dieses Buch schließt sich eine ganze Literatur an, die das Thema längst kulturübergreifend differenziert. 42 Näheres bei Ottmann, 2006: 488. 43 Rousseau, 1994: 3. Buch, 4. Kapitel. 44 Grundlegend Rehm, 2006; weiter Rehm, 2012: 215 – 243; Asal, 2007. 40

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schmolzen sei; und dies gilt seit Jesu’ Wort, sein Reich sei nicht von dieser Welt, weswegen man Gott geben solle, was Gottes sei, und dem Kaiser, was des Kaisers sei. Hier liegt eine klare Differenzierung vor, die die vorchristliche Antike vielleicht mit Ausnahme des Judentums so nicht kennt. Die Macht des Herrschers ist verringert worden, weil „Heil und Herrschaft“ auseinanderfallen45 – eine klare Schwächung absolutistischer Macht. Eine solche Unterscheidung, wie sie in der Bibel maßgebliche Wurzeln besitzt, lockert nach Rousseau das Band zwischen den Herrschern und Untertanen. Er will die Verbindung wieder festigen, aber nicht auf traditionelle Weise. Die Zivilreligion schafft den Kitt, den das Gemeinwesen über die Verfassung hinaus braucht. Einerseits soll die Toleranz bewahrt werden, die in der Neuzeit seit den Religionskriegen institutionalisiert wird, vor allem im Reichsrecht. Sie ist eine damals verhältnismäßig neue Errungenschaft. Andererseits jedoch soll die herkömmliche Stützung des Staates durch den Faktor Religion neu fundiert werden. Mit Recht sieht die Forschung in dieser Absicht einen Spagat.46 Im Rahmen der vorliegenden Erörterungen ist zu betonen, dass das Konzept der „religion civile“ den homogenistischen Trend in Rousseaus politischer Philosophie verstärkt. Die staatliche Ordnung wird auf diese Weise gestärkt. Sie instrumentalisiert die positiven Seiten des Christentums, das Dogma und Wahrheit kennt, aber nicht als Stütze der Staatsgewalt dient („religion du pretre“). Die „religion du citoyen“ ist hingegen schon in der Antike auf die Unterstützung des Staates hin angelegt, beruht aber theologisch auf fragwürdigen Prämissen. Beide Formen von Religion synthetisiert Rousseau. Es entsteht die „religion civile“ als Produkt der Vereinigung. Das Christentum wird als sozio-moralische Ressource in den Aufbau des Staates mit einbezogen, was die Verletzung der Glaubensfreiheit im strengen Sinn aus Rousseaus Sicht weniger problematisch erscheinen lässt.47 Rousseau formuliert ein konkretes Minimalcredo, das für jeden Staatsbürger verpflichtend ist: den Glauben an eine allmächtige Gottheit, an das künftige Leben, an das Glück der Gerechten und die Bestrafung der Bösen und die Anerkennung der Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages. Es handelt sich hier um den kleinsten gemeinsamen Nenner. Jenseits dessen kann jeder die Religionsfreiheit im Rahmen der Gesetze wahrnehmen oder gar keinem Glauben verpflichtet sein. Rousseau weiß, dass sein Konzept von Religion ein abstraktes und kein alltäglich-praktiziertes ist, wie die herkömmlichen konfessionellen Religionen, die das Dasein noch stark prägen, allen säkularen Tendenzen, die das 18. Jahrhundert gleichfalls bestimmen,48 zum Trotz.

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Assmann, 2002. Rehm, 2006: 12. 47 Vgl. Asal, 2007: 108 – 140, hier 110 f. 48 Klassisch herausgearbeitet bei Groethuysen, 1978. 46

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Religion ist demnach für Rousseau unentbehrliche Ligatur. Sie trägt dazu bei, den Staat als „ethische Totalität“ zu konstituieren,49 jedenfalls in der Art und Weise, in der sie von Rousseau für Staat und Gesellschaft vereinnahmt wird. In ihrer konfessionelltraditionellen Form hat sie nach Rousseaus Ansicht mehr Nach- als Vorteile. Das Christentum steht quer zu einer solchen Funktionalisierung, wie oft bemerkt wird. Machiavelli geißelt die Jenseitsorientierung als kontraproduktiv, andere ereifern sich über Friedfertigkeit und Feindesliebe, welche die Tugend der Tapferkeit und die Bereitschaft zum Kampf unterhöhlen. Rousseaus Gesellschaftskonstruktion ist dezidiert religionskritisch. Konfessionelle Religion steht, wie in der Epoche der Aufklärung allgemein verbreitet, bei Rousseau unter dem Verdacht der Intoleranz. Die Zeitgenossen erkennen diese Ausrichtung wohl korrekt. Einer der Hauptgründe für die Verbrennung des „Émile“, des Erziehungsromans Rousseaus, sind die zivilreligiösen Passagen. Rousseau will von der Religion retten, was unter aufgeklärten Bedingungen überhaupt noch zu retten ist. Auch dieser Teil seiner Doktrin ist homogenistisch und antirelativistisch. In der Gesellschaft ist es unvermeidlich, bestimmte Teile des Glaubensbekenntnisses anzunehmen. Wie der Gemeinwille immer Recht hat, ist die Zivilreligion für den Bürger wahr. Darüber wird nicht diskutiert. Hier ist die Absolutheit dieses Postulats mit Händen zu greifen. Die Bindung, die Zivilreligion stiftet, ist nach Rousseau ausreichend stark, so dass Bürger im äußersten Fall sogar bereit sind, ihr Leben für den Staat zu opfern.50 Zivilreligion, so darf man folgern, ist für den Genfer Bürgerssohn, anders als für etliche heutige Verfechter derartiger Entwürfe,51 kein „Liberalitätsgarant“ (Hermann Lübbe); vielmehr sollte die Priorität des Ganzen vor dem Einzelnen gewahrt werden. Das Gemeinwesen steht über dem Bürger. Deutlich andere Akzente setzt Tocqueville. Er ist einer der ersten Analytiker, der das demokratische Zeitalter am Horizont aufleuchten sieht.52 Die Grundsätze von Freiheit und Gleichheit setzen sich in rasantem Tempo durch. Letzteres Prinzip ist aufgrund seiner Popularität in Gefahr, der Tyrannei Vorschub zu leisten. Tocqueville ist davon überzeugt, dass die demokratischen Prinzipien überall ihren Siegeszug antreten werden. Indessen ist er trotz dieser Einschätzung kein uneinge49 Vgl. Asal, 2007: 113 – 123; die öfters erwähnten Ambivalenzen im Werk Rousseaus zeigen sich nicht zuletzt im Nebeneinander von relativistischen und antirelativistischen Teilen. Die auf größtmögliche Autonomie abzielenden Passagen sind relativistisch orientiert, da der Einzelne so, aber auch anders hätte handeln können. Diese Passagen reichen Rousseau nicht aus. Er insistiert auf eine heiligend-divinisierende Selbsttranszendenz des Contrat social, die den Gesetzgeber unverfügbar machen und ihn sakralisieren soll (vgl. Vorländer, 2013: 143 – 162, hier 153). Hier zeigt sich ein erhebliches antirelativistisches Potenzial im Rahmen seines Ansatzes. 50 Vgl. Rehm, 2012: 234 f. 51 Statt etlicher kleinerer Arbeiten zum Thema ist Lübbe, 1986, anzuführen. 52 Tocqueville, 1990; aus der reichhaltigen Einführungs- und Grundlagenliteratur zu Tocqueville ist anzuführen: Mayer, 1954; wesentlich für jede Beschäftigung zum Thema: Jardin, 1991; zu Tocqueville als Demokratietheoretiker vgl. Schmidt, 2010: 113 – 131.

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schränkter Anhänger dieser Regierungsform, sondern bleibt skeptisch. Er betrachtet die Gefahr der Vermassung der Gesellschaft als unvermeidlich. Die öffentliche Meinung übt eine immer größere Macht aus. Diese Sogwirkung hinterlässt auch Spuren bei den Repräsentanten der herkömmlichen Religionen. Selbst die Kirchen geben sich, und nicht nur dem Anschein nach, eine demokratische Verfassung. Tocqueville weiß um das freiheitliche Potenzial insbesondere der staatsunabhängigen protestantischen Denominationen, etwa bei der Wahl der Kirchenvorstände. Hier lässt sich im binnenkirchlichen Bereich ein Geist ausbilden, ein Geist der Mitbestimmung, der auch auf staatlichem Sektor Früchte trägt. Demokratische Mentalitäten sind so mächtig, dass sie religiöse Formen und Gestalten beeinflussen. Das zeigt der bedeutende konservative Liberale am Beispiel des Katholizismus, der in den USA sehr amerikanisch auftritt, obwohl dessen hierarchische Grundstruktur mit Gleichheitspostulaten nur schwer zu vereinen ist.53 Doch Tocqueville konstatiert eine weitere Entwicklung, die der demokratische Freiheitsimpuls möglich macht:54 den (im Vergleich zu vorrevolutionären Zeiten) massenhaften Individualismus. Der französische Reisende sieht eine Isolierung der Glieder des einst – unter aristokratischen Bedingungen – mächtigen sozialen Bandes. Der Trend zur Auflösung herkömmlicher sozialer Strukturen in seinem Heimatland setzt den Einzelnen mehr und mehr frei. Der Franzose bemerkt früh den relativistischen Impuls, der sich aus dieser Tendenz ergibt, wenngleich er eine andere, zu seiner Zeit übliche Terminologie benützt.55 Welche Widerlager, die als Stabilisatoren wirken, nimmt er an? Obwohl der Individualismus durch die freiheitlichen Wirkungen der US-Revolution – sie setzt es sich ausdrücklich zum Ziel, die alten, verschütteten Freiheiten „der Väter“ wiederzugewinnen56 – erst hervorgerufen wird, erörtert er die Möglichkeit der Überwindung des Individualismus durch freiheitliche Institutionen.57 Tocqueville zählt eine Reihe von Vereinigungen auf, die als Antidotum gegen eine tyrannische Mehrheit fungieren sollen, aber auch gegen einen die Gesellschaft zersplitternden Relativismus. Er nennt eine Liste von religiösen, sittlichen, ernsten, kleinen und größeren Vereinen. Neben anderen, beispielsweise beruflichen Verbindungen und Verbänden, sind es auch Kirchengebäude und -einrichtungen, die staatsfreie Rückzugsräume ermöglichen.58 Auf diese Weise wird ein sozialer Atomismus, der in 53 Tocqueville, 1990: 236 f. Um 1900 kommt es dann zu einer Krise des Amerikanismus und zu einem Konflikt mit Rom über das Thema „Kirche und amerikanische Kultur“. 54 Vgl. Tocqueville, 1990: 238 – 240. 55 Häufig bemerkt wird in der Forschung, dass der Relativismus-Begriff erst im späten 19. Jahrhundert öfters verwendet wird. Er wird aber rückwirkend zur Beschreibung vieler Phänomene des 19. Jahrhunderts herangezogen (vgl. Freudenberger, 1999: 1378 – 1384, hier 1379). 56 Eine der wichtigsten Thesen des Buches von Arendt, 2011. 57 Vgl. Tocqueville, 1990: 242 – 247. 58 Vgl. Tocqueville, 1990: 248.

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nachrevolutionärer Zeit mit Händen zu greifen ist, ein Stück weit eingedämmt und kompensiert. Wenngleich die Bedeutung der Religion für die Stabilität des demokratischen Gemeinwesens bei Tocqueville überschätzt scheint,59 gilt er vielen Rezipienten als früher Vordenker, der christliche Präsuppositionen im Hinblick auf das bürgerliche Gemeinwesen betont. Herauszustellen ist, dass Tocqueville den Nutzen an Freiheitsgewinnen, den das Gemeinwesen aus der Religion zieht, nur unter der Bedingung einer strikten Trennung von Kirche und Staat als möglich erachtet. Nicht nur bei einem homogenistisch ausgerichteten Klassiker wie Rousseau, dessen Lehren eine eindeutige Tendenz gegen das überlieferte Christentum implizieren, finden sich bestimmende antirelativistische Elemente. Weiter ist auch bei dem (dem Christentum gegenüber aufgeschlossenen) französischen Schriftsteller Tocqueville der Versuch zu erkennen, christliche Elemente gegenüber den möglichen Entartungen der tyrannischen Mehrheitsdemokratie als auch gegenüber dem relativistischen Individualismus zu positionieren – beides Gefahren, die seiner Meinung nach aus dem doppelten Impuls der Demokratie resultieren, der sich besonders in den Grundwerten von Freiheit und Gleichheit bemerkbar macht. III. Beispiele relativistischer Demokratiebestimmung im 20. Jahrhundert: Gustav Radbruch und Hans Kelsen Während im 18. und frühen 19. Jahrhundert noch homogenistische Konzeptionen von Demokratie die Oberhand behalten, kommt es spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer einschneidenden Wende, die noch fast in der gesamten ersten Hälfte des folgenden Zentenniums ihre Schatten wirft. Das 19. Jahrhundert pluralisiert den weltanschaulichen Sektor in vorher ungekanntem Maß.60 Zunehmend bilden nach 1850 Liberalismus, Katholizismus, Sozialdemokratie, mehrheitlich protestantischer Konservatismus und andere Gruppierungen, die meist auch noch verschiedene Flügel hervorbringen, ihre Doktrinen weiter aus und organisieren sich in veränderter Art und Weise. Im und nach dem Ersten Weltkrieg differenziert sich das politische Spektrum noch weiter aus. Neue naturwissenschaftliche Lehren, die erhebliche Auswirkungen auf den sozial-politischen Bereich erkennen lassen, insbesondere der Darwinismus, lassen die weltanschaulichen Konflikte heftiger werden. Diese Heterogenisierung des sozialen und kulturellen Lebens hinterlässt in allen wissenschaftlichen Disziplinen nachhaltige Spuren. Auf dem Gebiet der Jurisprudenz setzt sich bald nach der Mitte des 19. Jahrhunderts der Rechtspositivismus durch. Er identifiziert das Recht mit dem Gesetz und lässt die Inhalte des Gesetzes durch die Mehrheit nach einem korrekt-formalen Prozedere entscheiden. Parallel zum konstitutionell eingehegten Machtstaat und zur ideologischen Zersplitterung 59 Vgl. Schmidt, 2010: 129, der die Kompatibilität der Demokratie mit säkularen Werten herausstellt, die freilich zu Tocquevilles Zeiten noch nicht so deutlich ist. 60 Grundlegend und früh zum Standardwerk avanciert: Osterhammel, 2009.

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des Kaiserreiches, die dieses mehrmals an den Rand des Bürgerkrieges bringt, steigt der Rechtspositivismus zur herrschenden Rechtsauffassung auf.61 Alternative rechtsphilosophische Konzepte, etwa das Naturrecht, verlieren zusehends an Einfluss. Das Naturrecht wird wegen seines Essenzialismus und seiner Unbeweglichkeit bereits von der historischen Rechtsschule angegriffen. Standardwerke bauen auf der positivistischen Methodik auf.62 Diese Kontroversen weisen auch eine philosophische Dimension auf. Der Positivismus gerade auf dem Gebiet des Staatsrechts verbindet sich mit dem im späten 19. Jahrhundert überall dominanten Neukantianismus.63 Die Dichotomie von Sein und Sollen erhebt Kant (nicht zuletzt in der Nachfolge Humes) zum philosophischen Dogma, was ihm am klassischen moralphilosophischen Modell orientierte Denker bis in die unmittelbare Gegenwart zum Vorwurf machen.64 Auch die gesellschaftstheoretische Debatte im frühen 20. Jahrhundert rekurriert auf den zunehmenden Kampf der Weltanschauungen untereinander. Max Weber, als Jurist selbstverständlich Anhänger des Rechtspositivismus, spricht in viel zitierten Worten vom „Polytheismus der Werte“ und von der „Wiederkehr der Götter“.65 Dass sich der Rechtspositivismus früh mit dem Relativismus verbindet, liegt nahe. Gustav Radbruch, Angehöriger der gleichen Generation wie bedeutende Vertreter des Rechtspositivismus im späten Kaiserreich bzw. der Donaumonarchie (unter anderem Max Weber, Walter Jellinek und Hans Kelsen), zeigt den Zusammenhang auf.66 Er hebt hervor, dass es eine Letztbegründung von Wertauffassungen nicht gibt. Werte sind subjektivistisch. Wissenschaft muss nach einem berühmten Diktum von Weber wertfrei sein. Man kann nach Radbruch dem Einzelnen nicht abnehmen, sich zu Letztauffassungen zu bekennen, aber diese Entscheidung sei nicht rational zu begründen.67 Carl Schmitt spricht in diesem Kontext vom Dezisionismus. Es gibt demnach keine archimedischen Einsichten, die als allgemeiner Maßstab dienen könnten, keine höheren Wahrheiten, die begründbar wären, keine ratio als Fluchtpunkt. Radbruch, in der Weimarer Republik zeitweise Justizminister und schöngeistiger Professor, der nicht nur über Rechtswissenschaften, sondern auch über Literatur etwas zu sagen hat, ist über einen langen Zeitraum seines Lebens Relativist und Rechtspositivist. Erst nach der Herrschaft des Nationalsozialismus ändert er seine Einstellung. Er ist zumindest vom Scheitern dieses Projekts in praktischer Hinsicht

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Vgl. den gedrängten historischen Abriss bei Bauer, 1968: 25 – 42. Zentral für die juristische Debatte sind vornehmlich: Gerber, 1880; Laband, 1911. 63 Bauer, 1968: 43 – 54. 64 Vgl. als dezidierte Kritik MacIntyre, 2006. 65 Vgl. dazu Schluchter, 1996: 223 – 255. 66 Stellvertretend für andere Betrachtungen aus der Sekundärliteratur ist der Überblick von Kaufmann, 1987. 67 Radbruch, 1950: 102 f. 62

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überzeugt.68 Umstritten sind freilich die Hintergründe seines Wandels. Wie ein anderer exzeptioneller Gelehrter seines Zeitalters, der genannte Weber, ist er von der existenziellen Relevanz des Themas überzeugt. Er verdeutlicht das anhand von Beispielen aus der Welt- und Geistesgeschichte. Im Prozess Jesu, wie ihn der Verfasser des Johannes-Evangeliums überliefert, spielt Wahrheit eine große Rolle. Der römische Statthalter Pontius Pilatus stellt dem Angeklagten die Frage: Was ist Wahrheit? Der Mächtige bekennt sich, in moderner Terminologie gesprochen, zum Relativismus. Die Wahrheitsfrage ist damals schon ungenau zu beantworten. Der Appell an den Pöbel bringt ein eindeutigeres Ergebnis. Die Masse entscheidet per Akklamation und zieht einen notorischen Verbrecher einem offensichtlich Unschuldigen vor. Der mögliche Widerspruch von Mehrheitsentscheid und rechtsstaatlichem Schutz ist bereits früh in der Geschichte angelegt. Radbruch deutet diese Problematik nur an.69 Der Rekurs auf den Vertreter des Kaisers Augustus ist ihm offenbar peinlich. Dieser ist Skeptiker, scheint den Sinn der Wahrheitsfrage insgesamt zu bezweifeln. Also bezieht Radbruch sich auf Lessings berühmte Ringparabel im „Nathan“. Letzterer ist zwar von der Existenz der Wahrheit überzeugt, leugnet aber ihre Beweisbarkeit. Jeder solle ihr aus ganzem Herzen nacheifern. Als Agnostiker ist er wohl gut charakterisiert.70 Der Relativist geht davon aus, dass jeder der Streitenden seine eigene Wahrheit vertritt, die nicht allgemein und absolut zu begründen sei. Wie denkt Radbruch über den Relativismus? Als er seinen später viel beachteten Vortrag über den „Relativismus in der Rechtsphilosophie“ im Jahre 1934 in Lyon hält, ist die Hochzeit des Rechtsrelativismus schon einige Zeit vorbei.71 Bereits die Spätzeit der Weimarer Republik bringt die Abkehr von dieser Auffassung. Der Relativismus sieht es nach Radbruch nur als möglich an, in einer bestimmten Situation ein System von Wertungen vorzulegen, ebenso in einer anderen Lage. Es existieren aber keine absoluten Wertmaßstäbe zwischen diesen Systemen. Die Annahme von Gerechtigkeit ist ebenfalls nur in einer bestimmten Situation möglich. Es gibt also keinen überzeitlichen, allgemeingültigen Maßstab, wie ihn beispielsweise Platon vertritt. Positives Recht ist nach Radbruchs Meinung nur dann gültig, wenn Naturrecht Wunschvorstellung ist, ansonsten bräche dieses das positiv situierte Jus. Das positive Recht tritt an die Stelle der unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen, von denen keine begründet werden kann. Somit setzt der Gesetzgeber Recht, anstelle von Gerechtigkeit.72 Rechtspositivismus und Relativismus sind somit verschwistert, wenn auch nicht identisch. Der Gesetzgeber entscheidet qua Autorität, nicht im Sinne einer Offenbarung von Wahrheit. Wie schon Hobbes richtig erkennt: „Auctoritas non veritas facit legem“. So nimmt Radbruch folgerichtig einen engen Konnex von Positivismus, Relativismus und Liberalismus an, der allerdings nicht zwingend ist. Rad68

164 f. 69

Zum Scheitern des Rechtspositivismus-Projekts vgl. Adomeit, 2003: 161 – 166, hier

Vgl. Radbruch, 1950: 103 f. Vgl. Radbruch, 1950: 104. 71 Radbruch, 1957: 80 – 87. 72 Vgl. Radbruch, 1957: 82. 70

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bruch zeigt darüber hinaus auf, wie sehr Relativismus Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, ja sogar Demokratie mit Notwendigkeit fordert.73 In der Herausstellung dieser Zusammenhänge trifft er sich mit Kelsen. Erkennt der Demokrat die Gültigkeit jeder Mehrheitsentscheidung an, unabhängig von deren Inhalt, kommt er um die Befürwortung des Relativismus nicht herum. Alles andere verstieße gegen die Prämissen demokratischer Grundsätze. Radbruch geht auch auf das Dilemma des Relativismus ein, selbst diametral entgegengesetzten Systemen die gleiche Wahrheit zuzubilligen wie dem eigenen. Bedeutet das in letzter Konsequenz nicht den Hang zur Selbstzerstörung? Die Freiheit beinhaltet immer auch die Freiheit, sich selbst zu negieren. Diktatur kann auch in demokratischem Gewand begründet werden.74 Insoweit gilt für Radbruch die Demokratie als Staatsform im engeren wie auch im weiteren Sinn. Klug begründet er, inwiefern eine Dialektik von Diktatur und Demokratie besteht. Radbruch bemerkt, wie sehr demokratische Formen der Legitimität, etwa Plebiszite, auch für Diktaturen interessant sind – und das nicht nur aus taktischen Gründen. Insofern sind moderne Diktaturen nicht völlig von volkssouveränen Entscheidungen zu trennen. Das zeigt nicht zuletzt Hitlers Machtübernahme, die zum Zeitpunkt des Radbruch’schen Vortrages erst über ein Jahr zurückliegt. Am Ende seiner Ausführungen geht er darauf ein, wie der Relativismus notwendigerweise in den Sozialismus mündet – für einen zeitweiligen SPD-Reichstagsabgeordneten kein überraschender Schluss. Er spielt auf die Vernichtung aller irrationalen und ideologischen Mächte an, die den Menschen versklaven. Nur der Sozialismus kann seiner Meinung nach den Sprung in das Reich der Freiheit schaffen. Radbruch kommt zur Einsicht, dass die richtige Sicht des Relativismus zu dem gleichen Resultat kommen muss wie das klassische Naturrecht: nämlich zu Menschenrechten, Rechtsstaat, Volkssouveränität sowie Freiheit und Gleichheit. In der damaligen politischen Lage durchaus ein mutiges Bekenntnis! Radbruch wählt nicht nur den Relativismus als philosophische Grundlage seiner rechtstheoretischen Konzeption;75 er entwirft weiterhin seine demokratietheoretische Konzeption nach dem gleichen Muster.76 Für ihn ist deshalb ausschließlich der Relativismus das Fundament von Demokratie, weil dieser keine Ansicht bevorzugt, und sich Wandlungsprozesse sofort in veränderten Mehrheitsanteilen niederschlagen. Radbruch weiß, dass die Option zugunsten der Demokratie eine erstrebenswerte Haltung ist, die jedoch eine nicht letztlich zu begründende Dezision darstellt. Hier liegt ein für Radbruch unauflösbares Spannungsverhältnis. Die Krux ist stets: Wie geht der Relativist mit dem um, der seine Meinung absolut setzt? Radbruch

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Vgl. Radbruch, 1957: 84 ff. Vgl. Radbruch, 1957: 85; hier nimmt Radbruch etwas vorweg, was später Jacob Talmon näher ausführt, wenn er von der „totalitären Demokratie“ spricht. 75 Vgl. zum Relativismus Radbruchs Tjong, 1967; Pauly, 2011. 76 Vgl. Bauer, 1968: 76 – 78; Klein, 2007. 74

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ist sich der Gefahr des Widerspruches bewusst, wenn er sich gegen die Toleranz bezüglich der Intoleranz ausspricht.77 Letztlich impliziert eine solche Haltung jedoch die Annahme einer absoluten Wahrheit im Hinblick auf die relativistische Position. Bereits in der praktischen Politik kommt er mit diesem Paradoxon in Berührung. Als Justizminister arbeitet sein Ministerium ein Republikschutzgesetz aus, das die Ansicht widerlegt, die Weimarer Republik habe keine wehrhaften Grundsätze zur Erhaltung der eigenen staatlichen Identität entwickelt. Anders als später in der Bundesrepublik wird jedoch keine eigene Behörde eingerichtet, die das entsprechende Gesetz exekutiert und Republikfeinde (mit gesetzlichen Mitteln) bekämpft. Die in jeglicher Hinsicht einschneidenden Ereignisse zwischen 1933 und 1945 zwingen zum Überdenken liebgewonnener Einsichten. Radbruch ist zu „Relativierungen des Relativismus“ fähig.78 Berühmt wird die Radbruch’sche Formel, die Lehre vom übergesetzlichen Recht. Er will nicht zum herkömmlichen Naturrecht zurück, das als zu starr und zu wenig flexibel erscheint. Die Rechtssicherheit als Teilelement der Gerechtigkeit rückt nunmehr in den Vordergrund. Angesichts des existenziellen Ringens um elementare Regeln des menschlichen Miteinanders zeigt sich, dass der lange Zeit so hochgelobte Rechtspositivismus nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Noch bedeutsamer als Radbruch für die Grundlegung des Rechtspositivismus ist Hans Kelsen, der ebenfalls der Sozialdemokratie nahesteht. Da er mehrere Verfassungsentwürfe maßgeblich konzipiert, etwa die österreichische Verfassung von 1918 und im Umfeld der Kodifikation der Charta des Völkerbundes aktiv ist, gilt er als einer der bedeutendsten Juristen des 20. Jahrhunderts. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft heftig angefeindet, muss er in die USA emigrieren. Als Begründer der Wiener Schule treibt er die Methode des wertfreien Denkens, die jedes substanzialistische Vorgehen und jede metaphysisch-naturrechtliche Fundamentierung verwirft, auf die Spitze. Berühmt ist seine „Reine Rechtslehre“, die philosophische Basis seiner Rechtstheorie. Kern seines Systems ist die erkenntnistheoretische Reinheit zur Ausscheidung von Soziologie, Metaphysik, Ethik und Politisierung. Die Rechtswissenschaft wird immanent begründet. Die Trennung von Sein und Sollen bezieht sich auf Kant. Kelsen generiert eine hypothetische Grundnorm, die der ersten historischen Verfassung vorausgeht.79 Auf diese Weise entsteht nach Kelsen die positive Rechts77

Vgl. Radbruch, 1957: 86. Vgl. Pauly, 2011: 13 – 30, hier 27 – 30; grundlegend der Beitrag Radbruchs „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“, nachzulesen in: Radbruch, 1957: 347 – 357; umstritten ist, ob Radbruchs Bekenntnis als naturrechtliches zu verstehen ist; verneinend dazu Meyer, 2002: 179. 79 Kelsen, 2008, ist eine der bedeutendsten rechtstheoretischen Studien des 20. Jahrhunderts und seit langer Zeit ein Klassiker; zum knappen Überblick über die Reine Rechtslehre vgl. Ott, 1992: 45 – 53; ausführliche Würdigung bei Heidemann, 1997. 78

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ordnung. Ohne genauere Zusammenhänge erläutern zu können: Eine Folge der konsequenten Trennung von Recht und Moral ist, dass jeder beliebige Inhalt zur Norm werden kann. Auch Räuberbanden könnten demnach einen Staat ins Leben rufen, der legitim wäre – anders als beispielsweise die an Platon und Augustinus anschließende Tradition meint. Jedes an die Macht gekommene Regime ist somit auch legitim. Für Kelsen ist das selbstverständlich, wie er am Umgang mit Rechtsakten der bolschewistischen Regierung im Westen belegt, die irgendwann auch dort anerkannt werden, nachdem sie zuerst mit Hinweis auf den revolutionär-illegitimen Charakter abgelehnt werden. Mit der relativistischen Variante der Demokratiebegründung befasst sich Kelsen an verschiedenen Stellen seines umfangreichen Werkes.80 Er erkennt in seiner demokratietheoretischen Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ in den 1920er Jahren die Relevanz der juristischen Methode im Weltanschauungskampf. Die Republik wird von „Faszismus“ und Bolschewismus heftig attackiert. Kelsen offenbart im Hinblick auf den Inhalt und Begriff von Demokratie eine alte Weisheit. Politische Kampfbegriffe wie dieser ermangeln eines fest umrissenen Inhalts. Kelsen nähert sich seinen Inhalten über die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit.81 Beide kommen in der Tat dem Gesuchten nahe. Für Kelsen ist es plausibel, dass die Gleichheit nur dann garantiert ist, wenn sie sich die politischen Kontrahenten wechselseitig einräumen. Jeder, der die Mehrheit erhält, darf demnach regieren, unabhängig von seinen Vorstellungen. Die Distinktion von „guten“ und „schlechten“ Gesinnungen wird juristisch irrelevant, da es keine privilegierte Instanz gibt, die darüber entscheidet. Diese wäre notgedrungen ungleich, da übergeordnet. Ebenso verhält es sich mit der Freiheit. Sie ist mit dem Relativismus aufs Engste verbunden. Der Relativismus ist immer gegen absolute Wahrheiten gerichtet. Jeder ist frei. Wenn er mit anderen die Mehrheit erreicht, kann er jedes politische Ergebnis revidieren, da es ja nicht von vornherein feststeht und auch nicht perpetuiert werden kann oder darf. Offenheit korreliert mit Freiheit. Im Gegensatz dazu stehen Naturrecht,82 Metaphysik und deren religiöse Fundierungen im Hintergrund für Starrheit, Dogmatismus und Irreversibilität. Gelegentlich wird in der Literatur bemerkt, dass Positivismus und Relativismus nicht zwingend verbunden sein müssen, da der Relativismus nicht einfach als Faktum begriffen werden kann, das empirisch-positiv nachweisbar ist.83 Kelsen kritisiert von den gegnerischen Strömungen vor allem die Autokratie, welche die Entstehung unterschiedlicher Strömungen unterdrückt. Kelsen betont, dass 80

Vgl. stellvertretend für andere Beiträge zum Thema: Kelsen, 1925; Kelsen, 1963; Lanz, 2007; zum Zusammenhang von juristischer Methodik und Demokratieauffassung vgl. Dreier, 1986: bes. 259 – 294. 81 Vgl. Kelsen, 1963: 3. 82 Zu Kelsens Naturrechtskritik vgl. Opalek, 1982: 71 – 86; Lanz, 2007: 96 f., die die Einschätzung der Naturrechtslehre als konservativ bei Kelsen erläutert; zu einigen Einwänden im Hinblick auf Kelsens Naturrechtskritik vgl. statt anderer Waldstein, 2010: 19 – 21, der darauf hinweist, dass die Geltung des Naturrechts nicht unbedingt religiös fundiert sein müsse. 83 Vgl. dazu Lanz, 2007: 69 – 84.

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jede absolute Weltanschauung autokratische Implikationen in der Politik erkennen lasse.84 Insofern bestünden Korrelationen. Kelsens Lehre versteht sich immer im Dienst der Ideologiekritik.85 Wie Radbruch beruft sich Kelsen auf eines der berühmtesten Urteile der Weltgeschichte, das belegt, wie Relativismus demokratische Voten auch in Zeiten ermöglicht hat, in denen es formal noch gar keine Demokratie gegeben hat. Gemeint ist der Appell des Pontius Pilatus an das „Volk“. Er ist in skeptischer Manier nicht mehr von einer gültigen Wahrheit überzeugt, anders als der malträtierte Häftling, über dessen Schicksal er zu richten hat. Kelsen weiß selbst, dass diese berühmte Stelle, die der Evangelist Johannes überliefert, nicht unbedingt Werbung für den Relativismus ist.86 Die meisten dürften in der Option der Menge eher eine Grenze für Mehrheitsbeschluss und Relativismus erblicken. Im Gegensatz zu Radbruch ist Kelsen konsequenter, was die Folgen eines relativistischen Modells anbetrifft: Der Relativist erkennt nichts an, was der Mehrheit übergeordnet sei; denn diese habe in Freiheit entschieden, was eine übergeordnete Instanz ausschließe, die diese Freiheit unter Umständen außer Kraft setzen könne. Eine derartige Sicht macht Republikschutz unnötig, ja überflüssig. Eine Mehrheit kann auch eine Staatsform abwählen, wenn sie sich an das formale Prozedere hält. Diskutiert wird, ob diese Folgerung aus den Prämissen unabdingbar ist.87 Wählt die Mehrheit ein autokratisches Modell, so ist oft nicht gesichert, dass dieses eine Revisionsmöglichkeit qua Majoritätsentschluss einräumt. In der Praxis ist das sogar zumeist ausgeschlossen. Erst recht gilt das in totalitären Systemen, die keine echten Mehrheitsbeschlüsse ermöglichen. Kelsen sieht durchaus die Möglichkeit von Parteien und Gruppen, für Legalität einzutreten, um sie danach für illegitim zu erklären. Insofern ist das Prinzip der Revidierbarkeit verletzt, für das der Relativist eintreten muss und für das sich auch der Relativist Kelsen stark macht. Das Dilemma besteht darin, dass er aber jede Immunisierung ablehnen muss, die wiederum Verabsolutierung bedeutet, welche selbstredend Freiheit und Gleichheit einschränken. Das „Wagnis der Freiheit“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde) sorgt dafür, dass Dilemmata in diesem Bereich keinesfalls selten auftreten. Wenngleich Kelsen die Analogie von Staat und Gott thematisiert,88 ähnlich wie sein Kontrahent und zeitweiliger Kölner Kollege Carl Schmitt, steht er doch als Anhänger einer Ordnung, die transzendente Implikationen nicht anerkennt. Er ist persönlich eher sogar als atheistisch einzustufen denn als „religiös unmusikalisch“ im Sinne Webers. Es existiert für ihn auch kein Religionsersatz, etwa in einer absoluten

84 Vgl. Kelsen, 1963: 118, Anm. 45, der bis zur Antike zurückgeht und Heraklit und Platon als Autokraten sowohl in Philosophie als auch in der praktischen Politik herausstellt. 85 Vgl. dazu die Beiträge bei Krawietz, 1982. 86 Vgl. Kelsen, 1963: 103 f. 87 Dazu Dreier, 1986: 270. 88 Kelsen, 1968: 171 – 193.

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Vernunftnorm.89 Gerechtigkeit ist ebenfalls kein absolut zu fixierender Wert, wie er gegen Platon einwendet. Eine Norm kommt durch kontingente Prozesse zustande und wird unter Umständen derogiert. Sie könnte immer anders sein und verliert ihre inhaltliche Gestaltung vielleicht bald. Das Recht wird trivial und hypothetisch, wenn es metaphysische und religiöse Stützen verliert. Die Inhalte werden beliebig. Man ist an Webers „Kampf der Götter“ erinnert, der nicht zugunsten einer Seite endgültig entschieden werden kann. Nicht von ungefähr spricht man vom substanzlosen Wertrelativismus. Wer indessen neutral sein will, verzichtet notwendigerweise auf einen unveränderbaren Wesenskern. Es gibt keine Materie mehr, auf die sich das Recht absolut stützen könnte: auf keine Religion, auf kein Vernunftsubjekt, auf keinen Geist, auf keine immanenten Prinzipien wie eine bevorzugte Klasse oder Rasse. Nichts steht mehr als privilegiertes Subjekt oder Objekt zur Verfügung. Auch das Recht ist entzaubert. Diese rein immanente Traditionslinie wird später von Luhmann und Habermas weiterverfolgt und charakterisiert modernes Recht im Allgemeinen. Auf den Zusammenhang zwischen der reinen Rechtslehre einerseits und den formalen Werten der Freiheit und der Autonomie wird oft verwiesen.90 IV. Das Grundgesetz der Bundesrepublik – relativistisch oder antirelativistisch? Das Grundgesetz ist zu einer Zeit entstanden, als die These von der ewigen „Wiederkehr des Naturrechts“ Konjunktur hat und die juristischen Debatten nachhaltig beherrscht.91 Relativistische Vorstellungen sind zu dieser Zeit kleingeschrieben. Viele bringen sie damals mit dem Ende der Weimarer Republik in Verbindung, als die Mehrheit der Reichstagsabgeordneten die Weimarer Reichsverfassung bekämpft und schließlich de facto abschafft. Diese Phase dauert rund eineinhalb Jahrzehnte. Im Zuge allgemeiner Veränderungen des geistig-sozialen Klimas ist in der ersten Hälfte der 1960er Jahre eine vorsichtige Abkehr vom Naturrecht zu beobachten.92 Doch das Grundgesetz, das den naturrechtlichen Geist der 1940er und 1950er Jahre atmet, ist nach wie vor in Kraft. Bereits in der Frühzeit der Geschichte der Bundesrepublik werden einige kulturelle und zeithistorisch bedingte Hintergründe der Konstitution, die eine kopernikanische Wende gegenüber früheren Verfassungen bedeutet, kritisch analysiert.93 Das mit der Metapher „Ewigkeitsgarantie“ beschriebene Verbot, gerichtet an die Adresse des verfassungsändernden Gesetzgebers, auch mit etwaiger hoher parlamentarischer Mehrheit die in Art. 20 I-III GG genannten Staatsstrukturprinzipien ändern zu können, kann eine plausible Fundierung nur außerhalb einer relativis89

Vgl. die Hinweise bei Dreier, 1986: 283 – 294. Vgl. Dreier, 1986: 293. 91 Rommen, 1947. 92 Schelauske, 1968. 93 Vgl. zum zeitgeschichtlichen Hintergrund die – freilich mitunter einseitige – Studie von Ellwein: 1955/56; stellvertretend für andere primär auf dem Feld des Staatsrechts: Simon, 1962. 90

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tisch-rechtspositivistisch grundierten Ordnung finden. Einige Verfassungsjuristen in der Frühzeit der Bundesrepublik dürften dies wohl so gesehen haben. Außer scholastischen Rechtsinterpreten gehen nur wenige Juristen vor 1933 davon aus, dass zentrale Inhalte der Verfassung eines bestimmten Identitätsschutzes bedürfen,94 der auch dann gewährleistet sein muss, wenn eine bestimmte Mehrheit, die sich ursprünglich für diese Integrität eingesetzt hat, aufgrund von Rechts- und Wertewandel nicht mehr vorhanden ist. Demnach darf sich die Verfassung nicht selbst zur Disposition stellen. Es ist keineswegs plausibel, dass sich spätere Generationen an etwas gebunden fühlen, an dessen Zustandekommen sie gar nicht beteiligt gewesen sein können.95 Niemand bestreitet die Realität eines Werte- und Rechtswandels. Warum sollte er an bestimmten Passagen eines Verfassungswerkes vorbeigehen und an anderen nicht? Warum bedarf es der Kontinuität der Staatsstrukturprinzipien? Letztere ist heftig umstritten, als die Vereinigung der alten Bundesrepublik mit der DDR kein neues Grundgesetz hervorbringt, obwohl die politische Linke größtenteils eine neue Verfassung gemäß Art. 146 fordert. Stattdessen kommt es lediglich zu marginalen Veränderungen. Gegen ad hoc-Revisionen, etwa durch Volksabstimmungen, wird eingewendet, dass Verfassungen in starkem Maß auf bestimmten Rechtstraditionen beruhen, die sich langfristig entwickeln. Insofern ist die dauerhafte Achtung der Integrität gewisser Rechtsgrundsätze und deren juristische Festlegung keine Willkür, sondern lässt Ansatzpunkte in der Kulturtradition erkennen. Der juristische Versuch, bestimmte Verfassungsprinzipien als unaufhebbar zu fixieren und sie vor einem (oft nur kurzfristigen) Wandel der Mehrheiten zu schützen, also den relativistischen Mechanismus partiell außer Kraft zu setzen, hängt mit einer bestimmten Sichtweise kultureller Standards zusammen.96 Der Rechtsstaat, das Demokratieprinzip, der Föderalismus und andere Grundsätze sind nicht zufällig änderungsresistent, sondern entsprechen kulturellen Anstrengungen, hinter die die Rechts- und Kulturgemeinschaft nicht mehr zurückfallen will. Das soll ebenso für die Zukunft gelten. Klar ist, dass eine solche Fixierung nur auf der normativen Ebene möglich ist. Im Falle einschneidender, umwälzender Neuerungen, beispielsweise einer gewalttätigen Revolution, die nie hundertprozentig ausgeschlossen werden kann, sind Sicherungsmechanismen kaum möglich.

94 Ausnahmen sind die Staatsrechtslehrer Schmitt, 1928, 11 ff., 25 f., 112 f., Hermann Heller und Carl Bilfinger, die einen „Kern integrierender Bestandteile“ annehmen, der die Verfassung als einheitliches Ganzes prägt. 95 Bereits Thomas Jefferson macht sich Gedanken über solche Beschränkungen der Handlungsmöglichkeiten zukünftiger Generationen (vgl. Maunz/Dürig, 2014: 36). Auch heutige Verfassungsjuristen problematisieren die Bindung nachfolgender Generationen durch die verfassungsgebende Gewalt. Christian Tomuschat beispielsweise thematisiert den „Geburtsfehler“ von Ewigkeitsgarantien. Er lehnt es ab, wenn die verfassungsgebende Gewalt späteren Generationen ihren Willen auferlegt. Diese Meinung hat wiederum einige Gegenkritik hervorgebracht (vgl. die Einwände bei von Mangoldt/Klein/Starck, 2010: 2238). 96 Vgl. Kirchhof, 2004: 261 – 315, hier 269.

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So sehr der Schutz dieser identitätsstiftenden Grundnormen in der Staatsrechtslehre weithin unumstritten ist, darf eines nicht übersehen werden: Das Spannungsverhältnis zu einer bestimmten Sicht von Volkssouveränität, wie sie die Vertreter des Rechtspositivismus bevorzugen und bevorzugt haben, ist nicht zu leugnen. Die Kluft kann auch in der Gegenwart nur mit Hilfskonstruktionen überwunden werden, die häufig nicht ausschließlich juristischer Natur sind. Ein Teil der Interpreten greift auf Ernst Kantorowicz‘ Annahme der zwei Körper des Königs, den dauerhaftunsterblichen und den zeitlich-begrenzten, zurück, um diese Perspektive ins Säkulare zu wenden.97 Der französische Historiker Marcel Gauchet differenziert zwischen dem „ewigen“ Volk, das die unveränderlichen Garantien festlege und dem konkreten, das geschichtlich bedingt sei.98 Doch ein solcher Rekurs, egal ob in der Rechtswissenschaft oder der Historie, ist in den letzten Jahrzehnten eher selten. Angesichts der geistigen, jahrzehntelang stark säkularen Situation der Gegenwart stellt sich eine naheliegende Frage: Bedarf es im Hinblick auf das Thema Relativismus und Demokratie (wenigstens als Aufhänger) des Ausspruches des Oberhauptes einer Religionsgemeinschaft, der den Relativismus naturgemäß kritisch deutet? Mit Blick auf zahllose Kommentare des Grundgesetzes in den letzten Jahrzehnten ist das zu verneinen. Die „Ewigkeitsgarantie“ Art. 79 III GG und andere Abschnitte des Verfassungswerks werden zumeist rechtsimmanent-profan begründet, jedenfalls seit den frühen 1960er Jahren, seit das Wort von der „ewigen Wiederkehr des Rechtspositivismus“ vermehrt umgeht. Statt „Ewigkeit“ spricht man seither lieber von der Identitätsgarantie der einschlägigen Passagen.99 In den letzten Jahren zeichnet sich indessen von der geistigen Großwetterlage her ein einschneidender Wandlungsprozess ab. Gemeint ist weniger der oft substanzlose und demoskopisch schwer zu belegende Narrativ von der Wiederkehr der Religion, sondern vielmehr die steigende Präsenz von Mitgliedern einer ursprünglich weithin als fremd empfundenen Religionsgemeinschaft, des Islam. Dessen wachsende Bedeutung impliziert (analog zur Buchreligion des Christentums in seiner orthodoxkonservativen bzw. lehramtlichen Spielart) in allen Bereichen der Kultur eine tendenziell steigende Relevanz des Absoluten, weiterhin eine Aufwertung von Elementen der Wahrheit und Eindeutigkeit, etwa in der Beziehung der Geschlechter zueinander, mithin also einen antirelativistischen Grundzug jedenfalls in seinen Hauptströmungen.

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Kantorowicz, 1990. Gauchet, 1995. 99 Zur Problematisierung der Ewigkeitsgarantie vgl. Dreier, 2008: 102 – 111, der auf die Gefahren von Sakralisierungstendenzen im Hinblick auf die Interpretation der Unantastbarkeitsklausel verweist. Kritisch gegenüber weitergehenden Korrelationen von Christentum und Grundgesetz Graf, 2006; zum Problemkomplex von Christentum, modernem Recht und Säkularisierung vgl. Dilcher/Staff, 1984. 98

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Wie sich diese Entwicklung auswirkt, lässt sich höchstens in Umrissen erkennen. Die Bindung an die Herkunft ist zumindest in der ersten Generation der moslemischen Migranten noch vergleichsweise stark. Mit Recht spricht man vom Islam als einer „heißen Religion“ (Rüdiger Safranski), die bis in den staatlich-gesellschaftlichen Raum erhebliche Auswirkungen erkennen lässt, nicht zuletzt aufgrund des generativen Verhaltens.100 Manche behaupten, die Annäherung von Demokratie und Islam, die in zahlreichen Publikationen behandelt wird,101 sei derjenigen von „Demokratie und Kirche“ seit der Französischen Revolution,102 die im Zweiten Vatikanum ihre Vollendung und ihren Höhepunkt gefunden habe, vergleichbar. Derartige Entwicklungen gehen an der Rechtstheorie nicht spurlos vorbei. Selbstverständlich werden diese von Kennern der Materie registriert. Ernst-Wolfgang Böckenförde unterstreicht im Verlauf der letzten Jahrzehnte mehrmals, dass sein längst berühmter Satz über die Voraussetzungen des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats nicht allein im religiösen Kontext gedeutet werden dürfe. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der betreffende Aufsatz hauptsächlich das Verhältnis des religiösen zum weltlichen Gemeinwesen behandelt. Zumindest einmal jedoch – mehr indirekt als direkt – wendet sich der Urheber dieses Theorems gegen seine eigene Interpretation. In einem Vortrag zum vierzigsten Jahrestag der Veröffentlichung des nach ihm benannten Paradoxons im Jahre 2007 geht Böckenförde auch auf die stark kulturbedingten Grundlagen unserer Rechtsordnung ein. In diesem Kontext zieht er die Möglichkeit in Erwägung, die Einwanderung aus muslimischen Gebieten einzuschränken, falls die konstitutionellen Voraussetzungen dadurch nachweislich in Mitleidenschaft gezogen würden.103 Nach Ansicht von Fachleuten gehört zu den die Voraussetzungen der Demokratie gefährdenden Faktoren auch der antirelativistische Grundzug dieser Religion. Solche Einwände, die auch einige Gegner des früheren Papstes Benedikt XVI., etwa Alan Posener, gegen den ehemaligen Pontifex vorbringen, entsprechen derartigen Vorwürfen. Sie lauten (jedenfalls in ihrem Kern): Demokratie lebe vom Relativismus, und daher müsse diese Geisteshaltung hochgehalten werden. Es finden sich in den Schriften Ratzingers durchaus Hinweise, die mit dieser Aussage partiell übereinstimmen. V. Resümee So ist zusammenfassend festzustellen: Die vorliegende Arbeit setzt bei der Diagnose des Kurienkardinals Ratzinger von der „Diktatur des Relativismus“ ein – eine 100 Neben vielen Untersuchungen ist dieses Phänomen auch behandelt in dem Bestseller von Sarrazin, 2010. 101 Aus der Fülle der Literatur ist zu nennen: Cavuldak u. a., 2014; Schmidinger/Larise, 2008. 102 Das Standardwerk ist immer noch: Maier, 1988. 103 Böckenförde, 2007: 41, der vorsichtig ein mögliches „Naturrecht“ des säkularisierten Staates andeutet, das an den „antik-jüdisch-christlichen Kulturkreis im Reflexionshorizont der Aufklärung“ gebunden sei.

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dezidierte Kritik des postmodernen Lebensgefühls, dessen philosophische Vordenker und Repräsentanten von Nietzsche bis Foucault stets das „Ende der Wahrheit“ propagieren. Ein Blick in seine Schriften zeigt jedoch, dass es dem Kirchenführer keinesfalls nur um einen affektgeleiteten Schnellschuss geht. Er spielt in seinen Schriften mehrmals auf das Verhältnis von Relativismus und Demokratie an. Eine Untersuchung der Geistesgeschichte anhand markanter Beispiele belegt, dass bis ins relativ (auch weltanschaulich) vielfältige 19. Jahrhundert die meisten Demokratiekonzeptionen einen homogenistisch-antirelativistischen Grundzug erkennen lassen, pointiert jene von Rousseau. Mit dem Siegeszug des Rechtspositivismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts findet sich ein methodisches Instrumentarium, das das Einfallstor für pluralistisch-relativistische demokratietheoretische Entwürfe darstellt. Besonders sind rechtsphilosophisch geschulte Juristen wie Radbruch und Kelsen hervorzuheben. Ihnen gegenüber stehen naturrechtlich fundierte Abhandlungen104, die freilich im rechtsphilosophischen Diskurs weithin bedeutungslos sind. Erst die eminente Rechtspervertierung durch den Nationalsozialismus bringt für verhältnismäßig kurze Zeit die Suche nach einem dauerhaften, unwandelbaren Grund des Rechts. Ein Erbstück aus der Zeit der damaligen Diskussionen ist die konstitutionell vorgeschriebene Änderungsresistenz der zentralen, identitätsstiftenden Strukturprinzipien der Verfassung, vornehmlich Demokratieprinzip, Rechts- und Sozialstaatlichkeit, Föderalismus, später auch Europaoffenheit. Aus Sicht von Kritikern bedeuten solche „Ewigkeitsgarantien“ ein Stück Sakralisierung der Verfassung, mithin also die Perpetuierung antirelativistischer Rechtsauffassungen. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass relativistische wie antirelativistische Grundsätze im Grundgesetz verankert sind. Ohne einen gewissen Relativismus ist keine freiheitliche Verfassung denkbar. Der Gesetzgeber, aber auch die anderen Gewalten müssen in bestimmten Grenzen ihre mehrheitlich gefasste Auffassung wieder revidieren können, die nicht als absolut zu fixieren ist. Ohne Identitätsgarantie der substantiellen Teile der Verfassung, die unwandelbar sind, ist die Freiheit ebenfalls gefährdet. Die Frage ist stets: Wo liegen die Grenzen zwischen diesen Bestandteilen und jenen? Die Debatten darüber werden spannend bleiben.

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Max Weber und die demokratische „Umbildung des Charisma“ Von Cristiana Senigaglia Abstract The notion of charisma refers to extraordinary qualities and implies a deep renewal starting from the inside. Its appearance is therefore enlivening also in the sphere of politics. On the other hand, the fascination exerted by charisma is unstable and needs, in the long run, forms of institutionalization and procedures of legitimization. According to Weber, this originates a transformation of charismatic leadership gradually leading to democracy. However, if it is true that the influence of charisma can be positive for politics, it nevertheless bears the risk that too much power is provided to the leaders. Therefore, some fundamental additional conditions are for Weber indispensable in order to find a positive balance between charisma and an ordered, rational-legal democratic system.

I. Prämisse Unter den drei legitimen Formen der Herrschaft, die von Max Weber als reine Idealtypen der politischen Machtausübung betrachtet werden, ist die charismatisch fundierte diejenige, die am meisten Faszination und Aufmerksamkeit erregt. Das lässt sich mit aller Wahrscheinlichkeit darauf zurückführen, dass das Charisma emotionale und irrationale Kräfte in Bewegung setzt und dadurch die Politik klar von der Verwaltung scheidet, und dass es der rationalen Berechnung, welche die moderne Welt richtungweisend prägt, dezidiert entgegenwirkt. Besonders anziehend erscheint dabei die Tatsache, dass der Einfluss von ursprünglich magischen Kräften auch in der modernen Zeit eine so maßgebende Rolle in der Gestaltung des öffentlichen Lebens zu spielen vermag. Dies wird um so ersichtlicher, wenn nicht nur autoritäre oder totalitäre Systeme in Betracht gezogen werden, wo das Charisma des Herrschers eine entscheidende Funktion bei der Aufrechterhaltung des Regimes einnimmt, sondern auch demokratisch geprägte Systeme, in welchen charismatische politische Persönlichkeiten die außergewöhnliche Fähigkeit aufweisen, kaum mehrheitsfähige Programme durchzusetzen und dabei einen breiten Konsensus zu erzielen. Dass die demokratischen und parlamentarischen politischen Organisationen für das Charisma auch anfällig sind, ist aber für Weber keinem Zufall oder keiner Gelegenheitserscheinung zu verdanken. Denn Charisma zu besitzen ist ausgerechnet in der hochentwickelten technisierten Welt sehr gefragt und sogar sehnlich erwünscht. Damit wird versucht, der omnipräsenten, strikt auf Berechnung und Zweck-

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rationalität basierenden „maschinellen“ Organisation entgegenzutreten und dabei außergewöhnliche Kräfte aufzudecken, die einige begnadete Menschen von innen her ausstrahlen und von denen angenommen wird, dass sie positive Energie verbreiten können, insbesondere wenn dem Charismaträger Gehorsam und Folge geleistet werden. Hinzu kommt, dass für Weber die demokratisch-parlamentarische Regierung, wenn sie über klare und machtvolle Befugnisse verfügt, auf einer charismatischen Komponente beruht, die sich insbesondere in Wahlen bemerkbar macht. Weber zufolge stellen Wahlen und ähnliche Prozeduren eine umgeformte Legitimierung des Charisma dar, die sich der Beurteilung durch die Wähler bedient und dadurch eine Auslese der charismatischen, leitenden Persönlichkeiten erzielt. Es handelt sich um die von ihm so bezeichnete „Umbildung des Charisma“,1 an der deutlich wird, dass die demokratischen Systeme auch maßgebliche charismatische bzw. Charisma fördernde Komponenten in sich tragen und politisch wirksam einsetzen können. Gleichwohl bringt die Betrachtung des Charisma auch gewichtige Probleme und Unzulänglichkeiten ans Licht, welche aufzeigen, dass das Charisma allein auf lange Sicht keine vollständige und dauerhafte politische Lösung erbringen kann und Ergänzungen sowie Korrekturen benötigt, wenn es zur Aufrechterhaltung der Macht beitragen soll. Diese nötigen ergänzenden Aspekte werden von Weber, mehr oder weniger explizit in Verbindung mit dem Charisma, mehrmals eingehend thematisiert. Das Thema „Charisma“ bei Weber ist tiefgründig untersucht und auf totalitäre Systeme angewendet worden.2 Breuer hat seinerseits einige von Weber geschilderte Formen des Charisma ausgearbeitet und dabei gezeigt, dass mehrere soziopolitische Systeme und Organisationen dadurch zweckgemäß analysiert werden können. Jüngst ist die Bedeutung der Weberschen parlamentarischen Theorie und Prozedur durch die Studien Palonens hervorgehoben worden und darüber hinaus auf die Verbindungen zwischen Charisma, Parlamentarismus und Demokratie hingewiesen worden.3 Diese Verbindungen werden ebenso durch die Textlage bestätigt. Weber behandelt die charismatische Herrschaft bereits in der ersten Fassung von „Wirtschaft und Gesellschaft“, aber sein Interesse dafür wächst insbesondere 1917 infolge der Debatte über die Wahlrechts-, Parlaments- und Verfassungsreform, und die Behandlung des Charisma wird dementsprechend weiter vertieft. In den politischen Schriften jener Jahre (und insbesondere in „Parlament und Regierung“) wird der Begriff nicht ausdrücklich verwendet, eine sinnverwandte Begrifflichkeit („Führerqualitäten“, „plebiszitäre Demokratie“ etc.) kann aber belegt werden, und die Verbindung zwischen ihnen wird auch durch eine Notiz Ferdinand Tönnies’ bestätigt.4 Schließlich wird in „Politik als Beruf“ auch ein politischer Gebrauch des Charisma in Erwägung gezo1 Vgl. Weber, 2005: 739; ders., 2009: 100; dass Weber, 2005: 481 ff., dagegen ein Kapitel so betitelt habe, ist nicht direkt nachweisbar. 2 Vgl. Mommsen, 2004; Baehr, 2008. 3 Egger, 2006; Palonen, 2002; Schwaabe, 2002. 4 Weber, 1984: 707

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gen, der allerdings mit dem Beruf des Politikers und seiner Verantwortung in Verbindung zu setzen ist. Ein Beitrag zur Analyse der dem Charisma zuzuschreibenden Funktion in modernen Demokratien kann geleistet werden, indem diese ergänzenden Elemente rekonstruiert und in Beziehung zur Umbildung des Charisma gebracht werden. Daher werden hier zuerst die grundlegenden Merkmale und Charakteristika des Charisma geschildert, seine Defizite untersucht und die Wurzeln sowie die Gründe seiner demokratischen Umbildung hervorgehoben. Anschließend werden die unterschiedlichen Elemente analysiert, die dazu beitragen, das Charisma und seine Effekte zu stabilisieren und zugleich in einen Ordnungsrahmen (Prozeduren sowie Institutionen) einzubinden, damit das Charisma als schöpferische und belebende, der Politik innewohnende Kraft zur Geltung kommt, ohne autokratische Ausschweifungen hervorzurufen. Demnach wird die These aufgestellt, dass das Charisma als positive und notwendige Komponente der Demokratie gilt, vorausgesetzt, dass gewisse Rahmen zugleich gesichert werden, und dass Weber die Fundamente dieser Ordnung in Umrissen dargestellt hat. II. Die Bedeutung des Charisma „Charisma“ wird von Weber auf „mana“, d. h. auf den Besitz magischer, übernatürlicher oder übermenschlicher und daher außeralltäglicher Kräfte zurückgeführt.5 Charisma kennzeichnet eine Konvergenz von religiösen und magischen Qualitäten, die einem Propheten bzw. einem Magier zugeschrieben werden, deren außerordentliche Fähigkeiten hervortreten lassen und ihren Anspruch auf Führerschaft rechtfertigen. Sie begründen: „die Autorität der außeralltäglichen persönlichen Gnadengabe (Charisma): die ganz persönliche Hingabe und das persönliche Vertrauen zu Offenbarungen, Heldentum oder anderen Führereigenschaften eines einzelnen: ,charismatische‘ Herrschaft, wie sie der Prophet oder – auf dem Gebiet des Politischen – der gekorene Kriegsfürst oder der plebiszitäre Herrscher, der große Demagoge und politische Parteiführer ausüben.“6

Das Charisma bezeichnet ursprünglich die einer einzelnen Persönlichkeit zukommenden besonderen Qualitäten und Fähigkeiten. Es ist daher nicht direkt übertragbar, vererbbar oder erlernbar. Auf Grund seiner Außergewöhnlichkeit erhebt der Besitzer eines durch Charisma begründeten Sonderstatus Anspruch auf Anerkennung in Form von Pflichterfüllung: Die Anhänger sind dazu aufgerufen, die außeralltägliche Gabe des Charismaträgers anzuerkennen, ihm Vertrauen zu schenken und Gehorsam entgegenzubringen. Die Bindung zwischen Charismaträger und Gefolgschaft ist im Grunde genommen irrational und stark emotional geprägt, aber nicht unbedingt stabil und unerschütterlich. Der Charismaträger ist zwar dank seiner besonderen Aus5 6

Für eine ausführliche Rekonstruktion der Herkunft des Begriffs siehe Breuer, 2011: 25 ff. Weber, 1992: 160.

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strahlung und seiner Fähigkeit, Faszination bei den anderen hervorzurufen, spontan und in der Form einer expliziten oder impliziten Akklamation mit einer besonderen, führenden Rolle bedacht worden, muss jedoch die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen, um seine Sonderrolle weiter rechtfertigen zu können. Bewährt er sich nicht, so Weber dazu, so ergibt sich die konkrete Möglichkeit, dass der charismatische Herrscher abgesetzt wird und dass sich seine Autorität in Nichts auflöst.7 In der Tat ist die auf Charisma basierende Herrschaft nur auf sich selbst und ihre außergewöhnlichen Kräfte angewiesen und ansonsten ist sie in ihrer reinen Erscheinung durch die Abwesenheit von Organisationsstrukturen und Institutionen charakterisiert, welche die anderen Formen von Herrschaft befestigen und unterstützen. In ihrem engsten Sinn ist charismatische Herrschaft nämlich: (1) nicht bürokratisch organisiert, denn sie besteht auf keiner rationalen Ein- und Verteilung von Kompetenzen und wird in erster Linie nicht durch Fachleute geleitet oder verwaltet. Die Verteilung von Funktionen und Aufgaben wird prinzipiell vom charismatischen Herrscher durchgeführt und orientiert sich an Beziehungen persönlichen Charakters auf Grund von Gehorsam und Vertrauen. Die Erkorenen sind aufgrund ihrer vertrauensvollen Gefolgschaft und nicht um ihres technischen Könnens willen ausgewählt. Gleicherweise ist ihre Sonderstellung nur durch die Fortdauer ihres Vertrauensverhältnisses zum Herrscher und nicht durch eine feste Anstellung und Besoldung gesichert; (2) regel- und gesetzesunabhängig oder sogar die Ordnung umstoßend, denn sie beruht auf der Prämisse: „Es steht geschrieben, – ich aber sage euch“.8 Die Grundidee ist, dass charismatische Macht eine höhere Durchsetzungskraft als das geltende System aufweist, so dass sie über die Kraft verfügt, neue Prinzipien aufzustellen und überkommene umzustoßen. In dieser Hinsicht ist die charismatische Herrschaft umwertend sowie erneuernd und ihre Außeralltäglichkeit äußert sich konkret im Vermögen, sich über Gesetze hinwegzusetzen und neue Verhaltensweisen zu begründen; (3) „wirtschaftsfremd“, indem sie eben unregelmäßige Verhältnisse und persönliche Beziehungen schafft, die nicht auf Berechnung basieren und sich nicht direkt auf ein Kalkül reduzieren lassen.9 Außerdem sind ihre Außeralltäglichkeit und ihre prinzipielle Eigenschaft, Regeln und Gesetzen nicht ausnahmslos zu folgen, dafür verantwortlich, dass die ökonomischen Transaktionen nicht durch allenthalben anerkannte und respektierte Normen untermauert sind. Dies gestaltet die ökonomischen Operationen und Geschäfte risikovoller und verhindert die Entfaltung eines formal-rationalen und berechenbaren wirtschaftlichen Systems. Die Faszination durch das Charisma resultiert aus einer Art von Versprechen, das in der Zukunft eingelöst werden soll und eine Distanzierung von den gewohnten, ein-

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Weber, 2013: 492. Weber, 2013: 494. 9 Weber, 2013: 495. 8

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geübten Verhältnissen sowie eine tiefgründige Erneuerung beinhaltet.10 Die Aspekte der Umwandlung und der Erneuerung spielen eine wesentliche Rolle bei der Anerkennung des Charisma, da dem Charismaträger die Fähigkeit attribuiert wird, die bestehenden Bedingungen völlig zu verändern. Von diesem Standpunkt aus stellt die charismatische Herrschaft den exakten Gegenpol zur traditionellen Legitimität und Machtausübung dar.11 Während die traditionelle Gewalt sich auf das Versprechen beruft, die Ordnung unverändert aufrechtzuerhalten, steht das Vertrauen in die charismatische Persönlichkeit für die Überzeugung, dass sich durch die Intervention ihrer außergewöhnlichen übernatürlichen Kräfte in der Zukunft eine ganz neue und vielversprechendere Lage ergeben wird. Dies erklärt auch die Tatsache, warum sich Menschen insbesondere in Krisensituationen und in schwierigen Zeiten an charismatische Persönlichkeiten wenden.12 Die emotionale Komponente der charismatischen Bindung wird darüber hinaus weiter dadurch verstärkt, dass die angekündigte grundsätzliche Veränderung eine tiefgehende, von innen heraus erfolgende Umwandlung bedeutet. Angesichts dessen unterscheidet sich die charismatische Umwandlung von der Art von Transformationen, die durch Rationalisierung (Formalisierung, Berechnung und Technisierung) der Wirklichkeit zu Stande gebracht werden. Diese werden von außen herbeigeführt:13 Sie betreffen die äußere Lage der Menschen bzw. die strukturelle Organisation der Gesellschaft und bewirken nur indirekt und zeitverschoben Veränderungen in der Denkweise. Die Stärke des Charisma liegt dagegen darin, dass die Personen, die sich ihm hingeben, eine tiefgründige Umwandlung ihres inneren Wesens erfahren, die mit einer Form der Begeisterung und des emotionalen Elans sowie instinktiver Zuversicht einhergeht. Die Ausübung der Macht ist dann für die charismatische Persönlichkeit kein Mittel zum Zweck, sondern die unausbleibliche Konsequenz der durch das Charisma entfesselten Kräfte. Da die Fähigkeit zur Veränderung sowie zum Außerkraftsetzen der traditionell (oder rational) geltenden Regeln nur dem charismatischen Herrn zugesprochen wird, lässt sich Gehorsam spontan erzeugen und wird als Form „natürlicher“ und ungezwungener Unterwerfung (zumindest von der Anhängerschaft) erfahren. Deswegen muss der Charismaträger seine Besonderheit fortwährend bestätigen, sonst wird er von seiner Anhängerschaft früher oder später verlassen. „Der Bestand der charismatischen Autorität ist ihrem Wesen entsprechend spezifisch labil: Der Träger kann das Charisma einbüßen, […] sich seinen Anhängern als ,seiner Kraft beraubt‘ erweisen: dann ist seine Sendung erloschen, und die Hoffnung erwartet und sucht einen neuen Träger. Ihn aber verläßt seine Anhängerschaft, denn das reine Charisma kennt noch keine andere ,Legitimität‘ als die aus eigener, stets neu bewährter Kraft folgende. 10

Vgl. Tuccari, 1991: 75. Vgl. Weber, 2013: 497. 12 Dies gilt auch für moderne Staaten und erklärt die Bedeutung des Charisma in Krisenzeiten auch innerhalb legal organisierter Systeme, vgl. Anter, 1995: 74. 13 Weber, 2005: 482. 11

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Der charismatische Herr leitet seine Autorität nicht wie eine amtliche ,Kompetenz‘ aus Ordnungen und Satzungen und nicht wie die patrimoniale Gewalt aus hergebrachtem Brauch oder feudalem Treueversprechen ab, sondern er gewinnt und behält sie nur durch Bewährung seiner Kräfte im Leben. Er muß Wunder tun, wenn er ein Prophet, Heldentaten, wenn er ein Kriegsführer sein will. Vor allem aber muß sich seine göttliche Sendung dann ,bewähren‘, daß es denen, die sich ihm gläubig hingeben, wohlergeht. Wenn nicht, so ist er offenbar nicht der von den Göttern gesendete Herr.“14

In dieser Perspektive ist die Machtausübung des Charismaträgers sogar erwünscht und für sein Schicksal ausschlaggebend: Er ist dazu bestimmt, Macht auszuüben und seine außerordentlichen Kräfte ununterbrochen unter Beweis zu stellen. Daraus erhellt, warum die charismatische Herrschaft dazu berufen ist, sich ständig Machtproben zu unterziehen und darüber hinaus den kontinuierlichen Beweis ihrer Stärke und ihres Glanzes zu liefern. Wegen der magischen Komponente ihrer Wesensart könnte es vielleicht zuerst merkwürdig erscheinen, dass der charismatischen Herrschaft auch in fortentwickelten, rationalisierten und wissenschaftsorientierten Gesellschaften maßgebliche Erfolgschancen beigemessen werden können. Dies ist aber m. E. dem ersten Eindruck entgegen eine schlüssige, erklärbare Konsequenz der überhand nehmenden Rationalisierung und der damit verbundenen Entzauberung der Welt. Während in einer von Tradition und Gewohnheit geprägten Gesellschaft die Durchsetzung einer rationalen Ordnung eine starke Anziehungskraft und Faszination ausübt, insbesondere wenn sie von neu aufsteigenden Gesellschaftsschichten vorangetrieben wird, nimmt in einem bereits streng geregelten, formalisierten System ihre Akzeptanz massiv ab, da hier hauptsächlich nach etwas Alternativem gegenüber der vernünftigen, zweckdienlichen Organisation gesucht wird. Infolgedessen ist die Verbindung zwischen primitiven Kräften und moderner Zivilisation nicht sinnwidrig, sondern überaus verständlich und erklärbar. In frühen Zeiten war das Charisma als magische Ressource vorhanden, die die feindlichen oder zumindest schwer kontrollierbaren natürlichen Kräfte bändigen sollte und somit ihre Überlegenheit beweisen konnte. In den fortentwickelten Gesellschaften übernimmt das Charisma die Funktion einer Form von „Vergeltung“ gegenüber den rationalisierten und rationalisierenden Mechanismen, die nicht immer einwandfrei nach Wunsch operieren und außerdem den Menschen eine von außen her durchgesetzte Ordnung auferlegen. Das Charisma zeigt durch die erfolgreiche Ausübung der Macht eine magische Potenzierung von Subjektivität, die rational weder begründbar noch erklärlich ist und gerade deswegen eine Faszination ausstrahlt.15 Dadurch wird ein Weg angedeutet, dem rationalisierten und selbstoptimierenden System zu entgehen und ihm durch eine von innen her geleitete Umwandlung nachdrücklich entgegenzuwirken.

14 15

Weber, 2005: 466. Vgl. Schwaabe, 2002: 206.

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III. Die internen Schwachstellen des Charisma Nichtsdestoweniger bewirkt die moderne Zeit eine wesentliche Veränderung der charismatischen Herrschaft, denn diese existiert nur im Anfangsstadium in ihrer ursprünglichen Form, während ihr Fortbestehen eine unaufhörliche Tendenz zur Normalisierung bzw. zur „Veralltäglichung“, wie Weber sie nennt, aufweist.16 Diese Tendenz wird intern generiert und äußert sich durch verschiedene miteinander korrelierende Phänomene. 1. Die Tendenz zur Institutionalisierung Die moderne Welt drängt zur Organisation und dies verursacht eine interne Tendenz zur Institutionalisierung, die sich auch innerhalb ursprünglich charismatischer Systeme allmählich verbreitet und durchsetzt: „in ungebrochener Macht, Einheitlichkeit und Stärke wirkt sich sowohl der Glaube des Trägers selbst und seiner Jünger an sein Charisma, – sei dies nun prophetischen oder welchen Inhalts sonst – wie die gläubige Hingabe derjenigen, an welche er sich gesendet fühlt, an ihn und seine Sendung regelmäßig nur in statu nascendi aus. Flutet die Bewegung, welche eine charismatisch geleitete Gruppe aus dem Umlauf des Alltags heraushob, in die Bahnen des Alltags zurück, so wird zum mindesten die reine Herrschaft des Charisma regelmäßig gebrochen, ins ,Institutionelle‘ transponiert und umgebogen, und dann entweder geradezu mechanisiert oder unvermerkt durch ganz andere Strukturprinzipien zurückgedrängt oder mit ihnen in den mannigfachen Formen verschmolzen und verquickt […].“17

Die Institutionalisierung, mit ihrer Verteilung und Unterteilung von Aufgaben und Kompetenzen, lässt den Druck zur Organisation und ihrer Rationalisierung unbemerkt einfließen, der allmählich die charismatische Verzauberung verdrängt. Die Institutionalisierung wirkt charismafeindlich in der Hinsicht, dass sie nach dauerhaften Kompetenzen und technischen Fähigkeiten verlangt, die sich nicht durch charismatische Kräfte und persönliche Vertrauensbeziehungen abdecken lassen. Darüber hinaus verlangt die Institutionalisierung eine Festsetzung und Reglementierung der Prozeduren, die das Außeralltägliche allmählich verdrängen und durch geregelte und daher legalisierte bzw. „traditionalisierte“ Verfahren ersetzen. Kaum hat sich diese Tendenz in die alltägliche Organisation eingeschlichen, wird der Raum für die charismatischen Kraftäußerungen wesentlich eingeengt, so dass fachliche Spezialisierungen fortschreitend die Oberhand gewinnen. 2. Die Zuverlässigkeitsforderung Neben einem systemintern wirkenden charismafeindlichen Faktor wird aber auch von mehreren Subjekten und Sphären der Gesellschaft die Forderung nach geregel16 17

Weber, 2013: 497. Weber, 2005: 489.

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teren Verfahren und berechenbareren rechtlichen Instanzen erhoben.18 Die Bewältigung der gesellschaftlichen Aufgaben nach ausschließlich außerordentlichen und persönlich geprägten Prinzipien schadet sowohl dem Sicherheitsgefühl der Individuen als auch der Implementierung ihrer Tätigkeiten. Um das Sicherheitsgefühl wiederherzustellen, brauchen die Individuen die Gewissheit, dass einige Regeln und Gesetze im Allgemeinen gelten und das ihre Befolgung vor Rechtsverstößen bewahrt.19 Die Unsicherheit hinsichtlich der Regeln des allgemeinen Zusammenlebens wirkt auf die Dauer lähmend und beeinträchtigend. Vielen Tätigkeiten wird nicht nachgegangen, da die Angst herrscht, sich mit dem Herrscher und seinen Verbündeten zu verfeinden. Insbesondere die Wirtschaft zeigt sich laut Weber besonders empfindlich gegenüber den Risiken eines unsicheren rechtlichen Rahmens20 bzw. der Möglichkeit, rechtliche Prinzipien im Namen der charismatischen Autorität umzustoßen. Geschäfte und andere private Tätigkeiten werden nicht nur durch Angst, sondern auch infolge einer allgemeinen Ungewissheit über die richtige Handlungsweise erschwert, da es an fest etablierten Regeln mangelt, die das Handeln berechenbar und voraussehbar machen würden. Was insbesondere kritisiert wird, ist der mangelnde Zugang zu öffentlichen Instanzen und Autoritäten, die im Streitfall zur Vermittlung oder Entscheidung angerufen werden können. Wo die charismatische Herrschaft das endgültige Sagen hat, ist die Verbindung zur Öffentlichkeit ungewiss und wird ausdrücklich vermieden, was aber zunehmend zu Forderungen nach einer stabileren, allgemeingültigen Gesetzgebung und sich daran orientierenden Behörden führt. 3. Die Nachfolgerfrage Da das Charisma als persönliche Qualität seinem Träger anhaftet und nicht einfach übertragbar ist, stellt sich bei stabilen Machtverhältnissen irgendwann die Frage der Neubesetzung.21 Um das Problem zu lösen, treten zwei unterschiedliche, sich ergänzende Prozessabläufe in Erscheinung. Auf der einen Seite wird versucht, das Charisma auf das Amt zu übertragen, was nach Webers Definition eine Versachlichung des Charisma hervorruft.22 Die leitende Idee besteht darin, dass durch die erfolgreiche persönliche Besetzung die Funktion oder das Amt selbst mit der Zeit an Bedeutung gewinnen. Das Amtscharisma bedeutet aber zugleich, dass die Nachfolger weniger infolge ihrer außergewöhnlichen Qualitäten und mehr wegen ihrer für das Amt objektiv erforderlichen Eigenschaften ausgewählt werden. Zugleich wird ebenso ver18

Weber, 2005: 490 f. Dies charakterisiert sowohl den Gründungsprozess des Staates als auch die Tendenz zur Rationalisierung des Rechts und zum Übergang zur legalen Herrschaft im modernen Staat, vgl. Weber, 2011: 204 – 217. 20 Vgl. Weber, 2010: 191 ff. 21 Weber, 2005: 492 ff. 22 Wie Breuer, 1994: 59 ff., hervorgehoben hat, handelt es sich hier um das „Charisma der Vernunft“, das eine Entwicklung im Bereich der charismatischen Herrschaft kennzeichnet und Formen der Rationalisierung einleitet. 19

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sucht, durch Erziehung charismatische Persönlichkeiten auszubilden (Weber gibt hier das Beispiel des Priestertums) und sie als würdige Nachfolger zu präsentieren.23 Beides ist aber unvermeidlich mit einer Eindämmung der charismatischen Herrschaft verbunden, da hierfür Regeln aufgestellt werden müssen. Im ersten Fall handelt es sich um eine Stabilisierung des Amtes als solchem, da dem Amt eine wesentliche Funktion zugeschrieben wird und eine Anzahl von Bedingungen zum Zweck seiner angemessenen Besetzung erfüllt werden müssen. Im zweiten Fall werden allmählich Prozeduren und Erziehungsabläufe entwickelt, die darauf abzielen, charismatische Persönlichkeiten auszubilden und den Anforderungen gemäß einzustellen. Diese komplementären Prozesse benötigen, wenn sie sich als erfolgreich erweisen sollen, eine Verflechtung von charismatischen und legal-rationalen Komponenten, die zugleich eine stabilere Form der Anerkennung von Seiten der Beteiligten erforderlich macht. IV. Umdeutung des Charisma und Demokratie Die Schwachstellen des Charisma sowie der charismatischen Herrschaft liegen in den mangelhaften rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen.24 Dadurch wird die Zuschreibung willkürlicher Machtbefugnisse ermöglicht, die vom charismatischen Herrn nach Belieben beansprucht werden können. Dies verursacht die Labilität des ganzen Systems, das insbesondere bei konstanten Verhältnissen seine Unzulänglichkeit offenbart. Eine weitere Ungereimtheit der charismatischen Herrschaft ergibt sich daraus, dass die Anerkennung von Seiten der Beherrschten zwar auf subjektivem Glauben basiert, ihnen jedoch als Pflicht und unerlässliche Vorleistung abverlangt wird. Um diese Unstimmigkeiten zu beheben, ist eine Umformung der charismatischen Herrschaft erforderlich, die ihr mehr Stabilität, legale Verhältnisse und aktiven Konsensus verschafft. Diese Veränderung wird von Weber als „Umbildung des Charisma“ gekennzeichnet: „Das Recht beruht bei ursprüngl[ich] charismatischer Herrschaft auf Rechtsschöpfung (autor[itärer]) des Herrn. Das gesetzte Recht kann angefochten werden. {Das bedeutet eine Anfechtung der charismatischen Qualität des Rechtssetzenden.}[…] Umbildung: An Stelle der Setzung von oben tritt Rechtssatzung von unten durch Rechtsgemeinschaft.“25

Im engeren Sinne geschieht diese Umbildung durch fortschreitendes Einfließen in eine Demokratie, wo die ursprüngliche Akklamation, die als unmittelbarer Anerkennungs- und Legitimationsakt galt, in ein geregeltes Verfahren, wodurch die Beherrschten auch von Zeit zu Zeit eine Stimme (und zwar die entscheidende) haben, umgewandelt wird: „Die Akklamation der Beherrschten kann sich aber umgekehrt zu einem regulären ,Wahlverfahren‘ entwickeln, mit einem durch Regeln normierten ,Wahlrecht‘, direkten oder indirekten, ,Bezirks‘- oder ,Proportionalwah23

Weber, 2005: 502. Weber, 2013: 503. 25 Weber, 2009: 100. 24

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len‘, ,Wahlklassen‘ und ,Wahlkreisen‘.“26 Die Vorteile einer charismatischen Herrschaft, die durch Wahlen dem Urteil und der Entscheidung der Bürger unterstellt wird, sind m. E. schnell ersichtlich: Die charismatische Herrschaft wird so einer Kontrolle von unten und daher, wenn das allgemeine und gleiche Wahlrecht dann angewendet wird, einer tatsächlich demokratischen Instanz unterstellt, so dass ein aktiver und dauerhafter Konsensus benötigt wird, um weiter Macht ausüben zu können. Dies impliziert eine strukturelle Organisation und Reglementierung der Verfahren, die rechtliche und legale, durch Gesetz festgelegte Normen einführt und etabliert. Darüber hinaus wird auch das Problem der Nachfolge zumindest prozedural gelöst, da eine feste Verfahrensweise für die Auswahl neuer charismatischer Persönlichkeiten festgelegt sowie etabliert wird. Hinzu kommt, dass ein Wahlverfahren dem Amt selbst einen höheren Wert verschafft, was auch wesentlich dazu beiträgt, dass das oder die zu verteilenden Ämter an Anerkennung und Charisma gewinnen. Mit besonderer Rücksicht auf die Auswahl von Repräsentanten hebt Weber hervor, wie die Wahl selbst eine Aufwertung des Amts unmittelbar mit sich bringe.27 Jede Wahl hat also für Weber (zumindest teilweise) eine das Charisma selektierende Funktion und ermöglicht das Küren von Machtinhabern und -ausübenden nach ihren charismatischen Eigenschaften.28 Damit die Wahl die demokratische Umbildung des Charisma tatsächlich vollzieht, soll es sich dennoch um eine effektive Entscheidung handeln, die Alternativen vorsieht. In dieser Hinsicht unterscheidet Weber zwischen Plebiszit und Wahl und erläutert, dass das Plebiszit eigentlich keine echte Wahl darstelle, da es hier tatsächlich nur um die formale Bestätigung des (bzw. der) Machthabenden gehe.29 Bei den Wahlen besteht aber laut Weber ein weiteres Risiko, und zwar, dass die Bedeutung von charismatischen Persönlichkeiten schwindet bzw. aufgehoben wird, wenn sich eine Form des imperativen Mandates durchsetzt und den Ausgewählten nur eine passive Rolle der Vertretung zuerkannt wird. Damit in den demokratischen Systemen die charismatische Komponente in ihrer ursprünglichen und wesentlichen Bedeutung erhalten bleibt, soll man den Volksvertreter zwar dem Auswahlverfahren und seinen Regeln unterziehen, ihn aber dann „nicht als Diener, sondern als gekürten ,Herrn‘ seiner Wähler“30 behandeln. Dem Gedankengang Webers zufolge wird die charismatische Komponente bei der demokratischen Umbildung nur aufrechterhalten, wenn dem Ausgewählten dann die effektive und konkrete Möglichkeit geboten wird, Macht auszuüben und ungehindert gewichtige Entscheidungen zu treffen sowie dafür Verantwortung zu übernehmen. 26

Weber, 2005: 501. Weber, 2005: 501 ff. 28 Wie Tuccari, 1991: 92, hervorgehoben hat, tritt durch die Wahlen eine Umwandlung des Charisma in antiautoritärem Sinne ein, die eine demokratische Legitimierung der charismatischen Herrschaft ermöglicht. 29 Weber, 2005: 514. 30 Weber, 2005: 502. 27

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Zur demokratischen Umbildung des Charisma gehören des weiteren ein plebiszitärer sowie ein cäsaristischer Aspekt, die in das Wahlverfahren eingebettet sind. Der plebiszitäre Aspekt besteht darin, dass die Volksvertreter durch allgemeine Wahlen ausgekoren werden und daher als Repräsentanten des Volks und nicht als instruierte Beauftragte gelten. Das cäsaristische Moment realisiert sich dadurch, dass die Volksvertreter gewisse Entscheidungen zu treffen und im Allgemeinen ihre politischen Programme durchzusetzen gedenken, so dass sie einmal gewählt auch ihre Unabhängigkeit und ihre Durchsetzungsfähigkeit unter Beweis stellen können. Dies gilt nach Weber besonders für leitende Politiker (Premiers, Parteileiter, Staatspräsidenten), ist aber im Allgemeinen bei Berufspolitikern zu erwarten, auch wenn zugleich eine gewisse Partei- und Regierungsdisziplin herrschen soll, damit es überhaupt möglich sei, konkrete Politik zu betreiben.31 Die Umbildung des Charisma bringt es mit sich, dass gewisse Prozeduren sich verfestigen und eine Laufbahn für Berufspolitiker ermöglicht wird, wodurch sie ihre charismatischen Qualitäten nicht nur zeigen, sondern sie auch entwickeln und entfalten können. Dazu ist es notwendig, dass den Politikern effektive Chancen zur Verfügung stehen, sich politisch auszubilden, Politik aktiv zu betreiben und substantielle Entscheidungen zu treffen. Dies kann nach Webers Ansicht nur durch ein Parlament geleistet werden, das die effektive Möglichkeit bietet, die notwendigen Kenntnisse und Informationen zu erwerben, durch Reden und Debatten mit anderen Positionen friedlich in Konkurrenz zu treten und dabei die charismatischen Qualitäten der Rhetorik und der Führungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. „Es sind dann die Leute mit großem politischen Machtinstinkt und mit den ausgeprägtesten politischen Führerqualitäten, welche ihn [= den Machtkampf, C.S.] durchfechten und welche also die Chance haben, in die leitenden Stellungen zu kommen. Denn die Existenz der Partei im Lande und alle die zahllosen ideellen und zum Teil sehr materiellen Interessen, welche damit verknüpft sind, erheischen dann gebieterisch, daß eine mit Führereigenschaften ausgestattete Persönlichkeit an die Spitze kommt. Es besteht dann, und nur dann, der Anreiz für die politischen Temperamente und politischen Begabungen, sich der Auslese dieses Konkurrenzkampfes zu unterziehen.“32

Die Machstellung des Parlaments wird somit zum unentbehrlichen Muss, um leitende politische Persönlichkeiten hervorzubringen.33 Dann stellt sich aber auch die Frage, ob die demokratisch umgeformte charismatische Herrschaft den führenden Politikern zu viel Macht verleihen kann. An diversen Stellen konfrontiert Weber sich ebenso mit dieser Problematik und stellt einige wichtige Bedingungen auf, damit die charismatische Form der Demokratie nicht ausartet und die Grenzen der Legalität überschreitet. Sie zu rekonstruieren und zu artikulieren, stellt eine notwendige Ergänzung dar, da dies gestattet, eine Umbildung der charismatischen Herr31 In dieser Hinsicht ist es möglich, von einer cäsaristischen Variante des Parlamentarismus zu sprechen, vgl. Baehr, 2008: 68 ff. 32 Weber, 1984: 474. 33 Vgl. Mommsen, 2004: 187.

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schaft einzuleiten, die sich demokratisch gestaltet und einen geregelten politischen Ablauf für die Machtverleihung und -ausübung garantieren soll. V. Die objektive Bedingung: der Pluralismus Damit sich die charismatische Herrschaft nicht in eine Diktatur verwandelt, müssen die Voraussetzungen für eine prinzipiell pluralistische Auslese von charismatischen Kräften erfüllt sein. Dass die außergewöhnlichen und außeralltäglichen charismatischen Eigenschaften nicht unbedingt in eine einzige Person einfließen müssen, ist eigentlich kein Widerspruch. Im Gegenteil, da das Charisma von einer konstitutiven Instabilität und Labilität geprägt ist und die interne Tendenz aufweist, sich zu veralltäglichen, und bei Misserfolgen und Rückschlägen schnell den Begnadeten verlassen kann, ist es nahe liegend, dass sich das Charisma immer in neuen Formen und Personen realisieren kann und daher schöpferisch und vielfältig in seinen Erscheinungen ist. Auch die dem Charisma typischerweise innewohnenden Schwächen sowie die diese ausgleichenden Gegenmaßnahmen deuten darauf hin, dass der Pluralismus mit dem Charisma gut auskommen kann, auch wenn es nicht immer einfach wird, das Charisma zu generieren oder anzuerziehen. Das Problem der Nachfolge und die entgegenwirkende Tendenz, eine Versachlichung des Charisma herbeizuführen und es mit einem Amt eher als mit einer bestimmten Persönlichkeit zu verbinden, führt zwangsweise zu einem System, das eine Pluralität von (zumindest potentiell) auftretenden charismatischen Persönlichkeiten vorsieht und ausdrücklich begünstigt.34 Die Umbildung des Charisma mit dem demokratisch-parlamentarischen System und die Auslese durch Wahlen bieten mehrere Möglichkeiten zur Ausbildung und Behauptung von charismatischen Persönlichkeiten. Dies hängt zuerst damit zusammen, dass mehrere Ämter und Funktionen institutionalisiert werden, die eine charismatische Besetzung erfordern und honorieren. Darüber hinaus sorgen die Tatsachen, dass sich mehrere Parteien organisieren und dass die Wahl generell eine Mehrheit und eine Opposition erbringt, dafür, dass sich mehrere Parteileiter und Kandidaten hervortun und die Gelegenheit haben, ihre charismatischen Qualitäten unter Beweis zu stellen. Dies bedeutet natürlich nicht, dass alle wesentlichen öffentlichen Funktionen sowie politischen leitenden Rollen charismatisch besetzt werden, bietet jedoch dafür die Möglichkeit, dass mehrere charismatische Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Funktionen zur gleichen Zeit auf das öffentliche politische Leben Einfluss nehmen können. In Anbetracht des politischen Wettbewerbs bedeutet außerdem die Kombination von Pluralismus mit Demokratie und Parlamentarismus für Weber nicht einfach die Vertretung durch mehrere Instanzen und Positionen, sondern eine friedliche, institutionalisierte Form der Konkurrenz und des Kampfes um die Erringung der politi34

Weber, 2013: 502, spricht diesbezüglich vom Amtscharisma.

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schen Macht, die auch den politischen Organisationen und Parteien interne Disziplin abverlangt. „Einerseits eröffnet die Parlamentslaufbahn dem politischen Ehrgeiz und dem Macht- und Verantwortungswillen die reichsten Chancen, und anderseits sind die Parteien infolge des ,cäsaristischen‘ Zugs der Massendemokratie gezwungen, sich wirklichen politischen Temperamenten und Begabungen als Führern zu fügen, sobald diese sich imstande zeigen, das Vertrauen der Massen zu gewinnen.“35

Dies soll verhindern, dass die Politik sich auf Ämter und Pfründenverteilung reduziert und insbesondere durch persönliche Beziehungen und Druck von Interessengruppen bestimmt wird. Andererseits soll aber auch vermieden werden, dass ein einzelner Charismaträger eine zu starke cäsaristische Rolle übernimmt und sich als einziger und unkontrollierter Machthaber durchsetzt. Die Feststellung, dass „das Wesen aller Politik […] Kampf, Werbung von Bundesgenossen und von freiwilliger Gefolgschaft“36 ist, soll den Berufspolitiker dazu bewegen, auf der einen Seite rhetorische und demagogische Mittel einzusetzen, um sich die Gunst der Wähler auch emotional zu sichern, aber auf der anderen Seite ihm auch zum Bewusstsein bringen, dass er immer vor den Augen (und unter der Kontrolle) der Öffentlichkeit handelt37 und dass er in Konkurrenz mit anderen potentiell oder effektiv charismatischen Politikern auftritt und von ihnen verdrängt und besiegt werden kann. Aus dieser Perspektive wird die Tätigkeit im Parlament nicht nur als eine Gelegenheit zu emotional starken Reden und Stellungnahmen geschätzt, sondern als eine wertvolle Chance, politische Erfahrung sowie Expertise zu sammeln und wichtige Kenntnisse zu erwerben: „Für den modernen Politiker […] ist der Kampf im Parlament und für die Partei im Lande die gegebene Palästra“, bemerkt Weber, wenn er in führende Positionen gelangen will.38 Die Möglichkeit einer pluralistischen Auslese der charismatisch Qualifizierten erweist sich als Vorteil für die Bürger, sowohl vom Standpunkt der Verstärkung ihrer (periodischen) Machtausübung als Wähler gesehen als auch wegen der Chance, ihr politisches Können und ihr Bewusstsein auszubilden. Weber vertritt die Ansicht, dass entscheidungsfähige Bürger nicht durch Titel, Standeszugehörigkeit oder Beruf ihre politische Qualifikation beweisen können, sondern durch die praktische und kontinuierliche Ausübung ihrer Bürgerrechte.39 Die Möglichkeit, unter verschiedenen leitenden Politikern auswählen zu können, bildet, wenn sie von der Überzeugung begleitet wird, dass die Erkorenen dann aktiv Politik betreiben und gewichtige Entscheidungen treffen können, die Individuen zu fähigen und selbstbewussten Bürgern, die ihre Auswahl zweckdienlich treffen können. Sicherlich gibt es im Vorfeld eine 35

Weber, 1984: 548 f. Weber, 1984: 482. 37 Vgl. Weber, 1984: 536 f. 38 Weber, 1984: 482. 39 Weber, 1984: 369 f. 36

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Einschränkung, da es keine unbegrenzte Zahl von Kandidaten gibt, sondern die Wahlmöglichkeiten durch die von den Parteien vorbestimmten Persönlichkeiten eingeschränkt sind: „Auch jede normale ,Wahl‘ aber kann der Regel nach lediglich eine Entscheidung zwischen mehreren, schon vorher als allein in Betracht kommend, feststehenden und dem Wähler präsentierten Prätendenten sein, welche auf dem Kampfplatz der Wahlagitation durch persönlichen Einfluß, Appell an materielle oder ideelle Interessen herbeigeführt wird und bei welcher die Bestimmungen über das Wahlverfahren gewissermaßen die Spielregeln für den in der Form ,friedlichen‘ Kampf darstellen.“40

Dennoch wird der Akzent auf die Vielfalt der Kandidaten gesetzt, und dies bedeutet immerhin die Chance, eine wirkliche Auswahl treffen zu können, und außerdem die konkrete Möglichkeit, auf sie und die Qualität ihrer politischen Tätigkeit real und verbessernd Einfluss zu nehmen. Die charismatische Komponente behält dadurch ihre belebende und emotional bindende Kraft, aber sie wird durch die Pluralität der Auswahlmöglichkeiten, solange diese konkret besteht, gehindert, unkontrollierte und schrankenlose Macht auszuüben. VI. Die subjektive Bedingung: die Sachlichkeit Eine erfolgreiche Umbildung des Charisma im demokratischen Sinne hängt auch, und dies nicht zuletzt, mit der Einstellung und der Haltung des charismatischen Politikers zusammen. Dass demagogische und emotionale Elemente in die demokratische Politik einfließen, hält Weber in Großstaaten für unvermeidbar und gar nicht so abwegig, wenn sich dies in Form von Engagement und interessierter Teilnahme äußert: „Die Bedeutung der aktiven Massendemokratisierung ist: daß der politische Führer nicht mehr auf Grund der Anerkennung seiner Bewährung im Kreise einer Honoratiorenschicht zum Kandidaten proklamiert, dann kraft seines Hervortretens im Parlament zum Führer wird, sondern daß er das Vertrauen und den Glauben der Massen an sich und also seine Macht mit massendemagogischen Mitteln gewinnt. Dem Wesen der Sache nach bedeutet dies eine cäsaristische Wendung der Führerauslese. Und in der Tat neigt jede Demokratie dazu.“41

Dennoch kann die politische Tätigkeit nicht einfach der Demagogie oder dem unmittelbaren Instinkt überlassen werden: Der Berufspolitiker soll einen „kühle[n] und klare[n] Kopf“ bewahren, denn „erfolgreiche Politik, gerade auch erfolgreiche demokratische Politik, wird nun einmal mit dem Kopf gemacht,“42 zumal die Menschen insbesondere in Krisensituationen der emotionalen und irrationalen Beeinflussung ausgesetzt sind. Daher soll er komplementär zu emotionsauslösenden und rhetorischen Kunstfertigkeiten die Fähigkeit entwickeln, sachliche Politik zu betreiben, 40

Weber, 2005: 504. Weber, 1984: 538 f. 42 Weber: 1984, 549. 41

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und sich dazu die notwendige Kenntnis der Tatsachen erwerben sowie einen gekonnten Umgang mit der aktuellen Sachlage erlernen: „Nur jene Schule intensiver Arbeit an den Realitäten der Verwaltung, welche der Politiker in den Kommissionen eines mächtigen Arbeitsparlamentes durchzumachen hat und in der er sich bewähren muß, machen eine solche Versammlung zu einer Auslesestätte nicht für bloße Demagogen, sondern für sachlich arbeitende Politiker.“43

Sachliche Erarbeitung von politischen Themen gehört zur wesentlichen Tätigkeit des Berufspolitikers und auch des charismatischen „Leaders“. Zu den Vorbedingungen zählt zweifellos die Tätigkeit eines aktiven und machtvollen Parlamentes, aber auch eine subjektive Einstellung seiner Mitglieder, die sich neben der Erwerbung emotionsbeeinflussender Mittel hauptsächlich den politischen Inhalten ernsthaft widmen. Das ist, genau gesehen, was Weber unter der Politik als „Dienst an der Sache“ versteht. Emotionale Anteilnahme und kunstfertige Verwendung demagogischer Mittel dürfen nicht vergessen lassen, dass Sachlichkeit ein unbedingtes Muss des politischen Berufs ist und sie allein zu dauerhafter und nachhaltiger Erreichung politisch substanzieller und zweckdienlicher Ergebnisse verhelfen kann. Obwohl Politik von Weber als Erwerb und Ausübung von Macht ausgedeutet wird, ist diese Macht seines Erachtens nie Selbstzweck. Daher soll der Berufspolitiker trotz Verwendung charismatischer Mittel nie zum bloßen Machtpolitiker werden, dessen Verhalten als unsachlich kritisiert wird.44 Sachlichkeit ist darüber hinaus oft, auch wenn nicht immer, mit Verantwortungsgefühl verbunden, und steht im erfolgreichen und zweckdienlichen Dienst an der Sache selbst. Dazu gehört für Weber eine Hingabe zur politischen Tätigkeit und zum Beruf, die sich vor allen Dingen dadurch auszeichnet, dass einer „für“ die Politik und nicht nur „von“ der Politik lebt.45 Von der Politik zu leben bedeutet, durch sie den Lebensunterhalt zu bestreiten. Für die Politik zu leben schließt dagegen ein, sich die ideellen Inhalte der Politik nach der eigenen Überzeugung zum Lebensinhalt zu machen und „durch Dienst an einer ,Sache‘ seinem Leben einen Sinn zu verleihen.“46 Der Dienst an der Sache impliziert nicht nur ein ideales Bekenntnis, sondern auch eine innere und äußere Haltung, die sich mit der notwendigen Sachlichkeit und der objektiven Kenntnisnahme der Tatsachen der politischen Aufgaben annimmt. „Beruf“ wird in dieser Hinsicht von Weber auf „Berufung“47 (calling) zurückgeführt und als innere Bestimmung, sich einer Tätigkeit zu widmen, ausgedeutet, der aber auch mit den entsprechenden Erkenntnissen und Mitteln sowie der angemessenen

43

Weber, 1984: 491. Vgl. Palonen, 2002: 103 – 107. 45 Weber, 1992: 169. 46 Weber, 1992: 170. 47 Weber, 2014: 178. 44

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geistigen Haltung systematisch und kontinuierlich (also als Haupttätigkeit) nachgegangen werden soll.48 Der charismatische Leader ist daher nicht nur zur Machtausübung berufen, sondern auch zu einem Handeln, das, wie Weber unterstreicht, dem „Ethos der Politik als Sache“ Rechnung trägt.49 Zum würdigen Verhalten des Berufspolitikers gehören hauptsächlich drei Eigenschaften: Leidenschaft, Augenmaß und Verantwortungsgefühl. Leidenschaft wird aber sinngemäß nicht der emotional geladenen Begeisterung gleichgesetzt, sondern wiederum als vollständige sachliche Hingabe ausgedeutet: „Leidenschaft im Sinn von Sachlichkeit: leidenschaftliche Hingabe an eine ,Sache‘“, und „nicht im Sinne jenes inneren Gebarens“, das einer „sterilen Aufgeregtheit“ entspreche.50 Zur unparteiischen und sachlichen Haltung gehört noch mehr das Augenmaß, das nach Weber die Fähigkeit kennzeichnet, die unterschiedlichen Ereignisse, Handlungen und Faktoren mit dem notwendigen Abstand betrachten und abwägen zu können, ohne sich von plötzlichen Gefühlen und Reaktionen leiten zu lassen. Und ebenso bezeichnet das Verantwortungsbewußtsein die Bereitschaft und den Willen, der Sache gegenüber eine reflektierende Haltung einzunehmen und für die eigenen Entscheidungen Rede und Antwort zu stehen sowie Verantwortung zu tragen. Deswegen kann es nicht überraschen, dass im Fall der Politik Weber die Verantwortungsethik der Gesinnungsethik vorzieht. Verantwortungsethik bedeutet für ihn hauptsächlich, bedachte Entscheidungen zu treffen, die die möglichen Ergebnisse und die wahrscheinlichen Konsequenzen (negative Nebenfolgen inbegriffen) berücksichtigen und abwägen.51 Sachliche Kenntnisse haben zwar für Weber nicht die höchste Priorität, da die Entscheidungen bei den Individuen und ihren Leitwerten liegen, sie sind jedoch unverzichtbar, wenn eine ausgewogene Betrachtung der Lage der Entscheidung vorangehen muss (und soll). Die sachliche Betrachtung kann daher niemandem die letzte Entscheidung abnehmen, aber sie verhilft dazu, sich eine klare Übersicht über die Lage zu verschaffen und mögliche Vorteile, Nachteile, Konsequenzen und Nebeneffekte vorab zu berechnen. Die Verantwortungsethik in der Politik bedeutet keine Verneinung der Ideale und der Prinzipien, sie erinnert nur daran, dass die Prinzipien allein unzureichend sein können, um gute Zwecke zu erreichen.52 Daher vertragen sich Sachlichkeit und Verantwortung sehr gut miteinander, und auch wenn die Sachlichkeit allein die charismatischen Kräfte nie erschaffen oder ersetzen kann, ist sie die unbedingte Voraussetzung dafür, dass diese Sonderqualitäten zweckund sachgemäß eingesetzt werden können.

48

Vgl. Weber, 1992: 161 f., 167 ff. Weber, 1992: 230. 50 Weber, 1992: 227. 51 Weber, 1992: 237 f. 52 Vgl. Schluchter, 2009: 105 f. 49

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VII. Die prozedurale Bedingung: Die Bindung an Normen und Institutionen Das entscheidende Merkmal für die demokratische Umbildung des Charisma, die durch die Unterstellung der charismatischen Herrscher unter das Wahlverfahren erreicht wird, schließt nicht nur eine Form der Anerkennung von unten, die explizit ausgesprochen werden muss und auch verweigert werden kann, sondern auch die allmähliche Einführung geregelter Prozeduren ein: „Auf die Dauer tritt überall, wo ursprünglich charismatische Gemeinschaften den Weg der Kürung des Herrschers betreten, eine Bindung des Wahlverfahrens an Normen ein.“53 In den Staaten, wo sich eine parlamentarische Demokratie durchsetzt, ist die prozedurale Reglementierung nochmals betonter und systematischer. Als unverzichtbare Säule der Demokratie gilt für Weber die Reglementierung von Wahlverfahren nach formalen juristischen Prinzipien, die einen legal-rationalen Rahmen erschaffen und im Vorfeld allgemeingültige Spielregeln für die Kontrahenten bestimmen.54 Die Fusionierung von legal-rationalen Elementen mit der Auswahl von charismatischen Persönlichkeiten verschafft klare Regeln, denen alle Kandidaten unterworfen sind, und die auch für eine geregelte Repräsentation und Ausübung der Macht in Zeiten sorgen, in welchen außergewöhnliche politische Talente fehlen mögen. Die Festlegung von formalen Spielregeln ist die grundsätzliche Garantie für einen korrekten Ablauf der Auswahl von politischen Machtinhabern. Dank der Festsetzung von demokratisch und formal gerechten Prinzipien und Verfahren werden für Weber klare Regeln zur Konstituierung einer legal-rationalen Herrschaft aufgestellt und es kann vermieden werden, dass die charismatische Herrschaft die Grenzen der Legalität überschreitet.55 Auch der institutionelle Rahmen und die Etablierung von legal und rational funktionierenden Institutionen sorgen dafür, dass die charismatische Herrschaft in einem geregelten Verlauf durch mehrere Persönlichkeiten ausgeübt wird. Weber ist überzeugter Vertreter der Gewaltenteilung im Sinne Montesquieus und vertritt die Ansicht, dass die unterschiedlichen Gewalten und Institutionen nie vollständig ihrer Autonomie beraubt werden dürfen. Die Zentralität des Parlaments und die Auffassung, dass die durch die Wahlen gekürte Mehrheit die Regierung stellen soll, wird von dem Standpunkt geleitet, dass die Bürokratie in modernen rational organisierten Staaten generell über viel Macht und Wissen verfügt und dass das Parlament die konkrete Möglichkeit bietet, die nötigen Informationen zu erwerben und Kontrolle über die Verwaltung auszuüben. Von der Prämisse ausgehend, dass auch charismatische führende Persönlichkeiten mit dem nötigen Sachverstand ausgestattet sein müssen, fokussiert Weber die Instrumente, welche den Repräsentanten zur Verfügung stehen müssen, und die für ihn insbesondere aus dem Enquêterecht und den Parlamentsausschüssen bestehen. 53

Weber, 2005: 500. Bobbio, 1988: 8, hat dieses Prinzip verallgemeinert und die Festlegung von Grundregeln zur wesentlichen und zugleich „minimalen Definition der Demokratie“ erhoben. 55 Vgl. dazu auch Weber, 1984: 538. 54

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„Die äußerlich ziemlich unscheinbare Änderung, welche durch eine vermittels des Enqueterechts gesicherte fortlaufende Kontrolle und Mitarbeit des Parlamentsausschüsse mit und gegenüber der Verwaltung bei uns eingeführt würde, ist die grundlegende Vorbedingung aller weiteren Reformen im Sinn einer Steigerung der positiven Leistungen des Parlaments als Staatsorgan. Sie ist insbesondere auch die unentbehrliche Voraussetzung dafür: daß das Parlament zur Auslesestätte für politische Führer wird.“56

Diese Befugnisse der Parlamentarier werden mit besonderer Rücksicht auf die Rechte der parlamentarischen Minderheit(en) ausgestattet, da auch die führenden Persönlichkeiten der Opposition in die Lage sein sollen, sich die notwendigen Kenntnisse zu verschaffen, um als potenzielle zukünftige Leiter der Mehrheit oder der Koalition zu kompetenten Sachverständigen und nicht nur zu Kritikern ausgebildet zu werden. Das Parlament ist aber nicht nur die Auslesestätte für charismatische politische Persönlichkeiten und Machtinhaber, sondern auch der institutionelle Rahmen, der dafür zuständig ist, dass die Machtausübung von Parteileitern und Regierungschefs legal bleibt, und mit den notwendigen Machtbefugnissen versehen sein muss, um eine formal korrekte Regierungstätigkeit zu sichern und um für legale und friedliche Führungswechsel zu bürgen. Wenn es wahr ist, dass ein Spannungsverhältnis zwischen der durch die Wahlen erkorenen charismatischen Führung und der repräsentativen Instanz besteht, ist das Parlament nichtsdestoweniger dazu aufgerufen, zu kontrollieren, dass die Kriterien der Legalität von den Institutionen sowie den Parlamentsmitgliedern eingehalten werden.57 Weber sagt, dass das Parlament gegenüber dem erwählten Vertrauensmann der Massen Folgendes gewährleistet: „1. die Stetigkeit und 2. die Kontrolliertheit seiner Machtstellung; 3. die Erhaltung der bürgerlichen Rechtsgarantien gegen ihn; 4. eine geordnete Form der politischen Bewährung der um das Vertrauen der Massen werbenden Politiker innerhalb der Parlamentsarbeit, und 5. eine friedliche Form der Ausschaltung des cäsaristischen Diktators, wenn er das MassenVertrauen verloren hat.“58

Das Parlament wird als die höchste politische Instanz bewertet, die die Rechte der Menschen und der Bürger gegenüber der politisch legitimen charismatischen Gewalt aufrechterhalten und gegen mögliche Verstöße schützen muss.59 Was die politische Machtausübung spezifischer betrifft, hat das Parlament die Funktion zu kontrollieren, dass die Prozeduren von allen Kandidaten und Machtinhabern respektiert sowie die Normen eingehalten und die Legalität gewahrt werden.60 Insbesondere hat das Parlament aber die Aufgabe zu garantieren, dass sich keine außergesetzliche 56

Weber, 1984: 490. Diese wichtige Funktion wird von Weber auch später dem Parlament zugeschrieben, als er sich nach dem Ende des Kriegs für die Volkswahl des Staatspräsidenten und für die Verstärkung seiner Machtbefugnisse ausspricht (vgl. dazu Breuer, 1994: 165 – 166). 58 Weber, 1984: 540. 59 Vgl. Beetham, 1974: 114. 60 Vgl. Kaesler, 2011: 115. 57

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Machtübernahme oder -erhaltung in welcher Form auch immer auf Kosten der Legalität und der Demokratie durchsetzen kann. VIII. Die relationale Bedingung: Die Interaktion mit der Öffentlichkeit Die Umbildung des Charisma bringt es bereits mit sich, dass die Wähler diejenigen sind, die die charismatischen Persönlichkeiten zu Machtinhabern küren.61 In dieser Hinsicht wird eine fundamentale Veränderung gegenüber der rein charismatischen Herrschaft eingeführt, denn diese verlangte den Gehorsam und die unbedingte Anerkennung von Seiten der Beherrschten als deren Pflicht. Dennoch bleiben einige Komponenten der ursprünglichen charismatischen Herrschaft aufrechterhalten, und zwar 1) die Tatsache, dass die gekürten Sieger nicht die Rolle der Diener, sondern die der Herren über die Wählerschaft übernehmen, und 2) dass die Gunst der Wählerschaft auch durch die Anwendung von rhetorischen und demagogischen Mitteln gesucht und eine Emotionalisierung der Politik bewusst bewirkt wird. Eine gut gelungene und ausgeführte Umformung der charismatischen Herrschaft im Sinne der Demokratie basiert aber auf einem Verhältnis mit den Bürgern und Wählern, das sich nicht nur durch dezidierte Machtausübung auszeichnet, sondern auch ein sich allmählich vertiefendes Vertrauensverhältnis zu den Bürgern aufbaut und sich der Kontrolle der Öffentlichkeit unterzieht. Damit wird zur unerlässlichen Bedingung für eine geordnete und demokratische Umbildung des Charisma das Vorhandensein einer dynamischen Interaktion zwischen den ausgewählten charismatischen Persönlichkeiten und der Öffentlichkeit. Dies verlangt hauptsächlich die Erfüllung zweier Voraussetzungen: Erstens, die Erwählten sollen zwar Durchsetzungskraft und Fähigkeit zur Machtausübung sowie zur Entscheidung aufweisen, aber sie sollen klare Verhältnisse zu den Bürgern schaffen und ihre Tätigkeit insbesondere in den Hauptthemen der inneren Politik, der politischen Führung und der Verwaltung in der Öffentlichkeit bekannt machen und deren Beurteilung unterziehen.62 Zweitens, die Bürger sollen in die Lage versetzt werden, Informationen und Kenntnisse über das politische Leben zu erlangen63 und hinter den emotionalen Reden auch ideelle Inhalte und rationale Argumente erkennen zu können, zumal der inhaltliche Teil und die mit den Entscheidungen verbundene Verantwortung auch in ihrer Tragweite für die Zukunft berücksichtigt und abgewogen werden sollten.64 61

Weber, 2005: 497. Vgl. dazu auch Weber, 1984: 493 f. 63 Zur Bedeutung des pädagogischen Moments und der politischen Erziehung für die Demokratie vgl. Egger, 2006: 264 f., 276 f. 64 Durch das parlamentarische System und sein Verhältnis zur Öffentlichkeit wird somit eine Kultur des Redens und zugleich des Zuhörens sowie Abwägens der Argumente der Anderen eingeführt, das auch als allgemeines erkenntnistheoretisches Paradigma gelten kann und darüber hinaus vom „Ideal des fairen Spiels“ (Palonen, 2010: 177) geleitet wird. 62

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Da aber die Aufgabe der Bildung einer kompetenten Öffentlichkeit nicht nur dem guten Willen der charismatischen Persönlichkeiten überlassen werden kann, ist es äußerst wichtig, dass die Bürger und die Öffentlichkeit einen Weg finden, der zwar den leitenden Politikern die Möglichkeit offen lässt, ihre Programme umzusetzen und Entscheidungen zu treffen, nichtsdestotrotz aber die Kontrolle ihrer Tätigkeit gewährleistet und sie der öffentlichen Beurteilung regelmäßig unterzieht. Zu dieser Aufgabe ist als Erstes das Parlament berufen, das für Weber geschichtlich als Ausdruck der „Öffentlichkeit, vor allem der parlamentarischen Öffentlichkeit“65 gilt und daher eine Art der Synthese der in der Gesellschaft vorhandenen Kräfte darstellt. Dennoch wird eine wesentliche Rolle auch von gesellschaftlichen Organisationen und insbesondere den Parteien gespielt sowie von der öffentlichen Meinung, die durch die Presse ihre organisierte und institutionalisierte Äußerung findet.66 Durch die Presse wird es aber auch möglich, die Bürger mit den wichtigen Informationen zu versorgen und sie über die politische Tätigkeit ihrer Repräsentanten zu informieren. Dies betrifft auch Meinungen und Argumente, die dadurch verbreitet und ausdiskutiert werden können. Natürlich wird dies aber für Weber nur von einer Presse geleistet, die ihrerseits mit den wichtigen politischen Themen sachlich umgeht und sich ernsthaft mit diesen auseinandersetzt. Die öffentliche Meinung und die Medien werden somit zu wesentlichen Akteuren und mitwirkenden Diskutanten in der politischen Szene und können dazu beitragen, dass eine ernsthafte politische Debatte zugleich in der Gesellschaft geführt wird, so dass auf der einen Seite die Machtausübung der leitenden Persönlichkeiten nicht verhindert wird, aber auf der anderen Seite auch der Meinung der Bürger und der Öffentlichkeit in erheblicher Weise Rechnung zu tragen ist. IX. Fazit Obwohl Weber eine tief beeindruckende Analyse der charismatischen Herrschaft und ihrer konstitutiven Merkmale liefert, ist er zugleich stark daran interessiert, dem Prozess der Umbildung des Charisma aufmerksam nachzugehen und die Komponenten zu untersuchen, die in ein demokratisches System übertragen werden können und die angesichts der Technisierung und Bürokratisierung der modernen Welt eine belebende und schöpferische Komponente ins politische Leben einfließen lassen. Gleichwohl geht es Weber auch darum, zu vermeiden, dass ungeregelte und ungeordnete politische Verhältnisse eintreten und die Legalität und die Demokratie gefährden. In seinen Texten können mehrere Betrachtungen festgestellt werden, in deren Rahmen Weber sich ernsthaft Gedanken darüber macht, welche Maßnahmen getroffen werden können und müssen, damit die positiven Seiten der charismatischen Herrschaft aufgenommen werden, ohne die legale und normierte Ordnung ins Schwanken zu bringen. Seine theoretischen Studien sowie politischen Schriften beweisen, dass 65 66

Weber, 1992: 180. Über die Rolle und Bedeutung der Presse bei Max Weber siehe Weischenberg, 2012.

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Weber sich gründlich mit der Thematik befasst und mehrere Bedingungen auf unterschiedlichen Ebenen gesetzt hat, damit die demokratisch-parlamentarische Ordnung erhalten bleibt und neue Kräfte und Resonanz bei den Bürgern finden kann. Diese Elemente sind vielleicht von Weber nicht systematisch behandelt worden, aber sie konstituieren eine wichtige Ergänzung zur Konzeption eines positiven charismatischen Einflusses innerhalb der Demokratie. Literatur Anter, Andreas (1995): Max Webers Theorie des modernen Staates: Herkunft, Struktur und Bedeutung. Berlin: Duncker & Humblot. Baehr, Peter (2008): Caesarism, Charisma and Fate: Historical Sources and Modern Resonances in the Work of Max Weber. New Brunswick/London: Transaction Publishers. Beetham, David (1974): Max Weber and the Theory of Modern Politics. London: George Allen & Unwin. Bobbio, Norberto (1988): Die Zukunft der Demokratie. Berlin: Rotbuch Verlag. Breuer, Stefan (1994): Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie Max Webers. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. – (2011): „Herrschaft“ in der Soziologie Max Webers. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag. Egger, Stephan (2006): Herrschaft, Staat und Massendemokratie: Max Webers politische Moderne im Kontext des Werks. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft. Kaesler, Dirk (2011): Max Weber. München: Beck. Mommsen, Wolfgang (2004): Max Weber und die deutsche Politik 1890 – 1920. 3. Auflage. Tübingen: Mohr Siebeck. Palonen, Kari (2002): Eine Lobrede für Politiker: Ein Kommentar zu Max Webers „Politik als Beruf“. Opladen: Leske + Budrich. – (2010): „Objektivität“ als faires Spiel: Wissenschaft als Politik bei Max Weber. BadenBaden: Nomos. Schluchter, Wolfgang (2009): Die Entzauberung der Welt. Tübingen: Mohr Siebeck. Schwaabe, Christian (2002): Freiheit und Vernunft in der unversöhnten Moderne: Max Webers kritischer Dezisionismus als Herausforderung des politischen Liberalismus. München: Fink. Tuccari, Francesco (1991): Carisma e leadership nel pensiero di Max Weber. Milano: FrancoAngeli. Weber, Max (1984): Parlament und Regierung. In: Gesamtausgabe: Zur Politik im Weltkrieg. Tübingen: Mohr. Bd. I-15. – (1992): Politik als Beruf. In: Gesamtausgabe. Tübingen: Mohr. Bd. I-17. – (2005): Wirtschaft und Gesellschaft: Herrschaft. In: Gesamtausgabe. Tübingen: Mohr. Bd. I22/4. – (2009): Allgemeine Staatslehre und Politik (Staatssoziologie). In: Gesamtausgabe. Tübingen: Mohr. Bd. III-7.

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– (2010): Wirtschaft und Gesellschaft: Recht. In: Gesamtausgabe. Tübingen: Mohr. Bd. I-22/3. – (2011): Wirtschaft und Gesellschaft: Gemeinschaften. In: Gesamtausgabe. Tübingen: Mohr. Bd. I-22/1. – (2013): Wirtschaft und Gesellschaft. In: Gesamtausgabe. Tübingen: Mohr. Bd. I-23. – (2014): Asketischer Protestantismus und Kapitalismus: Schriften und Reden 1904 – 1911. In: Gesamtausgabe. Tübingen: Mohr. Bd. I-9. Weischenberg, Siegfried (2012): Max Weber und die Entzauberung der Medienwelt. Theorien und Querelen – eine andere Fachgeschichte. Wiesbaden: Springer.

III. Rezensionsessay

Neues von und über Carl Schmitt1 Von Hans-Christof Kraus Der reichhaltige Nachlass und die auch weiterhin von Person und Werk Carl Schmitts (1888 – 1985) ausgehende Faszination sorgen für eine nicht abreißende Folge von Publikationen, die nicht immer, aber doch in den meisten Fällen unsere Kenntnis und unser Verständnis dieses Werks vermehren können. Zu der erstaunlichen Fülle der inzwischen bereits vorliegenden Korrespondenzen des nachgerade unermüdlichen Briefschreibers Schmitt ist jetzt ein in mehrfacher Hinsicht erstaunliches (und auch in seinen psychologischen Aspekten aufschlussreiches) Dokument erschienen: der sorgfältig und kenntnisreich edierte und kommentierte Briefwechsel mit dem Ehepaar Werner und Corina Sombart sowie mit deren Sohn Nicolaus. Die vergleichsweise wenigen Schreiben des angesehenen Nationalökonomen Werner Sombart (1863 – 1941) an seinen eine Generation jüngeren Kollegen, den der Ältere gleichwohl sehr schätzte, bleiben zumeist im Bereich des Konventionellen und damals Üblichen. Immerhin erscheinen zwei der letzten Briefe des Ökonomen aus den Jahren 1938 und 1939 bemerkenswert: sie enthalten luzide zustimmend-kritische Stellungnahmen zu zwei wichtigen Büchern Schmitts, dem „Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes“ von 1938 und der „Völkerrechtlichen Großraumordnung“ von 1939. Fast als ein politisches Vermächtnis des im Mai 1941 verstorbenen Sombart kann man sein Lob der Schmittschen „Ehrenrettung des Staatsbegriffs und seine Verteidigung gegen die ,völkischen‘ Bilderstürmer“ (S. 186) ansehen. – Aufschluss- und inhaltsreich erweisen sich ebenfalls die Briefe von und an Corina Sombart (1892 – 1971), die zweite, deutlich jüngere Ehefrau des Gelehrten und Generationsgenossin Schmitts, in denen sich – wie so oft in Schmitts Korrespondenzen – die ausgedehnten und vielfältigen, eben keineswegs nur wissenschaftlichen Interessen der Briefpartner widerspiegeln: von Literatur (Kafka, neuere französische Autoren) über Bildende Kunst (Hieronymus Bosch) bis hin zur Musik; daneben dominiert das gemeinsame Interesse an Spanien. Sehr viel komplizierter dagegen gestaltete sich Schmitts Verhältnis zum einzigen Sohn des Ehepaars: Nicolaus Sombart (1923 – 2008), den Schmitt fast als eigenen 1 Zugleich Besprechung von: Martin Tielke (Hrsg.): Schmitt und Sombart. Der Briefwechsel von Carl Schmitt mit Nicolaus, Corina und Werner Sombart, Duncker & Humblot, Berlin 2015, 263 Seiten, 39,90 Euro; Carl Schmitt: Glossarium. Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1958. Erweiterte, berichtigte und kommentierte Neuausgabe, hrsg. v. Gerd Giesler / Martin Tielke, Duncker & Humblot 2015, XIV, 557 Seiten, 69,90 Euro; Volker Neumann: Carl Schmitt als Jurist, Mohr Siebeck, Tübingen 2015, XVIII, 618 Seiten, 99,00 Euro.

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Ziehsohn aufgefasst und zu dem er zeitweilig ein besonders enges und vertrauliches Verhältnis unterhalten hat. Nicolaus Sombart hat – übrigens noch zu Lebzeiten Schmitts – 1984 in seinem Erinnerungsbuch an seine Jugend hierüber sehr aufschlussreich berichtet; das Kapitel „Spaziergänge mit Carl Schmitt“ hat seinerzeit einiges Aufsehen erregt,2 nicht zuletzt, weil hier das besondere „Faszinosum“ Schmitts, die von vielen anderen Zeitgenossen bestätigte Fähigkeit, Gesprächspartner, gerade die jüngeren unter ihnen, zu beeindrucken und zu beeinflussen, besonders anschaulich und eindringlich auf den Begriff gebracht worden ist. Freilich wissen die Kenner, dass die langjährige Verbindung beider traurig endete – sicher nicht durch das Verschulden Schmitts, sondern durch Nicolaus Sombarts Versuche, sich nach 1945 von dem geistigen Übervater gewissermaßen „abzunabeln“, sich seinem Einfluss durch Ignorieren und am Ende auch durch Widerspruch zu entziehen. Dass ihm das letztlich nicht gelang, dass er sogar zum bereits uralten Schmitt immer wieder Kontakt suchte – sogar als uneingeladener Geburtstagsgast in Schmitts Plettenberger Alterssitz –, zeigt im Grunde die Tragödie des Sombart-Sohns, der eben seiner Rolle als „ewiger Sohn“, sei es der seines Vaters Werner, sei es als geistiger Ziehsohn Carl Schmitts, nicht entkommen konnte. Sombarts Schmitt-Buch von 1991 zeigt diesen Zwiespalt ein letztes Mal3 – die darin enthaltenen nachgerade absurden Thesen sind eigentlich nur psychologisch zu verstehen und sagen viel aus über deren Verfasser, kaum jedoch über Schmitt. Es ist fast rührend zu sehen, wie der alte Schmitt sich darum bemühte, dem jungen (in den 1970er Jahren freilich nicht mehr ganz so jungen) Nicolaus Sombart klarzumachen, was er, Schüler und Doktorand Alfred Webers in Heidelberg, mit seinen Versuchen einer vermeintlichen „Demaskierung“ Max Webers anrichtete.4 In einem (am Ende nicht abgeschickten) Briefentwurf an Sombart vom 13. November 1976 warnte der uralte, fast neunzigjährige Schmitt in doppeldeutiger Weise seinen Ziehsohn vor „Vatermord und character-assassination“, die beide „zu den seit langem nicht mehr schönen Künsten“ gehörten. Schmitt beharrte auf der politischen Verortung Webers: „Max Weber lebte, litt und starb in einer politischen Wirklichkeit Versailles 1871 – Versailles 1919 – Versailles 1940. Wenn diese Linie ausgeblendet wird, mache ich Schluss“ (S. 127). Diese Bemerkungen gehören zu den letzten Äußerungen Schmitts; Nicolaus Sombart wusste sie tragischerweise nicht (mehr) zu deuten. Das in neuer Ausgabe erschienene „Glossarium“ Carl Schmitts verfügt über eine recht komplizierte Entstehungs- und Editionsgeschichte. Die nunmehr vollständig ans Licht gebrachten „Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1958“ wurden vom Verfasser während der Nachkriegszeit in einigen großen Kladden niederge2

Nicolaus Sombart: Jugend in Berlin, München – Wien 1984, hier S. 248 – 280. Nicolaus Sombart: Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt – ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos, München – Wien 1991. 4 Das bezieht sich auf einen zuerst im „Merkur“ (Oktober 1976) veröffentlichten Aufsatz von Nicolaus Sombart: Max Weber und Otto Gross. Zum Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Eros im Wilhelminischen Zeitalter, erneut in: derselbe: Nachdenken über Deutschland – Vom Historismus zur Psychoanalyse, München 1987, S. 22 – 51. 3

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schrieben. Sie enthalten Überlegungen und Reflexionen aller Art, sehr persönliche Erinnerungen, sodann Maximen, veritable Aphorismen, aber auch (als solche oft nicht ausgewiesene) direkte oder indirekte Zitate, endlich auch eingeklebte und von Schmitt ebenso eifrig wie bissig kommentierte Presseartikel, zumeist aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dieses äußerst merkwürdige – nicht selten bitterböse Bemerkungen über prominente Zeitgenossen enthaltende – Kompendium wurde erstmals schon sechs Jahre nach Schmitts Tod, ausgerechnet von einem seiner Schüler aus den 1930er Jahren, Eberhard von Medem, einem Ministerialbeamten im Düsseldorfer Kultusministerium, herausgegeben – allerdings, wie die Experten bald feststellten, in einer nicht nur fast unkommentierten, sondern auch unvollständigen und durch viele Lesefehler belasteten, ja verunstalteten Ausgabe.5 Die jetzt erschienene stark veränderte und vollständige Fassung, von zwei seit langem ausgewiesenen Schmitt-Kennern, Gerd Giesler und Martin Tielke, sorgfältig ediert und kommentiert sowie ebenfalls mit einem vollständigen Personenregister versehen, hat den ärgerlichen editorischen faux pas von 1991 nunmehr wettgemacht. Tatsächlich ist dieses merkwürdige „Glossarium“, wie Schmitts Biograph Reinhard Mehring in einer wichtigen Rezension dieser Neuausgabe sehr treffend gesagt hat, „ein Schlüsseltext radikaler Selbstoffenbarung des eigenen politisch-theologischen Standorts. In der langen Tradition aphoristischer Sudelbücher hat es einen festen Stand. Es ist ein Schlüsseldokument zur Geistesgeschichte der Nachkriegszeit und frühen Bundesrepublik“,6 oder, ein wenig anders gewendet: ein Text der inneren Opposition gegen die „offizielle“ politische und geistige Verfassung der Bonner Republik in ihrer Frühphase, ähnlich wie schon der vor zwei Jahrzehnten publizierte Briefwechsel Schmitts mit dem jüngeren Armin Mohler;7 beide Textcorpora gehören in eine Zeit, in der Schmitt und sein Umfeld auf das Gespräch „in der Sicherheit des Schweigens“ angewiesen waren.8 Die Fülle des Inhalts, das Ausmaß der intertextuellen Anspielungen, der Polysemien, das Spielen mit verschiedenen Bedeutungen der Wörter und Begriffe, die für diesen Autor so kennzeichnend sind, kann hier allenfalls knapp angedeutet werden. Manche Selbsttäuschung und gleichzeitige Selbstmythisierung Schmitts ist nicht zu übersehen; so heißt es etwa im September 1947: „Ich habe immer nur als Jurist gesprochen und geschrieben und infolgedessen eigentlich auch nur zu Juristen und für Juristen. Mein Unglück war, daß die Juristen meiner Zeit zu positivistischen Geset5 Carl Schmitt: Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947 – 1951, hrsg. v. Eberhard von Medem, Berlin 1991. 6 Reinhard Mehring: Rezension zu: Carl Schmitt: Glossarium. Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1958. Erweiterte, berichtigte und kommentierte Neuausgabe, hrsg. v. Gerd Giesler / Martin Tielke, Berlin 2015, in: Philosophischer Literaturanzeiger 68 (2015), S. 354 – 361, hier S. 354. 7 Carl Schmitt – Briefwechsel mit einem seiner Schüler, hrsg. v. Armin Mohler in Zusammenarbeit mit Irmgard Huhn und Piet Tommissen, Berlin 1995. 8 Rekonstruiert von Dirk van Laak: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993.

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zeshandhabungstechnikern geworden waren, tief unwissend und ungebildet, bestenfalls Goetheaner und neutralisierte Humanitärs. So konnten sich die mithorchenden Nichtjuristen auf jedes Wort und jede Formulierung stürzen und mich als einen Wüstenfuchs zerreißen“ (S. 13 f.). Dem entsprechen die (schon anlässlich der ersten Publikation ausführlich erörterten) bisweilen bitterbösen Ausfälle gegen diejenigen, die Schmitt als die geistigen Kriegsgewinnler der Jahre nach 1945 ansah, so etwa Karl Jaspers, Gustav Radbruch und Theodor Heuss, aber auch gegen jene, die ihm eigentlich geistig und politisch näher (z. T. sehr nahe) gestanden hatten wie vor allem Ernst Jünger, aber auch Gottfried Benn und Martin Heidegger, die alle den Absprung in die neue Zeit erheblich besser geschafft hatten als Schmitt und die jetzt im geistigen und literarischen Leben der frühen Bundesrepublik wieder in der ersten Reihe standen, während der grollende Jurist sich in seinem provinziellen sauerländischen Exil als Verfemter im Stadium offizieller „Diskriminierung und Kriminalisierung“ (S. 254) empfinden musste, so jedenfalls in einer Aufzeichnung vom September 1951. Immerhin enthält der Band, auch darauf hat Mehring aufmerksam gemacht, eine der wenigen Bemerkungen Schmitts zum von ihm meist gemiedenen Thema des Holocaust: Die „großen“ Begriffe Demokratie, Friede, Menschheit seien „heute so vergiftet“, weil „die ganze Atmosphäre vergiftet ist. Aber wodurch? Weil zu viele Leichen geschändet, verbrannt worden sind und ihre Asche in die Luft geflogen ist; weil die Luft voll ist von der Asche geschändeter Leichen, denen man die ehrliche Beerdigung verweigert hat“ (S. 252). – Andere Bemerkungen erweisen sich als wesentlich hermetischer, sind manchmal überhaupt nicht (vielleicht noch nicht?) entzifferbar. Nicht Weniges bleibt im Gedächtnis des aufmerksamen Lesers haften, so etwa Schmitts Feststellung, er selbst habe im Laufe seines Lebens vierzehn Sprachen zu beherrschen gelernt: neben zwei toten und fünf lebendigen auch sieben „ideologische“ Sprachen: „humanistisch, liberaldemokratisch, faschistisch, marxistisch, römisch-katholisch christlich-evangelisch, ferner: positivistisch und hegelianisch“ (S. 341). Und eine weitere Grunderfahrung formuliert Schmitt hier, die der bedeutendste Historiker unter seinen vielen Nachkriegsschülern, Reinhart Koselleck, später theoretisch weiter entfalten sollte. Schmitt sagt: „Der Besiegte schreibt die Geschichte; der Gescheiterte ist der Gescheitere“ (S. 253) – weil er gezwungen ist, die Ursachen der eigenen Niederlage und der fortwirkenden Misere zu ergründen, ebenso rücksichtslos wie intensiv. Und Koselleck fügt Jahrzehnte später, als Echo sozusagen, hinzu: „Mag die Geschichte – kurzfristig – von den Siegern gemacht werden, die historischen Erkenntnisgewinne stammen – langfristig – von den Besiegten“.9 Aus der neuesten Literatur über Carl Schmitt ragt fraglos, schon hinsichtlich ihres äußeren Umfangs, die mehr als sechshundert Druckseiten umfassende Monographie 9 Reinhart Koselleck: Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze, in: derselbe: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000, S. 27 – 77, hier S. 68.

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Volker Neumanns hervor. Der Verfasser ist inzwischen emeritierter Professor an der Humboldt-Universität Berlin und hat sich seit seiner Dissertation immer wieder einmal mit Schmitt befasst;10 er gehörte ebenfalls bereits zu den Teilnehmern der ersten großen Tagung zu Leben und Werk Schmitt, die Helmut Quaritsch 1986 an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer veranstaltete.11 Dabei ist Neumann sogar, was angesichts seiner monumentalen Darstellung auf den ersten Blick überraschen muss, gelegentlich darum bemüht, die Bedeutung von Schmitts Werk zu relativieren, so etwa, wenn er feststellt: „Schmitts Schriften mögen anregend sein, einem vertieften Nachdenken halten aber nur die wenigsten stand“ (S. 220). Damit dürfte indessen kaum zu erklären sein, warum man dem Lebenswerk eines solchen Mannes dann eine umfangreiche Monographie von mehr als 600 Druckseiten widmet. Diesen Widerspruch löst Neumann jedenfalls nur indirekt auf, beispielsweise in seiner sehr ausführlichen und gründlichen Analyse der „Verfassungslehre“ Schmitts von 1928, die er äußerst detailliert und auch kenntnisreich behandelt (S. 99 – 168). Überhaupt werden die „Weimarer“ Aspekte von Schmitts Werk besonders eingehend beleuchtet, so etwa auch die Fragen nach der „Diktatur des Reichspräsidenten“, nach dem „Hüter der Verfassung“, nach der Grundunterscheidung zwischen Legalität und Legitimität sowie schließlich nach der Bedeutung und Problematik des sog. „Preußenschlages“ vom Sommer 1932 und Schmitts Rolle als Vertreter der Reichsregierung im Prozess „Preußen contra Reich“ vor dem Staatsgerichtshof der Republik. Der Abschnitt E, überschrieben „Finstere Zeiten“ (S. 303 – 418), befindet sich nicht in jeder Hinsicht auf der Höhe der Forschung: So sind Neumann, um hier nur ein einziges Beispiel anzuführen, etwa die schon vor fast zwei Jahrzehnten aufgearbeiteten Hintergründe und Folgen der Kontroverse Schmitts mit dem Verfassungshistoriker Fritz Hartung über Schmitts Schrift „Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches – Der Sieg des Bürgers über den Soldaten“ (1934) entgangen.12 Der letzte Abschnitt des Buches, überschrieben: „Ernüchterungen, halbherzige Neuanfänge und dreiste Ausreden“ (S. 493 – 557), behandelt die späte Lebensphase des nach 1945 politisch und wissenschaftlich kaltgestellten Juristen. Neumann neigt hier dazu, den (vermutlich erst künftig in seinem ganzen Ausmaß wirklich zu rekonstruierenden) indirekten Einfluss Schmitts wenigstens auf Teile der nachwachsenden Generation deutscher Staats- und Verfassungsrechtler zu unterschätzen. Aufschlussreich ist hier der knappe, ein bis heute nur wenig bekanntes Seitenthema der Schmitt-Rezeption nach 1945 behandelnde Abschnitt über einen vermeintlichen Einfluss Schmittscher Ideen auf die Verfassung der französischen Fünf10 Volker Neumann: Der Staat im Bürgerkrieg. Kontinuität und Wandlung des Staatsbegriffs in der politischen Theorie Carl Schmitts, Frankfurt a. M. – New York 1980. 11 Volker Neumann: Die Wirklichkeit im Lichte der Idee, in: Helmut Quaritsch (Hrsg.): Complexio Oppositorum – Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 557 – 575. 12 Hans-Christof Kraus: Soldatenstaat oder Verfassungsstaat? – Zur Kontroverse zwischen Carl Schmitt und Fritz Hartung über den preußisch-deutschen Konstitutionalismus (1934/35), in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 45 (1999), S. 275 – 310.

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ten Republik (S. 539 ff.). Neumann hält – mangels aussagekräftiger Quellenbelege – die „These vom ,Pére de la Vème republique‘ [für] eine Legende, an die man glauben kann oder auch nicht“ (S. 545). Über manche Aspekte des Lebens und Wirkens, vor allem auch der Rezeptionsgeschichte Schmittscher Ideen und Thesen dürfte indessen das letzte Wort noch nicht – noch lange nicht – gesprochen sein, deshalb sollte man sich mit vermeintlich abschließenden Urteilen eigentlich eher zurückhalten. Neumann führt am Ende seines Buches ein Zitat Niklas Luhmanns an, der in einem Interview einmal erklärt haben soll, Schmitt sei als Jurist „überschätzt“ worden, da bei ihm „rechtstechnisch gesehen gar nicht so viel zu holen“ sei (S. 559). Das mag ja sein – aber eben nur dann, wenn man die Jurisprudenz auf reine Rechtstechnik reduziert. Ob so etwas überhaupt der Fall sein sollte, darüber dürften sich die Juristen, und nicht nur sie, auch künftig noch streiten. Und Schmitt selbst hat sich, wie oben bereits zitiert, ja gerade nicht unter die „positivistischen Gesetzeshandhabungstechniker“ (Glossarium, S. 14) gerechnet. Als Argumentum contra Schmitt taugt eine solche Bemerkung, selbst wenn sie denn tatsächlich auf eine Autorität wie Luhmann zurückgehen sollte, sicher gar nichts. Neumann vertritt abschließend die Auffassung, dass die Bedeutung Schmitts heute vor allem in seinen staats- und verfassungsrechtlichen Schriften und Thesen gesehen werden müsse, besonders hinsichtlich seines Beitrags zur Grundrechtsdogmatik. Nicht zuletzt sei Schmitts Name, darauf weist Neumann sehr zu Recht noch einmal hin, „eng mit der Entstehungsgeschichte des konstruktiven Misstrauensvotums in Art. 67 GG verbunden“ (S. 559), damit immerhin mit einem fraglos zentralen und bis heute auch politisch überaus bedeutsamen Aspekt der neuesten deutschen Verfassungsgeschichte. Nicht ganz folgen kann man Neumann hingegen, wenn er behauptet, beim Völkerrechtlicher Schmitt sei „wenig zu holen“, hier habe er „kaum Spuren hinterlassen“ (S. 559). Mit Blick auf die allerneuesten weltpolitischen Entwicklungen wird man dagegen sagen können, dass Neumann (der sein Buch allerdings nach Ausweis der Datierung des Vorworts im September 2014 fertiggestellt hat) mit dieser Einschätzung vollkommen fehlgeht. Geopolitische Aspekte, völkerrechtliche Großraumtheorien werden gegenwärtig – vielleicht im von den Illusionen der 1990er Jahre noch stark geprägten akademischen Völkerrecht weniger als anderswo – erneut sehr intensiv diskutiert. Einflusszonen und Großräume, etwa des „Westens“, Chinas und Russlands, sind gegenwärtig politische Denkmodelle, die angesichts der aktuellen weltpolitischen Krisen und der Schwäche der sich selbst blockierenden UNO eine ungeahnte Aktualität erfahren haben. Es dürfte sich bald zeigen, in wie starkem Maße Politik und Wissenschaft künftig auf völkerrechtliche Theoreme Schmitts zurückgreifen werden oder nicht. Bedeutend, anregend und wichtig bleiben, wie so oft, weniger Schmitts Antworten als seine Fragestellungen und Problemaufrisse.

IV. Rezensionen

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Wolfgang Neugebauer: Otto Hintze. Denkräume und Sozialwelten eines Historikers in der Globalisierung 1861 – 1940. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, 661 S. „Wer ist der Professor Hintze?“ Diese Frage notierte der preußische Hausminister Wilhelm von Wedel in seinem Bericht an den preußischen König und deutschen Kaiser Wilhelm II. Ende 1906 (181). Nach der Lektüre der gut sechshundert Textseiten starken Biographie aus der Feder des Berliner Historikers Wolfgang Neugebauer kann der Leser diese Frage mit vielen Fakten in zahlreichen Verästelungen ausführlich beantworten. Sicher wollte der letzte Hohenzollern-Kaiser es damals vor 110 Jahren nicht allzu präzise wissen – ganz im Gegensatz zu dem heutigen Wissenschaftshistoriker, der schon lange, im Grunde seit dem Tod Hintzes vor gut 75 Jahren, spätestens aber seit der Renaissance seiner methodischen Innovationen vor rund fünfzig Jahren auf dieses Buch wartet. Geschrieben hat das voluminöse Werk der einzige Historiker, der es überhaupt wagen konnte, eine solche Biographie zu verfassen. Denn seit Gerhard Oestreich, der eine umfangreiche Materialsammlung vor seinem Tod 1978 nicht mehr zu einer Darstellung zusammenzuführen vermochte, hat sich niemand intensiver als Neugebauer auf Quellensuche in Archiven und Antiquariaten begeben und sich an zahlreichen Funden von und über Hintze erfreuen können, die sein Privatarchiv seit Ende der 1980er Jahre füllten. Viele Historiker hielten gleichwohl eine Biographie für nahezu unmöglich, da ein eigentlicher Nachlass Hintzes bis auf wenige Reste fehlt. Selbst viele Schriften Hintzes blieben ungedruckt und gingen damit nach Kriegswirren und anderen Katastrophen der Überlieferungsgeschichte verloren. Umso mehr erfreut man sich nunmehr an dem beeindruckend umfangreichen Quellenfundament der vorliegenden Studie. Die Zahl der in der Darstellung ausgebreiteten Trouvaillen geht sicher in die Hunderte: vom Billet beim Hausbesuch bis zum Leihschein in der Bibliothek. Besonders hervorzuheben sind natürlich jene aussagekräftigen Quellen, die sich in der Korrespondenz Hintzes finden. Hier ist neben zahlreichen verstreuten Einzelbriefen vor allem der persönliche und wissenschaftliche Austausch mit dem Germanisten Konrad Burdach aus den 1920er und 30er Jahren hervorzuheben. Bemerkenswert sind u. a. auch die Funde des Hohenzollern-Buchmanuskripts als Makulaturpapier in den Hedwig Hintze Papers der Houghton Library der Harvard University oder des Aufsatzentwurfs über „Probleme einer vergleichenden Verfassungsgeschichte“ im Nachlass des Philosophen Erich Rothacker in der Universitätsbibliothek Bonn. Stolz beginnt Neugebauer auch gleich seine Darstellung mit einem Autographen, einem Dankesbrief Otto Hintzes an seinen Historikerkollegen Max Lenz vom August 1931 für dessen Geburtstagsgrüße: „Es ist schön von solchen großen Herrn, so menschlich mit einem – Verfassungshistoriker oder gar Soziologen zu sprechen!“ Und nachdem Neugebauer die Defizite der bisherigen Hintze-Forschung, die unter „erheblichen perspektivischen Verzerrungen“ leide (16), gründlich dargelegt hat, prasselt geradezu eine Quellenwucht auf den Leser nieder. Die Hintze-Biogra-

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phie schöpft aus 28 Archiven und öffentlichen Handschriftensammlungen in Deutschland, den Niederlanden und den Vereinigten Staaten sowie aus zwei Privatarchiven. Neben den Briefschaften ist es eine zweite Quellengattung, deren Wert der Autor betont und aus deren Nichtkenntnis zahlreiche Fehlurteile der Hintze-Forschung resultieren: Es sind die Vorlesungsmitschriften der Studenten Hintzes, von denen er 28 Stück ausfindig machen konnte. Das hier Notierte – so missverständlich und bruchstückhaft es im Einzelfall auch sein mag – kann, zumal in Fällen doppelter Überlieferung, die verlorengegangenen Manuskripte der legendären Vorlesungen über die „Allgemeine Verfassungsgeschichte aller Nationen in vergleichender Sicht“ zum Teil ersetzen. Neugebauers Lust an der Präsentation neuer Quellenfunde geht sehr weit; sie führt zu ausgiebigen Zitatreihen sowohl aus den ungedruckten Beständen wie aus den zum Teil erstaunlich wenig bekannten, weil entlegenen oder kleinen Schriften (Rezensionen) Hintzes. Die Zitatmontagen ermüden nicht allein wegen ihrer Ausführlichkeit, sondern auch wegen des nicht immer einfachen Stiles des Zitierten wie des Zitierenden. Und die Einbettung der Quellen in die eigene Argumentation macht die Sache durchaus nicht einfacher. Worum geht es Neugebauer in seiner gewichtigen Darstellung? Er möchte nicht allein Hintzes Werk rekonstruieren und damit erstmals angemessen darstellen und würdigen; ihm geht es vielmehr darüber hinaus um „einen fallstudienartigen Beitrag zur Geschichte des Bildungsbürgertums“ (8), einen „Beitrag zur Analyse der bürgerlich-aristokratischen Kultur in seiner Zeit“ (20). Hintzes eigentliches wissenschaftliches Anliegen sei durch sein publiziertes Werk sowie „durch seine soziale Herkunft und daraus folgende exogene Zwänge […] in tragischer Weise deformiert“. Es gelte also Hintzes Geschichtsschreibung zu „re-formieren“ und seine Kernaussagen zu reformulieren. Darüber hinaus möchte Neugebauer durch Textanalyse sowie Kontextualisierung von Hintzes Schriften den „Wandel seines Konzepts von Staatlichkeit“ sowie dessen „Erweiterung zu globalisierter Weltsicht und sozialwissenschaftlichen Denkkollektiven“ verfolgen (30). Der Autor entgeht hier nicht der Versuchung, Begriffe der modernen Soziologie und der aktuellen Politik zu verwenden, die verführerisch wirken: Denkräume, Sozialwelten und schließlich Globalisierung. Gelingt ihm sein Ziel einer kontextualisierten und dennoch aktualitätsorientierten Biographie? Neugebauer geht Hintzes Leben und Wirken in sieben chronologischen Teilen und zwei Querschnitten sowie 27 Kapiteln nach. Das klein gedruckte Literaturverzeichnis füllt fünfzig Seiten, allein knapp zwanzig davon mit gedruckten Veröffentlichungen Hintzes, von der umfangreichen Monographie bis zur kleinsten Buchbesprechung. Die „Wege zu Otto Hintze“ (20), die Neugebauer über drei Jahrzehnte gegangen ist, waren lang und verschlungen, und der Autor lässt den Leser ausgiebig daran teilhaben, wie die Karriere des als Preußen-Historiograph Verkannten sich zwischen der Provinzstadt Pyritz in Hinterpommern und der Geisteswelt Berlins entwickelte.

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Von entscheidender Bedeutung beim wissenschaftlichen Aufstieg Hintzes erwiesen sich insbesondere zwei Berliner Gelehrte: der Preußen-Historiograph und Geschichtstheoretiker Johann Gustav Droysen zum einen und der Wirtschaftshistoriker Gustav Schmoller zum anderen. Der Erste vermittelte ihm die Wahrnehmung von „Zuständen“ und Verfassungsverhältnissen in der Geschichte, der Zweite führte ihn zu komparativen und interdisziplinären Verfahren und förderte seinen wissenschaftlichen Weg im preußischen Netzwerk der Acta Borussica-Forschungen. Dass Hintze darüber hinaus vom mächtigen preußischen Ministerialreferenten Friedrich Althoff protegiert wurde, für den er im Gegenzug Historikerkollegen inspizierte und begutachtete, erleichterte seinen wissenschaftlichen Werdegang bis zur Ernennung zum Ordinarius im Jahr 1902 erheblich. Im wissenschaftlichen Umfeld eines Berliner „Denkkollektivs“ (105) mit den persönlichen Freundschaften zu den Kollegen Otto Krauske und Friedrich Meinecke entstanden allmählich Hintzes methodische Grundannahmen und führten zu einer „frühen empirischen Sozialwissenschaft“ (89). Es waren insbesondere die in den Rezensionen Hintzes aus den 1890er Jahren sichtbar werdenden methodischen Anregungen durch und Kontroversen mit Wilhelm Roscher, Friedrich Ratzel und Georg Jellinek zum einen sowie John Seeley, Herbert Spencer und Karl Marx zum anderen, die eine äußerst spezifische Sicht auf die politischen und gesellschaftlichen Zustände ergaben. Hintze griff deren Ideen als Inspirationen für seine eigene Arbeit auf, indem er sie anverwandelte. Dies gilt insbesondere für den Typus-Begriff, den Hintze nicht erst nach 1920 von Max Weber als Idealtyp rezipierte, sondern bereits zwei Jahrzehnte früher bei dem Göttinger Philosophen Heinrich Maier durch „anschauliche Abstraktion“ als Realtyp adaptierte (525). Im Gegensatz zu dem soziologischen Systematiker Weber betätigte sich Hintze als historischer „Entwicklungsreiher“ und stellte dabei in einzelnen Epochen insbesondere die kausale „Interdependenz von politischem Druck und sozialer Struktur“ heraus (346). Neugebauer nimmt solche wissenschaftsgenetischen Fäden akribisch auf und geht ihnen detailliert nach. Dabei gelingt es ihm zu zeigen, dass Hintzes Forschungen sich durch ein hohes Maß an Kontinuität auszeichneten, da dieser bereits in den 1890er Jahren seine Methodik durch Komparatistik und Interdisziplinarität geschärft und weiterentwickelt hatte. Dem Autor ist es zudem wichtig darzulegen, dass Hintze keinesfalls auf einen Preußen-Historiographen reduziert werden dürfe, selbst wenn – gerade in der frühen und mittleren Schaffensphase – die weit überwiegende Zahl seiner Publikationen diesem Thema galt. Preußen war und blieb bei Hintze in erster Linie Paradigma für Prozesse und Strukturen der allgemeinen Verfassungs- und Kulturgeschichte. Neben den preußischen Themen schildert Neugebauer en détail die anderen wissenschaftlichen Vorhaben Hintzes, die zum größten Teil unvollendet oder unveröffentlicht in der Schublade blieben. In erster Linie ist hier die „Allgemeine Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der neueren Staaten“ zu nennen, sein Hauptprojekt, das er nach der Jahrhundertwende begann und das ihn bis in die letzten Lebens-

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jahre beschäftigte. Über andere Texttorsi war bislang so gut wie nichts bekannt: die Anfänge von Biographien über Friedrich II. oder den preußischen Finanzminister Johannes von Miquel oder eine „Deutsche Geschichte“ von 1648 bis 1815. Neugebauer gelingt es eindrucksvoll, viele neue Facetten über Hintzes Agieren an der Berliner Fakultät, seine Arbeitsweise, seine Lehrtätigkeit und seine Schriften anhand einer Vielzahl bisher unbekannter Quellen zu entfalten. Der Leser taucht tief in die Wissenschaftswelt Berlins und die Denkräume Hintzes zwischen 1890 und 1930 ein und erfährt vielfältige Details. Es geht um Berufungsangelegenheiten, Kollegenschaft und Schülerverhältnisse, um die Fakultätspolitik und die außeruniversitären Aktivitäten bei der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Weit weniger als über diese Wissenschaftssphären aber vermag der Autor über die bildungsbürgerliche Sozialwelt und die bürgerlich-aristokratische Kultur im Allgemeinen mitzuteilen. Hier ist der selbstgesetzte Anspruch zu hoch, weil sich dies nur sehr schwer im Rahmen und aus der Warte einer solchen Biographie vermitteln lässt. Über Hintze als Person jenseits des Wissenschaftlers erfährt man eher wenig. Allein auf seine eindrucksvollen Gesichtszüge, wie man sie auf dem Schutzumschlag wahrnimmt, wird allenfalls im Spiegel von Zeitzeugen, ansonsten aber nicht näher eingegangen. Der Persönlichkeit und den Empfindungen Hintzes kommt man selten nah, wenn man einmal von den Passagen über den Beginn und die Entwicklung seiner Liebesbeziehung zu Hedwig Hintze sowie den zunehmend einsamen Lebensabend des schwerkranken Gelehrten absieht. Hier dominiert plötzlich das Persönliche – der spannungsreiche Wechsel zwischen Harmonie und Dissonanz der Ehepartner einerseits sowie Überanstrengung der Kräfte und zehrende Krankheit andererseits – so dass die Wissenschaft in diesen Passagen kaum mehr zur Sprache kommt. Daran, dass die Wohnsituation Hintzes in den verschiedenen Bezirken und Wohnquartieren Berlins spezifiziert erläutert wird, erkennt man die persönliche Verwurzelung des Verfassers. Dagegen wirkt der Begriff der „Globalisierung“ im Untertitel, mit dem Hintzes geographisch weltweit ausgreifende verfassungsgeschichtliche Analysen gemeint sind, etwas übertrieben modernistisch. Allein bei Hintzes weitgespannten interdisziplinären Interessen wird schon eindrucksvoll deutlich, wie methodisch modern er dachte, lehrte und publizierte. Hintze war lange in vieler Hinsicht seiner Zeit voraus, bis sich im Zeichen der Volksgeschichte die Historiographie ideologisch motiviert begrenzte. Beide wissenschaftshistorischen Entwicklungen haben die Rezeption von Hintzes Werk deutlich erschwert. Zunächst dachten viele seiner Historikerkollegen in der Welt des traditionellen Historismus und beschäftigten sich mit den sogenannten Haupt- und Staatsaktionen der „hohen Politik“. Hintze wurde ähnlich wie sein Leipziger Kollege Karl Lamprecht als Außenseiter betrachtet, weil er sich für Strukturen und Zustände interessierte, die Fachgrenzen sprengte und auch ideologisch verfemte Denker wie Marx als inspirierend ansah. Nach 1933 warf man ihm die Internationalität und die Beschäftigung mit jüdischen Gelehrten vor.

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Etwas anders sah es mit dem Preußen-Schwerpunkt der Veröffentlichungen Hintzes aus. Dies war über Jahrzehnte in Wissenschaft wie Öffentlichkeit gewünscht und breit akzeptiert. Es rührte zunächst biographisch von seiner Beteiligung an dem Großunternehmen der Acta Borussica her, blieb aber ein deutlicher Publikationskern auch nach seinem Rückzug aus deren Mitarbeiterstab. Als ihm der Jubiläumsband zum 500. Thronjubiläum der Hohenzollern-Dynastie 1915 geradezu aufgezwungen wurde („das falsche Buch“, 412), verstärkte dies seinen Ruf als „Haushistoriograph“ bei Zeitgenossen wie Nachwelt gleichermaßen. Für Hintze selbst bewirkte der umfängliche Band, der „weder Siegesallee noch Bilderbuch“ war (418), eine Blockade anderer Pläne: Er stellte insofern eine wissenschaftliche, zugleich aber wegen der Überbeanspruchung seiner Kräfte auch eine gesundheitliche „Katastrophe“ dar (424). Neugebauer weist anhand der Vorlesungsskripte überzeugend nach, dass Hintze als Hochschullehrer weder preußen- noch europazentriert war, sondern die globalen Perspektiven einer vergleichenden Verfassungsgeschichte der neueren Staatenwelt im Auge hatte und damit die an Leopold von Ranke erinnernde Titelgebung geographisch deutlich ausweitete. Dies gilt bereits für die Studien der 1890er Jahre und erst recht für die späten Schriften um 1930. In diesen Aufsätzen führt Hintze viele Stränge früherer Forschungen zusammen, er zieht die „großen Summen“. Es handelt sich, so Neugebauer, um „Notbergungen“ „in Jahren neuer physischer und äußerer Gefahren“ (466). Auch die tragischen Vorgänge um Hintze und seine Frau nach der NS-Machtübernahme 1933 lässt Neugebauer nach den vielen Recherchen anderer Historiker (unter anderem von Brigitta Oestreich) in den vergangenen Jahrzehnten nochmals Revue passieren und kann auch hier zum Teil neue Akzente setzen. So gelingt es ihm nachzuweisen, dass Otto Hintze bis in seine letzten Lebensjahre an den Manuskripten einer historischen „allgemeinen Verfassungsgeschichte“ und einer systematischen „Staatenkunde“, „Staatslehre“ oder „Politik“ gearbeitet hat, und er kann zumindest plausibel machen, dass beide Manuskripte nach seinem Tod zunächst nicht – wie testamentarisch verfügt – vernichtet wurden. Nicht neu, aber dennoch spannend nachzulesen, ist die verwickelte Rezeptionsgeschichte Hintzes in den 1950er und 1960er Jahren, die neben Gerhard Oestreich und Theodor Schieder nicht zuletzt einigen emigrierten deutsch-amerikanischen Historikern, wie Dietrich Gerhard, Felix Gilbert oder Hans Rosenberg, zu verdanken war. Trotz einer Renaissance sei aber das „Innovationspotential“ Hintzes bis heute nicht ausgeschöpft, „weil es [bisher] nicht annähernd zu erkennen war“ (605). Dem will der Autor mit seiner Darstellung abhelfen. Nach diesem Appell endet das Buch Neugebauers allerdings recht abrupt, ohne Ausblick und ohne Resümee. Neugebauer lässt kaum eine Facette des wissenschaftlichen Lebens und Wirkens Hintzes aus. Und obwohl er beteuert, dass er sich der bei Biographien lauernden Gefahr zu großer Kontingenz des Lebenslaufs bewusst sei, kann er dieser doch nicht immer ausweichen. Gerade dadurch, dass er in Hintzes wissenschaftlichem Wirken nach 1900 so gut wie keine Zäsur gelten lassen möchte, sieht der Leser zahlreiche

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Kontinuitäten und logische Prozesse in dessen historiographischem Werk. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass Neugebauer vor lauter Mitteilungsdrang immer wieder spätere (katastrophale oder tragische) Entwicklungen ankündigt und damit dem Leben Hintzes eine eigentümliche und schicksalhaft wirkende „Bedrohtheit“ zukommt („wie sich noch zeigen wird“, 195; „es wird noch zu schildern sein“, 209; „wir werden sehen, wie in dieser Überspannung der Kräfte der Bogen brach“, 297). Neugebauer ist überdies ein zuweilen sehr strenger Umgang mit früheren Untersuchungen über Hintze eigen. Da für diese weit weniger Quellenmaterial verfügbar war, sind deren Urteile in mancher Hinsicht nunmehr zu revidieren. Aber selbst vorsichtige ältere Wertungen lässt Neugebauer oft nicht gelten und straft sie über Gebühr rigoros ab. Eher selten billigt er seinen Vorgängern „gute Beobachtungen“ zu (467, Anm. 73, u. 471, Anm. 101). Gegenüber der ein oder anderen älteren kritischen Stimme wirkt Neugebauers eigenes Hintze-Bild fast unbefleckt; nur selten (so in der Einschätzung von Rudolf Smends Integrationslehre, 534) geht er auf Distanz zu seinem Helden. Hintze ist der methodisch Fortschrittliche, der thematisch Weitausgreifende, ein Historiker zudem in der Rolle als Prognostiker und Visionär („hellsichtiger Beobachter“, 367; „stetig wachsendes Ahnen der kommenden Dinge“, 387, ähnlich 446, 490, 558 – 560). Natürlich ordnet Neugebauer Hintze auch politisch ein. Er kritisiert die allzu eilfertige Einschätzung des Berliner Gelehrten als sozialliberalen Parteigänger, betont dagegen seine Befürwortung des monarchischen Konstitutionalismus und seine Kaisertreue. Zugleich aber sieht er Hintzes Wandel im Weltkrieg: Weder Annexionist noch Pazifist, erkannte er den unvermeidlich scheinenden politischen Zug zur Demokratie. Im Unterschied zu seiner Frau wurde Hintze nie zum wirklichen Republikfreund, und definitiv war er kein Anhänger des Parlamentarismus oder des Parteiwesens; Neugebauer spricht von einem „konservativen Liberalismus“ (454). Vielmehr zeigt sich bereits vor, im und vor allem nach dem Weltkrieg bei Hintze ein „resignativer Realismus“, der zu einer zunehmenden politischen Heimatlosigkeit führte (449 f., 500, 535). Der Fakten- und Belegreichtum Neugebauers ist beeindruckend und bedrückend zugleich. Hier schreibt jemand eine Art Lebenswerk und möchte den Leser an allem und jedem Faktum über die Biographie seines „Helden“ teilhaben lassen. Viele Sätze sind informationsübersättigt, die Nachweise nehmen große Teile der Seiten in Anspruch. Der Autor – so scheint es – möchte nach seinem Buch nur noch wenig Platz lassen für weitere Studien: Nichts soll nach Abschluss und Publikation seines Werkes und dem derzeitigen Kenntnisstand bei der Quellenrecherche ungesagt sein über Otto Hintze. So und nur so entstehen gut 600 Textseiten über einen fraglos äußerst bedeutenden Historiker. Aber für wen sind diese gedacht? Der Spezialist, der Wissenschaftshistoriker ist dankbar für die ausführliche Darstellung und die teils überbordenden Belege, aber der interessierte Laie und Leser anderer Historikerbiographien hätte es sich – nach der Art der Studien von Christoph Cornelißen über Ger-

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hard Ritter oder von Christoph Nonn über Theodor Schieder – auch bei einer Biographie über Otto Hintze sicherlich etwas stringenter und zugespitzter gewünscht. Ewald Grothe, Wuppertal Otfried Höffe: Geschichte des politischen Denkens. Zwölf Porträts und acht Miniaturen. C. H. Beck, München 2016, 416 S. Otfried Höffe präsentiert in seinem jüngsten Buch ein ambitioniertes Vorhaben: eine umfassende Geschichte des politischen Denkens. Wie immer stellt sich bei solch einem Unternehmen die Frage nach den Gesichtspunkten der Relevanz, den leitenden Problemstellungen und der inhaltlichen Orientierung, nach Auswahl und Ordnung des Materials. Eine Geschichte des politischen Denkens ist mehr als eine Geschichte der politischen Philosophie. Höffe legt Wert auf den Hinweis, daß durch seine Auswahl nicht nur Philosophen, sondern auch Theologen zu Wort kämen, sogar ein Dichter (Dante), „ein politischer Intellektueller“ (Machiavelli) und „ein aktiver Politiker“ (Hamilton) (13). Einen Maßstab dafür, was „genuin politisches Denken“ sein kann, findet Höffe in den „Federalist Papers“ (286). Diese Texte sind für ihn „ein selten gelungenes Beispiel für ein im emphatischen Sinn politisches Denken“ (287). Sie sind „in einer historischen Situation geboren und auf ein aktuelles politisches Ziel ausgerichtet“, sie haben einen „politischen Anlass“ und folgen einer „klaren politischen Intention“, ihre Autoren verbindet „jugendlicher Elan, eine mit Nüchternheit gepaarte juristische und politische Erfahrung“ und ihre bewundernswerte „Fähigkeit, grundsätzliche Überlegungen (über die Herkunft, Verteilung und Kontrolle politischer Macht) sowohl mit historischen Vergleichen (mit der Antike, mit England, dem deutschen Reich, der Schweiz usw.) als auch mit konkreten Erwägungen zu verbinden“ (286 f., 291, vgl. 344). Der Politischen Philosophie, ergänzt Höffe, würde es „nicht schaden“, wenn sie „an dieser Verbindung Maß nähme“ (291). Höffe arbeitet die 2500 Jahre westlicher Tradition zunächst in 12 Porträts auf – eine Struktur, die sich gut in das Vorlesungsprogramm eines Semesters fügt. Als Meilensteine dienen Porträts von Platon, Aristoteles, Cicero, Augustinus, Niccolò Machiavelli, Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, Georg W. F. Hegel, John Stuart Mill und John Rawls. Das sind „jene unstrittig Großen, die wegen ihrer zeitübergreifenden Gedanken wahrhaft ,Geschichte gemacht‘ haben“ (12). Auf der zweiten Ebene bieten acht Miniaturen Ausblicke auf Denker von unterschiedlichem Gewicht (vgl. 12): al-Fa¯ra¯bı¯, Thomas von Aquin, Dante Alighieri, Marsilius von Padua, Baruch de Spinoza, die Federalists, Karl Marx und Friedrich Nietzsche. Schließlich vermitteln neun „Zwischenspiele“ jeweils auf wenigen Seiten übergreifende Orientierung: zu den Anfängen des Kosmopolitismus, zum politischen Denken im Neuen Testament, zum Islam, zur weltlichen und geistlichen Gewalt, zum Prinzip der theoretischen Ökonomie bei Wilhelm von Ockham, zur politischen Utopie, dem Fürstenspiegel und Völkerrecht, zur europäischen Aufklärung, dem Deutschen Idealismus sowie zur Herrschaftstypologie und dem Begriff des Politischen. Damit ist eine gewichtende Struktur gefunden.

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Höffe versteht sein Unternehmen nicht nur als ideengeschichtliche Arbeit, sondern zugleich als Beitrag zur öffentlichen Selbstverständigung in Krisenzeiten – insofern beansprucht er für sich selbst den Titel des politischen Denkers. Die entscheidenden Fragen hinsichtlich der Voraussetzungen und Funktionsbedingungen von politischen Strukturen, Institutionen, Hierarchien und Akteuren, die sich uns heute stellen, seien weder in ihrer empirischen Relevanz, noch in ihrer normativen Bedeutung und ihrem utopischen Sinn neu. Zugleich seien die gegenwärtigen Gegebenheiten „wesentlich von den Denkern geprägt“ (11), deren Kommentare und Kritiken, deren „Diagnosen und Therapievorschläge mitsamt deren Begriffen und Denkfiguren“ (12) die Herkunft unseres heutigen politischen Denkens und Befindens repräsentieren. Höffe verbindet damit eine politische Hoffnung: die Hoffnung auf eine Weltrepublik der Zukunft, auf eine globale Fortschreibung der Idee des demokratischen Rechts- und Verfassungsstaates in einer „Weltrechtsordnung“, die die Welt der bewährten nationalstaatlichen Einheiten ergänzt (vgl. 406 f.). Die Geschichte des politischen Denkens habe diese moderne Errungenschaft von Beginn an vorbereitet und vorangetrieben (vgl. 75 f., 208). Damit ist ein weiteres Kriterium für die Geschichtsschreibung politischer Ideen gefunden: die kosmopolitischen Erfolge der modernen Globalisierung (von den politischen Katastrophen ist weniger die Rede) oder in Höffes Formulierung: die „Dominanz einer universalistischen Rechtsethik mit dem Gedanken von Menschenrechten und einer zunehmenden Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Verhältnisse“ (338). Für den Geistesgeschichtler Höffe ergibt sich daraus eine zweifache Perspektive, einmal von der Höhe der Gegenwart zurück in die Vergangenheit und zum anderen aus der Vergangenheit herauf zum Gipfel der Rechtssysteme von heute. In Höffes Buch trifft der Blick des Historikers auf den jener Denker, deren visionäre Kraft den Glanz der Zukunft früh zu erfassen vermochte. So dienen nicht selten zeitbezogene Attribute als Formeln der Relevanz. Die „Federalists“, die Musterknaben des politischen Denkens, haben „eine weit über die Zeit hinausreichende Bedeutung“ (287). Was wertvoll ist, war „zukunftsweisend“ (z. B. 170, 178, 257, 299). Die zeitliche Indizierung hat verschiedene Erscheinungsformen. Die Aktualität von politischen Denkern zeigt sich für Höffe in der zeitübergreifenden Präsenz ihrer Schöpfungen. Zum Beispiel habe Platon mit seiner Akademie eine Institution ins Leben gerufen, „die mit relativ geringen Veränderungen bis in die heutige Universitäts- und Forschungslandschaft“ fortlebe, eine „Art von Wissenschaftskolleg (Institute of Advanced Studies)“ (21). Aristoteles‘ Einsicht, daß ein gelingendes Leben „nur in einem geeigneten institutionellen Rahmen“ möglich wäre, bleibe „bis heute gültig“ (71). Somit kann er als „Vordenker des demokratischen Rechtsstaates und des entsprechenden politischen Liberalismus“ gelten (72). Und auch Hobbes bleibe mit seinem „grundlegenden Argumentationsmuster […] auf der Bühne des politischen Diskurses bis heute präsent“ (226). Höffes Interesse an einer Weltrechtsordnung impliziert ein Interesse an der westlichen Naturrechtstradition (vgl. 406). Das antike Denken gehe zwar in das europäi-

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sche Rechtsdenken ein, inhaltlich bleibt es aber zunächst ziemlich unbestimmt (57, 85, 89). Das Mittelalter entwickelte mit der Unterscheidung von Naturrecht, Völkerrecht und bürgerlichem Recht „eine allgemein anerkannte Rechtssystematik“ (137). Mit Blick auf Thomas von Aquin stellt Höffe generalisierend fest: „Als Kerngrammatik des Sozialen und notwendiges Instrument jeder nicht-willkürlichen Herrschaft ist das Recht, verstanden als Inbegriff von Gesetzesnormen, für das politische Denken unverzichtbar“ (147). Diese Grammatik erfüllt sich in Kants „Rechts- und Friedensordnung, die aus den drei Dimensionen, einem Staatsrecht, einem Völkerrecht und einem Weltbürgerrecht, besteht“ (303). Das schwierige Verhältnis zwischen Politik, Philosophie und Religion wird von Höffe anhand des Christentums und des Islam thematisiert. Mit dem Christentum trete allgemein „eine neue geistige und soziale Kraft“ – und zwar von durchaus „revolutionärer Tragweite“ – in die Geschichte ein (92). Eine Folge davon sei „eine wahrhaft radikale Relativierung alles Politischen“ (93). Im Gegensatz dazu „besteht der Islam in einer radikalen, bis zu den Wurzeln reichenden theozentrischen Kultur: Zum religiösen Denken gehört hier das Politische untrennbar hinzu“ (121). Er demonstriert die problematischen Folgen religiösen Denkens zunächst an Augustinus und al-Fa¯ra¯bı¯. Politische Philosophie werde bei Augustinus durch politische Theologie ersetzt (107). Das eschatologische Moment führe zu einer Entwertung des Diesseitigen und gefährde die Rechts- und Staatstheorie im Allgemeinen; für einen „Rechtsfortschritt“ gebe es keinen Platz (109, 111). Augustinus wird dadurch geradezu zu einem Modernisierungshemmnis, das überwunden werden müsse. Im Kontext des Islam entfalte al-Fa¯ra¯bı¯ seinerseits das „politisch revolutionäre Potential“ von „Platons Gedanken eines Philosophen-Königs, dem er eine islamisch-religiöse Wendung gibt“ (126). Dann aber zeige das – im großen und ganzen an politischem Denken weniger interessierte – Mittelalter seine konstruktiven Modernisierungschancen und bringe wahre „Glanzleistungen“ hervor (135, 138 f.). Damit zielt Höffe auf Thomas von Aquin, dessen Philosophieren nicht von der Theologie „kontaminiert“ worden wäre; im Gegenteil: „Thomas lehnt jede Vermischung und Durchmischung ab“ (145). Und somit erscheint bei Höffe ein „säkularer“ Thomas, für den Naturrecht reines „Vernunftrecht“ ist (vgl. 145, 148, 157). Thomas zeige sich als „Republikaner“, und nicht nur das, sondern „auch ansatzweise als Demokrat“ mit einem Hauch von „Sozialstaatlichkeit“ (152, 154, 156). Einen Vorläufer hatte der säkulare Thomas offenbar in Aristoteles, dessen regulative Idee des Naturrechts „ins allgemein europäische Rechtsdenken“ eingegangen sei (57). Ein wichtiger Grund dafür sei gewesen, daß schon bei Aristoteles „die Hinweise zum Naturrecht, sogar die ganze Ethik und Politik, sowohl ohne jede Religion bzw. Theologie als auch ohne jede Metaphysik“ ausgekommen wären (57 f.). Die nächsten Phasen der Modernisierung markieren Dante Alighieri und Marsilius von Padua (vgl. 140, 169). Während Dantes Visionen einer „Weltgesellschaft“ „fraglos zukunftsweisend“ wären (170 f.), habe Marsilius‘ säkulare Friedenstheorie „in einem umfassenden Sinn modernen Charakter“ (174). Und schließlich bleibe auch Kant bei einem „rein säkularen Denken“ (314).

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Ungebrochen schreitet die Modernisierung voran. Schon Machiavelli habe sich nur noch für die politische Macht „als sein einziges Thema“, sein „Exklusivthema auch in methodischer Exklusivität“ interessiert (190 f.). Diese Konzentration sei eine Voraussetzung für die nur „provisorische Amoral“ dieses im „Innersten“ republikanisch gesinnten Pragmatikers (196, 199). Thomas Hobbes habe dem Machtinteresse das Legitimationserfordernis entgegen gestellt und das daraus entstehende Problem durch die Vertragstheorie gelöst. Beides, das Argumentationsmuster der Vertragstheorie und der „legitimatorische Individualismus“ als deren Methode gehöre „zum gemeinsamen Erbe konstitutioneller Demokratien“ und sei deswegen „modern und aktuell zugleich“, während jedes anders gelagerte politische Denken dem Verdikt verfällt, „vormodern“ zu sein (209, 226). Spinoza bleibt es überlassen, die Emanzipation des freien Individuums von Staat und Religion zu vervollständigen und die „theologischen und politischen Vorurteile“ endgültig zu überwinden (236). Er habe sich allein auf das Recht zur freien Urteilsbildung mittels der eigenen Vernunft berufen. Daher gebühre Spinoza die Ehre eines besonderen Titels: „Wortführer der Menschheit“ (237). Dann gibt es immer wieder Bremser und Rückschläge. Mit John Locke konsolidiert der Liberalismus zwar, zu dessen Erzvater er in der angelsächsischen Welt wird. Bei ihm finden sich „zukunftsweisende, […] aber kaum revolutionär neue Gedanken“ (257). Ähnliches gilt für den Rousseau, den Höffe studiert hat und der seine ambivalente, mal moderne, mal modernitätskritische Haltung „ohne überragenden Scharfsinn entfaltet“ habe (269, 283). Besser getroffen haben es die besagten Föderalisten: ihr „nordamerikanischer Patriotismus wird zu einem moralischen Kosmopolitismus überhöht“ (286). Und dann natürlich der Rechtslehrer Kant, der sich mit seinem „Ewigen Frieden“ als „eminenter“ politischer Denker etabliert hat (313). Hegel stellt hingegen wieder ein retardierendes Moment in der Weltrechtsgeschichte dar, er „verkürzt“ mit seiner Fixierung auf den Nationalstaat „das im Universalismus liegende Potential“, weil ihm nur ein „verengter Begriff von Kosmopolitismus“ zur Verfügung gestanden habe (339). John St. Mill, der sich „für Kenntnisse, nicht Bekenntnisse“ eingesetzt habe, „verteidigt leidenschaftlich das Recht jedes Menschen, seine Überzeugungen frei zu bilden und ihnen gemäß das eigene Leben frei zu gestalten“ und schreibt damit den Liberalismus fort (356). Aber gegen Kant und vor allem nach der Utilitarismuskritik von John Rawls „hat Mills Utilitarismus wenig Chancen“ (359). Gemäß dem Höffeschen Beurteilungssystem ist schließlich auch Marx „ein großer politischer Denker“ und „eine Person von weltgeschichtlichem Rang“ (369, vgl. 344). Schade nur, so hat es den Anschein, daß Marx manches über- und anderes unterschätzt habe, zum Beispiel „die Bedeutung, die […] nicht zuletzt die großen politischen Denker für die Entwicklung der Menschheit haben“ (370). War das ein verstecktes Lob? Und dann gab es noch diesen außerordentlichen Sonderling, Friedrich Nietzsche, dessen „Beitrag zum politischen Denken“ „aus bewußten Provokationen, aus einer radikalen Zeit- und Zivilisationskritik und aus einem intellektuellen, zugleich künstlerischen Elitismus“ besteht, „der sich das Privileg einer Politik als Antipolitik, nämlich einer aus geistiger Überlegenheit gespeisten Abstinenz von Politik, nimmt“ (373) Diesen Lapsus kuriert schließlich John Rawls, dessen „Theorie der Gerechtigkeit“ so eingeschlagen habe, daß seither

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die Geschichte des politischen Denkens „den lapidaren Titel: Von Platon zu Rawls“ tragen müsse (388). Rawls habe einen „mehrdimensionale[n] Paradigmenwechsel“ herbeigeführt: die Abwendung von der sprachanalytischen Metaethik, die Rückkehr vom Utilitarismus zur Gerechtigkeit, der Gedanke gesellschaftlicher Grundgüter, die Sozialstaatlichkeit und das Modell rationaler Entscheidung (391 ff.). Trotzdem bleibt eine gewisse Enttäuschung zurück: „Fragen von Herrschaft, Macht und zwangsbefugtem Recht spielen nur eine marginale Rolle, womit eine gewisse Moralisierung, zugleich Entpolitisierung der politischen Philosophie stattfindet“ (404). Unschön sind auch Rawls’ „konzeptuelle Bescheidenheit“ und sein „Verzicht auf jeden universalistischen Anspruch“ (404). Höffe hat ein souveränes Buch vorgelegt. Mit dem Überblick des Altmeisters gelingt es ihm, das historische Gewicht und die praktische Relevanz der westlichen Tradition einem interessierten Publikum in unakademischer Sprache vor Augen zu führen und dabei die Gründung der Moderne in Antike und Mittelalter nie aus dem Blick zu verlieren. Weil das Buch für eine breitere Öffentlichkeit gedacht ist, darf es auf die wissenschaftliche Diskussion verzichten (sogar auf jegliche Berücksichtigung von Henning Ottmanns vielbändigem Werk oder dem von Manfred Brocker herausgegebenen Band, die unter demselben Titel veröffentlich sind wie Höffes Buch). Manches Mal möchte sich aber auch ein lesender Laie etwas detailliertere Belege wünschen. Höffes Geschichte der Großen im Geschäft des politischen Denkens spiegelt letztlich die „persönliche[n] Vorlieben“ ihres Verfassers wider (12). In diesem sehr persönlichen Panoptikum kann aufs Ganze gesehen der Eindruck entstehen, als würden die realen Kämpfe der unversöhnlichen geistigen Mächte und der einander todfeinden existentiellen Interessen jedenfalls nicht im politischen Denken des Westens ausgefochten, als gäbe es eigentlich nur „gutes“ politisches Denken im Sinne einer zwar kritischen und kontroversen, gelegentlich auch fehlgehenden Reflexion der politischen Realität, letztlich aber der konstruktiven Auseinandersetzung mit den Fragen von Macht und Staat. Am Ende der Geschichte erscheint schließlich Höffes Einsicht in die Notwendigkeit einer modernen, globalen Rechtsordnung, auf die hin die Tradition so zielsicher gestrebt hat. Man darf sich fragen, weshalb bei so viel Fortschritt im politischen Denken und so großer Bedeutung der politischen Denker für die Weltgeschichte sich diese alle mit Krisen auseinandersetzen mußten (z. B. 11, 20, 343, 369). Wo kommt denn der „Geist derart menschenverachtender Ideologien“ (382) her, der so wirksam ist für die zahllosen Tyranneien und Diktaturen, für die freiheitsund menschenvernichtenden Regimes, für die totalitären Versuchungen und Irrwege, die ihre eigenen Gestalten politischen Denkens aus dem Lehm der Geschichte geformt haben – und wo geht er hin? Clemens Kauffmann, Erlangen

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Samuel Salzborn: Kampf der Ideen. Die Geschichte politischer Ideen im Kontext. Nomos, Baden-Baden 2015, 201 S. Samuel Salzborn, der in Göttingen Sozialwissenschaften lehrt, ist ein ungemein produktiver und vielseitiger Autor. Seine Abhandlungen fokussieren Themen der politischen Kulturanalyse und der politischen Theorie ebenso wie Darstellungen und Analysen zur Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus in Deutschland. In jüngerer Zeit hat sich Salzborn immer mehr auch mit Fragestellungen hinsichtlich der Vergleichbarkeit von klassischen Topoi der Politischen Theorie- und Ideengeschichte in außereuropäischen Kulturen beschäftigt. Davon handelt insbesondere auch der nun vorliegende Band, der die Geschichte von politischen Theorien hinsichtlich ihrer ideellen Grundlagen quasi im Format einer kleinen Weltkulturanalyse von Paradigmen politischer Klassiker behandelt. Diese werden in ihrem sozioökonomischen bzw. kulturellen Deutungskontext zueinander und auch gegeneinander dargestellt. Denn Salzborn versteht die Geschichte politischer Ideen nicht einfach als eine lineare Entwicklung, die sich mit den Maßstäben der Aufklärung als Fortschritt diagnostizieren ließe, sondern er deutet die Inhalte der Politischen Ideengeschichte als Formationen eines permanenten Kampfes um die jeweils beste (einzig richtige), d. h. gute Idee. Politische Ideen fungieren nie allein nur für sich selbst und aus sich selbst heraus, sondern sind immer schon in einem wechselhaften Diskursgeschehen zu verorten, der klassische Attribute des Kampfes, hier der Idee A gegen die Idee B, aufweist. Insofern macht es Sinn, die politischen Ideen als an sich auszukämpfende Prinzipien in einem quasi dialektischen Verfahren unter die Lupe zu nehmen. Jedoch nicht in dem Sinne, dass dabei die Neuauflage eines hegelianischen Positions- und Negationsprogramms oder deren materialistische Variante erfolgt, sondern Salzborn hat sich hier für ein Konzept der Kontextualisierung entschieden, bei dem zugleich nicht der übliche Pfad der Historisierung der Ideen in ihrem jeweils zeitgenössischen Umfeld verfolgt wird. Vielmehr geht es ihm um den Versuch, eine „metatheoretische Skizze“ zu formulieren (8), mit deren Hilfe man sich die Abläufe und die Wechselbeziehungen zwischen diversen politischen Ideen besser vor Augen führen kann. Dies wird zudem noch im Sinne einer Globaldarstellung angestrebt, ein zweifellos ebenso gewaltiges wie ambitioniertes Unterfangen. Politische Ideen stehen immer für oder gegen etwas, und dieses Etwas ist nicht einfach nur ideell, sondern in empirischer Hinsicht instrumentell. Damit sind politische Ideen Repräsentationsanzeigen von Herrschaftsinteressen oder deren Durchbrechung und Niederringung. Ideen folgen, wenn sie wirkungsmächtig sind, den Artikulations- und Interessenslagen von Schichten, Gesellschaften, Eliten oder Gegeneliten, am stärksten zweifellos den Massen – oder mehr noch (eigentlich umgekehrt) diese folgen den Ideen. Die politische Theoriebildung, die aus den Ideen hervorgeht, ist so gesehen zu keinem Zeitpunkt ein Glasperlenspiel, sondern in einem ganz unmittelbaren Sinn existenziell – und, je nach Gebrauchslogik, totalisierend-ideologisch in ihrem hermeneutischen Impetus. Fragen von Freiheit und Gleichheit, von

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Individualität und Kollektivität, vom Zauberwort der Moderne Gerechtigkeit ganz zu schweigen, haben somit ihre ganz eigene, weil erst im Wechselspiel des Kampfes um und mit den Ideen erfahrbare gestalterische Funktion. Dieser epistemologisch reizvolle Ansatz wird von Salzborn allerdings (leider) nur modernistisch verfolgt, d. h. er bleibt bei einer Orientierung an den maßgeblichen Ideen der Aufklärung fixiert. Immerhin führt dies aber im Weltvergleich zu einigen interessanten und wichtigen Fragestellungen, nämlich wie modern ist diese Moderne und wie einheitlich ist die ihr zugeschriebene Agenda überhaupt in globaler Hinsicht? Zu Recht konstatiert Salzborn hier „gleichzeitige Ungleichzeitigkeiten“ (35), die eher in einer Vielzahl von Modernitätsansprüchen kulminieren statt in der meist dogmatisch zugeschriebenen Rolle von Universalisierung. Diese wird im Rahmen der Vergleichsskizzierungen eher kritisch gesehen. Nicht zuletzt die der Moderne immanenten Gegenbewegungen wie Antiamerikanismus, Islamismus und Antisemitismus, die hier sehr pointiert beschrieben werden, machen deutlich, dass die Moderne keiner historizistischen Spur des Fortschritts folgt, sondern einem merkwürdigen Wechselspiel von Konstruktion und Dekonstruktion unterliegt, die mit dem Vorschlag der Frankfurter Schule, hier von einer Dialektik der Aufklärung zu sprechen, wenig adäquat beschrieben wird. Die ideologischen Grundrichtungen der Moderne, denen Salzborn in ihrem antagonistischen Ringen um die Deutungshoheit systematisch nachgeht, wie dem liberalen Welt- und Leitbild, den konservativen Entwürfen (hier signifikant im Plural), den sozialistischen und sozialisierenden Wertvorstellungen bis hin zu anarchistischen Gegenentwürfen und deren totalisierenden Überwindungskonzepten im 20. Jahrhundert, lassen die Deutungshoheit eben dieser Moderne als derart in sich verzettelt und fragmentarisiert erscheinen, dass außer den großen Ladenhütern wie der Staat, die Nation und das Individuum für eine einheitliche Substanz der Politischen Theorie im Sinne ihrer sachlogischen Universalisierbarbeit im Zeitalter der Globalisierung mehr neue Fragen als klare Antworten übrig bleiben. Insbesondere der vergleichende Blick im Rahmen von Kolonialisierungs- und Dekolonialisierungsprozessen auf außereuropäische Entwicklungen in Lateinamerika, in Afrika, in der arabischen Welt und in Asien, die Salzborn immer wieder versucht einzubringen, macht deutlich, dass die Uneinheitlichkeit in der Moderne mindestens ebenso stark auftritt wie die Züge einer universalen Vereinheitlichungslogik. Es stellt sich bei vielen Interpretamenten natürlich auch die Frage, ob man tatsächlich schon allein die Vergleichbarkeit unter dem Label aufklärerischer, d. h. europäisch-westlicher Episteme erreicht. Insofern kann und will der vorliegende Band auch nicht mehr sein als eine Versuchsskizze für etwas Größeres, nämlich einer globalen Betrachtung vom Wirken politischer Ideen. Dies jedoch ist dem Autor auf sehr anregende Weise gelungen. Peter Nitschke, Vechta

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Lothar Fritze: Kritik des moralischen Universalismus. Über das Recht auf Selbstbehauptung in der Flüchtlingskrise. Schöningh Verlag (Schönburger Schriften zu Recht und Staat), Paderborn 2017, 277 S. Die Preisgabe des Schutzes der deutschen Staatsgrenzen im Spätsommer 2015 im Zuge der unkontrollierten Masseneinwanderung aus vornehmlich muslimischen Ländern nach Europa und insbesondere Deutschland, die man „Flüchtlingskrise“ nennt, wurde zum entscheidenden Katalysator für das offene Hervortreten politischer Frontstellungen innerhalb der europäischen Gesellschaften, die überall die innenpolitischen Strukturen tiefgehend verändert haben. Die entscheidenden Frontlinien in diesen Auseinandersetzungen lassen sich letztlich alle einer Dreieckskonstellation zuordnen: Dem Antagonismus zwischen den Positionen sogenannter „Populisten“ und „Globalisten“ einerseits und, zweitens, der Inkompatibilität zwischen „westlichen Werten“ und einem islamischen Selbstverständnis, das wegen seines gesellschaftlichen Totalitätsanspruchs nur durch den Terminus „politische Religion“ angemessen verstehbar wird. Die Gegnerschaften in dieser Dreierkonstellation werden durch recht divergente Motive gespeist, aber in der öffentlichen Auseinandersetzung über die „Flüchtlingskrise“ hat sich doch schnell eine Motivebene vor und über alle anderen gestellt und ihre dominante Position bis in die Gegenwart weitgehend unangefochten beibehalten: die Ebene des moralischen Postulats. Es ist genau diese Ebene, die im Zentrum von Lothar Fritzes Schrift steht, und ich glaube, dass noch niemand so präzise und erschöpfend die entgegengesetzten Moraltypen unter die Lupe genommen hat, die die Kontroversen um die „Flüchtlingskrise“ bestimmen, wie Fritze. Womit die deutsche Bevölkerung offensiv konfrontiert wurde (und wird), ist eine Extremform des moralischen Universalismus, die Arnold Gehlen „Humanitarismus“ genannt hat; eine Variante des Moralpostulats, die in sich eine von Fritze immer wieder kenntlich gemachte Tendenz zur Verabsolutierung ihres Sollensanspruchs trägt. Das führt zur mehr oder weniger offenen Bestreitung der Legitimität kontroverser, partikularistisch orientierter Moralbegriffe, und deswegen werden die massenmedial ausgefochtenen politischen Kämpfe in jüngster Zeit von schroffen Freund-Feind-Dichotomien und Intentionen der Verächtlichmachung des politisch-moralischen Gegners bestimmt, die noch vor einigen Jahren undenkbar erschienen. Zwar hat es im Zusammenhang mit der „Flüchtlingskrise“ mehrfach im Anschluss an Arnold Gehlens „Moral und Hypermoral“ Untersuchungen des politischen Moraluniversalimus und seiner partikularistischen Kontrahenten gegeben, aber was Fritzes Schrift vor allen diesen auszeichnet, ist doch zweierlei: Fritze nimmt, erstens, den „humanitaristischen“ Moraluniversalismus wirklich „beim Wort“. Er entwickelt in einer argumentativ kaum bestreitbaren Weise, welche politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen eine Verwirklichung seiner zentralen Postulate nach sich ziehen müsste. Indem er diese Konsequenzen „sine ira et studio“ offenlegt, verhilft er Anhängern dieses Moraltypus zu einer Klarheit über sich selbst, die ihnen in der Regel fehlt – übrigens ganz im Sinne der Intentionen von Max Webers idealtypischer Analysemethode von Ideen. Dabei stellt sich heraus, dass die radikale Verwirklichung humanitaristischer Postulate auf die Selbstzerstörung der uns

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vertrauten Formen europäischer Gesellschaftlichkeit hinauslaufen müsste. Sie hätte Folgewirkungen, die wohl kaum jemand, der mit Verantwortungsbewusstsein und Sorge in die Zukunft blickt, seinen Nachkommen zumuten wollte. Und zweitens finden sich bei Fritze auch neue Einsichten in die geistesgeschichtlichen Hintergründe des „humanitaristischen“ Moraluniversalismus. Außer den schon bekannten Motivkomplexen aus Familienethos, Christentum und Aufklärung wird bei Fritze auch ganz ausführlich über die Rolle des Marxismus für die Gegenwartsform des Moraluniversalismus nachgedacht. Fritze zeigt auf, dass nach dem Scheitern der marxistischen Gesellschaftsexperimente im humanitaristischen Moraluniversalimus gewissermaßen ein Marxismus „zweiter Ordnung“ nachwirkt, dessen versteckte totalitäre Potenzen unsere Gesellschaft in ähnlicher Weise überfordern könnten wie diejenigen des Marxismus erster Ordnung. Einige Einzelpunkte von Fritzes Kritik des Moraluniversalimus seien ihrer grundsätzlichen Bedeutung wegen eigens erwähnt. Zunächst macht Fritze unmissverständlich klar, dass seine Kritik nur jene Variante des Moraluniversalismus treffen will, die das universalistische Postulat als soziales Anspruchsrecht konzipiert. Solange universalistische Moralpostulate nur in der Form von Abwehrrechten gedacht sind, seien sie hingegen uneingeschränkt zu befürworten: „Ob das Opfer einer Rechtsverletzung zur Familie gehörte oder nicht, In- oder Ausländer ist, ist moralisch irrelevant. Abwehrrechte zu beachten verlangt nur, bestimmte Dinge nicht zu tun […]“ (43). Erst in seiner Form als universalistisches Anspruchsrecht, das einzelne oder Staaten zu einem bestimmten Handeln verpflichtet, entfaltet der Moraluniversalismus seine gesellschaftszerstörende Potenz. Ein weiterer von Fritze immer wieder betonter Aspekt ist der anthropologische Widersinn von Grundprämissen des humanitaristischen Moraluniversalismus. Die humanitaristische Übertragung familienethischer Imperative auf die Menschheit negiert, dass sich moralisches Handeln gemeinhin nur in abgestuften Präferenzen zu verwirklichen vermag, in denen ein Vorrang des Eigenen – der eigenen Familie, Nation etc. – vor dem Fremden als vollkommen selbstevident verstanden wird. Wer derartige Präferenzen aufheben will, formuliert moralische Überforderungen, die, dem anthropologisch-psychologischen Bauplan der menschlichen Affektstruktur widersprechend, Gesellschaften zutiefst verunsichern müssen. Dieser anthropologische Widersinn des humanitaristischen Moraluniversalimus ist eng verknüpft mit einem soziologischen, den Fritze auch immer wieder herausarbeitet: der Negation des Prinzips der Grenze, ohne das menschliche Vergesellschaftung gar nicht denkbar ist. Menschliche Vergesellschaftung funktioniert nur zellenbildend, in abgestuften Einheiten, bei denen jeweils Trennlinien einen Status des Drin- oder Draußenseins festlegen – ohne „Diskriminierungen“, unterscheidende Grenzziehungen sind menschliche Gesellschaften gar nicht denkbar. Der humanitaristische Moraluniversalismus aber zielt letztlich auf die Abschaffung aller sozialen Trennlinien und will in seiner konsequent zu Ende gedachten Form einen utopischen Zustand, der nur noch das atomisierte Einzelindividuum einerseits und die Menschheit andererseits kennt. Und zuletzt sei noch auf Fritzes prägnante Darstellungen der demokratiefeindlichen Auswirkungen des humanitaristischen Moraluniversalismus

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hingewiesen. Der Moraluniversalismus, der sich in seiner Propagierung radikaler moralischer Gleichheitsprinzipien als Inbegriff des Demokratischen missversteht, unterhöhlt in zweifacher Weise Grundpfeiler der Demokratie: Je stärker er via Immigration sein Postulat des „grenzenlosen“ sozialen Anspruchsrechts verwirklicht, desto stärker wird erstens das sozialstaatliche System der davon betroffenen Gesellschaften strapaziert und letztlich destruiert – ein eigentlich selbstverständlicher Gedanke. Mindestens genauso bedeutsam aber sind die Folgen der binnengesellschaftlichen kulturellen Fragmentierungen, die mit der massenhaften Immigration von Menschen aus sehr andersartigen Kulturkreisen verbunden sein können: Sie erhöhen die Gefahr, dass das gemeinsame Wertefundament, das der gesellschaftlichen Legitimation des demokratischen Mehrheitsprinzips zugrunde liegt, zerbröselt. In unserem affektiv geladenen politischen Meinungsklima ist Fritzes Studie eine unerlässliche Lektüre für alle, die an rationaler Verständigung interessiert sind. Friedrich Pohlmann, Freiburg Christoph Hübner: Die Rechtskatholiken, die Zentrumspartei und die katholische Kirche in Deutschland bis zum Reichskonkordat von 1933. Ein Beitrag zur Geschichte des Scheiterns der Weimarer Republik. Lit Verlag (Beiträge zu Theologie, Kirche und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, hrsg. von Rainer Bendel, Lydia Bendel-Maidl und Joachim Köhler; Bd. 24), Berlin 2014, 875 S. Am 10. August 1920 gründeten zentrumskritische Katholiken in Berlin den „Reichsausschuss der Katholiken in der Deutschnationalen Volkspartei“, später zumeist „Reichskatholikenausschuss“ (RKA) genannt. Als Hauptexponent dieser zentrumsfeindlichen „Nationalkatholiken“ galt bislang der Straßburger Geschichtsprofessor, Publizist und Reichstagsabgeordnete Martin Spahn. Die so genannten „Rechts- beziehungsweise Nationalkatholiken“ sind Gegenstand der vorliegenden Untersuchung (11). Dabei ist das Ziel dieser an der Universität Erlangen-Nürnberg bei Werner K. Blessing eingereichten Dissertation die politische, gesellschaftliche und intellektuelle Verortung der zentrumsfeindlichen, gleichzeitig aber kirchentreuen konservativen Katholiken im Kontext der Geschichte des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Bis zur politischen Wende von 1989/90 war die Quellenlage für das Verfassen einer solchen Arbeit ungünstig. Unerreichbar hinter dem „Eisernen Vorhang“ lagen wichtige Aktenbestände wie die zur „Deutschnationalen Volkspartei“ oder des „Bundes der Frontsoldaten“, die der Autor für seine Dissertation mit einbeziehen konnte. Auch die erst in den 1980er Jahren im Koblenzer Bundesarchiv zugänglich gemachten Nachlässe Martin Spahns und des deutschnational und monarchisch orientierten Münchener Geschichtsprofessors Max Buchner wertete der Autor aus. Im vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe getragenen Archivamt in Münster sah Hübner eine Vielzahl von dort als Depositum gelagerten Adelsarchiven ein. Zu erwähnen sind hier die für die Arbeit material- und aufschlussreichen Nachlässe der westfälischen Adligen Engelbert und Alfred von Landsberg-Velen, die wäh-

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rend der Weimarer Republik an exponierter Stelle im „Reichskatholikenausschuss“ standen. Auf diesem Weg konnte ebenso der Nachlass des Freiherrn Ferdinand von Lüninck ausgewertet werden, der als Stahlhelmführer, späterer Oberpräsident von Westfalen und Mitglied des Widerstands vom 20. Juli einer der prominentesten Katholiken der Weimarer Republik war. Der Autor konzentriert sich aufgrund der Quellenlage notwendigerweise auf wenige katholische Periodika. Dazu zählen für das Kaiserreich die „Deutsche Wacht“, für die Weimarer Zeit u. a. die von Max Buchner herausgegebenen „Gelben Hefte“, die von 1926 bis 1929 erschienene Wochenzeitung „Das Deutsche Volk“, sowie die von Karl Görres und dem national orientierten Katholiken und späteren Widerstandskämpfer Paul Lejeune-Jung herausgegebene zentrumskritische „Görres-Korrespondenz“. Nicht zuletzt bearbeitet der Autor das 1921 bis 1925 herausgegebene „Katholische Korrespondenzblatt“. Ohne die Vielzahl der in den letzten Jahren erschienenen Akteneditionen wäre es dem Autor wahrscheinlich unmöglich gewesen, sowohl die umfangreich festgehaltenen bischöflichen als auch die römischen Reaktionen auf die Aktivitäten des „Reichskatholikenausschusses“ zu benennen. Hinsichtlich der vorhandenen Literatur stand der Autor vor der Schwierigkeit, dass die bisher veröffentlichten Biographien über die wichtigsten „Rechtskatholiken“, beispielsweise die Biographie von Gabriele Clemens über den Straßburger Professor Martin Spahn nicht zu einer „kontextualisierten Gesamtdarstellung des Rechtskatholizismus im Kaiserreich und in der Weimarer Zeit“ (17) vorstießen. Diese Schwierigkeiten scheint der Verfasser dieser Arbeit bei der Beantwortung seiner spezifischen Fragestellung gemeistert zu haben. So gelingt es Hübner anhand des Koblenzer Nachlasses von Martin Spahn den bisher vernachlässigten Umstand nachzuweisen, dass seine gegen die Zentrumsdemokraten um Matthias Erzberger gerichteten Forderungen nach einer Annäherung des Katholizismus an die christlichkonservativ-protestantischen Kräfte im Kaiserreich – so unter anderem in der katholischen Studentenbewegung – auf sehr fruchtbaren Boden fielen. Ein wenig zu knapp geraten erscheint in der Einleitung der Methodenteil, erhebt die Arbeit doch den Anspruch, den Ansatz einer „Neuen Ideengeschichte“ zu verfolgen. Leider spiegelt sich dieser Ansatz in den Ergebnissen der Arbeit nicht wider. Dies ist zu bedauern, liefert diese Dissertation doch entscheidende Ergebnisse zur Neubewertung der bislang von der Forschung missachteten „Rechtskatholiken“. Chronologisch weit ausholend referiert der Autor im seinem zweiten Kapitel zunächst die Vorgeschichte und das erste Auftreten des deutschen Rechtskatholizismus in Deutschland nach den Umbrüchen zwischen 1789 und 1815 und im Kulturkampf des Kaiserreichs. Weiter schildert der Autor in diesem einführenden Teil den Aufstieg Martin Spahns und die zweite rechtskatholische Welle in Form der 1907 gegründeten „Deutschen Vereinigung“ und ihrem publizistischem Organ, der „Deutschen Wacht“. Die Vorgeschichte des Rechtskatholizismus im Kaiserreich lässt Hübner mit einer Analyse der politischen Lage im katholischen Deutschland im Jahr 1918 enden. Im dritten Kapitel geht der Autor auf die Neuformierung der zentrumskritischen Katholiken zwischen Sommer 1919 und Sommer 1921 ein. Dabei macht

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der Verfasser drei verschiedene Phasen aus, was den Erkenntnisgewinn dieser Arbeit ungemein steigert. Den Höhepunkt bildete die Gründung des „Reichsausschusses der Katholiken in der Deutschnationalen Volkspartei“ am 10. August 1920 (220 ff.), der mit „Nationalkatholiken“, „Jungkonservativen“ und „Integralen“, streng an Rom orientierten Katholiken, doch verhältnismäßig unterschiedliche Strömungen des rechtskatholischen Spektrums zusammenfasste. Den Abschluss dieser Formierungsphase bildete der Eintritt des reformkatholischen „interkonfessionalistischen“ Sozialpolitikers Martin Spahn in die DNVP. Zu den Kernpunkten des rechtskatholischen Programms gehörte, wie der Autor anhand der zahlreichen gegen das Zentrum gerichteten Artikel im „Katholischen Korrespondenzblatt“ aus dem Jahr 1921 nachweist, der Angriff auf die so genannte „Kaplanokratie“: Kritisiert wurde die Wählermobilisierung und die Parteinahme für das katholische Zentrum durch den niederen Klerus. Dem Zentrum gelang es zwar, sich zu diesem Zeitpunkt Rückendeckung beim deutschen Episkopat zu verschaffen, dennoch gingen die deutschnationalen Katholiken in den für die katholische Kirche ab 1920 wichtigsten Fragen des Reichsschulgesetzes und des Konkordats in die Offensive. In der Schulfrage orientierte sich der „Reichskatholikenausschuss“ – sehr zum Entsetzen des Zentrums – an der in Gestalt einer bischöflichen Denkschrift vom 20. November 1920 erhobenen Maximalforderung, die die Sicherung der Bekenntnisschule durch ein Reichsschulgesetz beinhaltete. Auch in der Konkordatsfrage brachte der „Reichskatholikenausschuss“ zu Beginn der 1920er Jahre das Zentrum bereits in Bedrängnis. Rückendeckung, so erfährt man aus dem vierten Kapitel, erhielten die deutschnationalen Katholiken zunehmend aus dem Vatikan. Dieser hatte insofern einen bedeutenden Wandel im Verhältnis zur italienischen Politik eingeleitet, als er zum einen zu den italienischen Parlamentswahlen am 6. April 1924 ein politisches Betätigungsverbot für den italienischen Klerus erließ, zum anderen landesweit die unpolitische Katholische Aktion konstituierte. Das damit besiegelte Ende des politischen Katholizismus in Italien sahen die „Rechtskatholiken“ durchaus als vorbildhaft für Deutschland an, indem sie in einer Eingabe an die Fuldaer Bischofskonferenz vom Juli 1924 die deutschen Bischöfe aufforderten, den Klerus und das katholische Verbandswesen zu entpolitisieren (353 ff.). Örtlicher Schwerpunkt der Auseinandersetzungen wurde nun Rom, wie Hübner im sechsten Kapitel ausführt. Ab Mitte der 1920er Jahre wurde Nuntius Eugenio Pacelli der Ansprechpartner der Deutschnationalen und der Zentrumsrechten im Kampf mit der Zentrumsführung. Auf die Eingabe von adligen Zentrumsrechten an den Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, Kardinal Bertram, reagierte dieser hingegen abweisend, indem er in den rechts stehenden Adligen DNVP-Sympathisanten erkannte, die nach seiner Einschätzung nur aus materiellen Interessen handelten (435 f.). Die deutschnationalen Katholiken verfolgten während der Auseinandersetzungen der nächsten Jahre beispielsweise bei der Frage nach der Enteignung der Fürstenvermögen die Linie, dass „das Bestreben der politischen Linken nach einer entschädigungslosen Enteignung der Fürsten weder mit dem neoscholastischen noch mit dem deutschen Zivilrecht vereinbar“ sein solle (464). Anders als bei den

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bisherigen innerkatholischen Auseinandersetzungen gerieten aber auch zentrumsfreundliche katholische Adelsvertreter in Aufregung, wie aus den von Hübner bearbeiteten westfälischen Adelsarchiven hervorgeht. Von der Forschung bislang nur wenig beachtet, widmet sich der Autor im siebten Kapitel wieder der Diskussion um die Einführung der Katholischen Aktion in Deutschland. Überzeugend entfaltet Hübner hier seine These von einer gezielten Einbindung führender „Rechtskatholiken“ in die Katholische Aktion während des für den politischen Katholizismus verlustreichen Wahljahres 1928. Hintergrund sei die veränderte Haltung Pacellis gegenüber dem politischen Kurs des Zentrums gewesen, das mit „seiner ,kaplanokratischen‘ Mobilisierungsstrategie als potentielle Gefahr für die gesellschaftliche und damit für die kirchlich-religiöse Geschlossenheit der deutschen Katholiken“ angesehen wurde (526). Noch brisantere Ergebnisse legt der Autor in den beiden abschließenden Teilen seiner Dissertation vor. Der Verfasser spricht im achten Kapitel die zunehmende Annäherung rechtskatholischer Kreise an die NSDAP seit Mitte der 1920er Jahre an. So kommt Hübner nach Auswertung von Artikeln des Münchener Historikers Max Buchner in den „Gelben Heften“ zu dem Schluss, dass dieser die wesentliche Verantwortung für die Extrempositionen des Nationalsozialismus den demokratischen Kräften, „vor allem den Parteien des politischen Katholizismus“, zugeschoben habe (609). Wieder war es der Herausgeber der „Gelben Hefte“, Max Buchner, der, wie der Autor abschließend darlegt, beim Vorgehen der nichtnationalsozialistischen „Rechtskatholiken“ zwischen 1930 und 1931 die Initiative ergriff. Im Dezember 1930 schickte er einen Brief an Eugenio Pacelli (der Verfasser konnte ihn im Nachlass Buchner ausfindig machen), in dem der Historiker erneut die seit 1924 bekannte „rechtskatholische Argumentation von der Kirchen-Instrumentalisierung und dem Linksbündnis des politischen Katholizismus in Deutschland“ vertrat (637). Diese und andere rechtskatholische Initiativen zeitigten dann in Rom wiederum Ergebnisse, wie Reichskanzler Brüning bei seiner Vatikanaudienz im August 1931 zu spüren bekam. Offenbar drängte Pacelli damals auf eine Koalition mit der Rechten und auf einen möglichst baldigen Abschluss eines Konkordats (641 f). Hübner beurteilt die Hintergründe der Reichskonkordatsverhandlungen im Jahr 1933 neu: So gerieten nach dem Übertritt deutschnationaler Katholiken um Martin Spahn und Eduard Stadtler zur NSDAP insbesondere die Vertreter der beiden übrig gebliebenen katholischen Parteien unter Druck. Nach der erzwungenen Selbstauflösung von Zentrum und BVP am 4. und 5. Juli 1933, der bei den Konkordatsverhandlungen das Zugeständnis des Vatikans zur Entpolitisierung des deutschen Klerus vorausgegangen war, wenn entsprechender Schutz des katholischen Vereinswesens gewährleistet wäre, folgte die Paraphierung des Konkordats durch Eugenio Pacelli und Franz von Papen am 8. Juli 1933. Hitler, so Hübner weiter, sei nach Absegnung des Vertrages durch das Kabinett gut informiert gewesen, „über den tiefen Unmut, den gewisse dezidiert katholische Kreise über die Instrumentalisierung ihrer Kirche für die de facto liberal-demokratischen Ziele des politischen Katholizismus empfanden“ (782).

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Insgesamt würdigt diese ertragreiche Dissertation, der man größte Beachtung innerhalb der Forschung wünscht, das gesamte rechtskatholische Spektrum in einer Weise, wie es noch keine Studie vor ihr getan hat. Insbesondere wurde hier erstmals umfassend das politische Kernprogramm der zentrumskritischen Katholiken, die keineswegs zu den Außenseitern innerhalb des deutschen Katholizismus des Kaiserreichs und der Weimarer Republik gehörten, herausgearbeitet. Dass ihr Vorwurf, insbesondere das Zentrum missbrauche den Klerus für politische Ziele, in keineswegs geringem Maße zum Scheitern des demokratischen politischen Katholizismus am Ende der Weimarer Republik mit beigetragen hat, ist durch Hübners Arbeit wesentlich deutlicher geworden. Auch das Aufzeigen der besonderen Beziehungen des Vatikans zur katholischen Rechten in Deutschland kann manche allzu apologetischen Urteile über das Verhalten der römisch-katholischen Kirche gegenüber dem Nationalsozialismus revidieren helfen. Allerdings hätte sich der Leser im Ausblick dieser Arbeit weitere Informationen über die spätere politische Grundhaltung einzelner rechtskatholischer Exponenten gewünscht. So zählten rechtskatholische Adlige, die später zum Widerstand des 20. Juli stießen, wie der aus Ostwig bei Brilon stammende Ferdinand von Lüninck, schließlich zu den wichtigen katholischen Märtyrern aus dem Laienstand zwischen 1933 und 1945. Moniert werden muss am Ende leider die vom Verlag geleistete schlechte Bindung dieses wertvollen und teuren Buches. Markus Schubert, Passau Raul Heimann: Die Frage nach Gerechtigkeit. Platons Politeia I und die Gerechtigkeitstheorien von Aristoteles, Hobbes und Nietzsche. Duncker & Humblot, Berlin 2015, 261 S. Wenn gegenwärtig die Frage nach der Gerechtigkeit als solcher gestellt wird, könnte man dies für einen Anachronismus halten. Geschieht es zudem in einer philosophischen Dissertation, fragt man sich, ob der Dissertant angesichts der vielverzweigten Gerechtigkeitsdebatten und deren weitläufiger Entstehungsgeschichte gut beraten gewesen ist. Liest man das Werk von Raul Heimann, bemerkt man aber alsbald, dass diese Perspektive ihm durchaus vertraut ist. Dennoch – oder gerade deswegen – hat er sich nicht von seinem Projekt abbringen lassen. Er empfindet es vielmehr als eine philosophische „Zumutung“, vor der genuin platonischen bzw. sokratischen Frage die Segel zu streichen. Die Gerechtigkeitsfrage auf die Anerkennung einer Vielfalt von bloßen „Vorstellungen von etwas“ zu reduzieren, das es als solches dann doch nicht geben soll, obwohl es für die Philosophie derart „zentral“ ist, erscheint ihm absurd, und das beflügelt seine denkerische Motivation (7). Dieses Wagnis macht neugierig. Zu Beginn gibt Heimann eine kurze aber prägnante Einleitung zur Situierung der Gerechtigkeitsfrage. Dabei gelingt es ihm bündig, sowohl die Alltagsbedeutung als auch die Debattenlage seit 1945 anzusprechen. Weiterhin verortet er nicht nur den Ursprung der Gerechtigkeitsfrage beim platonischen Sokrates, sondern zeigt auch die bleibende Bedeutung der Erörterung aus Politeia I für die ideengeschichtliche

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Entwicklung auf. Letztere erscheint Heimann wie eine Wiederholung der platonischen Diskussion „auf abstrakterem Niveau“ (21). Für die gegenwärtige Gerechtigkeitsdiskussion unterscheidet Heimann „prozedurale“, „materiale“ und „skeptische“ „Grundpositionen bzw. Paradigmen“ (14). Ihnen ordnet er neben weiteren Autoren auch jene drei für die ideengeschichtliche Auseinandersetzung herangezogenen zu: Hobbes, Aristoteles und Nietzsche (15). Nach Heimann entsprechen ihre Positionen denen des Kephalos, Polemarchos und Thrasymachos aus Platons Politeia I (18 f.). Während die heutige Debatte aber derart verfahren sei, dass „keine überzeugenden Antworten” auf die Gerechtigkeitsfrage mehr erwartet werden können (16) und die philosophische Diskussion gefahrlaufe, „zum bloßen Rechtfertigunsinstrument der besseren Um- und Durchsetzung bereits getroffener Entscheidungen herabzusinken“ (17), sieht Heimann im platonischen Pendant die Möglichkeit, mit Sokrates „ex negativo ein[en] positive[n] Begriff der Gerechtigkeit [zu] erschließen“ (19). Seine These ist, „dass die sokratische Frage in erster Linie nicht auf eine Definition, eine Vorstellung von der Gerechtigkeit zielt, sondern auf deren sachliche Begründung, auf die der Vorstellung zugrunde liegende Wirklichkeit“ (ebd.). Auf diese Weise möchte Heimann die bislang nicht genug gewürdigte „systematische Relevanz“ von Politeia I hervorheben (26). In einer Erörterung der wichtigsten Forschungsansätze begründet er gegenüber den philologisch-historischen, analytischen und schriftkritischen Ansätzen den Vorzug des sachlich-hermeneutischen Ansatzes (26 – 36). Dieser benötigt seines Erachtens einen „immanenten Nachvollzug“ (37). Dafür leistet Heimann eine detaillierte und kritisch reflektierende Nachzeichnung des Dialogs über mehr als hundert Seiten. Sie macht eindeutig den Schwerpunkt des Buches aus und führt den Leser sorgsam in die Kunst der sokratischen Prüfung ein. Die sokratische Frage wird dabei als dialektische Denkform des wissenden Nichtwissens präsentiert: „Die Aporie ist Ende und Anfang einer Suche nach der Begründung des Wissens von der Gerechtigkeit.“ (152) Gegenüber dieser umfangreichen Erörterung erscheint der nachfolgende Bezug auf die Theorien der Gerechtigkeit von Aristoteles, Hobbes und Nietzsche sparsamer. Ich möchte diesen Teil dennoch in den Vordergrund stellen, da er den historischen Bezug in origineller Weise für die aktuelle Gerechtigskeitsdebatte fruchtbar macht. Heimann analysiert für die materiale Gerechtigkeitsvorstellung des Aristoteles die Nikomachische Ethik mit Konzentration auf das fünfte Buch und dessen im ersten Buch ausgeführte methodische Voraussetzungen. Er bestimmt „Wesen“, „Eigenschaften“ und „Ziel der Gerechtigkeit“ und vergleicht sie mit denen des Kephalos. Bei beiden stellt er den Begründungsmangel fest, dass sie „ungeprüft von ihrer eigenen Vorstellung vom Guten aus[gehen]“ (174). Ebenso knapp, aber präzise wird anschließend die Gerechtigkeitstheorie von Hobbes vorgestellt. Sie erscheint Heimann in erster Linie als Ermittlung eines Programmes zur Selbsterhaltung, deren Kern letztlich die Vertragstheorie bilde (vgl. 194 f.). Diese liegt nach Heimann auch dem platonischen Polemarchos implizit zugrunde (195). Beide unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Vorzüge und Nachteile „vor allem im Reflexionsniveau“ (198). Ge-

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genüber dem aristotelischen Ansatz werden hier zwar die „unbewusste[n] Voraussetzungen“ der „guten Praxis“ kritisch in den Blick genommen (181). Dies werde allerdings mit dem Preis bezahlt, dass „Tugend und Gerechtigkeit zu ambivalenten Mitteln des Selbsterhalts [verkommen] “ (198). Daraufhin findet Heimann in Nietzsches Genealogie der Moral eine „skeptische Gerechtigkeitstheorie“ (199). Sie sei in der kritischen Abgrenzung sowohl vom „Objektdenken des Aristoteles“ als auch vom „Subjektdenken des Hobbes“ entwickelt worden (205). Nietzsche stelle dabei die „Begründungsfähigkeit“ moralischer Werte überhaupt infrage. Für ihn stehe die „Selbststeigerung“ des Menschen „bis zur äußersten Mächtigkeit“ im Vordergrund, die scheinbar „jede Infragestellung“ zurückweisen muss, womit Nietzsche zum „Gegenpol“ der „sokratischen Suche“ avanciert (207). Der „Wille zur Macht“ werde schließlich als „letzte Ursache nicht nur der Gerechtigkeit, sondern der gesamten Wirklichkeit“ erachtet (228). Wie bereits bei den beiden vorhergehenden Positionen, erweist sich dieses Verständnis für Heimann im Vergleich mit Politeia I als eine „nachträgliche Explikation und Begründung“ – hier der Gerechtigkeitsvorstellung des Thrasymachos – des „Rechts des Stärkeren“ (229). Thrasymachos und Nietzsche lassen jedoch beide letztlich unhinterfragt, was eigentlich der „Grund tatsächlicher Stärke“ sein soll (230). Zudem „scheitert ihr Anspruch an Selbstzerstörung und Selbstwiderspruch“ (232), wie im Vergleich mit dem platonischen Dialog offengelegt wird: Das „Recht des Stärkeren“ erweist sich „als bloßer Schein“ (233). Zum Abschluss möchte Heimann belegen, dass die ideengeschichtliche Darstellung nicht nur mit Politeia I vergleichbar ist, sondern einen „systematischen Zusammenhang“ aufweist, der eine „analoge Denkbewegung“ anzeigt (234). Sie sei in einer „stufenweise[n] Bewusstwerdung des Tugendanspruches“ zu sehen (237), der sich letztlich doch nur als jeweils „agressiver“ auftretender „Machtwille“ entpuppt (240). Als Grund dafür gibt Heimann den „Verzicht auf die sokratische Frage“ an (242 f.), durch welche der „Anspruch […], das Gute schon erkannt zu haben und zu sein“, relativiert werde könnte (243). Mit der „Entfernung von der sokratischen Frage“ sei allerdings „zugleich eine Entfernung von der Gerechtigkeit“ verbunden und „der Kampf gegen die Frage“ stelle schließlich „zugleich ein[en] Kampf gegen die Gerechtigkeit“ dar (ebd.). Mit seinem Ansatz plädiert Heimann dafür, dass der individuelle Vollzug der „Prüfung“ selbst und allein die „Verwirklichung der sokratischen Gerechtigkeit“ ausmacht. Seines Erachtens könnte auf diese Weise ein „viertes Paradigma“ in die Gerechtigkeitsdebatte eingebracht werden, das allerdings „quer zur ganzen Debatte“ anzusiedeln wäre (246). Ein gewisser selbstkritischer Vorbehalt, „ob und wie“ die sokratische Methode „sich als eigenständige Grundposition in die Debatte einfügen ließe“ (ebd.), scheint mir berechtigt. So mag man sich fragen, ob damit die Etablierung einer Metatheorie intendiert ist. Genau genommen votiert Heimann für den Standpunkt einer dialektischen Vernunft. Ob dieser derart „voraussetzungsarm“ ist, wie man es sich vielleicht wünscht, darf ebenso in Frage gestellt werden. Über die Lektüre des Werkes von Heimann wird er jedoch nachvollziehbar.

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Die vermeintliche Unausgewogenheit des Umfanges zwischen der Betrachtung des sokratischen Standpunktes in der platonischen Politeia einerseits und den ideengeschichtlichen Theorien andererseits erfährt ihre Rechtfertigung letztlich nicht nur in der anerkennenswerten Auseinandersetzung mit Forschungsstand und divergierenden Interpretationsansätzen, sondern gerade auch in der akribischen und nichtsdestotrotz unprätentiösen Herausarbeitung der sokratischen Frage als kritisch dialektischer Suchbewegung. Dennis Stammer, Münster Aurel Kolnai: Der Krieg gegen den Westen. Herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Bialas. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015, 763 S. Diese frühe Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (NS), die der Philosoph Aurel Kolnai schon im Sommer 1936 zum Abschluss gebracht hat, verdient in mehrfacher Hinsicht eine Würdigung. Die nun vorliegende deutsche Übersetzung aus dem Englischen zeigt einen hellsichtigen Intellektuellen, der die vom NS ausgehenden Gefahren deutlich zur Sprache bringt. Schon die Gliederung des Werks steht für das Bemühen, den NS in einem umfassenden Sinn zu durchdringen. Nachdem Kolnai in seiner Einleitung thesenhaft den Gegensatz zwischen dem NS und der „westlichen, liberalen Zivilisation“ herausstellt und zugleich dazu auffordert, die NS-Ideologie in ihrer „geistigen Größe und Relevanz“ ernstzunehmen (45 f.), handelt er die folgenden Themenbereiche ab: I. Die grundlegende Bedeutung der nationalsozialistischen Geisteshaltung, II. Gemeinschaft, III. Staat, IV. Die Natur des Menschen und die Zivilisation, V. Glaube und Denken, VI. Moral, Recht, Kultur, VII. Gesellschaft und Wirtschaft, VIII. Nation und Rasse, IX. Der deutsche Anspruch. Den Schluss bildet ein emphatisches Plädoyer für die „Seele des Westens“, die an historischen Glanzpunkten zum Ausdruck gebracht wird (u. a. Magna Charta, souveräne Parlamente, Aufklärung, amerikanische Unabhängigkeitserklärung), um mit geradezu prophetischen Urteilen zu enden, die eine Verständigung mit NaziDeutschland bezweifeln und allenfalls einen „Waffenstillstand“ für möglich halten. Kolnai warnt eindringlich vor zuviel Entgegenkommen gegenüber der „wilden Aggressivität“ des NS, weil dies einem „moralischen Selbstmord gleichkäme“ und den Krieg wahrscheinlicher machen würde (696). Das reichhaltige Material, aus dem Kolnai schöpft, bezieht sich nicht nur auf Entwicklungen ab der nazistischen Machtergreifung, sondern reicht bis weit in die Weimarer Republik zurück, um die Strömungen zu erfassen, die in das neue Gebilde, das Nazi-Deutschland verkörpert, Eingang gefunden haben. Dabei verfährt Kolnai nach der einleuchtenden Maxime „Lassen wir sie sich selbst darstellen“ (46) und verweist auf die Herausarbeitung von nazistischen Selbstverständnissen aus verschiedenen Quellen. Hierin liegt freilich auch ein methodisches Problem, das ich vorab benenne, um die Stärken von Kolnais Untersuchung davon zu lösen. Denn es stellt sich die Frage, wie die Quellen zu gewichten sind, denen im Umkreis der Herausbildung

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des NS als politischem Machtgebilde Bedeutung zukommt. Es bedarf einer Abwägung über geistige Zentren und Peripherie der nazistischen Formation. Dass Hitler, Rosenberg, Goebbels und Darré, deren Schriften Kolnai anführt, aufgrund ihrer Funkionen im inneren Kreis anzusiedeln sind, liegt auf der Hand, doch verweisen diese Namen auch auf deutliche Unterschiede im Gefüge des NS. Noch mehr gilt dies für geistige Strömungen im Vorfeld des NS, die Kolnai zu Recht mit der Verarbeitung der deutschen Niederlage im 1. Weltkrieg in Verbindung bringt. Es genügt hier, beispielhaft Moeller van den Bruck oder Ernst Jünger zu nennen, um auf die Notwendigkeit zu weiteren Differenzierungen zu verweisen. Erst recht weit hergeholt erscheint der Rückgriff auf Nietzsche, den man weder – wie Kolnai – als „Satanisten“ (42) noch als Präfaschisten einordnen kann. Solche Ungereimtheiten, die Kolnais Untersuchung mit anderen geistesgeschichtlichen Zugangsweisen teilt, sollten benannt und beiseitegesetzt werden. Es ist methodisch relevant, festzuhalten, dass die These, der NS sei „tief in der deutschen Geschichte verwurzelt und Ausdruck des deutschen Geistes“ (46), entweder trivial wahr oder falsch ist. Trivial, insofern Deutsche oder Österreicher die Grundlagen und Umsetzungen des NS geschaffen haben; falsch, insofern der deutsche Geist keine monolithische Einheit bildet, wie auch Kolnai einräumt, wenn er feststellt, dass der NS nicht „mit dem Deutschtum identisch“ sei (46). Was sich allenfalls sagen ließe, wäre, dass bestimmte deutsche Traditionen eine Affinität zum NS nahelegen oder eine Identifikation mit ihm begünstigen, doch das ergibt keine Erklärung des NS aus „dem deutschen Geist“. Damit der NS eine Macht werden konnte, die für die deutsche Geschichte ab 1933 dominant wurde, bedurfte es konkreter politischer Umstände, die – prinzipiell gesehen – auf geschichtlich kontingente Konstellationen verweisen. Mit dieser Klarstellung wende ich mich den Stärken von Kolnais Analyse zu. Dazu stelle ich sein Kapitel VI (Moral, Recht und Kultur) in den Mittelpunkt, weil sein normativer Zugriff als Orientierung für seine Gesamtdeutung dienen kann. In diesem Kapitel führt Kolnai aus, dass ein „faschistischer Staat reinen Blutes“ für ein „Ideal irrationaler Partikularität“ steht, das sich in Konflikt mit allgemeinen Begriffen von Menschlichkeit befindet. Das „Wir“ des Deutschtums erklärt sich zum „Wir“ der „besten aller Menschen“ und schwört einem für alle Menschen geltenden moralischen Gesetz ab. Exemplarischer Ausdruck dafür ist, dass Kants kategorischer Imperativ durch Darré auf deutsche Lebensbedingungen eingeschränkt wird (309). Die partikularistische Begrenzung von Kants Ethik, die auch aus anderen Quellen des NS zu belegen ist, markiert treffend den Gegensatz zwischen dem von Kolnai immer wieder betonten „moralischen Universalismus“ (z. B. 577, 700) und dem Partikularismus des NS mit seiner Orientierung an Volk, Rasse und Blut. Obwohl Kolnai dazu neigt, dem Partikularismus des NS die moralische Qualifikation abzusprechen, sieht er sich gleichwohl veranlasst, ein „Ideal der Nazi-Moral“ in Form von historischer Größe zu diagnostizieren und dies als Schlüssel zum Verständnis der „neudeutschen Ethik“ zu kennzeichnen (321). Zugleich jedoch werden

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deren Vertreter – wie z. B. Alfred Bäumler – der „Pseudo-Ethik“ oder der „heidnischen Amoral“ geziehen (322 f.). In dieser Ambivalenz kommt eine Sachfrage zum Vorschein, die das von Kolnai ausgebreitete reichhaltige Material an gegenwärtige Analysen und Diskussionen zu Begriff und Charakterisierung der NS-Moral heranführt. So hat sich in den letzten Jahren die Auffassung bestätigt, dass es analytisch geboten ist, in deskriptiver Hinsicht unterschiedliche inhaltliche Ausprägungen von Moral zu unterscheiden und ihre normative Bewertung davon abzuheben. Das bedeutet, dass Inhalte der NS-Moral deskriptiv zu bestimmen und zu untersuchen sind, auch wenn wir sie – in Übereinstimmung mit Kolnai – nicht teilen. Sicherlich gibt es eine emotionale Hürde, im Fall der NS-Moral von Moral zu reden, doch wenn zugleich der moralische Gegen-Maßstab des egalitären Universalismus deutlich wird, sind Missverständnisse ausgeschlossen. Der Vorteil besteht in einem Gewinn an methodischer Klarheit. Der Preis dafür ist ein historisch belehrter moralischer Pluralismus, der Kolnai in der inhaltlichen Ablehnung der NS-Moral folgt, jedoch auf dessen moralischen Monismus, der nicht zuletzt auf religiöse Instanzen verweist, verzichtet (vgl. 308: „göttliches Gesetz“; 450: Schelers objektivistische Ethik). All das tut den produktiven Analysen Kolnais keinen Abbruch. So kann man ihm nur beipflichten, wenn er die Moral des völkischen Partikularismus des NS in ihrer Relevanz für das Rechtssystem verfolgt und aufzeigt, durch welche Theoreme die Zerstörung des bürgerlichen Rechtsstaats betrieben wird. Die Politisierung des Rechts bei Carl Schmitt, die Rückbindung des Rechts auf das „Wesen des deutschen Volks“ bei Erik Wolf oder die im organischen Volksleben angesiedelte Rechtsauffassung Roland Freislers werden klar herausgestellt (331, 332, 336). Kolnai verweist dementsprechend auf Revisionen im deutschen Gesetzbuch, die mit der Einführung des Kriteriums des „gesunden Volksempfindens“ ins Strafrecht der Willkür von Gerichtsentscheidungen Tür und Tor öffnen. Das nazistische Rechtssystem betreibt die „Verachtung der Menschenrechte“, wie sich nicht zuletzt an den anti-jüdischen Gesetzen zeigt, die mit dem Tatbestand der „Rassenschande“ die Heirat oder den intimen Verkehr zwischen Deutschen und Juden sanktionieren (338 f.). Dem Stichwort „Rasse“ nachzugehen, ist eine weitere Stärke der Untersuchung Kolnais, weil die dabei zutage kommende Mehrdeutigkeit des Begriffs zeigt, dass es im NS zwar einen radikalen Rassismus, aber keinen einheitlichen oder verbindlichen Rassebegriff gibt. Davon ist auch Hitler nicht auszunehmen, dessen Betonung der Rasse als Mittelpunkt des völkischen Staats (466) keineswegs das Schwanken zwischen biologischen, kulturellen oder anthropologisch-philosophischen Konzeptionen von Rasse beseitigt (468 ff.). Gleichwohl ist offensichtlich, dass die mit der Konzeption von Rasse verbundene Hierarchie von Rassen universelle Maßstäbe für die Menschheit ablehnt (471). Insofern ist es verständlich, wenn Kolnai den Antisemitismus des NS im Rahmen seiner Kritik der „rassischen Unmenschlichkeit“ (521) thematisiert und dessen „antijüdische Obsession“ primär auf die „fatale Spannung zwischen Deutschland und dem Westen“ zurückführt (536). Dem entspricht, dass er dem Begriff des Antijudaismus den Vorrang einräumt, weil damit der norma-

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tive Antisemitismus, der die Juden als „Träger des Bazillus der Freiheit und des Fortschritts“ sieht, adäquater zum Ausdruck kommt. Auch dieser Gedanke verweist auf Forschungen der Gegenwart. Wie man an der bekannten Untersuchung von Barbara Zehnpfennig zu Hitlers „Mein Kampf“ sehen kann, ist Hitlers Rassismus nur scheinbar biologisch und zielt in Wahrheit auf die Homogenität seelischer Qualitäten, die in verschiedenen Völkern oder Rassen verankert sind. Kolnai kommt dieser Analyse nahe, wenn er die „jüdische Gegenrasse“ (471) im Anschluss an Hitler als „historischen und universalen Widerpart des Ariers“ beschreibt, die für universale Normen steht (528). Dass die militanten und exterministischen Zuspitzungen des Antijudaismus für Kolnai noch nicht in ganzem Umfang greifbar waren, ist der Abfassungszeit seiner Untersuchung zuzuschreiben. Doch die Militanz des NS kommt auf anderer Ebene zur Sprache und artikuliert insofern auch die Bedrohung, die vom Antijudaismus ausgeht. Denn wenn man den NS als neue Formation ernstnimmt, wofür Kolnai nachdrücklich plädiert (45 f.), dann muss man sehen, dass die Radikalität des völkischen, „tribalen“ Partikularismus (432) mit dem Nazi-Ideal der historischen Größe auf kriegerische Auseinandersetzungen angelegt ist. Kolnai bringt diese Kriegsgefahr deutlich zur Sprache (435, 442, 455). Auch seine Wahrnehmung von Thesen Hitlers gehört in diesen Zusammenhang. So, wenn er den bewusst einseitigen Kommentar Hitlers zum Ausbruch des 1. Weltkriegs anführt und auf dessen Satz verweist, dass die Welt nicht für feige Völker da sei. Hinzu kommt Hitlers These, dass Menschenrecht Staatsrecht bricht, wobei als Menschenrecht das Existenzrecht des Volkes, insbesondere des deutschen zu gelten hat. In diesen Thesen wird die den Nazismus leitende Überzeugung fokussiert, dass das Volkstum die Grundkraft der geschichtlichen, kulturellen und politischen Entwicklung verkörpert (463). Wenn das Volkstum über dem Staat steht, ergibt sich in politischer und rechtlicher Hinsicht eine Entdifferenzierung oder Instrumentalisierung von humanen Ordnungsgefügen, die Kolnai treffend namhaft macht. Schließlich ist das Gesamtbild hervorzuheben, das Kolnai unter kulturellen Perspektiven zeichnet. Mit Bezug auf protestantische oder katholische Autoren, die auf eine Verbindung zwischen Christentum und NS hinarbeiten spricht er von „tobenden Wellen des Kulturkampfs“, die den weitreichenden geistigen Umbruch anzeigen, der mit dem NS zu einer Art von heidnisiertem Christentum führe (280). Vergleichbares gilt für die Anpassung von Wissenschaft und Erziehung an tribale Doktrinen des NS (339 ff., 346 ff.). Das menschliche Selbstverständnis wird insgesamt einer Deutschtumsmetaphysik unterworfen, die eine Welt für sich schafft, in der das Individuum als „Träger einer Volkssubstanz“ fungiert, nicht mehr als „Persönlichkeit mit einem autonomen Selbst“. Daher wird in kultureller Hinsicht der Krieg gegen den Westen von Kolnai als „Religionskrieg“ bezeichnet, als ein „Krieg der Welten“ (585). Ob dieser Krieg zu einem neuen Weltkrieg führt, muss Kolnai offenlassen, doch seine Analyse macht genau das wahrscheinlich, was dann ab 1939 eingetreten ist.

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Die soweit genannten Hauptpunkte von Kolnais Analysen unterstreichen, dass es ihm gelingt, die strukturellen Unterschiede zwischen den moralisch-politischen Formationen des Westens und des NS herauszuarbeiten. Indem er einen „moralistischen Typ“ von Gemeinschaft, zu dem der Judaismus gehört, von einem „imperialen Typ“, der dem Nazismus entspricht (435), unterscheidet, artikuliert er den grundlegenden Gegensatz zwischen zwei moralischen Zentren: Der westliche Universalismus mit dem Kern der Anerkennung gleicher Rechte für alle auf der einen Seite, und auf der anderen Seite die moralische Inegalität des NS-Partikularismus im Namen völkischer Überlegenheit. Dem sind die entsprechenden gesellschaftlichen Normen und Institutionen hinzuzufügen, die sich u. a. an einem an Menschenrechten orientierten Rechtssystem auf westlicher Seite orientieren. Der Nazismus tritt in seiner gegenläufigen Ausrichtung hervor, die alles gesellschaftliche und politische Leben an der Stärkung der arisch-deutschen Volksgemeinschaft misst und rechtliche Schranken der Willkür anheimfallen lässt oder durch Führerbefehl außer Kraft setzt. Den normativen Analysen Kolnais korrespondiert die Beschreibung des „totalitären Staats“, die er in die folgenden Charakteristika fasst: „Der totalitäre Staat ist das genaue Gegenteil eines Staats mit einer Vielzahl von Parteien […] Der totalitäre Staat ist erstens ein Staat, der beansprucht, einen einheitlichen und verbindlichen Wertekanon gegenüber der gesamtem Gesellschaft durchzusetzen und zu einem gewissen Grad auch gegenüber jedem Einzelnen […] und zweitens ein Staat, der eine politisch einheitliche Färbung aufweist, d. h. mit einer bestimmten Strömung oder Partei sowie mit einem geschlossenen Kreis von Herrschern identisch ist. Kurz, es handelt sich um den Einparteienstaat. Das faschistische Italien wie auch Nazi-Deutschland sind Einparteienstaaten. Der politische Eingriff der Partei ist allerdings im Nazi-Reich unvergleichlich stärker […]. Der totalitäre Staat ist die Wiederkehr des tribalen Staats auf dem Niveau des Industriezeitalters […]“ (190). In ökonomischer Hinsicht erkennt Kolnai, dass das nazistische Verständnis von Sozialismus eher auf eine Umstrukturierung des Kapitalismus als auf dessen Aufhebung zielt. So spricht er von der „Rückkehr der Klassengesellschaft“ unter Vorzeichen eines „militaristischen Kommunitarismus“ (360 f.) und sieht deutlich die Verbindung des „Konzern-Kapitalismus“ mit der politischen Führungselite des NS, die seines Erachtens auf eine „Sklavengesellschaft“ (401 ff.) hinausläuft. Die Diagnose der Verflechtung von totalitären politischen Strukturen mit der Aufrechterhaltung von kapitalistischen Formen des Wirtschaftens nimmt Fragestellungen vorweg, die in den Kontext anderer zeitgenössischer Analysen zum NS gestellt werden können. Hier sind insbesondere Untersuchungen im Bereich des emigrierten Instituts für Sozialforschung unter der Leitung von Max Horkheimer und andere Studien aus dem angelsächsischen Sprachraum zu nennen. Besonders erwähnt sei Franz Neumanns „Behemoth“ (1942/44), der angesichts des Spannungsverhältnisses von Staat und Partei sowie der autoritär geführten „totalitären Monopolwirtschaft“ die These von der Auflösung staatlicher Souveränität und die Herrschaft der Gesetzlosigkeit entwickelt, die den NS zu einem „Unstaat“ macht. Andere Kontexte lassen sich anschließen. So ist neben der aufklärerischen Wirkung in Großbritannien insbe-

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sondere die Rezeption von Kolnai in den USA von Interesse, wo der Respekt für dessen kompromisslose Haltung gegenüber dem NS bis in Regierungskreise hineinreichte und als Antizipation der späteren Verlautbarungen von Präsident Roosevelt verstanden werden kann. Kolnais Kritik des Totalitarismus konzentriert sich auf den NS als unmittelbare Gefahr, doch hätten seine normativen Maßstäbe gleichermaßen eine Kritik des Bolschewismus/Stalinismus anleiten können. In Wiederaufnahme seiner frühen Kritik am Bolschewismus aus den 1920er Jahren kommt Kolnai nach dem 2. Weltkrieg in scharfer Form auf dieses Thema zurück. Dann erscheint ihm der Kommunismus sowjetischer Prägung als noch größeres Übel als der NS, weil mit diesem der Verrat an einst hochgehaltenen Menschheitsidealen einhergegangen sei. In diesem Urteil drückt sich nicht zuletzt die moralische Grundposition aus, die Kolnai auch bei seiner Kritik des NS leitet: ein objektiver Universalismus, den er abschließend in den Worten der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung unterstreicht und in seiner vollen Bedeutung zu verwirklichen fordert: „Alle Menschen sind frei und gleich geboren“ (700). Mit der vorliegenden Übersetzung von Kolnais Werk ist nicht nur die verdienstvolle Vergegenwärtigung einer weitblickenden zeitgenössischen Analyse des NS zu verzeichnen. Neben biographischen Erläuterungen bietet der Herausgeber in seiner Einleitung vergleichende Kennzeichnungen, die Kolnai in Beziehung zu Helmut Plessner und Georg Lukács setzen, bei denen gleichfalls der Versuch gemacht wird, den NS aus einer geistesgeschichtlichen Perspektive im Rahmen der bürgerlichen Epoche zu deuten. Umgekehrt lassen sich auf nazistischer Seite geradezu Bestätigungen für Kolnais Analyse finden, die sich in Titeln ausdrücken wie: „Deutscher Aufstand gegen den Westen“ (Kurt Hancke 1941). Neben solchen und anderen aufschlussreichen Kommentaren des Herausgebers (11 ff.) ist die unter seiner Leitung erstellte Bibliographie der von Kolnai zitierten Schriften (701 – 716) ebenso hervorzuheben wie die beigefügten Biogramme, die insbesondere Aufschluss über Parteigänger des NS oder in seinem Umfeld anzusiedelnde Autoren geben (717 – 754). Dieses Material kann als Teil einer Kulturgeschichte des NS betrachtet werden. Inzwischen wurde die Relevanz von Aurel Kolnais Werk auf einer internationalen Konferenz am Hannah-Arendt-Institut (Dresden: Juli 2016) unter Leitung von Wolfgang Bialas gewürdigt und in ihren historischen, politologischen und philosophischen Dimensionen analysiert. Hierzu ist ein Sammelband in Vorbereitung, der das Werk Kolnais weiter erschließen wird. Rolf Zimmermann, Freiburg/Konstanz

Autorenverzeichnis Dr. Manuel Becker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Dr. Pierpaolo Ciccarelli, Ricercatore, Dipartimento di Pedagogia, Psicologia, Filosofia, Università di Cagliari. Prof. Dr. Felix Dirsch, Dozent für Politische Wissenschaft an der Universität Gjumri/Armenien. Prof. Dr. Rainer Enskat, emeritierter Professor für Theoretische Philosophie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Prof. Dr. Jürgen Gebhardt, emeritierter Professor für Politische Wissenschaft, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Apl. Prof. Dr. Ewald Grothe, außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Bergische Universität Wuppertal. Prof. Dr. Clemens Kauffmann, Professor für Politische Philosophie und Ideengeschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Prof. Dr. Hans-Christof Kraus, Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Passau. Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Professor für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Technische Universität Chemnitz. Prof. Dr. Peter Nitschke, Professor für Wissenschaft von der Politik, Universität Vechta. PD Dr. Friedrich Pohlmann, Privatdozent für Soziologie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Prof. Dr. Emanuel Richter, Professor für Politische Wissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Systeme und Comparative Politics, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen. Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider, emeritierter Professor für Öffentliches Recht, FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Dr. Markus Schubert, Historiker, Passau. Dr. Cristiana Senigaglia, Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Passau. Dr. Dennis Stammer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter des DFG-Projektes „Gott oder Göttliches“, Seminar für Fundamentaltheologie und Religionsphilosophie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster. Prof. Dr. Rolf Zimmermann, emeritierter Professor am Fachbereich Philosophie der Universität Konstanz.