Politisches Denken. Jahrbuch 2015 [1 ed.] 9783428548828, 9783428148820

Im Focus des ersten Teils des diesjährigen Jahrbuchs »Politisches Denken« stehen deutsche Staatsrechtslehrer des 20. Jah

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Politisches Denken. Jahrbuch 2015 [1 ed.]
 9783428548828, 9783428148820

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POLITISCHES DENKEN JAHRBUCH 2015

Band 25 Band 25

Herausgegeben von V. Gerhardt, C. Kauffmann, H.-C. Kraus, R. Mehring, P. Nitschke, H. Ottmann, M. P. Thompson, B. Zehnpfennig u Thomas Meyer: Nachruf auf Odo Marquardt u Martin Otto: „Duodezparlamentarismus“ im „barbarischen Kieler Winter“ u Hasso Hofmann: „Vielleicht ist die Verständigung doch eine zuverlässigere Grundlage der Ordnung als die Dezision“ u Rainer Enskat: Der lange Weg in den Staat der zweiten deutschen Republik u Martin Correll: Abhängigkeit und Anerkennung u Detlef von Daniels: Zur Verfassung Europas u Hans-Georg Dederer: Paradigmenwechsel im Völkerrecht? u Clemens Kauffmann: „Die elementaren und unauffälligen Bedingungen menschlicher Freiheit“ u Reinhard Mehring: Die „negative Imago des Lehrers“ u Daniel Schulz: Politiktheoretische Krisenreaktion u Sebastian Huhnholz: An der Levante wird laviert u Barbara Zehnpfennig: Ein Warnschuss für den Westen: M. Houellebecqs Roman „Unterwerfung“

Duncker & Humblot

Politisches Denken · Jahrbuch 2015 Band 25

In Verbindung mit dem Vorstand der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens als Geschäftsführenden Herausgebern: Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig, Prof. Dr. Clemens Kauffmann, Prof. Dr. Peter Nitschke

Redaktion: Prof. Dr. Clemens Kauffmann Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Institut für Politische Wissenschaft Kochstraße 4/21, D-91054 Erlangen E-Mail: Clemens.Kauff[email protected]

Wissenschaftlicher Beirat: Karl Dietrich Bracher (Bonn), Reinhard Brandt (Marburg), John Dunn (Cambridge), Iring Fetscher † (Frankfurt), Wilhelm Hennis † (Freiburg), Dieter Henrich (München), Otfried Höffe (Tübingen), Hasso Hofmann (Berlin), Nikolaus Lobkowicz (Eichstätt), Hermann Lübbe (Zürich), Odo Marquard † (Gießen), Kenneth Minogue (London), J. G. A. Pocock (Hopkins University), Melvin Richter (New York), Quentin Skinner (Cambridge), Michael Stolleis (Frankfurt)

Das Jahrbuch „Politisches Denken“ (JPD) erscheint seit 1991 in Zusammenarbeit mit der „Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens“ (DGEPD). Den Zielen der Gesellschaft entsprechend fördert das Jahrbuch die fächerübergreifende, wissenschaftliche Forschung, die das politische Denken international und in seiner ganzen Breite zum Gegenstand hat, sowie den Austausch zwischen politischem Denken und praktischer Politik. Zur Publikation eingereichte Texte durchlaufen ein Begutachtungsverfahren. Typoskripte sind anonymisiert und in zweifacher Ausfertigung als Ausdruck sowie in elektronischer Form (in einem üblichen Datei-Format) bei der Redaktion einzureichen. Hinweise zur Formatierung sind zugänglich unter www.dgepd.de. Verlage senden Rezensionsexemplare ihrer Publikationen bitte an die Redaktion. Für unverlangt bei der Redaktion eingereichte Exemplare bestehen keine Besprechungszusage und kein Anspruch auf Rücksendung.

Politisches Denken Jahrbuch 2015 Band 25 Herausgegeben von Volker Gerhardt, Clemens Kauffmann, Hans-Christof Kraus, Reinhard Mehring, Peter Nitschke, Henning Ottmann, Martyn P. Thompson und Barbara Zehnpfennig

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0942-2307 ISBN 978-3-428-14882-0 (Print) ISBN 978-3-428-54882-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-84882-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞



Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nachruf auf Odo Marquard Von Thomas Meyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Staatsrechtslehrer im 20. Jahrhundert „Duodezparlamentarismus“ im „barbarischen Kieler Winter“. Ernst Forsthoffs erstes Kieler Jahr im Spiegel seiner Briefe an Walter Mallmann 1947 Von Martin Otto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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„Vielleicht ist die Verständigung doch eine zuverlässigere Grundlage der Ordnung als die Dezision“. Staatsrechtler im Briefwechsel mit Carl Schmitt Von Hasso Hofmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der lange Weg in den Staat der zweiten deutschen Republik Von Rainer Enskat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Aufsätze Abhängigkeit und Anerkennung. Rousseaus Beitrag zu einer zeitgenössischen Republikanismustheorie Von Martin Correll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur Verfassung Europas Von Detlef von Daniels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Paradigmenwechsel im Völkerrecht? Zur Abkehr vom strikten Positivismus im modernen Völkerrechtsdenken Von Hans-Georg Dederer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 „Die elementaren und unauffälligen Bedingungen menschlicher Freiheit“. Typen bürgerlicher Gegenwärtigkeit und politischer Pluralismus bei Leo Strauss Von Clemens Kauffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Die „negative Imago des Lehrers“. Adorno über schulische Disziplinargewalt Von Reinhard Mehring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Politiktheoretische Krisenreaktion. Gegenwartsdiskurse des Republikanismus Von Daniel Schulz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

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Inhaltsverzeichnis

III. Rezensionsessays An der Levante wird laviert. Beobachtungen des jüngeren deutschen Sachbuchschrifttums zum sogenannten Islamischen Staat Von Sebastian Huhnholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Ein Warnschuss für den Westen: Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ Von Barbara Zehnpfennig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 IV. Rezensionen Grit Straßenberger: Hannah Arendt zur Einführung, Junius Verlag, Hamburg 2015, 208 S. Von Alexander Gantschow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Max Weber: Gesamtausgabe. Abteilung I: Schriften und Reden, Bd. 9: Asketischer Protestantismus und Kapitalismus. Schriften und Reden 1904 – 1911. Hrsg. von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Ursula Bube, J. C. B. Mohr – Paul Siebeck, Tübingen 2014, XX, 994 S. Von Hans-Christof Kraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Dirk Werle: Ruhm und Moderne. Eine Ideengeschichte (1750 – 1930). (Das Abendland; Neue Folge 38). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, 729 S. Von Hans-Christof Kraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Peter Nitschke (Hrsg.): Der Prozess der Zivilisationen: 20 Jahre nach Huntington. Analysen für das 21. Jahrhundert. Frank und Timme, Berlin 2014, 286 S. Von Ulrich Kühn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Elif Özmen: Politische Philosophie zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2013, 160 S. Von Peter Nitschke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

Editorial Am Anfang des Jahrbuchs „Politisches Denken“ 2015 steht eine Würdigung von Odo Marquardt, der am 9. Mai 2015 verstorben ist. Odo Marquardt war Mitglied der „Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens“ und des wissenschaftlichen Beirats des Jahrbuchs. Thomas Meyer hat den Nachruf verfaßt. Die erste Abteilung führt drei Arbeiten zusammen, die sich mit deutschsprachigen Staatsrechtslehrern im 20. Jahrhundert beschäftigen. Martin Otto ediert in diesem Jahrbuch Briefe, die Ernst Forsthoff im Jahr 1947 an Walter Mallmann geschrieben hat. Hasso Hofmann kommentiert in der jüngeren Vergangenheit publizierte Korrespondenzen, die Carl Schmitt mit Rudolf Smend, Ernst Forsthoff und Ernst Rudolf Huber geführt hat. Rainer Enskat stellt jüngst erschienene Porträts bedeutender Staatsrechtslehrer vor und beurteilt diese vom Standpunkt des Philosophen. In der zweiten Abteilung erscheinen neue Untersuchungen, die ein denkbar breites Spektrum politischen Denkens abdecken. Hans-Georg Dederer macht eine bemerkenswerte Entwicklung im Völkerrecht sichtbar, in der das Naturrecht (wieder) zu greifen scheint. Reinhard Mehring setzt Theodor W. Adornos Pädagogik einer kritischen Beurteilung aus, während Detlef von Daniels die Betrachtung der gegenwärtigen Verfassung Europas zu einer Kritik an der politischen Theorie verdichtet. Martin Correll und Daniel Schulz liefern aus unterschiedlichen Perspektiven Beiträge zur (wieder) aktuellen Debatte um den Republikanismus. Der Unterzeichnete schließlich entwickelt einen typologischen Ansatz in bezug auf bürgerliche Präsenz und pluralistische Politik bei Leo Strauss. Das Feld, das die in der dritten und vierten Abteilung versammelten Besprechungsessays und Rezensionen kultivieren, hat seinen Mittelpunkt im politischen Denken des 20. Jahrhunderts mitsamt seinen ideengeschichtlichen Wurzeln, seinen transkulturellen Oszillationen und seinen variantenreichen literarischen Genres. Mit dem Jahrgang 2015 erhält das Jahrbuch erstmals eine Bandzahl. In den Jahren 1995/96 und 2006/07 erschienen Doppelbände, so daß sich für das Jahr 2015 die Bandnummer 25 ergibt: ein veritables Jubiläum. Als Zitierweise wird „JPD“ empfohlen. Erlangen, im Frühjahr 2016

Clemens Kauffmann

Nachruf auf Odo Marquard Von Thomas Meyer Der am 26. Februar 1928 im damaligen Stolp/Hinterpommern geborene und am 9. Mai 2015 in Celle verstorbene deutsche Philosoph Odo Marquard gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten seiner Generation. Dass heute über Helmuth Plessner geforscht und gestritten wird, dass die Möglichkeiten und Grenzen der Begriffsgeschichte intensiver als je zuvor ausgelotet werden, die philosophische Skepsis nicht zum Nihilismus, sondern zu neuen Einsichten in der Anthropologie führt und dass der Einbezug von Ironie und Kontingenz in lebensphilosophische Reflexionen das Absolute besser ertragen lassen, durch die sich eine genuine Philosophie der Bürgerlichkeit gegen die notwendige Entzweiung aller Lebensbezüge in der Moderne etablieren lässt, all das ist auch und vor allem Odo Marquard zu verdanken. Die sogenannte „Flakhelfergeneration“ – darauf hat Marquards lebenslanger Freund Hermann Lübbe in einem Nachruf in der „Zeitschrift für Ideengeschichte“ eindrücklich hingewiesen – war durch ihre Erfahrungen sicher in dem, was sie nicht wollte, und konnte daher genau sagen, wonach sie sich sehnte. Für Marquard waren das Germanistik, die Theologie beider christlicher Konfessionen und die Philosophie. Er gehörte ab 1949 zur sogenannten Ritter-Schule, die an der Universität Münster bei dem Namensgeber Joachim Ritter zusammenfand, aber – das gehörte zur frühen persönlichen und intellektuellen Selbstständigkeit ihrer wichtigsten Vertreter – in Freiburg, Erlangen, Heidelberg und anderen Orten auftauchte und überall großen Eindruck hinterließ. Marquard etwa wurde bei Max Müller, einem katholischen Existenzialisten und Phänomenologen, in Freiburg promoviert. Die 1954 abgeschlossene Dissertation mit dem fast barocken Titel „Zum Problem der Logik des Scheins im Anschluss an Kant: Über Möglichkeiten und Grenzen einer kompromittierenden Genealogie der Metaphysik“ erschien wesentlich gekürzt und umgearbeitet vier Jahre später als „Skeptische Methode mit Blick auf Kant“. Beide Schriften sind ausgesprochen souverän formuliert und weisen bereits einen brillanten Schriftsteller aus. Der erste, der Odo Marquards Qualitäten als Philosoph und Mensch öffentlich zu würdigen wusste, war niemand geringerer als Xavier Tilliette. Der französische Philosoph und Jesuit rezensiert 1960 im renommierten „Archives de philosophie“ Marquards Erstling auf bemerkenswerte Weise. Denn was Tilliette hier hervorhebt und lobt, wird nahezu unverändert bis zum Tode Marquards wiederholt werden können. Verdichtet man Tilliettes Charakterisierungen, dann lässt sich folgende Formelfolge

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Thomas Meyer

daraus ableiten: historisches Arbeiten kann nur zu einer fragilen Selbstvergewisserung führen, die weder durch Fortschrittspathos noch durch Vergangenheitspathos stabilisiert werden kann. Versprechungen aller Arten ist allein dadurch mit aufgeklärter Skepsis zu begegnen, weil die Lebenserfahrung stets ihr vieldeutiges und für verallgemeinernde Lehren völlig ungeeignetes Veto einlegt. Die von 1955 bis 1963 reichende Assistenzzeit nutzt Marquard unter anderem zur Fertigstellung seiner Habilitationsschrift „Über die Depotenzierung der Transzendentalphilosophie. Einige philosophische Motive eines neueren Psychologismus in der Philosophie“, die erst 1978 unter dem Titel „Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse“ erscheinen wird. Auch die Habilitationsschrift ist auf den ersten Blick eine genealogische und begriffsgeschichtliche Tiefenbohrung, die zugleich Marquards immer natürlicher werdendes Ausschreiten und Prüfen von intellektuellen Lebensbewältigungsprogrammatiken erweitert. Mit dem Ruf an die Universität Gießen 1965, der er bis zur Emeritierung 1993 treu bleiben wird, beginnt Marquard mit der Ausarbeitung seiner historisch und systematisch erworbenen und bereits miteinander verwobenen Erkenntnisse. Dabei nimmt er sehr präzise wahr, was sich an politischen Veränderungen in der Bundesrepublik tut – allerdings in einer Weise, die ihn von nicht wenigen anderen Ritter-Schülern unterscheidet. Marquard entwickelt nämlich eine konservative „Theorie der Moderne“, die eine ganz und gar andere Darstellungsform und eine andere Sprache als ihre oftmals agonal argumentierenden Konkurrenzunternehmen bewusst gewählt hatte. Nachträglich will es sogar scheinen, als hätte Marquard dabei ganz auf die Zeitläufe gesetzt, ohne ihnen gegenüber Kompromisse zu machen. So hat er seine Überlegungen in Aufsätzen getestet, um sie dann als Textsammlungen sich gegenseitig ergänzend und stärkend als Variationen eines Themas auftreten zu lassen. Auf diese Weise entwickelte sich auch seine „Theorie der Moderne“, die mit einer Intervention begann. Die sprichwörtlich gewordenen „Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie“ galten den Ambivalenzen, die der Begriff der Geschichtsphilosophie eigentlich beseitigen sollte. Und so sprach er denn auch von ihr als dem „Mythos der Aufklärung“, eine Formulierung, die Jens Hacke in seinem Standardwerk zu den philosophischen und politischen Konzepten der Ritter-Schule zu recht selbst als ambivalent charakterisierte. Marquards fragmentierte „Theorie der Moderne“ setzte nicht nur auf eine nach und nach erst sichtbar werdende Argumentationsstruktur, sondern integrierte darin immer auch die Möglichkeit des Ganz-anders-sein-Könnens. Damit sollte keine Hintertür in dem geschlossenen Bau eines Systems benannt sein, vielmehr entlastete sich Marquard und in der Folge auch der Leser von der Last der geschichtsphilosophischen Gewissheit, die noch den alten Theodizee-Gedanken dazu benutzte, um den Menschen zum Ankläger Gottes zu machen und sich aus dem Verfahren über die Geschehnisse in der Welt freizusprechen. Konservativ war dann, was seit den siebziger Jahren in den zahlreichen ReclamBüchern vorgestellt wurde. Konservativ in dem Sinne, als dass Marquard der depotenzierten Geschichtsphilosophie, die bei ihm als bloße, gleichwohl wirkmächtige

Nachruf auf Odo Marquard

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Erzählung neben anderen Asyl fand, dass er dem Einspruch gegen das Absolute und seine Ansprüche an das fragile Wesen „Mensch“ zu neuen Ehren verhalf und dabei auf einen Begriff setzte, der längst in der Asservatenkammer der Linken oder Rechten verschwunden schien. Dabei wusste Marquard, dass eine „Theorie der Moderne“ nicht mit Ritters zur Verfügung gestelltem Rohmaterial zu leisten war. Seine Anleihen und gleichzeitigen Einsprüche von und gegen Gehlen und Plessner, Blumenberg und Schelsky, schließlich auch Kant und Hegel, waren genuine Anfragen von einem, der das Nicht-weiterwissen als philosophische Tugend begriff. Schon der Anschein, es gebe eine endgültige Klärung für das, was von der Schöpfung als endlich angelegt ist, musste dem fröhlichen Skeptiker Marquard zuwiderlaufen. Noch sind seine Beiträge zur philosophischen Anthropologie und zur Ästhetik, die früh Birgit Recki würdigte, nicht annähernd ausgelotet. Einzig Jacob Taubes hat Marquards Seiltänze auch in diesen Zusammenhängen zu umfassen gesucht. Welthaltig war das alle mal! Liest man dann in der Folge Marquards großartige Einträge im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“, dann wird man erst gewahr, wie sehr Philosophiegeschichte des sprichwörtlichen „Sitz im Leben“ bedarf, um glaubhaft in der Welt nach der Shoah vermittelt werden zu können. Das „beschädigte Leben“ musste gar nicht beschworen werden – Marquard musste und wollte davon ausgehen, dass jeder Vernunftbegabte darum wusste. Muss man da sagen, dass Marquard nach Ernst Cassirers Kant-Ausgabe zitierte, während sich sein Lehrer durch das reine Beschweigen des einstigen Doktor- und Habilitationsvaters nach 1945 hervortat? Marquards immer wieder eingeklagter und begründeter „Mut zur Bürgerlichkeit“, der sich als „Abschied vom Prinzipiellen“ (1981), „Apologie des Zufälligen“ (1986), „Skepsis und Zustimmung“ (1994), „Philosophie des Stattdessen“ (2000), „Zukunft braucht Herkunft“ (2003), „Individuum und Gewaltenteilung“ (2007) und schließlich als „Skepsis in der Moderne“ (2008) ebenso eloquent, wie gekonnt hinter oder vor einer scheinbaren Selbstverliebt in den eigenen Stil, den Witz und in der Fähigkeit, sich nicht als konservativ entlarven zu lassen, in der Auseinandersetzung mit diversen Traditionen ausbaute, war ein – sieht man von Hermann Lübbe ab – ziemlich einsamer Weg gewesen. Dass Marquard ihn ging und dabei durchaus darauf achtete, dass sein Verständnis von „Bürgerlichkeit“ nicht parteipolitisch vereinnahmt werden konnte, macht ihn als Gegenprobe zu manch anderer philosophischen Schule noch interessanter. Marquards „Theorie der Moderne“ wollte nichts vergessen machen, hatte keine Ambition, das Heute gegenüber dem Morgen zu vernachlässigen, war so sehr verwundet, dass sie auf Heilsversprechen leicht verzichten konnte, plädierte für eine gewisse Provinzialität ohne jedweden ontologischen Mief und riet lebenspraktisch zur Bescheidenheit. Dass er dabei seinen Reflexionen die exakte Größe von 9,6 > 14,8 cm gab, darf als Teil der vermittelten Selbstdeutung betrachtet werden, als die sein Werk verstanden werden kann. Als Wolf Lepenies 1974 in der „FAZ“ schrieb „Marquard ist ein untypischer Philosoph in mehrfacher Hinsicht: er kann schreiben,

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Thomas Meyer

er verbirgt seine Person nicht hinter seinem Werk und er nimmt sich nicht ernst“, blickte er schon weit voraus. Mit dem Tode von Odo Marquard sollte endlich die ernsthafte Auseinandersetzung mit einem Denker beginnen, der herrlich frei sein konnte.

I. Staatsrechtslehrer im 20. Jahrhundert

„Duodezparlamentarismus“ im „barbarischen Kieler Winter“ Ernst Forsthoffs erstes Kieler Jahr im Spiegel seiner Briefe an Walter Mallmann 1947 Von Martin Otto „Ein Dokument aus dem Jahrhundert der Briefschreiber.“ Heiner Müller: Mommsens Block, 1993

Das Jahr 1947 gehört zu den „weißen Flecken“ in Ernst Forsthoffs Biographie, der einen großen Teil dieses Jahres in Kiel lebte. Am 18. Februar 1946 an der Universität Heidelberg entlassen,1 war Forsthoff am 17. Oktober 1946 von dem schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Theodor Steltzer (CDU) um Mitarbeit bei der Verfassung des Landes und der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins gebeten worden.2 Das folgende Angebot zu einer Mitarbeit in der Kieler Staatskanzlei nahm Forsthoff gerne an. Steltzer war nicht gewählt, sondern am 23. August 1946 von der britischen Militärregierung zum ersten Ministerpräsidenten Schleswig-Holsteins ernannt worden; seit dem 15. November 1945 war er ernannter Oberpräsident von Schleswig-Holstein. Die politische Situation der preußischen Provinz an der nördlichen Peripherie war nach dem Krieg ungewiß, auch wenn das Land eine staatsrechtliche Tradition besaß, die bis auf den Vertrag von Ripen (Ribe) 1460 zurückging.3 Die komplizierte Verfassungssituation4 war im 19. Jahrhundert Anlaß des deutsch-dänischen Krieges geworden, dessen Folgen 1945 noch gegenwärtig waren. Die Landesgrenzen waren erst 1937 durch das Groß-Hamburg-Gesetz verändert worden,5 die Großstadt Altona und Teile des Kreises Stormarn mit der Kreisstadt Wandsbek waren an Hamburg gefallen, das mit wenigen Ausnahmen agrarisch geprägte, durchgehend protestantische und (bei sprachlicher Heterogenität) dünn besiedelte Land hatte nach Kriegsende 1

Hierzu und insgesamt: Meinel, 2011: 305; ferner Forsthoff/Schmitt, 2007: 20. Einige Hinweise verdanke ich Jürgen Tröger (Heidelberg), dem ich an dieser Stelle für seine Unterstützung herzlich danke. 2 Meinel, 2011: 307. 3 Riis, 2003. 4 Schäfer, 2013. 5 Nur: Ipsen, 1938.

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Martin Otto

aber gleichzeitig seine Einwohnerzahl durch Flüchtlinge von 1,6 Millionen 1939 auf 2,7 Millionen 1949 fast verdoppelt.6 Eine Bodenreform stand 1946 auf der politischen Agenda, bedrohte aber alteingesessene Landwirte. Zudem schwebten über dem Land dänische Annexionswünsche,7 die aber keine Unterstützung bei den Siegermächten und der dänischen Regierung fanden. Teilweise wurde auch eine Internationalisierung des strategisch wichtigen Nord-Ostsee-Kanals gefordert, die das Land vollständig geteilt hätte.8 Als Forsthoff Ende 1946 nach Kiel kam, hatten noch keine Landtagswahlen stattgefunden. Viele Beobachter erwarteten ohnehin die Vereinigung mit einem größeren norddeutschen Territorium; in der Britischen Zone waren so die Länder Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen entstanden. Theodor Steltzer hatte das Amt des Ministerpräsidenten als „Unsinn“ bezeichnet: „Wieviel lieber wäre ich Oberpräsident.“9 Entsprechend hatte sich das Land am 12. Juni 1946 lediglich eine „Vorläufige Landessatzung“ gegeben.10 Um ein „Landesbewußtsein“, bei durchaus gegebenen Voraussetzungen, war es denkbar schlecht bestellt. Die politischen Rahmenbedingungen unterschieden sich auch von den süddeutschen Staaten der amerikanischen Besatzungszone und stellten in der Ausnahmesituation der Nachkriegsjahre eine Besonderheit dar. Auch Theodor Steltzer war eine Ausnahmeerscheinung in der Politik. 1885 in Trittau (Kreis Stormarn) geboren, war der ehemalige Berufsoffizier, von 1920 bis 1933 Landrat des Kreises Rendsburg, mit dem Land in Politik und Verwaltung vertraut, so auch mit der schleswig-holsteinischen Landvolkbewegung.11 Nach 1933 wiederholt inhaftiert, wurde er als Wehrmachtsoffizier in Norwegen auch von norwegischer Seite als „Widerstandsmann“ bezeichnet.12 Steltzer gehörte zum Kreisauer Kreis und stand mit Carl Goerdeler in Kontakt.13 Anfang 1945 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt, war er nur durch eine ausländische Intervention der Hinrichtung entkommen. 1945 gehörte er zu den Mitbegründern der CDU, zunächst in Berlin, dann in seiner Heimat Schleswig-Holstein. Seine Untadeligkeit stand außer Zweifel. Auf der anderen Seite hatte der von Forsthoff geschätzte CDU-Politiker Vorstellungen, die am ehesten einem ständischen Konservatismus entsprachen; zu einer Parteiendemokratie und damit auch der späteren Entwicklung seiner Partei hatte er ein distanziertes Verhältnis.14 Insofern kommt dem Ministerpräsidenten Steltzer auf den ersten Blick nur die Rolle einer Fußnote zu. Auf der anderen Seite war die kurze Amtszeit keineswegs folgenlos; hier wurden erste Grundlagen zum schleswig-holsteinischen Verfassungsrecht 6

Am besten: Baedeker, 1949: XI. Auch: Steltzer, 1966: 193. Deutlich: Steltzer, 1966: 192. 8 Lagoni/Seidenfus/Teuteberg, 1995. 9 Dönhoff, 1967. 10 Eingehend Waller, 1988. 11 Stoltenberg, 1962: 125, 131. 12 Aus norwegischer Sicht nur Brevig, 2008. 13 Ritter, 1954: 306, 508. 14 Vgl. Aretin, 1970.

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„Duodezparlamentarismus“ im „barbarischen Kieler Winter“

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bis in die unmittelbare Gegenwart gelegt. Und seine zeitgenössische Bedeutung, die mit seiner heutigen Vergessenheit kontrastiert, darf kaum verkannt werden. Der Schriftsteller Hans-Werner Richter, sicher kein Parteigänger der CDU, erklärte noch aus dem Rückblick des Jahres 1986, daß 1947 im Umfeld der späteren „Gruppe 47“ Steltzer mit Selbstverständlichkeit als der nächste gesamtdeutsche Regierungschef betrachtet wurde.15 Die gelegentlich aufgeführten Konflikte mit Adenauer mögen für spätere Jahre stimmen,16 1946/47 war davon noch wenig zu bemerken.17 Bis heute ist die Rede von dem Rücktritt Steltzers nach der ersten Landtagswahl 1947.18 Tatsächlich aber hatte Steltzer, wie auch diese Edition zeigen wird, bereits am Vorabend der Wahl seinen Rücktritt beschlossen. Er war nicht nur an seinem sozialdemokratischen Gegenspieler und Nachfolger Hermann Lüdemann,19 für die politische Kärnerarbeit wohl begabter, gescheitert, sondern hatte sich auch in seiner eigenen Partei nicht gegen den Fraktionsvorsitzenden und „Landesfürsten“ Carl Schröter20 durchsetzen können.21 Auch wenn das Verhältnis zur britischen Militärregierung nicht frei von Spannungen war, kam Steltzer mit dieser besser aus als mit der eigenen Partei.22 Gegen die Integrität von Steltzer, den der „Spiegel“ in einem Nachruf 1967 als in keine Schablone passenden „Weltmann ohne Ellenbogen, aber mit Rückgrat“ bezeichnete,23 spricht dies sicher nicht. Ohnehin war der Gestaltungsspielraum einer Landesregierung im besetzten Schleswig-Holstein gering. Kiel, bis 1945 eine Garnisons- und Werftenstadt mit Universität, war auf die Rolle einer Landeshauptstadt nicht vorbereitet, denn die Provinzialbehörden und die Regierung hatten, abgesehen vom 1917 verlegten Oberpräsidenten, ihren Sitz in der Beamtenstadt Schleswig gehabt. Die Suche nach geeigneten Räumlichkeiten, meist in ehemaligen Kasernen, ist ebenso Gegenstand der Edition wie der berüchtigte Hungerwinter 1946/47 mit zahlreichen Toten; Steltzer gab aus diesem Anlaß der Wochenzeitung „Die Zeit“ ein Interview mit schweren Vorwürfen gegen die Alliierten.24 Die langsame Normalisierung des öffentlichen Lebens zeigte sich bei der Wiederbegründung des Rundfunks, bei der Hugh Carleton

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Schwiedrzik, 1991: 210. Klein, 2007. 17 Vgl. Schreiben Adenauers vom 8. April 1947 an Steltzer, in: Adenauer, 1983: 464. 18 Etwa Alberts, 2009. Auch Steltzer, 1966: 196, drückte sich im Rückblick missverständlich aus: „Die Wahlen ergaben dann eine Mehrheit der Sozialdemokratie. Sie enthoben mich eines eigenen Entschlusses. Ich erklärte dem Gouverneur den Rücktritt der Landesregierung.“ Vgl. dagegen den hier abgedruckten Brief Forsthoffs vom 7. April 1947. 19 Zu ihm nur: Krause, 1987. 20 Gauger, 2008. Aus Steltzers Sicht: Steltzer, 1966: 194 f. 21 Jürgensen, 1987: 85. 22 Steltzer, 1966: 188. 23 Anonymus, 1967. 24 Steltzer, 1946. Im Rückblick Steltzer, 1966: 193 f. Das Gespräch war auf Vermittlung des mit Steltzer bekannten Chefredakteurs Richard Tüngel zustande gekommen, der auch die Fragen formulierte und 1955 wegen der Veröffentlichung eines Textes von Carl Schmitt in der „Zeit“ bekannt wurde. 16

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Greene, ein britischer Offizier und Bruder des Schriftstellers Graham Greene, eine wichtige Rolle spielte. Immer wieder wird die politische Situation der Nachkriegszeit aus der Edition deutlich. Deutschland war besiegt und in Zonen geteilt; auch zwischen britischer und amerikanischer Zone bestanden bewachte Grenzen.25 Reisen standen unter Genehmigungsvorbehalt und waren von unzähligen praktischen Schwierigkeiten begleitet, von Heidelberg nach Kiel brauchte Forsthoff mehrere Tage. Es gab keinen freien Warenverkehr, die Währungsreform lag in einer fernen Zukunft, nicht nur Papier war schwierig zu beschaffen. Der Postverkehr, auch zwischen den Zonen, funktionierte aber. Druckerzeugnisse waren faktisch durch die Papierzuteilung, rechtlich durch die Zensur beschränkt. Andererseits bestand ein großer Lesehunger, die Zahl der Veröffentlichungen war immens, auch in der Rechtswissenschaft. 1946/47 bestanden insgesamt vier juristische Fachzeitschriften mit gesamtdeutschem Anspruch, eine für jede Zone. Seit 1946 erschienen in Tübingen (Französische Zone) die „Deutsche Rechtszeitschrift“, in Heidelberg (Amerikanische Zone) die „Süddeutsche Juristenzeitung“ und in Hamburg (Britische Zone) die „Monatsschrift für Deutsches Recht“; 1947 kam in Berlin für die Sowjetische Zone die „Neue Justiz“ hinzu.26 Im als „Lazarettstadt“ weitgehend unzerstörten Tübingen,27 der Landeshauptstadt von Württemberg-Hohenzollern,28 arbeitete seit Mai 1946 Walter Mallmann als Schriftleiter der „Deutschen Rechts-Zeitschrift“, deren erste Ausgabe im Juli 1946 bei dem im Frühjahr 1946 wiedereröffneten Verlag Mohr Siebeck erschien.29 Er bemühte sich in allen Zonen um Autoren und kam Ende 1946 auch auf Ernst Forsthoff, der bereits auf dem Sprung nach Kiel war. Daraus entstanden die hier edierten Briefe Forsthoffs an Mallmann, die 1947 geschrieben wurden. Forsthoffs Korrespondenzpartner gehörte, sechs Jahre jünger, der gleichen Generation an; er wurde am 16. Juni 1908 in Koblenz als Sohn des Landgerichtspräsidenten Emil Mallmann geboren.30 1935 wurde er bei Felix Genzmer in Marburg promoviert.31 Er distanzierte sich vom „formalen Positivismus“ Paul Labands, was keineswegs originell war,32 von Mallmann mit Konsequenz aber weit nach 1945 fortgesetzt wurde.33 25 Andersch, 1947. Mit den Schriftstellern Hans-Werner Richter und Alfred Andersch stand Theodor Steltzer bis zu seinem Tode in Kontakt, zahlreiche Briefe im Nachlass (Landesarchiv Schleswig-Holstein, Schleswig). 26 Bader, 1978: 17. 27 Weber, 1998: 191. 28 Weber, 1998: 201. 29 Bader, 1978: 22 f. 30 Schmidt, 1989: 308. 31 Mallmann, 1938. 32 Schmidt, 1989, insbesondere 310; Mallmanns Verweise auf eine „jüdische Denkart“ werden dort als „hintersinnig“ bezeichnet: „Mallmanns damalige Kritik an der Lehre Labands könnte heute unverändert erscheinen.“ Das mag aus der Perspektive des Jahres 1989 stimmen. 33 Mallmann, 1964: 377 („Methodisch im Rechtspositivismus wurzelnd, verharrte er doch nicht in dem einseitigen Logizismus der positivistischen Schule P. Labands.“).

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1933 war er der SA beigetreten, 1937 wurde er Mitglied der NSDAP.34 Ab 1935/36 war Mallmann Assistent in Tübingen, wo Genzmer seit 1934 lehrte.35 1937 wurde er Opfer einer politischen Denunziation36 und verließ die Universität; er wurde in München Lektor bei der juristischen Abteilung des Verlages C. H. Beck. Spätestens in dieser Zeit bestanden Kontakte zu Ernst Forsthoff, der im Dezember 1940 von Mallmann wegen seines seit 1933 geplanten Lehrbuchs zum Verwaltungsrecht angeschrieben wurde. Seit 1941 stand Forsthoff mit dem Buch, das 1950 erscheinen sollte, bei Beck unter Vertrag.37 Darüber hinaus bestand aber auch eine gewisse Vertrautheit mit Forsthoffs Veröffentlichungen, denn Mallmann hatte von 1938 bis 1944 zu den regelmäßigen Autoren der von Hans Sikorski38 bei „Walter de Gruyter“ verlegten Rezensionszeitschrift „Geistige Arbeit“ gehört.39 Dabei hatte er zweimal Forsthoff besprochen, nämlich „Die Verwaltung als Leistungsträger“ (1939) und „Recht und Sprache“ (1941).40 Als „bekannten Edelnazi“41 dürfte Mallmann Forsthoff nicht betrachtet haben. Die Tätigkeit als Lektor wurde ab 1939 durch Kriegsdienst, zuletzt als Unteroffizier der Wehrmacht, unterbrochen. Das Kriegsende verlebte er in München. Im Sommer 1944 wurde das Verlagsgebäude von Beck bei einem Luftangriff zerstört; dabei wurden offenbar auch Fragmente einer unvollendeten Habilitationsschrift verbrannt.42 Nach der Kapitulation untersagte die amerikanische Militärregierung zunächst jede verlegerische Tätigkeit. Am 30. August 1946 wurde auf Initiative Heinrich Becks in München der Biederstein-Verlag, benannt nach einem kriegszerstörten Schloß im Englischen Garten, gegründet. An ihn konnten die weiter bestehenden Rechte des Verlages C.H. Beck verpachtet werden.43 Im Juni 1946 war Mallmann bereits offiziell nach Tübingen in der Französischen Zone gewechselt. Er wurde beim Verlag Mohr Siebeck Schriftleiter der neungegründeten „Deutschen Rechts-Zeitschrift“.44 Genzmers Lehrstuhlnachfolger, der württemberg-hohenzollersche Staatsrat Carlo Schmid und Gebhard Müller, der spätere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hatten Mallmann im April 1946 ins Gespräch gebracht.45 War die Tätigkeit als Lektor eher im Hintergrund angesiedelt, trat Mallmann als Schriftleiter stärker in den Vordergrund. Herausgeber der „Deutschen Rechts-Zeitschrift“ war der Freiburger Generalstaatsanwalt Karl Siegfried Bader, der eine führen34

Wesel, 2015: 148. Stolleis, 1999: 292. 36 Schmidt, 1989: 308. Die genauen Umstände sind nicht ganz ersichtlich und bedürfen der weiteren Vertiefung. 37 Meinel, 2011: 104 f. 38 Fetthauer, 2010. 39 Schmidt, 1989: 311 ff. 40 Vgl. Ruthsatz, 1978. 41 Vgl. Meinel, 2015: 232 (hier wird diese Wortwohl allerdings als „ugs.“ ironisiert). 42 So jedenfalls Schmidt, 1989: 308. 43 Felken/Jacobs, 2013: 31. 44 Bader, 1978: 22 f. 45 Bader, 1978: 22; Weber, 1998: 238. 35

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de Rolle beim Wiederaufbau der Justiz in der Französischen Zone spielte,46 1951 wurde er Ordinarius für Rechtsgeschichte in Mainz.47 Ende 1946 zog Mallmann mit seiner Familie nach Tübingen; Umzüge, erst recht zwischen den Zonen, waren schwierig, der Wohnraum knapp und bewirtschaftet. Das ist auch Gegenstand der Briefe: Mallmann schrieb am 21. Februar 1947 von einer „Trinität Arbeitsamt – Wohnungsamt – Ernährungs- und Wirtschaftsamt“, sicherlich eine Herausforderung für die leistende Verwaltung. Zudem bestanden noch Verpflichtungen gegenüber dem Biederstein-Verlag.48 Mallmann mußte als „Redakteur im Einmannbetrieb“49 einen neuen Autorenstamm aufbauen; zu diesem Zweck schrieb er nach seinem Umzug nach Tübingen auch Ernst Forsthoff an. Mallmann war an Forsthoffs „Verwaltungsrecht“ interessiert. Daraus entwickelte sich erneut eine im Kern geschäftliche Korrespondenz. Das „Verwaltungsrecht“ erschien dann 1950 aber doch bei Beck.50 Bei aller Sympathie verfolgten Mallmann und Forsthoff eigennützige und legitime Ziele. Mallmann war an einem produktiven Autor, der einige Manuskripte „in der Schublade“ hatte, interessiert. Für den auf eine Rezeption angewiesenen Forsthoff war der Kontakt zu einem lizenzierten Verlag lebensnotwendig. Das klingt aus der Retrospektive berechnender als es war. Die politische Zukunft Deutschlands lag 1946/47 außerhalb jeder Vorstellungskraft; zudem war eine Mitarbeit Forsthoffs als Autor abhängig von seiner offiziellen Entnazifizierung.51 Probleme bestanden bereits in der Versorgung mit dem Notwendigen, es gab Lebensmittelmarken, für Geld konnte wenig gekauft werden. Auch Forsthoff, in dieser Zeit immerhin Beamter in herausragender Position, fehlte es an Heizmaterial, und er konnte nur zur Untermiete leben. Die Edition ist damit auch eine Quelle zur deutschen Nachkriegsgeschichte. Das Jahr 1947 wurde ausgewählt, weil Forsthoffs Kieler Zeit fast vollständig darunter fällt, einschließlich des Rücktritts von Theodor Steltzer und der unsicheren Rückkehr nach Heidelberg. Die Edition ist eine der wenigen konkreten Spuren der Kieler Zeit. Daneben ist diese Edition ein Beitrag zur Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland am Beispiel eines Staatsrechtlers in einer Umbruchzeit, der seine publizistischen Projekte mit bewundernswerter Konsequenz verfolgte. Zudem liegt hier ein Dokument zur deutschen Montesquieu-Rezeption vor.52 Auch Mallmann hatte sich mit Montesquieu bereits ausführlich beschäftigt.53 Andere Projekte Forsthoffs 46

Groß, 2007. Schott, 2002. 48 Bader, 1978: 22. 49 Bader, 1978: 18. 50 Zu dem Buch: Meinel, 2011: 104 – 107; Stolleis, 2012: 78 – 185. 51 Vgl. Schreiben Mallmann vom 17. März 1947: „Vielen Dank für Ihr Schreiben vom 7. März mit den guten Nachrichten über die erfolgreiche Beendigung Ihres politischen Verfahrens. Ihrer Mitarbeit in der Deutschen Rechts-Zeitschrift steht danach nichts mehr im Wege.“ 52 Grundlegend: Mohnhaupt, 1999. 53 Einen Hinweis auf die Beschäftigung Mallmanns mit Montesquieu verdanke ich Herrn Prof. Dr. Hans-Christof Kraus (Passau), in dessen Besitz sich die Montesquieu-Monographie von Albert Sorel in der deutschen Übersetzung (Berlin 1896) aus dem Nachlaß Mallmanns 47

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waren das noch unveröffentlichte Manuskript „Die Institution als Rechtsbegriff“ und die 1940 erstmals erschienene „Deutsche Verfassungsgeschichte“, für die Forsthoff einen neuen Verlag sucht; der bisherige Verlag, Junker & Dünnhaupt, war von der Militärregierung verboten worden. Einzelne Briefpassagen behandeln besondere Themen wie den Aufbau des Nordwestdeutschen Rundfunks durch die britische Militärregierung oder die Entstehung der Landessatzung von Schleswig-Holstein. Insgesamt läßt sich eine berufliche Nachkriegskorrespondenz zwischen Mallmann und Forsthoff für die Jahre 1947 bis 1958 nachweisen. Von dieser wird hier das erste Jahr anhand der überlieferten Briefe Forsthoffs dokumentiert. Der Briefwechsel ist trotz seines beruflichen Charakters persönlich gehalten und bezieht die allgemeinen Lebensumstände ein. Forsthoff äußert sich nicht nur zu möglichen Rezensenten und Autoren, er klagt auch über die „Ernährungskalamität“, leidet hunger- und kältebedingt an offen benannten Ödemen, aber auch unter Papiermangel; Mallmann in Tübingen muß um die eher geringe Menge von 250 Blatt förmlich angebettelt werden. Auch ein von Mallmann erwähntes Projekt, eine Festschrift zum 80. Geburtstag Heinrich Triepels und für das Jubiläumsjahr 1948,54 wird nie erscheinen. Selbstironisch schreibt Forsthoff von „individueller Daseinsvorsorge“. Ausländische Bücher sind fast unerreichbar. Finanzielle Transaktionen sind keine Selbstverständlichkeit und erfordern Beziehungen, um das „Einfrieren“ eines Kontos zu verhindern, obwohl der Wert des Geldes sehr begrenzt ist. Mit der nicht ohne Ironie so bezeichneten „Englischen Krankheit“, einem alten Euphemismus für die Rachitis, bezeichnet Forsthoff allerdings die englische Besatzungsmacht, zu der er in Gestalt einzelner Offiziere wie dem Deutsch sprechenden Hugh Greene – Forsthoff sprach kein Englisch – gleichwohl freundliche Kontakte unterhält. Mit seiner Geringschätzung des schleswig-holsteinischen Landtags als „kläglicher Duodezparlamentarismus“ dürfte er mit Steltzer auf einer Linie gelegen haben. Seine offenherzige Kritik an Gustav Radbruch und dessen „hemmungslose[r] Ethisierung des Rechts“ ging zwar auf einen entsprechenden Artikel in der DRZ zurück; tatsächlich war Mallmann bereits vor 1945 ein Rezensent von Radbruch,55 der sich nach 1945 für ihn eingesetzt hatte.56 Daneben empfahl Forsthoff ausdrücklich den 1933 emigrierten Fritz Morstein-Marx, obwohl dessen Rückkehr aus Amerika noch nicht feststand, aber auch Erich Kaufmann, (erworben 1930) befindet. Vgl. auch das Schreiben Mallmanns vom 20. Januar 1947 an Forsthoff: „Die von Ihnen erwähnte Ausgabe der Cahiers ist mir bekannt. Ich besitze sie und habe sie seinerzeit in der ,Geistigen Arbeit‘ angezeigt (siehe Anlage). Eine deutsche Übersetzung wurde damals von dem Verlag Franckh Stuttgart (oder seiner Schwesterfirma Spemann – ich weiß es nicht mehr genau) vorbereitet. Ich sollt daran mitarbeiten, doch wurde nichts daraus, weil ich im Felde war.“ Dann erschien: Montesquieu, 1944. 54 Vgl. Schreiben Mallmanns vom 4. November 1947: „Auch das Paulskirchenjubiläum macht mir als Redakteur der DRZ einiges Kopfzerbrechen. Meine verschiedenen Bemühungen um entsprechende Aufsätze (u. a. bei Leibholz, der aber nur eine halbe Zusage gegeben hat) sind noch ergebnislos.“ Es erschien lediglich: Apelt, 1948. 55 Darunter Radbruch, 1938; Radbruch, 1941 (postumes Buch der Tochter). 56 So Schmidt, 1989: 314, unter einem etwas kryptischen Verweis auf eine „unveröffentlichte schriftliche Äußerung“ aus dem Nachlass.

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den lange vor 1933 eine wechselseitige Abneigung mit Carl Schmitt verband. Forsthoff hält Schmitt wiederum gegenüber Mallmann eine „Umbiegung“ von Maurice Hauriou vor. Im Grunde ganz im Geiste Schmitts stehen Passagen, in denen Forsthoff sich mit einigem kaum verhüllten Stolz über seine „aufreibende“ Tätigkeit als „persönlicher Referent des Ministerpräsidenten“ äußert, denn letztlich beschreibt er hier das Problem des „Zugangs zum Machthaber.“ Es sind diese Passagen, in denen die Briefe das Gerüst einer reinen Geschäftskorrespondenz verlassen. Hinweise auf eine private Korrespondenz finden sich nicht; beide Nachlässe befinden sich noch im Familienbesitz. Auf den Abdruck der Gegenbriefe von Mallmann, die für 1947 als Durchschlag vorlagen,57 wurde verzichtet. Der Inhalt läßt sich aus den Briefen Forsthoffs rekonstruieren. Eine Zäsur im Verhältnis zwischen Forsthoff und Mallmann bildete eine Auseinandersetzung um Carl Schmitt 1958/ 59; hierbei spielte Mallmann, seit 1957 Professor in Frankfurt am Main, aber weiterhin seit 1951 Herausgeber der „Juristenzeitung“, eine tragende Rolle.58 Eine innere Distanz Mallmanns zu dem gesamten Milieu Carl Schmitts war bereits deutlich früher angelegt. 1950 beschwerte sich Mallmann in einem Leserbrief an die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ über eine Würdigung Thomas Manns durch den Schriftsteller Gerhard Nebel,59 der Ernst Jünger nahestand;60 zudem finden sich vergiftete Anspielungen auf Jüngers 1932 erschienenen Essay „Der Arbeiter“, die sich allein aus Nebels kritisiertem Artikel nicht erklären lassen. Ernst Jünger war 1931 auf Forsthoffs Einladung zu einem Vortrag in Freiburg gewesen.61 Das läßt auf tiefer liegende Konflikte schließen; noch 1947 hatte sich Mallmann gegenüber Forsthoff als Kritiker des namentlich nicht genannten „Aestheten“ W. E. Süskind profiliert.62 Am 26. August 1951 notierte Carl Schmitt in seinem „Glossarium“ ein Wortspiel mit Mallmanns Namen, in dem er den „Verlag Mohr in Tübingen“ („Das ist ja kein ehrlicher Mohr mehr.“) als „Mal-Mann“ bezeichnete.63 Als Forsthoffs jung verstorbener Schüler Karl Zeidler64 auf der Staatsrechtslehrertagung 1960 in Köln das Koreferat zu Walter Mallmann über „Schranken nichthoheitlicher Verwaltung“ hielt, begegne57

Hinweise auf Vorkriegsbriefe Mallmanns im Nachlaß Forsthoff bei Meinel, 201: 105. Ausführlich hierzu Mehring, 2010: 149. 59 Mallmann, 1950. 60 Lehnert, 2004. 61 Meinel, 2011: 28, mit weiteren Nachweisen. 62 In einem Schreiben vom 23. September 1947 (Antwort auf das hier abgedruckte Schreiben Forsthoffs vom 14. September 1947) gebrauchte Mallmann für die Angriffe gegen Forsthoff den Ausdruck „politische Querschiesserei (ich gebrauche diesen Ausdruck, obwohl er im letzten Heft der Wandlung von einem Aestheten in das Wörterbuch des Unmenschen verwiesen worden ist; aber einiges in diesem Wörterbuch ist auch heute noch unentbehrlich).“ Der Lektor und Journalist Wilhelm Emanuel Süskind veröffentlichte zusammen mit Dolf Sternberger und Gerhard Storz in der ab 1945 in Heidelberg erscheinenden Monatsschrift „Die Wandlung“ sprachkritische Essays, die 1957 in Buchform „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“ erschienen. 63 Schmitt, 2015: 248. Schmitt spielte auf das französische Wort „mal“ (schlecht, böse) an. 64 Zu diesem nur Stolleis, 2012: 51 – 52. 58

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ten sich Mallmann und der Forsthoff-Schüler allerdings mit ausgesuchter Höflichkeit.65 Seit 1965 lehrte Mallmann an der neubegründeten Universität Gießen, wo er zum selben Fakultät wie Helmut Ridder gehörte, den eine komplexe Gegnerschaft zu Carl Schmitt und dessen Umfeld auszeichnete.66 1982 starb Mallmann 74-jährig in Gießen; er wurde knapp zwei Jahre älter als der 1974 verstorbene Forsthoff. Theodor Steltzer war bereits 1967 82-jährig auf einer Reise in München gestorben. Zuletzt hatte er sich für die Anerkennung der DDR ausgesprochen. Die hier erstmals edierten Briefe befanden sich zunächst im Verlagsarchiv Mohr Siebeck in Tübingen, wo sie vom Herausgeber auch im Jahre 2005 eingesehen wurden. Soweit ersichtlich, wurde ansonsten mit diesen Briefen nicht gearbeitet. 2011 wurde das Verlagsarchiv als ein „Gedächtnisspeicher für die Staatsrechtslehre“ (Michael Stolleis) an die Staatsbibliothek Berlin übergeben,67 die hier vorliegende Edition ist derzeit offenbar noch nicht erschlossen.68 Der erste Abdruck dieser Briefe kann höchsten Standards der Editionswissenschaft nicht genügen und will nur ein Impuls zu einer weiteren Beschäftigung mit der Biographie Forsthoffs geben. Stand die Beschäftigung mit seiner Biographie lange unter dem Verdikt, seine Nähe oder Ferne zum Nationalsozialismus zu belegen, können nach der grundlegenden Arbeit von Florian Meinel weniger ausgetretene Pfade beschritten werden. Diese Edition bezeichnet die Topographie eines solchen Pfades. Walter Mallmann war, soweit ersichtlich, bislang noch kein Gegenstand biographischer Untersuchungen, sieht man vom Kreis der engeren Freunde und Schüler ab. Herrn Dr. Martin Forsthoff (Stuttgart) danke ich für die freundlich erteilte Abdruckgenehmigung.

(24) Kiel, den 4. Januar 1947 Holtenauer Str. 53 III b Plöger69

Sehr verehrter Herr Dr. Mallmann! Ihren Brief vom 13. XII. fand ich vorgestern bei meiner Rückkehr noch hier vor. Er hat mich sehr erfreut und ich danke Ihnen vielmals für die günstigen Nachrichten. Insbesondere dankbar bin ich Ihnen für Ihre freundlichen Bemühungen um die Verlegung des Verwaltungsrechts. Daß Mohr (Siebeck) bereit ist, das Werk zu überneh-

65

Vgl. Mallmann/Zeidler, 1961; zu dieser Tagung auch Stolleis, 2012: 238. Nur: Ridder, 1968. 67 Stolleis, 2011. 68 In der Handschriftendatenbank „Kalliope“ der Staatsbibliothek Berlin fehlt von der Korrespondenz Forsthoff-Mohr Siebeck das Jahr 1947 (letzter Zugriff am 24. September 2015). 69 Laut dem Kieler Adressbuch 1940 „Karl Plöger, Büroleiter“; keine Beziehung zu Forsthoff über das Mietverhältnis hinaus ersichtlich. Forsthoff wohnte im Kieler Stadtteil Brunswik, relativ nah zum Kieler Schloß, dem ersten Sitz der „Präsidialkanzlei“ des Ministerpräsidenten. 66

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men, ist mir eine große Beruhigung; ich bitte Sie, Herrn Siebeck70 meinen aufrichtigen Dank zu übermitteln. Mit der Absprache, die Sie mit den Herren des Biederstein-Verlages71 getroffen haben, bin ich einverstanden. Bis die letzte Überarbeitung abgeschlossen ist, werden noch einige Monate vergehen. Im Augenblick sind meine Lebensverhältnisse denkbar spartanisch. Da die hiesigen Ministerien teils im Umzug begriffen sind, teils erst entstehen und auf die Fertigstellung ihrer Räume in einer kürzlich von den Engländern geräumten Kaserne in Wi[e]k72 noch warten müssen bin ich z. Zt. noch ohne Amtszimmer und, da ich mein eigenes Zimmer nur ganz gelegentlich heizen kann, ohne warmen Raum. Unter diesen Umständen ist an eine wissenschaftliche Arbeit im Augenblick überhaupt nicht zu denken. Ich hoffe aber, daß das in 2 – 3 Wochen anders wird. Was meine Mitarbeit an Ihren Zeitschriften anbelangt, so werde ich gerne an die Rechtsgeschichte denken. Ich halte es für gut möglich, daß ich Ihnen demnächst einen Beitrag zur Verfügung stellen kann, der nicht nur den Grundrechtsteil der süddeutschen Verfassungen73 kritisiert, sondern auch darlegt, wie m. E. die Beziehung Staat-Staatsbürger heute verfassungsrechtlich zu gestalten wäre. Was größere Abhandlungen angelangt, so sehe ich meine Abhandlung „Die Institution als Rechtsbegriff“ seit längerer Zeit nahezu vollendet da liegen. Es ist eine mehr methodische öffentlichrechtliche Untersuchung, als Grundlage einer institutionellen Rechtstheorie gedacht, welche die Vorläufer dieser Theorie: Savigny, Stahl, Ihering, Hauriou behandelt und die Umbiegung Haurious bei Carl Schmitt (Die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens) aufzeigt. Die beiden letzten Kapitel: zur Soziologie der Institution und zur Anthropologie der Institution sind in der Konzeption fertig und bedürfen nur noch der Niederschrift. Ich bin mir aber im Zweifel, ob ich die Abhandlung als Aufsatz oder als selbständige Schrift erscheinen lassen soll – wenn sie einmal fertig ist, was trotz der geringen Arbeit, die ich daran noch zu wenden hätte, angesichts meiner gegenwärtigen Lebensverhältnisse noch einige Zeit dauern kann.

70

Hans-Georg Siebeck (1911 – 1990), 1936 bis 1976 Geschäftsführer und Inhaber des Verlages Mohr Siebeck. 71 Biederstein-Verlag: Rechtsnachfolger des Verlages C. H. Beck. Vgl. Einleitung oben. 72 Wik, Stadtteil von Kiel, seit 1904 zahlreiche Kasernen der Kaiserlichen Marine; bezieht sich hier auf die ehemalige, 1936/37 errichtete Sperrschule der Reichskriegsmarine in der Stralsunder Straße 10, ab Frühjahr 1948 als „Fördehaus“ Sitz des Ministeriums für Umsiedlung und Aufbau, das 1949 mit dem Ministerium für Wohlfahrt und Gesundheit zum Sozialministerium zusammengelegt wurde und 1955 einen Neubau (Brunswiker Straße) bezog. Ab 1956 wieder militärische Nutzung durch die Bundesmarine (heute Dienst- und Unterkunftsgebäude Scheerhafen). Vgl. Sönnichsen, 1989; freundliche Auskunft Dr. Jörg Rathjen, Landesarchiv Schleswig-Holstein. 73 Süddeutsche Verfassungen: Verfassung für Württemberg-Baden, 28. November 1946; Verfassung des Landes Hessen, 1. Dezember 1946; Verfassung des Freistaates Bayern, 8. Dezember 1946. Die Verfassungen besaßen bzw. besitzen bis heute einen sehr umfangreichen Grundrechtsteil, der teilweise auf die Mitwirkung von Juristen wie Walter Jellinek, Hans Nawiasky und Carlo Schmid zurückging.

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Nun zu Montesquieu. Ich bin sehr erfreut darüber, daß Sie den Vorschlägen meines letzten Briefes zustimmen. Darf ich Sie, um das Geschäftliche vorweg zu nehmen, bitten, die Überweisung auf das Konto meiner Mutter, Frau Dr. Emmy Forsthoff,74 Dresdner Bank, Zweigstelle Heidelberg vorzunehmen? Von meiner Mutter wird dann das weitere veranlaßt. Daß wir den Abschluß des Vertrages noch vertagen, bis sich Umfang und Gestaltung des Ganzen übersehen lassen, ist mir durchaus recht. Mein Mitarbeiter75 hat sich gleich ans Werk gemacht und er hatte die Übersetzung zu Weihnachten schon bis zu etwa 1/5 des Esprit de lois gefördert, allerdings in einer Rohfassung, die er noch im einzelnen nachfeilen will, ehe er sie mit zur weiteren Überarbeitung übergibt. Jedenfalls wird er bis zum Juni mit dem Ganzen fertig. Inzwischen habe ich noch folgendes ermittelt. Deutsche Soldaten haben während des Krieges im Schloß Brede76 vergilbte Manuskripte entdeckt, die sich als Tagebücher Montesquieus herausstellten, die sich gezielt mit dem Esprit des lois beschäftigen. Sie sind noch während des Krieges, wenn ich nicht irre, 1942,77 bei Grasset in Paris erschienen.78 Eine Übersetzung dieses Buches ins Deutsche ist mir noch nicht bekannt. Es ist mir gelungen, einen Besitzer dieses in Deutschland gewiß äußerst seltenen Buches ausfindig zu machen, der es mir langfristig leihen wird. Ich meine, daß wir an diesem Buch nicht vorübergehen können. Erst wenn ich es gelesen habe, kann ich übersehen, ob man es zerlegt und als Erläuterung zu den einschlägigen Kapiteln als Fußnoten widergibt, oder ob man es als Anhang beifügt oder ob man eine selbständige Publikation daraus machen soll, die gewiß größeres Interesse nicht nur bei den Juristen, sondern auch den Historikern finden wird. Wäre es nicht zweckmäßig, schon jetzt mit Grasset Fühlung aufzunehmen um festzustellen, ob der Verwertung Urheberrechte entgegen stehen (bejahendenfalls sich die Auswertung und Übersetzung zu sichern), ob schon anderweitige Übersetzungen verbreitet wurden usw.? Vielleicht wäre es auch möglich, 2 oder 3 Exemplare von Grasset zu bekommen, damit wir nicht allein auf das geliehene Stück angewiesen sind. Jedenfalls möchte ich annehmen, daß auch Sie der Meinung sind, daß wir das Buch haben müssen. Denn wenn jetzt eine Neuausgabe des Esprit des lois vorbereitet wird, dann muß sie so werden, daß sie für die absehbare Zukunft die Ausgabe des deutschen Sprachgebietes bleiben wird. Es würde mich interessieren, zu wissen, ob es Ihnen darauf ankommt, daß die Ausgabe einbändig wird oder ob Sie auch mit einer zweibändigen Ausgabe einverstanden wären. Ich habe mich noch nicht entscheiden können, ob ich Ihnen Kürzungen vorschlagen soll. An sich bin ich mehr geneigt, Ihnen eine ungekürzte Übersetzung vorzulegen, da jede Kürzung den wissenschaftlichen Wert beeinträchtigt, auch wenn sie noch so verständnisvoll gemacht wird. Aber darüber bin ich mir, wie gesagt, noch 74

Emmy Forsthoff geborene Bergfried (1880 – 1967); lebte als Pfarrwitwe in Heidelberg. Nicht ermittelt. 76 Chateau de la Brede in La Brede (Departement Gironde), Familiensitz Montesquieus. 77 Richtig: 1941. 78 Montesquieu, 1941. 75

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nicht endgültig schlüssig geworden. Nun würde es möglich sein, auch eine ungekürzte Ausgebe in einem Bande herauszubringen. Das aber wohl nur unter der Voraussetzung, daß auf die Tagebücher verzichtet und die Einleitung auf verhältnismäßig engen Raum zusammengedrängt wird. Aber auch dann wäre der Band noch ziemlich dick und nicht gerade sehr handlich. Bei einer zweibändigen Ausgabe täte man sich mit allem leichter, sodaß es mir sehr lieb wäre, wenn diese Möglichkeit von vornherein offengehalten würde. Ob man von ihr Gebrauch macht, muß sich dann herausstellen. So viel für heute. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich Ihre Meinung in näherer Zukunft erführe. Mit guten Wünschen zum neuen Jahr und besten Grüßen Ihr Forsthoff

(24) Kiel, 19. Januar 1947 Holtenauer Str. 53 III.

Sehr verehrter Herr Dr. Mallmann! Inzwischen habe ich mir hier die in meinem letzten Brief erwähnten Cahiers von Montesquieu beschaffen können. Das Bändchen ist 1941 von Bernard Grasset79 im Verlag gleichen Namens herausgegeben worden. Ein Vorwort von André Masson,80 Archivar an der städtischen Bibliothek in Bordeaux berichtet ausführlich über das Schicksal des unveröffentlicht geblieben Manuskriptes Montesquieus. Masson hat auch die Textgestaltung, also die Auswahl aus den viel umfangreicheren Notizen der Jahre 1710 – 1755 und die Zwischentitel, getroffen. Das Buch ist von höchstem Reiz. Es zeigt Montesquieu als den honnête homme in der Tradition der französischen Moralisten, denen er auch in der konzentrierten äußeren Form der literarischen Mitteilung folgt. So wäre eine Übersetzung des Buches dringend zu wünschen. Es ist eine Fundgrube gelehrter Weisheit. Aber für die Esprit 79

Geboren 1881 Chambéry (Savoie), 1907 erste Verlagsgründung in Paris, verlegte neben vielen anderen Marcel Proust, Henri de Montherlant und André Malraux, seit 1930 auch französischer Verleger von Friedrich Sieburg, mit dem er befreundet war. Während der deutschen Besatzungszeit auch Kontakte zu Kollaborateuren (Jacques Doriot), 1948 von französischem Gericht wegen Kollaboration zu Entzug der bürgerlichen Ehrenrechte und des Vermögens verurteilt, 1949 durch den Präsidenten der Republik begnadigt, 1954 Verkauf des Verlags an Librairie Hachette; 1955 in Paris verstorben. Vgl. Bothorel, 1989. 80 Geboren 1900 Paris, 1922 Dissertation zur mittelalterlichen Archäologie, Paläograph, 1926 in Hanoi (Französisch-Indochina) Archiv- und Bibliotheksdirektor, 1934 Leiter der Städtischen Bibliothek Bordeaux bis zu seinem Ruhestand 1970; zahlreiche Ehrenämter im französischen Bibliothekswesen, zahlreiche bibliographische und emblematische Veröffentlichungen, darunter auch eine Montesquieu-Gesamtausgabe (1950); 1986 verstorben in Pau (Pyrénées-Atlantiques). Einer der führenden wissenschaftlichen Bibliothekare Frankreichs. Vgl. Caillet, 1986.

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des lois-Ausgabe kämen allenfalls die Stücke S. 211 – 235 in Betracht, welche im Text nicht verwertetes Material wiedergeben. Sie lassen sich nicht in Bemerkungen unterbringen, sofern sie wirklich wesentlich sind (was nicht durchgängig der Fall ist). Im übrigen werden die Cahiers eine Fundgrube für die Einleitung sein, weil sie von der Person und Gedankenwelt Montesquieus einen starken und plastischen Eindruck vermitteln. Herzlichen Dank übrigens für die Übermittlung der Rechtszeitschrift. Der Beitrag von Apelt81 geht zwar nicht sehr in die Tiefe, aber er bringt doch einen wesentlichen Einwand gegen Radbruchs hemmungslose Ethisierung des Rechts klar zum Ausdruck. Übrigens erfuhr ich in Heidelberg, daß in Ihrem Verlag ein Buch von Göhring über die französischen Staatsideen im 17. und 18. Jahrhundert erschienen sei.82 Ich versuchte, es zu kaufen. Das scheiterte daran, daß die Geschäfte zwischen Weihnachten und Neujahr geschlossen hatten. (und am 2. mußte ich schon wieder abfahren). Ich nehme an, daß das Buch für meine Montesquieu-Studie wichtig wird. Wäre es Ihnen möglich, mir ein Exemplar zu beschaffen? Im Voraus vielen Dank. Mit herzlichen Grüßen Ihr sehr ergebener Forsthoff

Kiel, 20. Februar 1947 Holtenauer Str. 53 III

Sehr geehrter Herr Dr. Mallmann! Seit langer Zeit bin ich Ihnen eine Nachricht schuldig. Aber die Lebensverhältnisse hier lassen seit Wochen keine geistige Arbeit zu. Deshalb liegt das Verwaltungsrecht noch unberührt und die Beschäftigung mit Montesquieu beschränkt sich auf die gelegentliche Lektüre der Cahiers. Das wird mit der warmen Witterung natürlich gleich anders werden. Meine Mutter schreibt mir, daß Ihre Überweisung für Januar irrtümlich an die Deutsche Bank Heidelberg gegangen ist. Ich glaube aber, sie hat mit Hilfe eines be81 Apelt, 1946. Eine sehr knappe Entgegnung Apelts auf Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristenzeitung 1 (1946), 105 – 108. Apelt, ein Schüler Otto Mayers, verlor 1933 aus politischen Gründen seinen Lehrstuhl in Leipzig; nur Stolleis, 1999: 285 f. 82 Göhring, 1946. Zu diesem Autor (geboren 1903 Ostdorf/Württemberg, 1932 Promotion bei Otto Becker in Kiel, 1938 ebenda Habilitation, ab 1940 nach Frankreich zur Edition außenpolitischer Akten in Paris abkommandiert, 1942 – 1944 Reichsuniversität Straßburg, ab 1945 Lehrbeauftragter Tübingen, 1951 – 1961 Direktor Institut für Europäische Geschichte Mainz, 1961 bis zu seinem Tod Professor in Gießen, verstorben 1968 in Mainz): Duchhardt, 2005.

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freundeten Bankdirektors den Betrag vor dem Einfrieren gerettet. Zur Vermeidung einer Wiederholung noch einmal das Konto: Frau Emmy Forsthoff, Dresdner Bank, Zweigstelle Heidelberg. Vielen Dank für das Buch von Göhring, dessen Lektüre ich auch für wärmere Tage aufsparen muß. Mit herzlichem Gruß Ihr Ernst Forsthoff.

Heidelberg, 7. März 1947

Sehr geehrter Herr Dr. Mallmann! Schon bin ich auf einige Tage in Heidelberg, um mich nach den Strapazen des barbarischen Kieler Winters83 ein wenig zu verschnaufen. Jetzt, nachdem die Strenge des Winters gebrochen zu sein scheint, beginnen sich die Lebensgeister wieder zu regen – auch im Hinblick auf die Wissenschaft. Die Kälte war auch der Grund dafür, daß ich so lange nichts von mir hören ließ. Sie warf einen nahezu vollständig auf die vegetativen Funktionen zurück und was an geistigen Regungen vorhanden war, wurde durch die beruflichen Pflichten absorbiert. Die politische Überprüfung in der englischen Zone ist abgeschlossen. Ich bin nun im Besitz des Zertifikats der britischen Militärregierung, das bestätigt, daß ich mich vom Vorwurf nationalsozialistischer Aktivität gereinigt habe und daß gegen meine Anstellung keine Bedenken bestehen. Es gilt für die ganze britische Zone. Meine formale Einstellung ist im Gange und geht ihren vorgezeichneten langsamen bürokratischen Gang. Die hiesige Spruchkammer hat sich dafür kräftig gemacht, das Verfahren wegen mangelnden öffentlichen Interesses einzustellen. So bin ich ein gutes Stück weiter. In Kiel bin ich persönlicher Referent des Ministerpräsidenten und habe daher eine hochinteressante Tätigkeit. Meine Einstellung soll formal im Justizministerium erfolgen, während ich de facto in der Präsidialkanzlei tätig sein werde. Mit der hoffentlich eintreffenden milderen Jahreszeit kann auch die wissenschaftliche Arbeit wieder zu ihrem Recht kommen. Abgesehen von der Fertigstellung des Verwaltungsrechts und der Schrift Die Institution als Rechtsbegriff denke ich vor allem an eine Darstellung des Verhältnisses Staat-Individuum von heutiger Wirklichkeit aus. Sie soll nicht bei einer Kritik der süddeutschen Verfassungen bleiben, sondern die Grundzüge einer der heutigen Wirklichkeit entsprechenden konstruktiven Lösung herausarbeiten. Ich verfolge damit zugleich die praktische Ebene der nach

83 Zum „Hungerwinter“ 1946/47 unter besonderer Berücksichtigung Schleswig-Holsteins nur: Hübner, 2009.

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den Wahlen vom 20. April84 (ein sinnigeres Datum ließ sich wohl nicht finden) in Gang kommenden Verfassungsarbeit in der Britischen Zone einzuarbeiten. Deshalb wäre mir sehr daran gelegen, wenn der Aufsatz im Mai-Heft der Deutschen Rechtszeitschrift erscheinen könnte. Wäre das wohl möglich? Oder haben Sie Bedenken, überhaupt schon einen Beitrag von mir aufzunehmen? Ich meine, daß solche Bedenken mit der britischen Bestätigung gegenstandslos geworden sein könnten. Ich wirke ja bereits in der beim Nordwestfunk gebildeten Rundfunkschule85 als Lehrkraft neben zahlreichen Engländern mit und die Schule steht unter der Leitung eines britischen Offiziers.86 So meine ich, man könnte es wagen. Darf ich Sie um Nachricht nach Kiel, Holtenauer Straße 53 bitten? Falls Sie den Aufsatz nehmen können, teilen Sie mir bitte auch den Zeitpunkt des Redaktionsschlusses für die Mai-Nummer mit. Mit herzlichem Gruß Ihr Ernst Forsthoff P.S: Eben erhalte ich einen Brief meines alten Freundes Arnold Ehrhardt,87 mit seinem Buch über die Litis aestimatio Autor von Beck.88 Jetzt als Theologe und Kurat in Manchester, Er benötigt für seine größere theologische Arbeit das Wörterbuch zum Neuen Testament89 (wenigstens, wie er schreibt, „den einen oder anderen Band“) und bittet mich, beim Verlag kurz zu erfragen, ob das Werk noch lieferbar ist und ob eine Lieferung ins Ausland – er nennt die Buchhandlung Sherratt & Hughes,90 84 Bei der Wahl zum Ersten (gewählten) Landtag von Schleswig-Holstein am 20. April 1946 siegte die SPD unter Hermann Lüdemann klar mit 43,8 % der Stimmen und der absoluten Mehrheit der Sitze (CDU 34 %, Südschleswigischer Verein 9,3 %, nicht im Landtag vertreten waren u. a. FDP 5 %, KPD 4,7 %). 85 Zu der 1947 gegründeten Rundfunkschule des NWDR, einer Einrichtung zur Rekrutierung von Nachwuchsjournalisten, sehr instruktiv (auch knapp zu Forsthoff, dem Lehrplan und den weiteren Lehrkräften) Schwarzkopf, 2007. Mit dem Ende des NWDR 1956 stellte die Schule ihre Arbeit ein. 86 (Sir) Hugh Carleton Greene (1910 – 1987), Bruder des Schriftstellers Graham Greene, organisierte nach 1945 als britischer Offizier den Rundfunk in der Britischen Zone, später Programmdirektor der BBC. Vgl. Tracey, 1984; Shaw, 2004. 87 Arnold Ehrhardt (1903 – 1965), Jurist und Theologe, Schüler von Josef Partsch und Fritz Pringsheim, Forsthoff kannte ihn aus Freiburg oder Frankfurt am Main, 1939 Emigration nach England. Vgl. Diestelkamp, 1989, insbesondere 95 – 97. Der Vorlesungsboykott gegen den „halbarischen“ Privatdozenten für Römisches Recht 1935 war von der Studentenschaft inszeniert. Forsthoffs Fürsprache für Ehrhardt führte zu einem Bruch mit Carl Schmitt. Vgl. auch Forsthoff/Schmitt, 2007: 9. 88 Ehrhardt, 1934. 89 Gemeint ist Kittel, 1934 – 1942. Forsthoff irrte hier. Zwar war Kittel Professor in Tübingen, doch erschien das Lexikon im Verlag Kohlhammer (Stuttgart). 90 Große Buchhandlung mit Antiquariat, Verlag und Druckerei in Manchester, begründet 1880 von John Sherratt und Ernest Hughes; seit 1947 allerdings auf das Druckereigeschäft beschränkt.

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Manchester Grove Street, möglich ist. Darf ich Sie, da ich die Wünsche gerne erfüllen möchte, mit der Angelegenheit behelligen und Sie bitten, mir dazu kurz nach Kiel zu schreiben?

Prof. Dr. Ernst Forsthoff (17 a) Heidelberg-Schlierbach Waldgrenzweg 7. 4. 1947

Sehr verehrter Herr Dr. Mallmann! Für meine so sehr verspätete Antwort auf Ihren Brief vom 17. März, und eigentlich auch noch auf den Brief vom Februar muß ich mich sehr entschuldigen. Aber meine Tätigkeit in Kiel als persönlicher Referent des Ministerpräsidenten ist ebenso interessant wie aufreibend. Ich bin im Durchschnitt die Hälfte der Zeit auf Reisen (die heute kein Vergnügen sind) und die Tage, die ich in Kiel bin, sind angefüllt mit Dienstgeschäften bis in den Abend, zu denen noch die Plackereien individueller Daseinsvorsorge des möblierten Zimmerherrn und Restaurantessers kommen, die in der britischen Zone weit übler sind als im Süden. So ist leider sehr viel, eigentlich alles liegen geblieben, auch dringende Sachen, zu denen ich die Beantwortung Ihrer Briefe rechne. Nun zunächst zu Ihren Fragen: Was die Berichterstattung über das öffentliche Recht in der britischen Zone anbelangt, so wäre gegen Dennewitz91 nichts einzuwenden, den ich mehrfach in Hamburg gesprochen habe. Er hat sich freilich jetzt ziemlich auf verfassungspolitische Fragen und hier speziell auf den Fragenbereich Föderalismus eingeengt. Am Institut für öffentliches Recht in Hamburg ist außer Dennewitz noch Regierungsrat Kern92 beschäftigt, ein begabter und fleißiger Schüler von mir aus der Frankfurter Zeit (1933 – 35), dem ich eine hervorragende Zusammenstellung des gesamten Verfassungsmaterials der britischen und amerikanischen Zone verdanke, die er mit vielen Reisen und sonstigen Mühen zusammengebracht hat. An ihn wäre ebenfalls zu denken. Dagegen warne ich vertraulich vor dem früheren Frankfurter Assistenten von

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Zu Bodo Dennewitz: Stolleis, 1999: 296, 356 f. Ernst Kern, geboren 1923. Promotion in Hamburg bei Ipsen (Moderner Staat und Staatsbegriff, diss. iur. Hamburg 1949), später auch Autor der ersten Festschrift für Carl Schmitt 1959 (Aspekte des Verwaltungsrechts in der Industriegesellschaft: 81 – 101), ab 1948 häufiger Autor der DRZ zum öffentlichen Recht der Britischen Zone, etwa: Zur Verfassungsentwicklung in der Britischen Zone, DRZ 1948, 202 – 205. Zuletzt seit 1969 als Ministerialdirektor Leiter der Abteilung Recht und Verwaltung im Bundeskanzleramt, politischer Ruhestand 1982, 1987 in Bonn verstorben. Vgl. auch Carl Schmitts Schreiben an Forsthoff vom 4. November 1969 (Forsthoff/Schmitt, 2007: 294: „Ist der dort genannte Ernst Kern unser alter Bekannter?“); in seine formale Zuständigkeit fiel auch die Einstellung des später als Spion enttarnten Günter Guillaume. 92

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Giese, Eberhard Menzel,93 der sich jetzt ebenfalls in Hamburg angefunden hat und ziemlichen Wind macht. Er soll die wieder erstehende Mendelsohn[sic!]-Bartholdysche Zeitschrift für Außenpolitik94 übernehmen, womit sie m. E. von vornherein zu einem Fehlstart verurteilt ist. Außerdem möchte ich sie drauf aufmerksam machen, daß in der britischen Zone ein die drei Länder umfassender Verfassungsausschuß gebildet worden ist, dessen Vorsitzender der Ministerialdirigent Holtz95 bei der Regierung Nordrhein in Düsseldorf ist. Er wäre für Sie wohl ein wichtiger Mann. Ich selbst bin mit dem Verfassungsentwurf für Schleswig-Holstein nur indirekt beratend beteiligt, in Form von sachlichen Besprechungen, die ich mit dem Verfassungsreferenten Dr. Markull96 (Sohn des verstorbenen Min.R. im Reichsfinanzministerium, Verf. des ausgezeichneten Kommentars zum Körperschaftssteuergesetz)97 habe. Der Entwurf wird im Innenministerium ausgearbeitet, das eine Domäne der SPD ist.98 93 Eberhard Menzel (1910 – 1979): Stolleis, 2012: 58 u. ö. Eberhard Menzel war Fakultätsassistent in Frankfurt am Main und Schüler von Friedrich Giese. Das mit diesem gemeinsam verfasste Buch „Vom deutschen Völkerrechtsdenken der Gegenwart“ (Frankfurt am Main 1938) führte nach 1945 zur Entlassung Gieses, schadete aber dem federführenden Menzel nicht, der, worauf Forsthoff anspielt, als Mitarbeiter bei Rudolf von Laun in Hamburg arbeiten konnte (ab 1955 Professor in Kiel). 94 Gemeint sind die „Hamburger Monatshefte für Internationale Politik“ (erschienen 1923 – 1941, zunächst bis 1933 unter dem Reihentitel „Europäische Gespräche“, ab 1937 nur noch als „Monatshefte für Internationale Politik“); hierzu etwa Stolleis, 1999: 395. Albrecht Mendelssohn-Bartholdy (1874 – 1936) war Professor für Zivilprozess, Auslandsrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Hamburg, gründete dort 1922 das „Institut für Auswärtige Politik“. 1933 musste er nach Oxford emigrieren. 95 Dr. Wolfgang Holtz (1897 – 1966), 1922 – 1932 Reichsfinanzverwaltung, 1932 – 1943 Reichswirtschaftsministerium, 1943 Reichsverkehrsministerium, 1944 Militärverwaltung in Frankreich, 1944 – 1945 Reichsstelle für Eisen und Metalle, 1948 – 1949 Verwaltung für Verkehr des Vereinigten Wirtschaftsgebiets, 1950 – 1951 BMWo, dort Leiter des Sonderreferats „Ausbau Bonn und Bundeszone“, 1951 – 1955 Dienststelle Blank, dort Vertreter des Leiters, 1955 – 1959 BMVg, dort Leiter der Abteilung Verteidigungswirtschaft. 96 Stolleis, 2012: 120, mit weiteren Nachweisen. Dr. Friedrich („Fritz“) Markull, ab 1933 Schulungsleiter Deutsche Arbeitsfront, Dissertation über die Deutsche Gemeindeordnung (DGO), Regierungsrat im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete unter Alfred Rosenberg, Verfasser der umstrittenen „Markull-Denkschrift“ (hierzu Majer, 1981: 324 – 329); ab Januar 1947 Leiter des Verfassungsreferats im Innenministerium Schleswig-Holstein; gilt als „Verfassungsvater“ (hierzu Pfetsch, 1990: 64). Nach 1949 Oberregierungsrat/Ministerialrat im Bundesrechnungshof, später Generaldirektor im Sekretariat der Ministerräte der Europäischen Gemeinschaften; Kommentierungen des Kommunalrechts und Mitherausgeber des „Verwaltungsarchivs“. 97 Wilhelm Markull (1877 – 1936), seit 1921 bis zu seinem Tod Ministerialrat im Reichsfinanzministerium; Autor zahlreicher abgabenrechtlicher Veröffentlichungen, darunter: Kommentar zum Gesetz über den Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden in der Fassung vom 23. Juni 1923, Berlin 1923. 98 Innenminister war seit dem 23. November 1946 Hermann Lüdemann (SPD), Steltzers unmittelbarer Nachfolger als Ministerpräsident. Sein Vorgänger als Innenminister war der Staatsrechtslehrer Hermann von Mangoldt (CDU).

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Als Parteiloser und Steltzermann habe ich dort nur mit Mißtrauen zu rechnen, außer bei Markull, der sich zwar für meine Ideen interessiert, aber außerstande ist, etwas durchzusetzen, was nicht dem alten Stiefel und den Richtlinien Schumachers entspricht.99 Der neue Duodezparlamentarismus ist leider über alle Beschreibung kläglich. Diese negativen Eindrücke, die Überzeugung, daß praktisch nichts dabei herauskäme, haben mich auch bewogen, von meinem Plan Abstand zu nehmen, über die aktuellen Verfassungsprobleme schon in Kürze zu schreiben. Hinzu kommt meine furchtbare Überlastung. Es wäre mir zur Zeit tatsächlich nur durch einen ungewöhnlichen Aufwand an Zeit und Nervenkraft möglich, den geplanten Artikel für das Maiheft zustande zu bringen. Unter diesen Umständen habe ich mich entschlossen, darauf zu verzichten und lieber zu warten, bis ich Ihnen den erbetenen Aufsatz über die Verfassungen der britischen Zone schreiben kann. Ich hoffe, daß sich meine persönlichen Verhältnisse, was die Muße zu wissenschaftlicher Arbeit anbelangt, demnächst besser werden. Wie ich Ihnen ganz vertraulich mitteilen kann, will Min.Präs. Steltzer in Kürze zurücktreten (ohne Rücksicht auf den Ausfall der Wahl am 20.4.)100 und damit würde auch für mich die Landesregierung jedes Interesse verlieren. Es ist verabredet, daß ich dann eine neue Funktion wissenschaftlicher Arbeit übernehme, weiter Berater von Steltzer bleibe, aber mehr Muße für meine wissenschaftlichen Pläne habe. Dann kann ich wirklich mir wissenschaftlich etwas vorstellen. Die Übersetzung des Montesquieu geht gut voran. Ich habe gestern mit dem Bearbeiter101 die Grundsätze, nach denen wir in der Übersetzung verfahren wollen, noch einmal ausführlich durchgesprochen. Wir sind dahin übereingekommen, auf die Lesbarkeit des deutschen Textes größten Wert zu legen. Man darf stilistisch nicht merken, daß es sich um eine Übersetzung handelt. Das bedingt hier und da Abweichungen in der Satzkonstruktion vom Urtext, bei denen natürlich jede Sinnabweichung vermieden werden muß. In zweifelhaften Fällen, deren es nicht viele geben wird, werden wir in der Anmerkung den französischen Passus wiedergeben, damit der Leser in der Lage ist, die Übersetzung zu kontrollieren. Ich hoffe, daß Sie damit einverstanden sind. Ich selbst habe mir zu der Einleitung schon manche Gedanken gemacht und allerlei aufgeschrieben. Mit der wärmeren Jahreszeit werde ich mich dieser Arbeit intensiver widmen. Für Ihr Angebot, die Verfassungsgeschichte in Ihren Verlag zu nehmen, bin ich Ihnen herzlich dankbar.102 Ich bin ohne Verbindung mit Dr. Junker, der hoffte, in Kon-

99 Konkrete Verfassungsvorgaben des (wohl gemeinten) SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher lassen sich nicht nachweisen. Schumachers in dieser Zeit tatsächlich geäußerte Bedenken gegen zu viel Föderalismus und Kleinstaaterei dürften dagegen auf der Linie von Forsthoff gelegen haben. 100 Tatsächlich trat Steltzer noch am 19. April 1947 zurück. 101 Nicht ermittelt. 102 Tatsächlich wurde die Neuauflage der „Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit“, die 1940 bei „Junker & Dünnhaupt“ in Berlin erschien, erst 1961 bei Kohlhammer publiziert.

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stanz und Godesberg oder Bonn wieder Fuß fassen zu können.103 Aber nachdem ich so lange nichts gehört habe, nehme ich an, daß das nicht gelungen ist und würde mich angesichts der Verlagstätigkeit im dritten Reich nicht verwundern (eher der gegenteilige Fall). Wissen Sie etwas darüber und könnten Sie mir mitteilen, auf welchem Wege ich Junker erreichen kann? Sie werden es verstehen, daß ich es korrekt finde, erst einmal dort nachzufragen, ehe ich mich schlüssig mache. Dazu bin ich schon durch den Verlagsvertrag gebunden. Meine Schrift Die Institution als Rechtsbegriff liegt noch zu 5/6 fertig in Kiel. Ich konnte beim besten Willen nichts daran tun. Aber es liegt mir sehr auf, sie zum Abschluß zu bringen, und dann wäre es mir eine große Freude, sie bei Ihnen herausbringen zu können. Ebenso geht es mit meinem Verwaltungsrecht. Auch daran ist nicht mehr viel zu tun. Und gerade jetzt, wo die Einheit des Rechtes so gefährdet ist, würde diese Zusammenfassung der allgemeinen Lehren des Verwaltungsrechts eine wichtige Mission erfüllen können. Nun, ich hoffe wie in anderen Dingen so auch in diesen Punkten auf eine Besserung meiner Arbeitsmöglichkeiten in den nächsten Monaten. Ihre Anfrage nach einem Bearbeiter der aktuellen verwaltungsrechtlichen Problem[e] (Arbeitsamt usw.)104 setzt mich in Verlegenheit. Ich weiß in der Tat niemanden. Vielleicht ließe sich aber Erich Kaufmann dazu herbei, einmal für das Archiv einen grundsätzlichen Beitrag über die Struktur des modernen Verwaltungsrechts zu schreiben, in der Art des viel zu wenig beachteten, grundsätzlich wichtigen Gedächtnisaufsatzes auf Otto Mayer105 im Verwaltungsarchiv? Vielleicht sprechen Sie ihn einmal auf die Gedanken dieses Aufsatzes an? Sonst weiß ich wirklich niemanden. Ohne Hinblick auf ein besonderes Thema würde ich weiter zu erwägen geben, ob sich mit Morstein-Marx106 Fühlung nehmen läßt. Er hat vor 1933 vorzügliche Aufsätze publiziert und ist, ohne Jude zu sein, 1933 nach Amerika emigriert. Es gehen aber Gerüchte, die von seiner Rückkehr wissen wollen, ohne daß ich genaueres erfahren hätte. Vielleicht weiß Laun darüber Bescheid.107 Er wäre in jedem Falle ein wichtiger Mitarbeiter für Archiv und Zeitschrift. 103 Paul Wolfgang Junker, Studium der Philosophie und der Staatswissenschaften in Greifswald (Dr. phil.), gründete 1927 in Berlin-Steglitz mit seinem Kommilitonen Rudolf Dünnhaupt den Verlag „Junker & Dünnhaupt“, in dem viele Autoren der „Konservativen Revolution“ erschienen; wie Forsthoff richtig vermutet, wurde der Verlag „Junker & Dünnhaupt“ 1945 von den Alliierten geschlossen. Zur Verlagsgeschichte nur Körner, 2002. Vgl. auch die Antwort Mallmanns vom 21. April 1947: „Herr Dr. Paul Junker befindet sich meines Wissens zur Zeit in Bad Godesberg, Kaiserstrasse 5“. 104 Vgl. den vorausgegangenen Brief Mallmanns vom 21. Februar 1947: „Für ein besonders aktuelles Thema suche ich schon seit einiger Zeit, bisher ohne Erfolg, nach geeigneten Bearbeitern. Es handelt sich um die Trinität Arbeitsamt – Wohnungsamt – Ernährungs- und Wirtschaftsamt, ihre heutige absolute Herrschaft und deren problematische Auswirkungen, ihre ebenfalls vielfach problematischen Rechtsgrundlagen; das Ganze im Verhältnis zum Gedanken des Rechtsstaats.“ 105 Kaufmann, 1925. 106 Zu Fritz Morstein-Marx Seckelmann, 2014. 107 Zu Rudolf (von) Laun auch Biskup, 2010.

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Herzlich habe ich Ihnen für die Übersendung der Rechtszeitschriften zu danken. In der letzten Nummer interessierte mich aus dienstlichen Gründen insbesondere der Aufsatz von Schätzel.108 Ich finde ihn in dem, was er bringt, gut, aber er ist leider insofern unvollständig, als er die Frage des Friedensstatuts, die ja durchaus aktuell ist, von vornherein ausklammert und auch auf die Anregung, den Vertrag durch den Kontrollrat unterzeichnen zu lassen, wofür Lehrmeinungen von Kelsen herangezogen werden (die mir nicht zugänglich sind), überhaupt nicht eingeht. Das sind aber Fragen, die praktisch durchaus ernst zu nehmen sind und mit denen ich mich in den letzten Wochen ausgiebig beschäftigen mußte. Praktisch zu begrüßen wäre auch eine kritische Auseinandersetzung mit der These der Alliierten, daß die Haager Landkriegsordnung in der heutigen Situation keine Anwendung findet, womit Laun in der Einleitung seiner Ausgabe der HLO (1946)109 einen guten Anfang gemacht hat. Vielleicht wäre Grewe dafür zu gewinnen. Für die britische Zone hätte eine solche Abhandlung ein starkes aktuelles Interesse. Diese Anregung aus meinen dienstlichen Erfahrungen nebenbei. Darf ich Sie bitten, mir die Zeitschrift in Zukunft im Abonnement zu schicken? Den Preis werde ich Ihnen in diesen Tagen überweisen, Ich habe eben einige ruhige Tage in der Familie – und kann sie brauchen. Mit herzlichen Grüßen, denen meine Frau sich anschließt Ihr Forsthoff

(24) Kiel, den 23. April 1947 Holtenauer Str. 53 III

Sehr geehrter Herr Dr. Mallmann! Die wärmere Witterung hat mich endlich in die Lage versetzt, meine vielen schriftlichen Arbeiten wieder aufzunehmen, soweit mein Amt mir dazu die Zeit läßt, also jedenfalls in den Abendstunden und an den Sonntagen und Samstagen. Ich habe mir das Manuskript: Die Institutionen als Rechtsbegriff als erstes vorgenommen, weil sein Abschluß mit dem größten Aufwand verbunden ist. Damit bin ich nun ganz gut weiter gekommen und schreibe gerade am letzten Kapitel. Obgleich mir besonders arbeitsreiche Tage bis zur übernächsten Woche bevorstehen, bin ich doch der Hoffnung, daß ich in längstens drei Wochen das Manuskript druckfertig habe. Ich rechne mit etwa 90 Manuskriptseiten, höchstens 100. Damit rückt das Problem näher: woher Papier bekommen, um die Manuskripte mit einem Durchschlag herstellen zu können. Hier ist nichts zu haben. Meine Hoffnung ist, daß der Verlag 108

Schätzel, 1947. Walter Schätzel war zu diesem Zeitpunkt Professor in Mainz. Vgl. auch Antwort Mallmann vom 21. April 1947: „Ihre Bemerkungen zu dem Aufsatz von Schätzel entsprechen im Wesentlichen auch meiner Auffassung.“ 109 Laun, 1946.

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Mohr mir helfen kann, zumal ich annehme, daß ich nicht der einzige Autor bin, der in dieser Verlegenheit ist. Ob Sie mir 250 Blatt schicken lassen können? Ich wäre Ihnen außerordentlich dankbar. Habe ich das Papier, so können Sie mit dem Manuskript, je nach dem Fortschreiten der Tipp-Arbeit, im Laufe des Mai rechnen. Übrigens überraschte mich der Ministerpräsident bei meiner Rückkehr mit meiner Ernennung zum Oberregierungsrat. Er hat sich doch noch durchgesetzt, obgleich damals seine Rücktrittsabsicht schon feststand. Es ist von vornherein als ein Provisorium gedacht, da ich mit Steltzer ausscheiden werde, aber deshalb bin ich nur als Beamter auf Widerruf angestellt. Aber mir ist die Anstellung wertvoll als sichtbarer Beweis meiner politischen Rehabilitation. Insofern dürfte sie auch für Sie von Interesse sein. Übrigens ist aus Heidelberger Universitätskreisen auch eine Demanche unternommen worden, um meine politische Rehabilitation hier zu verhindern.110 Die beteiligten Instanzen sind aber dafür einig gewesen; den Heidelberger Einfängern keine Folge zu geben. Montag sehe ich Prof. Grewe in Hamburg, bei dieser Gelegenheit sprechen wir über meine Mitarbeit im Archiv d. öff. Rechts.111 Mit herzlichen Grüßen Ihr Ernst Forsthoff

Heidelberg-Schlierbach 14. 9. 1947

Sehr verehrter, lieber Herr Dr. Mallmann! Besten Dank für Ihre beiden Briefe. Ich fühle mich seit langem sehr in Ihrer Schuld. Es ist mir in den letzten Monaten gesundheitlich nicht gut gegangen. Ich war durch verschiedene Folgewirkungen der Ernährungskalamität schwer mitgenommen und seit Juni kaum arbeitsfähig. Als dann die Ödeme immer übler wurden, mußte ich schließlich Kiel verlassen und habe mich hier nur langsam erholt. Morgen fahre ich nach Kiel zurück. Von der jetzt ausschließlich von der SPD besetzten Regierung habe ich mich im Juni langfristig ohne Gehalt beurlauben lassen und bin, soweit ich überhaupt etwas habe tun können, weiter für Steltzer tätig geworden. Er gründet schon eine großzügig angelegte Studiengesellschaft Christliches Abendland, die zwei Forschungsstätten 110 Vgl. Forsthoff/Schmitt, 2007: 47 (Schreiben Forsthoffs vom 6. Juli 1948: „Denunziation des mir völlig unbekannten Zeitungswissenschaftlers v. Eckardt“); es bezieht sich auf den Zeitungswissenschaftler Hans-Felix von Eckardt (1890 – 1957), den Ehemann von Marianne Jaffé, der Stieftochter von Alfred Weber. Zu seiner Biographie Forsthoff/Schmitt, 2007: 362 f. Vgl. Antwort Mallmanns vom 5. Mai 1947: „Dass von Heidelberg aus nach Kiel geschossen wurde, finde ich unglaublich. Steckt der neulich erwähnte Gönner dahinter?“ 111 Tatsächlich veröffentlichte Forsthoff nach 1945 nicht mehr im „AöR“.

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unterhält, deren eine – im Schloß Tremsbüttel bei Bargteheide – ich übernehmen soll.112 Das ist eine lohnende Aufgabe, die mich wieder mit der Studentenschaft in nähere Verbindung bringt. In der Zwischenzeit habe ich, sozusagen „mit letzter Kraft“ an Montesquieu weiter gearbeitet. Die Übersetzung hier in Heidelberg kam dadurch ins Stocken, daß der Bearbeiter wieder einen Beruf übernahm. Ich habe nun eine Bearbeiterin für den Rest gefunden, die eifrig bei der Arbeit ist. Sie braucht aber leider noch bis Ende Dezember. Ich bin nicht beglückt darüber, wie Sie sich denken können, aber andererseits läßt sich die Sache ohne Qualitätseinbußen nicht forcieren. Ich habe selbst Buch 11 – 15 übersetzt und dabei gemerkt, wieviel Zeit die Übersetzung kostet, wenn man sorgfältig arbeitet. Eine praktische Schwierigkeit ergibt sich auch hier durch den Papiermangel. Ich habe das Papier, das Sie mir für die Schrift über die Institution sandten, noch liegen, weil es für das Manuskript zu gut ist. Hätten Sie nicht Papier, geringere Qualität, auch einseitig benutztes, für das Manuskript? Dann wäre ich für die Zusendung von etwa 500 Blatt für den Übersetzer und seine jetzige Nachfolgerin außerordentlich dankbar. Zusendung würde ich nach hier erbitten. Ich selbst habe mir schon manches für die Einleitung vorgearbeitet und hoffe, mich mit der einschlägigen Literatur Anfang Oktober in die Stille des Schlosses Tremsbüttel zurückziehen zu können, wo ich es im Winter auch warm haben werde. Dort wird mir die Arbeit dann wohl schneller zur Hand gehen. Die Schrift über die Institution ist leider nicht weiter gekommen. Ich war nicht in der Lage, neben meinen sonstigen Pflichten etwas daran zu tun, ohne den Montesquieu zu vernachlässigen. Nur Montesquieu ist ja wohl auch nach Ihrer Ansicht im Augenblick dringlicher. Auch hier setze ich jetzt meine Hoffnung auf den Winter in Tremsbüttel. Inzwischen bin ich aus dem Kreis der hiesigen Universität erneut politisch ausgeschlossen. Nachdem der erste, von den Engländern gemachte Vorwurf fehlschlug, gelang der zweite über den Kontrollrat. Treibende Kraft hier ist der Zeitungswissenschaftler v. Eckardt.113 Die Diskriminierung ist die bekannte: die Christen 1933 – 35. Die Engländer haben meine Entlassung jedoch nicht verlangt, sondern mich mit der Wirkung beanstandet, daß der jeweilige Ausschuß erneut majorisiert. Diesmal der Berufungsausschuß. Ich habe bereits mit dem Vorsitzenden besprochen, daß er die Sache noch in diesem Monat behandeln will. Man hat mir versichert, die Mehrheit des Ausschusses sei mir trotzdem sicher, aber auf diesem Gebiet gibt es ja allerlei Überraschungen. Außerdem hat Steltzer bereits mit den Engländern verhandelt und wie er sagte mit Erfolg. Unter diesen Umständen darf ich hoffen, daß die Eng112

Schwierdrzik, 1991: 121 f.; Forsthoff/Schmitt, 2007: 47, 363; Meinel, 2011: 308 f. Es handelt sich um Schloß Tremsbüttel (Kreis Stormarn), der Tagungsort von Steltzers hochkirchlicher Gesellschaft „Mundus Christianus“, die 1947 und 1948 mehrere Tagungen durchführte. Vgl. auch Steltzer, 1966: 196. 113 Hans-Felix (Hanno) von Eckardt (1890 – 1957), Zeitungswissenschaftler in Heidelberg, bis 1945 emigriert, Nähe zu Alfred Weber. Zu diesem auch Forsthoff/Schmitt, 2007: 362 f.

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lische Krankheit ein Zwischenfall bleibt, der in den nächsten Wochen bereinigt wird. Ich möchte Sie aber doch davon in Kenntnis setzen, bitte Sie aber, die Sache diskret zu behandeln. Den Ausgang des Verfahrens teile ich Ihnen natürlich sofort mit. Ich schließe für heute, da sich kurz vor der Abreise allerlei Pflichten häufen. Auf die weiteren Fragen Ihres Briefes komme ich bald zurück. Ich bin ja auch abhängig von dem Ausgang des Verfahrens. Bitte verzeihen Sie die schlechte Schrift. In ihr drückt sich die Eile und eine noch verbleibende Last meines gesundheitlichen Befindens aus. Mit herzlichen Grüßen Ihr Ernst Forsthoff

Kiel, dem 17. Oktober 1947 Holtenauerstr. 53

Sehr verehrter Herr Dr. Mallmann! Sie werden inzwischen schon sehr auf einen Brief von mir gewartet haben. Ich habe ziemlich unruhige Wochen hinter mir, die mich in der Erledigung meiner Briefschulden recht in Rückstand brachten. Inzwischen hat hier der Entnazifizierungsausschuß meine Angelegenheit erneut behandelt und ist wieder zu einem positiven Votum gekommen. Da der Fall vor dem 1.10. entschieden ist, dürften die Engländer noch das letzte Wort in der Sache haben; Herr Steltzer hat es übernommen, zu aller Sicherheit noch mit dem stellvertretenden Gouverneur zu sprechen, mit dem er auf vertrautem Fuße steht und ich nehme an, daß das in diesen Tagen geschehen ist. So darf ich hoffen, daß auch dieser Zwischenfall vor seiner Bereinigung steht. In diesen Tagen bekam ich den Referenten-Entwurf der hiesigen Verfassung zur vertraulichen Kenntnisnahme zugeschickt. Dazu ist wirklich eine Menge zu sagen. Vor allem zu einer die richterliche Unabhängigkeit einschränkenden Klausel, die ihrer Aufhebung nahekommt.114 Offenbar wird das nazistische Gift nicht mehr er114

Hierzu Waller, 1988: 117; Mannzen, 1957. Der „Referentenentwurf des Ministeriums des Innern für eine schleswig-holsteinische Landesverfassung“ (abgedruckt bei Waller, hier: 250) enthielt in seinem Artikel 46 Absatz 1 folgende Regelung: „Richter, die vorsätzlich oder grobfahrlässig ihre Pflicht, das Recht zu finden, verletzen, sind vor den Verfassungsgerichtshof zu stellen, wenn es zum Schutze der Verfassung gegen mißbräuchliche Verwendung der richterlichen Gewalt erforderlich ist. Die Anklage wird auf Anordnung des Ministerpräsidenten vom Generalstaatsanwalt erhoben.“ Die Bestimmung war nicht unumstritten, ging wohl auf Markull zurück und wurde in die spätere Landessatzung leicht modifiziert (Schleswig-Holstein erhielt zunächst kein Verfassungsgericht) als Artikel 36 Absatz 2 übernommen. Zeitgenössische Kritik an der Richteranklage etwa bei Husen, 1952/53: 54; der katholische

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kannt, wenn es sich statt in der braunen in einer anderen Farbe präsentiert. Kopf soll, wie Steltzer mir sagt, seinen hannöverschen Entwurf zurückgezogen haben,115 doch ist mir nichts näheres bekannt. Jedenfalls habe ich den Eindruck, daß die Verfassungsgebung sich hier Zeit läßt. Ich halte mich bereit, den von Ihnen erbetenen Aufsatz über die Verfassungen der hiesigen Zone zu schreiben und hoffe, daß Sie mir gestatten, bei dieser Gelegenheit die grundsätzlichen Probleme heutiger Verfassungsgebung mit zu behandeln, also nicht in einer positivistischen Berichtsform stekken zu bleiben.116 Das Verwaltungsrecht von Nebinger117 konnte ich in Heidelberg noch anblättern. Der erste, flüchtige Eindruck war nicht überzeugend. Doch kann ich erst urteilen, wenn ich das Buch wirklich gelesen habe. Ich bin zur Besprechung bereit. Ich nehme an, Sie wünschen die Besprechung für das Archiv. Die Veröffentlichung kommt natürlich erst in Betracht, wenn ich hier geklärt bin. Ich hoffe, daß das bald der Fall ist. Mit herzlichen Grüßen Ihr E. Forsthoff

Professor Dr. E. Forsthoff Oberregierungsrat Kiel, den 10. November 1947 Neue Adresse: Gutenbergstr. 68118

Sehr verehrter Herr Dr. Mallmann! Besten Dank für Ihren Brief, den ich in Wiedergutmachung meiner bisherigen Säumigkeit postwendend beantworte.

Jurist Paul van Husen (1891 – 1971), wie Steltzer Mitglied des „Kreisauer Kreises“, war ab 1949 Präsident des OVG Münster. 115 Gemeint ist der (verschollene) „Neuwerker Entwurf“ des niedersächsischen Ministerpräsidenten Kopf (SPD) vom Frühsommer 1947; hierzu Schneider, 1985: 54. 116 Vgl. Schreiben Mallmanns vom 23. September 1947: „Denken Sie noch daran, einen kritischen Aufsatz über die künftigen Verfassungen der britischen Zone zu schreiben?“ 117 Nebinger, 1946, Robert Nebinger (1883 – 1963), württembergischer Richter, zuletzt Senatspräsident am VGH Stuttgart; zu diesem Lehrbuch Stolleis, 2012: 175 f. Tatsächlich erschien in AöR, 74, 1948, 388 – 392, eine Rezension Nebingers durch den Hamburger Staatsrechtler Friedrich Schack. Vgl. Schreiben Mallmanns vom 9. September 1947: „Von Oberverwaltungsgerichtsrat Nebinger ist jetzt ein Allgemeines Verwaltungsrecht erschienen. Ich bitte Sie, im Einvernehmen mit Herr Professor Grewe, es für das Archiv des Öffentlichen Rechts zu besprechen.“ 118 Belebte Straße in Kiel-Brunswik in relativer Nähe zum Kieler Schloß. Offenbar wohnte Forsthoff jetzt alleine in einer Mietwohnung.

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Meine persönlichen Angelegenheiten stehen so, daß der Gouverneur Steltzer erklärt hat, meine Angelegenheit sei nunmehr in Ordnung und bei dem jetzt getroffenen Entscheid würde es definitiv sein Bewenden haben. Eine Mitteilung von der zuständigen Stelle habe ich noch nicht, aber der bürokratische Weg ist in diesen Dingen bekanntermaßen sehr langsam. Ich habe aber konkrete weitere Anhaltspunkte dafür, daß die Sache jetzt endlich ausgebügelt ist. In meinen Arbeiten für Steltzer, die mit der Gründung einer kulturpolitischen Organisation zusammenhängen, ist im Augenblick eine Pause eingetreten, die ich dazu benutze, in meinen wissenschaftlichen Arbeiten weiter zu kommen. Die Schrift „Die Institutionen als Rechtsbegriff“ habe ich in der vorigen Woche abgeschlossen. Ich bin aber mit dem Anfang und dem Schlußkapitel noch nicht ganz zufrieden. Ich habe das Manuskript zurückgelegt und will es im Dezember, wenn ich in Heidelberg bin, wieder vornehmen. Weihnachten werde ich damit fertig sein. Der Umfang beträgt etwa 70 – 80 Maschinenseiten.119 Der Montesquieu geht nun stetig voran. Mein Übersetzungsanteil ist fertig, das Übrige ist in Heidelberg in gutem Fortschreiten. Die Übersetzung wird mit Jahresende fertig. Zur Zeit lese ich Literatur für die Einleitung, die ich hier im Seminar recht vollständig vorfinde. Den von Ihnen erbetenen Montesquieu-Aufsatz für das AöR würde ich Ihnen unter der Bedingung gerne liefern, daß er sich enger an die Einleitung der M.-Ausgabe anlehnen darf. Es ist mir nicht aus zeitlichen, aber aus geistigen Gründen einfach möglich, den gleichen Gegenstand in der gleichen Zeit verschieden darzustellen. Ich hoffe, daß Sie das verstehen. Am liebsten wäre mir, wenn der einschlägige Teil der Einleitung als Aufsatz erscheinen könnte. Aber wenn Sie dagegen Bedenken haben, so würde ich das verstehen. Außerdem bin ich mit dem Verwaltungsrecht beschäftigt. Ich arbeite es durch, nachdem es zwei Jahre gelagert hat und ich Distanz davon gewonnen habe. Die Arbeit ist nicht mehr groß, denn ich finde, daß ich das Buch heute nicht besser schreiben könnte. Ich rechne mit dem Abschluß in längstens einem Vierteljahr. Der Umfang wird sich auf etwa 650 Maschinenseiten belaufen. Mir wäre natürlich daran gelegen, daß es dann bald erscheinen kann. Wenn Sie die Güte hätten, die damals aufgeschobene Klärung hinsichtlich des Verlages herbeizuführen, so würde ich das nicht für verfrüht halten und Ihnen dafür dankbar sein. Natürlich ginge ich mit dem Buch am liebsten in Ihren Verlag. Aber ich muß mich zunächst ja noch an Biederstein gebunden halten. Dieser Bindung würde ich mich aber entledigt halten, wenn Biederstein glaubt, mein Buch nicht herausbringen zu können – oder nur mit unabsehbarer Verzögerung. Was meine politischen Verhältnisse anbelangt, werde ich, sobald ich einen Bescheid habe, meine Kategorisierung beantragen, die hier in einem besonderen Verfahren erfolgt und dabei kann ja ungünstigenfalls im Hinblick auf mein Beamtenverhältnis nur der Mitläufer herauskommen. Biederstein muß sich also darüber schlüssig machen, ob er unter diesen Umständen will und kann. 119

Zu diesem Manuskript ausführlich Meinel, 2011: 279 – 283.

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Schließlich noch etwas anderes. Ich habe als Mitarbeiter der Rundfunkschule enge Verbindung zum Nordwestdeutschen Rundfunk in Hamburg. Dort ist man eben auf englischer Seite dabei, das endgültige Rundfunkstatut zu machen.120 Dieses Statut hat insofern ein prinzipielles Interesse, als hier der Versuch gemacht wird, die Ebene einer parteipolitischen Neutralität zu schaffen. Der Plan geht dahin, die Landesregierungen, die Kirchen, Universitäten, Zeitungsverleger, Buchverleger usw. in einem Beirat zu vereinigen, der den maßgeblichen Einfluß auf den Rundfunk, insbesondere über die Stellenbesetzung, ausüben soll. Abgesehen davon, daß der Rundfunk überhaupt wichtig ist, scheint mir wegen dieser Bemühung um die Gewinnung einer Neutralitätsebene dieses Statut einer wissenschaftlichen Würdigung wert. Ich habe kaum einen Zweifel, daß ich durch meine Beziehung zu Hugh Carlton Green [sic!], den Leiter des Rundfunks in der britischen Zone, das einschlägige Material bekommen würde. Hätten Sie an einem solchen Aufsatz für die DRZ Interesse? Die Verfassungen der britischen Zone dürften wohl noch etwas auf sich warten lassen. Die Engländer haben ihre Forderung, daß die Verfassungen bis November fertig sein müßten, fallen gelassen.121 Die bremer [sic!] Verfassung wird doch wohl zweckmäßig für sich behandelt, da sie nicht zur hiesigen Zone gehört.122 Wäre es übrigens nicht möglich, den Aufsatz, den ich mir doch länger denke, im Archiv unterzubringen, etwa im zweiten Teil, in den Aufsätzen „Aus dem Staatsleben“, die Sie doch wohl beibehalten wollen? Ich fürchte, daß der Aufsatz, wenn er wirklich eine grundsätzliche Würdigung der Verfassungen enthalten soll, für die Zeitschrift zu lang wird. Vielleicht können Sie sich darüber einmal mit Prof. Grewe in Verbindung setzen. Mit herzlichen Grüßen Ihr Forsthoff

z. Zt. Heidelberg-Schlierbach 13. XII. 1947 Waldgrenzweg

Sehr verehrter Herr Dr. Mallmann! Mit der Antwort auf Ihren freundlichen Brief vom 27. November habe ich bis jetzt gewartet, um Ihnen über den Fortgang des Montesquieu-Arbeit genauer berichten zu 120

Zu diesem Rundfunkstatut und den von Forsthoff aufgezeigten Plänen zunächst nur Görtemaker, 1999: 221 f. 121 Tatsächlich traten sämtliche Länderverfassungen der Britischen Zone erst nach Inkrafttreten des Grundgesetzes in Kraft: Landessatzung für Schleswig-Holstein, 12. Januar 1950; Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen, 11. Juli 1950; Vorläufige Niedersächsische Verfassung, 1. Mai 1951; Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg, 1. Juli 1952. In den Ländern galten vorläufige Organisationsstatute, von denen die schleswig-holsteinische Landessatzung auch in ihrer Bezeichnung am deutlichsten diesen Charakter wahrte. 122 Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 21. Oktober 1947. Bremen gehörte seit 1947 als Exklave zur amerikanischen Zone.

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können. Die Übersetzung wäre bereits fertig, wenn nicht meine Helferin sich einer Operation hätte unterziehen müssen. So ist sie seit drei Wochen ausgefallen, hofft aber in der nächsten Woche wieder an die Arbeit gehen zu können. Die Übersetzung ist immerhin bis zum Buch 27 einschließlich gediehen; es fehlen also noch Buch 28 – 32, die keine lange Zeit mehr beanspruchen werden. So hoffe ich, daß wir Ende des Monats fertig sind. Ich bin schon mit der Durcharbeitung beschäftigt, die schnell vonstatten geht, da die Übersetzerin123 ausgezeichnet gearbeitet hat. Daneben geruht die Vorbereitung der Einleitung, die mit allerlei Literaturschwierigkeiten zu kämpfen hat. Trotzdem werde ich damit nach meiner festen Zuversicht auch damit in den nächsten Wochen fertig werden. Die Hauptsorge macht mir jetzt die Herstellung des maschinenschriftlichen Manuskripts. Da die Zensur, wie Sie schreiben, zwei Exemplare beansprucht, müßten wir wohl 4 Exemplare haben, zwei für die Zensur, je eines für den Verlag und für mich. Es handelt sich um schätzungsweise 4 x 1200 Blatt Papiers, eine Menge, von der ich noch nicht weiß, wie ich sie beschaffen soll. Auch wird es nicht leicht sein, jemanden zu finden, der das Ganze schreibt. Sollte ich wider Erwartung die Zeit finden, zu diktieren und bin deshalb auf eine besonders gewandte und zuverlässige Kraft angewiesen. Ich muß noch klären, ob der seinerzeit von Ihnen überwiesene Betrag von RM 1200 .– ausreicht, um die Übersetzerin zu entlohnen; ich fragte nur. Darf ich Ihnen die mir insoweit erwachsenen Unkosten einmal mitteilen? Hinsichtlich des von Ihnen erbetenen Montesquieu-Aufsatzes hatte ich tatsächlich irrtümlicherweise an das AÖR gedacht. Ein Aufsatz für die DRZ, also von wesentlich bescheidenerem Umfang, ist natürlich überhaupt kein Problem und ihm gegenüber werden deshalb die Vorbehalte meines letzten Briefes gegenstandslos.124 Am Verwaltungsrecht habe ich in den letzten Wochen fleißig gearbeitet, unter Vorbehalt ein Register eingefügt, ein anderes neu formuliert usw. Mir liegt jetzt daran, damit bald fertig zu werden. Ich rechne auch hier mit dem Anfang des nächsten Jahres. Braucht auch hier der Zensor 2 Exemplare? Das wäre eine Katastrophe, da ich das Ganze mit einem Auftrag (vor längerer Zeit schon) tippen ließ. Zu mehr reichte das Papier nicht, das ich noch hatte. Die ganze Arbeit mit über 600 Seiten noch einmal schreiben zu lassen, würde viel Zeit, Geld und Papier kosten und ich habe keines von den Dreien zu verschenken.

123 Übersetzerin: Marie-Luise Endemann, geboren 1896 in Düsseldorf; verheiratet mit dem freien Schriftsteller Helmut Endemann und damit Schwiegertochter des Juristen Friedrich Endemann, Jurastudium in Heidelberg, 1918 Dr. iur. bei Richard Thoma (unveröffentlicht); 1928 NSDAP-Mitglied, Schulungsrednerin, ab 1933 Kreisschulungsrednerin der NS-Frauenschaft; seit 1931 Hilfskraft Juristisches Seminar Heidelberg, später Fakultätsassistentin; am 31. August 1945 entlassen; erfolgloses Spruchkammer- und Berufungsverfahren, später Mitarbeiterin „Deutsches Rechtswörterbuch“ bei der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Hier nach freundlicher Auskunft und eigenen Archivstudien Bundesarchiv Koblenz und Universitätsarchiv Heidelberg. 124 Dann: Forsthoff, 1948.

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Ob der geplante Aufsatz über das Rundfunkstatut so ausgerichtet wird, daß er für das AöR in Betracht kommt, vermag ich noch nicht zu sagen. Ich bin in dieser Sache noch nicht weiter gekommen, weil ich den maßgebenden englischen Offizier im NWDR bei meinen wöchentlichen Besuchen dort jedesmal verfehlt habe. Die Herren sind ja viel unterwegs. Nur schriftlich wollte ich die Sache nicht machen, da ich hoffe, auch mündlich noch einige Informationen zu bekommen. Die Sache ist ja auch nicht so eilig. Anfang Januar werde ich mein Heil noch einmal versuchen. Der städtische Ausschuß in Kiel hat mich in die Kategorie V (entlastet) eingestuft, was für Sie von Interesse sein könnte. Ich behandele dieses Faktum vertraulich, da es nur zu Denunziation Nr. 4 Anlaß geben könnte. In Kiel bin ich jetzt öfter mit Dahm125 zusammen. Er ist menschlich und wissenschaftlich in ausgezeichneter Verfassung und betreibt jetzt, ohne Illusionen, seine politische Überprüfung. Ich sprach mit ihm über sein letztes Buch „Deutsches Recht“126, das im Dezember 1944 ausgeliefert wurde und überhaupt nicht mehr zum Tragen kam, was noch mehr zu bedauern ist, da es nach meinem Dafürhalten ganz ausgezeichnet ist. Könnten Sie sich, ganz auf lange Sicht gesehen, für eine überarbeitete Neuauflage des Buches interessieren127 – selbstverständlich unter der Voraussetzung, daß Dahm publizistisch wieder hervortreten kann? Wenn ich ihm mitteilen könnte, daß er auf Ihr Interesse hoffen kann, so würde das Dahm im Augenblick psychologisch viel bedeuten und ich habe den Eindruck, daß ihm eine solche, wenn auch zunächst nur unverbindliche Bestätigung, sehr not täte. Ich muß es natürlich Ihrem Urteil überlassen, ob Sie auf solche Bücher für die Zukunft Wert legen.128 Aber Sie werden mich ganz gewiß verstehen in meinem Wunsche, eine solche Begabung wie Dahm nicht in den Kommissionen dieser Zeit versacken zu lassen. Mit herzlichen Grüßen Ihr sehr ergebener Ernst Forsthoff.

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Zu Georg Dahm: Stolleis, 1999: 282; Stolleis, 2012: 58. Dahm, 1944. 127 Dann aber: Dahm, 1951. Eine weitere bearbeitete Auflage erschien 1963. 128 Vgl. die Antwort Mallmanns vom 19. Dezember 1947: „Ihre Anfrage wegen Dahm ist nicht ganz leicht zu beantworten, und zwar nicht nur deshalb, weil Dahm noch nicht rehabilitiert ist. Er hat sich eben doch sehr exponiert, und es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass er nochmal zu einer fruchtbaren literarischen Wirksamkeit berufen ist. Andererseits verkenne ich nicht, dass er sich gründlich und nicht erst neuestens gewandelt hat. Als Schwierigkeit kommt ferner hinzu, dass er in Strassburg war, dies und seine politische Belastung es aber nicht einfach machen werden, die Genehmigung für das Buch von der Militärregierung zu erwirken.“ 126

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„Vielleicht ist die Verständigung doch eine zuverlässigere Grundlage der Ordnung als die Dezision“ Staatsrechtler im Briefwechsel mit Carl Schmitt Von Hasso Hofmann Der Verschiebung des Schwerpunktes der Forschung vom staatsrechtlichen und rechtstheoretischen Werk Carl Schmitts auf die facettenreiche Person folgend sind in den letzten Jahren etliche Briefwechsel Schmitts im Druck erschienen. Für die Staats- und Rechtslehre und deren Geschichte sind wegen der Briefpartner die Korrespondenzen Schmitts mit Rudolf Smend (2010),1 Ernst Forsthoff (2007)2 und Ernst Rudolf Huber (2014)3 von besonderem Interesse. Näher wird hier natürlich die jüngste dieser Publikationen zu betrachten sein. I. Nur sechs Jahre älter als Schmitt war Smend indes schon wohlbestallter Professor und als Gelehrter anerkannt und geachtet, als die erste große staatsrechtliche Monographie des Privatdozenten Schmitt über die Diktatur im Frühjahr 1921 erschien. Smend erkennt den wissenschaftlichen Rang des Autors und nimmt Kontakt mit ihm auf, empfiehlt ihn für die Berufung nach Greifswald, später für die eigene Nachfolge in Bonn. Schmitt anerkennt die wissenschaftliche Bedeutung Smends uneingeschränkt, sieht sich in seiner Schuld, sucht ihn zu beeindrucken und wirbt im Bewusstsein ihrer Verschiedenheit um seine Freundschaft.4 Mitte der 20er Jahre nimmt der Austausch ausgesprochen familiäre Züge an. Smend weiß die hervorragenden formalen und die wissenschaftlichen Qualitäten der Arbeiten Schmitts stets zu schätzen, bleibt ihren Inhalten gegenüber jedoch durchwegs reserviert. Selbst Schmitts Verfassungslehre von 1928 hält er (anders als manche Fachgenossen noch heute) politisch keineswegs für harmlos. Er hatte Schmitts Todeserklärung des Par1 Reinhard Mehring (Hrsg.), „Auf der gefahrenvollen Straße des öffentlichen Rechts“. Briefwechsel Carl Schmitt – Rudolf Smend 1921 – 1961, Mit ergänzenden Materialien, 2010. 2 Dorothee Mußgnug/Reinhard Mußgnug/Angela Reinthal (Hrsg.), Briefwechsel Ernst Forsthoff – Carl Schmitt (1926 – 1974), 2007. 3 Ewald Grothe (Hrsg.), Carl Schmitt – Ernst Rudolf Huber. Briefwechsel 1926 – 1981. Mit ergänzenden Materialien, 2014, 617 Seiten. 4 Siehe den bewegenden Brief Schmitts an Smend zu dessen 60. Geburtstag im Januar 1942, Mehring (N 1), S. 104 ff.

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lamentarismus ebenso gelesen wie dessen Begriff des Politischen.5 Im März 1929 schrieb er an Schmitt über eine italienische Rezension: „Daß man Ihre Verfassungslehre als eine angemessene und sogar zustimmende Entwicklung der deutschen Verhältnisse würdigt, ist ein seltsamer Beleg für die Harmlosigkeit unserer Fachgenossen und der Deutschen überhaupt – den Dingen und Ihnen gegenüber.“ Smend drückt seine sachliche Distanz stets freundlich, auch diplomatisch, gelegentlich ironisch aus. Man mag sich ein wenig an den Briefwechsel Nietzsche – Jacob Burckhardt erinnert fühlen. Schmitt registriert die Zurückhaltung des Älteren natürlich, spricht sie in seinen Briefen gelegentlich auch an. Sie beunruhigt ihn. Mitunter notiert er sogar Angst vor Smend, ärgert sich an ihm, vertraut seinem Tagebuch schließlich gar starke Abneigung an.6 1933 wird die Distanz zwischen dem NS-Karrieristen und dem Mann der bekennenden Kirche deutlich sichtbar: sie haben sich nichts mehr zu sagen. Nach Schmitts politischem Sturz in der NS-Ämterhierarchie und seiner geradezu beschwörenden Dedikation seines 1938 erschienenen Hobbes-Büchleins („Meinem besten Weggenossen auf der gefahrenvollen Straße des öffentlichen Rechts, Rudolf Smend, in treuer Verehrung und dankbarer Erinnerung“) lebt der Briefverkehr Schmitts mit dem inzwischen nach Göttingen abgeschobenen Smend wieder auf, ohne jedoch noch einmal die frühere persönliche Intensität zu erreichen. Nach der Unterbrechung 1945 bis 1947 schreiben sich die beiden nur noch Geburtstagsbriefe, zunächst ausführlicher, in freundschaftlich vertrautem Ton, später immer kürzer und formeller. Smend ist wegen der äußeren Lage Schmitts bekümmert und bedauert dessen respektlose Behandlung (Geburtstagsbrief 1950), hatte allerdings schon im Geburtstagsbrief von 1947 sein Unverständnis geäußert, dass Schmitt jenen „Teufelsspuk jemals ernst nehmen konnte“, und im Folgejahr in schonender Form, aber deutlich seine Erwartung ausgedrückt, Schmitt werde sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen. Aber da kam nichts. So nannte Smend 1954 in seinem Zweitgutachten zu der von Helmuth Plessner betreuten Dissertation des Grafen Krockow („Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger“, erschienen 1958), Schmitt eine „schillernde und über ihre Voraussetzung niemals Rechenschaft ablegende Erscheinung“.7 Konsequenterweise wendet sich Smend – unbeschadet seiner „wärmsten“ Wünsche für ein glückliches, Spanien zugewandtes Leben als Vater der nach Spanien verheirateten Tochter „in der würdigen Rolle des Weisen“ (Gratulationsbrief 1958) – im Kollegenkreis sehr entschieden gegen öffentliche Ehrungen Schmitts zu dessen 70. Geburtstag. An den Herausgeber der „Juristenzeitung“ schreibt er in diesem Zusammenhang: „meine schwerste Enttäuschung (die nie seinem völligen Amoralismus gegolten hat: der lag ja vom ersten Augenblick an am Tage) war die, daß er und seine Leute 1945 kein Wort der Absage an ihre eigene Ver5 Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1923 u. ö.; Der Begriff des Politischen, zuerst 1927. 6 Mehring (N 1), S. 79 f., 85, 87. 7 Ebd., S. 137.

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gangenheit fanden“.8 Nach diesen Auseinandersetzungen um eine öffentliche Würdigung seiner Person bricht Schmitt die Korrespondenz ab. II. In gewisser Weise bildet der Briefwechsel Schmitts mit seinem Schüler Forsthoff ein komplementäres Gegenstück zu seiner Korrespondenz mit Smend. Liegt der Schwerpunkt hier in den 20er Jahren und verflacht nach 1945, intensiviert sich der Kontakt mit Forsthoff erst nach dem Krieg,9 wird nach Besuchen der Familie Schmitt im Hause Forsthoff in Heidelberg-Schlierbach, veranlasst zunächst durch die Behandlung von Frau Schmitt in der Heidelberger Universitätsklinik, ausgesprochen familiär. Es werden beständig Familiennachrichten ausgetauscht. Der Ton ist auch sonst intimer als im Briefwechsel mit dem anderen Meisterschüler Ernst Rudolf Huber. Schon die Anrede ist weniger förmlich, übrigens von Anfang an. Schrieb Huber stets an den „Hochverehrten Herrn Professor“ und von 1933 bis 1944 durchgehend an den „Hochverehrten Herrn Staatsrat“, erst nach 1945 an den „Hochverehrten, lieben Herrn Schmitt“, sind die meisten Briefe Forsthoffs an den „Lieben Herrn Professor“, nach 1945 durchgehend an den „Sehr verehrten, lieben Herrn Schmitt“ gerichtet; nur seine (erste) Berufung nach Frankfurt am Main 1933 teilt er dem „Lieben Herrn Staatsrat“ mit. Der seinerseits schließt seinen kurzen Verlobungsglückwunsch 1934 mit dem offiziellen Hitlergruß, der sich sonst in dieser Korrespondenz nicht findet. Ganz anders im Schriftwechsel Schmitts mit Ernst Rudolf Huber. Ab 1933 tauschen die beiden auch in ihrem privaten Schriftverkehr regelmäßig den offiziellen Hitlergruß. Nach Schmitts politischem Sturz taucht er allerdings nur noch sporadisch auf und verschwindet zu Kriegsbeginn (mit einer Ausnahme 1940) ganz. Mehring erklärt die besondere Nähe Forsthoffs zu Schmitt in seiner maßgeblichen Schmitt-Biographie so:10 „Forsthoff hatte 1946 seinen Heidelberger Lehrstuhl verloren. Mit Schmitt teilt er Ausgrenzungserfahrung und Ressentiment.“ In der Tat betonte Forsthoff noch nach seiner Reaktivierung, dass „der Bruch nicht zu reparieren [sei]“.11 Und Mehring fährt fort: „Mit seinem Lehrbuch des Verwaltungsrechts publiziert er bald eine ,große rechtswissenschaftliche Leistung‘ [sc. so CS]. Die Wendung vom Verfassungsstaat zum exekutiven Verwaltungsstaat, die Schmitt diagnostizierte, findet in diesem Lehrbuch ihre Antwort. Der Zug der Zeit führt von der Verfassungslehre zur Verwaltungslehre. Forsthoffs systematisches Lehrbuch ist in der verfassungsgeschichtlichen Perspektive der Carl-Schmitt-Schule das kongeniale Gegenstück zur Verfassungslehre, das Meisterstück der Schülergeneration. Damit kann Forsthoff neben Schmitt freundschaftlich bestehen.“ 8

Dazu ebd., S. 149 ff. (150). 341 der 359 von D. Mußgnug u. a. (N 2) veröffentlichten Stücke stammen aus den Jahren 1948 – 1974. 10 Reinhard Mehring, Carl Schmitt – Aufstieg und Fall, 2009, S. 467. 11 Brief vom 25. Mai 1952, Mußgnug (N 2), S. 89. 9

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Nun mag man sich fragen, warum der Nachkriegsbriefwechsel Schmitts mit Huber einen so anderen Charakter hat. War Huber nach 1945 nicht in der gleichen Lage wie Forsthoff? Auch Huber hatte seinen Lehrstuhl verloren, wurde wegen seines NS-Engagements von den Kollegen zunächst ausgegrenzt, erst 1957 in ein Professorenamt zurückgeholt. Und hatte nicht auch er nach dem Zusammenbruch mit seiner monumentalen Verfassungsgeschichte12 eine große wissenschaftliche Leistung erbracht? Aber es gab da eben auch tiefgehende Unterschiede. Die psychischen Situationen waren andere. Während Forsthoff die Heidelberger Universität 1946 sozusagen unter den Augen seiner Kollegen verlassen musste, hatte Huber Lehrstuhl und Heimstatt in Straßburg durch den Zusammenbruch verloren. Und anders als Forsthoff hatte Huber nach 1933 mehrere Jahre in engstem Kontakt mit Schmitt begeistert für eine „neue nationalsozialistische Rechtswissenschaft“ getrommelt. „[N]ur der Nationalsozialismus“, schreibt er unter dem 16. 5. 1934 an Schmitt13, „schafft die Grundlage, auf der die gesamte Staatswissenschaft als Ausdruck der völkischen Totalität wieder möglich wird“. So eng seine Verbindung mit Schmitt war, als der dem „Reichsjuristenführer“ Hans Frank blinde Gefolgschaft leistete, so enthusiasmiert seine politische Mitarbeit in der NS-„Stoßtrupp“-Fakultät Kiel, so tief dann die Enttäuschung der Illusionen, so bitter die Einsicht in seinen Irrtum, so scharf seine Selbstkritik, so dringlich sein Wunsch, auch Schmitt möge sich mit der gemeinsamen Vergangenheit auseinandersetzen. Der freilich dachte in seiner unerschütterlichen Selbstgerechtigkeit nicht daran. Bei Angriffen wegen seiner Vergangenheit sieht er nur „Nutznießer der Psychosen von 1945“,14 „eine große Verschwörung der Unbegnadeten gegen den produktiven Geist“.15 Bei Forsthoff beklagte sich der einstige Vorkämpfer gegen den jüdischen Geist in der Rechtswissenschaft:16 „Niemals in den 12 Jahren der Hitlerzeit, ist einem jüdischen Kollegen eine so niederträchtige Bosheit angetan worden.“17 Und das meinte er offenbar ernst. Huber, der an Schmitts Antisemitismus keinen Teil hatte und auf seine Gewissensfragen keine Antwort bekam, vermied nach 1945 über die Jahrzehnte jede persönliche Begegnung. An den drei Festschriften für Schmitt hat er sich nicht beteiligt, gab dafür aber jeweils sachliche Gründe an, während er für die Festschrift zum 70. Geburtstag Forsthoffs einen Beitrag lieferte.18 12 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1, 1957; Bd. 2, 1960; Bd. 3, 1963; Bd. 4, 1969; Bd. 5, 1978; Bd. 6, 1981; Bd. 7, 1984; Bd. 8 (Registerband), 1991; dazu kommen vier Dokumentenbände und auch dazu ein Registerband. 13 Grothe (N 3), S. 178. 14 Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947 – 1951, hrsg. von Eberhard Frhr. von Medem, 1991, S. 276. 15 Brief an Forsthoff vom 1. 12. 1949, Mußgnug (N 2), S. 59. 16 Dazu Hasso Hofmann, „Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist“, in: Geschichte und Kultur des Judentums, hrsg. von Klaus Wittstadt/Karlheinz Müller, 1988, S. 223 – 240. 17 Siehe N 15. 18 Vorsorge für das Dasein. Ein Grundbegriff der Staatslehre Hegels und Lorenz von Steins, in: Festschrift für Ernst Forsthoff, 1972, S. 139 – 164.

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Anders als Huber hatte Forsthoff, der Autor des „Totalen Staats“,19 seine politischen Illusionen schon bald verloren. Bereits 1935 eckte er in Frankfurt, nach 1936 auch in Königsberg an; seine Berufung nach Wien führte innerhalb des NS-Regimes zu heftigen Auseinandersetzungen.20 Alfred Voigt hat dem Verfasser, seinem Doktoranden, erzählt, dass er als ehemaliger Königsberger Assistent Forsthoff seinerzeit in Wien besucht habe und als frisch gebackener Leutnant von ihm mit der Äußerung erschreckt worden sei, dass Hitler beseitigt werden müsse. Forsthoff empfand sein NS-Engagement als eine kurzzeitige politische Verirrung, welche die Kontinuität seines konservativen „Denkens vom Staat her“ (F. Günther) wie seine spätere wissenschaftliche Arbeit mit dem Schwerpunkt im Verwaltungsrecht21 nicht berührte. Der Fehler konnte sozusagen eingekapselt und durch sein späteres Leben und Werk als erledigt angesehen werden. Diese Einschätzung übertrug er entsprechend auf Schmitt und richtete sein Verhalten ihm gegenüber danach. Damit prägte er die Einstellung der Carl-Schmitt-Schule (auch wenn im Fall Schmitt über Quantität und Qualität der einschlägigen Schriften hinaus wesentlich mehr zu beschweigen war als im Fall Forsthoff). Zudem sah Forsthoff die Studenten schon Anfang der 50er Jahre jenseits der „stillen Diffamierung“ durch die „45er“ und begierig auf Schmitts Verfassungslehre, den Hüter der Verfassung und den Nomos der Erde – „das tägliche Brot des akademischen Unterrichts“.22 Er, Forsthoff, erfreue sich in der Studentenschaft „eine[r]“ Resonanz, wie er sie sich „nicht besser wünschen könnte“.23 In der Tat: Fasziniert hat der Verfasser Mitte der 50er Jahre in Heidelberg Forsthoffs Vorlesung „Allgemeine Staatslehre“, die sich auf Schmitts Verfassungslehre stützte, als eine weit über die juristische Fakultät hinausreichende Attraktion erlebt. Zehn Jahre später folgte die Enttäuschung. Forsthoff spürt, dass er am Vorabend der 68er-Bewegung „den inneren Kontakt mit den Studenten mehr und mehr verlier[t]“.24 In der Universität, die ihn 1946 nach seinem Empfinden ausgestoßen hatte, bleibt er „absoluter Außenseiter“.25 Sie rührt sich nicht, als er seine vorzeitige Emeritierung beantragt.26 Hubers Rückkehr in die alte Universitätswelt dauerte länger als diejenige Forsthoffs. Erst zehn Jahre nach dessen Reaktivierung in Heidelberg wurde Huber (nicht durch Berufung, sondern durch Inkorporation der Hochschule für Sozialwissen19 Der totale Staat, 1933; 2. Aufl. 1934; dazu, besonders zur Preisgabe aller Vorbehalte in der 2. Aufl., Florian Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft – Ernst Forsthoff und seine Zeit, 2012, S. 70 ff. 20 Mußgnug (N 2), S. 10 ff.; zu den absurden Auseinandersetzungen um die Berufung nach Wien Meinel (N 19), S. 233 ff. 21 Ernst Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts. I. Band. Allgemeiner Teil, 1950; 10. Aufl. 1973. 22 Brief vom März 1952, Mußgnug (N 2), S. 88. 23 Brief vom 25. 5.1952, Mußgnug (N 2), S. 89. 24 Brief vom 31. 12. 1965, Mußgnug (N 2), S. 216. 25 Ebd. 26 Brief vom 23. 12. 1966, Mußgnug (N 2), S. 230.

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schaften Wilhelmshaven, wohin Huber 1957 berufen worden war) Professor der Universität Göttingen, die ihm – sein etwas exzentrisches Engagement in der verfassungsgeschichtlichen Forschung respektierend – gleichwohl zur „akademischen Heimstatt“ wurde.27 III. Unterschiedlich ist das Verhältnis der beiden Schüler zum Werk ihres Meisters. Beide verdanken ihr wissenschaftliches Erweckungserlebnis dem brillanten Dozenten Schmitt. Erst in dessen Lehrveranstaltungen habe sich ihm „der eigentliche Sinn des Rechtsstudiums und des spezifisch Juristischen erschlossen“, bekannte Forsthoff.28 Mehr noch: dass Schmitt ihn als Schüler annahm, sei „Wende und Glück [seines] Lebens“ gewesen.29 Die Gründe jener nicht ungefährlichen Faszination hat Huber in seinem Gratulationsbrief zum 90. Geburtstag Schmitts auf den Punkt gebracht: „Sie haben Ihre Hörer in dieser Zeit der vordergründigen Stabilisierung [sc. der Jahre 1924 – 1929] und der hintergründig fortdauernden Krisen- und Konfliktlagen mit dem Phänomen der ,wirklichen‘ Verfassung und des ,wirklichen‘ Völkerrechtssystems vertraut gemacht“.30 Die wissenschaftlichen Wege der beiden gehen freilich auseinander. Hubers bei allem Engagement um Sachlichkeit bemühtes Buch „Verfassung“ von 1937,31 das sich qualitativ sehr deutlich von den NS-Broschüren der Zeit abhebt, war offenkundig ein Versuch, unter Betonung des Aspekts der Verfassungswirklichkeit an Schmitts „Verfassungslehre“ von 1928 anzuknüpfen. Später hat Huber sich in seinen verfassungsgeschichtlichen Forschungen geradezu vergraben und dabei mit einer Vorstellung von Verfassung gearbeitet, die in ihrem Ausgriff wohl weit mehr mit seiner hartnäckig verfolgten Idee einer gesamten Staatswissenschaft, welche die Fächer Recht, Wirtschaft, Politik und Geschichte miteinander verbindet, als mit der schneidigen Begrifflichkeit Schmitts zu tun hat. Die Darstellung „historische[r] Fakten, biographische[r] Daten, wirtschaftliche[r] und geistige[r] Entwicklungen, staatsrechtliche[r] Normen und politische[r] Konflikte“ soll nach dem Vorwort zum 1. Band der Deutschen Verfassungsgeschichte von 195732 zeigen, wie sich aus dem Widerstreit des vielgestaltigen und vielstrebigen Einzelnen das Ganze einer gefestigten und doch stets von neuem Widerstreit bedrohten Ordnung, eben die ,Verfassung‘ erhebt.“ Merkwürdigerweise fühlte sich der Verfassungstheoretiker Schmitt durch diese Extension jedoch nicht herausgefordert. Er reagierte überhaupt erst auf die Dedikation des dritten Bandes („Bismarck und das Reich“, 1963) und auch das erst mit 13-jähriger Verspätung und nur, um darüber Beschwerde zu führen, dass 27

Rede zum 80. Geburtstag, Grothe (N 3), Anhang V, S. 568 – 576 (570). Gratulationsbrief zu Schmitts 75. Geburtstag, Mußgnug (N 2), S. 192. 29 Gratulationsbrief zu Schmitts 70. Geburtstag, ebd. S. 137. 30 Grothe (N 2), S. 387 f. 31 In erweiterter Fassung 1939 u. d. T. „Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches“. 32 Zitiert nach der 2. Aufl. 1967, S. VII. 28

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Huber Schmitts Kritik an Bismarcks Indemnitätspolitik im preußischen Verfassungskonflikt von 186633 – für Huber „Fundament“ der „innerdeutschen Neuordnung“ (Vorwort S. VII) – als „ultrakonservativ“ charakterisiert hatte.34 Das hat Schmitt mächtig und nachhaltig geärgert.35 Forsthoff gegenüber hatte er sich schon kurz nach Erscheinen des Bandes, also 12 Jahre früher, durch Hubers Bemerkung verletzt gezeigt: „es tut mir weh“.36 Darüber hinaus „bedrückte“ ihn Hubers „Rezeption der Wert-Philosophie“.37 Huber nennt die Verfassung des Bismarck-Reiches nämlich ein „Wertgefüge“ und bemerkt dazu ganz nüchtern: „Ich benutze die Formel ,Wertgefüge‘, obwohl die Problematik der Wertphilosophie offenkundig ist. Selbstverständlich können die Rechtsphilosophie und die Staatstheorie die Lehre von den Verfassungs- und Rechtswerten und die Methode der ,wertenden Rechtsauslegung‘ nicht festhalten, ohne sich mit der Erschütterung der philosophischen Grundlagen der Wertformel auseinanderzusetzen. Auf die Kritik an der Wertphilosophie mit einem Rückfall in den normativen Positivismus zu reagieren, erscheint mir jedoch als ein wissenschaftlicher Kurzschluss. Solange zur Kennzeichnung der übergesetzlichen Rechtsgüter kein anderer Begriff zur Verfügung steht, wird die Rechts- und Staatslehre des Begriffs ,Wert‘ nicht entraten können.“38

Das zielte auf die scharfe Kritik, die in erster Linie Forsthoff,39 aber auch Carl Schmitt an der so genannten Wertordnungsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geübt hatten.40 Den „Rückfall in den normativen Positivismus“ bezog Forsthoff gegenüber Schmitt mit Recht vornehmlich auf sich, lobte indes Hubers „bewundernswerte Gabe der zusammenfassenden Darstellung“ und schloss mit der Bemerkung, dass Hubers Leistung beweise, „wo der wissenschaftliche Geist 1933 und später seinen Ort hatte“.41 Auch Schmitts Gesamturteil war durchaus positiv, freilich recht allgemein: „das Buch bleibt bewunderungswürdig, ja staunenswert“.42 Man 33 Carl Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches – Der Sieg des Bürgers über den Soldaten, 1934, S. 10 f. 34 Bd. 3, 1963, S. 366; 3. Aufl. 1988, ebd. 35 Brief an Huber vom 11. 2. 1976, Grothe (N 3), S. 380. 36 Brief an Forsthoff vom 10. 1. 1964, Mußgnug (N 2), S. 199; siehe auch den Brief vom 15. 12. 1967, Mußgnug (N 2), S. 250. 37 Brief an Forsthoff vom 10. 1. 1964 (N 14), S. 198. 38 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, 1963, 3. Aufl. 1988, S. 1010 mit N 7. 39 Ernst Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Festschrift für Carl Schmitt, 1959, S. 35 – 62; siehe auch schon seinen Brief an Schmitt vom 5. 6. 1958, Mußgnug (N 2), S. 136: „Es gibt zwei Dinge, von denen mich eindeutig zu distanzieren ich ein unabweisliches Bedürfnis habe: den Sozialstaat und die heutige Verfassungsinterpretation, wie sie insbesondere das Bundesverfassungsgericht praktiziert.“ Vom Sozialstaat als Verfassungsprinzip „distanzierte“ sich Forsthoff in seinem Bonner Staatsrechtslehrerreferat von 1953: Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, in: VVDStRL 12 (1954), S. 8 – 36. 40 Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, 1960. 41 Brief vom 12. 1. 1964, Mußgnug (N 2), S. 200. 42 Siehe N 37, S. 199.

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darf wohl annehmen, dass Schmitt keinen richtigen Zugang zu dem Werk fand, das die deutsche konstitutionelle Monarchie des 19. Jahrhunderts als eine eigenständige und stabile Staatsform deutete, indem es die politischen Kompromisse als tragfähiges Balancesystem begriff. Diese Sicht widersprach zutiefst Schmitts Geschichtstheatralik auf- oder unaufhaltsamer Untergänge und unheilvoll-unentschiedener Schwebelagen, mit deren Enthüllung er einst schon seine studentischen Hörer fasziniert hatte. Die Auffassungen der Schüler und des Meisters kreuzten sich auf interessante Weise in den Äußerungen über einen Text, den Schmitt 1950 veröffentlichte: „Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft“.43 Angesichts der „Gefahr eines leeren, legalitären Technizismus“ (425) identifiziert sich Schmitt darin mit Savignys Aufruf zur geschichtlichen Rechtswissenschaft von 1814. Danach entsteht das „wahre Recht“ im Gegensatz zu dem bloß gesetzten Recht in einer absichtslosen Entwicklung aus dem Volksgeist, der durch die Rechtswissenschaft zum Bewusstsein kommt (411). Die Rechtswissenschaft als „eigentliche Rechtsquelle“ (412) sei am Ende zum „letzten Asyl des Rechtes selbst geworden“ (408, 420 ff.). Inhaltlich führe das zurück auf den „Positivismus der historischen Quellen“, der die Eigenständigkeit zwischen Theologie, angeblichem Naturrecht und bloßem Handwerk verbürgt. Das heißt: „[W]ir [sc. Juristen] wahren in der wechselnden Situation die Grundlage eines rationalen Mensch-Seins, das der Prinzipien des Rechts nicht entbehren kann. Zu diesen Prinzipien gehört eine auch im Kampf nicht entfallende auf gegenseitiger Achtung beruhende Anerkennung der Person; Sinn für Logik und Folgerichtigkeit der Begriffe und Institutionen; Sinn für Reziprozität und für das Minimum eines geordneten Verfahrens, eines due process of law, ohne den es kein Recht gibt.“ (422 f.)

In der Wahrung dieses „unzerstörbaren Kern[s] allen Rechts gegenüber allen Zersetzungen“ liege die „Würde“ der Juristen (423). Und just sie – ist man versucht fortzufahren – haben deutsche Juristen nach 1933 schmählich geschändet. Forsthoff antwortet auf die Zusendung der Schrift sofort.44 Er begrüßt, dass Schmitt sich bei seiner grundlegenden Antithese von Legitimität und Legalität nicht auf die aktuelle Naturrechtsdiskussion – es fällt der Name Radbruchs – eingelassen habe, die ihm (Forsthoff) nur als Gestammel gescheiterter und jetzt ratloser Positivisten erscheint: denn die Schrift Schmitts gehöre, „wie alle wesentlichen geistigen Dokumentationen heute, nur in das Gespräch der Wenigen, die heute zählen, und für die zu schreiben allein würdig und sinnvoll ist“.45 Auch zeigt er sich „bewegt“ von dem Gedanken an die Entstehung der Abhandlung „Jahre vor dem Zusammenbruch“. Dies solle zu denken geben. Gemeint ist wohl: Man solle die politische Abstandnahme längst vor 1945 bemerken. Deutlicher noch ist indes, dass der Text, der für eine 1944 für Johannes Popitz geplante Festschrift gedacht war, am Schluss eine ins Persönliche gehende Endzeitstimmung atmet. Was den Rang Savignys betrifft, 43 Zitiert nach dem Abdruck in: Carl Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 386 – 426. Die Zahlen im Fließtext beziehen sich auf diesen Abdruck. 44 Brief vom 16. 3. 1950, Mußgnug (N 2), S. 67 ff. 45 Ebd. S. 68; hier auch das folgende Zitat.

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relativierte Forsthoff seine frühere These, dass Savigny die Wissenschaft überbewertet habe,46 und anerkannte Schmitts weiteren Blick auf „allgemeinere sorgende Einsichten“ Savignys. In Wahrheit hatte Forsthoff die Hermeneutik Savignys, der Historischen Rechtsschule und der Rechtsgelehrten überhaupt sehr viel eindringlicher behandelt als Schmitt. Vor allem aber hatte er gerade die unverzichtbare Funktion und hohe Bedeutung der Setzung des Rechts als solcher betont. Er begriff sie kraft Einbettung in die rechtsethische Sprachtradition als eine befolgungheischende Objektivierung, als „Stiftung“ von Rechtsethos. Diesen Gedanken hatte er für die „schöpferische Rechtssetzung“ als „unmittelbaren Ausdruck eines ethischen Rechts“ entwickelt, sah aber auch noch in der ganz andersartigen, jeweils vom Zweck her bestimmten „dezisionistischen Rechtssetzung“, diesem „Kunstgebilde“ der Sozialgestaltung, eine Objektivierung in der „sprachlich-logischen Sphäre“. Den „Versuch, die gesamte Gesetzgebung seit 1933 in einem realpsychischen Sinne als Willensinhalt einer physischen Person zu begreifen“, nannte er schlicht eine „Fiktion“.47 In dem Begleitbrief seiner Sendung an Huber vom März 195048 hebt Schmitt hervor, dass der Sinn seiner Darlegung in einer „Beschwörung“ liegt. Darin ist offenkundig zugleich der Anspruch eines sich selbst erhöhenden Autors enthalten, der sich zu Unrecht ausgestoßen fühlt: „Mehr als jemals in meiner 40-jährigen Tätigkeit bin ich heute ein Vertreter der deutschen Rechtswissenschaft. Über dieses jus optime quaesitum entscheiden nicht hasserfüllte Rivalen. Das ist eine Sache des objektiven Geistes“.49 Huber zeigt sich betroffen von Schmitts Schlusssatz, der das Vertrauen ausdrückte, dass in der europäischen Rechtswissenschaft „selbst die Sprachverwirrung besser sein kann als die babylonische Einheit“. Huber schreibt ihm eine „fast schmerzende Leuchtkraft“ in der „dunkle[n] Wirrnis“ der Zeit zu, weil er daraus offenbar die politische Botschaft liest, dass „selbst die anarchische Pluralität noch eine Rettung aus der größeren Gefahr der ,babylonischen Einheit‘ bedeuten könne“ (362). Von der Beschwörung der Rechtswissenschaft als des letzten Asyls des Rechtsbewusstseins hält er dagegen nichts (362): längst seien doch außer der Legalität auch alle möglichen Pseudo-Legitimitäten zur Waffe geworden (366). Begonnen hatte Huber seine Antwort an Schmitt freilich aus gutem Grund mit einer wahren Hymne auf die unbestreitbaren ästhetischen Qualitäten des Schmittschen Textes: „meisterlicher Essay“; „Reichtum an Variationen, mit dem das so durchsichtig festgehaltene 46

Ernst Forsthoff, Recht und Sprache – Prolegomena zu einer richterlichen Hermeneutik, 1940, S. 14 ff., 18 ff., 27. 47 Ebd. S. 9 ff., 45. Vgl. dagegen Carl Schmitt, Die Rechtswissenschaft im Führerstaat, in: Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht 2 (1935), S. 435 ff. (439): „Gesetz ist Wille und Plan des Führers.“ 48 Brief vom 24. 3. 1950, Grothe (N 3), S. 359 – 361. Die im Fließtext folgenden Zahlen beziehen sich auf diesen Abdruck. 49 Ebd. S. 360. Grothe verdeutscht den lateinischen Ausdruck ebd. in Fn. 1682 mit: „Recht, nach dem Besten zu fragen“. Der Rechtsbegriff „jus quaesitum“ meint jedoch das „wohlerworbene Recht“. Schmitt steigert es gewissermaßen zu einem „bestens erworbenen Recht“. Grothes Übersetzungen der lateinischen Zitate bedürften allesamt der Überprüfung.

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Thema begleitet ist“; „kunstvolle Fügung, mit der sich aus einer komplexen Situation die These scheinbar mühelos entfaltet“; „Konzentration und […] Glanz der Aussage, die immer hintergründig und zugleich von vollkommener Klarheit ist“ (362). Denn den größten Teil des umfangreichen Briefes nimmt die entschiedene Kritik des Historikers Huber ein: Eine Rechtskrise könne nur durch bewusste, rationale Form überwunden werden. In einer solchen Situation sei die Beschwörung still und absichtslos wirkender Kräfte daher nichts anderes als ein absichtsvolles und daher in sich widersprüchliches, folglich wenig überzeugendes Programm (363). Weder das preußische Allgemeine Landrecht von 1794 noch das österreichische Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch von 1812 stünden für leeren Legalismus. Wahrscheinlich hätte Savignys Reaktion und deren Wirkung mehr mit dem österreichisch-preußischen Dualismus als mit einer Distanzierung von der Setzung des Rechts als solcher zu tun. Und wenn Schmitt den positivistischen Gesetzesbegriff angreife, sei zu fragen, ob nicht Savigny selbst mit seiner Wendung gegen das Naturrecht zu dessen Wegbereitern gehört. Und dann folgt ein Frontalangriff: Die „Gesetzeswirklichkeit“ des ganzen 19. Jahrhunderts habe „mehr an echter Legitimität in sich [getragen] als der legalitäre Positivismus der Rechtswissenschaft zu erkennen gibt“ (365). Denn die bewusste Gesetzgebung dieser Epoche habe die „Kraft zur Reform, zur bewahrenden Wandlung“ ohne Revolution gehabt. „In diesem Prozess der gesellschaftlichen Reform hatte das Gesetz seinen legitimen Sinn, während die Berufung auf die still waltenden Kräfte entweder der romantischen Illusion oder restaurativen, anti-reformistischen Intentionen entsprang.“ Huber neigt daher dazu, „nicht nur den zivilrechtlichen und strafrechtlichen Kodifikationen des späten 19. Jahrhunderts […], sondern auch den großen Reformgesetzen (Bauernbefreiung, Gewerbefreiheit, Sozialversicherung) den Rang legitimer Gesetze zuzuerkennen.“ Selbst die Kulturkampfgesetze und das Sozialistengesetz seien noch keine bloß technisch-instrumentellen Mittel der politischen Aktion gewesen (365). Mit diesem offensiven Widerspruch Hubers stecken wir nun endgültig mitten in dem Material, das der Wuppertaler Historiker Ewald Grothe mit seiner Brief-Edition (N 3) erschlossen hat. Sie sei als jüngste Publikation dieser Reihe fachwissenschaftlicher Korrespondenzen Schmitts nun näher betrachtet. IV. Grothes Ausgabe des Briefwechsels Schmitts mit Ernst Rudolf Huber schlägt zeitlich einen weiteren Bogen als die beiden zuvor genannten Editionen. Sie beginnt 1926 mit der Korrespondenz über Hubers Dissertation („Die Gewährleistung der kirchlichen Vermögensrechte durch die Weimarer Verfassung“) und deren Veröffentlichung (1927) und reicht bis ins 94. Lebensjahr Schmitts. Kunstgerecht abgedruckt sind 219 Stücke. Davon stammen 142, also fast zwei Drittel, aus den Jahren von 1932 (als Schmitts Konspiration mit der Reichswehrführung begann und Huber als nicht

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eingeweihter Helfer fungierte)50 bis in die Endzeit des NS-Regimes 1944. Allein dieser Umstand sichert Grothes Sammlung besonderen historischen Wert. Und das umso mehr, als sie in viel größerem Umfang als die anderen Editionen eine intensive, meist im Medium der Verfassungsgeschichte ausgetragene geistige Auseinandersetzung dokumentiert. Vertieft wird dieser Aspekt noch dadurch, dass dem (vom Verlag Duncker & Humblot, dem Verlag Carl Schmitts, vorzüglich ausgestatteten) Band neun Rezensionen Hubers beigegeben sind, die er (teilweise anonym oder unter Pseudonym) über Veröffentlichungen Schmitts geschrieben hat (Anhang II, S. 400 – 487). Sachliches Gewicht haben auch die Briefe Hubers an Rudolf Smend vom März 1947 und an seinen ehemaligen Assistenten und späteren Bildungsforscher Hellmut Becker vom Juli 1948 sowie eine Rede Hubers über Idee und Realität eines Freideutschen Bundes aus dem Jahr 1949, mit der er jungkonservative Ideen zu erneuern suchte (Anhang IV, S. 494 – 519), erst recht die autobiographischen Texte Hubers (Anhang V, S. 520 – 581). Wenig belangvoll sind dagegen die Dokumente, welche die Promotion und die Veröffentlichung der Dissertation Hubers betreffen (Anhang I, S. 394 – 399), das Verzeichnis der gegenseitigen (inhaltlich teilweise unbekannten) Widmungen (Anhang VI, S. 582 – 587) und – mit einer Ausnahme – die „Briefe Dritter“ (Anhang III, S. 488 – 493). Die Ausnahme: der Brief von Tula Huber-Simons vom 21. 8. 1936, in dem sie Schmitt im Auftrag ihres Mannes mitteilt, dass er es sehr bedauere, wegen seiner militärischen Dienstleistung nicht an der Hochschullehrertagung am 3. und 4. Oktober teilnehmen zu können. Dabei handelte es sich um Schmitts berüchtigte Tagung über „Das Judentum in der Rechtswissenschaft“.51 Grothe merkt dazu an, dass Hubers Militärdienst allerdings schon am 30. September endete. Zu danken ist dem Herausgeber, dass er die Huber-Bibliographie von Frau Huber-Simons und Sohn Albrecht in der Huber-Festschrift von 1973 fortgeschrieben hat (Anhang VIII, S. 590 – 601). Das Abkürzungsverzeichnis enthält viel Überflüssiges, zumal selbst ganz gängige Kürzel, wenn sie in den Texten vorkommen, jeweils noch einmal in einer eigenen Fußnote aufgelöst werden. Personenund Ortsregister sowie die Nachweise zu den 29 beigegebenen Abbildungen schließen den Band ab.52 Hervorzuheben ist schließlich die instruktive Einleitung des Herausgebers (S. 13 – 40), der sich ja schon vordem mit etlichen Veröffentlichungen als ausgezeichneter Kenner von Person und Werk Hubers profiliert hat.53 50 Dazu Mehring (N 10), S. 298 ff., und Ernst Rudolf Huber, Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit, in: Complexio Oppositorum, hrsg. von Helmut Quaritsch, 1988, S. 33 – 50, mit Aussprache S. 51 – 70. 51 Siehe N 16. 52 Übrigens wären zwei Bildunterschriften zu korrigieren: Schaffstein war Strafrechtler, Wieacker Rechtshistoriker. 53 Siehe zuletzt: Ewald Grothe, „Strengste Zurückhaltung und unbedingter Takt“. Der Verfassungshistoriker Ernst Rudolf Huber und die NS-Vergangenheit, in: Eva Schumann (Hrsg.), Kontinuitäten und Zäsuren. Rechtswissenschaft und Justiz im „Dritten Reich“ und in der Nachkriegszeit, 2008, S. 327 – 348.

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V. Grothe gliedert das Korrespondenz-Korpus Schmitt-Huber in drei Teile: 1926 – 1933, 1933 – 1945 und 1945 – 1981. Diese Zäsuren sind durch die Geschichte vorgegeben. Dass der Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ einen tiefen Einschnitt in alle Lebensverhältnisse bedeutet, versteht sich dabei von selbst. Für das Unheilsjahr 1933 scheint das allenfalls so. Anders als im Fall Smend ist es in der Beziehung Schmitts zu Huber zur Markierung eines Abschnitts, Abrisses oder Wendepunkts gänzlich ungeeignet. Der Austausch geht einfach weiter wie bisher. In den Dienst des neuen Regimes treten die beiden alsbald sozusagen im Gleichschritt. Huber berichtet in seinen Briefen vom 14. und 24. April 1933 über entsprechende Aktivitäten: Werbung für den Eintritt in die NSDAP, Organisation einer Fachgruppe Staatsrecht der NSDAP, Gewinnung eines Sprachrohrs. Er kann Schmitt zu dessen Schrift über das Reichsstatthaltergesetz gratulieren und bezeichnet ihre wissenschaftliche Frontlinie mit den Namen Triepel, Smend und Erich Kaufmann. Schmitt wird unter der Ägide Görings Preußischer Staatsrat und Huber bekommt ein Ordinariat in der „NS-Stoßtrupp“-Fakultät in Kiel. Zum 1. Mai treten beide in die Partei ein und zeichnen auch ihre private Post von Ende 1933 bis zum Sturz Schmitts in der NS-Hierarchie (danach noch sporadisch bis in das erste Kriegsjahr) mit dem offiziellen Hitlergruß (der sich im Briefwechsel mit Forsthoff nirgends findet). Gegenstände mehr oder weniger eingehender Erörterungen sind Hochschulpolitik und Berufungsfragen, die Neupositionierung der Rechtswissenschaft, immer wieder die Organisation von Tagungen und so etwas wie Medienpolitik: die „Übernahme“ der „Deutschen Juristen-Zeitung“, eine neue einseitige Ausrichtung des Archivs des öffentlichen Rechts und die Neugründung der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“ auf nationalsozialistischer Grundlage.54 Von Interesse sind auch indirekte Spiegelungen in diesem Briefverkehr. So wird deutlich, wie heftig Schmitt mit Otto Koellreutter um die Führungsrolle in der neuen Staatsrechtslehre stritt.55 Schmitts über die Maßen „schrille“ (Forsthoff) Rechtfertigung der Röhm-Morde vom 30. Juni 1934 („Der Führer schützt das Recht“) wird zwar nicht angesprochen. Doch zeigt sich, wie Schmitt Huber für seine (übrigens auch unter NS-Juristen umstrittene) Deutung derselben als Akt höchster Gerichtsbarkeit stillschweigend vereinnahmt: Schmitt hatte unter dem 16. Juni von Huber einen „schönen, konkreten Aufsatz“ für die Deutsche Juristenzeitung (DJZ) erbeten (Brief Nr. 98), und Huber hatte bereits am 20. Juni geliefert (Nr. 99) – allerdings keinen „konkreten“ Beitrag, sondern eine glat54

180.

Dazu z. B. der besonders ausführliche Brief Hubers vom 16. 5. 1934 (Nr. 94), S. 176 –

55 Eine kleine Illustration am Rande: In der Diskussion der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer über die Referate von Horst Dreier und Walter Pauly zum Thema „Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus“ hat Otto Bachof berichtet, dass er 1933 aus Schmitts Seminar ausgetreten sei, „[w]eil man gewisse vom Assistenten mitgeteilte Namen nicht erwähnen durfte, vor allem solcher Professoren, die Schmitt als Konkurrenz um die Gunst der Nazis fürchtete. Dazu gehörte u. a. Koellreutter“ (VVDStRL 60 [2001], S. 111).

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te, hochabstrakte, gegen Pluralismus und Gewaltenteilung gerichtete Abhandlung über „Die Einheit der Staatsgewalt“. Nachdem sich Schmitt dafür bereits am 30.6. (Nr. 100) bedankt hatte („großartig“), pries er Hubers Text am 7. Juli (Nr. 101) gleich noch einmal: „Er ist wirklich hervorragend, und man sollte meinen, jetzt müsse jeder deutsche Jurist begreifen, um was es sich handelt.“ Schmitt freut sich, ihn im ersten August-Heft der DJZ des Jahres 1934 gleich hinter seinem berüchtigten Plädoyer publizieren zu können. Unversehens bekommt Hubers Satz, dass der „politische Führungswille“ „Ausdruck des höchsten Rechts“ ist,56 durch diese Platzierung einen unheimlich konkreten Sinn. Ein die Korrespondenz gliedernder Einschnitt zeigt sich erst 1936. Huber lehnt Schmitts offizielle Aufforderung ab, auf dem Juristentag im Mai dieses Jahres über das Thema „Der freie Anwalt im nationalsozialistischen Staat“ zu sprechen, und entzieht sich – wie schon erwähnt – der Teilnahme an Schmitts unsäglichem „Kampf der deutschen Rechtswissenschaft gegen den jüdischen Geist“ im Oktober 1936.57 Auf der Teilnehmerliste fehlt übrigens auch der Name Forsthoffs. Die Übernahme des Referats auf dem Juristentag hatte Huber mit der Begründung abgelehnt, dass das Thema außerhalb seines Arbeitsgebiets und seines Gesichtskreises liege (Brief Nr. 147). Der Briefverkehr bricht daraufhin für mehr als zwei Jahre ab.58 VI. Zu Schmitts 50. Geburtstag (11. 7. 1938) kommt es zur Versöhnung. Huber gratuliert, bekennt seine stetige Dankbarkeit und Verehrung, preist Schmitts überragende wissenschaftliche Bedeutung „für die geistige Gestalt unseres Volkes“, feiert das Erscheinen von Schmitts „Leviathan“ und bedauert die Störung ihres Verhältnisses „in den letzten Jahren“ durch eine Kette von Missverständnissen und unkontrollierbare Zwischenträgereien (Brief Nr. 150). Übrigens enthält der Brief einen Satz, der für die 56

Ernst Rudolf Huber, Die Einheit der Staatsgewalt, in: DJZ 1934, Sp. 950 – 960 (959). Siehe N 16. 58 Bei der Datierung von Hubers Absage gibt es eine Unklarheit. Die Aufforderung zur Übernahme eines Referats ist vom Absender fälschlich auf den 10.1. des Jahres 1935 statt des Jahres 1936 datiert (Brief Nr. 148). Folgt man Grothes Briefabdruck Nr. 146, so hätte er Schmitt die Gründe für seine Absage unter dem 24. 1. 1936 „noch einmal“ erläutert, und es wäre folglich anzunehmen, dass eine erste Absage Hubers zwischen dem 10. und dem 24. Januar verloren gegangen ist (so Grothe ebd. Fn. 1026). Anschließend bringt er unter Nr. 147 allerdings einen Brief Hubers, in dem er sich unter dem Datum vom 14. Oktober „verbindlichst“ für die „ehrenvolle Aufforderung“ Schmitts bedankt, mit der eben schon erwähnten sachlichen Begründung aber absagt. Danach hätte Huber das Angebot eines Vortrags auf der Tagung im Mai 1936 am 14.10. dankend abgelehnt. Näher liegt wohl die Annahme einer weiteren falschen Datierung und dass diese erste Absage bereits am 14.1. erfolgte. So wäre die Abfolge der Briefe lückenlos, ihr Inhalt stimmig. Die Pause in der Korrespondenz beträgt dann nicht „fast eineinhalb Jahre“ (so Grothe Fn. 1030), sondern „über zwei Jahre“, so richtig Mehring (N 10, S. 367), der bei dem Brief Hubers vom 24. Januar allerdings versehentlich die Jahreszahl 1938 angibt (ebd. S. 672 Fn. 66). 57

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vieldiskutierte Frage von Bedeutung ist, ob das Jahr 1933 einen Bruch im Werke Schmitts markiert: „Wenn die deutsche Staatsrechtslehre und Staatstheorie dem Agnostizismus des früheren Systems nicht vollends erlag und wenn sie nicht unvorbereitet von dem großen Geschehen einer totalen Revolution ergriffen wurde, so war es das Verdienst der unerbittlichen geistigen Konsequenz, mit der Sie die Schleier von einer zerfallenden Staats- und Gesellschaftsordnung rissen.“

Schmitt ist offenbar erleichtert und reagiert außerordentlich positiv (Brief Nr. 151). Unklar bleibt indes der Stellenwert von Schmitts Erwähnung der Angriffe auf den antisemitischen Kern seines Hobbes-Buches, den Huber taktvoll übergangen hatte. Von den wiederkehrenden Hinweisen auf ihre unterschiedlichen Auffassungen von Konstitutionalismus und Parlamentarismus abgesehen, haben die späteren Briefe Hubers zu Schmitts „Großraumordnung“ (1939) und zu dessen Aufsatzsammlung „Positionen und Begriffe“ (1940) sachliches Gewicht und sind zudem als Zeichen der zunehmenden Ernüchterung Hubers von zeitgeschichtlichem und biographischem Interesse. In der Logik des Anschlusses Österreichs als dem ersten Schritt vom Volk zum Reich hatte Schmitt nach dem Muster der klassischen Monroe-Doktrin eilends ein entsprechendes politisches Prinzip für Mittel- und Osteuropa vorgeschlagen.59 Huber widerspricht in einem zentralen Punkt. Er sieht entgegen der Einschätzung Schmitts in der Monroe-Doktrin eine durch keinerlei Leistung gerechtfertigte „Anmaßung“, im britischen Weltreich dagegen, anders als Schmitt, kein „in sich brüchiges und verwerfliches politisches System“, sondern eine große Aufbau- und Ordnungsleistung. Und er fragt: „Wäre nicht auch unser Reich, wenn ihm erst die volle Entfaltung gelänge, eine großräumige Ordnung, die die ganze Weite des Erdballs umgreift?“ Für den „unentrinnbaren Widerstreit“ der beiden „Reichsvölker“ bedürfte Deutschland nun freilich einer „inneren Verfassung“, die „nicht auf Institutionen oder Ideologien, sondern auf Auslese und Haltung beruht“.60 Dem Sammelband „Positionen und Begriffe“ hat Huber in seiner „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“ eine ausführliche und eindringliche Besprechung gewidmet, die Grothe in Anhang 2 unter Nr. 9 (S. 450 – 487) aufgenommen hat. Brieflich dankt Huber zunächst für die Dedikation und preist die positive Wirkung des polemischen Charakters (Nr. 161, S. 250 ff.) so sehr, dass Schmitt sich zu der Bemerkung veranlasst fühlt, er werde, außer Huber, „nicht vielen das Recht geben, [ihn] so anzuerkennen“ (Nr. 162, S. 263). Die Übersendung der Korrekturfahnen seines Besprechungsaufsatzes verbindet Huber mit der eindringlichen Bitte um Verständnis für seine Kritik und seinen Widerspruch. Dazu hat er allen Grund, wenn man sieht, wie er Schmitts Interpretation von Hobbes und Hegel zerpflückt, seine (Hubers) Vor59 Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte – Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht, 1939; 3. Aufl. 1941. 60 Brief Hubers vom 30. 5. 1939, Grothe (N 3), S. 257.

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stellung von Konstitutionalismus verteidigt und den Mangel substantieller Begründung der Schmittschen Großraumlehre demonstriert. Bei Huber nehmen Äußerungen politischer Abstandnahme und Besinnung zu. An die neu gegründete Reichsuniversität Straßburg berufen fragt Huber im September 1941 rhetorisch, „wie weit unser personalistisch-dynamisches System von Ordnung und Institution und damit von ,Verfassung‘ entfernt ist“ (Nr. 173, S. 288), spricht von der „Fragwürdigkeit der totalen Verstaatlichung des Volkstums, die durch die völkischen Ideologien nur notdürftig verdeckt wird“ (Nr. 176, S. 293). Im Oktober 1942 verfasst Huber einen umfangreichen sehr ernsten und selbstkritischen Brief, der die damalige Situation im Medium der deutschen Verfassungsgeschichte und der eigenen Verfassungstheorie zu deuten versucht (Nr. 181, S. 302 ff.): Seit dem Konflikt zwischen Barbarossa und Heinrich dem Löwen habe es in der deutschen Geschichte keine endgültigen Entscheidungen, zudem keine echten Revolutionen gegeben. Diese „Tragik unaufhebbarer Spannungen“ sieht er als Grund für Glanz und Elend des Reiches und die Katastrophen von 1648, 1806 und 1918 an und mutmaßt von daher, es könnte „doch auch ein tieferer Sinn [darin] verborgen liegen, daß nach 1933 die schnellen und glatten Lösungen nicht gelungen sind“. Die Entwicklung seit 1933 bezeichnet er als eine Fehlentwicklung im Sinne bloß quantitativer Totalität des Staates statt der qualitativen Totalität einer substanzhaften Ordnung. Er frage sich oft, „ob wir nicht durch allzu schnelle und glatte Parolen die Verantwortung für eine Fehlentwicklung tragen, die wir in ihren ersten Anfängen gefördert haben, ohne ihre Tendenz und Dynamik ganz zu übersehen“ (Nr. 181, S. 304). Treuherzig, wer darauf eine Antwort Schmitts erwartete. Schmitt schrieb postwendend: „Heute will ich nur auf einen Teil Ihres inhaltsvollen Briefes […] antworten“ und „nur an Ihre Bemerkungen zu Grillparzers ,Bruderzwist‘ und das Problem Rudolfs II. anknüpfen“ (Nr. 182, S. 306). Zum Jahresende 1943 wird Huber noch deutlicher: „Vielleicht hängt für die Zukunft alles davon ab, ob wir den Weg vom Bürger, vom Arbeiter, vom Soldaten wieder zum Menschen finden, so daß im Besonderen das Allgemeine und Umfassende wieder lebendig wird […]. Europa […] wird nur sein, wenn es gelingt, die Gestalt des Menschen neu zu gewinnen“ (Nr. 184, S. 311). Und der ausführliche Brief Hubers Ostern 1944, der letzte vor dem Zusammenbruch, endet mit prinzipiellen Bemerkungen im Anschluss an Rudolf Gneists Ausführungen zum preußischen Verfassungskonflikt: „Wir haben jetzt erlebt, was die Preisgabe des Gesetzes-Begriffs staatsrechtlich bedeutet. Autorität und Freiheit finden ihre sicherste Gewähr im Gesetz, und dafür hat Gneist als Führer der Opposition im Konflikt einen untrüglichen Instinkt bewiesen. […] Im ,Kampf des Rechtes gegen die Gesetze‘, den eine wohlmeinende Staatsrechtslehre vor 2 Jahrzehnten einleitete, hat sich auch das Recht selbst zerstört. Was daraus entstand, war das bürokratische Regime der Verordnung, die Diktatur der Maßnahme und die Willkür der Interpretation. Der autoritär-liberale Kompromiß des Konstitutionalismus war vielleicht doch mehr als ein Kompromiß im abschätzigen Sinn, und vielleicht ist die Verständigung doch eine zuverlässigere Grundlage der Ordnung als die Dezision.“ (Nr. 186, S. 315 f.)

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VII. Nach Forsthoffs Mitteilung, dass Schmitt nach ihm gefragt habe,61 nimmt Huber die Verbindung 1947 wieder auf: „Über die Vergangenheit wäre Vieles zu sagen, auch über unsern Beitrag, unsere Irrtümer, unsere Fehlschläge. Doch war es notwendig und wichtig, daß wir damals die Schiffe hinter uns verbrannt haben“ (Nr. 187, S. 318). Schmitt freut sich über die Wiederherstellung des Kontaktes, geht auf diese Bemerkung Hubers jedoch nicht ein. Huber seinerseits will sich nicht auf Schmitts „Ex captivitate salus: Erfahrungen der Zeit 1945/47“ einlassen. Stattdessen möchte er den wissenschaftlichen Austausch erneuern. Er schickt Schmitt ein Manuskript über seine jugendbewegte „Idee und Realität eines Freideutschen Bundes“ (Anhang IV 3, S. 504 – 519) – für Schmitt im Blick auf die aktuelle Diskussion eines neuen Bundesstaats ein Anlass zur Heiterkeit. Wie weit sie auseinander sind, zeigt das Manuskript, mit dem sich Schmitt revanchiert. Es enthält Schmitts Antwort auf die Frage des stellvertretenden US-Chefanklägers in Nürnberg Kempner: „Warum sind die Staatssekretäre Hitler gefolgt?“62 Damit lenkt er den Austausch auf das Thema der Nürnberger Prozesse, um am Ende deutlich von ihrer beider (wohl auch konfessionell gedachten) „Wesensverschiedenheit“ zu sprechen. Huber ist enttäuscht und verletzt: „Offenbar ist es schwer, über die Abgründe der vergangenen Jahre hinweg das Ohr des anderen zu erreichen und zu einer gemeinsamen Sprache zurückzufinden“ (Nr. 193, S. 333). Und im Hinblick auf die Nürnberger Prozesse wird er sehr spitz: Es sei „notwendig […], das in Nürnberg zusammengetragene Tatsachenmaterial voll in sich aufzunehmen und so wenigstens nachträglich ganz zu realisieren, was das ,Dritte Reich‘ als Vernichtungssystem effektiv bedeutet hat […]. Erst wenn man die Tatsächlichkeit dieses Systems sozusagen en détail realisiert hat, ist man qualifiziert und legitimiert über die juristische Fragwürdigkeit der Prozesse zu sprechen.“ (533 f.)

Schmitt sucht zu beschwichtigen, bleibt aber ganz ungerührt. Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik finden in der Korrespondenz so gut wie kein Echo. Gelegentlich äußert Schmitt im Hinblick auf Hubers beamtenrechtliche Kompetenz allerdings Interesse an „Art. 143 des Bonner Entwurfs (Beamtenrechte)“.63 Dabei handelte es sich um den Vorläufer (Stand Dezember 1948) des späteren Art. 131 des Grundgesetzes, der die Rechte der 1945 infolge des Zusammenbruchs ausgeschiedenen Beamten betrifft. Schmitt war ja, wie man damals sagte, ein „131er“. 61

Grothe (N 3), S. 319 Fn. 1425. Der Text ist im wesentlichen in: Carl Schmitt, Das Problem der Legalität (1950), aufgegangen und mit Nachbemerkungen abgeduckt in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 440 – 451. 63 Brief Nr. 198 vom 10. 1. 1949. Grothe erläutert in Fn. 1613: „Nach Art. 143a Abs. 1 des Grundgesetzes können Beamte durch Gesetz einer ,privat-rechtlich organisierten Eisenbahn des Bundes zur Dienstleistung zugewiesen werden‘.“ Diese Bestimmung ist aber erst im Zusammenhang mit der Privatisierung der Bundeseisenbahn 1993 in das Grundgesetz eingefügt worden. 62

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1950 schreibt Huber noch einmal zwei gehaltvolle Briefe. Unter dem 7. Februar betont er, die „Kampflage“ ähnele „in einer gespenstischen Weise den Endjahren des Weimarer Systems, […] der sich vorbereitenden Auseinandersetzung zwischen Osten und Westen […]. Die Chance, das Gesetz des Handelns für die Mitte zu gewinnen, für die wir unsere Existenz aufs Spiel gesetzt haben, ist verloren und wird nicht wiederkehren. Europa hätte nicht anders als durch ein hegemoniales System zu einer dritten Position werden können.“ (Brief Nr. 201, S. 357).

Interessanterweise folgt hier eine Bemerkung über Schmitts „Existentialismus“. Huber fragt sich, ob Schmitts „Art der Rechts- und Staatslehre nicht im Grunde ein Ausdruck existentialistischer Rechtsphilosophie ist.“ Als charakteristisch nennt er: die „Argumentation von der Grenz-Situation her, das Durchstoßen durch die normativen Fiktionen zur Substanz des Daseins, das Wissen um existentielle Konflikte und um den Sinn existentieller Entscheidungen“. Mit ihrer Argumentation aus der konkreten Wirklichkeit decke die existentialistische Rechts- und Staatslehre auf, dass es weder Recht noch Staat mehr gibt, wenn die Wirklichkeit „zum Chaos, zur Anarchie und zum Terror wird“ (damit sind – notabene – die Endjahre des Weimarer Systems gemeint). Deswegen ergebe sich daraus kein Einwand gegen Schmitt. Was aber „an berechtigtem Vorwurf bleibt, ist, daß wir eine Zeit lang geglaubt haben, ideologische Fassaden zu existentiellen Ordnungen verdichten zu können“. Und dann folgt noch der Brief Hubers mit seiner schon erwähnten durchdringenden Kritik an Schmitts Text zur „Lage der europäischen Rechtswissenschaft“. Danach lockert sich der Kontakt. Die Pausen werden länger, die Korrespondenz erstarrt im Ritual des Austauschs von Geburtstagsglückwünschen. VIII. Fast 90 Seiten umfasst der den Briefen angefügte Anhang II mit Rezensionen von Huber über Publikationen von Schmitt. Fünf der neun Stücke hat Huber anonym oder unter wechselnden Pseudonymen für das maßgebliche Organ der jungkonservativen Bewegung „Der Ring“ geschrieben.64 Zum Teil sind das bloß kurze Referate oder affirmative Berichte. Eigenständige Kritik enthält Hubers knappe Auseinandersetzung mit Schmitts Repräsentationsbegriff von 193065 und seine ausführliche Analyse von „Verfassung und Verfassungswirklichkeit bei Carl Schmitt“, die Huber unter seinem Namen für die „Blätter für Deutsche Philosophie“ veröffentlicht hat.66 Umfassend und souverän setzt sich Huber schließlich 1941 mit Schmitts „Positionen und Begriffen im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles“ in einem Besprechungsaufsatz 64 Dazu Karlheinz Weißmann, Das „Gewissen“ und der „Ring“, in: Konservative Zeitschriften zwischen Kaiserreich und Diktatur, hrsg. von Hans-Christof Kraus, 2003, S. 115 – 154 (133 ff.). 65 Manfred Wild (= Ernst Rudolf Huber), Repräsentation, in: Der Ring 3 (1930), S. 545 – 547; zitiert nach dem Abdruck bei Grothe (N 3), S. 408 – 414. 66 Ernst Rudolf Huber, Verfassung und Verfassungswirklichkeit, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Bd. 5 (1931/32), S. 302 – 315; zitiert nach dem Abdruck bei Grothe (N 3), S. 425 – 443.

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seiner „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“ auseinander.67 In freundlichem Ton, immer wieder lobend und auf künftige Klärungen verweisend, in der Sache jedoch kompromisslos zerpflückt Huber in allen Fällen zentrale theoretische Begriffe Schmitts und demonstriert damit, dass Schmitt systematisches Denken gänzlich fremd war. Was den Begriff der Repräsentation betrifft, spricht Huber zunächst aus, was am Tage liegt: Schmitts These, dass die politische Einheit eines Volkes entweder auf dem Formprinzip der Repräsentation oder dem der Identität beruht, ist unhaltbar. Denn Identität „ist das Gegenteil eines Formprinzips […], die Realpräsenz des Volkes überdies niemals verwirklicht“ (410). Es gibt nur „eine fiktive Identität; sie ist in Wahrheit Repräsentation des Ganzen durch eine aktionsfähige Gruppe“ (ebd.). Hier sei die Anmerkung erlaubt, dass Schmitt, auf das statische Muster der Papstkirche fixiert, nichts von der dynamischen konziliaristischen „repraesentatio identitatis“68 wusste. Indem Huber Schmitts Behauptung, die Berufung auf Legitimität habe den (existentiell) repräsentativen Charakter der konstitutionellen Monarchie zerstört, logisch, historisch und politisch kritisiert, ist hier schon 1930 das Feld künftiger Auseinandersetzungen skizziert. Von Schmitts Begriffen der „positiven Verfassung“, der Verfassungswirklichkeit, von Verfassungszustand, Verfassungsgeltung und der „Wendung zum totalen Staat“ bleibt nach Hubers konsequenter Dekomposition in den „Blättern für Deutsche Philosophie“69 kaum etwas übrig. Aber welcher Jurist liest schon „Blätter für Philosophie“? Auf derselben Linie unnachsichtiger Analyse liegt auch Hubers schon erwähnte Auseinandersetzung mit Schmitts Sammelband „Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923 – 1939“. Eine ausführlichere Behandlung dieser außerordentlich umfangreichen und eindringlichen Besprechung würde jedoch weit von unserem Thema wegführen. IX. Abschließend bleibt noch einmal darauf hinzuweisen, dass Grothes Band in den Anhängen IV und V auf gleichfalls fast 90 Seiten Texte versammelt, die für die Biographie Hubers von Bedeutung sind. Hervorgehoben seien die durch das bevorstehende Spruchkammerverfahren zur Entnazifizierung veranlasste umfangreiche Rechtfertigungsschrift von 1946/47 (S. 520 – 556), ein Lebensbericht von 1961/62 (S. 556 – 568) und gewissermaßen zum guten Schluss die abgeklärte Dankesrede, die Huber bei der Feier der Göttinger Juristischen Fakultät zu Ehren seines 80. Geburtstages 1983 gehalten hat (S. 568 – 576).

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Ernst Rudolf Huber, „Positionen und Begriffe“. Eine Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 101 (1941), S. 1 – 44; zitiert nach dem Abdruck bei Grothe (N 3), S. 450 – 487. 68 Dazu vom Verfasser, Repräsentation, 4. Aufl., 2003, S. 191 ff. 69 Siehe N 66.

„Vielleicht ist die Verständigung doch eine zuverlässigere Grundlage der Ordnung …“ 67

Der Kreis unserer Betrachtung schließt sich mit einem Blick auf den Brief, den Ernst Rudolf Huber im März 1947 an Rudolf Smend geschrieben hat. Der Inhalt lief – für Schreiber wie Empfänger gleichermaßen peinlich – auf die gequälte Bitte um einen „Persilschein“ für das anstehende Spruchkammerverfahren hinaus. Wegen des häufig gemachten Vorwurfs großer Nähe zu Carl Schmitt, resümierte Huber darin sein Verhältnis zu dem Verfemten (S. 495): „Mein ursprünglich sehr enges Verhältnis zu Schmitt, das im Herbst 1932 seine stärkste Intensität erreichte, geriet seit Anfang 1933 von einer schweren Krise in die andere. 1938 kam es zu einer äußerlichen Versöhnung auf der Grundlage einer starken Distanzierung. Meine Kritik an Schmitts wissenschaftlichen Arbeiten habe ich immer zum Ausdruck gebracht, meine Kritik an seiner menschlichen Haltung habe ich nicht public werden lassen. Aber Sie werden verstehen, wie sehr es mir widerstrebt, mich jetzt auf solche Gegensätze, Zerwürfnisse, Erfahrungen und Enttäuschungen zu berufen. Es käme mir als Verrat vor, ihn noch mehr bloßzustellen, als er ohnedies bloßgestellt ist. Und es liegt mir nichts ferner, als das in Abrede zu stellen, was ich ihm als meinem Lehrer verdanke, im guten und vielleicht auch im fragwürdigen Sinne.“

Der lange Weg in den Staat der zweiten deutschen Republik1 Von Rainer Enskat Den akademischen Lehrern des Staatsrechts und des Verfassungsrechts obliegt es in ihren öffentlichen Ämtern, die Gehalte des positiven und des vorpositiven Staatsund Verfassungsrechts mit Blick auf die Legitimität und auf die rechtsprozedurale Beherrschbarkeit zu überwachen, die sie einem rechtlich geordneten Gemeinwesen und dem öffentlichen Leben in ihm verleihen sollen. Die Verflechtungen des Staatsrechts mit dem Verfassungsrecht und die normativen Verflechtungen beider Dimensionen mit dem öffentlichen Leben eines Gemeinwesens werden ebenso wie die unaufhörlichen kleineren und größeren Wandlungen – und Krisen – in diesen beiden Dimensionen besonders lebendig durch die akademischen Lehrer verkörpert, die sich der damit verbundenen Aufgaben in Lehre und Forschung anzunehmen haben. Der vorliegende Band bietet mit 67 personalisierten Fallstudien der beiden Rechtsdimensionen ein reiches und hochdifferenziertes Bild von der persönlichen Arbeit, die die ausgewählten deutschen, österreichischen und schweizerischen Rechtslehrer diesen Aufgaben gewidmet haben. Eine Anzeige dieses Werks, die in erster Linie auf die wichtige Tatsache seiner Publikation aufmerksam machen soll, muß noch viel restriktiver auswählen als es die Herausgeber unter den für ihre Publikation in Frage kommenden Rechtslehrern tun mußten. In einer Zeitschrift, deren Beiträge überdies in erster Linie auf das politische Denken konzentriert sein sollen, darf diese Auswahl durch einen Fachvertreter der Philosophie daher Akzente auf einige wenige Portraits von staats- und verfassungsrechtlichen Entwürfen, Entwicklungen und Brüchen setzen, wie sie gerade auch jenseits der Grenzen der Rechtswissenschaft, in der Politik und im politischen und rechtspolitischen Bewußtsein einer wohlinformierten Öffentlichkeit bis heute ihre Wirksamkeit und Ausstrahlung zeitigen. Für einen interessierten Zaungast der Rechtwissenschaft verbietet sich zwar eine eigentlich rezensorische Stellungnahme. Doch die imponierende Eindringlichkeit der präsentierten Portraits und damit die überaus geglückte Auswahl der Autoren durch die Herausgeber erlaubt ihm wenigstens in der Rolle eines Referenten und Berichterstatters, auf einige der eindrucksvollsten Gestalten von Staatsrechtslehrern des 20. Jahrhunderts einzugehen, die mit Hilfe dieser Portraits der Würdigung auch durch ihre politisch und insbesondere rechtspolitisch denkenden Leser anver1 Über: Häberle, Peter/Kilian, Michael/Wolff, Heinrich Amadeus (Hrsg.): Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts. Deutschland – Öststerreich – Schweiz. Walter de Gruyter-Verlag, Berlin 2015, 1058 S.

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traut werden. Um die Auswahl auf den zur Verfügung stehenden Umfang abzustimmen, mag daher ein qualifiziertes Auswahlkriterium angemessen sein: Nur solche Portraits von Staatsrechtslehrern sollen hier berücksichtigt werden, deren Wirksamkeit und Ausstrahlung bis in die deutsche Gegenwart dem Umstand zuzuschreiben sind, daß sie ihre komplexen rechtswissenschaftlichen, rechtspolitischen, politischen und gesellschaftlichen Erfahrungen teilweise noch viele Jahrzehnte vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland zwar gewonnen, aber in der Regel umso fruchtbarer in die konzeptionellen Grundlagen von deren verfassungsrechtlicher Bewährungskraft integriert haben. Der staats- und der verfassungsrechtliche Spannungsbogen, der durch die hier getroffene Auswahl repräsentiert werden soll, findet in zwei Entwürfen seinen Anhalt, die im Abstand von mehr als zwei Generationen gereift sind – in der Einsicht Paul Labands in die parlamentarische Legitimität, jede das Gemeinwohl des Gemeinwesens betreffende Sorge zur legislativen Agende zu machen, und in der Einsicht Ernst Forsthoffs, daß die Bürger eines Gemeinwesens unter den Bedingungen moderner Industriegesellschaften einen legitimen Anspruch auf gesetzlich geregelte Daseinsvorsorge haben. Den Anfang auf dieser Linie macht Reinhard Mußgnug mit der Erinnerung an die Paul Laband (3 – 27) gelungenen rechtssystematischen „Entdeckungen“ (15 – 21). Ein bedeutsames Muster für eine die Generationen übergreifende Entdeckung bildet die von Laband im Ausgang von seiner Budgetrechts-Studie erarbeitet prinzipielle Unterscheidung zwischen dem kein materielles, sondern formelles Recht und doch Verbindlichkeiten begründendes „bloße[n] Rechenwerk“ des Haushaltsplans (17 – 18). Er entwirft von hier aus sogar die bis heute aktuelle Konzeption der Autorität, die „dem Gesetzgeber die Macht des Zugriffs auf alle politischen Entscheidungen verschafft, auf die er zugreifen möchte“ (17) – eben mit Hilfe des wahlweise materiell oder formell gerechtfertigten Zugriffs. An eine ähnliche die Generationen übergreifende Entdeckung erinnert Jens Kersten, wenn er Georg Jellineks (59 – 68) Entwurf der subjektiven öffentlichen Rechte als die wichtigste (liberale) Grundlage für „die aktuelle Verwaltungs- und Verfassungsrechtsdogmatik“ hervorhebt. Gleichzeitg versäumt Kersten jedoch nicht, auch an einen die Generationen übergreifenden methodologichen Irrtum Jellineks zu erinnern – an den auch in der gegenwärtigen öffentlichen Rhetorik immer wieder einmal herumgeisternden Irrtum von der „normativen Kraft des Faktischen“ (65). Mit Blick auf ihn hatten allerdings schon die „Kontrahenten im Weimarer Methodenund Richtungsstreits“ eingesehen, daß er „methodologisch nicht haltbar“ (67) ist. In ihrer Würdigung von Lebensweg und Lebenswerk von Richard Thoma erinnert Kathrin Groh (151 – 159) unter anderem an die bis heute nicht grundsätzlich erledigte, auch die Stellung des Bundesverfassungsgerichts kritisch in Frage stellende Auffassung Thomas, der „Einem allgemeinen richterlichen Prüfungsrecht, das sich auf die Kontrolle und Verwerfung parlamentarischer Gesetze erstreckt, […] skeptisch gegenüber[steht]“ (153). Denn, wie die Verfasserin in Anschluß an Thoma zu bedenken gibt, „die Rückwirkungen der Entscheidungen des höchsten Gerichts, hier des

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Bundesverfassungsgerichts“, (ebd.) werden von „schicksalhafter Bedeutung“ (ebd. [Thoma]) sein (vgl. ebd.), so daß eben dadurch „die demokratische Legitimationshierarchie von Parlament und Verfassungsgerichtsbarkeit umgekehrt werde“ (ebd.). In der Maxime „Frieden durch Recht“ (180) faßt Christian Tietje den völkerrechtlichen Rückgriff von Walter Schücking (175 – 185) auf die radikale Rechtsphilosophie des späten Kant zusammen und grenzt sie gegen die mindere Rolle der Erfüllungsgehilfenschaft ab, die unter diesen Voraussetzungen „das Diplomatenrecht“ (ebd.) hat. Es fällt nicht leicht zu entscheiden, welchem unter den Portraits der vier prominentesten Teilnehmer am so apostrophierten „Weimarer Richtungsstreits“ – Heller, Kelsen, Schmitt und Smend – man im hochselektiven Rahmen einer Anzeige wie dieser den Vorzug geben sollte. Doch die Autoren von zwei dieser Portraits geben dem Leser durch charakteristische Details eine Möglichkeit, sachliche Kontraste hervorzuheben, die einander gleichwohl fast so ergänzen wie spiegelverkehrte Projektionen. So hebt Horst Dreier mit Blick auf das Werk von Hans Kelsen (219 – 241) hervor, daß sein Entwurf der von allen empirischen Faktoren unabhängigen, nur von einer Grundnorm abhängigen normen-immanenten Begründung der Reinen Rechtslehre die „Unterscheidung zwischen authentischer und rechtswissenschaftlicher Interpretation“ (230) möglich und zwingend macht. Dadurch „öffnet Kelsen das Tor weit für das subjektive, von Werturteilen geprägte Ermessen des jeweiligen Rechtsanwenders, der eben immer zugleich auch Rechtsschöpfer ist“ (229 – 230). Der in Kelsens Reiner Rechtslehre verankerte Gedanke der rechts-normativen Authentizität des von der abstrakten Norm gleichsam eingehegten richterlichen Urteils wird, wie Matthias Jestaedt in seiner Behandlung des Werks von Carl Schmitt (313 – 336) in Erinnerung ruft, hier zugunsten einer politischen Authentizität radikalisiert: Eine Hegung von rechtlichen Beurteilungen durch vorgegebene, von konkreten Fällen und Situationen unabhängige rechtliche Normen ist im Licht – oder im Schatten? – dieses Werks gar nicht mehr möglich. Denn in seinem Licht – oder Schatten? – lassen sich buchstäblich alle Rechtsnormen und rechtskräftigen Urteile als Resultanten authentischer politischer Entscheidungen entlarven, wie sie der „rechtlich unverfügbare ,politische Wille […] über Art und Form der eigenen politischen Existenz‘“ (323 [Schmitt]) trifft. Unter den Staatsrechtslehrern, die das rechtliche und das rechtspolitische Leben, Denken und Urteilen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in unterschiedlichen Formen mit besonderer Tiefenwirkung geprägt haben, hebt Alexander von Brünneck Ernst Fraenkel (529 – 537) hervor. Noch während der den „Weimarer Richtungsstreit“ beendenden Agonie der ersten deutschen Republik formuliert Fraenkel in seiner Schrift „Verfassungsreform und Sozialdemokratie“ (1923) den „Gedanken, dessen Bedeutung weit über die damalige Zeit hinausreicht“ (530) – den das parlamentarische Regierungssystem verfassungsrechtlich in einzigartiger Form hegenden Gedanken, der „im ,konstruktiven Mißtrauensvotum‘ des Art. 67 GG realisiert worden

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[ist]“ (531).2 Inmitten der nationalsozialistischen Tyrannei erarbeitet Fraenkel seine hellsichtige und genaue Analyse der durch sie repräsentierten Herrschaftsform des „Doppelstaats“: „Im ,Normenstaat‘ gelten die bisherigen Rechtsvorschriften in dem Umfang weiter, wie es zur Funktionsfähigkeit des fortexistierenden kapitalistischen Wirtschaftssystems erforderlich ist. Im ,Maßnahmenstaat‘ wird nicht nach rechtlichen Regeln, sondern nach Kriterien politischer Opportunität entschieden, um die Herrschaft des Regimes zu sichern und um seine spezifischen Ziele – wie die Judenverfolgung – durchzusetzen. Im Zweifelsfall entscheidet der Maßnahmenstaat nach seinem Interesse, ob eine Angelegenheit nach den Regeln des Normenstaats oder nach den Bedürfnissen des Maßnahmenstaats behandelt wird“ (532).

Als Hochschullehrer entwickelt Fraenkel seit den späten fünfziger Jahren hauptsächlich aus der englisch-amerikanischen Verfassungstradition die Konzeption der pluralistischen Demokratie, die „weithin das Selbstverständnis des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland seit den sechziger Jahren [formulierte]“ (534). Im Licht dieser Konzeption „wird das Gemeinwohl […] in einem kontroversen Sektor der politischen Willensbildung in offenem Verfahren ermittelt. An dem […] Prozeß […] können alle interessierten Individuen, Gruppen, Verbände, Parteien und die Öffentlichkeit mitwirken“ (534). Zum „nicht-kontroversen Sektor […] gehört die Einhaltung der grundlegenden Verfahrensregeln, die vor allem in der Verfassung niedergelegt sind“ sowie die „Bewahrung der zentralen Wertorientierungen der europäischen Naturrechtstradition, insbesondere […] Geltung der Menschenrechte und des Rechtsstaatsprinzips“ (534). Das Lebenswerk Gerhard Leibholz’ erörtert Christian Starck (581 – 591) mit konzentriertem Blick auf die drei maßgeblichen Themen der Gleichheit vor dem Gesetz, der Repräsentation in der Demokratie und der Verfassungsgerichtsbarkeit. Bedeutsam ist, daß Leibholz Grundzüge seiner Behandlung der beiden ersten Themen schon in seinen beiden wichtigsten juristischen Qualifikationsschriften von 1925 (Dissertation) bzw. 1929 (Habilitationsschrift) erarbeitet hat. Der Gleichheitsgrundsatz wird schon seiner Dissertation von einer „verwaltungsrechtlichen und justizrechtlichen Garantiefunktion“ der „Rechtsanwendungsgleichheit“ (583) zu einem Grundsatz radikalisiert, der „die Bindung auch des Gesetzgebers“ mit dem Ziel normiert, „das Individuum vor Willkürakten des Gesetzgebers zu schützen“ (ebd.), und antizipiert damit „Die Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitsgrundsatz (Art. 1 Abs. 3 GG)“ (585). Schon in dieser Dissertation erfolgt „[d]ie nähere Eingrenzung des Willkürbegriffs […] durch Aussagen, die ein Vierteljahrhundert später in der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts übernommen werden“ (584). Als von ähnlicher Bedeutsamkeit und Tragweite hat sich der Entwurf erwiesen, den Leibholz von den Grundzügen der Repräsentation in der Demokrate schon in seiner Habilita2 In seinem Portrait Carlo Schmids (485 – 505) erinnert Michael Kilian zu Recht daran, daß „Schmid im Herbst 1946 den Verfassungsentwurf des Landes Baden-Württemberg aus[arbeitet], worin sich erstmals das Instrument eines ,konstruktiven Mißtrauensvotums‘ befand“ (489).

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tionsschrift und in thematisch entsprechenden Stellungnahmen noch in vor-nationalsozialistischer Zeit präsentiert hat (vgl. 585 – 587). In einem komplexen Wechselspiel von systematischen Konzepten, zeitgeschichtlicher Kritik, Selbstkritik und Repristination hat Leibholz immer wieder richtungweisende repräsentationstheoretische und normativ-rechtliche Auffassungen vertreten (vgl. ebd.). Nachdem seine Kritik an dem „defizienten Modus der Repräsentation durch einen starken Einfluss der Parteien“ (586) während der Weimarer Verhältnisse irrtümlich „an einem idealistischen Repräsentationsbegriff orientiert“ (587) war, „[schloß Leibholz] [a]us der Konstitutionalisierung der politischen Parteien durch Art. 21 GG […], dass die Abgeordneten verfassungsrechtlich gesehen in einem unauflöslichen Abhängigkeitsverhältnis zu der Partei stehen, für die sie angetreten sind“ (587 – 588).3 „Leibholz kommt freilich das Verdienst zu, die Funktion der politischen Parteien im demokratischen Staat als unverzichtbar beschrieben zu haben, da sie das Volk erst politisch handlungsfähig machen“ (589). Während seiner zwanzig Jahre währenden Tätigkeit als Richter am Bundesverfassungsgericht hat er sich vor allem von zwei Grundauffassungen leiten lassen – daß „die Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit […] die Normativität der Verfassung sichert“ (ebd.) und „das Gericht aus der Abhängigkeit vom Bundesjustizministerium löst, also der Justizverwaltung entzieht“ (590). Hans Meyer verwebt in kunstvoller Weise – anders als die allermeisten anderen Autoren – Leben, Werk und Wirkung von Ernst Friesenhahn (593 – 606). In einer auch den Zaungast der Rechtswissenschaft außerordentlich beeindruckenden Form läßt er das imponierende Bild eines „begnadete[n] Hochschullehrer[s]“ von ungewöhnlicher „Offenheit und Genauigkeit in der Argumentation, […] konzeptionelle [r] Kraft […] und Ausstrahlung seiner Persönlichkeit“ (593) sowie „,eines scharfsinnigen Denkers‘“ (595 – 596 [Lammers/Simon]) lebendig werden, der nach dem „irreführend ,Röhm-Putsch‘ genannte[n] ,Hitler-Putsch‘ am 30. Juli 1934, […] bestimmte […], das noch nicht erfüllte Aufnahmegesuch [in die NSDAP] mit dem ebenso waghalsigen wie schlitzohrigen Argument zurückzuziehen, er fühle sich den hohen Anforderungen, die der Führer an die Mitgliedschaft stelle, nicht gewachsen“ (596). Die Folge waren die „früh gestoppten Rufversuche aus Heidelberg, Halle, Köln und München“ (ebd.). Das gut dotierte Angebot von Carl Schmitt, „die Haupt3 Vgl. jedoch die grundsätzliche Kritik an Leibholz’ Konzeption parteigebundener Repräsentation durch Wilhem Hennis, Meinungsforschung und repräsentative Demokratie, in: ders., Politik als praktische Wissenschaft. Aufsätze zur politischen Theorie und Regierungslehre, München 1968: S. 125 – 161: alle „[…] von Leibholz beschriebenen Wandlungen des Abgeordnetenstatus, der parlamentarischen Verhandlungen, der Parteien etc. [bedeuten] für die Lage der Staatsform, das ist das parlamentarische Regierungssystem, wie das englische Beispiel zeigt, relativ wenig. Von der Staatsform ist bei Leibholz aber nie die Rede, nur von den Wandlungen der ,Repräsentation‘, des ,Parlamentarismus‘ und der ,Demokratie‘ – außerhalb der Staatsform abstrakten Begriffen. […] Nur Leibholz’ Fixierung auf das ,Repräsentationssystem‘ einerseits, die Ignorierung des ,Regierungssystems‘ andererseits kann seine Position […] verständlich machen“, S. 151100. Zu einer analogen, die konkrete geschichtliche Staatsform als Kriterium fruchtbar machenden Argumentation vgl. Ernst Friesenhahns scharfsinnige Verteidigung der Feststellung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts 1953 über das Erlöschen der Beamtenrechte am 8. 5. 1945, unten S. 4 f.

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schriftleitung der deutschen Juristenzeitung […], die er gleichgeschaltet hatte, […] lehnte [Friesenhahn] […] trotz seiner prekären finanziellen Lage ab“ (596 – 597). „Die ,Reichskristallnacht‘ 1938 war der entscheidende Anlaß für Friesenhahn, die Stelle [als Dozent an der Bonner Fakultät] und damit die Lehre des Staats- und Verfassungsrechts aufzugeben, und in das Anwaltfach zu flüchten“ (598). „Mit 45 Jahren [1946] wurde Friesenhahn endlich ordentlicher Professor für öffentliches Recht in Bonn, wo […] [er] [n]eben der Aufbauarbeit als Dekan und stärker noch 1950 – 51 als Rektor […] intensiver, als bekannt ist, in die staatliche Aufbauarbeit einbezogen [war]“ (ebd.). Die auf der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer 1954 scharf kritisierte, gegen das Urteil des Bundesgerichtshofs 1953 gerichtete Feststellung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts über das Erlöschen der Beamtenrechte am 8. 5. 1945 verteidigt er mit dem scharfsinnigen Argument: „,Jedenfalls dürfte darüber Übereinstimmung herrschen, dass das Berufsbeamtentum eine tragende Einrichtung des modernen Staats ist. Daher wäre wohl eher der Schluss gerechtfertigt, dass dies Berufsbeamtentum von Staatskrisen nicht unberührt bleiben kann‘“ (603, Friesenhahns Hervorhebung). Zwölf Jahre lang war Friesenhahn Mitglied des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts: „Wie sehr man sich im Senat […] auf ihn verließ, zeigte die Mahnung des Richters Geiger an seine Mitarbeiter nach Friesenhahns Ausscheiden: ,Jetzt müssen wir auf Alles selber aufpassen‘“ (600). „Stärker in die Öffentlichkeit trat er, als er 1962 Präsident des Deutschen Juristentages wurde“ (ebd.). „Friesenhahns Werk umfasst mit an die 100 Titeln ein breites Panorama“ (604), „trotz der Hindernisse in seinem Lebenslauf eine Fülle von Einzelstudien zum weiten Feld des Verfassungs-, Staats- und Verwaltungsrechts […], die alle durch Präzision und konzeptionelle Überzeugungskraft bestechen und bei aller konservativen Grundstimmung einen progressiven und oft mit herrschenden Meinungen ins Gericht gehenden Charakter haben: ein Mensch des 20. Jahrhunderts […], der für seine Profession ein Vorbild war“ (606). Hans Hugo Klein überspielt in seinem Portrait von Ernst Forsthoff (609 – 627) nicht den Umstand, daß Forsthoff vor und wenige Jahre nach dem Ende der Weimarer Republik Wechselbäder seiner verfassungsrechtlichen und -politischen Auffassungen und Beurteilungen durchmachte: „Er fürchtete um seine [des Staates] Fähigkeit zur Durchsetzung des Gemeinwohls gegenüber gesellschaftlichen Partikularismen und Interessen“ (615). Anfangs von falschen Hoffnungen „auf einen starken, seinen Primat über die Gesellschaft behauptenden Staat“ getragen, ließ er sie als noch „überzeugter Nationalsozialist“ in die nicht weniger falsche Hoffnung münden, „gegenüber der von regelloser Dynamik beherrschten ,Bewegung‘ die Form berechenbarer staatlicher Ordnung zu behaupten“, bevor er „resignierte […] vor der inzwischen auch gesetzlich verfügten Einheit von Partei und Staat […] und sich für ihn durch die Errichtung der souveränen Diktatus des ,Führers‘ die Verfassungsfrage ,erledigt‘ hatte“ (612). Danach wandte er sich „vorrangig dem Verwaltungsrecht zu, dessen überkommene Technik nach seiner Meinung gegenüber der sozialgestaltenden Verwaltung versagte“ (613). Mit seiner Schrift „Die Verwaltung als Leistungsträger“ (1938) gelang Forsthoff „der zentrale, ja bis heute entscheidende Schritt, der über

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die verwaltungsrechtlichen Systeme des Spätkonstitutionalismus hinausführte“ (613 [Seidel]) und „eine der juristischen Methode verpflichtete […] Erschließung der Wirklichkeit der sich auch privatrechtlicher Mittel bedienenden Leistungsverwaltung (,Daseinsvorsorge‘) und deren rechtliche Domestizierung“ (ebd.) eröffnete. „Im Blick auf die unaufhebbare existentielle Abhängigkeit des einzelnen von staatlichen Leistungen […] forderte er eine staatliche Risikohaftung für deren Ausfall“ (ebd.). „Es war […] der juristische Sinn des Begriffs Daseinsvorsorge, der Teilhabe an den Leistungen der Verwaltung den Schutz des öffentlichen Rechts zu verleihen“ (613 – 614). Mit der „Veröffentlichung seines ,Lehrbuchs des Verwaltungsrechts‘ 1950 […] sicherte er sich [mit einem Schlag] […] den ersten Rang in der deutschen Verwaltungswissenschaft“ (614). „Beispielhaft wusste Forsthoff nach dem Urteil Peter Baduras ,soziologische Analyse und juristische Dogmatik‘ zu verbinden“ (616). Auch seine häufig kontroversen Stellungnahmen zu verfassungsrechtlichen Fragen zielten daher stets darauf, „wie im Verwaltungsrecht […] dem Staatsrecht und der Verfassungstheorie die der sozialen Wirklichkeit entsprechende Form zu geben“ (618). Aus dieser sozialen Wirklichkeit kam für Forsthoff auch die „Herausforderung des Staates der Gegenwart“ durch die „technische Realisation“ (624 [Forsthoff]). „Daran müsse sich der Staat bewähren, und dazu bedürfe er, weil die Technik selbst ein Machtphänomen sei, ,selbst der gleichen, wenn nicht einer überlegenen Macht‘ [Forsthoff]“ (ebd). „Forsthoff denkt an Gefährdungen der Umwelt und daran, dass die Technik ,möglicherweise in absehbarer Zukunft nach den Ergebnissen der genetischen Forschung den Menschen selbst verändert‘ [Forsthoff]“ (ebd). Mit dieser überaus hellsichtigen Prognose, durch die einer der bedeutendsten deutschen Juristen der Nachkriegszeit in unsere unmittelbare Gegenwart führt, könnte der Berichterstatter seine Anzeige dieses überaus wichtigen Werks einer personalisierten staats- und verfassungsrechtlichen Selbstvergewisserung abschließen. Er möchte hoffen dürfen, zur Aufmerksamkeit auf die Fülle der hier auszublendenden Blickfänge beizutragen, die in diesem Werk dieser unverzichtbaren rechtsgeschichtlichen Selbstvergewisserung dienen. In seiner Eigenschaft als Fachvertreter der Philosophie mag es ihm indessen erlaubt sein, einem immer wieder naheliegenden strukturellen Irrtum über das auch von Forsthoff apostrophierte Machtphänomen Technik vorzubeugen. Denn die Technik ist in ihrem innersten Strukturkern weder der sichtbare Komplex aus materiellen Trägern von fast hyper-komplexen Prozessen und Funktionen – Heideggers vielzitiertes Gestell – noch dies fast hyper-komplexe Prozeß- und Funktionsgefüge selbst. Ihren Strukturkern bildet vielmehr das spezifisch technische Wissen, das für die Erfindungen, Entwürfe, Konstruktionen und die Beherrschung dieser Funktionen, Prozesse und materiellen Träger spezifische Know-how der entsprechend begabten und ausgebildeten Personen.4 Es wird daher ein strukturell bedingtes Dauerdilemma der rechtlichen Gestaltung der technischen Entwicklung bleiben, daß wahrscheinliche Gefährdungen, wie sie von allem techni4 Zur Struktur dieser spezifisch technischen Wissensform vgl. vom Verfasser: Dimensionen des Kausalwissens, in: ders., Authentisches Wissen. Prolegomena zur Erkenntnistheorie in praktischer Hinsicht, Göttingen 2005: bes. S. 307 – 376.

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schen Know-how ausgehen können, mit rechtlichen Mitteln nicht nur immer erst dann gesteuert werden können, wenn solche Gefährdungen in Form von mehr oder weniger gravierenden Pannen oder Unfällen oder von Katastrophen manifest geworden und so ins kollektive Bewußtsein der Rechtsgenossen eines Gemeinwesens eingedrungen sind, daß die Bereitschaft zur rechtlichen Hegung einer schon verfügbaren Technik stark genug ist. Sogar eine möglichst gute Hegung der Technik hängt ihrerseits wiederum von den niemals strikt planbaren Fortschritten im Erwerb und im entsprechend guten Gebrauch des entsprechenden technischen Optimierungs-know-how ab. Die rechtlichen Probleme, die Forsthoff den Staats- und den Verfassungsrechtlern unter dem Namen der Industriegesellschaft so eindrucksvoll ins Bewußtsein gerufen hat, betreffen daher im Kern die Möglichkeiten und die Grenzen der rechtlich gehegten Planung und Steuerung des Erwerbs und des Gebrauchs des technischen Know-how. In Peter Häberles Porträt Konrad Hesses (893 – 906) wird ein Gesichtspunkt zum leitenden Aspekt der Würdigung, der zu guter Letzt die Beachtung um seiner selbst willen verdient. Dieser für die wissenschaftssystematische Selbstvergewisserung der Rechtswissenschaft zentrale Leitaspekt klingt sogleich indirekt an, wenn Häberle mit Blick auf Hesses Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland von 1969 betont, „wie sehr dieses Buch zur politischen Kultur unserer Republik gehört“(893), so daß sie „[…] fast so etwas wie Bestandteil der ,Verfassungskultur‘ der Bundesrepublik Deutschlands geworden [sind]“ (900). Dies besondere Potential nicht nur von Hesses Grundzügen, ein wesentlichen Ingredienz der politischen und speziell verfassungspolitischen Kultur der Bundesrepublik geworden zusein, wird von Häberle zu Recht nicht primär an formalen Indikatoren wie denen abgelesen, „welche Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft das Werk Hesses diskutierten, rezipierten oder verwarfen“ (898). Wichtiger ist die mehrfach hervorgehobene „magische Formel“ (899) von der „praktische[n] Konkordanz“ (895, 896, 899), die Hesses zentrale rechtswissenschaftliche Methodenmaxime zusammenfaßt: „Die enge Verbindung von verfassungstheoretischer Grundsatzarbeit und Orienterung an der Praxis des BVerG“ (899). Seine berühmte Formel von der „Offenheit der Verfassung“ (894) macht sogar, wie der Berichterstatter hinzufügen darf, auf das systematische Janus-Gesicht dieser Praxis-Orientierung aufmerksam. Denn diese Offenheit, die sogar „[…] ein Prädikat der Verfassung geworden [ist]“ (ebd.), bringt gerade in praktischer Hinsicht eine strukturelle Ambivalenz mit sich: Durch ihre rechtssystematische Anlage ist sie einerseits offen dafür, gravierende praktische Erfordernisse vor allem der politischen Alltagspraxis ihres Geltungsbereichs durch normative Reformen oder Neuerungen zu respektieren, und macht damit andererseits wiederum die entsprechenden normativen Interventionen in diese Praxis selbst möglich. In den Horizont von Hesses Methodenmaxime der praktischen Konkordanz gehört daher ebenso seine gelegentliche Warnung „vor einer Überschätzung abstrakter Methodendiskussionen“ und sein Verweis „auf den ,guten Juristen‘“ (900). Hier darf der Berichterstatter in seiner Eigenschaft als Fachvertreter der Philosophie noch einmal ausnahmsweise daran erinnern, daß Hesses Kultivierung dieser Methodenmaxime

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einen eindeutigen Hinweis auf den Umstand bildet, daß sein methodologisches Selbstverständnis in die seit dem 19. Jahrhundert allmählich immer blasser gewordene, aber gleichwohl Jahrhunderte alte wissenschaftsystematische Tradition gehört, die Rechtswissenschaft gemeinsam vor allem mit der Medizin und der Politikwissenschaft als praktische Wissenschaft zu pflegen. Es ist daher kein Zufall, daß sich Wilhelm Hennis – nicht nur Hesses ehemaliger juristischer (!) Göttinger Studienkollege, sondern auch ebenso Schüler von Rudolf Smend und später Hesses langjähriger Freiburger politikwissenschaftlicher (!) Kollege – von Anfang an in derselben wissenschaftssystematischen Tradition orientiert hat: In dieser Tradition arbeitet man „[…] auf dem Boden eines Wissenschaftsbegriffs, für den die Praxis wissenschaftswürdig und -fähig bleibt“,5 und nicht „im Schattenreich der Methodologie“.6 Die von Häberle wiederholt zitierte Methodenmaxime Hellers von der praktischen Konkordanz ist vor diesem Hintergrund viel mehr als eine wohlfeil zitable Formel aus dem Fundus eines der bedeutendsten deutschenVerfassungsrechtler der Bundesrepublik Deutschland – sie ist das unscheinbare Schibboleth der bedeutsamsten Tradition methodologischer Selbstvergewisserung der Rechtswissenschaft.

5 Wilhelm Hennis, Politik als praktische Wissenschaft. Aufsätze zur politischen Theorie und Regierungslehre, München 1968, S. 85. 6 S. 9.

II. Aufsätze

Abhängigkeit und Anerkennung Rousseaus Beitrag zu einer zeitgenössischen Republikanismustheorie Von Martin Correll Abstract Im vorliegenden Beitrag soll dafür argumentiert werden, dass die Grundfrage des republikanischen Denkens, nämlich wie die Abhängigkeit von der Willkür anderer vermieden werden kann, am prägnantesten von Jean-Jacques Rousseau formuliert wurde. Der Genfer liefert im „Zweiten Diskurs“ eine psychologisch-philosophische Genese gesellschaftlicher Anerkennungsstrukturen, die seiner Ansicht nach zur Korrumpierung der Menschen führt. Die politische Lösung dieser Problematik besteht in seinem Versuch im „Contrat Social“, die personale Abhängigkeit der Menschen im degenerierten Naturzustand in eine allgemeine Form der bürgerschaftlichen Anerkennung zu überführen, die sich auf eine gesetzesbasierte Gleichheitsordnung stützt. Damit bietet Rousseau neueren Republikanismustheorien eine Argumentationsfigur, um ihre Idee der Freiheit vorherrschenden liberalen Vorstellungen fundiert entgegenstellen zu können.

I. Republikanismus und Abhängigkeit Spätestens seit Philip Pettits einflussreichem Werk „Republicanism – ATheory of Freedom and Government“ von 1997 sind republikanische Politiktheorien wieder in aller Munde. Die akademische Beschäftigung mit Pettit, aber auch anderen Republikanern wie Quentin Skinner oder Maurizio Viroli führt bis heute zu umfangreicher englisch- und deutschsprachiger Forschungsliteratur.1 Häufig richten sich die republikanischen Ideen dabei gegen das liberale Paradigma, dessen normatives Potenzial, zu einer gerechten Gesellschaftsordnung beizutragen, bezweifelt wird. Besonders der liberale Freiheitsbegriff – von Pettit als Abwesenheit von Eingriffen definiert – steht im Mittelpunkt der republikanischen Kritik. Für Pettit ist dieser nicht in der Lage, die positiven Charakteristika von Freiheit angemessen zu erfassen.2 Auch Viroli sieht darin den entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Denkströmungen: „Die klassische republikanische Interpretation politischer Freiheit hat eine umfassendere emanzipatorische Bedeutung als die liberalen Interpretationen. Der Liberalismus zielt dar1

Vgl. beispielsweise Skinner, 1998; Viroli, 2002; Phillips, 2000; Boyer, 2001; Brown, 2001; Ferejohn, 2001; Rattan, 2001; Markell, 2008; Laborde/Maynor, 2008; Celikates, 2010; Hölzing, 2014. 2 Vgl. Pettit, 1997: 9.

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Martin Correll auf ab, die Individuen vor Eingriffen zu schützen, d. h. vor Aktionen, die ihre Handlungsfreiheit bedrohen; der Republikanismus dagegen will die Individuen grundsätzlich aus Abhängigkeit befreien.“3

Dennoch erscheint der Begriff der Abhängigkeit im Republikanismus merkwürdig unterkomplex. Mit der Orientierung am prototypischen Abhängigkeitsverhältnis – der Herr-Knecht-Beziehung – kann Pettit zwar angemessen illustrieren, wie offensichtliche Abhängigkeit freiheitseinschränkend wirkt,4 ist aber nicht in der Lage, subtilere, psychologisch bedingte Abhängigkeitsformen, die häufig politische Konsequenzen nach sich ziehen, in den Blick zu nehmen. Obwohl ihm auch aufgrund der durch ein Herrschaftsverhältnis entstehenden psychischen Korrumpierung der Beherrschten daran gelegen ist, republikanische Freiheit zu erreichen,5 gelingt es ihm nicht, ein überzeugendes Argument für die tiefergehende Unabhängigkeit der Mitglieder einer Republik vorzulegen. Hier setzt nun die Beschäftigung mit der politischen Philosophie Jean-Jacques Rousseaus an. In der kombinierten Interpretation des „Diskurs über die Ungleichheit“ und des „Gesellschaftsvertrag“ lässt sich eine narrativ aufgebaute Argumentation herausarbeiten, die gesellschaftlich-psychologische Abhängigkeitsstrukturen diagnostiziert, deren destruktive politische Wirkung erkennt und einen konstruktiven Vorschlag zur Substituierung von personaler Abhängigkeit macht. In Verbindung mit Erkenntnissen aus der Anerkennungstheorie wird das Konzept eines politischen Anerkennungsraumes plausibilisiert, dessen theoretische Konstitution elementarer Bestandteil freiheitsbezogener republikanischer Überlegungen werden müsste. Der Beitrag ist folgendermaßen aufgebaut: Zunächst wird der Freiheitsbegriff des Republikanismus in der Version von Philip Pettit kritisch skizziert, um dessen mangelnde Komplexität hinsichtlich möglicher Abhängigkeitsverhältnisse zu demonstrieren. Dann soll mit Hilfe der Verfallsgeschichte im „Zweiten Diskurs“ gezeigt werden, dass Rousseau besonders die personale Abhängigkeit von der Willkür anderer als ein Freiheitshindernis sieht, aus dem alle möglichen Ungerechtigkeiten erwachsen. Anschließend soll dafür argumentiert werden, dass sich im „Contrat Social“ ein politischer Lösungsansatz findet, in dem die Abhängigkeit von Einzelnen durch die Abhängigkeit vom Gemeinwesen ersetzt und somit ein „Raum“ geschaffen wird, in dem Freiheit durch gleiche Partizipation und wechselseitige Anerkennung im Souverän gesichert wird. In der Konsequenz, so die abschließend zu begründende These, können republikanische Freiheitskonzeptionen mit dieser Rechtfertigungsfigur ergänzt werden, um mit einem substanzielleren Begriff von Freiheit liberalen Vorstellungen argumentativ gefestigt entgegentreten zu können.

3

Viroli, 2002: 14. Vgl. Pettit, 1997: 31. 5 Vgl. Pettit, 1997: 85 ff. 4

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II. Das Verhältnis von Freiheit, Abhängigkeit und Anerkennung bei Pettit und Rousseau 1. Freiheit als Nichtbeherrschung – Philip Pettits Republikanismus Der republikanische Gedanke, der in der politischen Theorie beinahe schon aus der Mode gekommen war, wurde in den letzten beiden Jahrzehnten von einigen Theoretiker/innen wiederbelebt. Besondere Wirkung hat dabei Philip Pettit mit seinem erstmals 1997 erschienenen Buch „Republicanism – A Theory of Freedom and Government“ und weiteren Beiträgen hervorgerufen. Darin beruft sich Pettit immer wieder auf eine ideengeschichtliche Traditionslinie mit so prominenten Namen wie Cicero, Machiavelli, Harrington, Montesquieu oder Tocqueville.6 Rousseau findet in „Republicanism“ jedoch kaum Erwähnung. Pettit identifiziert Rousseau vielmehr mit einer von ihm als „populist tradition“ bezeichneten Strömung, die eine radikale Volksherrschaft befürworte, nicht aber die Idee der republikanischen Freiheit vertrete.7 Diese Ansicht revidiert Pettit jedoch teilweise in einer späteren Publikation. In „Two Republican Traditions“ aus dem Jahr 2013 hält er Rousseau, den er zusammen mit Kant in der sogenannten „Franco-German tradition of republicanism“8 verortet, nun doch für einen Vertreter der republikanischen Freiheitsidee der Nichtbeherrschung. Pettit erkennt hier Rousseaus Anliegen, die personale Abhängigkeit des Einzelnen von der Willkür anderer zu minimieren, als wesentlichen Bestandteil dieser Idee an und konstatiert explizit, dass die gleiche Freiheit für alle Bürger für Rousseau zentral ist.9 Die Abweichung von der von Pettit favorisierten „Italian-Atlantic tradition“10 vollzieht sich demnach auf andere Art und Weise. Rousseau lehnt laut Pettit erstens die republikanische Idee eines gemischten Souveräns ab. Da die Souveränität nur beim Volk liege und aus Gründen der Wirksamkeit politischer Entscheidungen nicht geteilt oder übertragen werden dürfe, müsse ein gemeinsamer Moral- und Kollektivkörper entstehen, dessen Gesetzgebungskompetenz absolut ist.11 Für Pettit gibt Rousseau damit die Vorstellung des „italienisch-atlantischen“ Republikanismus auf, der zufolge staatliche Souveränität auf verschiedene Organe verteilt werden müsse, um eine zu starke Machtkonzentration zu verhindern, und wendet sich der bereits erwähnten populistischen Tradition zu: „[W]hile Rousseau may have preserved the republican idea of freedom as nondomination, he totally betrayed the earlier tradition in espousing the idea of popular sovereignty.“12 6

Vgl. Pettit, 1997: 19; Pettit 2009: 12; Pettit, 2015: 36 – 44. Vgl. Pettit, 1997: 19. 8 Pettit, 2013: 169. 9 Vgl. Pettit, 2013: 177 ff. 10 Pettit, 2013: 169. 11 Vgl. Pettit, 2013: 185 f. 12 Pettit, 2013: 187. 7

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Die zweite elementare Abweichung von der „italienisch-atlantischen“ Traditionslinie besteht laut Pettit in der Rousseauschen Behandlung der Bürgerschaft. Anstatt als Hüter und Wahrer der republikanischen Verfassung zu fungieren, indem Gesetze kritisch überprüft und gegebenenfalls angefochten würden, werde der einzelne Bürger bei Rousseau in den Gesetzgebungsprozess inkorporiert und verliere seine kritische Distanz zu dessen Produkt. Pettit schreibt: „Rousseau’s citizens are law-makers, not law-checkers, generators of law, not testers of law. They serve in the production of public decisions, not in controlling for the quality of those decisions.“13 Dadurch entstehe Pettit zufolge eine absolute legislative Autorität, deren Entscheidungen unbedingte Gültigkeit besäßen. Der Souverän könne so nicht ungerecht gegenüber den einzelnen Bürgern handeln, da deren Willen in ihm verkörpert werde.14 Für Pettit repräsentiert diese Überlegung in der Konsequenz ein kommunitaristisches Ideal der Gemeinschaft, das zwar universalistisch ausgelegt sei, aber keine institutionalisierten Ausdrucksmöglichkeiten zum Dissens vorsehe. Eine ähnliche Einschätzung vertritt Pettit auch in seiner neuesten Publikation zu dem Thema. In „Gerechte Freiheit – Ein moralischer Kompass für eine komplexe Welt“ von 2015 behandelt er Rousseau zwar nur am Rande, betont aber dessen kommunitaristische Variante des Republikanismus, wenn er schreibt, dass bei Rousseau „die Gemeinschaft, die durch die Versammlung der Bürger verkörpert wird, als Verteidiger der Freiheit der Menschen gegen andere“15 konzipiert werde. In all diesen Publikationen setzt sich Pettit jedoch nicht detailliert mit dem Freiheitsbegriff Rousseaus auseinander und verpasst so die Chance, wesentliche Ergänzungen zu seiner eigenen Theorie in Betracht zu ziehen. Oder, um es mit Pettits Worten zu sagen: Der Beitrag, den die „franko-deutsche“ zur argumentativen Ergänzung der „italienisch-atlantischen“ Traditionslinie des Republikanismus leisten könnte, spielt hier keine Rolle. Deswegen soll im Folgenden gezeigt werden, welche Elemente Pettits Freiheitsbegriff enthält, bevor diese mit der Rousseauschen Argumentation verglichen werden können. In Pettits Freiheitsbegriff lassen sich zwei Dimensionen erkennen, die ein besseres Verständnis seiner Reichweite und seines Wirkungsgrad eröffnen. Zum einen scheint seine Idee von Freiheit einer universellen Logik zu folgen und allgemeine Gültigkeit zu beanspruchen, zum anderen entwirft er eine engere Konzeption des politischen Republikanismus, dessen partikulare Institutionen die Abwesenheit von illegitimer Herrschaft sichern sollen. Die universalistische Freiheitskonzeption entwickelt Pettit in der Beschäftigung mit Isaiah Berlins Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit. Anstelle der positiven Freiheit, für welche die politischen Partizipationsmöglichkeiten für alle Vollbürger im Mittelpunkt stehen, und der negativen Freiheit, die sich an der Abwesenheit staatlicher Eingriffe in die natürlichen Rechte der Bürger/innen orientiert, 13

Pettit, 2013: 194. Vgl. Pettit, 2013: 193 f. 15 Pettit, 2015: 44. 14

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versucht Pettit eine dritte Konzeption zu etablieren, die von ihm „liberty as non-domination“, also „Freiheit als Nichtbeherrschung“ genannt wird.16 Diese ist grundsätzlich negativ, da sie auf der Abwesenheit von illegitimer Herrschaft beruht, auch wenn einige positive Elemente – wie die Gesetzesherrschaft und das Gemeinwohl – dazugehören.17 Pettit grenzt diese Konzeption wiederum von einer liberalen ab, die als größtes Problem den tatsächlichen Eingriff einer fremden Macht in die Handlungssphäre des Individuums identifiziere. Vielmehr sei es, so Pettit, die Möglichkeit des willkürlichen Eingriffes, die Freiheit verhindert, auch wenn dieser Eingriff nie tatsächlich passieren sollte.18 Illustriert wird diese Argumentation durch das klassische Beispiel der Beziehung zwischen Herr und Sklave. Pettit zufolge kann einerseits illegitime Herrschaft bestehen, ohne dass damit notwendigerweise Eingriffe in die unmittelbare Handlungsfreiheit der Beherrschten verbunden sein müssen. Der wohlwollende oder desinteressierte Herr, der seinem Sklaven vollkommen freie Hand lässt, übe demnach durchaus Herrschaft aus, da die Möglichkeit zur willkürlichen Veränderung seiner Position ständig gegeben ist.19 Quentin Skinner, der in dieser Hinsicht mit Pettit einer Meinung ist, drückt dieses Verhältnis folgendermaßen aus: „[I]t is the mere possibility of your being subjected with impunity to arbitrary coercion, not the fact of your being coerced, that takes away the liberty and reduces you to the condition of a slave.“20 Andererseits betont Pettit, dass nicht jeder Eingriff gleichermaßen freiheitseinschränkende Effekte hervorbringen muss. Anhand der Theorie von Thomas Hobbes verdeutlicht er, was damit gemeint ist: Für Hobbes stelle jeder Eingriff, ob aufgrund von Gesetzen oder persönlicher Macht eine Behinderung der eigenen Bewegungsfreiheit, die Hobbes durchaus physisch versteht, dar und wirke somit einschränkend auf die natürliche Freiheit des Individuums.21 Im Gegensatz dazu stellt für Pettit beispielsweise ein rechtmäßig zustande gekommenes Gesetz, das auf dem Gemeinwohl basiert, eine problemlos mit der Freiheit der Einzelnen zu vereinbarende Intervention dar.22 Die Kriterien, die Pettit für diese Rechtmäßigkeit aufstellt, bleiben jedoch recht vage: „[I]nterference occurs without any loss of liberty when the interference is not arbitrary and does not represent a form of domination; when it is controlled by the interest and opinions of those affected, being required to serve those interests in a way that conforms with those opinions.“23 In der Folge wird zu zeigen sein, dass die theoretische Operationalisierung und die praktische Institutionalisierung der hier beschriebenen „Kontrolle durch die Interessen und Meinungen“ hinter den Erfordernissen einer freiheitsorientierten politischen Theorie zurückbleiben. 16

Vgl. Pettit, 1997: 17 ff. Vgl. Pettit, 1997: 22 f. 18 Vgl. Pettit, 1997: 35. 19 Vgl. Pettit, 1997: 31. 20 Skinner, 1998: 72. 21 Vgl. Pettit, 1997: 37. 22 Vgl. Pettit, 1997: 35 f. 23 Pettit, 1997: 35. 17

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Festzuhalten bleibt aber zunächst einmal, dass republikanische Autor/innen in der universell angelegten Frage übereinstimmen, was das größte Hindernis für Freiheit ist: die Abhängigkeit von der Willkür eines oder mehrerer Anderer.24 Solange alleine die Möglichkeit einer willkürlichen Intervention in die Angelegenheiten der Einzelnen besteht, ähneln die politischen Beziehungen einer Herr-Sklave-Relation und es kann keine freien Bürger/innen geben. In den Worten von Pettit: „To enjoy non-domination is to be in a position where no one has that power of arbitrary interference over me and where I am correspondingly powerful.“25 2. Politische Institutionen und Demokratie In einer partikularen politischen Gesellschaft muss dieses Ideal durch konkrete institutionelle Ausgestaltungen realisiert werden. Für Pettit bedeutet das vor allem zweierlei: zum einen die verfassungsmäßige Grundsicherung einer Ordnung sowie bestimmter individueller Rechte und zum anderen die Möglichkeit für jede/n Bürger/in, politische Entscheidungen anfechten zu können.26 Ersteres kontrastiert Pettit mit der Alternative, reziprok-ausgeglichene Machtverhältnisse anzustreben, um illegitime Herrschaft zu verhindern. Dies stellt für ihn jedoch keinen gangbaren Weg dar, da für einen vollkommenen Schutz vor unzulässigen Hierarchien die Ressourcenverteilung entsprechend ausbalanciert sein müsste.27 Politische Freiheit wäre also von wirtschaftlicher Gleichheit abhängig: eine gleichsam sozialistische Version, die Pettit nicht gutheißen kann. Nur in der Verfassung, so Pettit, liegt die politische Kraft, mit der eine Sanktionsmacht ausgestattet werden kann, ohne damit die republikanischen Freiheitsbedingungen zu verletzen. Denn in der Festschreibung bestimmter legitimer Ansprüche äußert sich eine allgemeine, wechselseitige Anerkennung der Individuen als Personen – ein unverzichtbares Element von Freiheit als Abwesenheit von willkürlicher Herrschaft.28 Doch Pettit bleibt auch hier vage: wie später gezeigt werden wird, kann gelingende politische Anerkennung nicht alleine in der formal-rechtlichen Absicherung der Individualrechte bestehen, sondern bedarf der Ergänzung durch partizipative Mechanismen, mittels derer die Bürger/innen sich als Mitbürger/innen wahrnehmen und dementsprechend behandeln. Die Allgegenwärtigkeit der „rule of law“, wie sie Pettit propagiert,29 mag also zwar die formale Seite seiner politischen Freiheitskonzeption abdecken, greift aber sowohl in demokratischer als auch in politisch-psychologischer Hinsicht zu kurz, da informelle Abhängigkeitsverhältnisse, die außerhalb des Bereichs der Gesetze liegen, nicht gebührend berücksichtigt werden. 24

Vgl. beispielsweise Pettit, 2002: 341; Viroli, 2002: 14; Skinner, 1998: 69 f. Pettit, 1997: 69. 26 Vgl. Pettit, 1997: 63, 185. 27 Vgl. Pettit, 1997: 67. 28 Vgl. Pettit, 1997: 71. 29 Vgl. Pettit, 1997: 172 ff.

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Die zweite tragende Säule des Pettitschen Konstruktes bildet das Konzept der demokratischen Anfechtbarkeit („contestability“). Demokratie wird dabei von Pettit vor allem als Möglichkeit verstanden, politische Entscheidungen über verschiedene Kanäle permanent anfechten zu können.30 Er grenzt sich damit explizit von stärker partizipationsbezogenen Ansätzen ab, die in der gemeinsam ausgeübten, gesetzgebenden Souveränität den entscheidenden demokratischen Akt sehen. In der Ausgestaltung dieses Grundsatzes greift Pettit auf die Überlegungen deliberativer Demokratietheorien zurück: Über verschiedene Foren soll allen relevanten Gruppen Gehör verschafft werden sowie Interessensbildung und -verhandlung stattfinden. Um die Anfechtbarkeit zu gewährleisten, braucht es jedoch nicht nur Inklusivität und Responsivität der Institutionen, sondern auch eine öffentliche Kultur der Begründung, in der Entscheidungen und Maßnahmen durch potenziell für alle zugängliche Argumente gerechtfertigt werden.31 Dennoch scheint auch hier bei Pettit ein blinder Fleck hinsichtlich der Anerkennungserfordernisse innerhalb einer republikanischen Gemeinschaft zu bestehen: Eine in Gruppen fragmentierte Deliberation scheint gerade nicht die Anerkennungsbeziehungen zwischen den Bürger/innen zu liefern, die zur Aufrechterhaltung republikanischer Freiheit notwendig wäre. Denn die von Pettit selbst konstatierte Problematik der ungleichen Ressourcenverteilung kann sich in diesem kommunikativen Setting ungehindert auf die Machtrelationen auswirken, während die Fokussierung auf konkrete Partizipationsmechanismen die Hierarchisierung im öffentlichen Diskurs womöglich eindämmen könnte. So bleibt zusammenfassend festzuhalten, dass Pettit sowohl in seiner universellen philosophischen Begründung des republikanischen Freiheitsbegriffs, als auch in der partikularen Ausgestaltung der republikanischen Institutionen in einer Hinsicht unterkomplex argumentiert. Zwar wird Abhängigkeit von der Willkür anderer als größtes Übel identifiziert und demensprechend sollen politische Vorkehrungen getroffen werden, die diese verhindern oder minimieren. Als Lösung werden die Anerkennung aller als verfassungsmäßig geschützte Personen sowie die Möglichkeit der demokratischen Anfechtung politischer Entscheidungen angeboten. Aber die verschiedenen Formen, die Abhängigkeit annehmen kann, und die in der deliberativen Konstellation nicht adressiert werden, spielen bei ihm kaum eine Rolle. Besonders die Frage nach der Herstellung von reziproken Anerkennungsbeziehungen, die als unerlässlich für die Abwesenheit von personaler Willkürherrschaft erscheinen, wird von Pettit nur unzureichend beantwortet. Mit der Einbeziehung der Überlegungen von JeanJacques Rousseau soll im Folgenden versucht werden, diese Lücke der republikanischen Freiheitsbegründung zu schließen und somit den Beitrag Rousseaus zur zeitgenössischen Republikanismustheorie zu würdigen.

30 31

Vgl. Pettit, 1997: 185. Vgl. Pettit, 1997: 188 ff.

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3. Anerkennung durch Abhängigkeit: Rousseaus Vorschlag Rousseau liefert im „Diskurs über die Ungleichheit“ eine psychologisch-philosophische Genese gesellschaftlicher Anerkennungsstrukturen, die seiner Ansicht nach zur Korrumpierung der Menschen geführt hat. Die Geschichte ist bekannt: Ist der natürliche Mensch zunächst vollkommen unabhängig von den Anderen, führt dann eine multikausale Entwicklung im Zuge der Gesellschaftsbildung dazu, dass Unfreiheit und Ungleichheit entstehen. Dies liegt nun nicht in erster Linie an der Einrichtung des Eigentums, auch wenn Rousseaus kraftvolle Rhetorik am Beginn des zweiten Teils dies suggerieren mag: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.“32 So eindeutig dies zunächst klingen mag, kurz darauf relativiert Rousseau dies bereits wieder: „Aber mit großer Wahrscheinlichkeit waren die Dinge damals bereits an dem Punkt angelangt, an dem sie nicht mehr bleiben konnten, wie sie waren.“33 Um Missverständnissen vorzubeugen: Eigentum spielt natürlich auch eine Rolle im Verfallsprozess, aber die Problematik geht wesentlich tiefer, wie auch Frederick Neuhouser betont.34 Es ist die Entwicklung des bereits im Menschen angelegten „amour propre“, also der im Gegensatz zum „amour de soi-même“ problematischen Eigenliebe, die dafür sorgt, dass das Individuum nur in Abhängigkeit von Meinung, Ansehen und Status, den Andere einem zuschreiben, ein Gefühl der eigenen Existenz erlangen kann. Rousseau beschreibt diese beiden Gefühle in einer seiner Anmerkungen folgendermaßen: „Man darf die Eigenliebe [l’amour propre] und die Selbstliebe [l’amour de soi-même] nicht durcheinanderbringen – zwei Leidenschaften, die ihrer Natur und ihren Wirkungen nach sehr verschieden sind. Die Selbstliebe ist ein natürliches Gefühl, das jedes Tier dazu veranlasst, über seine eigene Erhaltung zu wachen, und das, im Menschen von der Vernunft geleitet und durch das Mitleid modifiziert, die Menschlichkeit und die Tugend hervorbringt. Die Eigenliebe ist nur ein relatives, künstliches und in der Gesellschaft entstandenes Gefühl, das jedes Individuum dazu veranlasst, sich selbst höher zu schätzen als jeden anderen, das den Menschen all die Übel eingibt, die sie sich wechselseitig antun, und das die wahrhafte Quelle der Ehre ist.“35

32

Rousseau, 2001: 173. Hervorhebung im Original. Rousseau, 2001: 173. 34 Vgl. Neuhouser, 2008b: 10 ff. Neuhouser sieht in der Entwicklung des „amour propre“ eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für den moralischen Verfall der Menschheit. Zum einen könne diese auch einen positiven Verlauf nehmen, zum anderen bildeten andere, nicht-psychologische Ereignisse technische Fortschritte oder eben die Entstehung des Privateigentums den Rahmen der Ungleichheitsdiagnose bei Rousseau. Gegensätzlich dazu Kersting, 2003c: 13, der eher materialistische Gründe als treibende Kräfte des Verfallsprozesses ausmacht. 35 Rousseau, 2001: 369. 33

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Während also die Selbstliebe eine Art natürlicher, auf die physische Existenz ausgerichteter Selbsterhaltungstrieb zu sein scheint,36 lässt sich die Eigenliebe immer nur im Kontext der Gesellschaft denken und zielt auf die soziale Existenz ab. Entscheidend dabei ist laut Neuhouser, dass es sich bei dem „amour propre“ um ein „positional good“ handele, also ein Gut, dessen Wertigkeit von der relativen Stellung des Besitzenden gegenüber anderen abhängt.37 Der Vergleich stellt also das wesentliche Instrument dar, mit dem das Individuum den eigenen Status determinieren kann. Neuhouser betont jedoch, dass dies nicht zwangsläufig im Verlangen der Einzelnen, eine höhere Position als Andere einzunehmen, enden müsse: „Wenn l’amour propre mich bloß nach der Achtung streben lässt, die mir als menschlichem Wesen zusteht – einer Achtung, die ich bereit bin, in gleichem Maße anderen zu zollen –, dann bestimmt sich die Stellung, die ich anstrebe, im Verhältnis zu Anderen, ist jedoch keine höhere Stellung. Mit anderen Worten: Auch eine gleiche Stellung einzunehmen bedeutet, eine Stellung relativ zu Anderen einzunehmen.“38

Die Eigenliebe, so Neuhouser weiter, stellt sich letztendlich als ambivalentes Konzept dar: Einerseits führe sie in ihrer negativen Form zur moralischen Korrumpierung der Gesellschaft, andererseits bilde sie jedoch auch die Basis für die menschliche Reflexionsfähigkeit und damit auch für die damit verbundene Vernunfttätigkeit, die einen essentiell dialogischen Charakter aufweist. Nicht nur komplexe kognitive Tätigkeiten wie die normative Bewertung von Handlungen, sondern auch die moralisch-emotionale Hinwendung zu Anderen durch Anerkennung, Wertschätzung und sogar Liebe und Freundschaft würden so erst ermöglicht.39 Nichtsdestotrotz scheint für Rousseau die negative Form des „amour propre“ Hauptursache für den von ihm diagnostizierten Verfall der Sitten und der Moral zu sein. Dies liegt nicht nur an dem von ihr geförderten Tatbestand der Beleidigung, der aus kleinen Streitereien permanente Konflikte macht, oder dem Versuch, den Anderen in Ansehen und Achtung überlegen zu sein und dem damit verbundenen Konkurrenzkampf, sondern auch in ihrer Tendenz, Laster hervorzubringen. Denn da, wie oben beschrieben, die Eigenliebe ein relationales Gut darstellt, könne ein Anerkennungsgewinn entweder durch die Erhöhung der eigenen Position oder aber durch die Abwertung der Position anderer gelingen.40 So entsteht eine Negativspirale der Anerkennungssucht, wie Rousseau illustriert: 36

Vgl. Fetscher, 1975: 31. Vgl. Neuhouser, 2008a: 901; Meier, 2001: LXVIIf. 38 Neuhouser, 2008a: 901. Hervorhebung im Original. 39 Vgl. Neuhouser, 2008b: 53. Auch Meier, 2001: LXVIII, ist der Ansicht, dass die neue Ausrichtung auf die Mitmenschen unterschiedliche Konsequenzen zeitigen kann: „Die Auswirkungen der Eigenliebe, der in der Logik der Soziabilität eine Schlüsselrolle zufällt, sind ebenso ambivalent, wie die Meinung ambivalent ist, an der sie sich orientiert, und die Einbildungskraft, durch die sie aktiviert wird. Ihre Energie kann in den Dienst der höchsten wie in den der niedrigsten Sache gestellt werden.“ 40 Vgl. Neuhouser, 2008a: 904 ff. 37

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Die Entstehung von menschlichen Lastern wäre für sich alleine vielleicht noch kein Grund, ein politisches Problem zu identifizieren. Rousseaus Fokus liegt dementsprechend vor allem auf dem Spannungsverhältnis, das sich zwischen natürlicher Freiheit und Abhängigkeit von der öffentlichen Meinung entwickelt. Neuhouser beschreibt dies folgendermaßen: „Rousseaus Gedanke ist, dass jemand, der das Bedürfnis nach Anerkennung hat, regelmäßig der Versuchung ausgesetzt ist, sich von den Werten und Vorlieben Anderer seine Handlungen diktieren zu lassen und somit seinen Willen an ihren Wünschen und Werten statt an den eigenen auszurichten. Genau das aber ist Rousseaus Definition der Sklaverei oder des Verlusts der Freiheit“.42 Für Rousseau stellt somit die Abhängigkeit von der Meinung anderer – oder wie Viroli schreibt, dass die Menschen „slaves to opinion“43 werden – das Grundproblem der Gesellschaft dar und nicht nur ein Laster oder eine Verirrung, die mit mehr oder weniger großen Anstrengungen abgelegt werden könnte. Im Gegenteil, die soziale Existenz des Individuums hängt von der Statuszuschreibung der Anderen ab: „Der Wilde lebt in sich selbst, der soziable Mensch weiß, immer außer sich, nur in der Meinung der anderen zu leben; und sozusagen aus ihrem Urteil allein bezieht er das Gefühl seiner eigenen Existenz.“44 Nicht zu Unrecht wird hier unter anderem von Charles Taylor auf die Ähnlichkeit dieser Diagnose zu zeitgenössischen Anerkennungstheorien hingewiesen.45 Besonders prominent im deutschsprachigen Raum hat dies Axel Honneth Anfang der 1990er Jahre formuliert. Dabei geht er von der mit entwicklungs- und sozialpsychologischen Erkenntnissen fundierten Prämisse aus, dass der Mensch nicht als ein sich selbst konstituierendes Individuum angesehen werden könne, sondern die Konstruktion von Selbstbild, Selbstbewusstsein und Handlungsautonomie des Subjekts vielmehr in einem sozialen Prozess stattfinde, der in erster Linie aus der Interaktion mit den als Anderen wahrgenommenen Mitmenschen bestehe. Wie man von anderen gesehen werde, welche Eigenschaften, Rechte und Besonderheiten diese einem zuschreiben, wirke sich demnach auf nicht zu unterschätzende Art und Weise auf die eigene Identität aus und konstituiere diese in ihrer Einzigartigkeit. Gleichzeitig bewirke die mangelnde Anerkennung durch Andere häufig nicht nur einen unzureichenden Rechtsstatus für Individuen oder Gruppen, sondern

41

Rousseau, 2001: 189. Neuhouser, 2008a: 907. 43 Viroli, 1988: 77. 44 Rousseau, 2001: 269. 45 Vgl. Taylor, 2009: 31 ff. 42

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könne auch zu gravierenden Störungen in der Persönlichkeitsbildung führen.46 Deutlich ist hier eine Parallele zum Rousseauschen Narrativ zu erkennen: Der im Vergleich aufkommende „amour propre“ ist gewissermaßen Reaktion auf die psychologische Grundtatsache der konstitutiven Abhängigkeit von der Statuszuschreibung anderer. Neuhouser drückt diese Abhängigkeit folgendermaßen aus: „Wenn, allgemein gesprochen, die Realität eines Wesens durch seine Fähigkeit, Wirkungen in der Welt hervorzurufen, angezeigt wird, dann kann die Anerkennung, die es durch Andere erfährt, besonders dann, wenn diese Anerkennung sich in deren Äußerungen und Handlungen niederschlägt, als etwas gelten, was dem Selbst ein Sein oder eine Realität spezifisch menschlicher Art verleiht: Anerkennung zu erwerben bedeutet, eine bestätigte Existenz für Andere als ein tatsächlich vorhandenes, Wirkungen erzeugendes Subjekt zu erlangen.“47

Wenn also die eigene soziale Existenz wesentlich auf die Bestätigung der individuellen Werthaftigkeit durch diejenigen, mit denen Zusammenleben gelingen soll, angewiesen ist, verwundert es nicht, wenn das Individuum die Disposition zur ungezügelten Anerkennungssucht entwickelt. Eine absolut verstandene Freiheit, die in der Unabhängigkeit von Anderen besteht, ist somit nicht mehr möglich. Obwohl Rousseau die skizzierte Freiheitsbedrohung der Entfremdung des Menschen von sich selbst und der Natur anlastet, scheint es angebracht, dies in der Anerkennungsbegrifflichkeit auszudrücken. Denn Entfremdung bedeutet für Rousseau im Wesentlichen die Abhängigkeit von der potenziell willkürlichen Anerkennungsgewährung anderer Menschen.48 Rousseau bietet im „Contrat Social“ einen Lösungsansatz an, der eine mögliche theoretische Legitimationsfigur für republikanische Überlegungen darstellt.49 Durch die vertragsmäßige Bildung des Souveräns entsteht ein politischer Körper, in dem die Abhängigkeit von der Anerkennung einzelner durch die Abhängigkeit von der gesamten Bürgerschaft ersetzt wird. Der Akt der gemeinsamen Gesetzgebung schafft einen politischen Raum, in dem alle (männlichen) Bürger eine doppelte Freiheit genießen: Zum einen besteht diese in der Abwesenheit von illegitimer Herrschaft, zum anderen in der Mitwirkung an der Gesetzgebung sowie gleichzeitig der vollständigen Unterwerfung unter das Gesetz. 46

Vgl. Honneth, 1994: 270 ff. Außerdem beschreibt Axel Honneth die zahlreichen Anerkennungsforderungen auf individueller und kollektiver Ebene als „Kampf um Anerkennung“, welcher die „moralische Grammatik sozialer Konflikte“ bildet. Gruppe und Individuen müssen demnach im Zuge einer gelingenden Autonomiebildung multidimensionale Kämpfe austragen, um die knappe Ressource Anerkennung in vielfältigen Formen zu erhalten. So kann laut Honneth nicht nur die Struktur sozialer Konflikte beschrieben, sondern auch ein dynamisches Geschichtsprinzip entwickelt werden, das dem moralischen Fortschritt moderner und postmoderner Gesellschaften zugrunde liegt. 47 Neuhouser, 2008a: 903. 48 Vgl. Rousseau, 2001: 207 f. 49 Wie bereits beschrieben, soll im Mittelpunkt dieses Beitrags der Rousseausche Freiheitsbegriff stehen. Selbstverständlich wäre die Anknüpfung an republikanische Elemente auch durch die Beschäftigung mit der Tugend als notwendiger Bedingung einer funktionierenden politischen Gemeinschaft möglich. Vgl. dazu Kersting, 2003c: 19 ff.

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Dass im „Contrat Social“ Freiheit eine zentrale Bedeutung annimmt, wird bereits durch den ersten, berühmten Satz des ersten Kapitels deutlich: „Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten.“50 Dabei geht es Rousseau bekanntlich nicht darum, diese Ketten zu sprengen, denn er fährt fort: „Manch einer glaubt, Herr über die anderen zu sein, und ist ein größerer Sklave als sie. Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann sie rechtmäßig machen? Ich glaube, daß ich dieses Problem lösen kann.“51 Eine Rückkehr zur natürlichen Unabhängigkeit ist nicht das Ziel, es geht vielmehr um die Bedingungen, durch die die sprichwörtlichen Ketten rechtmäßig werden.52 Um es weiterhin metaphorisch auszudrücken: Freiheit im Gesellschaftszustand scheint immer mit Ketten verbunden zu sein und nur deren Beschaffenheit kann somit Gegenstand der normativen Analyse sein. Rousseau beschreibt dies in Kapitel 8 deutlich: „[D]er Mensch verliert durch den Gesellschaftsvertrag seine natürliche Freiheit und ein unbegrenztes Recht auf alles, was ihn reizt und was er erreichen kann. Er gewinnt die bürgerliche Freiheit und das Eigentumsrecht auf alles, was er besitzt. Man darf sich bei diesem Tausch nicht verwirren lassen und muss genau zwischen der naturgegebenen Freiheit, die nur von den Kräften des Individuums begrenzt ist, und der bürgerlichen Freiheit unterscheiden, die durch den Allgemeinwillen begrenzt ist.“53

Wie sieht diese bürgerliche oder politische Freiheit nun aus? Wie oben beschrieben stellt die personale Abhängigkeit von der Meinung und damit der willkürlichen Status- und Identitätszuschreibung anderer, die durch das Verlangen nach Anerkennung entsteht, für Rousseau das fundamentale Problem der Gesellschaft dar. Diese Abhängigkeit lässt sich jedoch nicht einfach aufheben: Weder verschwindet das Verlangen nach Anerkennung in der politischen Gemeinschaft, noch ist dies innerhalb der Logik des politischen Entwurfs Rousseaus möglich. Denn wenn die Existenz des Menschen als individuelles Subjekt auf die dialogische Konstitution des Selbst angewiesen ist und ein Gesellschaftsvertrag zwischen Individuen geschlossen werden soll, müssen sich diese in einer reziproken Anerkennungsbeziehung zueinander befinden oder zumindest mit der Gründung in eine solche eintreten. Der Prozess der Vergemeinschaftung besteht deswegen nicht nur in der Errichtung funktionierender Institutionen, sondern auch und vor allem in der Etablierung stabiler Identitäten durch wechselseitige Anerkennung, wie Viroli erkennt: „In the natural state nobody could possibly give a reply to the question ,who are you?‘ but in society the answer is straightforward enough as also is the task of describing and identifying one’s fellow citizens. So it is that each member of society has the capacity to develop an awareness of his own personal identity. Nevertheless, to know who we are, we must also know what we are for others.“54 50

Rousseau, 1977: 61. Rousseau, 1977: 61. 52 Vgl. dazu auch Fetscher, 1975: 102 f. 53 Rousseau, 1977: 79. 54 Viroli, 1988: 86.

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Hinzu kommt, dass für Rousseau die Allgegenwärtigkeit des „amour propre“ eine unhintergehbare Tatsache des gesellschaftlichen Lebens darstellt. Sie kann in den meisten Fällen weder durch persönliche Tugendhaftigkeit oder institutionalisierte Grundrechte in Schach gehalten werden. Die soziale, statusbezogene Abhängigkeit von der Anerkennung anderer betrifft tieferliegende Strukturen und bleibt somit ein Problem, mit dem in der politischen Ordnung umgegangen werden muss. Rousseaus Vorschlag, dieses Problem zu lösen, könnte man folgendermaßen beschreiben: Die Phänomene der Anerkennungssucht und der Abhängigkeit müssen auf das Allgemeine ausgerichtet werden, um ihre negativen Folgen zu verhindern. So lautet die Formel des Gesellschaftsvertrags: „Jeder von uns unterstellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft der höchsten Leitung des Gemeinwillens und wir empfangen als Körper jedes Glied als unzertrennlichen Teil des Ganzen.“55 Dadurch entsteht laut Rousseau ein Moral- und Kollektivkörper, in dem Menschen gleichzeitig Bürger und Untertanen sind und eine Verpflichtung dem Ganzen gegenüber haben, von dem sie ein Teil sind.56 Teil eines Ganzen zu sein bedeutet hier zwar zunächst die vollständige Aufgabe der eigenen Rechte, wie Fetscher schreibt, damit ein Zustand anfänglicher Gleichheit gewahrt bleibt.57 Dies kommt jedoch der gesamten Gemeinschaft zu Gute und damit wieder jedem Einzelnen. Fetscher beschreibt dies als Tausch: „Als Glieder dieser Gemeinschaft erhalten wir von jedem anderen das zurück, was wir als Einzelne allen gegenüber aufgegeben haben.“58 Aber was genau ist es, das die Glieder zurückerhalten? Vordergründig mögen dies Rechte sein, die Person und Eigentum schützen, doch dahinter steht die generelle Anerkennung der Anderen als teilhabeberechtigte Bürger, also eine anspruchsvollere Version als die liberale Staatskonzeption.59 Denn jeder hat den Status eines Bürgers nur, wenn andere ihm diesen zuerkennen. Die Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen, die damit verbundenen Rechte und Pflichten, die Möglichkeit, konstitutiv auf die Gestaltung der Gesetze einzuwirken – all das entsteht dann, wenn alle Mitglieder sich wechselseitig zumindest als teilhabeberechtigt anerkennen. Politik bedeutet in diesem Sinne sozusagen die Institutionalisierung der allgemeinen Abhängigkeit. Dadurch entsteht überhaupt erst ein Raum des Politischen: Die Genese von Entscheidungsprozessen, Machtverhältnissen und Abstimmungsmechanismen ist auf eine Bürgerschaft angewiesen, die von Anerkennungsbeziehungen geprägt ist. Die Individuen innerhalb dieser politischen Gemeinschaft müssen sich gegenseitig den Mitgliedsstatus zuerkennen, damit ihre politische Kom55

Rousseau, 1977: 74. Vgl. Rousseau, 1977: 75 f. 57 Vgl. Fetscher, 1975: 106. 58 Fetscher, 1975: 107. 59 Vgl. Kersting, 2003b: 83: „Im Schatten staatsgerichteter Abwehrrechte und liberaler Institutionen der Herrschaftsmäßigung kann die anspruchsvolle Freiheitskonzeption Rousseaus keine angemessene politische Wirklichkeit finden. Denn sie verlangt die Gründung einer politischen, gesetzgebenden und gewalthabenden Einheit, deren Mitglieder nach wie vor frei sind und ihre eigenen Herren bleiben“ (Hervorhebung im Original). 56

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munikation erfolgreich sein kann. Denn die Alternativen zur politischen Verhandlung von Differenz – despotische Herrschaft oder Bürgerkrieg – können genau da entstehen, wo aufgrund mangelnder wechselseitiger Anerkennung Entscheidungen nicht akzeptiert, Wahlergebnisse angefochten oder Mitbürger/innen ausgegrenzt werden. Ob dies nun eine gangbare Lösung eines politischen Problems darstellt, oder hier ein unzulässiger Kollektivismus am Werk ist, der liberale Prinzipien ad absurdum führt, sei dahingestellt. Deutlich wird auf jeden Fall, dass eben keine Abhängigkeit mehr von Einzelpersonen oder willkürlichen Einzelwillen besteht. In Kapitel 12 des zweiten Buches bringt Rousseau es auf den Punkt, wenn er die Beziehung der Individuen im Souverän beschreibt. Diese soll „so stark wie möglich sein, so dass jeder Bürger von allen anderen völlig unabhängig und vom Gemeinwesen völlig abhängig ist.“60 Dies funktioniert jedoch nur, wenn alle gleichermaßen am Souverän teilhaben und sich gleichermaßen dessen (also den eigenen) Entscheidungen unterwerfen. Dann wird nämlich die vorherige Abhängigkeit von der Willkür anderer substituiert in eine allgemeine, regelgeleitete und gewissermaßen selbstbestimmte Abhängigkeit von Allen. Für Rousseau bedeutet genau das Freiheit in ihrer bürgerlichen Form, wie Fetscher beschreibt: „Freiheit, d. h. allgemeine und dauerhafte Freiheit kann im Gesellschaftszustand nur durch den Zusammenschluß zur Gemeinschaft erlangt werden, jede Form der Isoliertheit hat eine entsprechende Abhängigkeit und Unfreiheit zur Folge.“61 Diese Ausrichtung erschien und erscheint heute noch vielen Kommentator/innen als höchst problematisch. Rousseaus Überlegungen wurden zum Teil in die Nähe totalitärer Staatskonzeptionen gerückt und damit aus dem Kanon positiv rezipierbarer Literatur verbannt.62 Bei genauer Lektüre wird allerdings deutlich, dass selbst die berüchtigtste Stelle im „Contrat Social“ Zeugnis davon ablegt, dass Rousseaus Ziel in der Vermeidung personaler Abhängigkeit liegt. In Kapitel 7 schreibt er den vielzitierten Satz: „Wer dem Gemeinwillen den Gehorsam verweigert, muß durch den ganzen Körper dazu gezwungen werden. Das heißt nichts anderes, als daß man ihn dazu zwingt, frei zu sein.“63 Dies klingt selbstverständlich paradox und ist zu Recht Gegenstand kritischer Debatten. Allerdings lautet der unmittelbar folgende Satz: „Die Hingabe eines jeden Staatsbürgers an das Vaterland ist die Bedingung, die den Bürger vor jeder persönlichen Abhängigkeit beschützt.“64 Dies zeigt deutlich, welche Stoßrichtung Rousseau mit seiner politischen Konzeption verfolgt: Personale Abhängigkeit, hervorgerufen durch die willkürlichen Status- und Identitätszuschreibung ande60

Rousseau, 1977: 115. Fetscher, 1975: 113. 62 Vgl. zu der Diskussion, ob in Rousseaus Denken totalitäre oder zumindest anti-liberale Tendenzen zu erkennen sind, beispielsweise Chapman, 1956 und Talmon, 1961 sowie die Einordnungen in Ottmann, 2006: 506 f. und Fetscher, 1975: 256. 63 Rousseau, 1977: 77. 64 Rousseau, 1977: 77 f. 61

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rer, soll vermieden und durch wechselseitige, politisch gerechtfertigte Abhängigkeit ersetzt werden. Ganz im Einklang mit republikanischen Theorien soll dies durch die Partizipation an der Gesetzgebung und die daraus folgende Herrschaft der Gesetze gewährleistet werden: „Gehorsam dem Gesetz gegenüber, das man sich selbst gegeben hat, ist Freiheit.“65 Rousseau schreibt den vorangegangenen Satz im 8. Kapitel zwar auf moralische Freiheit bezogen, lässt aber später keine Zweifel daran, dass dieser ohne weiteres auf die politische Gemeinschaft übertragbar ist: „Das Volk, das den Gesetzen unterworfen ist, muß ihr Urheber sein.“66 Gesetze müssen außerdem den Gemeinwillen ausdrücken und auf einen allgemeinen Gegenstand gerichtet sein.67 Sie müssen also am Gemeinwohl orientiert sein und für alle gleichermaßen gelten. Und das ist entscheidend: Nur durch die inhärente Gleichheit in Souveränität und Partizipation wird diese Form der politischen Freiheit überhaupt erst möglich. So wird auch das vermeintliche Paradox des „Zwangs zur Freiheit“ aufgelöst. Der Gemeinwille ist eben kein rein objektives Abstraktum, das irgendwo über der Republik schwebt, sondern er besteht auch in der Festlegung und Befolgung fundamentaler Regeln und Prozesse, die für alle zu gelten haben, um personale Abhängigkeit zu verhindern. Die Bürger stimmen in Entscheidungen als Bürger ab und nicht als Privatpersonen. Insofern kann das Abstimmungsergebnis zwar dem Eigeninteresse des Individuums durchaus zuwiderlaufen, der Gemeinwille und damit das Beste für die gesamte Gemeinschaft wird jedoch gewahrt. Diese Aufteilung der sozialen Rollen des Menschen in der Gesellschaft meint Rousseau, wenn er dementsprechend in Kapitel 2, Buch 4 des „Contrat Social“ schreibt: „Der Bürger stimmt allen Gesetzen zu, selbst denen, die gegen seinen Willen erlassen worden sind, ja selbst denen, die ihn bestrafen, wenn er ein Gesetz zu verletzen wagt. Der beständige Wille aller Mitglieder des Staates ist der Gemeinwille; durch ihn sind sie erst Bürger und frei.“68 Freiheit bedeutet für die Einzelnen also nicht, jederzeit dem privaten Willen folgen zu können, sondern immer mit Anderen in einem Verbund, der durch wechselseitige Anerkennung geprägt ist, zu entscheiden. Christine Chwaszcza beschreibt diese „Einschränkung“ dementsprechend folgendermaßen: „Die Ausbildung des Gemeinwillens erfordert nach Rousseau, daß jeder Einzelne von seinen persönlichen Partikularinteressen absieht und sich als Teil des Ganzen des politischen Körpers begreift, um die kollektiven Interessen zu verfolgen.“69 Die Einzelnen werden damit nicht beherrscht, denn sie folgen ihrem eigenen Willen, nur dass es eben der eigene öffentliche Wille ist, der ihr öffentliches Handeln bestimmt. Viroli fasst dies pointiert zusammen:

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Rousseau, 1977: 79. Rousseau, 1977: 98. Vgl. zur Unterscheidung von moralischer und politischer bzw. bürgerlicher Freiheit auch Plamenatz, 2000: 72 f. 67 Vgl. Rousseau, 1977: 97 f. 68 Rousseau, 1977: 171. 69 Chwaszcza, 2003: 127. Hervorhebung im Original. 66

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Martin Correll „The general will makes men into free citizens because it protects them from the fate of being subjected to the whim of some other individual. […] In the political constitution where law and the public good are sovereign, citizens obey but no one gives the orders; they are subjects but they have no masters. They appear to be in subjection but in fact they are free“.70

III. Fazit Wenn man die vorangegangene Argumentation als plausibel erachtet, kommt man nicht umhin, den Beitrag, den Rousseau zu einer zeitgenössischen Republikanismustheorie liefert, anzuerkennen. Der Erkenntnisgewinn geht darüber jedoch noch hinaus: Nicht nur entsprechen die Schlüsselelemente der Rousseauschen politischen Philosophie zentralen republikanischen Topoi, sondern sie können sogar als eine komplexitätserweiternde Ergänzung gesehen werden, die dem republikanischen Argument mehr Überzeugungskraft verleiht. Dies wurde insbesondere in drei argumentativen Schritten gezeigt. Erstens wird bei der Beschäftigung mit dem „Zweiten Diskurs“ deutlich, dass Freiheit für Rousseau in der Abwesenheit von personaler Willkürherrschaft besteht. Die Situation, die durch den ständigen Vergleich mit anderen und der damit verbunden Entwicklung des „amour propre“ entsteht, stellt für ihn den entscheidenden Anfangspunkt einer Verfallsgeschichte dar, an deren Ende totale Unfreiheit steht. Im Sinne einer HerrKnecht-Beziehung abhängig von der Laune und dem Belieben des Anderen zu sein: auch Pettit hält dies für die drastischste Einschränkung der Freiheit der Einzelnen und räumt dementsprechend Rousseaus Nähe zu seiner eigenen Republikanismustheorie ein.71 Der zweite Schritt geht jedoch weiter: Hier wurde, weiterhin anhand des „Zweiten Diskurses“, gezeigt, wie Rousseaus Argument an Komplexität gewinnt und somit für heutige Problemstellungen nutzbar sein kann. Zum einen versäumt es Rousseau nicht, die essentielle Reziprozität von Anerkennungsverhältnissen zu verdeutlichen. In der Gesellschaft bestehen eben nicht nur hierarchische Beziehungen, in denen eine Partei herrscht und die andere beherrscht wird. Vielmehr entsteht ein Raum, in dem der Status, das Ansehen und in vielen Fällen große Teile der eigenen Identität von der Meinung der Mitmenschen konstitutiv abhängig wird. Außerdem schließt Rousseau damit eine Lücke, die sich bei Pettit und anderen zeitgenössischen Republikaner/ innen öffnet: Nicht-Beherrschung kann nicht einfach nur die Abwesenheit von offensichtlichen und illegitimen Machtbeziehungen bedeuten. Hier werden gerade die psychologischen Abhängigkeiten, die für Rousseau solch schwerwiegende politische Konsequenzen nach sich ziehen, außer Acht gelassen. Denn subtile Abhängigkeitsformen, wie die Angewiesenheit auf die Meinung anderer, können im politischen Raum genauso freiheitseinschränkend wirken. Die Anerkennungstheorie, wie sie beispielsweise Honneth formuliert hat, kann hier ergänzend eingreifen: Wenn der ei70 71

Viroli, 1988: 151. Vgl. Pettit, 2013: 177 ff.

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gene Status konstitutiv von der Zuschreibung anderer abhängt, dann hat dies große Auswirkungen auf die Handlungsmöglichkeiten der Einzelnen. Autonomie, so der Gedanke weiter, lässt sich nur erreichen, wenn die anerkennungsgestützte Persönlichkeitsentwicklung zumindest grundsätzlich störungsfrei verläuft. Die Erfordernisse, um Freiheit zu gewährleisten, sind also umfangreicher, als von Pettit konzipiert: Nicht nur die Abwesenheit von offensichtlicher Beherrschung, sondern auch die willkürliche Herrschaft der öffentlichen Meinung muss verhindert werden. Drittens wurde argumentiert, dass Rousseau dieses Ziel verfolgt, wenn er im „Contrat Social“ einen dezidiert politischen Lösungsweg aufzeigt. Die Abhängigkeit von der Statuszuschreibung, Meinung und Anerkennung durch Einzelne wird dabei durch die allgemeine Abhängigkeit von der Gemeinschaft ersetzt. Wie gezeigt wurde, können sowohl der Gesellschaftsvertrag als auch das Konzept des Gemeinwillens als Versuche gelesen werden, der Komplexität mehrdimensionaler gesellschaftlicher Abhängigkeitsbeziehungen gerecht zu werden. Durch die Überführung der Menschen in einen bürgerlichen Zustand meint Rousseau zwar nicht, die Unabhängigkeit, wie sie natürlicherweise besteht, retten zu können, aber zumindest Freiheit im Sinne politischer Autonomie zu generieren.72 Und sieht man sich den Inhalt dieser Art von Freiheit genau an, kann man nicht nur zu dem Schluss gelangen, dass sie deutliche republikanische Züge trägt, sondern auch, dass ihre Verwirklichung auf wesentlich komplexeren Voraussetzungen beruht als es Pettit beschreibt. Denn die Vergemeinschaftung und die daraus resultierenden Partizipationsmöglichkeiten der Bürger sollen zwar einerseits die politische Hierarchielosigkeit hervorbringen, die der Republikanismus klassischerweise befürwortet, aber anderseits eben auch einen geistigen Raum schaffen, in dem gleiche Anerkennung wechselseitig gewährt wird, um personale Willkür zu vermeiden. Akzeptiert man diese Argumentation, dann scheint Rousseaus Freiheitsbegriff eine notwendige und hilfreiche Ergänzung zum republikanischen darzustellen. Die vorliegenden Ergebnisse des Beitrags liefern Anknüpfungspunkte, die trotz der nun schon Jahrhunderte andauernden Rezeption des Werkes Jean-Jacques Rousseaus neue Perspektiven auf seine politische Philosophie, vor allem in Verbindung mit dem zu neuen Ehren gekommenen republikanischem Paradigma, eröffnen können. Drei Forschungskomplexe fallen dabei besonders ins Auge: Auf der politischpsychologischen Ebene könnte die republikanische Theorie erstens anhand der im „Zweiten Diskurs“ skizzierten Anerkennungsstrukturen einiges an argumentativer und interdisziplinärer Tiefe gewinnen. Womöglich verbunden mit zeitgenössischen anerkennungs- und diskursorientierten Überlegungen könnten Abhängigkeitsbeziehungen in modernen Gesellschaften, die im liberalen Denken übersehen werden, deutlicher herausgearbeitet und einer republikanisch inspirierten, normativen Analyse unterzogen werden. Zweitens könnte ein Verständnis von republikanischer Politik als ein von Wechselseitigkeit geprägter Anerkennungsraum, in dem durch die gleichmäßige Abhängigkeit aller von allen Freiheit entsteht, dabei helfen, die Kon72

Vgl. dazu auch Kersting, 2003c: 20 f.

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zepte von Volkssouveränität, Freiheit und Gleichheit besser zu begreifen. Gerade eine genauere theoretische Bestimmung der Beziehung von Freiheit und Gleichheit scheint auch für die heutige politische Praxis sinnvoll zu sein. Und schließlich eröffnet sich die republikanische Theorie einen Weg zur kritischen und emanzipatorischen Wirkung, wenn sie die Legitimität eines Gemeinwesens anhand des Grades personaler Abhängigkeit zu bestimmen versucht. Ob dies Rousseaus ursprünglicher Intention entspricht, kann hier nicht endgültig beurteilt werden, aber sein Beitrag, der den Menschen aus seiner unrechtmäßigen Abhängigkeit heraus in eine neue, dezidiert politische, freiheitserzeugende und damit republikanische Abhängigkeit führen will, verdient aus den genannten Gründen weiterhin Beachtung. Literatur Boyer, Alain (2001): On the Modern Relevance of Old Republicanism. In: The Monist, 84, 2001, S. 22 – 44. Brandt, Reinhard/Herb, Karlfriedrich (Hrsg.) (2000): Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts. Berlin: Akademie Verlag. Brown, Vivienne (2001): Self-government: The Master Trope of Republican Liberty. In: The Monist, 84, 2001, S. 60 – 76. Celikates, Robin (2010): Republikanismus zwischen Politik und Recht: Ein Literaturbericht. In: Zeitschrift für Philosophische Forschung, 64, 2010, S. 118 – 135. Chapman, John (1956): Rousseau – Totalitarian or Liberal? New York: Columbia University Press. Chwaszcza, Christine (2003): Die Praxis der Freiheit: Vom legitimationstheoretischen Anspruch zum politischen Traum. In: Kersting, Wolfgang (Hrsg.): Die Republik der Tugend: Jean-Jacques Rousseaus Staatsverständnis. Baden-Baden: Nomos, S. 117 – 145. Ferejohn, John (2001): Pettit’s Republic. In: The Monist, 84, 2001, S. 77 – 97. Fetscher, Iring (1975): Rousseaus politische Philosophie: Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hölzing, Philipp (2014): Der Republikanismus in der Politischen Theorie und Ideengeschichte. In: Zeitschrift für Politische Theorie, 5, 2014, S. 11 – 30. Honneth, Axel (1994): Kampf um Anerkennung: Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kersting, Wolfgang (2003b): Gesellschaftsvertrag, Volkssouveränität und „volonté générale“: Das systematische Zentrum der politischen Philosophie Jean-Jacques Rousseaus. In: Kersting, Wolfgang (Hrsg.): Die Republik der Tugend: Jean-Jacques Rousseaus Staatsverständnis. Baden-Baden: Nomos, S. 81 – 116. – (2003c): Vom Vertragsstaat zur Tugendrepublik: Die politische Philosophie Jean-Jacques Rousseaus. In: Kersting, Wolfgang (Hrsg.): Die Republik der Tugend: Jean-Jacques Rousseaus Staatsverständnis. Baden-Baden: Nomos, S. 11 – 24.

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Zur Verfassung Europas Von Detlef von Daniels Abstract In dem Artikel werden verschiedene Vorschläge, die politische Verfassung Europas zu verstehen, untersucht. Dazu wird zunächst das vorausgesetzte Friedens- und Wohlstandsnarrativ aus historischer Perspektive beleuchtet. Im Anschluss werden die impliziten sozialphilosophischen Prämissen in Jürgen Habermas’ Vorschlag einer Konstitutionalisierung der Europäischen Union aufgezeigt, sowie in der Konsequenz die Negierung außenpolitischen Handelns. Als Alternativen dazu werden Glyn Morgans Vorschlag, Europa als Superstaat, und Jan Zielonkas Modell, Europa als mittelalterliches Imperium zu verstehen, diskutiert. Zuletzt wird auf die Schwierigkeit, die Komplexität politischer Entscheidungen auf europäischer Ebene in politischen Theorien adäquat zu erfassen, hingewiesen. Ziel der mehrdimensionalen Betrachtung ist, einen Sinn für die Kontingenz historischer Prozesse zu gewinnen.

I. Einleitung Spricht man heute über die Verfassung Europas, so denkt man fast automatisch an die verschiedenen inneren und äußeren Krisen der letzten Jahre, die den inneren Zusammenhalt des Kontinents zu zerstören drohen. Die schnelle Abfolge von Finanz-, Schulden-, Griechenland-, Ukraine- und zuletzt der Flüchtlingskrise lässt das Gegenwartsbewusstsein zunehmend auf Tagespolitik zusammenschrumpfen und scheinbar kaum noch Raum für grundsätzliche Überlegungen. Vor diesem Hintergrund erscheinen die vergangenen Debatten über die Vertiefung der europäischen Integration in Form einer geschriebenen Verfassung schon fast in einem nostalgischen Licht. Sie speisten sich noch aus der optimistischen Hoffnung, dass nach dem Ende des Kalten Krieges und Ansätzen einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts (1994 Gründung der WTO, 1998 Verabschiedung des Statuts von Rom) Europa mit der weltweit ersten supranationalen Verfassung als Schrittmacher fungieren könnte. Es ist müßig, über Anfang, Ende oder Fortwirken dieser Idee zu streiten. Vermutlich hätte heute keiner der genannten supranationalen Vertragstexte eine Chance auf erneute Ratifizierung, und allein der Vorschlag, einen neuen Anlauf für einen Verfassungskonvent zu nehmen, ist politisch undenkbar geworden. Dennoch lohnt es sich, auf diese Diskussion noch einmal zurück zu kommen, da die zugrunde liegenden Narrative und Argumentationsmuster bis heute unser Denken bestimmten. Dabei ist es hilfreich, eine imaginäre Außenperspektive einzunehmen, wie sie einem ganz selbstverständlich begegnet, wenn man in den USA Studierenden aus aller Welt die deutsche oder innereuropäische Sicht zu vermitteln versucht.

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Eine philosophische Untersuchung wird allein schon in der Darstellung verschiedener Theorien ihre Kohärenz überprüfen. Ob sie darüber hinaus auch normative Empfehlungen geben muss, ist fraglich. Es könnte nämlich sein, dass die normative Perspektive selbst nur eine liebgewonnene Vereinfachung ist, die vor der Zufälligkeit der historischen Prozesse zurückschreckt und diese unter ein einheitliches Schema zu pressen versucht. Genau wie am Anfang des historischen Umbruchs von 1989 ein hilfloses Stammeln stand – „Das tritt nach meiner Kenntnis, ähm, ist das sofort, unverzüglich!“ –, orientierten sich auch die Bewältigungsstrategien von Krisen nicht an großen Visionen, sondern waren Verarbeitungen spontaner Bemerkungen: „Die Spareinlagen sind sicher!“, „The ECB is ready to do whatever it takes!“, „Wir schaffen das!“, etc. Ob es möglich ist, politisches Denken auf diese Kontingenz einzustellen, ist die Frage des Artikels. Dazu werde ich zunächst das Friedens- und Wohlstandsnarrativ, das Debatten über Europa unvermeidlich begleitet, aus historischer Perspektive beleuchten. Im Anschluss werde ich als prominentesten Verfechter einer Konstitutionalisierung Europas Jürgen Habermas’ implizite geschichtsphilosophische und normative Vorannahmen untersuchen. Als Alternative werde ich zwei weiter Ansätze von Glyn Morgan und Jan Zielonka diskutieren, um so einen Blick auf die Kontingenz historischer Prozesse zu gewinnen. II. Historische Narrative Ein erster Zugang zu den Debatten über die Verfassung Europas lässt sich über die Analyse der impliziten historischen Narrative gewinnen. Kein Beitrag zu Europa kommt ohne Verweis auf die Bedeutung der gemeinsamen Geschichte aus. Die Darstellung von Geschichte in politischen Analysen ist jedoch nie unschuldig, sondern dient dazu, das Feld, auf dem sich die Theorie bewegt, auf bestimmte Weise einzugrenzen. Üblicherweise wird kurz an die Schrecken des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts erinnert, dann an die Anfänge der Europäischen Gemeinschaft, die verschiedenen Stufen der Erweiterung bis zum Vertrag von Lissabon, und schließlich wird die historisch einmalig lange Zeit von Frieden und Wohlstand beschworen. Dieses Friedens- und Wohlstandsnarrativ ist bei Politikern, Schriftstellern, Wissenschaftlern und Intellektuellen gleichermaßen verbreitet.1 Vor diesem Hintergrund werden dann aktuelle verfassungsrechtliche oder politische Fragen erörtert. Allerdings sind mit diesem Narrativ etliche implizite Vorentscheidungen verbunden, die oft im Unklaren bleiben. War Europa schon immer mit der Europäischen Union und ihren Vorläuferorganisationen identisch oder gehören zur Nachkriegsgeschichte Europas nicht auch die Schweiz, die kommunistischen Staaten und vielleicht sogar die Mittelmeeranrainer? Welche Rolle genau spielte die Union seit ihrer Gründung bei der Sicherung des Friedens? Haben die europäischen Staaten nur deswegen untereinander friedliche Beziehungen entwickelt, weil sie Teil einer Union waren? Gerade wenn an „die Geschichte Europas“ erinnert wird, um anschlie1 Siehe als Überblick Schorkopf, 2010. Eine Ausnahme stellt Mearsheimer (2009) dar, der das europäische Friedensnarrativ in Frage stellt.

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ßend umstandslos Lehren für die Organisation der Europäischen Union oder für die Lösung nachfolgender Krisen zu ziehen, ist historische Aufklärung über Geschichtspolitik nötig. In pointierter Weise hat das der Zeithistoriker Tony Judt unternommen, der in seinen Analysen immer wieder verfestigte Geschichtsbilder aufbrach.2 In seiner Darstellung der Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg verweist er auf die Vielgestaltigkeit Europas und die unterschiedlichen, oft unvereinbaren Narrative über seine Grenzen und seine Geschichte. So schrieb beispielsweise Mozart, als er 1787 von Wien aus nach Prag fuhr, er habe eine orientalische Grenze überschritten.3 Es sind aber nicht nur die geographischen Grenzen nach Osten, zum Süden und zum Mittelmeer, die unterschiedlich gedeutet werden, auch die Erinnerung an bestimmte Ereignisse ist je selektiv und, wie das individuelle Gedächtnis, ein dynamischer Prozess von Verdrängungen und Neuerfindungen. Unter dem nüchternen Blick des Historikers zerfällt die Erzählung von der friedensstiftenden Kraft der Römischen Verträge sehr schnell und erscheint als späte Illusion des westlichen Nachkriegseuropas. Zu „Europa“ gehörten beispielsweise anfangs auch die französischen Kolonien Nordafrikas, und der „Frieden“ zwischen West und Ost war damit erkauft, dass die kommunistischen Staaten einen „Dauerkrieg gegen die eigenen Gesellschaften“ führten.4 Natürlich kann man einwenden, dass der große geopolitische Konflikt zwischen Ost und West seit 1989 beendet ist.5 Das heißt aber nicht, dass es nicht nach wie vor Spannungen im europäischen Raum gibt oder alle Länder fraglos ihr Heil in der Europäischen Union suchen. Auch nach 1989 verfolgen in Europa einige Staaten, wie die Schweiz und Norwegen, mit guten Gründen eigenständige Entwicklungsmodelle6 und in der Perspektive der baltischen Staaten war der entscheidende Schritt nicht der Beitritt zur Europäischen Union, sondern zur NATO. Auf die eigentümliche Rolle Russland, das sich weigert ein normaler Staat unter anderen zu werden, sondern historisch bedingt imperiale Vorstellungen verfolgt, hatte Judt schon lange vor der Ukraine-Krise aufmerksam gemacht. Die verschiedenen Erzählungen über die Grenzen Europas sind aber nicht nur historische Narrative, sondern haben teils auch eine ganz spezifische institutionelle Gestalt, da die Europäische Union nicht bloß, wie ein klassischer Nationalstaat, eine 2 Tony Judt hat sich regelmäßig in Rezensionen und Essays in der „New York Review of Books“ zu zeitgeschichtlichen Themen geäußert. Viele seiner Überlegungen sind in seine „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“ eingegangen, vgl. Judt, 2006. 3 Vgl. Judt, 2006: 873. Für einen Überblick über die unterschiedlichen Grenzdiskurse siehe Fassmann, 2002. 4 Judt, 2006: 870. 5 Außerhalb Europas haben die heißen Stellvertreterkriege des Kalten Krieges schätzungsweise nochmals 11 Millionen Menschen das Leben gekostet. Für eine detaillierte Auflistung der Opfer siehe White, 2011. 6 Steuerpolitisch gesehen ist nicht das Mittelmeer, sondern die Schweiz die wichtigste Außengrenze der Europäischen Union, auf die ein Großteil der Regelungen zugeschnitten ist. Da die Schweiz aber nur als beratendes Mitglied teilnimmt, ist sie in schillernder Weise zugleich inner- und außerhalb Europas. Siehe Bonte, 2009.

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feste Außengrenze hat, sondern nur der prominenteste Teil verschiedener überlappender Regime ist, angefangen von Nachbarschaftspolitik über Freihandelsabkommen, Freizügigkeitsvereinbarungen bis hin zur Währungsunion. Je nachdem zu welchem historischen Zeitpunkt und von welcher Grenze aus man auf die Europäische Union sieht, stellt sie sich anders dar. Zur Zeit der Osterweiterung in den 1990er Jahren bot sie den Staaten Osteuropas einen Weg in den Westen, forderte aber zugleich umfangreiche politische und wirtschaftliche Reformen. Sie diktierte so faktisch über Jahre die parlamentarische Gesetzgebung in den gerade erst unabhängig gewordenen Staaten. Die afrikanischen Mittelmeeranrainer hingegen erinnern sich in ihren Geschichtserzählungen vornehmlich an die Befreiung von europäischer Kolonisation. Heute kennen sie von Europa in erster Linie Grenzregime und privilegierte Partnerschaften, die mit je unterschiedlichen ökonomischen und menschenrechtlichen Anforderungen ausgestattet sind.7 Judt macht in seinen Studien außerdem immer wieder darauf aufmerksam, dass Geschichte nicht nur eine Chronologie der Ereignisse ist, sondern in jeder Generation neu und anders geschrieben wird. Das erste Nachkriegseuropa wurde nach Judt „auf einer vorsätzlichen Amnesie erbaut – Vergessen als Lebensform“.8 Er bezieht sich mit dieser Feststellung auf die Nachkriegszeit, in der in Deutschland der Holocaust und in vielen anderen Ländern Europas die vielfältigen Formen der Kollaboration verdrängt wurden. Eigentümlicherweise ist aber auch der erfolgreiche Aufbau der Europäischen Union in der Nachkriegszeit eine Geschichte von Verdrängung und geschönter Erinnerung. Obwohl die grundlegenden Weichenstellungen zur Konstitutionalisierung der Europäischen Union bereits durch den Europäischen Gerichtshof in den 1960er Jahren vorgenommen wurden, obwohl seit 1979 regelmäßig direkte Wahlen zum Europäischen Parlament abgehalten werden, und trotz vielfältiger Bemühungen europäischer Institutionen um mehr Öffentlichkeitswirksamkeit, ist eine breite öffentliche Debatte über die Politik der Europäischen Union erst 1992 in Folge des Maastricht-Beschlusses entstanden. Die heutige Europabeschwörung bei Theoretikern und Intellektuellen ist also nicht Resultat einer kontinuierlichen Geschichte, sondern eine nachträgliche Interpretation der Nachkriegszeit und Verdrängung des tatsächlichen Beschweigens.9 Vielleicht hat Judt aus diesem Grund ein distanziertes Verhältnis zur Europäischen Union. Er würdigt zwar ihre Leistungen, insbesondere die Erleichterung von Reisen und Arbeitsmöglichkeiten, sieht in ihr aber doch in erster Linie ein Zweckbündnis, das die traditionellen Leistungen des Staates, Gewährleistung von 7

Für eine Typologie der unterschiedlichen Regime siehe Schimmelfennig, 2014. Judt, 2006: 965. 9 Zur Geschichte der Europadiskussion ist Arendts (2000) hellsichtige Analyse „Europa und Amerika“ aufschlussreich, in der sie aus Sicht der Exilantin spezifische Beschränkungen der politischen Diskurse in den USA und in Europa genau diagnostiziert und ihren europäischen Kollegen „Europatümelei“ vorwirft. 8

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Sicherheit und Sozialfürsorge, nicht ersetzen kann. Insgesamt räumt Judt intellektuellen Moden, Großtheorien oder Ideologien nur wenig Raum ein und steht Aufrufen und politischen Analysen von Intellektuellen skeptisch gegenüber. Judts groß angelegte Geschichte Europas im 20. Jahrhundert mündet daher nur in der Verteidigung einer recht vage gehaltenen „europäischen Lebensform“, verdichtet sich aber nicht zu einem wahrnehmbaren politischen Modell. III. Sozialphilosophische Narrative Im Vergleich zu Judt ist bei Jürgen Habermas gewissermaßen das umgekehrte Problem zu beobachten. Zwar entwickelt Habermas immer auch historische Genealogien, nutzt diese aber hauptsächlich, um den argumentativen Gehalt verfassungspolitischer Grundsätze zu verdeutlichen. Bezeichnenderweise ist auch für Habermas Europa eine späte Liebe. Noch in seinem rechtsphilosophischen Hauptwerk „Faktizität und Geltung“ wird Europa nur in einem ergänzenden Essay erwähnt. Die Frage kann daher nicht sein, ob Habermas’ historische Genealogien erhellend sind, sondern nur, wie überzeugend das politische Modell für Europa ist, das Habermas entwickelt. Dazu ist es hilfreich, die verschiedenen Ebenen, auf denen Habermas argumentiert, zu entwirren. Grundsätzlich greift er auf ein Argumentationsmuster zurück, das noch aus seiner spätmarxistischen Phase stammt. Es folgt einem typischen Dreischritt. Erst wird eine Krise der Gesellschaft diagnostiziert und auf die Eigenlogik des kapitalistischen Wirtschaftssystems zurückgeführt. Zweitens wird konstatiert, dass die Krise die soziale Integration der Gesellschaft bedroht. Zugleich werden existierende demokratische Verfahren als unzureichend entlarvt. Die Lösung besteht drittens darin, die Demokratie zu vertiefen und durch umverteilende Maßnahmen die soziale Integration wieder herzustellen. (In den theoretisch anspruchsvolleren Texten gibt es noch einen Zwischenschritt: Das moderne Recht kann die Gesellschaft integrieren, allerdings nur, wenn dieses legitim ist, was wiederum die Diskursethik verbürgt.) Dieses Argumentationsmuster wird je nach Umständen variiert. In den frühen Schriften hieß es noch in Bezug auf die Bundesrepublik: „Im Liberalkapitalismus treten Krisen in der Form von ungelösten ökonomischen Steuerungsproblemen auf.“ Zugleich sorge der „Zuschnitt formaldemokratischer Einrichtungen und Prozeduren […] dafür, dass Entscheidungen der Administration […] weitgehend unabhängig von bestimmten Motiven der Staatsbürger gefällt [werden].“10 Seit den 1990er Jahren drohen nun fortwährend Krisen in Europa, wahlweise aufgrund der Eigenlogik der kapitalistischen Wirtschaft11, durch den „Druck der Globalisierung“12, den „Modus der Standortkonkurrenz“13 oder aktuell durch den „wildgewordenen Finanz10

Habermas, 1973: 41. Habermas, 1998: 100. 12 Habermas, 2001: 105. 13 Habermas, 2001: 97. 11

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kapitalismus“.14 Wieder wird die Gefahr der sozialen Desintegration beschworen und wieder fehle es der Politik an Steuerungsfähigkeit, nun allerdings auf europäischer Ebene. Um die Handlungsspielräume der Politik zurückzugewinnen, fordert Habermas, sozialstaatliche Standards auf europäischer Ebene zu verankern und eine europäische Wirtschaftspolitik einzuführen.15 Das erfordere aus demokratietheoretischen Gründen zugleich eine Konstitutionalisierung Europas und insbesondere eine Stärkung des Europäischen Parlaments. Alternativ drohe die ungebrochene Herrschaft des Neoliberalismus oder ein „post-demokratischer Exekutivföderalismus“. In den letzten Jahren macht Habermas insbesondere Angela Merkel dafür verantwortlich, den notwendigen Wandel verhindert, durch zögerliche Politik den Gedanken der europäischen Solidarität verraten und auf diese Weise die Krise verschlimmert zu haben. Ein rechtzeitiges Eintreten für die Rettung Griechenlands hingegen hätte das Land vor den Spekulationen der Währungsmärkte retten können.16 Die empirische Basis, auf die Habermas seine Analysen stützt, bleibt jedoch größtenteils unausgeführt. Was genau „soziale Integration“ ist, woran sie sich bemisst, wird in ständig wechselnden Begriffen beschrieben, so dass die Diagnose nicht empirisch kontrolliert werden kann. Auch die genauen Zusammenhänge zwischen der desintegrierenden Tendenz der Wirtschaft, Umverteilung und der integrierenden Kraft der Demokratie sind nicht als empirisch überprüfbare Hypothesen formuliert. Bekanntlich können hoch integrierte und egalitäre Gesellschaften höchst undemokratisch sein (Modell Sparta), Demokratien hingegen sozial stratifiziert, labil und imperialistisch (Modell Athen). Ein vergleichender Blick auf unterschiedliche Wirtschafts- und Gesellschaftsformen in West- und Osteuropa in den letzten 60 Jahren, erst recht in der übrigen Welt, würde die Einsicht in unterschiedliche Bedingungen und Faktoren fördern, die entweder soziale Integration oder Demokratie oder wirtschaftliches Wachstum fördern können, aber kaum das vorgestrickte Modell eines kausalen Zusammenhangs bestätigen. Die monokausale Erklärung, dass „der Neoliberalismus“, „die Eigenlogik der Wirtschaft“ oder „die Finanzmärkte“ notwendig zu sozialer Desintegration oder Verarmung führen, erinnert an die Marx’sche Verelendungsthese, beruht aber auf einer eher selektiven Beobachtung. In Europa haben die Bevölkerungen der ehemals kommunistischen Staaten die größten Wohlstandsgewinne erzielt, was sich anhand des Wohlstandsberichts der Europäischen Zentralbank, aber auch des Human Development Index ablesen lässt. Weltweit haben gerade die Schwellenländer von der wirtschaftlichen Dynamik in den letzten 30 Jahren am meisten profitiert, und viele Entwicklungsländer würden sich nichts sehnlicher wünschen als eine Öffnung der Agrarmärkte, also mehr „Neoliberalismus“. Auch von einer Liberalisierung des Arbeitsmarktes profitieren typischerweise besonders Migranten, von deren Überweisungen oft auch viele Familien in Entwicklungsländern abhängen. Eine stark protek14

Habermas, 2011: 117; Habermas, 2013: 110. Habermas, 2011: 114; Habermas, 2013: 94. 16 Habermas, 2011: 112, noch apodiktischer Habermas, 2015.

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tionistische Arbeitsmarktpolitik, wie in Italien oder Spanien, kommt hingegen eher etablierten (oft männlichen) Teilen der Gesellschaft zugute und verhindert Aufstiegsmöglichkeiten der jungen Generation, von Migranten ganz zu schweigen. Wie hingegen eine „Globalsteuerung der Wirtschaft“ durch eine „europäische Wirtschaftsregierung“ oder auch eine „weltweite Regulierung der Finanzmärkte“ strukturelle Probleme der Wirtschaft (unrentable Betonburgen an der Costa Brava) oder auch der politischen Klasse in einzelnen Ländern („Berlusconisierung“ der Politik) beheben können soll, wird von Habermas nicht erklärt. Insbesondere wird die Forderung nach einer solidarischen Ausgabenpolitik, die europaweit Wachstum stimulieren soll,17 nie mit Zahlen oder Beispielen belegt. Sollen die Griechen aus solidarischen Gründen die (deutlich ärmeren) Rumänen unterstützen? Soll Deutschland aus Solidarität eine europaweite Abwrackprämie finanzieren? An solchen Fragen erst könnte sich die Beurteilung von Vorschlägen entscheiden. Mit diesen Einwänden soll nicht geleugnet werden, dass durch Finanzkrise und Staatsverschuldung alle Länder in Europa (und nicht nur in Europa) vor großen Herausforderungen stehen, oder dass die Währungsunion ökonomische und soziale Folgekosten entfaltet, die politisch nur schwer zu bewältigen sind. Kritisiert wurde soweit nur das grundlegende Narrativ der Habermas’schen Sozialphilosophie. Empirisch ist sie nicht überzeugend, da widersprechende empirische Belege nicht berücksichtigt, Thesen nicht anhand von vergleichenden Beobachtungen überprüft, und kulturelle sowie schlicht kontingente Faktoren (Bevölkerungsentwicklung, Klientelismus, Strukturschwächen etc.) als Ursache ausgeblendet werden. Sie ist aber auch begrifflich nicht klar, da nicht deutlich wird, ob die Demokratisierung Europas lediglich der sozialen Integration und Umverteilung dient oder ob sie auch dann noch ein Wert ist, wenn gegenteilige Effekte drohen: Desintegration Europas und zunehmende Skepsis gegenüber europäischen Institutionen gerade aufgrund von europaweiter Umverteilung und Stärkung des Europäischen Parlaments. Auch ein solches unerwünschtes Szenario müsste als Möglichkeit mitbedacht werden. IV. Normative Rechtfertigung Nun könnte man meinen, dass der Fokus von Habermas’ Beiträgen zu Europa sowieso nicht auf der Analyse gesellschaftlicher oder wirtschaftspolitischer Entwicklungen liegt, sondern in der Formulierung eines normativ attraktiven Modells, einer Version eines politisch geeinten Europas. Hier, in der Entwicklung einer spekulativen politischen Philosophie mit europäischer Absicht, könnte Habermas als Vordenker erscheinen. Entscheidend für die Beurteilung des Vorschlags sind die begrifflichen Weichenstellungen. Anders als in früheren Schriften fordert Habermas nicht mehr, dass Europa „die Logik jenes Kreisprozesses, worin sich der demokratische Staat und die Nation gegenseitig hervorgebracht haben, noch einmal reflexiv auf sich selbst an17

Zuletzt Habermas, 2013: 88.

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wenden [muss].“18 Dieses Modell setzt noch voraus, dass bereits ein einheitlicher Staatsapparat und ein einheitlicher Verfassungswille besteht, kann aber den Prozess der inkrementellen Vergemeinschaftung, wie er für die Entwicklung der Europäischen Union typisch ist, nicht erfassen. In seinen neusten Schriften unterscheidet Habermas daher drei „Komponenten“ der transnationalen Volkssouveränität: die demokratische Vergemeinschaftung, die Organisation kollektiver Handlungsfähigkeit sowie die Bürgersolidarität unter Fremden.19 Auf diese Weise kann er zunächst das Neuartige der Europäischen Union beschreiben, dass die Mitgliedsstaaten zwar ihr Gewaltmonopol behalten, in bestimmten Materien aber den Vorrang des europäischen Rechts anerkennen. Die entscheidende Frage ist, wie er seine Forderung nach einer immer engeren politischen Union begründet. Habermas stützt sich dazu auf eine spezifische Auslegung des Vertrages von Lissabon. Dieser beruhe auf der Idee einer „geteilten Souveränität“. Die Individuen sollen sich demnach zugleich als Staats- und Unionsbürger verstehen.20 Die Idee geteilter Souveränität nutzt Habermas dann als Maßstab zur Diagnose von Legitimationsdefiziten. Aus der Interpretation des Vertrages folgert Habermas „mit demokratietheoretischen Gründen“, dass der Vertrag geändert werden müsse. Insbesondere müsse das Parlament gestärkt, zwischen Rat und Parlament ein Gleichgewicht hergestellt und die Kommission beiden Institutionen gegenüber verantwortlich gemacht werden.21 Tragender Grund des Modells ist also eine Interpretation des positiven Unionsrechts. Das ist eine relativ schwache Basis, da der Vertrag von Lissabon – anders als Prinzipien des Verfassungsrechts – keine besondere Dignität besitzt, sondern wie jedes andere positive Recht auch jederzeit geändert oder auch aufgehoben werden kann.22 Nun stützt sich Habermas in seiner Auslegung aber gerade auf den Punkt, dass das Europäische Parlament bei Änderungen des Vertrages einbezogen ist.23 Jedoch ist ein Gesetzgebungsverfahren etwas anderes als das vereinfachte Änderungsverfahren und erst recht etwas anderes als eine verfassungsgebende Versammlung. Dieser Unterschied ist auch im Vertrag von Lissabon deutlich markiert (Art. 48 EUV). Bei Vertragsänderungen (sozusagen Verfassungsänderungen) kann das Parlament Vorschläge machen und muss angehört werden. Für den Beschluss bleibt es aber beim gewöhnlichen völkerrechtlichen Verfahren (Konsens aller Mitgliedsstaaten).24 Habermas 18

Habermas, 2001: 118. Habermas, 2011: 49. 20 Habermas, 2011: 68. 21 Habermas, 2011: 73. 22 Die juristischen Details sind hier nicht weiter von Belang. Grundsätzlich unterscheidet sich die Auflösung der Union nicht von der Kündigung eines Arbeitsvertrages – die im Detail ebenfalls juristisch höchst kompliziert sein kann. Für die Einzelheiten des Austrittsrechts von Staaten und zur möglichen Auflösung der Union siehe Callies, 2010: 94. 23 Habermas, 2011: 67. 24 Zur juristischen Dogmatik vgl. Callies, 2010. Eine detaillierte juristische Kritik des Vorschlags von Habermas findet sich bei Grimm, 2012. 19

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möchte aber vermittelst „konstruktiver Interpretation“ von genau spezifizierten Kompetenzen des Parlaments beim Gesetzgebungsverfahren auf eine Kompetenz des Parlaments als verfassungsändernde oder sogar verfassungsgebende Versammlung schließen. Dabei ignoriert er geflissentlich explizite Voten etlicher Volksabstimmungen, in denen sich tatsächliche Wähler genau gegen dieses Verständnis ausgesprochen haben. Bezeichnenderweise versteckt Habermas die geradezu revolutionäre Umdeutung des Europäischen Parlaments in eine verfassungsgebende Versammlung, indem er vage auf die Idee einer „pouvoir constituante mixte“ verweist und die eingeschränkten Rechte des Parlaments im Text einklammert. Zwar meint Habermas, seine Vorstellung unterscheide sich vom bundesstaatlichen Modell. Allerdings gibt es nicht nur ein bundesstaatliches Modell, sondern so viele Modelle wie föderale Staaten.25 Außerdem ließe sich dieselbe Art von „konstruktiver Interpretation“ natürlich auf jeden neuen Vertrag anwenden, was in einem selbstverstärkenden Prozess zu einer immer weiteren Verstaatlichung der Europäischen Union führen würde. Nun könnte man einwenden, dass Habermas’ Essay vielleicht auch nicht als wertfreie demokratietheoretische Analyse, sondern in erster Linie als engagierte politische Stellungnahme zu lesen ist. Jedoch führt weiteres Nachfragen an diesem Punkt zu der zentralen demokratietheoretischen Schwäche der Argumentation. Habermas’ kryptische Erklärung der geteilten Souveränität in der Europäischen Union lautet, dass sich diese im Unterschied zum Bundesstaat „am Ursprung des zu konstituierenden und nicht an der Quelle des konstituierten Systems“ verzweige.26 Darauf könnte der französische Citoyen einwenden, dass er sich genau als Bürger einer solchen Gemeinschaft verstanden habe, als er 2005 gegen den europäischen Verfassungsvertrag stimmte. Genau diese politische Position aber möchte Habermas als falsches Bewusstsein ausschließen. Er nimmt dafür die klassische Rolle der politischen Avantgarde für sich in Anspruch, die „Politische Eliten und Medien“ instruiert. Diese haben nicht etwa die Aufgabe, das Für und Wider unterschiedlicher politischer Optionen zu erörtern, sondern werden in Dienst genommen, „die Bevölkerungen für eine gemeinsame europäische Zukunft zu gewinnen.“27 Als Motiv für diese Aufgabe wird wieder der Druck der Finanzmärkte beschworen, gegen den sich die Europäische Union nur durch verstärkte politische Steuerungskompetenz behaupten könne. Hier zeigt sich ein problematisches Verständnis von Demokratietheorie als Vorwegnahme des richtigen Ergebnisses. Wenn das zentrale Motiv für eine Konstitutionalisierung Europas ist, Wirtschaft und Finanzmärkte durch politische Steuerung zu 25 Zu verschiedenen Verständnissen und Modellen von Föderalismus siehe Levy, 2007. Er macht darüber hinaus deutlich, dass der Föderalismus nicht nur eine rechtstechnische Herausforderung ist, sondern auch ein grundlegend anderes Verständnis von Gesellschaftsvertragstheorien erfordert. 26 Habermas, 2011: 69. 27 Habermas, 2011: 79; Habermas, 2013: 101.

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regulieren, so ist das Ausdruck einer bestimmten sozialdemokratischen Lesart europäischer Politik. Über deren Richtigkeit muss man in täglichen politischen Auseinandersetzungen streiten. Problematisch ist der Ort und die Weise, wie Habermas diese Vorstellung einbringt. Sie soll auf der Ebene eines neuen europäischen Verfassungsvertrages als Verfassungspolitik verankert werden. Es ist nicht nur weltfremd zu glauben, dass Briten einem Vertrag zustimmen, in dem die Vorstellungen der deutschen Sozialdemokratie verbindlich verankert sind. (Über mögliche Auswirkungen solcher Vorschriften auf die politische und wirtschaftliche Kultur in anderen Ländern kann man trefflich spekulieren.) Der Vorschlag verkennt überdies die grundlegende Rolle von Regierung und Opposition in einem demokratischen Verfahren. Eine Verfassung legt den Rahmen fest, innerhalb dessen unterschiedliche wirtschaftspolitische und gesellschaftliche Vorstellungen verfolgt werden können. Wenn gegenwärtig bestimmte „neoliberale“ Vorstellungen vorherrschen, oder Austeritätspolitik auf europäischer Ebene verfolgt wird, so liegt es nicht daran, dass „anonyme Mächte“ am Werke sind, sondern dass solche Politik aus bestimmten Gründen von einer Mehrheit der europäischen Regierungen gewollt wird. Man kann das natürlich kritisieren und für eine andere Art von Politik eintreten; aber nur eine bestimmte Politik als demokratisch auszuzeichnen, ihr einen Verfassungsrang zuzubilligen und alle anderen Vorstellungen abzuqualifizieren, ist geradezu ein Paradebeispiel des Argumentationstyps „performativer Selbstwiderspruch“. V. Außenpolitische Konsequenzen Bisher wurde Habermas’ Modell nur aus der Binnenperspektive diskutiert. Für eine Außenperspektive auf Modelle europäischer Integration ist aber noch ein anderer Punkt relevant. Habermas hält es für einen Vorzug, dass sich seine Vorstellung zu Europa „nahtlos“ in die Idee einer politisch verfassten Weltgesellschaft einfügt.28 Er erläutert, dass in einer politisch verfassten Weltgesellschaft ein reformierter Sicherheitsrat zusammen mit effektiv ausgestalteten Gerichtshöfen sich um Friedenssicherung und Menschenrechtspolitik kümmern würde.29 Ein Weltparlament hingegen könnte „Debatten über Hintergrundbedingungen globaler Gerechtigkeit“ führen.30 Da die einschlägigen Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit bereits „im moralischen Kernbestand aller großen Weltreligionen und der von ihnen geprägten Kulturen verankert“ seien,31 seien auch diese Debatten keine antagonistischen politischen Auseinandersetzungen, sondern beträfen nur Anwendungsfragen. Natürlich wird die Notwendigkeit der Überwindung der gegenwärtigen „lähmenden Konstellation der Weltpolitik“ wieder mit einem Verweis auf die Macht der Finanzmärkte begründet.

28

Habermas, 2011: 86. Habermas, 2011: 87. 30 Habermas, 2011: 92. 31 Habermas, 2011: 92. 29

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Nun ist das Problem, dass es diese Welt, in die sich Habermas’ Konzeption von Europa „nahtlos“ einfügt, nicht gibt. Habermas wechselt also unvermittelt das Register. Als Ergänzung einer Deutung des Vertrages von Lissabon empfiehlt er eine andere Weltordnung, die lediglich moralisch begründet ist. Jedoch ist Habermas’ globales Design nicht bloß eine Idealvorstellung, sondern erfüllt zugleich eine ganz bestimmte Funktion. Es dient dazu, die Notwendigkeit politischen Handelns im paradigmatischen Feld der Außenpolitik zu negieren. In Habermas’ Design sind nämlich weder Friedenssicherung noch Menschenrechte noch Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit wirklich politische Fragen. Genau dies sind aber die Felder, in denen sich Außenpolitik bewähren muss, indem sie unter Zeitdruck mit unvollständigem Wissen durch Komplexe von Interessen, Wertvorstellungen und kontingenten Faktoren navigiert. Bei Habermas hingegen wird die Existenz und Notwendigkeit von Außenpolitik theoretisch zugunsten der Vision einer „das Völker- und Staatsrecht nivellierenden Gesamtrechtsordnung“ geleugnet.32 Anstelle einer phänomenologischen Beschreibung der Lage, in der sich Europa aufgrund seiner geographischen Lage, geschichtlichen Herkunft und seines kulturellen wie ökonomischen Potenzials befindet, wird also eine ideale Gegenwelt gesetzt, in der es keine politischen Konflikten mehr gibt.33 Man könnte nun darauf hinweisen, dass es auch in dieser Welt einen Souverän gibt, nämlich die Weltorganisation, der unter anderem die Aufgabe übertragen wird, die „faktische Machtbalance“ zwischen den Global Players zu „beaufsichtigen“.34 Entscheidend aber ist, dass das „globale Design“ eine Reflexion des Blicks von außen nicht zulässt. Bereits Habermas’ Modell der Europäischen Union verunklart systematisch die Rolle der asymmetrischen Machtverteilung, die für alle föderalen Gebilde typisch ist und gerade von schwachen oder kleinen Mitgliedsstaaten sehr klar wahrgenommen wird. Henry Kissingers spöttische Frage, „Welche Telefonnummer hat Europa?“, ist faktisch längst gelöst. Allen Betroffenen, gerade den Ländern in der Peripherie, sind die Nummern bekannt; je nach Materie können es auch unterschiedliche Telefone sein. Durch die Vision einer Weltinnenpolitik wird zusätzlich noch die außenpolitische Perspektive verstellt. Wer nicht weiß, wer er ist, wie er auf andere wirkt und von ihnen wahrgenommen wird, verzichtet auf Handlungsspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten. VI. Alternative I: Europa als Superstaat Nähert man sich also Europa mit einem Blick von außen, so zerfallen liebgewonnene historische Narrative in die Vielfalt der Geschichten. Zugleich erscheinen phi32

Habermas, 2011: 94. Ob diese Welt überhaupt wünschenswert ist, ist eine weitere Frage. Kant kommentierte seinen Entwurf zum ewigen Frieden selbstironisch mit den Worten „Es ist doch süß, sich Staatsverfassung auszudenken”, wohl in Anspielung auf Horaz’ Satz „Es ist so süß, fürs Vaterland zu sterben” und die bekannte epikureische Replik „Süßer ist’s, das Leben im Vaterland zu genießen.” 34 Habermas, 2011: 94. 33

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losophische Modellbildungen als Ausdruck alter bundesrepublikanischer Bewusstseinslagen, in denen außenpolitische Zielsetzungen nicht vorkommen. Aus Sicht einer avantgardistischen Position, wie Habermas sie formuliert, wird Kritik daran jedoch oft als „bloß empirischer“ Hinweis oder „Rückfall in überwundene Vorstellungen“ missverstanden. Deswegen ist es wichtig, philosophisch reichhaltige Alternativen aufzuzeigen. Es ist wohl kein Zufall, dass Positionen, die auch die außenpolitische Rolle Europas mit bedenken, von Theoretikern entwickelt werden, die eine randständige Perspektive einnehmen. Zwei Beispiele sollen hier genannt werden. Der in den USA lehrende britische Philosoph Glyn Morgan argumentiert auf der Basis von sicherheitspolitischen Überlegungen für einen europäischen „Superstaat“.35 Der polnischstämmige Politikwissenschaftler Jan Zielonka sieht in Europa hingegen ein wohlwollendes Imperium.36 In beiden Fällen ergeben sich spezifische außenpolitische Orientierungen. Morgan startet seine Überlegungen mit einem klaren Rechtfertigungsprogramm.37 Politische Gemeinwesen können demnach nur gerechtfertigt Autorität beanspruchen, wenn sie genuin politische Leistungen erbringen. Morgan fragt daher nicht, welche Vor- und Nachteile die europäische Integration hat, sondern grundlegend, mit welcher Art von Argument überhaupt eine (immer engere) politische Union begründet werden kann. Dabei unterscheidet er streng zwischen Rechtfertigung und Legitimation. Rechtfertigung betreffe die Frage, woher die Autorität kommt, Gesetze zu erlassen, Legitimation hingegen die Frage, ob und inwieweit Gesetze den Einzelnen auch politisch verpflichten.38 Man kann sich den Unterschied zwischen Rechtfertigung und Legitimation auf Reisen verdeutlichen. Üblicherweise weiß man, wer die relevante Autorität ist, die Gesetze erlassen oder Anweisungen geben kann: Im Regelfall der Staat oder, in bestimmten Situationen, auch Private, wie zum Beispiel die Campus Police. Die Frage der Legitimation stellt sich zusätzlich, da unsinnige, schlecht begründete oder gar unmoralische Anweisungen mir qua Anweisung keine moralische Pflicht zum Rechtsgehorsam auferlegen. Rechtfertigung betrifft also die Autorität und ist eine Ja/nein-Frage, Legitimation hingegen kann mehr oder weniger gegeben sein. Sie hängt nicht zuletzt von der je individuellen Beurteilung einer Situation ab. Morgan nutzt diese Unterscheidung, um zu fragen, wie eine politische Union überhaupt gerechtfertigt werden kann. Dazu seien nur solche Argumente tauglich, die tatsächlich von allen betroffenen Bürgern geteilt werden können. Morgan schreibt, sie müssen den Standards einer „demokratischen Rechtfertigung“ genü-

35

Vgl. Morgan, 2007. Vgl. Zielonka, 2006. 37 Morgan, 2007: 24 – 44. 38 Zur Erläuterung dieser Unterscheidung anhand von John Lockes Vertragstheorie siehe Simmons, 2001. 36

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gen.39 Im Einzelnen heißt das, dass sie öffentlich im Sinne von allgemein geteilt, einfach zugänglich und hinreichend sein müssen. Der Clou von Morgans Argumentation ist nun, dass die meisten Argumente, die für die europäische Integration vorgebracht werden, diese Kriterien nicht erfüllen. Das trifft sowohl auf euroskeptische als auch auf eurofreundliche Positionen zu. So können beispielsweise konservative Positionen, die auf der Basis einer Nation als geschichtlich begründetes kulturelles Band argumentieren, diesen Wert nicht für alle Staatsbürger als bindend voraussetzen, insbesondere nicht für Migranten. Das Argument erfüllt deswegen nicht das Kriterium einer öffentlichen Rechtfertigung, die von jedem Einzelnen geteilt werden kann. Die Kriterien der Rechtfertigung zeigen aber ebenso gut die Grenzen eurofreundlicher Rechtfertigungen auf. So wendet Morgan gegen Habermas’ Narrativ ein, dass die Zusammenhänge von sozialer Integration, Gefahr der Globalisierung und Notwendigkeit einer redistributiven Politik auf relativ voraussetzungsvollen theoretischen Annahmen beruhen, die nicht ohne Weiteres allen „zugänglich“ seien. Außerdem würden Habermas’ wirtschaftspolitische Vorstellungen aufgrund des Wertepluralismus nicht notwendig von jedem Einzelnen in seiner Rolle als „bloßer Bürger“ geteilt und seien zudem nicht hinreichend, eine politische Union zu begründen.40 Wenn es nur darum ginge, den Wohlfahrtsstaat zu retten, wären auch andere Regelungen denkbar beziehungsweise könnten Regelungen auf europäischer Ebene mit denselben Problemen konfrontiert sein, wie auf nationaler Ebene. Morgans Anforderungen an eine gelungene Rechtfertigung basieren also auf dem urliberalen Gedanken, dass Leute radikal verschiedene Wertvorstellungen und Überzeugung haben, so dass Argumente, die nur in einem nationalen Kontext oder in einer Peer Group ankommen, ausgeschlossen werden müssen. Morgan schlägt als Lösung eine sicherheitsbasierte Rechtfertigung vor.41 Sicherheit, verstanden als Schutz vor „standard threats“ sei etwas, woran jeder Einzelne unabhängig von seinen politischen Überzeugungen notwendig ein Interesse habe. Dabei nutzt Morgan einen relativ weiten Begriff von Sicherheit. Im Unterschied zu einem Hobbes’schen Verständnis möchte Morgan also nicht alles der Sicherheit von Leib und Leben unterordnen, sondern schließt auch den Schutz von grundlegenden Rechten mit ein. Außerdem sieht er nicht nur gewöhnliche Kriminalität oder Bürgerkriege als Gefahr für Individuen, sondern in einem interdependenten Weltsystem auch zwischenstaatliche Kriege und Terrorismus. Auf diese Weise kommt die außenpolitische Perspektive mit hinein. Der Grund für den Aufbau eines europaweiten Superstaates sei nun, dass nur mit einer eigenständigen Armee die Sicherheit Europas unabhängig von der Hegemonialmacht USA gewährleistet werden könne. Die Abhängigkeit Europas von den USA sei selbst ein Sicherheitsrisiko, zumal wenn die USA, wie während der Regierungszeit von George W. Bush, in erster Linie unilateral oder machtorientiert handeln. Demgegenüber sei eine multipolare Welt mit Europa als eigenständiger Macht 39

Morgan, 2007: 33 – 41. Morgan, 2007: 85 – 88. 41 Morgan, 2007: 89 f. 40

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stabiler und zudem realistischer als die Hoffnung auf eine unilaterale Welt, in der sich die stärkste Macht freiwillig dem Recht unterordnet. Natürlich weiß Morgan, dass sein Argument gegenwärtig in den europäischen Gesellschaften auf keine große Gegenliebe stößt. Deswegen versteht er seine sicherheitsbasierte Rechtfertigung der europäischen Integration als einen Vorschlag, wie in Zukunft Diskussionen über eine weitere Integration geführt werden sollten. Die argumentative Reinheit und der realistische Blick auf die internationalen Beziehungen, die Morgans Argumentation auszeichnen, haben allerdings ihren Preis. Die Vielfalt der unterschiedlichen Probleme, die sich innerhalb des Machtgefüges Europas und in seiner unmittelbaren Peripherie stellt, wird durch die Verengung auf geostrategische Fragen ausgeblendet. Außerdem ist, anders als bei Hobbes, die globale Sicherheitsfrage kein Problem, das sich jedem Einzelnen als überwältigendes Problem aufdrängt. Im politischen Alltag würde die rein sicherheitspolitische Argumentation zudem sehr schnell mit den unreinen Problemen des Tagesgeschäfts vermischt werden. Sie würde nicht nur ein ständiges „ceterum censeo militiam esse construendam“ in allen beteiligten Staaten voraussetzen, sondern auch eine tiefgreifende Umgestaltung der Wertvorstellungen in den europäischen Gesellschaften. Dennoch vermittelt das Modell wichtige Erkenntnisse. Es verdeutlicht die Logik unterschiedlicher Integrationstheorien und zeigt zudem, wie Europa von einigen Regionen der Welt aus wahrgenommen wird: als schwacher, mit sich selbst beschäftigter Kontinent, der nicht mehr in der Lage ist, geopolitische Impulse zu setzen. Allerdings beruht diese Wahrnehmung noch auf dem staatlichen Paradigma, versteht Europa also als einen noch nicht zentralisierten Staat, der im Vergleich zu den USA Defizite aufweist. VII. Alternative II: Europa als Imperium Nähert man sich jedoch Europa von seinen geographischen Grenzen her, so wird deutlich, dass die Politik der Europäischen Union einem grundsätzlich anderen Muster folgt, nämlich dem eines wohlwollenden Imperiums. Diese Sicht hat Jan Zielonka prominent eingeführt. Wieder ist es ein Blick auf Europa von außen. Zielonka hat im Zuge der polnischen Beitrittsverhandlungen die konkrete Politik der Europäischen Union genau verfolgt. Das gerade erst demokratisch gewordene Polen bekam genau diktiert, welche Gesetze es wie zu verabschieden hatte, und welche gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kennziffern erfüllt werden mussten. Zielonka ist jedoch kein antihegemonialer Kritiker der Europäischen Union, der über asymmetrische Machtverhältnisse oder versteckte Imperialismen klagt. Er erkennt vielmehr die ökonomischen und gesellschaftspolitischen Vorteile an, insbesondere die Aufstiegschancen, die die Europäische Union gerade der jungen Generation bietet. Allerdings sieht er im langwierigen Prozess der Beitrittsverhandlungen nicht bloß eine irreguläre Ausnahmeerscheinung, die möglichst schnell zugunsten des Normalzustandes der Gleichberechtigung überwunden werden muss, sondern ein grundlegendes Muster, das sich durch alle Bereiche zieht. Die Europäische Union funktioniert nämlich

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nach Zielonka nicht wie ein klassischer souveräner Staat mit festen Grenzen, einheitlicher Verwaltungsstruktur und einem homogenen Wirtschaftsraum, sondern wie ein neo-mittelalterliches Imperium. Ein solches Imperium bestehe aus überlappenden politischen und rechtlichen Einheiten, habe daher weiche Grenzen, beinhalte divergente Wirtschaftsformen und biete Raum für multiple Identitäten.42 Diese idealtypische Charakterisierung ist allerdings begrifflich noch nicht scharf genug, da sie zwar auf viele der mittelalterlichen Reiche zutrifft, aber ebenso auch auf die modernen Imperien des 19. Jahrhunderts. Zielonka erklärt daher, dass die Europäische Union im Unterschied zu diesen „neo-westfälischen Imperien“ auf spezifische Weise agiere. Statt durch Eroberung, militärische Kontrolle, Aufrechterhaltung der Asymmetrie und ökonomische Ausbeutung regiere die Union durch Einladung, ökonomische und bürokratische Kontrolle, beteilige Staaten an Entscheidungsprozessen und verspreche gegenseitige Vorteile.43 Zielonkas Analyse verabschiedet sich also bewusst vom staatlichen Modell und stellt alle die Charakteristika, die üblicherweise als Übergangsphänomene oder Unvollkommenheiten vernachlässigt werden, in das Zentrum seines Modells. Wie bei allen politiktheoretischen Modellbildungen nutzt Zielonka Typisierungen, um auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Herrschaftsformen aufmerksam zu machen. Der Vorzug dieser abstrakten Typisierung ist, dass die Vielfalt der geschichtlichen Verhältnisse in Europa, die historisch zwar benannt werden können, aber scheinbar unvermittelt neben dem Kern der politischen Union stehen, viel einfacher in das Bild mit einbezogen werden können. Denn alle Regionen in Europa, auch die in der Peripherie, sind auf unterschiedliche Weise mit den Kernländern, insbesondere den ehemaligen Kolonialstaaten verflochten. Das Modell des neo-mittelalterlichen Imperiums hilft außerdem, asymmetrische Machtverhältnisse und den Umgang mit ihnen zu reflektieren. Die Hegemonie Deutschlands in Europa, die verschiedentlich diskutiert wird,44 ist danach lediglich ein Aspekt von solchen Verhältnissen.45 Aus Sicht der Peripherie wird von Zielonka ein anderer, damit verwandter Aspekt lakonisch benannt: „Cheating is the essence of imperial relations characterized by structural asymmetry.“46 Diese Sicht kann helfen, das Wesen und die inneren Verhältnisse der Europäischen Union auf den Punkt zu bringen. Aber auch für die außenpolitische Perspektive hat das Modell einen spezifischen Mehrwert. Es macht deutlich, wie die Europäische Union von anderen in ihrem Umfeld wahrgenommen wird, nämliche als imperiale Macht. Natürlich hat die Strahlkraft Europas in den letzten Jahren durch die anhaltende wirtschaftliche Krise 42

Zielonka, 2006: 12. Zielonka, 2006: 14. 44 Vgl. Schönberger, 2012. 45 In England gibt es diese Debatte, teils mit chauvinistischen Untertönen, schon länger, zuletzt Beddoes, 2013. 46 Zielonka, 2006: 13. 43

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stark gelitten. Insofern basiert Zielonkas Analyse noch auf der Logik fortwährender Erweiterungsphasen. Jedoch bleibt nach wie vor die Aussicht auf Teilnahme am Binnenmarkt, Strukturförderung und Partizipation ein Pfund, mit dem Europa wuchern kann.47 Die Sicht auf Europa als neo-mittelalterliches Imperium hat aber nicht nur in der Region, sondern auch als geopolitischer Analyserahmen Vorteile. Die Begrifflichkeit erlaubt, unterschiedliche Arten von Imperien, ihre jeweils spezifische Ausrichtung, Machtmittel und Ausdrucksformen zu vergleichen.48 Aus dieser geopolitischen Vogelperspektive erscheinen beispielsweise Europa, die USA und China nur als unterschiedliche Arten von Imperien, deren Verhalten aufgrund ihrer geschichtlichen Situation und gegenwärtigen Machtmittel erklärt werden kann. Auf diese Weise wird das wohlfeile Selbstbild,49 Europa sei die einzige echte Friedensmacht, die sich idealiter nur an menschenrechtlichen Standards orientiert, relativiert. Allerdings hat die Begrifflichkeit Zielonkas auch einen gravierenden Nachteil: Sie verbleibt auf einer äußeren, beschreibenden Ebene, kann aber nicht als Selbstbeschreibung genutzt werden. In der deutschen Sprache wird dieses Problem besonders deutlich. Der unschöne Ausdruck „neo-mittelalterliches Imperium“ ließe sich einfach und treffend mit „Reich“ übersetzen, und da dieses Reich ein neues ist, das auf vorhergehende folgt, läge eine Fortführung der Zählung der Reiche nahe. Tatsächlich wird der Ausdruck „Viertes Reich“ mit Merkel als „Führer“ des Hegemons Deutschland in deutschfeindlichen Artikeln der Boulevardpresse in verschiedenen Ländern regelmäßig genutzt. Es versteht sich von selbst, dass auch bei noch so vielen Qualifikationen und Beteuerungen dieser Begriff nicht als Beschreibungskategorie genutzt werden kann. Auch im Englischen weckt der Ausdruck „Empire“ ungute Erinnerungen, so dass er, jedenfalls in der offiziellen politischen Sprache, verpönt ist. (Selbst George W. Bush betonte immer wieder, die USA seien kein Imperium.) Diese sprachpolitischen Beobachtungen reflektieren aber nicht nur kulturelle Befindlichkeiten, sondern haben auch in der politischen Philosophie eine Entsprechung. Der Gegenbegriff zur republikanischen Herrschaftsform, „dominium politicum et regale“ (unterschiedliche Territorien, die unter einer Monokratie geeint sind), ist als legitime Herrschaftsform in der politischen Philosophie seit Machiavelli praktisch nicht mehr präsent.50 Greift man heute unvermittelt auf neo-mittelalterliche oder imperiale Begriffe des 19. Jahrhunderts zurück, so gerät man in trübe Gewässer einer romantisch verklärten Mittelalterschwärmerei mit antiliberalen Zügen. Das begriff47 Der weitreichendste geopolitische Vorschlag aus dieser neo-imperialen Sicht wird allerdings nicht breit diskutiert, sondern bestenfalls in Fußnoten erwähnt: Aufnahme Israels und Palästinas in die Europäische Union unter Voraussetzung eines umfassenden Friedensvertrages. 48 Vgl. Zielonka, 2013; Marks, 2012. 49 Vgl. Beck, 2007. 50 Zu den polito-theologischen Ursprüngen des Republikanismus als einzig legitimer Herrschaftsform siehe Nelson, 2010.

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liche Problem ließe sich zum Teil lösen, indem man im Englischen auf den Begriff des Commonwealth, im Deutschen auf den Begriff des Bundes zurückgreift, und die jeweils spezifische Tradition reflektiert.51 Jedoch ist es mit sprachlichen Umbenennungen nicht getan, da dahinter ein grundlegendes Problem der politischen Philosophie und ihrer Sprache steht. VIII. Darstellungen des Politischen Gerade wenn man mit einem historisch informierten Blick auf Europa sieht, der die Vielfalt der Phänomene und Traditionen aufzunehmen versucht, wird die begriffliche Armut der politischen Philosophie deutlich. Ihr fehlen die adäquaten Begriffe und Reflexionsformen, um Europa als politisches Phänomen in seiner Fülle darstellen zu können. Anders als zu Zeiten der Amerikanischen und Französischen Revolution kann diese Armut auch nicht mehr damit kaschiert werden, dass die vorhergehende Zeit als Barbarei verteufelt oder – in der Theorie – in das Jenseits des Gesellschaftsvertrages verbannt wird. Jeder Vorschlag, wie Europa zu denken ist, sei es als sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat, als Superstaat oder als Commonwealth, ist damit konfrontiert, dass auch das jeweilige Gegenteil nicht unerträglich oder bloß naturwüchsige Barbarei wäre. Selbst Habermas’ Krisenszenarien und Aufrufen zur Vertiefung der Demokratie fehlt ein echter Gegner, da über das Ziel – Schutz von Menschenrechten, Demokratisierung, Wohlstand für alle – ja unter allen Beteiligten, Konstitutionalisten wie Ordoliberalen, Einigkeit besteht. Eine grundlegende Schwierigkeit, Europa in politischen Begriffen zu beschreiben, entsteht dadurch, dass der politische Raum durch ständige Ausweitung, innere Umformung und Etablierung von überlappenden Regimes ständig im Fluss ist und genau das zu seinem Kennzeichen wird. Bisher konnte man sich noch der Illusion hingeben, dass die Ausweitung der Europäischen Union ein Prozess ist, der irgendwann an sein natürliches Ende kommt (finalité d’Europe). Durch die Eurokrise wurde jedoch schlagartig deutlich, dass Kultur-, Währungs-, Wirtschafts- und politische Räume nicht deckungsgleich sind, zwischen ihnen politische Konflikte entstehen können und obendrein ihr Zuschnitt prinzipiell änderbar ist. Der anvisierte Binnenmarkt mit den USA würde das Gefüge noch einmal grundlegend verändern, so dass sich stetig ändernde Voraussetzungen als Dauerzustand anzunehmen sind. Blickt man auf Europa von außen, so kann man zwar diese Art von politischer Form als Imperium beschreiben und bemerken, dass Versuche, Europa in föderalen oder machtstaatlichen Begriffen zu denken, dem Phänomen nicht gerecht werden. Aber die offene Benennung von asymmetrischen Machtverhältnissen, hegemonialen Strukturen, oder auch das Bewusstmachen von historischen Narrativen oder Handlungsformen hilft nicht weiter, wenn diese Einsichten nicht in alltagstaugliche politische Sprache übersetzt werden können. Dass dabei auch die politische Philosophie an eine Grenze stößt, mag ein Beispiel verdeutlichen. 51

Vgl. Schönberger, 2004; Koselleck, 1972.

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Robert Menasse schildert in seinem Essay „Der europäische Landbote“ den Verlauf des Krisengipfels des Europäischen Rates im März 2010.52 Alle 27 Staats- und Regierungschefs fliegen nach Brüssel, fahren nach einer ausgeklügelten Choreographie einzeln vor, werden vom Protokollchef des Ratspräsidenten begrüßt und gehen dann nach einem kurzen Statement für die Presse zu den Verhandlungen. Wenig später verschwinden Merkel und Sarkozy in einem Nebenraum und kehren erst nach mehreren Stunden wieder in den Verhandlungsraum zurück. Kurz darauf wird dann das im Konsens aller Staats- und Regierungschefs erzielte Ergebnis vor der versammelten Presse verkündet. Menasse schreibt dazu: „Das muss man sich jetzt in aller Ruhe, die das Missvergnügen gewährt, vorstellen: 25 politische Repräsentanten, die politisch noch über das verfügen, was so schön ,demokratische Legitimation‘ heißt, denn immerhin sind sie gewählt, sitzen in einem Raum und machen – was? Karten spielen? Kaffee trinken? Restauranttipps austauschen?“53 Diese Schilderung ist entlarvend. Es gibt keine politische Theorie, die das, was dort vor sich geht, adäquat darstellen kann. Sicher ist das gemeinsam verkündete Ergebnis nicht Resultat einer „Deliberation unter Gleichen“. Aber eine rein ökonomische Betrachtung, wonach man sich die Kosten beispielsweise für die Anreise des österreichischen Regierungschefs (sicherlich insgesamt im sechsstelligen Bereich) doch sparen könne, verbunden mit dem machtpolitischen Hinweis, so sei es eben im Neo-Mittelalter, werden dem Phänomen ebenfalls nicht gerecht. Der „Theaterstaat“ der Repräsentation54 (Vorfahren und Begrüßen), hegemoniale Machtausübung (Merkel und Sarkozy im Nebenzimmer), formelle Partizipation (die Regierungschef werden in der Tat abgestimmt haben) sind als politische Phänomene ebenso ernst zu nehmen, wie die Klagen der Theoretiker über das Demokratiedefizit und die Entrüstung einiger populistischer Medien über „Hitler-Merkel“. Es könnte sogar sein, dass die um sich selbst kreisende Demokratietheorie eine wichtige soziale Funktion erfüllt, nämlich die notwendige Täuschung so aufrechtzuerhalten, dass sich sogar die Beteiligten über den Charakter der Täuschung täuschen. Das ist keine zynische Aufklärung, da dahinter keine Erklärung steht, was alle Werte in Wahrheit sind (Ausdruck von Klassenlagen, Macht- oder ökonomischen Interessen). Es ist vielmehr eine offene Frage, wie eine Theorie beschaffen sein muss, damit sie diese Verhältnisse darstellen und reflektieren kann. Wieder gilt es dabei, auch die außenpolitische Dimension im Auge zu behalten. Sie lässt sich am besten anhand eines weiteren Beispiels verdeutlichen. Auf seiner ersten Europareise im Mai 2014 besuchte der chinesische Ministerpräsident Li Keqiang nicht etwa Brüssel, sondern nur Berlin (und zur Unterzeichnung eines Handelsabkommens die Schweiz). Der Grund dafür ist natürlich, dass fast die Hälfte des Handels zwischen der EU und China mit Deutschland abgewickelt wird. Außerdem war Li Keqiang vermutlich besorgt, dass der Euro als zweite internationale Ankerwäh52

Vgl. Menasse, 2012. Menasse, 2012: 45. 54 Zur symbolischen Dimension des „Theaterstaats“ als typischer Bestandteil westlicher politischer Kultur siehe Reinhard, 1999: 80 – 99. 53

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rung neben dem Dollar erhalten bleibt, und traf sich auch aus diesem Grund nur mit Merkel und nicht mit allen Vertretern der Euro-Gruppe, wie es innerhalb Europas üblich wäre. Aus chinesischer Perspektive gibt es in Europa also eine klare hegemoniale Struktur. Das heißt nun nicht, dass das die ganze Wahrheit ist, oder Merkel sich wie ein auftrumpfender Hegemon verhalten sollte oder könnte – zumal in anderen Bereichen, beispielsweise in sicherheitspolitischen Fragen, Großbritannien und Frankreich die entscheidenden Akteure sind. Das Beispiel verdeutlicht aber, dass für die konkrete außenpolitische Frage „Was tun?“ politische Theorien kaum Orientierungshilfe bieten und teils nicht einmal relevante Probleme thematisieren können. Wird die außenpolitische Dimension der Euro-Rettung mit in Betracht gezogen, so kommt sie zwangsläufig mit anderen sicherheitspolitischen Politikfeldern in Verbindung. Die Forderung nach einer „immer engeren politischen Union“ kann aber als Theorie keine Antwort auf die Frage bieten, wann Umstände für eine politische Entscheidung günstig sind, wie andere die Situation wahrnehmen oder wie die persönliche Chemie zwischen Entscheidungsträgern ist. Aber auch in der europäischen Innenpolitik scheitern Theorien daran, dass sie nicht die jeweils geeigneten Momente für politisches Handeln benennen können und so die konkrete Zeitlichkeit jedes politischen Handelns ausblenden. Soll man die Europäische Union in jedem Fall „stärken“ und riskieren, dass Großbritannien die Union verlässt, oder erst das britische Referendum abwarten? Kann eine „Stärkung europäischer Institutionen“ (Verhandlung eines neuen Vertrages, Neuwahlen mit Wahlkampf etc.) überhaupt so schnell erfolgen, dass diese auf die jetzige Krise reagieren können? Nicht einmal die anvisierte Instruierung politischer Eliten und Medien oder der Öffentlichkeit ist ein Ausweg, da Außenperspektiven sich so nicht beeinflussen lassen. Politisches Handeln bleibt also ein situatives Entscheiden auf eine offene Zukunft hin. Das heißt nicht, dass außenpolitisches Handeln prinzipienlos ist oder es als „hohe Politik“ der öffentlichen Beurteilung entzogen sei; es ist nur schwer, dies zu theoretisieren, da gerade einschneidende politische Entscheidungen immer von bestimmten Personen mit ihren jeweiligen individuellen Stärken und Schwächen und unter jeweils einmaligen historischen Umständen getroffen werden. Am ehesten helfen vielleicht historische Analogien oder auch Reflexionen politischen Handelns in Literatur und Film, um die Zeitlichkeit des politischen Handelns zu verdeutlichen. Sie zeigen, dass es im politischen Handeln darum geht, den richtigen Moment zu ergreifen (oder zu verfehlen), wobei kontingente Umstände oft die entscheidende („tragische“) Rolle spielen. Es ist also nicht nur die vielbeklagte Psychologie der Märkte, die eine rationalistisch geplante Politik verhindert. Ebenso kann das fragwürdige Sexleben eines aussichtsreichen Kandidaten für das Amt des französischen Staatspräsidenten dazu führen, dass Frankreich unter François Hollande jetzt wieder verstärkt auf etatistische Wirtschaftsförderung setzt und das Freihandelsabkommen mit den USA torpediert. Solche Querverbindungen zwischen persönlichen Lastern und grundlegenden politischen Entwicklungen sind in keiner Theorie vorgesehen. Man findet sie aber in den klassischen Königsdramen oder als populärer

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Gegenpol auch im Film.55 In solchen ästhetischen Reflexionsformen erscheint Politik dann wahlweise als Drama oder Farce, aber nicht als ein theoretisch instruierter moralischer Lernprozess. Literatur Arendt, Hannah (2000): Europa und Amerika. In: Dies.: In der Gegenwart: Übungen im politischen Denken II. München: Piper, S. 238 – 257. Beck, U. (2007): Das kosmopolitische Europa: Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Beddoes, Z. M. (2013): „Germany: Europe’s reluctant hegemon“. In: The Economist vom 15. 6. 2013. Bonte, C. (2009): „Der Feind im Innern. Die Schweiz kommt Europa näher und bleibt doch fern“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. 2. 2009. Calliess, C. (2010): Die neue Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon. Tübingen: Mohr Siebeck. Fassmann, H. (2002): „Wo endet Europa? Anmerkungen zur Territorialität Europas und der EU“. In: Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft, 144, S. 27 – 36. Geuss, R. (2005): Genealogy as Critique. In: Ders.: Outside Ethics. Princeton: Princeton University Press, S. 153 – 160. Grimm, D. (2012): Wer ist souverän in der Europäischen Union? In: Ders.: Die Zukunft der Verfassung II. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Habermas, J. (1973): Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – (1998): Die postnationale Konstellation: Politische Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – (2001): Zeit der Übergänge. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – (2011): Zur Verfassung Europas: Ein Essay. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – (2013): Im Sog der Technokratie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – (2015): „Warum Merkels Griechenland Politik ein Fehler ist“. In: Süddeutsche Zeitung vom 22. 6. 2015. Judt, T. (2006): Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. München: Hanser. Koselleck, R. (1972): „Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat“. In: Koselleck, R./Conze, W./Brunner, O. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 582 – 671. Levy, J. (2007): „Federalism, Liberalism, and the Separation of Loyalties“. In: American Political Science Review, 101, S. 459 – 477. Marks, G. (2012): „Europe and Its Empires: From Rome to the European Union“. In: Journal of Common Market Studies, 50, S. 1 – 20. 55 Im Western „High Noon“ beispielsweise werden die Fragen der Souveränität und Grenzen der Demokratie verhandelt. Siehe hierzu Rustemeyer, 2013: 333 – 368.

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Paradigmenwechsel im Völkerrecht? Zur Abkehr vom strikten Positivismus im modernen Völkerrechtsdenken Von Hans-Georg Dederer Abstract Die moderne Völkerrechtsordnung stellt sich als rechtliche Grundordnung einer internationalen Gemeinschaft dar, die sich nicht mehr nur aus den Staaten, sondern aus allen Völkerrechtssubjekten, namentlich aus den Menschen als Völkerrechtsträgern zusammensetzt. Ihrem durch bestimmte formell- und materiell-rechtliche Elemente geformten Charakter nach bildet diese Ordnung eine gleichsam öffentlich-rechtlich strukturierte „Weltinnenrechtsordnung“. Die überkommene positivistische Rechtsquellenlehre vermag diesen Wandel weder zu deuten, noch in dieser gewandelten Völkerrechtsordnung als die allein maßgebliche Rechtsentstehungsdoktrin zu bestehen. Es entspricht der Natur einer solchen Ordnung, dass sie zur kohärenten Geschlossenheit und damit zur Schließung im positiven Recht vorgefundener Lücken drängt. Entsprechende Rechtsfortbildung sollte nicht der letztlich im Positivismus verharrenden Rückbindung an einen Staatenkonsens bedürfen. Zu überlegen wäre vielmehr, ob nicht eine jedermann einleuchtende Rationalität ausreichen könnte, welche das „öffentliche Gewissen“ der Weltgemeinschaft konkretisiert.

I. Einführung 1. Rechtsquellen des Völkerrechts Das gegenwärtige Völkerrechtsdenken wird weithin immer noch vom „Positivismus“ beherrscht. Dieser völkerrechtliche Positivismus bezieht sich auf die Rechtsquellenlehre.1 „Rechtsquellen“ sind diejenigen Erscheinungen, die Rechtssätze, d. h. als Recht geltende Regeln, als solche unmittelbar aus sich heraus hervorbringen.2 Sie sind von den so genannten „Rechtserkenntnisquellen“ zu unterscheiden.3 Jene geben Auskunft darüber, ob und mit welchem Inhalt ein Rechtssatz existiert. Unabdingbar für diese Auskunft ist, dass die jeweilige Rechtserkenntnisquelle den betreffenden Rechtssatz in einer bestimmten Rechtsquelle zu verorten vermag. 1 Zugleich verbindet sich der Positivismus auch mit der (Vor-)Frage nach dem Geltungsgrund des Völkerrechts überhaupt. Zu dieser noch immer nicht abschließend geklärten, rechtstheoretischen Frage im Überblick Graf Vitzthum, 2013: 23 – 24. 2 Sie werden daher auch zutreffend „Rechtsentstehungsquellen“ genannt (Graf Vitzthum, 2013: 42). 3 Zu dieser Unterscheidung etwa Herdegen, 2015: 115.

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Die im Völkerrecht allgemein anerkannten Rechtsquellen und Rechtserkenntnisquellen sind in Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut4 zusammengefasst. Rechtsquellen des Völkerrechts sind danach „Übereinkünfte“ (d. h. Verträge), „Gewohnheitsrecht“ und „allgemeine Rechtsgrundsätze“ (Art. 38 Abs. 1 lit. a-c IGH-Statut). Demgegenüber bilden „richterliche Entscheidungen“ sowie die „Lehrmeinung der fähigsten Völkerrechtler“ Rechtserkenntnisquellen, nämlich bloße „Hilfsmittel zur Feststellung von Rechtsnormen“ (Art. 38 Abs. 1 lit. d IGH-Statut). 2. Positivistische Rechtsquellenlehre Die Rechtsquellentrias „Verträge – Gewohnheitsrecht – allgemeine Rechtsgrundsätze“ verweist auf den positivistischen Ansatz der Rechtsquellenlehre im Völkerrecht.5 Recht vermag nur durch die Staaten6 hervorgebracht zu werden. Dabei setzt die Rechtserzeugung stets ein gewisses Maß an Übereinstimmung zwischen den Staaten voraus. Für die Rechtsquelle des zwischen Staaten abgeschlossenen Vertrags ist das offensichtlich. Aber auch das Gewohnheitsrecht entsteht nur durch eine „allgemeine, als Recht anerkannte Übung“ (Art. 38 Abs. 1 lit. b IGH-Statut), d. h. eine hinreichend einheitliche Staatenpraxis7 („consuetudo“), die auf übereinstimmender Rechtsüberzeugung („opinio iuris“), zum entsprechenden Verhalten rechtlich berechtigt oder verpflichtet zu sein, beruht. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze schließlich müssen als solche „von den Kulturvölkern [sc. Staaten]8 anerkannt“ sein (Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut). Sie haben ihren Ursprung in den nationalen Rechtsordnungen der Staaten, müssen also zunächst innerstaatlich als in den Staaten anerkannt nachweisbar, ferner im Rechtsvergleich hinreichend übereinstimmend und so-

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Statut des Internationalen Gerichtshofs vom 26. Juni 1945 (BGBl. 1973 II: 505). Weitgehende Einigkeit dürfte zwar darin bestehen, dass Art. 38 Abs. 1 lit. a-c IGH-Statut die völkerrechtlichen Rechtsquellen nicht abschließend auflistet. Aber auch die heute anerkannten, weiteren (möglichen) Rechtsquellen, wie einseitige Rechtsakte oder Beschlüsse internationaler Organisationen, brechen nicht prinzipiell aus dem positivistischen Rechtsquellenverständnis aus. Vgl. hierzu Graf Vitzthum, 2013: 56 – 58; Herdegen, 2015: 116. 6 Gegebenenfalls „mittelbar“ über internationale Organisationen, deren Beschlüsse unter bestimmten Voraussetzungen Quellen (nur) so genannten „sekundären“ Völkerrechts sein können (siehe soeben in Fn. 5). 7 Siehe nur Hobe, 2014: 209; kritisch zum „Dogma der ,Staatenpraxis‘“ (wegen mangelnder Berücksichtigung v. a. internationaler Organisationen) von Arnauld, 2014: 107; siehe auch Beham/Fink/Janik, 2015: 51. 8 Dazu, dass heute alle Staaten als „Kulturvölker“ im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. c IGHStatut angesehen werden, Graf Vitzthum, 2013: 55; Heintschel von Heinegg, 2014: 489. Freilich wird in jüngerer Zeit auch „spekuliert“, ob der Begriff der „Kulturvölker“ (englisch: „civilized nations“; französisch: „nations civilisées“) „in Zukunft eine neue, qualitative Bedeutung erhält“, z. B. dergestalt, dass für die Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze auf „den Grundstandard einer zivilisierten Rechtsgemeinschaft“ abzustellen ist (Thürer, 2000: 601). Dazu nochmals unten in und bei Fn. 188. 5

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dann auf die völkerrechtlichen Rechtsbeziehungen zwischen Staaten übertragbar sein.9 Theoretisch lassen sich demnach alle diese Rechtsquellen des Völkerrechts „positiv“ belegen, nämlich durch empirischen Nachweis, welcher die Staaten und ihr Verhalten (unter Einschluss von Rechtsbehauptungen) oder ihre innere Rechtsordnung in den Blick nimmt und auf die Identifikation hinreichender Übereinstimmung hinsichtlich rechtlicher Bindung an bestimmte Rechte und Pflichten gerichtet ist. Prägnant hat der Ständige Internationale Gerichtshof (StIGH) diesen Positivismus im „Lotus-Fall“ skizziert: „International law governs relations between independent States. The rules of law binding upon States therefore emanate from their own free will as expressed in conventions or by usages generally accepted as expressing principles of law and established in order to regulate the relations between these co-existing independent communities or with a view to the achievement of common aims. Restrictions upon the independence of States cannot therefore be presumed.“10

Der StIGH bezieht sich mit der Formel „conventions or […] usages generally excepted as expressing principles of law“ freilich genau genommen nur auf die beiden ersten in Art. 38 Abs. 1 lit. a und b IGH-Statut11 genannten Rechtsquellen, also auf Verträge und Gewohnheitsrecht, nicht dagegen auch auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut.12 Gleichwohl gilt auch für die allgemeinen Rechtsgrundsätze, dass sie gleichfalls nachweisbar an den übereinstimmenden Willen der Staaten rückgebunden, nämlich „von den Kulturvölkern anerkannt“ sein müssen (Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut).13 An der positivistischen Deutung der Rechtsquelle der „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut änderte sich im Übrigen selbst dann nichts, wenn zu jenen auch solche Rechtsgrundsätze gezählt würden, die ihrem Regelungsgehalt nach von vornherein allein auf die internationalen Beziehungen anwendbar sind und infolgedessen als parallel innerstaatlich gültige Rechtsgrundsätze überhaupt nicht nachweisbar sein können.14 Sie wären als allgemeine Rechtsgrundsätze nach Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut weiterhin an das Erfordernis geknüpft, „von den Kulturvölkern [sc. Staaten]15 anerkannt“ zu sein.16 9

Zur Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze etwa Graf Vitzthum, 2013: 54 – 55; Herdegen, 2015: 156 – 157. 10 PCIJ, The Case of the S.S. „Lotus“, Series A. – No. 10, 18. 11 Gleichlautend seinerzeit Art. 38 Abs. 1 lit. a und b StIGH-Statut (abrufbar z. B. unter http://www.worldcourts.com/pcij/eng/documents/1920.12.16_statute.htm). 12 Gleichlautend seinerzeit Art. 38 Abs. 1 lit. c StIGH-Statut. 13 Siehe oben in und bei Fn. 8 bis 9. 14 Vgl. Gaja, 2013: Rn. 17 – 20. 15 Oben in und bei Fn. 8. 16 Gaja, 2013: Rn. 19. Zur Unterscheidung von „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut werden solche Prinzipien auch als „allgemeine Grundsätze

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3. Problem rechtlicher Lücken in der Welt des „Lotus“-Positivismus Das auf dieser positivistischen Rechtsquellenlehre aufbauende System des Völkerrechts muss notwendig lückenhaft sein.17 Im Lichte des „Lotus-Prinzips“18 erscheint das insofern zunächst unschädlich, als danach ein Handeln der Staaten keinen Einschränkungen unterliegt, soweit sich ein Verbot oder eine sonstige Beschränkung nicht positiv im Völkerrecht als vom übereinstimmenden Willen der Staaten getragene, konsensuale Regel nachweisen lässt.19 Probleme treten allerdings beispielsweise dort auf, wo das Völkerrecht vom strikt positivistischen Ansatz aus betrachtet ein allgemeines Verbot staatlichen Handelns vorsieht, das für eine bestimmte Situation keine Ausnahme zulässt, obwohl gute Gründe materieller Gerechtigkeit für eine Ausnahme streiten. Die so genannte „humanitäre Intervention“ mag diese Problemstellung besonders gut veranschaulichen. II. Problemexposition am Beispiel der „humanitären Intervention“ Das überzeugendste Beispiel einer rein altruistischen so genannten „humanitären Intervention“ bildet der NATO-Luftkrieg gegen Jugoslawien 1999 zum Schutz der Kosovo-Albaner vor ethnischen Säuberungen durch serbische Armee- und Polizeikräfte.20 Der Angriff der NATO stand im Widerspruch zum völkerrechtlichen Gewaltverbot, das völkervertraglich in Art. 2 Nr. 4 UN-Charta verankert ist und parallel gewohnheitsrechtlich gilt.21 Aus positivistischer Sicht vermochte kein Rechtfertigungsgrund diesen Rechtsverstoß zu legitimieren. Weder lag eine Autorisierung des UN-Sicherheitsrates gemäß Kapitel VII UN-Charta22 vor,23 noch konnte sich die NATO – mangels bewaffneten Angriffs auf einen Staat24 – auf (kollektive) Selbstdes Völkerrechts“ bezeichnet, so etwa von Heintschel von Heinegg, 2014: 485, 488, welcher die „allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts“ freilich dem Gewohnheitsrecht (Art. 38 Abs. 1 lit. b IGH-Statut) zuordnet. 17 Zur Möglichkeit der Lückenschließung Beham/Fink/Janik, 2015: 42; in der Tendenz etwas vorsichtiger von Arnauld, 2014: 121 – 123. Eingehend zum Problem Fastenrath, 1991. Zur Schließung von Lücken nochmals unten in und bei Fn. 181 bis 182. 18 PCIJ, The Case of the S.S. „Lotus“, Series A. – No. 10, 18. Äußerst kritisch zum „LotusPrinzip” Judge Simma, ICJ, Accordance with International Law of the Unilateral Declaration of Independence in Respect of Kosovo, Advisory Opinion, ICJ Reports 2010: 480 – 481. 19 Siehe PCIJ, The Case of the S.S. „Lotus“, Series A. – No. 10, 18 – 19: „Restrictions upon the independence of States cannot […] be presumed.“ 20 Näher zum Sachverhalt Dederer, 2005: 860 – 861, 864 mit weiteren Quellennachweisen. 21 ICJ, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Merits, Judgment, ICJ Reports 1986: 14, Rn. 185, 188 – 192. 22 Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 (BGBl. 1973 II: 431). 23 Vgl. Art. 39, 42, 48 UN-Charta. Siehe auch Art. 53 in Kapitel VIII UN-Charta. 24 Vgl. Art. 51 Satz 1 UN-Charta: „bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen“, wobei Mitglied der Vereinten Nationen gemäß Art. 3 und 4 UN-Charta nur Staaten sein können.

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verteidigung stützen, die wiederum völkervertraglich (in Art. 51 Satz 1 UN-Charta) und zugleich gewohnheitsrechtlich anerkannt ist.25 Für die humanitäre Intervention, verstanden als grenzüberschreitender militärischer Menschenrechtsschutz, lässt sich bis heute weder ein im Völkervertragsrecht verankerter noch gewohnheitsrechtlich geltender26 Erlaubnissatz positiv nachweisen.27 Auch das Konzept der „responsibility to protect“28 hat daran bislang nichts geändert.29 Dabei mangelt es im rechtswissenschaftlichen Schrifttum keineswegs an Ansätzen, welche die humanitäre Intervention als erlaubte oder zumindest „entschuldbare“ und deshalb sanktionslos bleibende Durchbrechung des Gewaltverbots zu begründen suchen.30 Autoren, die auf der Grundlage des geltenden Positivismus (richtigerweise) eine Erlaubnis zur humanitären Intervention ablehnen, rekurrieren konsequenterweise und zu Recht (auch) auf eine „überpositive“ Anknüpfung, um die Rechtfertigung, „Entschuldigung“ oder Sanktionslosigkeit der humanitären Intervention zu begründen.31 Als Beispiel mag etwa der Rückgriff auf die Radbruch‘sche Formel32 dienen, nach welcher die „Gerechtigkeit“ das Gewaltverbot als „unrichtiges Recht“ verdrängt, weil und soweit das Gewaltverbot schwerste Völkerrechtsverletzungen wie Völkermord decken sollte und damit in einen unerträglichen Widerspruch zur materiellen Gerechtigkeit geriete.33

25 ICJ, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Merits, Judgment, ICJ Reports 1986: 14, Rn. 193 – 201. 26 Siehe die Ablehnung einer Erlaubnis zur humanitären Intervention durch über 100 Staaten im Final Document of the XIII Conference of Heads of State or Government of the Non-Aligned Movement Kuala Lumpur, 24.–25. Februar 2003, Nr. 16 (http://www.nam.gov.za/media/030227e.htm) sowie zuvor schon durch die (seinerzeit an die 130 Staaten umfassende) Staatengruppe der G77 in der „Declaration of the South Summit“ (Havanna, 10.–14. August 2000), UN Dok. A/55/74, 3, Nr. 54. 27 Burke, 2013 unternimmt indes den innovativen Versuch, auf dem Boden des Positivismus eine Rechtfertigung der humanitären Intervention über allgemeine Rechtsgrundsätze zu konstruieren. 28 Zur Herausbildung der Idee einer „responsibility to protect“ näher Reinold, 2013: 54 – 61; zum Konzept als solchem grundlegend International Commission on Intervention and State Sovereignty, 2001. 29 Zur fehlenden gewohnheitsrechtlichen Verfestigung siehe Dederer, 2015: 163 mit weiteren Nachweisen. 30 Zusammenfassend zur aktuellen Rechtslage von Arnauld, 2014: 471 – 473. Zu den im Schrifttum seinerzeit im Zusammenhang mit dem Kosovo-Krieg entwickelten Ansätzen einer Legitimierung der humanitären Intervention siehe etwa Cassese, 1999: 23 – 30; Ipsen, 1999: 19 – 23; Simma, 1999: 1 – 22; Tomuschat, 1999: 33 – 37. Aus dem späteren Schrifttum instruktiv z. B. Byers/Chesterman, 2003: 181 – 184; Franck, 2002: 163 – 173; Franck, 2003: 208 – 216, 227 – 231; Tomuschat, 2014: 321 – 326. 31 Etwa Tomuschat, 2014: 324. 32 Radbruch, 1946: 107. 33 Dederer, 2009: 391 – 392; Dederer, 2005: 867 – 868.

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III. Vom Positivismus zum „Konstruktivismus“? 1. Abwägungsproblematik als Ausgangsüberlegung Die Lehre vom „Konstruktivismus“ (Matthias Herdegen)34 sucht das Abwägungsproblem, wie es sich paradigmatisch bei der humanitären Intervention offenbart,35 durch Fortentwicklung der völkerrechtlichen Rechtsquellenlehre zu verarbeiten und letztlich im Sinne einer deduktiven Rechtsfortbildung zu lösen. Konkret im Fall einer humanitären Intervention nach Art des NATO-Luftkriegs gegen Jugoslawien 1999 stehen sich in der Tat zwei Höchstwerte des Völkerrechts im Widerstreit gegenüber, nämlich auf der einen Seite das Gewaltverbot, auf der anderen Seite das Völkermordverbot. Beide Normen werden seit längerem als zwingendes Völkergewohnheitsrecht („ius cogens“),36 mithin als normenhierarchisch37 gleichrangig aufgefasst. Indes lässt sich der Normkonflikt auf strikt positivistischer Grundlage – wie dargelegt – nur dahin lösen, dass das Gewaltverbot den Vorrang vor dem Völkermordverbot erhält – sofern der UN-Sicherheitsrat (wie auch konkret im Angesicht der genozidartigen Vorgänge im Kosovo 1999) nicht fähig oder willens ist, auf der Grundlage von Kapitel VII UN-Charta eine humanitäre Intervention zu mandatieren. Für diesen Fall gilt: Gewaltverbot deckt Völkermord.38 Mit materieller Gerechtigkeit ist das nach heutigen Vorstellungen am Eingang zum 21. Jahrhundert nicht (mehr) zu vereinbaren. Die Völkerrechtsordnung kann um ihrer Legitimität und Akzeptanz willen nicht hinnehmen, dass einer ihrer für unabdingbar erachteten Höchstwerte derart zurücktreten muss, dass der Widerspruch zwischen dem, was positiv „Recht“ ist (Hinnahme von Völkermord mit Rücksicht 34

Herdegen, 2006: 900. Instruktiv zur Abwägungsproblematik etwa Tomuschat, 2014: 322 – 324. 36 Zum Gewaltverbot als „ius cogens“-Norm siehe nur Hobe, 2014: 219; ferner ICJ, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Merits, Judgment, ICJ Reports 1986: 14, Rn. 190, wo der IGH freilich nur auf Rechtsmeinungen Bezug nimmt, welche das Gewaltverbot als „ius cogens“ einordnen, ohne sich diese Qualifizierung explizit zu eigen zu machen; zum Völkermordverbot als „ius cogens“ ICJ, Armed Activities on the Territory of the Congo (New Application: 2002) (Democratic Republic of the Congo v. Rwanda), Jurisdiction and Admissibility, Judgment, ICJ Reports 2006: 6, Rn. 64. 37 Dazu, dass die Anerkennung der Existenz von „ius cogens“ und seiner Rechtswirkungen, namentlich die Nichtigkeit mit „ius cogens“ unvereinbarer völkervertraglicher Regeln (Art. 53 Satz 1, 64 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 [BGBl. 1985 II: 927] – WVK), zu einer Normenhierarchie im Völkerrecht geführt hat, siehe nur Hobe, 2014: 220. 38 Mit dieser Vorstellung hadernd bereits Bluntschli, 1872: 20: „Es ist nicht unmöglich, dass in der Zukunft das Völkerrecht etwas weniger ängstlich sein und in manchen Fällen sich für berechtigt halten werde, zum Schutze gewisser Menschenrechte einzuschreiten, wenn dieselben von einer Statsgewalt selbst unterdrückt werden […]. Aber die bisherigen Versuche völkerrechtlicher Garantien zum Schutze menschlicher Privatrechte sind noch selten und schwach und überall noch hindert die Furcht vor Eingriffen in die Souveränetät der Staten ein energisches Vorgehen“. 35

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auf das Gewaltverbot), und dem, was materiell die „Gerechtigkeit“ fordert (Schutz vor Völkermord, gegebenenfalls in Durchbrechung des Gewaltverbots), ein unerträgliches Maß annimmt. 2. Lehre vom „konstruktiven Völkerrecht“ a) Grundlinien des „Konstruktivismus“ An diese Erkenntnis knüpft die Lehre vom „konstruktiven Völkerrecht“ an, freilich unter bewusster Vermeidung eines naturrechtlichen, das positive Recht durch Rekurs auf materielle Gerechtigkeit überwindenden, z. B. an Gustav Radbruch angelehnten Ansatzes.39 Sie versteht das konstruktive Völkerrecht vielmehr als „neuen Typus von Völkerrechtssätzen, der von wertender Abwägung zwischen etablierten Grundsätzen und dynamischer Fortentwicklung des anerkannten Normbestandes durch Konkretisierung lebt“.40 Insbesondere „Konkretisierung und Fortbildung von Völkerrechtsregeln durch Abwägungsprozesse und Syllogismen“41 bilden danach Methoden der Rechtsfortbildung, die ergänzend zur anerkannten Schaffung völkerrechtlicher Rechtssätze auf positivistischer Grundlage hinzutreten.42 Aus einer Abwägung des Gewaltverbots mit dem Völkermordverbot könnte sich danach „konstruktiv“ ein Erlaubnissatz folgern lassen, welcher die humanitäre Intervention rechtfertigt.43 Die Lehre vom „konstruktiven Völkerrecht“ kommt nicht umhin zugestehen zu müssen, dass sie „sowohl die Methodenlehre als auch das Rechtsquellensystem des Völkerrechts vor eine große Herausforderung [stellt]“.44 Zutreffend erkennt diese Lehre außerdem das Erfordernis einer „Rückbindung an Parameter, die ein Mindestmaß an Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der Rechtsfindung sicherstellen“.45 In jedem Fall muss ein „konstruktiv“ ermittelter Völkerrechtssatz zumindest nachträglich durch einen „ebenfalls fortentwickelten Konsens“ bestätigt werden.46 Im Fall einer „konstruktiven“ Fortbildung des Völkergewohnheitsrechts bedarf es deshalb des Konsenses der Staatengemeinschaft, im Fall der „konstruktiven“ Fortentwicklung eines völkerrechtlichen Vertrags des Konsenses der betreffenden Ver39

Herdegen, 2006: 903. Herdegen, 2015: 59. 41 Herdegen, 2015: 59. 42 Benannt werden dabei einige Umgebungsbedingungen, welche die Entwicklung dieses „neuen Typus“ von Völkerrechtssätzen begünstigt haben, etwa die „Anerkennung völkerrechtlicher Werte“, die „Ausbreitung auslegungsbedürftigen Vertragsrechts“, das „Bemühen um Harmonisierung konkurrierender Vertragswerke“ oder die „Sicherung innerer Stimmigkeit“ (Herdegen, 2015: 59). 43 Siehe Herdegen, 2015: 272; Herdegen, 2004: 575 – 576. 44 Herdegen, 2015: 59. 45 Herdegen, 2015: 59. 46 Herdegen, 2015: 59. 40

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tragsstaaten.47 In beiden Fällen soll der Konsens eines „überwiegenden Teil[s] der betroffenen Staaten“ genügen.48 Dabei braucht sich der Konsens aber nicht zwingend auf den „konstruktiv“ entwickelten Völkerrechtssatz als solchen, also auf das Ergebnis zu beziehen. Vielmehr kann ausreichen, dass sich der Konsens „auf die [sc. „konstruktivistische“] Methode der Rechtsgewinnung erstreck[t]“.49 Art und Maß der Zustimmung sind nach alledem von der Methode, aber auch vom Kontext „konstruktiver“ Rechtsfortbildung abhängig, nämlich davon, ob die Methode eher „logisch“ oder „teleologisch“ und ob die Rechtsfortbildung im Kontext von Vertrags- oder von Gewohnheitsrecht stattfindet.50 An dieser (offenbar) für unabdingbar gehaltenen Rückbindung an den Staatenkonsens zeigt sich, dass die Lehre vom „Konstruktivismus“ keine prinzipielle Ablösung vom Positivismus51 beabsichtigt. Auch wird das überkommene Rechtsquellensystem nicht in Frage gestellt, sondern gerade zu Grunde gelegt und als Ausgangspunkt für die „konstruktive“ Fortbildung von Vertrags- oder Gewohnheitsrecht genommen.52 b) Innovative Ansätze des „Konstruktivismus“ Gleichwohl lassen sich in der Lehre vom „Konstruktivismus“ zumindest drei das positivistische Rechtsquellensystem innovativ ergänzende Ansätze identifizieren: Erstens: Konsens genügt, d. h. die Rechtsgeltung „konstruktivistischer“ Völkerrechtssätze setzt lediglich die übereinstimmende Zustimmung der Staaten zur jeweiligen Rechtsfortentwicklung voraus. Die Gültigkeit des fortgebildeten Rechts ist nicht weitergehend durch ein besonderes, weithin uniformes staatliches Verhalten bedingt. Allerdings soll der Staatenpraxis dann eine für die Rechtsgeltung „konstruktivistischer“ Völkerrechtssätze bedeutsame Rolle zukommen, wenn kein einhelliger, sondern nur „überwiegender“ Konsens feststellbar ist. Denn, zweitens, „überwiegender“ Konsens, d. h. der Konsens eines bloß „überwiegenden“ Teils der jeweils betroffenen Staaten soll ausreichen.53 Im Fall der Fortbildung universellen Völkergewohnheitsrechts soll nicht der Konsens (fast) aller Staaten, im Fall der Fortbildung z. B. eines multilateralen Vertrags wie der UN-Charta nicht der Konsens (fast) aller Vertragsparteien vonnöten sein. Vielmehr soll die „Rechtsanschauung gewichtiger, nicht notwendig mehrheitlicher Segmente der Staatengemeinschaft“ genügen.54 Die „klare Absage“ einer (quantitativ) durchaus ein47

Herdegen, 2015: 59. Herdegen, 2015: 59. 49 Herdegen, 2015: 59; Herdegen, 2009: 910. 50 Eingehend hierzu Herdegen, 2006: 910 – 911. 51 Beziehungsweise – mit Blick auf den (Rechts-)Geltungsgrund des Völkerrechts – vom „Voluntarismus“. Zu den Theorien über die Rechtsgeltung des Völkerrechts oben in Fn. 1. 52 Siehe Herdegen, 2006: 900 – 901. 53 Herdegen, 2015: 59. 54 Herdegen, 2004: 575. 48

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deutigen Staatenmehrheit an eine Erlaubnis zur humanitären Intervention55 vermag die „konstruktive“ Erzeugung eines solchen Erlaubnissatzes deshalb nicht notwendig zu verhindern. Zu prüfen sei vielmehr z. B., ob und inwiefern die Rechtsfortbildung von den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates mitgetragen wird.56 Daneben sollen aber auch das Maß an Abstützung durch ein „beachtliches Segment der Völkerrechtslehre“ sowie die „signifikante […] Praxis einzelner Staaten“ beachtlich sein.57 Drittens schließlich wird aus dem Vorstehenden deutlich, dass der Völkerrechtswissenschaft eine rechtsquellendogmatisch neue Rolle zugewiesen wird. Ihre Lehrmeinungen wandeln sich von der bloßen Rechtserkenntnisquelle im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. d IGH-Statut zu einem schon für die Rechtsfortbildung selbst beachtlichen Faktor. IV. Unzureichende Deutungskraft des Positivismus Die Lehre vom „Konstruktivismus“ reiht sich in einen überaus vielstimmigen Chor ein, der zwar nicht einen Abgesang auf den Positivismus hält, aber mit unterschiedlichen Akzenten anklingen lässt, dass der Positivismus ganz erheblich an Deutungskraft verloren hat. Den Grund hierfür bildet ein fundamentaler Wandel der Völkerrechtsordnung, welcher mit einer Rechtsquellenkritik einhergeht: 1. Fundamentaler Wandel der Völkerrechtsordnung Dieser Umwandlungsprozess lässt sich jedenfalls seit dem Fall des so genannten „Eisernen Vorhangs“ 1989/90 beobachten58 und hat seitdem eine nachhaltige, sich in der Tendenz eher noch verstärkende Dynamik erfahren. Jene Transformation der Völkerrechtsordnung ist durch die Ausprägung einer Vielzahl formell-rechtlicher wie materiell-rechtlicher Elemente gekennzeichnet. a) Formell-rechtliche Elemente der modernen Völkerrechtsordnung aa) Institutionalisierung Zentrale formell-rechtliche Elemente der modernen Völkerrechtsordnung lassen sich unter dem Begriff der Institutionalisierung zusammenfassen. Im Schrifttum hat sich hierfür der Begriff des „institutionalisierten Völkerrechts“59 bzw. des „institutio-

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Oben in und bei Fn. 26. Herdegen, 2004: 579. 57 Herdegen, 2004: 575, 579 – 580; ferner Herdegen, 2006: 910 – 911. 58 Thürer, 2000: 557 – 558. 59 Siehe nur den gleichnamigen Titel des Lehrbuchs von Ruffert/Walter, 2015.

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nellen Völkerrechts“60 herausgebildet. Diese Institutionalisierung hat zu einer immer dichteren organisatorischen, aber auch regulatorischen Verflechtung der Staaten in wohl fast allen Lebensbereichen auf globaler wie regionaler Ebene geführt. Die bedeutendste Form der Institutionalisierung bilden die Internationalen Organisationen, allen voran die UN samt ihrer „UN-Familie“, also den mit den UN in spezifischer Beziehung61 stehenden UN-Sonderorganisationen (z. B. WHO, FAO).62 Ihre Existenz bleibt zwar vom Willen ihrer Mitgliedstaaten (als „Herren“ der Gründungsverträge)63 abhängig. Sie haben aber, solange sie existieren, eine eigene, gegenüber den Staaten verselbständigte Rechtspersönlichkeit, bilden also ihrerseits neben den Staaten eigenständige Völkerrechtssubjekte.64 Eine weitere, mittlerweile ebenso fest etablierte Institutionalisierungsform bilden die „Vertragsregime“.65 Mit ihnen werden besondere Vertragsorgane errichtet, welche mit der Durchführung und Durchsetzung des jeweiligen Vertrages betraut sind. Als bedeutendstes Beispiel erweist sich gewiss die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)66 mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als Vertragsorgan.67 Überhaupt bilden der Internationale Menschenrechtsschutz, aber auch das Internationale Umweltrecht wichtige Referenzgebiete für Vertragsregime.68 bb) Pluralisierung der Rechtssubjekte Zu den formell-rechtlichen Elementen können schließlich noch die Völkerrechtssubjekte gezählt werden, also diejenigen internationalen Akteure, welche Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten sein können. Waren dies bis gegen Ende des

60 Siehe etwa den entsprechenden Titel des englischsprachigen Lehrbuchs von Schermers/ Blokker, 2011. 61 Gemäß Art. 57, 63 UN-Charta. 62 Zu den UN-Sonderorganisationen etwa Beham/Fink/Janik, 2015: 132 – 133. 63 Zu den EU-Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ der Europäischen Union (EU) BVerfGE 89, 155 (190, 199); 123, 267 (249 – 350, 368, 381, 398). 64 Grundlegend zur Anerkennung der Völkerrechtspersönlichkeit internationaler Organisationen (konkret der UN) ICJ, Reparation for injuries suffered in the service of the United Nations, Advisory Opinion, ICJ Reports 1949: 174, 178 – 179. 65 Zum Begriff der „Regime“ im Völkerrecht Ruffert/Walter, 2015: 5. 66 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (in der Fassung der Neubekanntmachung vom 17. Mai 2002, BGBl. II: 1054). 67 Art. 19 EMRK. 68 Vertragsregime bilden z. B. (im Menschenrechtsbereich) der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) vom 19. Dezember 1966 (BGBl. 1973 II: 1543) mit dem Menschenrechtsausschuss gemäß Art. 28 IPbpR als Vertragsorgan oder (im Umweltschutzbereich) das Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (UNFCCC) vom 9. März 1992 (BGBl. 1993 II: 1783) mit mehreren Vertragsorganen (vgl. Art. 7 – 10 UNFCCC).

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19. Jahrhunderts nur die Staaten,69 so hat sich der Kreis jener Akteure im 20. Jahrhundert erheblich vergrößert. Hinzu kamen zunächst die Internationalen Organisationen, dann aber vor allem auch Private, nämlich sowohl der Einzelne (z. B. als Träger von Menschenrechten) wie Personenmehrheiten, z. B. Aufständische bzw. organisierte bewaffnete Gruppen (als Adressaten von Pflichten aus dem Humanitären Völkerrecht), nicht zuletzt Völker (z. B. im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker).70 Weiterhin nicht zu den Völkerrechtssubjekten zählen dagegen grundsätzlich die Nichtregierungsorganisationen,71 obgleich sie vor allem seit dem Ende des Kalten Krieges für die Prozesse der Rechtsetzung72 wie für die Rechtsdurchsetzung73 des Völkerrechts eine eminent wichtige Rolle spielen.74 b) Materiell-rechtliche Elemente der modernen Völkerrechtsordnung aa) Menschenrechte Zumal mit Blick auf den Einzelnen tritt eines der zentralen materiell-rechtlichen Elemente75 ins Blickfeld: die Menschenrechte. Zu den materiell-rechtlichen Elementen der modernen Völkerrechtsordnung gehören zwar nach wie vor die „westfälischen“,76 auf internationale Stabilität gerichteten Urprinzipien: Souveränität, (souveräne) Gleichheit, Nichteinmischung und Konsens,77 ab der Mitte des 20. Jahrhunderts ergänzt um das Gewaltverbot.78 Indes markiert die Ermächtigung des Einzelnen durch die internationalen Menschenrechte eine epochale Wende: Der Einzelne tritt – als Träger internationaler, d. h. völkerrechtlich gewährleisteter Menschenrechte – aus 69

Und ein „numerus clausus“ so genannter „atypischer“ Völkerrechtssubjekte, nämlich der Heilige Stuhl, der Malteserorden und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Hierzu etwa Herdegen, 2015: 93 – 93. 70 Im Überblick zu den Völkerrechtssubjekten jenseits der Staaten etwa Kau, 2013: 141 – 148. 71 Eingehend z. B. Hobe, 2014: 159 – 162 (mit der Einschränkung, dass NGOs „wohl aber von Fall zu Fall […] partielle Völkerrechtssubjektivität zukommen kann“). 72 Zur Rolle von NGOs bei der Rechtsentstehung mit Blick auf völkerrechtliche Verträge etwa Thürer, 2000: 582 – 585 (zum Ottawa-Übereinkommen über die weltweite Ächtung von Antipersonenminen und deren Vernichtung vom 18. September 1997; BGBl. 1998 II: 778), 586 – 589 (zur Frage einer „allmählichen [Zurück-]Verwandlung des Völkerrechts in ein neuartiges, sich spontan in gesellschaftlichen, staatlichen und gemischten Foren herausbildenden ius gentium“). 73 Beispielsweise auf dem Gebiet des Menschenrechtsschutzes (siehe Tomuschat, 2014: 229 – 231) oder des Umweltschutzes (siehe Beyerlin/Marauhn, 2011: 328 – 329). 74 Siehe hierzu auch Kokott, 2000: 19 – 20. 75 Zu einigen dieser nachfolgend behandelten materiell-rechtlichen Elemente (nämlich zu „ius cogens“, Verpflichtungen „erga omnes“, Allgemeininteressen, Völkerstrafrecht) auch Kokott, 2000: 14 – 19. 76 Zum „Westfälischen System“ etwa Rensmann, 2007: 365 – 368. 77 Siehe Hobe, 2014: 40. 78 Zur Entwicklung des Gewaltverbots, wie es nach Art. 2 Nr. 4 UN-Charta und gewohnheitsrechtlich gilt (siehe oben in und bei Fn. 21), etwa Bothe, 2013: 578 – 581.

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dem Staat (und damit aus dem innerstaatlichen Subordinationsverhältnis) heraus und dem Staat als gleichgeordnetes Völkerrechtssubjekt gegenüber. Das wird am markantesten dort deutlich, wo der Einzelne gegen den Staat wie z. B. vor dem EGMR79 Klage wegen einer Verletzung seiner Menschenrechte führen kann. bb) „Ius cogens“ Einige fundamentale Menschenrechte sind dabei zu „ius cogens“ erstarkt, d. h. zu „Norm[en] des allgemeinen Völkerrechts, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt [werden] als Normen, von [welchen] nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden [können]“.80 Die Existenz von „ius cogens“ ist zwar nicht völlig, aber doch weithin unbestritten,81 insbesondere vom IGH82 anerkannt. Zu diesen zwingenden Normen gehören jedenfalls die Verbote des Völkermords, der Sklaverei, der Folter und der Rassendiskriminierung sowie das Selbstbestimmungsrecht der Völker.83 cc) Pflichten „erga omnes“ Sie bilden zugleich Verpflichtungen „erga omnes“, d. h. Pflichten jedes Staates gegenüber der internationalen Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit. Diese Kategorie von Pflichten hat der IGH bereits 1970 identifiziert und dabei als Anliegen aller Staaten („concern of all States“) bezeichnet.84 Exemplarisch benannte der IGH namentlich die Verbote der Aggression, des Völkermords, der Sklaverei und der rassischen Diskriminierung, darüber hinaus die die grundlegenden Rechte des Menschen betreffenden Regeln und Prinzipien („principles and rules concerning the basic rights of the human person“).85 Die universelle Anerkennung völkerrechtlich garantierter Menschenrechte, insbesondere eines engeren Kreises von Rechten, die sich zu „ius cogens“ verdichtet haben und Pflichten „erga omnes“ darstellen, mündet (nicht erst in jüngerer Zeit)86 in Ansätze, welche den Menschen als primäres (Völker-)Rechtssubjekt in

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Vgl. Art. 34 EMRK. Art. 53 Satz 2 WVK. 81 Siehe Graf Vitzthum, 2013: 49. 82 Siehe bereits oben in Fn. 36; ferner Frowein, 2013: Rn. 4. 83 Siehe nur Herdegen, 2015: 155 – 156. 84 ICJ, Barcelona Traction, Light and Power Company, Limited, Judgment, ICJ Reports 1970: 3, Rn. 33. 85 ICJ, Barcelona Traction, Light and Power Company, Limited, Judgment, ICJ Reports 1970: 3, Rn. 34. Der Kreis der Pflichten „erga omnes“ ist wegen dieser offenen Formulierung und der bewusst nur beispielhaften Aufzählung („for example“) prinzipiell weiter als der Bestand an „ius cogens“. 86 Siehe bereits Scelle, 1932: 42. 80

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den Mittelpunkt der modernen Völkerrechtsordnung stellen und jene vom Einzelnen her begründen wollen.87 dd) Internationale Allgemeininteressen Darüber hinaus hat sich die Anerkennung von gemeinsamen bzw. Allgemeininteressen der internationalen Gemeinschaft durchgesetzt, also von Interessen, die nicht nur Eigeninteressen jedes einzelnen Staates sind, sondern welche der internationalen Gemeinschaft (als der Gesamtheit jedenfalls der mit Völkerrechtssubjektivität begabten Akteure)88 selbst eigen sind. Zu diesen Allgemeininteressen gehören der Schutz der Umwelt in Nichtstaatsgebieten sowie der Schutz gemeinsamer, universeller Umweltgüter wie das Klima, die biologische Vielfalt und die Ozonschicht. Für letztere hat sich der Common-concern-Ansatz89 herausgebildet, wonach Schutz, Erhaltung und nachhaltige Nutzung dieser Umweltgemeingüter ein gemeinsames Anliegen der Menschheit („common concern of humankind“) bilden.90 Für die Nichtstaatsgebiete91 gilt dagegen der Common-heritage-Ansatz,92 wonach die betreffenden Räume als das gemeinsame Erbe der Menschheit („common heritage of humankind“) gelten.93 Ihre Nutzung muss friedlichen Zwecken dienen, allen Staaten gleichermaßen offen stehen und den Schutz der Umwelt beachten.94 Zu den Allgemeininteressen gehört, gleichfalls einem Common-heritage-Ansatz folgend, auch das

87 Jüngst Peters, 2013: 473, 480 – 481; siehe auch: Rensmann, 2007: 380 – 381; International Criminal Tribunal for the Former Yuogslavia (ITCY), Prosecutor v. Dusko Tadic, Decision on the defence motion for interlocutory appeal on jurisdiction, 2. Oktober 1995, Rn. 97: „A State-sovereignty-oriented approach has been gradually supplanted by a human-beingoriented approach“. 88 Zur Lehre von der „internationalen Gemeinschaft“ zusammenfassend Fassbender, 2007: 81 – 83. 89 Kiss/Shelton, 2007: 13 – 15. 90 Siehe Präambel Abs. 1 UNFCCC; Präambel Abs. 3 des Übereinkommens über die biologische Vielfalt vom 5. Juni 1992 (BGBl. 1993 II: 1741). Dazu, daß auch das Montrealer Protokoll über Stoffe, die zum Abbau der Ozonschicht führen, vom 16. September 1987 (BGBl. 1988 II: 1014), jedenfalls implizit dem „common concern“-Ansatz folgt, Brunnée, 2007, 564 – 567. 91 Gemeint sind hier die den Staaten gemeinschaftlich zugewiesenen Gebiete der Hohen See, des Tiefseebodens, der Antarktis, des Weltraum und der Himmelskörper. Hierzu Proelß, 2013: 361 – 362. 92 Eingehend hierzu Wolfrum, 2009. 93 Explizit ist das Prinzip nur für den Mond (Art. 11 Abs. 1 Agreement Governing the Activities of States on the Moon and Other Celestial Bodies vom 5. Dezember 1979; UNTS Bd. 1363, 3) und den Meeresboden (Art. 136 Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982; BGBl. 1994 II: 1799) normiert worden. Implizit gilt es aber mit Blick auf die in den betreffenden völkerrechtlichen Verträgen fixierten Regeln auch für die anderen Räume (Dederer, 2013: 890). 94 Ausführlicher zur Nutzung der vorbezeichneten Nichtstaatsgebiete Proelß, 2013: 398 – 403.

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Weltkultur- und Weltnaturerbe.95 Überragendes Allgemeininteresse bleiben freilich der „Weltfrieden und die internationale Sicherheit“96 bzw. die internationale Stabilität. ee) Globale Wertordnung Die materiell-rechtlichen Elemente der modernen Völkerrechtsordnung formen jene zu einer Wertordnung.97 Diese Werte sind zunächst in den „westfälischen“ Grundsätzen Souveränität, (souveräne) Gleichheit, Nichteinmischung und Konsens, vervollständigt um das Gewaltverbot, eingeschlossen, die wiederum den Werten des Friedens, der Sicherheit und der Stabilität dienen. Sie verkörpern sich sodann in den als „ius cogens“ geltenden, „erga omnes“ verpflichtenden Normen, also vor allem in fundamentalen Menschenrechten, namentlich im Völkermord-, Sklaverei-, Folterund Rassendiskriminierungsverbot. Schließlich kommen jene Werte in Allgemeininteressen zum Ausdruck, zu welchen der Schutz der Umwelt in Nichtstaatsgebieten, von Umweltgemeingütern (wie Klima, biologische Vielfalt, Ozonschicht) und des Weltkultur- und Weltnaturerbes, ebenso aber auch der Schutz der Menschheit vor den Geißeln des Völkermords, der Sklaverei der Folter und der Rassendiskriminierung gehören. Zu überlegen wäre auch, ob z. B. internationale Solidarität einen Wert der modernen Völkerrechtsgemeinschaft bildet.98 Das Wertordnungsdenken kommt nicht umhin, auf die möglichst optimale praktische Verwirklichung der Werte gerichtet zu sein und unvermeidliche Konflikte zwischen den Werten – wie exemplarisch an der humanitären Intervention aufgezeigt99 – im Wege der Abwägung schonend auszugleichen.100 ff) Völkerstrafrecht Bekräftigt wird die Vorstellung der modernen Völkerrechtsordnung als Wertordnung durch das Völkerstrafrecht. Denn der eigentliche Zweck des Strafrechts besteht darin, dass sich die Rechtsgemeinschaft grundlegender Prinzipien ihres geordneten sozialen Zusammenlebens vergewissert und hierzu diese für elementar erachteten Prinzipien durch das „scharfe Schwert“ des Strafrechts bekräftigt.101 Das gilt auch für das Völkerstrafrecht, das mit der Errichtung und Praxis der beiden UN-Straftri95 Siehe Präambel Abs. 6 Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt vom 2. Februar 1977 (BGBl. 1977 II: 215). 96 Art. 1 Nr. 1 UN-Charta. 97 Zur Charakterisierung der modernen Völkerrechtsordnung (auch) als Wertordnung eingehend Herdegen, 2015: 51 – 58; ferner Kokott, 2000: 14, 20; Tomuschat, 1993: 237 – 239. Umfassende Darstellung von Rensmann, 2007: 360 – 405. 98 Hierzu Hilpold, 2007. 99 Oben Fn. 35-38. 100 Herdegen, 2015: 56 – 58. Vgl. auch Thürer, 2000: 582; Uerpmann, 2001: 572. 101 Zu den Straftheorien vertiefter Überblick allgemein bei Joecks, 2011: Rn. 47 – 76; speziell zum Völkerstrafrecht Werle, 2012: 104 – 105.

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bunale für das ehemalige Jugoslawien102 und für Ruanda103 sowie des Internationalen Strafgerichtshofs104 eine vordem wohl kaum für möglich gehaltene Renaissance105 und Fortentwicklung erfahren hat. gg) Funktionales Souveränitätsverständnis Die vorstehende Skizze der modernen Völkerrechtsordnung zeigt, wie sehr der Staat im und durch das moderne Völkerrecht in Rechtsbeziehungen – nicht nur gegenüber anderen Staaten, sondern eben auch gegenüber allen weiteren Völkerrechtssubjekten, namentlich aber gegenüber dem Einzelnen – gleichsam tief „verstrickt“ ist und bei seinem Handeln Allgemeininteressen der internationalen Gemeinschaft berücksichtigen muss. Darauf beruht ein Wandel des Souveränitätsverständnisses hin zum Konzept einer (nur) „funktionalen“ Souveränität der Staaten.106 Souveränität genießen die Staaten nicht um ihrer selbst willen, sondern zum Zweck der Erfüllung staatlicher Funktionen. Zu diesen Funktionen gehört heute nicht mehr nur die auf das eigene Territorium bezogene und begrenzte Ausübung von Herrschaft im Innern, insbesondere zum Zweck der Gewährleistung von Frieden und Sicherheit. Vielmehr umfassen die staatlichen Funktionen auch den Schutz völkerrechtlicher Rechtspositionen im eigenen Staatsgebiet und insoweit nicht nur dort betroffene rechtliche Interessen anderer Staaten, sondern auch solche des Einzelnen wie der internationalen Gemeinschaft. Auf dieses (funktionale) Souveränitätsverständnis lässt sich letztlich auch das Konzept der Schutzverantwortung („responsibility to protect“) zurückführen.107 hh) Einengung des „domaine réservé“ Zugleich zieht der tiefgreifende Wandel der modernen Völkerrechtsordnung den Kreis dessen, was zu den inneren, dem Zugriff des Völkerrechts prinzipiell entzogenen Angelegenheiten, also zum so genannten „domaine réservé“ gehört, immer enger. Wie ein Staat auf seinem Territorium mit den Menschen, der Umwelt oder dem kulturellen Erbe verfährt (oder – mangels Wille oder Fähigkeit zum schützenden hoheitlichen Eingriff – verfahren lässt), bleibt nicht mehr allein ihm überlassen, sondern interessiert die internationale Gemeinschaft, weil und soweit (auch) das Völkerrecht solche rein innerstaatlichen Sachverhalte normativ erfasst. Das geschieht nicht nur durch den Internationalen Menschenrechtsschutz, sondern auch durch das Internationale Umweltrecht, das Recht zum Schutz des Weltkultur- und Weltnaturerbes 102

UN Dok. S/Res/827. UN Dok. S/Res/955. 104 Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 (BGBl. 2000 II: 1394). 105 Zu den Anfängen mit den Nürnberger und Tokioter Kriegsverbrecherprozessen: Ipsen, 2014: 586 – 589; umfassend Werle, 2012: 1 – 85. 106 Zum Konzept der „funktionalen“ Souveränität Dederer, 2015: 165 – 177. 107 Näher Dederer, 2015: 177 – 179. 103

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sowie das den nichtinternationalen bewaffneten Konflikt immer intensiver regulierende Humanitäre Völkerrecht. Letztlich bildet es nur eine „logische“ Begleiterscheinung dieser (auch) im zunehmend verkürzten „domaine réservé“ liegenden Souveränitätseinbuße des Staates, dass die Immunität staatlicher Amtsträger zurückgedrängt wurde108 und dieser Wandel des Immunitätsrechts auf die Staaten selbst durchzuschlagen droht.109 c) Fazit: Wandel zu einer öffentlich-rechtlich strukturierten „Weltinnenrechtsordnung“ In ihrer Zusammenschau haben alle diese Entwicklungen eine Rechtsordnung hervorgebracht, welche öffentlich-rechtliche Strukturen offenbart, wie sie aus innerstaatlichen (Verfassungs-)Rechtsordnungen bekannt sind.110 Das Völkerrecht stellt sich mithin nicht mehr als eine – „grosso modo“ der Privatrechtsordnung vergleichbare – Koexistenzordnung souveräner Staaten dar, wie sie 1927 dem StGH im LotusUrteil noch vor Augen gestanden haben mag. Aber auch die modernere Charakterisierung als Kooperationsordnung111 vermag das moderne Völkerrecht nicht mehr adäquat zu erfassen. Vielmehr bildet die moderne Völkerrechtsordnung – analog zum Terminus der „Weltinnenpolitik“112 – ein „Weltinnenrecht“,113 d. h. eine Rechtsordnung, welche als rechtlich verbindliche Grundordnung einer politischen Gemeinschaft, der internationalen Gemeinschaft, zu begreifen ist.114 Die dynamische Transformation der Völkerrechtsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere aber nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ lässt sich allein aus der Perspektive des Positivismus nicht erklären. Die einzige plausible Deutung besteht darin, dass sich das Völkerrecht immer stärker an der (überpositiven) Idee der 108 Siehe den Fall Pinochet: House of Lords, Regina v. Bartle and the Commissioner of Police for the Metropolis and Others, ex parte Pinochet, ILM 38 (1999): 581. Instruktive Darstellung bei Thürer, 2000: 568 – 574. 109 Zumindest vorübergehend abgewendet durch den IGH im Fall ICJ, Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy; Greece Intervening), Judgment, ICJ Reports 2012: 99, Rn. 107, wo es freilich um schwere Kriegsverbrechen außerhalb des eigenen (deutschen) Territoriums ging. Zur Fortgeltung der Staatenimmunität bei durch hoheitliche Maßnahmen begangenen Verstößen gegen „ius cogens“ innerhalb des eigenen Staatsgebiets EGMR, Case of Al-Adsani v. The United Kindgom, Application No. 35763/97: Rn. 66 (konkret betreffend Folterverbot). 110 In diesem Sinne etwa auch schon Thürer, 2000: 559 („Das Völkerrecht hat zunehmend Themen, Charakterzüge und Legitimationsformen in sich aufgenommen, die für ,ausgereifte‘ innerstaatliche Rechtsordnungen typisch sind“), 596 – 597. 111 Grundlegend zu dieser Charakterisierung des Übergangs des Völkerrechts von einer Koexistenz- zu einer Kooperationsordnung: Friedmann, 1964. 112 Begriffsprägend C. F. von Weizsäcker, 1964: 13 („Welt-Innenpolitik“). 113 Begriffsprägend Delbrück, 1993. 114 Ähnlich die Auffassung von einem „sich entwickelnden völkerrechtlichen Verfassungsrecht“ (Thürer, 2000: 578). Zur „Konstitutionalisierung“ des Völkerrechts instruktiv Fassbender, 2007. Eingehend und grundlegend zur „constitution of the international community“: Tomuschat, 1993: 216 – 240. Siehe ferner Payandeh (2010) und Kleinlein (2012).

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Gerechtigkeit ausgerichtet hat. Die Völkerrechtsordnung im Sinne eines strikten Positivismus allein auf eine hinreichende (Willens-)Übereinstimmung zwischen den Staaten zu gründen, verliert jede Plausibilität, ebenso das auf überkommenen Souveränitätsvorstellungen des 19. Jahrhunderts beruhende, strikt am Positivismus orientierte „Lotus-Prinzip“: In einer von bestimmten fundamentalen Prinzipien gleichsam „durchwobenen“, wertgebundenen Rechtsordnung kann das Fehlen eines Verbots nicht mehr schlicht als Erlaubnis gedeutet werden.115 2. Rechtsquellenkritik a) Fortbestehende Notwendigkeit der überkommenen Rechtsquellentrias Der Befund einer im Positivismus verharrenden und daher defizitären Rechtsquellenlehre wird durch die immer wieder erhobene und sich wiederum in den letzten ca. 25 Jahren verdichtende Problematisierung und Kritik der tradierten Rechtsquellendogmatik bekräftigt.116 Sie stellt die Rechtsquellentrias „Verträge – Gewohnheitsrecht – allgemeine Rechtsgrundsätze“ nicht etwa prinzipiell auf den Prüfstand. Verträge sind für die Regelung der internationalen Beziehungen, gerade auch mit Blick auf die praktische Verwirklichung der Werte der Völkerrechtsordnung, ohnehin völlig unerlässlich. Aber auch das Gewohnheitsrecht bleibt als Rechtsquelle unentbehrlich. Selbst grundlegende Fragen des zwischenstaatlichen Verhältnisses (wie Staatenverantwortlichkeit, Staatenimmunität, Staatennachfolge, diplomatischer Schutz, allgemeines Vertragsrecht) werden auch heute noch weithin durch das Gewohnheitsrecht reguliert.117 Auch in völkervertraglich ausgeformten Spezialgebieten, etwa im Internationalen Investitionsrecht oder im Internationalen Umweltrecht,118 ist der Rekurs auf gewohnheitsrechtliche Regeln bisweilen vonnöten. Mit besonderer Dringlichkeit gilt das im Humanitären Völkerrecht.119 b) Probleme der Rechtsidentifikation Streitbefangen sind jedoch die bis auf den heutigen Tag „mysteriös“120 gebliebenen Methoden und Regeln für die Identifikation von Völkergewohnheitsrecht und der allgemeinen Rechtsgrundsätze im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. b und c IGH-Statut. 115 Zur Kritik am „Lotus-Positivismus“ bereits oben in und bei Fn. 18-20 sowie unten in und bei Fn. 136-137. 116 Siehe hierzu etwa nur Alvarez, 2005; Goldsmith/Posner, 2005; Petersen, 2008; Riedel, 1991; Ruffert, 2012; Tietje, 2003. 117 Vgl. Tams, 2015: 1 – 2. 118 Zur Bedeutung des Völkergewohnheitsrechts im Recht der Auslandsinvestitionen Dolzer/Schreuer, 2012: 17, 134 – 139; im Umweltvölkerrecht Beyerlin/Marauhn, 2011: 283 – 286. 119 Zur Bedeutung des Völkergewohnheitsrechts im nicht internationalen bewaffneten Konflikt Gasser/Melzer, 2012: 58; Thürer, 2011: 52 – 53. 120 Tams, 2015: 1 mit weiteren Nachweisen.

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Dabei konzentriert sich die Uneinigkeit vor allem auf das Gewohnheitsrecht, weniger auf die bislang ein „Mauerblümchendasein“ fristenden allgemeinen Rechtsgrundsätze.121 Denn praktisch werden jedenfalls die steuerungswirksamen nichtvertraglichen Regeln dem Völkergewohnheitsrecht zugeschlagen.122 Als unübersehbares Zeichen für diese Verunsicherung mag dienen, dass die Völkerrechtskommission der UN (ILC)123 das Thema „Formation and evidence of customary international law/Identification of customary international law“ im Jahr 2012 in ihr Arbeitsprogramm aufgenommen hat.124 aa) Rechtsbehauptung unter Verzicht auf Empirie In der Völkerrechtswissenschaft dürften sich hinsichtlich der Entstehungsbedingungen von Gewohnheitsrecht (in Anlehnung an Christian Tams125) aktuell drei Grundströmungen ausmachen lassen. Erstens hat sich eine „Zwei-ElementeLehre“ durch- und festgesetzt.126 Danach ruht die Entstehung von Gewohnheitsrecht auf zwei Säulen, der „opinio iuris“ einerseits und der von ihr getragenen Staatenpraxis andererseits. Zweitens soll für den empirischen Nachweis von Staatenpraxis wie „opinio iuris“ jedwedes staatliche, d. h. dem Staat zurechenbare Verhalten herangezogen werden können.127 Drittens soll sich Völkergewohnheitsrecht aus bestimmten, quasi „autoritativen“ Quellen ablesen lassen können, nämlich aus multilateralen Verträgen, Artikelentwürfen der ILC und Resolutionen von UN-Organen, namentlich der UN-Generalversammlung.128 Diese drei Eckpfeiler der gegenwärtigen Doktrin über die Identifikation des Gewohnheitsrechts bekräftigen prinzipiell die positivistische Rechtsquellenlehre. Für ihre Herausbildung lassen sich durchgehend auch einige Entscheidungen des IGH anführen. Gleichwohl wird dessen Rechtsprechung wie diejenige seines Vorgängers, des StIGH, hinsichtlich der richterlichen Erkenntnis ungeschriebener Völkerrechtsregeln damit nicht vollständig ausgelotet. Denn schon der StIGH betrieb für die Identifikation von Völkergewohnheitsrecht keinen in den Urteilsgründen irgendwie dokumentierten Aufwand: „Der Ständige Gerichtshof fand das Völkergewohnheitsrecht ,traumwandlerisch‘; er verzichtete 121

Tams, 2015: 32. Vgl. Tams, 2015: 32 – 33. 123 International Law Commission (ILC), ein von der UN-Generalversammlung auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 1 lit. a, 22 UN-Charta eingerichtetes Nebenorgan der UN. Sie soll Untersuchungen durchführen und Empfehlungen abgeben zu dem Zweck, die fortschreitende Entwicklung des Völkerrechts und seine Kodifikation zu fördern (vgl. Art. 13 Abs. 1 lit. a UNCharta; Art. 1 Abs. 1 Statut der Völkerrechtskommission, UN Dok. A/Res/174(II)). 124 Siehe zum Mandat UN Dok. A/66/10 Annex A; ferner UN Dok. A/CN.4/653. 125 Tams, 2015: 14. 126 Näher Tams, 2015: 15 – 16. 127 Ausführlicher Tams, 2015: 21 – 23. 128 Eingehend Tams, 2015: 33 – 38. 122

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auf unsere […] heutigen Wegweiser“.129 Nicht minder „traumwandlerisch“ begabt scheint der IGH zu sein. Die streng methodische, einen empirischen Nachweis führende Ermittlung gewohnheitsrechtlicher Regeln oder allgemeiner Rechtsgrundsätze findet sich eher selten.130 Bisweilen behauptet der IGH ungeschriebene Völkerrechtsregeln, ohne diese explizit entweder dem Gewohnheitsrecht im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. b IGH-Statut oder den allgemeinen Rechtsgrundsätzen im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut zuzuordnen. Vielmehr begnügt er sich z. B. mit der Feststellung, die Regel sei „a requirement under general international law“131 oder gehöre zum „corpus of international law“.132 Dass der IGH die ausdrückliche Qualifizierung als Gewohnheitsrecht oder allgemeinen Rechtsgrundsatz unterlässt, kann wohl kaum als Nachlässigkeit, sondern nur als beredtes Schweigen der Richter gedeutet werden. Während im erstgenannten Fall, der Pflicht zur Umweltverträglichkeitsprüfung, immerhin ein (freilich ganz allgemein gehaltener, in keiner Weise empirisch substantiierter) Hinweis auf die Staatenpraxis erfolgt,133 wird gerade im Fall des Umweltschädigungsverbots deutlich, dass der Gerichtshof unmittelbar aus dem überragenden Allgemeininteresse am Schutz von Umwelt und Gesundheit heraus die Rechtsregel schöpft: Gleichsam aus der Natur der betroffenen Güter134 und ihrer ultimativen Bedrohung135 schließt der IGH ohne weitere Begründung auf die so genannte „no harm“-Regel. Näher könnte der IGH im Nuklearwaffen-Gutachten dem Naturrecht kaum auf der Spur sein.

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Tams, 2015: 17. Gaja, 2013: Rn. 20: „The assertion by the ICJ of a general principle of law […] is only rarely accompanied by an adequate demonstration of its existence in international law. A similar remark could be made with regard to the ascertainment by the ICJ of international customary rules.“ Eingehend zu dieser „ex cathedra-Methode“ des IGH Talmon, 2015: 434 – 440. 131 So hinsichtlich der Pflicht der Staaten zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung im Fall industrieller Tätigkeiten, welche erhebliche nachteilige Auswirkungen in einem grenzüberschreitenden Kontext haben könnten; siehe ICJ, Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Judgment, ICJ Reports 2010: 14, Rn. 204. 132 So zur Pflicht der Staaten zu gewährleisten, dass innerhalb ihres Hoheitsbereichs oder unter ihrer Kontrolle durchgeführte Tätigkeiten die Umwelt anderer Staaten oder von Nichtstaatsgebieten achten; siehe ICJ, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Advisory Opinion, ICJ Reports 1996: 226, Rn. 29. 133 ICJ, Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Judgment, ICJ Reports 2010: 14, Rn. 204. 134 ICJ, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Advisory Opinion, ICJ Reports 1996: 226, Rn. 29: „The Court also recognizes that the environment is not an abstraction but represents the living space, the quality of life and the very health of human beings, including generations unborn.“ 135 ICJ, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Advisory Opinion, ICJ Reports 1996: 226, Rn. 29: „The Court recognizes that the environment is under daily threat and that the use of nuclear weapons could constitute a catastrophe for the environment.“ 130

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bb) Überpositive Anknüpfungen Überhaupt ist dieses Gutachten durch und durch von einem Geist durchweht, welcher bereits Mitte der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts den Wandel der Völkerrechtsordnung in sich aufgesogen hat: „Im Nukleargutachten des Internationalen Gerichtshofes sowie den Äu[ß]erungen der Richter kommt durchgehend die Auffassung zum Ausdruck, dass die alte Welt der Staaten-Koexistenz, in der die Lotus-Formel wurzelt, im Begriff ist, durch das neue Paradigma des Völkerrechts als Rechtsordnung der internationalen Gemeinschaft abgelöst zu werden.“136

Dass die positivistische Rechtsquellenlehre zwar nicht an ihr Ende gekommen ist, aber allein mit ihr sich die moderne Völkerrechtsordnung nicht (mehr) begreifen lässt, hat Judge Weeramantry prägnant und etwas harsch auf den Punkt gebracht: „Black-letter formulations have their value but by no stretch of the imagination can they represent the totality of the law“.137

Vor allem aber nehmen die IGH-Richter im Nuklearwaffengutachten ethische Grundlegungen völkerrechtlicher Normen, insbesondere von solchen des Humanitären Völkerrechts, vor.138 Weitreichende Anknüpfungen an überpositive Gerechtigkeit finden sich freilich schon im IGH-Gutachten zur Völkermordkonvention von 1951.139 Dort fundiert der IGH – sicherlich unter dem noch ganz gegenwärtigen Eindruck der Nazi-Verbrechen – das Völkermordverbot überpositiv, indem er den Völkermord als Aberkennung des Existenzrechts menschlicher Gruppen charakterisiert, „which shocks the conscience of mankind and results in great losses to humanity, and which is contrary to moral law“.140 Aus dieser Konzeption folge, dass die Völkermordkonvention141 auf Prinzipien beruhe, „which are recognized by civilized nations as binding on States, even without any conventional obligation“.142 Damit konstatierte der IGH bereits vor über sechzig Jahren, dass Staaten ohne, sogar gegen ihren Willen an bestimmte Grundätze gebunden sein können und dass diese Grundsätze nicht auf der Anerken136

Thürer, 2000: 592. Dissenting Opinion of Judge Weeramantry in: ICJ, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Advisory Opinion, ICJ Reports 1996: 494. 138 Eingehend Thürer, 2000: 592 – 595. 139 Siehe auch Thürer, 2000: 567 mit der zutreffenden Beobachtung, dass „in jenen fruchtbaren Nachkriegsjahren Ma[ß]stäbe gesetzt [wurden], die […] in dem sich in der Epoche nach dem Kalten Krieg entwickelnden öffentlichen Bewusstsein wieder klar und in ihrer ganzen Tragweite aufgenommen und in Theorie, Doktrin und Praxis wesentlich fortgebildet wurden“. 140 ICJ, Reservations to the Convention on Genocide, Advisory Opinion, ICJ Reports, 1951: 15, 23. 141 Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom 9. Dezember 1948 (BGBl. 1954 II: 730). 142 ICJ, Reservations to the Convention on Genocide, Advisory Opinion, ICJ Reports, 1951: 15, 23. 137

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nung durch die Staaten, sondern durch – von den Staaten offenbar zu unterscheidende – „civilized nations“ („Kulturvölker“)143 beruhen.144 Die These, mit dem Passus „principles which are recognized by civilized nations as binding on States“ verbinde sich ein Verweis auf überpositive Grundätze, lässt sich dadurch erhärten, dass der IGH kurz darauf als einen der Zwecke der Völkermordkonvention hervorhebt „to confirm and endorse the most elementary principles of morality“.145 Deshalb verfolgten die Staaten mit einem solchen Übereinkommen auch keinerlei Eigeninteressen, sondern ein gemeinsames bzw. Allgemeininteresse („common interest“).146 Damit kann aber nur eine internationale „volonté générale“ gemeint sein, die sich von der Summation der Willen aller Staaten („volonté de tous“) unterscheidet. Ein solcher vom einzelstaatlichen Willen abstrahierter internationaler „Gemeinwille“147 lässt sich als rein normative Größe nicht empirisch nachweisen, weshalb seine Annahme im Positivismus keinen Platz finden kann. V. Rückkehr zum Naturrecht? Nach alledem scheint doch die Frage auf der Hand zu liegen, ob nicht in Wahrheit ein naturrechtliches Denken das moderne Völkerrechtsdenken prägt (und zwar nicht nur in Teilen der Gelehrtenwelt, sondern vor allem auch in der Praxis internationaler wie nationaler Gerichte148). Der Begriff des „Naturrechts“ wird freilich meist sorgsam vermieden.149 Indes wird mit Postulaten wie z. B. über Existenz und Inhalt von „ius cogens“, Verplichtungen „erga omnes“ oder internationalen Allgemeininteressen an einen Werte- und Normenbestand appelliert, der aus sich heraus unmittelbar jeder menschlichen Vernunft einleuchtet, also doch naturrechtlich als das „richtige Recht“150 vorgegeben zu sein scheint.

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So die Übersetzung von „civilized nations“ in Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut. Zum Gedanken einer Bindung der Staaten ohne oder gegen ihren Willen im Kontext der verfassten internationalen Gemeinschaft Fassbender, 2007: 90; umfassend Tomuschat, 1993. 145 ICJ, Reservations to the Convention on Genocide, Advisory Opinion, ICJ Reports, 1951: 15, 23. 146 ICJ, Reservations to the Convention on Genocide, Advisory Opinion, ICJ Reports, 1951: 15, 23. 147 Zum „Gemeinwille“ siehe auch Triepel, 1899: 79, der freilich den „Gemeinwillen“ als „durch das Zusammenwirken mit anderen Staatswillen entstanden“ auffasste und mit dem Konzept vom „Gemeinwillen“ die Rechtsgeltung und Verbindlichkeit von Völkerrechtssätzen zu begründen suchte. 148 Eindrucksvoll an einigen Beispielen nachgezeichnet bei Thürer, 2000: 568 – 578, 589 – 595. 149 Von nennenswerten Ausnahmen abgesehen, z. B. Kokott, 2000. 150 Zum Naturrecht als Lehre vom „richtigen Recht“ Radbruch, 1965: 19. 144

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Das Spannungsverhältnis von naturrechtlichen Ansätzen einerseits, positivistischen Ansätzen andererseits prägt schon die gesamte Völkerrechtsgeschichte.151 Bereits im beginnenden Spätmittelalter (ab ca. 1250) sah sich die Naturrechtslehre Thomas von Aquins152 durch den (das positivistische Völkerrechtsdenken vorbereitenden) Nominalismus Wilhelm von Ockhams herausgefordert.153 Nach der Lehre Thomas von Aquins standen „ius divinum“, „lex naturalis“ und „ius positivum“ in einem normenhierarchischen Geltungs- und Ableitungszusammenhang.154 Das „ius gentium“ („Völkerrecht“)155 ließ sich danach durch Deduktion („per modum conclusionis“) unmittelbar aus den Grundsätzen des Naturrechts ermitteln. Jene Normen gehörten mithin zum „ius positivum“.156 Darüber hinaus ordnete Thomas von Aquin das „ius gentium“ an anderer Stelle aber auch direkt dem Naturrecht zu.157 Mögen Thomas von Aquins nicht leicht zu harmonisierende Thesen zum „ius gentium“ nur begrenzte Bedeutung für die weitere Entwicklung des Völkerrechts gehabt haben,158 so geht von der thomistischen Naturrechtslehre doch die suggestive Vision aus, völkerrechtliche Rechtssätze könnten einerseits unmittelbar im Naturrecht selbst zu verorten, andererseits („konstruktiv“)159 durch Syllogismen aus naturrechtlichen Prinzipien zu deduzieren sein. Darüber hinaus bildete die christliche Naturrechtslehre der Hochscholastik, zumal in ihrer Ausformung durch Thomas von Aquin, das Fundament für die rechtstheoretische Grundlegung des Völkerrechts sowohl durch die spanischen Spätscholastiker, allen voran Francisco de Vitoria und Francisco Suárez, wie anschließend durch Hugo Grotius.160 Bei Vitoria stellte das „ius gentium“ ein „ius inter gentes“, d. h. zwischen „Völkern“, aber nicht „Staaten“, dar.161 Diese Völker bildeten eine auf das Gemeinwohl des gesamten Erdkreises („bonum commune totius orbis“) ausgerichtete natürliche Gemeinschaft der Menschheit, deren bindende Regeln sich primär aus dem Naturrecht ergaben, sekundär als (normenhierarchisch nachrangiges) 151

Siehe Grewe, 2000: 87. Immer noch überragend dazu die hier zugrunde gelegte Darstellung von Grewe, 2000: 83 – 91, 187 – 197, 349 – 362, 503 – 515, 603 – 609. 152 Zur naturrechtlichen Grundlegung des Völkerrechts durch Thomas von Aquin Schilling, 1919: 24 – 45. 153 Grewe, 2000: 86. 154 Näher Grewe, 2000: 84; Nussbaum, 1960: 43. 155 Dazu, dass „ius gentium“ bei Thomas von Aquin nicht in jeder Hinsicht mit unserem heutigen Begriff vom „Völkerrecht“ deckungsgleich ist: Schilling, 1919: 26 – 27. 156 Grewe, 2000: 85; Schilling, 1919: 28 – 29. Ob völkerrechtliche Regeln auch durch Festlegung („per modum determinationis“) in Gestalt von Verträgen oder Gewohnheit entstehen konnten, lässt sich Thomas von Aquins Werk dagegen nicht eindeutig entnehmen (Grewe, 2000: 86). 157 Brett, 2012: 1087. 158 Nussbaum, 1960: 43 – 44. 159 Siehe oben die Lehre vom „konstruktiven Völkerrecht“ in und bei Fn. 40-43. 160 Brett, 2012: 1068 – 1087; Grewe, 2000: 187 – 189, 195. 161 Brett, 2012: 1088; Nussbaum, 1960: 89.

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„ius humanum“ aus der Zustimmung durch eine Mehrheit innerhalb der Weltgemeinschaft („totius orbis“).162 Die Nähe zum modernen Gedanken einer rechtlich verfassten internationalen Gemeinschaft ist unverkennbar. Der wesentlich jüngere Suárez stand diesem Modell nicht gänzlich fern. Zwar gründete er von einem voluntaristischen Ansatz ausgehend das „ius gentium“ im übereinstimmenden Willen der Staaten, das sich in Gestalt von Verträgen oder Gewohnheit positiv als „ius inter gentes“ (d. h. – abweichend von Vitoria163 – zwischen „Staaten“) ausprägte.164 Indes verstand Suárez die Staaten auch als Glieder einer „universalen Gesellschaft“, die „eines Rechtes [bedürfen], das sie führt und ihre Verbindung und ihren Verkehr richtig ordnet“.165 Da dies vom Naturrecht zwar auch, aber nicht in jeder Hinsicht geleistet werden könne, müsse es durch das positive „ius gentium“ ergänzt werden.166 Darüber hinaus sah Suárez die Rechtsgeltung und Bindungswirkung des „ius gentium“ nur durch das Naturrecht gewährleistet.167 Damit suchte Suárez das Problem zu lösen, vor welchem seit jeher jeder positivistische Ansatz steht, nämlich das Problem, warum ein positiver, auf Zustimmung beruhender Völkerrechtssatz seine Rechtsgeltung nicht schon durch den bloßen „actus contrarius“ der Rücknahme der Zustimmung verliert.168 Hugo Grotius hielt169 an einem nunmehr weithin säkularisierten, aber doch noch in der Vernunft und Wesenheit Gottes begründeten Naturrecht fest.170 Indes vermag der Mensch allein kraft seiner Vernunft und Gesellschaftlichkeit die im von Gott geschaffenen Universum angelegten Grundwerte zu erkennen und die daraus zwangsläufig folgenden Regeln verbindlich zu machen.171 Auf diesem Fundament konnte wiederum die Annahme eines ungeschriebenen, der menschlichen Natur innewohnenden und daher für die gesamte Menschheit gültigen Rechts aufbauen.172 Darin scheint die Idee einer universellen Rechtsordnung auf, wie sie heute auch dem Modell einer rechtlich verfassten internationalen Gemeinschaft nahe steht. Insoweit wird auch die säkulare Methode von Grotius‘ Völkerrechtslehre bedeutsam, die „sich auf die natürliche Vernunft [stützte], der Philosophie, Tradition und moralische Überzeugung zugrunde liegen“.173 Infolgedessen konnte Grotius’ Völkerrechtslehre 162

Grewe, 2000: 189 – 190; siehe auch Brett, 2012: 1088. Siehe soeben oben in und bei Fn. 161. 164 Brett, 2010: 1089 – 1090; Grewe, 2000: 190. 165 Deutsche Übersetzung zitiert nach Nussbaum, 1960: 97. 166 Nussbaum, 1960: 97. 167 Grewe, 2000: 190. Zur eminenten Bedeutung des Naturrechts bei Suárez auch Nussbaum, 1960: 97 – 98. 168 Grewe, 2000: 190. 169 Wie schon zuvor Alberico Gentili (Grewe, 2000: 195; Scattola, 2012: 1094). 170 Grewe, 2000: 194; Haggenmacher, 2012: 1099. 171 Haggenmacher, 2012: 1099; siehe auch Nussbaum, 1960: 120 – 121. 172 Haggenmacher, 2012: 1099. 173 Nussbaum, 1960: 121. 163

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nicht nur auf Akzeptanz aller Seiten der europäischen Religionskriege setzen. Vielmehr sah Grotius auch im Abschluss völkerrechtlicher Verträge mit heidnischen Völkern keine prinzipiellen (Rechts-)Probleme.174 Diese historischen Ausführungen sollen hier genügen, um zu zeigen, wie nahe die Idee einer an überpositiven Gerechtigkeitsvorstellungen orientierten internationalen Gemeinschaft der naturrechtlichen Grundierung des Völkerrechts in längst vergangenen und doch eigentümlich präsenten Epochen seiner Entwicklungsgeschichte steht.175 VI. Konklusionen in Thesen 1. Die Ausrufung eines Paradigmenwechsels im Völkerrecht mag noch verfrüht erscheinen. Erst im historischen Rückblick wird sich zeigen, ob sich rechtstheoretisch, dogmatisch und methodisch eine grundlegende Transformation des Völkerrechts und Völkerrechtsdenkens ereignet hat. 2. Unabhängig davon ist die Krise des völkerrechtlichen Positivismus manifest. So fragt Daniel Thürer zu Recht, „ob nicht die herkömmlichen, im Souveränitätsdenken verhafteten Methoden der Bildung und Interpretation von Völkerrecht einer Neukonzeption bedürfen, indem sie sich vermehrt unmittelbar an menschlichen Werten und dem Wert und Ziel der Gerechtigkeit ausrichten.“176 Gleichwohl meidet er bewusst einen Rekurs auf das Naturrecht: „[I]n Überwindung des positivistischen Denkens [hat] das ,übergesetzliche Recht‘ nunmehr seinen naturrechtlichen Charakter verloren und verfassungsrechtlich bzw. völkerrechtlich konsolidierte Formen angenommen“.177 „Radbruchs Gerechtigkeitswerte sind nunmehr wohl im wesentlichen ins Ganze des positiven Normgefüges integriert und verfahrensrechtlich abgesichert worden“.178 Damit wird das geltende Völkerrecht an sich zutreffend beschrieben. Mit der Anerkennung von „ius cogens“, Verpflichtungen „erga omnes“, der internationalen Gemeinschaft und ihrer Werte und Allgemeininteressen hat die Völkerrechtsordnung in der Tat „Gerechtigkeitswerte“ in sich aufgenommen und verfestigt. Von einem rechtstheoretischen Standpunkt aus ist aber die Unverbrüchlichkeit dieses „Normgefüges“ damit noch nicht dargetan. Würden die Staaten – strikt vom Positivismus her gedacht – den soeben nochmals aufgeführten Grundnormen und -werten die Zustimmung entziehen, wäre jenem „Normengefüge“ die Rechtsgeltung entzogen. 3. Die moderne Völkerrechtsordnung stellt sich als rechtliche Grundordnung einer internationalen Gemeinschaft dar. Jene setzt sich nicht mehr nur aus den Staa174

Nussbaum, 1960: 122. Siehe auch Thürer, 2000: 602 – 603 zu jüngeren Vordenkern (des 19. und 20. Jahrhunderts) der heute die moderne Völkerrechtsordnung kennzeichnenden Merkmale. 176 Thürer, 2000: 578. 177 Thürer, 2000: 598. 178 Thürer, 2000: 563. 175

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ten, sondern aus den weiteren Völkerrechtssubjekten, d. h. den internationalen Organisationen, dem Einzelnen sowie bestimmten Personenmehrheiten, zusammen. Ihrem durch bestimmte formell- und materiell-rechtliche Elemente geformten Charakter nach bildet diese Ordnung eine öffentlich-rechtlich strukturierte „Weltinnenrechtsordnung“. Die Lösung vom strikten, an einem verblichenen Souveränitätsdogma ausgerichtete „Lotus-Positivismus“ erscheint daher nur konsequent. Denn die Bindung an bestimmte, normativ als „ius cogens“, Pflichten „erga omnes“ oder legitime Allgemeininteressen verfestigte „Gerechtigkeitswerte“ besteht in einer solchen Ordnung auch ohne oder sogar gegen den Willen von Staaten. Das Völkerrecht wäre nicht Recht, wenn es sich nicht an der Idee der Gerechtigkeit ausrichtete.179 4. Es entspricht dem Wesen, der „Natur“ einer solchen Ordnung, dass sie zur kohärenten Geschlossenheit drängt. Methodisch müsste dies bedeuten, dass die Schließung von Lücken im Völkerrecht durch Analogie,180 Umkehrschluss, das „argumentum a maiore ad minus“ und umgekehrt das „argumentum a minore ad maius“, aber vor allem auch die Deduktion181 aus allgemeinen Prinzipien für zulässig erachtet werden, und zwar gerade auch dann, wenn dadurch das Völkerrecht über das positive Vertrags- und Gewohnheitsrecht hinaus fortgebildet wird. Entsprechende Rechtsfortbildung bedürfte eines notwendigen Maßes an jedermann einleuchtender Rationalität. Jene könnte sich aus dem globalen Rechtsdiskurs des „invisible college“182 von Völkerrechtswissenschaft und Völkerrechtspraxis (z. B. nationaler und internationaler [Schieds-]Gerichte, internationaler Konferenzen) ergeben. 5. Denkbar erscheint, die „Gerechtigkeitswerte“ der internationalen Gemeinschaft rechtsquellentheoretisch als „allgemeine Rechtsgrundsätze“ im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut zu begreifen. Tatsächlich wird auch vertreten, dass „[h]inter den Allgemeinen Rechtsprinzipien […] immer auch die Rechtsoder Gerechtigkeitsidee als solche [steht]“183 und dass „[a]llgemeine Rechtsprinzipien […] naturgemä[ß] nicht als Ausdruck des konkreten Willens der Staaten ,gesetzt‘ [sind], sondern […] allgemeinen – überdauernden oder mehr epochenbeding-

179 Zur Gerechtigkeit als Idee des Rechts Radbruch, 1965: 24. Siehe auch Kant, 1797: 197, dessen nachfolgende Aussage freilich im Zusammenhang mit der Frage nach dem Sinn des Strafens steht: „Denn, wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, dass Menschen auf Erden leben” (§ 49 E I). 180 Aus einem Analogschluss die Immunität eines Außenministers begründend ICJ, Arrest Warrant of 11 April 2000 (Democratic Republic of the Congo v. Belgium), Judgment, ICJ Reports 2002: 3, Rn. 51 – 54. 181 Zur deduktiven Methode am Beispiel der IGH-Rechtsprechung eingehend Talmon, 2015; siehe auch D’Amato, 2014: 667 zur Überlegung „dialektischer“ Entstehung einer gewohnheitsrechtlichen Regel als „synthesis“ aus „thesis“ und „antithesis“. Zum Übergang „[v]om induktiven zum deduktiven Völkerrecht“ auch Rensmann, 2007: 385 – 386. 182 Schachter, 1977. 183 Thürer, 2000: 599.

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ten – Anschauungen der Rechtskultur [entspringen].“184 Noch etwas weitergehend sollen die allgemeinen Rechtsgrundsätze „eine Einbruchstelle für […] naturrechtliche Wertungen [bilden]. Die Einheitlichkeit und Spontanität, mit der manche Grundsätze des Rechts in der gesamten Kulturwelt angewandt werden, ist ein Zeichen dafür, dass sie einem allgemeinen menschlichen Bedürfnis – insofern Naturrecht – entsprechen.“185 6. Nach hier vertretener Auffassung dürfte der Begriff der „civilized nations“ („Kulturvölker“) in Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut dann aber nicht mehr als schlichter Verweis auf die Staaten verstanden werden,186 wofür die Rechtsprechung des IGH selbst einen Ansatz bietet.187 Die „civilized nations“ („Kulturvölker“) würden keine empirisch fassbare Größe bilden, sondern stünden als Chiffre für das „öffentliche Gewissen“ der an überpositiven „zivilisierten“ Werten materieller Gerechtigkeit orientierten internationalen Gemeinschaft.188 In der Martens’schen Klausel189 ist die rechtliche Verbindlichkeit des (notwendig überpositiven) „öffentlichen Gewissens“ für die Staaten bereits seit über hundert Jahren anerkannt worden.190 Dass sie „richtigerweise als Verfassungsnorm der Völkerrechtsordnung bezeichnet wer-

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Thürer, 2000: 600. Kokott, 2000: 12; zu früheren Ansätzen eines Rückgriffs auf das Naturrecht bei allgemeinen Rechtsgrundsätzen Simma/Alston, 1988 – 1989: 104 – 105. Siehe auch Beham/Fink/ Janik, 2015: 52 – 53, wonach eine Mindermeinung allgemeine Rechtsgrundsätze naturrechtlich zu ermitteln sucht. Hiergegen scheint aber die Entstehungsgeschichte des Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut zu sprechen (näher Petersen, 2008: 307 – 308). Zur nur eingeschränkten Bedeutung der Entstehungsgeschichte bei der Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrags siehe wiederum Art. 32 WVK. 186 Siehe oben in und bei Fn. 8. Gleiches dürfte für den Begriff der „civilized nations“ in den in Menschenrechtsverträgen vorgesehenen Durchbrechungen des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots gelten; siehe z. B. Art. 7 EMRK (ähnlich Art. 15 Abs. 2 IPbpR): „Dieser Artikel schließt nicht aus, dass jemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt oder bestraft wird, die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war.“ 187 Oben in und bei Fn. 139-146 188 Siehe bereits Thürer, 2000: 601, der „spekuliert“, ob nicht die Klausel von den „Kulturvölkern“ („civilized nations“) „eben den Grundstandard der in einer zivilisierten Rechtsgemeinschaft anzuerkennenden menschlichen Grundwerte anvisierte“. 189 Präambel Abs. 8 des IV. Haager Abkommens, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges vom 18. Oktober 1907 (RGBl. 1910: 107): „dass […] die Bevölkerung und die Kriegführenden unter dem Schutze und der Herrschaft der Grundsätze des Völkerrechts bleiben, wie sie sich ergeben aus den unter gesitteten Völkern feststehenden Gebräuchen, aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens“; etwas moderner, aber im Wesentlichen wortgleich Art. 1 Abs. 2 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I) vom 8. Juni 1977 (BGBl. 1990 II: 1551). 190 Siehe auch den Verweis auf „elementary considerations of humanity, even more exacting in peace than in war“ als eines von „certain general and well recognized principles“ in ICJ, Corfu Channel case, Judgment of 9th April, 1949, ICJ Reports 1949: 4, 22. 185

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den müsste“, hat bereits Daniel Thürer angemerkt.191 Das „öffentliche Gewissen“ könnte danach eine Art (letztlich naturrechtlicher) Grundnorm des Völkerrechts bilden, die sich durch kontinuierlich ablaufende Normbildungsprozesse192 als internationale „volonté générale“ ausprägen würde. Dabei wären Voraussetzungen, Abläufe und Erkenntnis solcher Normbildungsprozesse noch näher zu erforschen und beschreiben.193 Literatur Alvarez, José E. (2005): International Organizations as Law-Makers. Oxford: Oxford University Press. Arnauld, Andreas von (2014): Völkerrecht. 2. Auflage. Heidelberg: C.F. Müller Verlag. Beham, Markus/Fink, Melanie/Janik, Ralph (2015): Völkerrecht verstehen. Wien: Facultas. Beyerlin, Ulrich/Marauhn, Thilo (2011): International Environmental Law. Oxford: Hart Publishing. Bluntschli, Johann Caspar (1872): Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staaten. 2. Auflage. Nördlingen: Beck. Bothe, Michael (2013): Friedenssicherung und Kriegsrecht. In: Graf Vitzthum, Wolfgang/ Proelß, Alexander (Hrsg.): Völkerrecht. 6. Auflage. Berlin/New York: De Gruyter, S. 573 – 662. Brett, Annabel (2012): Francisco de Vitoria (1483 – 1546) and Francisco Suárez (1548 – 1617). In: Fassbender, Bardo/Peters, Anne (Hrsg.): The Oxford Handbook of the History of International Law. Oxford: Oxford University Press, S. 1086 – 1091. Brunnée, Jutta (2007): Common Areas, Common Heritage, and Common Concern. In: Bodansky, Daniel/Brunnée, Jutta/Hey, Ellen (Hrsg.): The Oxford Handbook of International Environmental Law. S. 550 – 573. Burke, Ciaran (2013): An Equitable Framework for Humanitarian Intervention. Oxford: Hart Publishing. Byers, Michael (1999): Custom, Power and the Power of Rules. Cambridge: Cambridge University Press. Byers, Michael/Chesterman, Simon (2003): Changing the rules about rules?: Unilateral humanitarian intervention and the future of international law. In: Holzgrefe, J. L./Keohane, Robert O. (Hrsg.): Humanitarian Intervention: Ethical, Legal, and Political Dilemmas. Cambridge: Cambridge University Press, S. 177 – 203. Cassese, Antonio (1999): Ex iniuria ius oritur: Are We Moving Towards Legitimation of Forcible Humanitarian Countermeasures in the World Community? In: European Journal of International Law, 10, 1999, S. 23 – 30. 191

Thürer, 2000: 601. Was nicht im Widerspruch zu einem modernen Naturrechtsverständnis stünde, wenn Naturrecht mit Radbruch, 1965: 20 „nicht als allgemeingültig und unwandelbar betrachtet“ würde. 193 Siehe zur Vorstellung eines „invisible college“ oben in und bei Fn. 182. 192

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„Die elementaren und unauffälligen Bedingungen menschlicher Freiheit“ Typen bürgerlicher Gegenwärtigkeit und politischer Pluralismus bei Leo Strauss* Von Clemens Kauffmann Abstract Globalisierung und gesteigerte Integrationserfordernisse stellen die Demokratie vor Probleme, die aus der Perspektive von Leo Strauss Teil des „menschlichen Problems“ sind. Das Problem zeigt sich im modernen Staatsbegriff. Strauss kritisiert diesen in der Auseinandersetzung mit A. Kojèves Begriff der Anerkennung und stellt ihm eine Analyse der noetischen, moralischen und religiösen Strukturen bürgerlicher Präsenz gegenüber. Ausgehend von der „Präsenz der Philosophie“ können verschiedene Stufen bürgerlicher Gegenwärtigkeit bis hin zum atheistischen Gegenbild des politischen Hedonismus unterschieden und als Bedingungen respektive Gefährdungen der Freiheit angesprochen werden. Gegenüber der Praxis der Anerkennung etabliert Strauss eine Position der Tugend und führt den Begriff der „Natur“ als Bewertungsmaßstab in Anerkennungsverhältnissen ein. Dieser Ansatz wird im Rahmen einer Typologie bürgerlicher Präsenz systematisiert, in der ein noetischer Typ, ein Polis-Typ und ein somatischer Typ bürgerlicher Gegenwärtigkeit spezifiziert werden.

I. Das „menschliche Problem“: Natur und Staat Man wird in der Annahme kaum fehl gehen, Leo Strauss habe die Problematik des modernen Staates von einem philosophischen Standpunkt aus beurteilt. Politische Philosophie war für Strauss etwas grundsätzlich anderes als politische Theorie oder gar deutsche „Staatslehre“. Von einem philosophischen Standpunkt aus ordnete er den modernen Staat in das umfassendere, zivilisatorische „Projekt der Moderne“ ein. Dieses Projekt habe das Ziel verfolgt, die menschlichen Lebensbedingungen durch fortschreitende Naturbeherrschung zu verbessern.1 Der allgemeine Fortschrittsoptimismus habe sich dabei auch auf die Politik erstreckt und sich zu der trügerischen Hoffnung ausgewachsen, daß deren Möglichkeiten nahezu unbegrenzt

*

Die hier vorgestellten Untersuchungen gehen zurück auf einen Vortrag, den ich im September 2014 unter dem Titel „,Citizen of the Whole‘: Leo Strauss on Civic Presence and Political Pluralism“ an der Academia Sinica in Taipeh gehalten habe. 1 Vgl. Strauss, LAM: 225; CM: 3; TM: 296.

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Clemens Kauffmann

wären. Die „Moderne“ präsentierte sich damit als Lösung für nichts Geringeres als das „menschliche Problem“.2 Der philosophische Standpunkt, den Strauss eingenommen hatte, lenkte demgegenüber den Blick weg von vermeintlichen Lösungen zurück auf die Probleme, um diese in einer Haltung der „Offenheit für das Ganze“ der menschlichen und der nichtmenschlichen Welt aufzufassen und zu verstehen.3 Was Strauss im Zusammenhang mit seiner klassischen Position das „Ganze“ genannt hat, war Zielpunkt und Bedingung seines philosophischen Ansatzes. Der Mensch könne sich als Teil des Ganzen begreifen, während dieses Ganze zugleich im Menschen präsent wäre, und zwar durch das Leben des Geistes und das Bewußtsein von der „conditio humana“. Das fundamentale „menschliche Problem“ war für Strauss nicht lösbar, sondern ewig und unveränderlich, unabhängig von historischen Umständen und kulturellen Differenzen gegeben. Für den Philosophen war es ein universales Problem, das zur Frage nach der menschlichen Natur führt. In der Moderne tritt Universalität unterdessen in der Idee des Staates hervor, die sich zugleich als Lösung des „menschlichen Problems“ geriert. Das Problem des modernen Staates erscheint von Strauss’ Standpunkt aus gewissermaßen als die Kehrseite der klassischen Frage nach der Natur – oder anders gesagt: die klassische Frage nach der Natur ist in der modernen Maske des universalen Staates zurückgekehrt. Die Frage, um wessen Problem es sich handelt, ist Teil des Problems. Insofern das „menschliche Problem“ als universales Problem ins Bewußtsein tritt, ist es Gegenstand philosophischer Nachforschung. Dabei ist es erstaunlich, daß Strauss gelegentlich eine politische Bezeichnung für die Figur des Philosophen gewählt hat. Einen Philosophen im strengen Sinn – und Leo Strauss hatte einen ziemlich strengen Begriff davon, was ein Philosoph sei4 – könnte man einen „Bürger des Ganzen“ nennen.5 Die politische Bezeichnung wird verständlicher, wenn man berücksichtigt, daß ein Philosoph für Strauss niemals nur Philosoph ist. Er ist immer auch Teil eines kleineren Ganzen, nämlich der Gesellschaft, in der er lebt, und ihrer sozialen Ordnung. Der Philosoph ist stets ein Bürger in der Welt – und als solcher politischer Philosoph. Ihm wäre es ein Anliegen, ein guter Bürger zu sein. Dieser Umstand macht das Problem nicht einfacher. Das „Ganze“ ist Zielpunkt des Erkenntnisstrebens eines Philosophen. Unabhängig von rein menschlichen Interessen, offen für das Ganze und auf der Suche nach einer „ewigen“ Ordnung ist der Philosoph der Totalität verbunden und auf diese ausgerichtet. Als Bürger einer partikularen Gemeinschaft wird er aber das Gesetz dieser besonderen Gesellschaft respektieren. Er wird bürgerliche Präsenz zeigen. Die Philosophie ist – von Strauss’ klassischem Standpunkt aus gesehen – keine bequeme Grundlage für das Bürgersein im Hier und Jetzt. Wir könnten aus diesem Zusammenhang schließen, daß Strauss einen Konflikt zwischen Philosophie und Gesellschaft be2

Vgl. Strauss, OT: 208; Gourevitch, 1968/1969: 63 – 64, 76; Pippin, 1993: 146, 154. Strauss, WIPP: 39; RCPR: 164. 4 Vgl. Pippin, 1993: 155. 5 Strauss, OT: 212; vgl. RCPR: 7 – 8; WIPP: 38 – 40; Pippin, 1993: 153; Velkley, 2011: 9. 3

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ziehungsweise zwischen einer philosophischen Lebenshaltung und der Politik konstatiert hat, und vermuten, daß das „menschliche Problem“ in diesem Spannungsverhältnis seinen logischen Ort hat. Dann wäre der moderne Staat vermutlich der Ort, an dem dieser Konflikt gegenwärtig ausgetragen werden müßte. Gibt es eine Möglichkeit, philosophische Intentionen mit dem modernen Staat zu versöhnen? Eine Erscheinungsform des modernen Staates ist die liberale Demokratie. Sie war für Strauss sowohl biographisch wie philosophisch eine bedeutsame Realität. Wie jede Staatsform kommt auch die liberale Demokratie nicht ohne eine wirksame Idee von Gegenwärtigkeit und Einheit aus – wie sonst wäre „Integration“ nötig und möglich? Worin Einheit besteht und wie sie politisch verwirklicht werden kann, davon gibt es – zum Beispiel in antiken und modernen Politiktypen – unterschiedliche Vorstellungen. Nach Strauss’ Beobachtung ist eine bestimmte Art von universalem Moralismus ein wesentlicher Integrationsfaktor für die moderne Demokratie, während die Religion weitgehend als Privatsache eingestuft wird. In anderen Ordnungszusammenhängen habe indessen die Präsenz von Religion (und Quasi-Religionen) eine regulierende und vereinheitlichende Wirkung auf die Gesellschaft ausgeübt.6 Strauss’ Sichtweise erfährt eine nachhaltige Bestätigung dadurch, daß die westlichen Demokratien zu Beginn des 21. Jahrhunderts erneut durch das Aufeinandertreffen dieser beiden unterschiedlichen Integrationsmodelle herausgefordert werden. Es handelt sich dabei tatsächlich um unterschiedliche Modelle, beziehungsweise um Typen, die gleichzeitig auftreten können und die nicht zwingend an ein „früher“ oder „später“, also an eine historische „Epoche“ gebunden sind. Strauss war zugleich davon überzeugt, daß sich die moderne Demokratie in einer Krise befinde. Seine Krisendiagnose wird oft mißverstanden. Die Tatsache, daß manche seiner Gegner ihn auf Grund der berüchtigten Bemerkung zu einer „radikalen Kritik des Liberalismus“ als anti-liberal angegriffen haben, illustriert solche Mißverständnisse.7 Tatsächlich besteht keine notwendige Beziehung zwischen einer Krise und einer Kritik und noch weniger zwischen einer Kritik des Liberalismus und einer anti-liberalen Einstellung. Ganz im Gegenteil war Strauss ein bekennender Verfechter der Demokratie – in vollem Bewußtsein des Umstandes, daß er der britischen und der amerikanischen Demokratie vermutlich sein Leben verdankte, und tief davon überzeugt, daß nur der politische Pluralismus totalitäre Tyranneien verhindern könnte, wie sie im 20. Jahrhundert durchlitten worden waren. Gerade als ihr Verfechter fühlte er sich zur Kritik der Demokratie verpflichtet, um sie in der Krise zu stärken. Das war einer der Gesichtspunkte, unter denen sich der Philosoph Strauss als Bürger verstanden hat. Die Demokratie „radikal“ zu kritisieren heißt nichts anderes, als – salopp gesprochen – ihr Integrationsmodell unter die Lupe zu nehmen, zu ihren philosophischen Wurzeln und ihrer noetischen „Infrastruktur“ vorzudringen, um auf diese Weise die moderne Krise der Demokratie zu analysieren. Strauss interpretierte Politik in Begriffen ihres „Geistes“, das heißt, in Begriffen unterschiedlicher Typen 6 7

Strauss, LAM: 226. Vgl. Altman, 2011: 199 – 201.

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von bürgerlicher Präsenz im Sinne einer politisch wirksamen Präsenz von philosophischen, moralischen oder religiösen Überzeugungen.8 Diese gehören – recht verstanden – zu den „elementaren und unauffälligen Bedingungen menschlicher Freiheit“.9 Im Ergebnis konstatierte er, die moderne Demokratie habe darunter gelitten, daß Tugend mit fragwürdigen Absichten durch Anerkennung ersetzt worden sei und dabei jeglichen religiösen Horizont verloren habe. Die Bedeutung dieser politisch-philosophischen Analyse von Leo Strauss ist in Zeiten globaler Modernisierung und Demokratisierung noch gewachsen. Man darf sich durchaus fragen, wie die westliche liberale Demokratie zum universalen Paradigma menschlicher Wohlfahrt aufsteigen konnte, während Intellektuelle ersten Ranges – keinesfalls nur der Philosoph Leo Strauss – sie in einer fundamentalen Krise wähnten. Das gilt umso mehr, als es sich nicht um eine Krise von Verfassungsprinzipien und institutionellen Arrangements handelt, sondern von grundlegenden Überzeugungen und Glaubensgehalten, deren Präsenz politische Stabilität sichern sollte. Sind westliche Muster bürgerlicher Präsenz in kulturell differenten Kontexten wie post-kolonialen Gesellschaften oder theokratischen Staaten überhaupt von Belang? Taugt Strauss’ klassischer Standpunkt überhaupt für eine interkulturelle Behandlung der Demokratietheorie? Strauss’ Untersuchung der modernen Welt und insbesondere des modernen Staates war durch eine spezifische historisch-geistige Konstellation geprägt: durch das „menschliche Problem“ im Kontext des „Projekts des Moderne“, durch die philosophische Analyse des modernen Staates im Kontext der noetischen Strukturen bürgerlicher Präsenz und durch die gegenwärtige Krise der Demokratie, die von ihm als Krise der politischen Philosophie artikuliert wurde. Aus dieser Konstellation läßt sich ein politikanalytischer Ansatz heraus präparieren und typologisch systematisieren, der relevante Kriterien für die Demokratisierungsforschung und insbesondere für die Beurteilung von Transformationsregimes in einem kulturvergleichenden Horizont zur Verfügung stellt. Gegenstand der folgenden Untersuchung ist die philosophische Strukturierung des modernen Staates bei Leo Strauss im Hinblick auf eine Typologie bürgerlicher Präsenz. Die Hauptthese besagt, daß Strauss von einem klassisch-philosophischen Standpunkt aus den Staat in Begriffen der inneren Bedingungen des Lebens seiner Bürger analysiert hat, also in erster Linie in seiner noetischen Gestalt, den dominierenden moralischen Absichten und den religiösen Überzeugungen innerhalb der Bür8

Der Ansatz, Politik von der politisch wirksamen Präsenz moralischer, philosophischer und religiöser Überzeugungen her zu analysieren, ist charakteristisch für den philosophischen Standpunkt von Leo Strauss. Wenn John Rawls gerade diese Dimensionen aus seiner freistehenden Konzeption des politischen Liberalismus ausschließt, wird er deswegen nicht zu einem Antipoden von Strauss, sondern im Gegenteil zum Konstrukteur einer komplementären Perspektive auf das philosophische Dilemma der Politik (vgl. Kauffmann, 2000). Konvergenzpunkte zwischen Rawls und Strauss finden sich in der Wahrnehmung absoluter und relativer Probleme (vgl. Rawls, 1999: 3 f., und unten Abschnitt III.) sowie in der politischen Idee von „reason“. Die Bi-Dimensionalität spricht einschließlich ihrer konvergenzfreien Rezeptionsfiguren Bände über die Konstitution des politischen Denkens im 20. Jahrhundert. 9 Strauss, ÜT: 39.

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gerschaft. Politik und politische Institutionen werden als Ausdruck der noetischen Präsenz von bestimmten Gehalten verstanden, die sich in dem weiten Feld zwischen politischer Philosophie und Ideologie bewegen und die mit ausweisbaren Prinzipien (wie Vernunft und Körper respektive Verständigung und Kampf) verbunden sind. Zentraler Angriffspunkt seiner Kritik ist das moderne Paradigma von „Anerkennung“. Der „Kampf um Anerkennung“ war ein Schlüsselbegriff der Hegelschen „Philosophie des Rechts“. Strauss’ Kritik reflektiert die Art, wie Alexandre Kojève diese Idee als Zentralbegriff für seine Lehre vom Universalstaat benutzt hat. Nach Strauss leugnet „Anerkennung“ jeglichen natürlichen Maßstab sowohl für Wahrheit und Verstehen als auch für moralische und religiöse Begrenzungen abstrakter Freiheit. Sein Ansatz kann als Grundlage für einen Begriff von „bürgerlicher Präsenz“ systematisiert werden, der es erlaubt, in Erweiterung der klassischen Typologie von Lebensweisen („Bioi“) verschiedene Typen von bürgerlicher Gegenwärtigkeit hinsichtlich ihrer Merkmale zu bestimmen, nämlich der relevanten Formen des (auch impliziten) Wissens, der tragenden Identitäten, der Lebensweisen bzw. der Handlungsformen und der korrespondierenden politischen Ordnungsmodelle. Diese Systematisierung präzisiert Strauss’ Ansatz als ein Plädoyer für den politischen Pluralismus. In den folgenden Abschnitten wird der Begriff des modernen Staates bei Strauss analysiert, indem wir zunächst eine bekannte Vision von globaler Demokratie skizzieren, die heuristische Funktion von „bürgerlicher Präsenz“ im Umriß darstellen und zu den historisch wirksamen politischen Paradigmen „Kampf“ und „Verständigung“ in Beziehung setzen (II.). Anschließend wird Strauss’ Standpunkt aus der existentiellen Erfahrung des „jüdischen Problems“ hergeleitet und als derjenige der klassischen politischen Philosophie charakterisiert (III.). In einem weiteren Abschnitt wird die tragende These durch eine Analyse von Strauss’ Auffassung und Kritik der modernen Idee der Anerkennung und des politischen Hedonismus expliziert (IV.). Daraus werden anhand von drei Typen bürgerlicher Präsenz Schlußfolgerungen mit Bezug auf historisch wirksame Grundformen von Politikverständnissen und des politischen Handelns gezogen (V.). Ein Plädoyer für den noetischen Realismus wird die Ausführungen abrunden (VI.). II. Globale Demokratie, bürgerliche Präsenz und politische Prinzipien Die Auseinandersetzung von Strauss mit dem modernen Staat vollzog sich unter universalistischen Vorzeichen, nämlich denen des „menschlichen Problems“ und der Natur des Menschen. Strauss ging das „menschliche Problem“ unabhängig von kulturellen Unterschieden oder System-Differenzen zwischen Ost und West, zwischen Kommunismus und Liberalismus an. In der Ära des Kalten Krieges hatten sich seiner Auffassung nach die universalen Ideale von Kommunismus und Liberalismus durch das jeweilige Gegenideal wechselseitig neutralisiert. Es wirkt wie eine Ironie der Geschichte, daß Strauss’ Ansatz insofern bestätigt worden ist, als sich nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Welt universalistische Visionen erneut mit schein-

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bar unbegrenzter Dynamik ausbreiten konnten. Die internationale Entwicklung der letzten 25 Jahre gibt den Universalisierungstheoretikern jedoch nur scheinbar Recht. Weltweit wurde man zum Zeugen der Transformation von autokratischen Systemen in Demokratien. Einigen erschien diese Epoche als ein Prozeß der universalen Demokratisierung, sei es als „dritte Welle“ der Demokratisierung oder sogar als das „Ende der Geschichte“.10 Transformationsforschung ist zu einem florierenden Arbeitsfeld in der Politikwissenschaft11 und der Demokratietheorie geworden. Gleichwohl sind die Begriffsprobleme immens geblieben – ganz zu schweigen von den Problemen in der politischen Realität. Wie können Wissenschaftler den exakten „Punkt“ identifizieren, an dem ein autoritäres Regime im Wandel die Schwelle zur Demokratie überschreitet? Gibt es etwa einen angemessenen Demokratiebegriff, der sich allgemeiner Zustimmung erfreute und als Kriterium für die Beurteilung von Demokratisierungsprozessen dienen könnte? Können Politikwissenschaftler die Qualität von Demokratie in einer bestimmten Gesellschaft messen? Welche sind die relevanten Variablen und Indikatoren für empirische Studien in diesem Forschungsfeld? Sind es etwa ethnische Homogenität und eine gemeinsame nationale Identität? Sind es die Institutionen verfassungsmäßiger Freiheiten und bürgerlicher Rechte für das Volk? Oder ist es die fortgeschrittene Entwicklung des legislativen und des juridischen Systems? Vielleicht ist es der Umbau der Wirtschaft nach Maßgabe des globalen Kapitalismus? Nicht zuletzt könnte es ein Bündel von Einstellungen und von politischen Verhaltensmustern sein, welche die Demokratie unterstützen und die normalerweise als „politische Kultur“ bezeichnet werden. Aber ist eine universale „politische Kultur“ auf einer gemeinsamen noetischen Grundlage für eine globale Demokratie denkbar? Die religiöse und politische Radikalisierung, die nach wie vor innerhalb „offener“, von einem universalistischen Menschenrechtsethos getragener Gesellschaften beobachtet werden kann und die von einem fortgesetzten Bemühen um „Integration“ begleitet wird, gibt Anlaß zur Skepsis. Man kann davon ausgehen – und diese Annahme kennzeichnet den systematischen Bezugsrahmen für die hier anzusetzende Hermeneutik des Werkes von Strauss hinsichtlich des Problems des modernen Staates –, daß politisches Leben und politischer Wandel ohne eine – sagen wir – vernünftige mentale Infrastruktur wie beispielsweise die wirksame Präsenz politischer Wissensbestände nicht funktionieren können.12 Das ist zumindest für eine Demokratie von wesentlicher Bedeutung. Der Althistoriker Christian Meier hat die innere Beziehung zwischen einer spezifischen „mentalen Infrastruktur“, bürgerlicher Gegenwärtigkeit und der Entstehung der Demokratie im klassischen Athen nachgewiesen.13 Phänomene von bürgerlicher Präsenz sind notwendige funktionale Bedingungen demokratischer Politik. „Bürgerliche Präsenz“ bezeichnet einen weiten Phänomenbereich, der sich von der physi10

Vgl. Strauss, CM: 3 – 4, 41 – 43; Fukuyama, 1992. Vgl. Strauss, CM: 6 – 11; Kauffmann, 2010: 44 – 47. 12 Vgl. Kauffmann, 2013: 278 – 280, 284, 292. 13 Vgl. Meier, 1983: 91 – 93, 129 – 131. 11

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schen Ko-Präsenz der Bürger im öffentlichen Raum über die Verfügbarkeit der politischen Ordnung für die Öffentlichkeit, über die politische Identität von Individuen bis hin zur wirksamen Präsenz bestimmter politischer Ideen im öffentlichen Bewußtsein erstreckt. Eine der wichtigsten politischen Ideen ist in diesem Zusammenhang diejenige der „Repräsentation“, also der „Präsentifikation“ abwesender Bürger und abstrakter rationaler Inhalte. Die noetische Präsenz politischer Tatsachen und Werte ist wesentlich für die politische Wirklichkeit. Kein Staat wird Achtung für seine Gesetze finden, so lange bei seinen Bürgern kein effektives „Wissen“ davon vorhanden ist, was „Gesetzlichkeit“ überhaupt bedeutet. Unterschiedliche Formen und Niveaus von „Wissen“ sind dabei vorstellbar, einschließlich abgeschwächter Formen wie Meinungen oder eine Art von Erfahrung und Bewußtsein bis hin zu bestimmten moralischen Einstellungen und Überzeugungen. Zu den Formen politisch relevanten Wissens gehört auch nicht-propositionales respektive implizites Wissen. Weiterhin wird es Freiheit niemals ohne irgendeine Idee davon geben können, was Freiheit ist oder sein könnte. Ideen wie diese müssen im öffentlichen Bewußtsein und im öffentlichen Verständnis von den politischen Institutionen und Prozessen präsent sein. Sie können auch eine Art „übergreifenden Konsens“ unterstützen. Hegel war so weit gegangen, die Weltgeschichte als universalen Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit zu deuten. „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.“14 Strauss war kein Freund von weltgeschichtlichen Träumen. Philosophen könnten seiner Ansicht nach durchaus auf einem universalen Niveau agieren, aber die politische Realität spiele sich eine Ebene tiefer in einem pluralistischen Kosmos von „kulturellen“ Werthaltungen, Konventionen und Traditionen ab. Die Versuchung, einen partikularen Glauben in universale Prinzipien zu wenden, würde zu einer Ära tyrannischer Ideologien und totalitärer politischer Katastrophen führen. Von einem trans-„kulturellen“ Standpunkt aus betrachtet kommt Strauss’ Position der Einladung gleich, das „menschliche Problem“ von einem partikularen Standpunkt aus anzugehen und den Begriff konventioneller bürgerlicher Präsenz mit einem Gehalt zu füllen, der den Anforderungen verschiedener Kulturräume genügen kann. Vom 21. Jahrhundert aus betrachtet scheint die schlichte „Modernisierung“ nichtwestlicher Gesellschaften ein altmodisches Ideal zu sein. Strauss würde diese Zusammenhänge nicht derart funktionalistisch zum Ausdruck gebracht haben – schließlich teilte er auch nicht Hegels Position. Aber er war einer der wichtigsten politischen Philosophen, die der notwendigen Präsenz innerer, noetischer Bedingungen des politischen Lebens Beachtung geschenkt haben.15 Wir können feststellen – auch wenn wir dabei eine Formulierung benutzen, die sich bei Strauss so nicht findet –, daß die Untersuchung der kognitiven Struktur der Politik in der westlichen Tradition für sein philosophisches Projekt aufs Ganze gesehen von höchster Bedeutung war. Schon in den 1930er Jahren analysierte er die Entwicklung der liberalen 14 15

Hegel, 1970: 32 (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Einleitung B. a.). Vgl. Strauss, OT: 27; NRH: 23; WIPP: 37, 310.

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Demokratie in Artikeln, welche die „Religiöse Lage der Gegenwart“ und „Die geistige Lage der Gegenwart“ behandelten.16 Das Problem des Wissens war wesentlich für das klassische, sokratische Verständnis von Gerechtigkeit. Das wird deutlich in der Beziehung zwischen Weisheit und Herrschaft. Anläßlich seiner Untersuchung der Grundalternativen, die Strauss in „Naturrecht und Geschichte“ diskutiert, bemerkte Victor Gourevitch: „The two most general criteria by which Strauss here sorts the alternatives are: the presence or absence of philosophy; and the affirmation or denial of natural right.“17 Gourevitch hat sich in diesem Zusammenhang nicht weiter mit dem Begriff der „Präsenz“ beschäftigt. Hätte er es jedoch getan, wäre er wahrscheinlich dem Sinn und der Bedeutung auf die Spur gekommen, welche die noetische Struktur der Politik besitzt und die für Strauss im bloßen Begriff der „Philosophie“ zum Vorschein kam. Die „Präsenz der Philosophie“ ist der passende Ausdruck zur Bezeichnung der notwendigen Bedingungen guter Politik.18 Mit dem Blick auf die „Präsenz der Philosophie“ als Standard, kann man verschiedene Ebenen von „bürgerlicher Präsenz“ respektive von „bürgerlicher Absenz“ identifizieren, die unterschiedliche Typen von politischen Ordnungen zwischen Demokratie und moderner Diktatur auszeichnen. Eine solche Typologie kann die Beurteilung von Transformationsprozessen verbessern, die von mehr oder weniger homogenen politischen Systemen zu pluralistischen Gesellschaften mit demokratisch-rechtsstaatlichen Institutionen führen. In interkultureller Perspektive kann die globale Rezeption und Diskussion von Strauss’ Œuvre durch den Gesichtspunkt der funktionalen noetischen Bedingungen moderner politischer Systeme systematisch angeregt und orientiert werden. Die Frage nach der noetischen Struktur der Politik führt zu der Frage nach den Prinzipien und den ihnen entsprechenden Verständnissen des Politischen. In der Geschichte des westlichen politischen Denkens kann man kontinuierlich eine grundlegende Alternative identifizieren, der zufolge das oberste politische Prinzip entweder in der Vernunft beziehungsweise in vernünftigen menschlichen Fähigkeiten oder im Körper beziehungsweise in körperlichen Kräften und Bedürfnissen lokalisiert wird. Aristoteles ist ein Repräsentant der ersten Möglichkeit: Menschen sind von Natur aus politische Wesen, weil sie Vernunft besitzen. Vernunft – „Logos“ – zu besitzen bedeutet, fähig zu sein, sich mittels der Sprache friedlich darüber zu verständigen, was in einer gegebenen Gesellschaft als gerecht gelten solle.19 Thomas Hobbes kann als Repräsentant der gegenteiligen Strömung gelten. In seiner Konzeption erscheinen Menschen primär als bewegte Körper, als „bodies in motion“, als Körper, die mit anderen bewegten Körpern zusammenprallen. Dieser körperlich definierte Zustand führt zu dauerndem Krieg.20 Für Hobbes war der politische oder der bürgerliche Zustand eine künstliche Konstruktion, um das fundamentale Recht auf Selbsterhaltung 16

Strauss, GS II: 377 – 391, 441 – 464. Gourevitch, 1987: 36. 18 Strauss, TM: 294 („presence of philosophy“). 19 Vgl. Aristoteles, Politik: I 2. 20 Vgl. Hobbes, Leviathan: Kap. I. 17

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sicher zu gewährleisten. Im selben Atemzug wurde der Gewinn von Macht über Natur und Mensch zum Ziel der Wissenschaft erklärt. Aristoteles und Hobbes repräsentieren jeder für sich einen alternativen Zugang zum „menschlichen Problem“. Sie repräsentieren die Alternativen von Vernunft und Körper als Prinzipien des Politischen, das heißt sie repräsentieren die Alternativen von Sprache und Begehren als Leitmotive für soziales Verhalten, die Alternativen von Verständigung und Kampf als Wesensmerkmale der Politik. Diese Alternativen definieren den Standpunkt, von dem aus Strauss den modernen Staat und die liberale Demokratie beurteilt hat. Die Alternative von Vernunft und Körper kommt gut in Straussens Bemerkung über den Grundzug von Hobbes’ politischem Denken zum Ausdruck, der zufolge Macht über die Natur nicht verlange, daß man die Natur auch verstehe.21 Könnte dasselbe in dem Sinne von der Politik gelten, daß Macht über Menschen kein Verständnis von den menschlichen Dingen voraussetze? Je nachdem, ob man die Vernunft oder den Körper als die grundlegende politische Tatsache ansetzt, gelangt man zu unterschiedlichen Verständnissen vom Politischen und in der Folge zu ganz verschiedenen Arten von politischem Handeln. Für Hobbes vollzog sich Politik unter der dauernden Möglichkeit eines natürlichen Krieges. Carl Schmitt dehnte diese Idee bis an ihre radikalen Grenzen aus. Jenseits irgendeines substantiellen Gehalts des Politischen wurde die Unterscheidung zwischen Freund und Feind in den Rang eines Kriteriums erhoben, anhand dessen sich der politische Charakter jeder beliebigen sozialen Beziehung bestimmen ließe. Die Strausssche Alternative von Absenz und Präsenz der Philosophie im Politischen kann aus der Analogie zu der Alternative von Körper und Vernunft als Prinzipien der Politik verstanden werden. Diese Alternativen verweisen auf den Kernpunkt seiner philosophischen Position. Alexandre Kojève, der bekannte Gesprächspartner und Zeitgenosse von Strauss, teilte diesen Bezugsrahmen mit ihm, gewichtete ihn aber anders herum. Strauss rekonstruierte Kojèves Position als ein Politikverständnis, das sich am Begehren (anstelle der Vernunft) orientiert und das die Form des Kampfes annimmt. „Es kann also der Konflikt [des Philosophen, CK] mit den Politikern nicht ausbleiben. Und dieser Konflikt selbst – von seinen Ursachen und Wirkungen ganz zu schweigen – ist schon politische Aktion.“22 Strauss hätte es für einen fatalen Irrtum gehalten, wollte man diese wesentlichen und unübersehbaren Konflikte als bloß „semantisch“ abtun.23 Die Emanzipation der Leidenschaften sei charakteristisch für eine körperbasierte, somatische Politik, die zu einer Definition des Politischen in Begriffen von Wohlstand, Konkurrenz und Kampf führe. Strauss stimmte mit den klassischen Philosophen darin überein, daß Leidenschaften wie das Begehren nach Ehre starke Motivationen 21 Strauss, NRH: 175 („control of nature does not require understanding of nature“); vgl. WIPP: 39. 22 Strauss, ÜT: 217; vgl. 228; OT: 195 („the conflict [of the philosopher, CK] with the political men cannot be avoided. And this conflict by itself, to say nothing of its cause or its effect, is a political action“), 205. 23 Strauss, ÜT: 218; vgl. OT: 195 („substantive and irrepressable conflicts are dismissed as merely ,semantic‘“).

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für potentielle Tyrannen wären, wenn auch nicht notwendigerweise für gewöhnliche Bürger.24 Diese „politische“ Option war für ihn zugleich eine moralische Position. „Es ist unmöglich, ein Tyrann zu werden und zu bleiben, ohne schändliche Dinge zu tun.“25 Dem Begehren nach Ehre zu folgen, ist nahezu dasselbe wie blind und ohne jegliches Verständnis für die menschlichen Dinge zu sein. III. Von der Judenfrage zum klassischen Standpunkt der philosophischen Politik Was könnte Leo Strauss gemeint haben, als er die „Präsenz der Philosophie“ als eine notwendige funktionale Bedingung für ein gutes Regime bezeichnet hat? Und was könnte das für die Grundlegung universaler Demokratie in der modernen Welt bedeuten, in der „somatisches“ Denken vorherrschend ist? Strauss hat sich in unterschiedlichen thematischen Zusammenhängen mit dem modernen Staat beschäftigt. Seine erste Begegnung war geprägt von der Erfahrung des jungen Juden, der Antisemitismus und Diskriminierung in der deutschen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg beobachten konnte und erfahren mußte. Was man als das „jüdische Problem“ oder die „Judenfrage“ bezeichnete, wurde zum Hauptthema seiner Forschungen an der „Akademie für die Wissenschaft des Judentums“ in Berlin und seiner frühen Schriften. Zugleich war das „jüdische Problem“ von größter Bedeutung für die Formierung seines philosophischen Projekts. Das Schicksal der Juden hatte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts viele politische Gesichter: Es zeigte sich im politischen Zionismus, im kulturellen Zionismus, in der orthodoxen Religion, in den Assimilationsversuchen von Juden an die liberal-demokratische Gesellschaft, im Scheitern der Weimarer Verfassung und im Nationalsozialismus, nicht zuletzt im Kommunismus. In diesem Zusammenhang hat er sich der geistigen Situation des modernen Liberalismus ebenso zugewandt wie der zionistischen Politik und der Idee eines jüdischen Staates Israel.26 Die geistigen Grundlagen des modernen Liberalismus sind ein zweiter Komplex, innerhalb dessen der moderne Staat für Strauss zum Thema wurde. Seine Untersuchungen zu Machiavelli, Hobbes, Spinoza, Locke, Hegel, Schmitt und anderen gehören in diesen Bereich der historischen Forschung. Dabei muß stets bewußt bleiben, daß Politik und Religion die Koordinaten sind, zwischen denen seine philosophischen Untersuchungen die geistige Welt vermessen. Die existentiellen Zumutungen für den jungen deutschen Juden veranlaßten den Philosophen, die geistigen und religiösen Grundlagen der zeitgenössischen Situation freizulegen. Zumindest war dies die leitende Absicht hinter seinem „historischen“ Projekt und seiner Wiederaufnahme des Streits zwischen Antike und Moderne.27 Wenn generell die Präsenz der Phi24

Strauss, OT: 191. Strauss, ÜT: 213; vgl. OT: 191 („One cannot become a tyrant and remain a tyrant without stooping to do base things“); Smith, 2006: 144. 26 Vgl. Strauss, GS I: 8 – 15; LAM: 226 – 231. 27 Vgl. Strauss, LAM: ix; CM: 41 – 43. 25

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losophie im Politischen das Thema ist, dann interessierte sich Strauss insbesondere für das Schicksal der Philosophie im Kontext des Projekts der Moderne. Auf dem Pfad der Moderne war der Mensch von der Eroberung der Natur zum Zwecke der Verbesserung der Lebensbedingungen (und der individuellen Wohlfahrt) fortgeschritten zu einem neuen Verständnis von Wissenschaft als einem bloßen Machtinstrument, das zu einer positivistischen Sozialwissenschaft ausdifferenziert wurde, die sich auf so genannte „Tatsachen“ beschränkt und sich weigert, Werturteile über die tyrannische Diktatur als ein schlechtes Regime zu fällen. Mit anderen Worten: Der Weg der Moderne führt weg von der Philosophie und hin zur Ideologie. Das war nach Strauss die innere Voraussetzung einer Geschichte, die im Krieg endete, die zum Holocaust geführt und die schließlich den Kampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus um die universale Weltherrschaft befeuert hat. Unter anderem war die Idee der „Anerkennung“, die nach Strauss für die Tradition zwischen Hegel und Hitler zentral gewesen ist, ein aussagekräftiges Symbol dieser verhängnisvollen Entwicklung. Es war nur folgerichtig, daß die Idee der „Anerkennung“ ein zentraler Gegenstand seiner von gegenseitigem Respekt getragenen Auseinandersetzung mit Alexandre Kojève war. Die verschiedenen Kontexte von Strauss’ Untersuchung der geistigen Konstitution des modernen Staates sind Elemente derselben politischen Arena, in die er hineingeboren worden war. Sie präsentierten sich selbst als Lösungen für dasselbe „menschliche Problem“, dem das Interesse von Strauss vorrangig galt. Das „menschliche Problem“ war für ihn unter anderem ein „soziales“ oder „politisches Problem“, wie er es auch in dem „jüdischen Problem“ vorgefunden hatte, und er stellte es als „unendliches“, „absolutes“ Problem den lösbaren „endlichen“, „relativen“ Problemen gegenüber. Vom philosophischen Standpunkt aus betrachtet bezieht sich das „menschliche Problem“ auf Politik und Religion als von ihm so genannte „ursprüngliche Tatsachen“.28 Die Triade Philosophie, Politik und Religion könnte die Triade von Vernunft, Körper und Glaube als fundamentale Prinzipien des sozialen Lebens widerspiegeln. Im Jahr 1962 gab Strauss in einer geradezu autobiographischen Bemerkung zu verstehen, daß ihm das jüdische Problem das handgreiflichste Symbol des „menschlichen Problems“ zu sein schien, insoweit es ein soziales oder politisches Problem war.29 Er hat in diesem Zusammenhang auch von den „Erfahrungen unserer Generation“ gesprochen.30 Zugleich war der Philosoph davon überzeugt, daß es – im Gegensatz zu den zahlreichen Lösungen, die im Laufe der Geschichte vorgeschlagen 28

Strauss, GS II: 30 – 31 n.2. Strauss, GS I: 13 („Endliche, relative Probleme können gelöst werden; unendliche, absolute Probleme können nicht gelöst werden. Mit anderen Worten, die Menschen werden niemals eine Gesellschaft erschaffen, die frei ist von Widersprüchen. Unter jedem Gesichtspunkt sieht es so aus, als ob das jüdische Volk das auserwählte Volk sei, zumindest in dem Sinne, daß das jüdische Problem das handgreiflichste Symbol des menschlichen Problems ist, insoweit es ein soziales oder politisches Problem ist.“); vgl. LAM: 230; WIPP: 39; Smith, 2006: 145; Pippin, 1993: 148, 158 – 159. 30 Strauss, ÜT: 38. 29

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worden waren – keine universale Lösung für dieses universale Problem geben könne.31 Die Menschheit bestehe nicht nur aus „Bürgern des Ganzen“. Es gebe mehr „gewöhnliche“ Bürger, die ein Leben aus dem Glauben oder in Tugend führten und die heute – vom Standpunkt der Moderne aus betrachtet – in wechselseitiger Anerkennung leben sollten. Aus der klassischen Perspektive hat Strauss versucht, die Idee des Universalismus aufzubrechen und durch eine pluralistische Verfassung zu ersetzen. Strauss beurteilte die Grundlagen des modernen Staates aus einer klassischen Perspektive. Im Rahmen seiner Debatte mit Kojève behauptete Strauss, daß die klassische Politische Philosophie (einschließlich ihres Begriffs der Tyrannis) „von einer adäquaten Analyse grundlegender sozialer Phänomene ausgeht.“32 In demselben Kontext versicherte er: „Die klassische Interpretation scheint den Tatsachen näherzukommen.“33 Strauss teilte demnach den klassischen Standpunkt ausdrücklich. Er tat dies nicht in Folge einer willkürlichen Entscheidung, sondern weil er sich durch die Krise seiner Zeit, durch die Krise des Westens dazu gezwungen fühle.34 Das heißt, Strauss bezog nicht deshalb einen klassischen Standpunkt, weil er ein kauziger Antiquar oder ein altmodischer Humanist gewesen wäre. Er wählte die klassische Perspektive, um die politischen Probleme der Gegenwart richtig einzuschätzen: die Krise der modernen Politik nach dem Holocaust und im Angesicht des Kalten Krieges mit der absurden atomaren Bedrohung der Welt. Mit anderen Worten: Strauss argumentierte nachdrücklich dafür, daß der klassische Ansatz hinsichtlich der Analyse von Politik von größerer Relevanz wäre als die zeitgenössischen „Lösungen“. Zugleich ist es wichtig zu erkennen, daß die Einnahme eines klassischen Standpunkts keineswegs impliziert, daß Strauss ein Feind der Demokratie gewesen wäre. Ganz im Gegenteil: Strauss kann sich auf eine beachtliche Reihe von Vorgängern stützen, die eine Volksregierung ohne Tugend für unmöglich gehalten haben.35 Er bekräftigte, man könne ohne weiteres zeigen, daß die klassischen Argumente keineswegs so einfach abgetan werden könnten, wie es heute oftmals den Anschein habe, und daß die liberale oder konstitutionelle Demokratie dem, was die Klassiker forder31

Strauss, OT: 196 („Philosophy as such is nothing but genuine awareness of the problems, i. e., of the fundamental and comprehensive problems. […] Yet as long as there is no wisdom but only quest for wisdom, the evidence of all solutions is necessarily smaller than the evidence of the problems.“); vgl. ÜT: 218 f.; RCPR: 31. 32 Strauss, ÜT: 214; vgl. OT: 192; CM: 10; GS I: 26; RCPR: 262. 33 Strauss, ÜT: 212; vgl. OT: 190 („The classical interpretation would seem to be truer to the facts.“). 34 Strauss, CM: 1 („impelled to do so by the crisis of our time, the crisis of the West“). 35 Pro multis Montesquieu, 1992: I 34 f. (Vom Geist der Gesetze, III 3): „Denn es ist klar, daß in einer Monarchie, wo der, welcher die Gesetze vollzieht, sich über sie erhaben dünkt, weniger Tugend erforderlich ist als in einer Volksregierung, wo der, der die Gesetze vollziehen läßt, sich selbst ihnen unterworfen fühlt und ihre Last mittragen muß. […] Wenn man aber in einer Volksregierung aufhört, Gesetze zu vollziehen, so ist der Staat schon verloren, weil dies nur auf Grund der inneren Verderbnis der Republik geschehen kann.“ Vgl. Strauss, LAM: 264; ÜT: 97 f. n.7.

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ten, näher käme als alle gangbaren Alternativen seiner Zeit.36 Möglicherweise war Strauss schon deshalb ein Verfechter der Demokratie, weil sie offensichtlich mit einer philosophischen Politik kompatibel ist. Es ging ihm nicht darum, von außen auf den modernen Staat als eine unabhängige Entität zu blicken. Sein Interesse galt nicht primär staatlicher Souveränität in Beziehung zu anderen souveränen Staaten. Er folgte keinem institutionellen Ansatz wie demjenigen des Öffentlichen Rechts. Für Strauss waren die innermenschlichen Voraussetzungen von Politik von vorrangiger Bedeutung. Man sollte zweifelsohne festhalten dürfen, daß der Primat des Inneren entscheidend ist, wenn man Politik im modernen Staat verstehen möchte. Für Strauss war das Problem des modernen Staates ein moralisches Problem. Nach seinem Verständnis ist das moderne politische Denken wesentlich durch den Bruch mit der klassischen und der biblischen Moral geprägt sowie durch die Übernahme des politischen Hedonismus. Demnach würde die Moderne auf zwei falschen Prämissen aufbauen, daß nämlich der Mensch kein Bewußtsein von natürlichen Schranken des Verhaltens habe und daß er vor allem von einem „Begehren nach Anerkennung“ geleitet wäre.37 Die „philosophische Politik“, die Strauss ins Spiel brachte, ist Philosophie im Interesse der Politik, oder anders gesagt: ein Modell für die Versöhnung von Philosophie und Gesellschaft. „Philosophische Politik“ richtet sich zunächst an die „Bürger des Ganzen“ in einer partikularen Gesellschaft. Eine „Elite“ von Philosophen als Herrscher installieren zu wollen, wie Kritiker ihm im Duktus eines naiven Pseudo-Platonismus unterstellen, wäre seinen philosophischen Intentionen fremd gewesen und ein in der Tat absurdes Vorhaben. Vielmehr sollte „das Handeln des Philosophen für die Philosophie“ auf dem Wege der Kommunikation „die Sache der Philosophie verteidigen“ und das Spannungsverhältnis zwischen dem auf Universalität gerichteten Philosophen und einem partikularen Regime entschärfen.38 Wie alle hat auch diese Medaille zwei Seiten. Junge Philosophen auszubilden wäre das eine, ein anderes ist der verantwortungsbewußte Respekt für die Erfordernisse des politischen Lebens. Strauss äußerte sich auch in diesem Zusammenhang aus der klassischen Perspektive. „Worin also besteht ,philosophische Politik‘? Sie besteht darin, den Regierenden der Stadt klarzumachen, daß die Philosophen keine Atheisten sind, daß sie nicht alles, was der Stadt 36 Strauss, WIPP: 113 („It would not be difficult to show that the classical argument cannot be disposed of as easily as is now generally thought, and that liberal or constitutional democracy comes closer to what the classics demanded than any alternative that is viable in our age.“); vgl. OT: 194, 205; CM: 49; LAM: 24; NRH: 66 – 67; TWM: 98; WIPP: 36 – 38; Gildin, 1987: 94 – 95; Gourevitch, 1968/1969: 318 n.190; Gunnell, 1987: 71. Strauss’ ausdrückliche Überzeugung, daß das klassische politische Denken der konstitutionellen Demokratie günstig sein könnte, beinhaltet eine starke Widerlegung jener Mißverständnisse, die besagen, daß seine sogenannte „Rückkehr zur klassischen politischen Philosophie“ einer Präferenz für eine esoterische und subversive Unterminierung der amerikanischen Demokratie gleichkäme. 37 Strauss, OT: 192. 38 Strauss, ÜT: 229; vgl. OT: 205.

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heilig ist, entheiligen, daß sie verehren, was die Stadt verehrt, daß sie keine Umstürzler sind, kurz, keine verantwortungslosen Abenteurer, sondern gute Bürger, ja sogar die besten Bürger. Dies ist die Verteidigung der Philosophie, die überall und immer und unter jedem Regime notwendig war.“39

Das unlösbare „philosophische Problem“ drängt den philosophischen „Bürger des Ganzen“ in die Öffentlichkeit einer bestimmten Gesellschaft und verleiht seiner philosophischen Aktivität politische Bedeutung. Der politische Philosoph verhält sich nach Strauss sozial verantwortlich. Er werde den Glauben an „heilige“ Grenzen, die für menschliches Sozialverhalten natürlich seien, respektieren. Der „Bürger des Ganzen“ gewinnt eine zweite Identität als „guter Bürger“ – die „Präsenz der Philosophie“ wird dadurch, daß der Philosoph in Übereinstimmung mit öffentlichen Glaubensgrundsätzen und Tugenden handelt, im Sinne der gewöhnlichen „bürgerlichen Gegenwärtigkeit“ vervollständigt. Weil er tugendhaft ist, handelt der Philosoph von einem philosophischen Standpunkt aus „with grace and self-command“.40 An Verständigung statt am Kampf orientiert, verwendet er eine Sokratische Rhetorik und eine besondere Kunst des Schreibens, um seine widersprüchlichen Ziele auf versöhnliche Weise zu erreichen.41 IV. Ideologie der „Anerkennung“ vs. „Tugend“ des Pluralismus „Anerkennung“ ist ein zentrales Element des Begriffs des modernen Staates. Aus Strauss’ Perspektive gipfelte Hegels „Philosophie des Rechts“ in „der Legitimierung jener Art von konstitutioneller Monarchie, die sich auf die Anerkennung der Menschenrechte gründet und in der die Regierung in den Händen sehr gut ausgebildeter Beamter liegt, welche von einem erblichen König ernannt werden.“ Und Strauss fügte hinzu: „Man hat nicht ohne Grund gesagt, daß Hegels Herrschaft über Deutschland erst an dem Tag ein Ende nahm, an dem Hitler an die Macht kam.“42 In einer Hegelianischen Tradition ist die universale und reziproke Anerkennung der Rechte 39 Strauss, ÜT: 229 f.; vgl. OT: 205 f.; RCPR: 167; Pippin, 1993: 145 f., 156; Gourevitch, 1968/1969: 297 ff. Die Frage, was es in Beziehung zu einem Regime jeweils bedeute, ein guter Bürger zu sein, ist einer von zahlreichen Aufhängern für oberflächliche Lektüren der Schriften von Strauss. Strauss-Kritik ist nach wie vor häufig politisch motiviert und führt zu einer Art oberflächlicher hermeneutischer Collagetechnik anstelle einer ernstzunehmenden philosophischen Interpretation. Ein jüngeres Beispiel dafür ist W. Altmans wortreiches Buch „The German Stranger“. Bei Gelegenheit eines Kommentars zu einer Platonpassage resümiert Altman: „I take this passage personally. […] This book is the product of the way I understand Plato’s Republic and would not exist without this understanding; […] Strauss is my Thrasymachus, and I experience an obligation to persuade the noble owner of the ship I love to accept no more mandragora from him or his students. On a personal level, then Strauss’s reading of the Republic would annihilate the altruistic basis of this particular philosopher’s freely chosen duty to combat him.“ (Altman, 2011: 472 f.). „Kampf“ ist das Gegenteil von vernünftiger Auseinandersetzung. Vgl. angemessener Velkley, 2011: 11. 40 Rawls, 1999: 514; vgl. Kauffmann, 2004: 73 f.; Kauffmann, 2000: 355. 41 Vgl. Strauss, OT: 27; Gourevitch, 1968/1969: 64 f. 42 Strauss, GS I: 7; vgl. LAM: 225.

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der Menschen und der Bürger als frei und gleich das Ergebnis einer dynamischen Dialektik von Macht in Begriffen des Verhältnisses zwischen Herr und Knecht.43 Hegels Sicht wurde zur Utopie von einem homogenen und hoffentlich liberalen Universalstaat erweitert. Für Strauss war das Paradigma der Anerkennung von fragwürdigem politischem Wert. Diese Überzeugung ergab sich aus seiner existentiellen Erfahrung als Jude in einer liberalen Gesellschaft. Für liberale Gesellschaften wäre die Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Sphäre zentral, eine Unterscheidung, die zugleich zur dauernden Gefahrenquelle für religiöse Gruppen werden konnte. Strauss war überzeugt: „Der Liberalismus steht und fällt mit der Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft oder mit der Anerkennung einer durch das Gesetz geschützten, aber für das Gesetz unzugänglichen Privatsphäre, wobei Einvernehmen darüber herrscht, daß vor allem die Religion als partikulare Religion der Privatsphäre zugehört.“44

Das Menschenrecht auf eine Privatsphäre decke einen grundsätzlichen Mangel des liberalen Staates auf. Es war gerade das „jüdische Problem“, an dem sich zeigte, daß die rechtliche Emanzipation der Juden „private“ Diskriminierung nicht verhindern konnte. In einer weitreichenden Passage zog Strauss eine politische Folgerung: „So gewiß der liberale Staat seine jüdischen Bürger nicht ,diskriminieren‘ wird, so gewiß ist er konstitutionell nicht fähig und auch nicht willens, die ,Diskriminierung‘ von Juden seitens einzelner oder Gruppen zu verhindern. Eine Privatsphäre in dem angegebenen Sinne anzuerkennen bedeutet, private ,Diskriminierung‘ zuzulassen, sie zu schützen und sie so tatsächlich zu befördern. Der liberale Staat kann keine Lösung für das jüdische Problem beibringen, denn eine solche Lösung würde das gesetzliche Verbot jeder Art von ,Diskriminierung‘ erforderlich machen, das heißt die Abschaffung der Privatsphäre, die Leugnung des Unterschieds zwischen Staat und Gesellschaft, die Zerstörung des liberalen Staates.“45

Selbst wenn die Verbindung von Anerkennung und Diskriminierung logisch nicht zwingend sein sollte, entsprach dies der politischen wie auch der existentiellen Erfahrung von Strauss während seiner Weimarer Jahre: die rechtliche Emanzipation, die Anerkennung der Juden als freie und gleiche Bürger durch das Rechtswesen war nicht geeignet, sie vor Diskriminierung zu schützen und sie davor zu bewahren, dem antisemitischen Vernichtungswillen zum Opfer zu fallen. Mit anderen Worten: Endliche politische Institutionen sind nicht geeignet, absolute religiöse oder rassistische Probleme zu lösen. Die Idee der „Anerkennung“ ist eine derjenigen mentalen Präsenzen, die als funktionale Voraussetzungen Freiheit in modernen Demokratien ermöglichen sollen. Die liberale Demokratie war indessen am Problem der Religion – am jüdischen Problem – gescheitert, weil die Idee der „Anerkennung“ unangemessen war. 43

Vgl. Strauss, LAM: 225, 255; NRH: 22, 174; CM: 4. Strauss, GS I: 13 f.; LAM: 230; RCPR: 162. 45 Strauss, GS I: 14; LAM: 230.

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Die Geschichte hat gezeigt, daß die liberale Demokratie den Holocaust weder politisch noch auf rechtlichem Wege verhindern konnte. Indem sich Strauss auf die inneren Voraussetzungen des politischen Lebens konzentrierte, analysierte er die Idee der „Anerkennung“ als ein Kernelement des modernen Staates mit dem Ergebnis, ihre scheinbar fundamentale Rolle in der Politik in Frage zu stellen.46 Welche Argumente und Gründe führten ihn zu diesem Ergebnis? Eine Quelle für die Rekonstruktion seiner Kritik an dem Konzept der Anerkennung ist ein Brief, den er am 22. August 1948 an „Mr. Kojevnikoff“ geschrieben hat.47 Zunächst gibt sich Strauss’ Kritik der Anerkennung als eine Kritik von Kojèves Argumentation zugunsten der Anerkennung. Strauss faßte zusammen, die Herleitung des Wunsches nach Anerkennung sei willkürlich, weil das Selbstbewußtsein und das Streben nach Anerkennung genauso gut vom „zoon logon echon“ hergeleitet werden könnte, also von der natürlichen Vernunft- und Sprachbegabung der Menschen.48 Er war davon überzeugt, daß der Wunsch nach Anerkennung nicht einfach gegeben wäre. Sein erster Argumentationsschritt war folgender: Das Bedürfnis nach Anerkennung ist weder existentiell noch logisch notwendigerweise primär – und folglich ist es Anerkennung selbst auch nicht. Der zweite Schritt weist auf eine offensichtliche Zweideutigkeit hin. Nach Kojève gelte folgendes: (a) Menschen sollten befriedigt sein, weil alles andere irrational wäre, und (b) wären sie tatsächlich befriedigt. Gleichzeitig aber würde Kojève in seinem Hegel-Buch implizit behaupten, daß (a) Menschen tatsächlich irrational wären, und daß sie weiterhin (b) nicht befriedigt wären, sondern glückselig sein wollten, wobei Glückseligkeit nicht dasselbe wäre, wie anerkannt zu sein.49 Der dritte Punkt, den Strauss in seinem Brief anspricht, ist von inhaltlicher Bedeutung. Im Zuge der Auseinandersetzung mit Kojèves Text im Vergleich zu Hegel schließt Strauss, nicht Anerkennung, sondern nur Weisheit könne Menschen wahrlich befriedigen. Solange Weisheit aber kein Gemeingut wäre, würde die Masse der Religion hörig bleiben, also einer wesentlich partikularistischen und partikularisierenden Macht. Deshalb wäre der Verfall des homogenen Universalstaates unvermeidlich.50 Diese drei Argumente führen zu drei Behauptungen, von denen Strauss überzeugt gewesen zu sein scheint, nämlich (a) anzunehmen, die Leidenschaft (wie das Bedürfnis nach Anerkennung) sei in der Politik von primärer Bedeutung, ist keineswegs selbstver46

Vgl. Gildin, 1987: 91. Vgl. Pippin, 1993: 158. 48 Strauss an Kojève, 22. 8. 1948, in: Gourevitch/Roth, 1991: 237 („deduction of the desire for recognition […] is arbitrary. Why should self-consciousness and the striving for recognition not be understood as derivative from the zoon logon echon?“). 49 Strauss an Kojève, 22. 8. 1948, in: Gourevitch/Roth, 1991: 237; vgl. Weichert, 2013: 318 – 320. 50 Strauss an Kojève, 22. 8. 1948, in: Gourevitch/Roth, 1991: 238 („Hence it is not recognition but only wisdom that can truly satisfy a human being […]. But if wisdom does not become common property, the mass remains in the thrall of religion, that is to say of an essentially particular and particularizing power (Christianity, Islam, Judaism …), which means that the decline and fall of the universal-homogeneous state is unavoidable“); vgl. Strauss, CM: 6; RCPR: 43; Gourevitch, 1968/1969: 74, 79 – 81. 47

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ständlich, sondern Konsequenz einer Entscheidung;51 (b) Kojève, der für sich entschieden hatte, Politik in Begriffen von Körperlichkeit und Leidenschaft zu analysieren, konnte keine überzeugende Argumentation zugunsten des Bedürfnisses nach Anerkennung vorlegen; und (c) mit Blick auf Glückseligkeit als dem Ziel des menschlichen Lebens ist Weisheit das Gegenstück zu Anerkennung – also eine Tugend anstelle einer Leidenschaft beziehungsweise die Vernunft anstelle des Körpers. Neben den drei logisch-systematischen Argumenten gegen die Idee der „Anerkennung“ trug Strauss in seinem „Restatement“ ein historisches Argument bezüglich des Problems der Tyrannis vor. Es lenkt die Aufmerksamkeit von der „Idee der Anerkennung“ von Rechten als Prinzip der Demokratie fort und reflektiert das „Bedürfnis nach Anerkennung“ als Motiv für politisches Handeln. Dieser Aspekt des Problems wird eher unter dem Rubrum der Tyrannei diskutiert als unter dem der Demokratie. Dieses praktische Argument besagt folgendes: Kojèves hegelianische Theorie der Anerkennung ging von der Annahme aus, wenn man die moderne Tyrannis verstehen wolle, müsse „das klassische Bezugssystem durch ein Element aus der biblischen Tradition radikal modifiziert werden“.52 Was bedeutet das? Nach Strauss hatte Kojève „das klassische Bezugssystem“ – also Xenophons Analyse der Tyrannis – absichtlich als eine Herrenmoral mißinterpretiert, deren oberster und einziger Zweck die Ehre gewesen wäre. Die klassische Position – nun nach Kojèves Fehlinterpretation – wäre nicht hinreichend für ein Verständnis der modernen Tyrannis. Das biblische Element, wodurch Kojève sein Modell vervollständigen wollte, identifizierte Strauss als das „der biblischen Moral der Sklaven oder Arbeiter.“53 Biblische Moral richte sich auf „Hingabe ans Werk oder an eine Sache, und dabei kommen Hintergedanken an Ehre und Ruhm nicht ins Spiel.“54 Unabhängig von jedem weiteren Nebeneffekt würden Menschen so etwas wie Hingabe an Ideale oder Hingabe an ihre Arbeit kennen. Diese beiden Elemente – das klassische und das biblische – erwiesen sich als die kritische „Synthese aus Herren- und Sklavenmoral“.55 „Synthese“ ist bei Strauss ein wichtiger epistemologischer Begriff und hat einen polemischen Sinn. Eine „Synthese“ ist eine Kombination von zwei Positionen, die eigentlich nicht miteinander kompatibel sind, eine Kombination, „die möglich wird durch den Übergang des Denkens von der Ebene der ursprünglichen Positionen auf eine völlig andere Ebene.“56 So wie Strauss Xenophon verstanden hatte, war „Sehnsucht nach Prestige, Anerkennung oder Autorität […] eines der primären Motive aller politischen Kämpfe, und besonders jenes Kampfes, der zu tyrannischer 51

Vgl. Smith, 2006: 143 – 145. Strauss, ÜT: 210; vgl. OT: 189. 53 Strauss, ÜT: 210; vgl. OT: 189; GS I: 24; NRH: 189; Smith, 2006: 142 – 144. 54 Strauss, ÜT: 211; vgl. OT: 189 („,conscientious‘ work, into which no thought of honor or glory enters“). 55 Strauss, ÜT: 211; vgl. OT: 189; NRH: 281. 56 Strauss, NRG: 176; vgl. NRH: 170 (zwei Positionen, die „originally incompatible with one another“ sind, eine Kombination, „which becomes possible through the transition of thought from the plane of the original positions to an entirely different plane“). 52

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Macht führt.“57 Nach Kojèves Fehlinterpretation hingegen wäre Anerkennung der Schlüssel zur „Vervollkommnung des Menschen“.58 Im Zusammenspiel mit der Moral des Arbeiters verwandele sich die tyrannische Leidenschaft „notwendig, und wo immer es darauf ankommt, in die Hingabe an die zu verrichtende Aufgabe.59 Kojève rechtfertigte Anerkennung als ein politisches Prinzip in dieser transformierten modernen Weise. Strauss‘ Gegenargument besagt, daß Kojèves Rekonstruktion in die Irre führe. Wissentlich mißinterpretiere er das Herrenprinzip als für die Klassiker gültig, während diese tatsächlich die Herrenmoral nicht akzeptiert hätten.60 Kojèves Synthese war überflüssig, wenn nicht sogar bloße Augenwischerei. Im Gegensatz zu Kojèves Annahme, daß Prestige und Anerkennung das menschliche Leben vervollkommnen würden, bringt Strauss ins Spiel, was er den „besten Menschentyp“ nennt.61 Vom klassischen Standpunkt aus betrachtet sei klar, daß der Weise der beste Menschentyp wäre.62 Das erklärt, was stillschweigend der eigentliche Gegenstand der Debatte ist, beziehungsweise worin das fundamentale Problem besteht: es ist die „Vervollkommnung des Menschen“ oder „das höchste Ziel des besten Menschentyps“ oder „die beste oder einzig wahrhaft menschenwürdige Betätigung“ oder das „beste Regime“ oder schlicht „das höchste Gut“.63 Aber dieses Ergebnis führt zurück zum Problem der Natur und seiner Konsequenz, daß der Mensch niemals eine Gesellschaft schaffen werde, die frei von Widersprüchen wäre.64 Vom klassischen Standpunkt aus gesehen setzen nicht die erfolgreiche Verrichtung der eigenen Arbeit oder die Verwirklichung von Projekten oder Idealen der Leidenschaft für Ehre Grenzen – das würde ja auch für Panzerknacker gelten –, sondern die „edlen oder tugendhaften Handlungen“ in einem „der Weisheit oder der Tugend gewidmeten Leben“.65 Das ist im Kern der Sinn der Bemerkung von Strauss, der klassische Ansatz würde den Tatsachen näher kommen.66 Nicht die individuelle Entscheidung unabhängig von ihrer moralischen Qualität ist maßgeblich, sondern die wahrhaft menschliche Tätigkeit in der Sphäre der menschlichen Natur. Kurz gesagt: „Tugend“ 57

Strauss, ÜT: 211; vgl. OT: 189 („desire for prestige, recognition, or authority is the primary motive of all political struggles, and in particular of the struggle that leads a man to tyrannical power“). 58 Strauss, ÜT: 211; vgl. OT: 189 („the completion of man“). 59 Strauss, ÜT: 211; vgl. OT: 189 („transforms itself […] into devotion to the work to be done“). 60 Strauss, ÜT: 211, 212; vgl. OT: 190 („did not accept the morality of Masters“). 61 Strauss, ÜT: 211; vgl. OT: 190; PAW: 7 („the highest human type“). 62 Strauss, ÜT: 211; vgl. OT: 190 („The highest human type is the wise man“). 63 Strauss, ÜT: 211, 212, 214; vgl. OT: 189 („completion of man“, „the supreme goal of the highest human type“), 190 („the highest good“), 191 („the highest kind of job, or the only job that is truly human“), 192 („the best regime“). 64 Strauss, GS I: 13; vgl. LAM: 230; Gourevitch, 1987: 39 – 41. 65 Strauss, ÜT: 212; vgl. OT: 190 („a life devoted to wisdom or to virtue“, „virtuous or noble activity“); WIPP: 40; Gourevitch, 1968/1969: 307. 66 Strauss, ÜT: 212; vgl. OT: 190 („would seem to be truer to the facts“).

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ist der klassische Gegenbegriff zu einer scheinbar biblischen Mäßigung von Ehre und Stolz im Gewande der „Anerkennung“. Tugend versieht politisches Handeln mit den richtigen noetischen Präsenzen. Das klassische Negativ-Urteil über das Verlangen nach Ehre, hinter dem letztlich das Ansinnen des Tyrannen steckt, wurzelte in einer Moral des Gemeinsinns. Während sich die moderne Sozialwissenschaft des Werturteils enthält, lagen die Dinge den Klassikern recht deutlich vor Augen: Sogar „jedes einigermaßen guterzogene Kind“ wußte, daß die Tyrannis schlecht ist.67 Im Gegensatz zur modernen Sozialwissenschaft stimmte Strauss mit Xenophons Simonides darin überein, „daß der Wunsch nach Ehre das treibende Motiv jener ist, die auf tyrannische Macht aus sind.“68 Ein Heilmittel könnte die moralische Kontrolle des technischen Fortschritts sein.69 Diese wäre am besten möglich durch Erziehung.70 Damit kehren wir zurück zur Frage nach den noetischen Präsenzen als funktionalen Bedingungen für politisches Handeln und für Freiheit. Tatsächlich war die klassische Tugend etwas ganz anderes als das, was die Modernen für Tugend im Sinne einer Basis für den modernen Staat und die moderne Machtpolitik hielten. Von Strauss’ Standpunkt aus betrachtet ist das moderne Politikverständnis, das sich an Leidenschaft und Kampf orientiert, eine Folge der Erosion der noetischen Präsenzen von Vernunft und Moral. Es spiegelt einen Mangel an Selbstrespekt und Selbstbeschränkung wider.71 Strauss entdeckte in Kojèves „Synthese“ aus klassischer und biblischer Moral folglich „eine erstaunlich laxe Moral“.72 Die synthetische Moral ist für die moderne Tradition von Machiavelli bis Hobbes, über Smith zu Rousseau, Kant und Hegel charakteristisch. Sie habe „die Leidenschaften und daher den ,Wettbewerb‘“ freigegeben. „Sie entstand durch einen bewußt vollzogenen Bruch mit den strengen moralischen Forderungen, die sowohl die Bibel als auch die klassische Tradition stellten. Diese Forderungen wurden ausdrücklich als zu streng zurückgewiesen. […] [Moderne] Lehren konstruieren die menschliche Gesellschaft, indem sie von der falschen Voraussetzung ausgehen, daß man sich den Menschen an sich als ein Wesen vorstellen kann, dem das Bewußtsein geheiligter Grenzen abgeht, als ein Wesen also, das allein vom Wunsch nach Anerkennung getrieben wird.“73

Strauss beschrieb die moralische Synthese, die im modernen Staat präsent ist, als „politischen Hedonismus“. Der politische Hedonismus war für ihn ein Schlüssel zum Verständnis der Unterschiede zwischen dem klassischen und dem modernen Standpunkt. Strauss hat seine Vorstellung von politischem Hedonismus im Rahmen seiner 67

Strauss, ÜT: 213; vgl. OT: 191; NRH: 129 – 132. Strauss, ÜT: 213; vgl. OT: 191. 69 Strauss, LAM: 21; vgl. GS III: 237. 70 Vgl. Gildin, 1987: 99. 71 Vgl. Strauss ÜT: 213; OT: 191; NRH: 130, 188. 72 Strauss, ÜT: 213 („Synthesen wirken Wunder.“); OT: 191; vgl. Strauss, GN: 371. 73 Strauss, ÜT: 214; OT: 192; vgl. LAM: 207; NRH: 130; Smith, 2006: 145, 149; Gourevitch, 1968/1969: 282 – 284. 68

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Analyse von Hobbes’ politischer Philosophie entwickelt, auf die wir uns im vorliegenden Zusammenhang beschränken dürfen. Für eine kurze Skizze soll es genügen auf zwei Abschnitte in „Naturecht und Geschichte“ hinzuweisen. Strauss stellt den politischen Hedonismus als eine Transformation des klassischen, unpolitischen Epikureismus vor. Man versteht ihn folglich am besten, wenn man ihn mit diesem vergleicht. Nach Strauss stimmte Hobbes mit der Lehre Epikurs in der Überzeugung überein, daß es für das individuelle Leben keine natürlichen sozialen Bindungen gäbe, „weil das natürliche Gute mit dem Angenehmen identisch ist“, wobei das Angenehme hier im Sinne des körperlich Angenehmen zu verstehen wäre.74 Aber anders als Hobbes hätten die Epikureer eine natürliche Grenze für die endlos scheinenden individuellen Begehren anerkannt, indem sie „hohe Anforderung an die Selbstzucht“ gestellt hätten.75 Epikureer würden ein höchstes Begehren mit der Folge annehmen, daß endloses Streben naturwidrig wäre.76 Hobbes indessen lehnte jede Begrenzung ab und habe die Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Seine politische Philosophie habe sich nicht auf Zwecke gestützt, sondern auf Anfänge. Seine „Umwandlung des Epikureismus schloß nicht nur die Befreiung des Individuums von allen nicht seinem Willen entspringenden gesellschaftlichen Bindungen ein, sondern auch die von jedem natürlichen Zweck.“77 Wenn das Streben nach Selbsterhaltung als das basale Verlangen überhaupt vorausgesetzt werde, würden Freiheit und natürliche Rechte im modernen Sinne zu den ersten politischen Tatsachen avancieren. Ein schrankenloses Verlangen nach immer größerer Macht scheint dann nur das logische und legitime Prinzip allen politischen Handelns zu sein. Genau aus diesem Grund sei der Hedonismus politisch geworden. Als Konsequenz seien eben Ansprüche an die erste Stelle gerückt, statt Pflichten, teleologischer Zielverwirklichung oder Tugend. So verstanden führe modernes Naturrecht allenfalls zu materiell bedingten Pseudo-Tugenden und zum Vorteilsdenken78. Das ist der erste Grund, weshalb Hobbes auf den Epikureismus zurückgegriffen hätte. In seinem „Vorwort zur amerikanischen Ausgabe“ des Spinoza-Buches nennt Strauss noch ein zweites Motiv. Ein nicht unwesentlicher Bestandteil des Projekts der Moderne wäre der Atheismus. Der Atheismus komplettiere den Prozeß, Tugend durch Anerkennung zu ersetzen. Die Entscheidung zugunsten einer hedonistischen Moral wäre zugleich eine Entscheidung für den Atheismus gewesen. Strauss war davon überzeugt, daß der Epikureismus die klassische Form der Religionskritik und damit die Grundlage jeder Tradition von Religionskritik gewesen ist.79 Die Umwandlung des unpolitischen Epikureismus in den politischen Hedonismus habe im 74

Strauss, NRG: 196 ff., 292; vgl. NRH: 188 ff., 279. Strauss, NRG: 196; vgl. NRH: 189 („high demands on self-restraint“); TM: 291 f. 76 Strauss, NRG: 292; vgl. NRH: 279. 77 Strauss, NRG: 292; vgl. NRH: 279. 78 Strauss, NRG: 292; vgl. NRH: 280 („Natural right thus understood leads only to conditional duties and to mercenary virtue“); LAM: 255. 79 Vgl. Strauss, LAM: 255; GS I: 51 f.; GS II: 23 ff. 75

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Grunde nicht die Religionskritik verändert, sondern nur die Motivation zum Atheismus. „Während der Epikureismus den religiösen ,Wahn‘ wegen seines furchtbaren Charakters bekämpft, bekämpft der moderne Unglauben ihn, weil er ein Wahn ist: einerlei, ob die Religion furchtbar oder tröstlich ist, als Wahn macht sie die Menschen die wirklichen Güter, den Genuß der wirklichen Güter, vergessen und verleitet sie so, sich um die wirklichen, ,diesseitigen‘ Güter durch ihre geistlichen oder weltlichen Führer, die von jenem Wahn ,leben‘, betrügen zu lassen. Vom religiösen Wahn befreit, zum nüchternen Bewußtsein seiner wirklichen Lage erwacht, von schlimmen Erfahrungen über seine Bedrohtheit durch eine karge, feindliche Natur belehrt, erkennt der Mensch als seine einzige Rettung und Pflicht, nicht so sehr ,seinen Garten zu bebauen‘, als vielmehr sich einen Garten allererst zu verschaffen, indem er sich zum Herrn und Besitzer der Natur macht.“80

Vom klassischen Standpunkt aus betrachtet zeigte sich Strauss eine spezifische Absenz von moralischer Tugend als der Konstruktionsfehler des modernen Staates.81 Hier kehren wir zum Problem der „Präsenz der Philosophie“ zurück, insofern Weisheit gemäß der Sokratischen Tradition eine noetische Tugend war. Für Sokrates war der „bios theoretikos“ die edelste Tätigkeit. Die theoretische Tätigkeit transzendiert das Politische. Vom Standpunkt der Philosophie reicht die wechselseitige Anerkennung sozialer Individualität nicht aus. Beispielsweise verlange die Anerkennung von religiöser Vielfalt mehr als nur Toleranz gegenüber anderen als der eigenen Religion, sondern darüber hinaus Respekt für sie.82 „Respekt“ bedeute Anerkennung dessen, was am antagonistischen Anderen wahr ist. Die Wahrheitsfrage bringt eine neue Qualität in die Anerkennungsstrukturen, die den modernen Staat ausmachen. Strauss hielt fest, die Anerkennung des Anderen bleibe gegenüber der Anerkennung der Wahrheit untergeordnet – beispielsweise gegenüber der Wahrheit von bestimmten sozialen Tatsachen, die dem Gemeinsinn klar vor Augen stehen.83 Sollte „Anerkennung“ für die Philosophie jemals eine relevante Kategorie werden, dann würde man akzeptieren müssen, daß „die Philosophie […] die Natur als den Maßstab“ anerkenne.84 Hier wird das Verbindungsstück zwischen „Tugend“, „Anerkennung“ und der „Präsenz der Philosophie“ beziehungsweise den „noetischen Bedingungen der Politik“ sichtbar. Hier wird auch der Grund erkennbar, warum Strauss die Krise der Moderne mit der Krise der Philosophie in Verbindung brachte. Wo Philosophie zur Ideologie degeneriert, ist dem Naturrecht im klassischen Sinn die Grundlage entzogen. Zugleich öffnet sich das Tor zur Tyrannis und zur totalitären Diktatur. Um es in umgekehrter Perspektive und mit anderen Worten zu sagen: Die bloße Idee der Philosophie stellt die geistigen Grundlagen des modernen Staates zur Disposition. Der universalistische Impetus der Suche nach Wahrheit ist geeignet, die Hoffnung auf politische Universalität ohne „Präsenz der Philosophie“ zu erschüttern. 80

Strauss, GS I: 52; vgl. LAM: 255. Strauss, GN: 371. 82 Strauss, LAM: 264. 83 Strauss, LAM: 266. 84 Strauss, NRG: 95; vgl. NRH: 92. 81

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In der Konsequenz dieses Zusammenhangs brachte Strauss eine weitere Entgegnung vor, durch welche die Philosophie als Gegner einer kosmopolitischen Eschatologie fungiert. Kojèves Hoffnung galt einem „universalen und homogenen Staat“. „Universal“ bedeutete, daß jeder Erwachsene voll integriertes Mitglied einer Gesellschaft wäre, die ihrerseits – als klassenlose Gesellschaft – eben „homogen“ wäre.85 Strauss verstand Kojève dahingehend, daß dieser den „universalen und homogenen Staat“ für die schlechthin beste und einzig wahrhaft gerechte Gesellschaftsordnung hielte.86 In den 1960er Jahren identifizierte Strauss das, was er die „Krise des Westens“ nannte, mit dem Verlust des Glaubens in den universalen Zweck der Bewegung des Westens.87 Der Zweck des Projekts der Moderne sei Fortschritt zum Wohlstand im Interesse des natürlichen Rechts eines jeden auf angenehme Selbsterhaltung und auf Entwicklung der eigenen Fähigkeiten im Zusammenspiel mit allen anderen gewesen, die dasselbe tun.88 Größerer Wohlstand sollte in Freiheit und Gerechtigkeit für jeden umgesetzt werden und schließlich zur universalen Gesellschaft führen, zu einer universalen Liga freier und gleicher Nationen, die alle freie und gleiche Männer und Frauen unter sich versammeln. Strauss war überzeugt, daß der Kommunismus und die kapitalistische Zivilisation des Westens letztlich dasselbe Ziel anstrebten und insofern analoge Bewegungen wären. Systemdifferenzen beträfen die Mittel, die zu diesem Ziel führen sollten und die letztlich auch einen Unterschied in der Art bewirken würden. Die eine Seite würde auf zwangsweise Beschränkung setzen, die andere auf militärische Macht.89 Eine solche Zwecksetzung wäre vom klassischen Standpunkt aus nicht geteilt worden. „Denn der universale Staat erfordert universale Übereinstimmung über seine Grundlagen, und solche Übereinstimmung ist nur auf Grund echter Erkenntnis oder auf Grund von Weisheit möglich. Jeder Glaube, der Anspruch auf universale Gültigkeit erhebt, bringt notwendigerweise einen Gegenglauben hervor, der denselben Anspruch erhebt.“90

Wenn universale Übereinstimmung über die Grundlagen auf der Basis genuiner Erkenntnis nicht möglich ist, dann sollte globales Regieren ebenso unmöglich sein. So lange Politik auf Meinungen basiert, gelangt man notwendigerweise zu einer partikularistischen und folglich pluralistischen Struktur. Man werde niemals nur eine Meinung in einer Gesellschaft vorfinden. Wo es eine Meinung über die Grundlagen gibt, folgt ihr eine zweite auf dem Fuße. Das ist insbesondere unter dem Vorzeichen kultureller Vielfalt der Fall. Einen Universalstaat auf eine einzige spezifische Ansicht von den fundamentalen Annahmen zu bauen – also einen universalen und homogenen Staat zu gründen – käme der Errichtung eines tyrannischen Terrorregimes gleich, 85

Vgl. Strauss, LAM: vii. Strauss, ÜT: 215; vgl. OT: 192. 87 Vgl. Strauss, CM: 3 f. 88 Vgl. Strauss, CM: 4. 89 Strauss, CM: 5. 90 Strauss, ÜT: 215; vgl. OT: 193; CM: 3 f., 6; NRH: 23. 86

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das eine Ideologie vertritt. Das ist der Kernpunkt von Straussens Kritik. Die Aufmerksamkeit für die internen funktionalen Bedingungen von Politik reflektierte zugleich die internen Konsequenzen moderner Ansprüche an Universalität. Die Tyrannei des modernen Staates erscheint als eine solche, die das menschliche Denken tyrannisiert.91 „Wir stehen heute einer Tyrannis gegenüber, die auf Grund der ,Eroberung der Natur‘ und insbesondere der menschlichen Natur eine Gefahr mit sich bringt, die in keiner früheren Tyrannis gegeben war, die Gefahr nämlich, permanent und allumfassend zu werden. Die schreckliche Alternative, daß der Mensch oder das menschliche Denken entweder plötzlich und unbarmherzig oder allmählich und mit sanften Mitteln kollektiviert werden, zwingt uns, uns darüber Gedanken zu machen, wie wir diesem Dilemma entrinnen können. Wir wollen daher die elementaren und unauffälligen Bedingungen menschlicher Freiheit noch einmal bedenken.“92

Vom Standpunkt der Philosophie aus betrachtet wäre ein ideologisches Terrorregime eine Tyrannis für Philosophen. Es wäre ein Ort ohne Raum für Philosophie – jedenfalls nicht auf dem Marktplatz. Ein universaler und homogener Staat – sei er nun ideologisch oder religiös fundiert – würde jede Politik tyrannisch werden lassen. Das ist einer der philosophischen Gründe, die Leo Strauss eindeutig als Verfechter der liberalen Demokratie mit rechtsstaatlichen Strukturen als – wenn schon nicht bestes, dann – bestmögliches „politisches System“ erkennbar machen. Die liberale Demokratie bietet auch Philosophen im Dissens einen Schutzraum. Das erklärt erneut, warum Strauss ganz wesentlich ein pluralistischer Denker war und weshalb für ihn – in Übereinstimmung mit den Klassikern – das, was heute „Demokratie“ heißt, unter praktischen Gesichtspunkten das beste Regime ist. Je universaler ein politischer Staat sein wollte, desto notwendiger würde er nach der „Präsenz der Philosophie“ (und der Wahrheit) in großem Maßstab verlangen. Genau das aber ist unmöglich. Es gibt Grenzen der Politik. Der „Bürger des Ganzen“ wäre trans-politisch. Im modernen Staat aber wurde die Präsenz der Philosophie in unangemessener Weise durch die Präsenz einer Ideologie ersetzt, also durch „die Apologetik für eine gegebene oder entstehende Sozial- und Gesellschaftsordnung“ bzw. durch eine Lehre, die hinsichtlich Wahrheit und Gerechtigkeit keiner der unzähligen anderen Ideologien überlegen wäre.93 Wir kommen auf diese Weise zurück zum Kern der Krise der modernen Welt: Aus politischer Philosophie ist Ideologie geworden.94 Wo Wissenschaft um der Macht willen betrieben werde, wurde die Vernunft durch den Gehorsam gegenüber einer Autorität ersetzt. Strauss hat dies bei einer anderen Gelegenheit sehr deutlich ausgesprochen: „classical political philosophy opposes to the universal and homogeneous state a substantive principle. It asserts that the society natural to man is the city, that is, a closed society that can 91

Vgl. Strauss, NRG: 24 f.; NRH: 23; OT: 27; WIPP: 38; Gourevitch, 1968/1969: 66, 71. Strauss, ÜT: 39; vgl. OT: 27; CM: 41 f.; NRH: 118; Gourevitch, 1968/1969: 76; Pippin, 1993: 143. 93 Strauss, NRG: 95; vgl. NRH: 92; CM: 6 f. 94 Vgl. Strauss, CM: 2. 92

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well be taken in in one view or that corresponds to man’s natural […] power of perception. Less literally and more importantly, it asserts that every political society that ever has been or ever will be rests on a particular fundamental opinion which cannot be replaced by knowledge and hence is of necessity a particular or particularistic society.“95

Was für die Politik gilt, gilt nach Strauss auch für die Religion. Die Bruchlinie zwischen dem Osten und dem Westen im Kalten Krieg ist strukturell dasselbe wie ein Kampf zwischen Religionen, die universale Ansprüche stellen. Strauss erinnerte seine Leser an die schwierige Koexistenz von Christentum und Islam, die über Jahrhunderte bestanden habe.96 Seine Einsicht in diese politische Lektion gibt dem „politisch-theologischen Dilemma“ eine weitere Bedeutung: Weder Politik noch Religion basieren auf Wissen, beide basieren auf Glauben und konstituieren auf diese Weise das „menschliche Problem“, das praktisch weder von der Philosophie noch von irgendeiner politischen Institution gelöst werden kann. Die Geschichte hat gezeigt, daß Strauss wenigstens bis auf den heutigen Tag Recht hatte. Immer noch ist es nirgends auf der Welt gelungen, eine friedliche Gesellschaft ohne Widersprüche zu schaffen. Wenn überhaupt, konnten nur an wenigen Orten Muslime in jüdische und christliche Traditionen (oder umgekehrt) in erheblichem Umfang mittels wechselseitiger „Anerkennung“ auf Dauer „integriert“ und religiöse oder antisemitische Radikalisierung unmöglich gemacht werden. Dasselbe gilt – womöglich in abgestufter Weise – für ethnische und kulturelle Differenzen. Das ist ein Grund, weshalb Strauss‘ Einsichten in die grundlegende Problematik von erheblicher Relevanz sind. V. Typen von bürgerlicher Präsenz Strauss’ Analyse eröffnet verschiedene methodisch-systematische Möglichkeiten. Man kann anhand seiner Dihairesen Typen von bürgerlicher Gegenwärtigkeit zu dem Zweck unterscheiden, grundlegende Formen von Politikverständnissen zu beschreiben und ihnen Präsenzformen impliziten Wissens, relevante Akteursidentitäten, korrespondierende Lebensweisen und schließlich politische Ordnungsmodelle zuzuordnen.97 Solche Typen können als Erweiterungen an die klassische Unterscheidung von Lebensweisen anschließen. Zunächst lassen sich drei relevante Typen bürgerlicher Präsenz identifizieren. (A) Der erste Typ kann als ein „noetischer Typ“ von bürgerlicher Gegenwärtigkeit bezeichnet werden. Er ist – wenn man die Strausssche Terminologie benutzen möchte – kognitiv bestimmt durch die „Präsenz der Philosophie“ und wird vom „Bürger des Ganzen“ repräsentiert. Strauss bemerkte, das Politische verdanke seinen Rang 95 Strauss, LAM: x; vgl. CM: 6; GN: 358 f.; NRH: 102 f., 152 f. Es ist bemerkenswert, daß sich John Rawls (1999: 7) in dieser pluralistischen Konzeption wie Strauss positioniert: „I shall be satisfied if it is possible to formulate a reasonable conception of justice for the basic structure of society conceived for the time being as a closed system isolated from other societies.“ 96 Strauss, CM: 6; vgl. LAM: 264. 97 Vgl. Strauss, RCPR: 132, 147, 159, 161 f.

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der trans-politischen Philosophie oder der „Theorie“, die jedoch nur sogenannten „guten Seelen“ vom Schlage eines Sokrates zugänglich wäre.98 Philosophie, also eine von der Vernunft her bestimmte Lebensweise, artikuliert sich in „philosophischer Politik“ und ist im politischen Handeln des Philosophen wirksam gestaltend präsent. Damit gewinnt das politische Leben im Sinne des „noetischen Typs“ sowohl eine Orientierung als auch eine Funktion, welche die Bedürfnisse der körperlichen Existenz überschreitet. Wenn man, wie Strauss es tat, Philosophie als „Aufstieg“ von der Meinung zum Wissen begreift und Meinung wesentlich politische Meinung ist, dann bleibt die Philosophie entschieden auf die Polis und die sie stabilisierende Meinung als ihr kognitives Milieu bezogen. Selbst insoweit die Philosophie den Rahmen der Polis – des politisch Möglichen – überschreitet, setze sie diesen transzendierend zugleich voraus. Die Polis ist und bleibt Thema, Gegenstand und Bedingung der philosophischen Existenz. Der Philosoph muß sich zur Polis verhalten und wird dabei politisch verantwortlich handeln.99 Dabei ist für ihn ausgemacht, daß wahre Glückseligkeit nicht im politischen Leben gefunden werden kann, sondern nur im Leben des Geistes und der Sphäre der Weisheit. Dieser supra- oder trans-politische Raum ist nur auf der Grundlage entsprechender natürlicher Gaben und einer vernünftigen Praxis erreichbar. Der „Bürger des Ganzen“ hat demnach in seiner philosophisch-politischen Ambivalenz zwei Gesichter und er repräsentiert zwei Tugenden: Mut und Mäßigung.100 (B) Der zweite Typ kann als „Polis-Typ“ von bürgerlicher Gegenwärtigkeit bezeichnet werden. Er ist kognitiv bestimmt durch Meinungen, das heißt durch Annahmen, die sich nicht durch hinreichende Gründe als Wissen ausweisen können, die aber beispielsweise auf der Grundlage traditioneller Glaubensgewißheiten innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft konstituierend, einheitsstiftend und stabilisierend wirken. In diese Kategorie fallen unter anderem herkömmliche Überzeugungen, Glauben und allgemein gesprochen: die Religion. In Analogie zur „Präsenz der Philosophie“ im noetischen Typ von bürgerlicher Gegenwärtigkeit läßt sich hier von „Präsenz der Religion“ beziehungsweise „Präsenz der Offenbarung“ sprechen. Traditionell und religiös stabilisierte Annahmen verbürgen die Legitimität von Gesetzen und Anordnungen und motivieren die Bürger zum Gehorsam gegenüber den Gesetzen. Insofern zeigt auch der „Polis-Typ“ einen Transzendenzbezug: die Legitimität der politischen Ordnung gründet in einem Transzendenten, das – anders als im Falle des Philosophen – den Menschen als solches nicht zugänglich, aber in den Glaubensinhalten, den religiösen Überzeugungen oder den traditionellen Meinungen der Bürgerschaft wirksam präsent ist. Der „Polis Typ“ wird repräsentiert vom jeweils „guten Bürger“, der einen gerechten und gemäßigten Charakter darstellt. Der „gute Bürger“ entspricht auf der einen Seite der öffentlichen Identität des „Bürgers des Ganzen“ im noetischen Typ, dessen eigentliche Vollkommenheit das Politische transzendiert. In98

Strauss, RPCR: 161, vgl. 148. Strauss, TM: 292; vgl. RCPR: 132 f. 100 Strauss, WIPP: 40; RCPR: 133, 163.

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sofern gibt es eine Bezüglichkeit oder Durchlässigkeit zwischen den Typen. Auf der anderen Seite sollte dies die wesentliche Identität von jedem sein, der ein auf die Politik und die „Werte“ einer autarken Gemeinschaft beschränktes Leben führt. Sein Lebensziel erreicht der gute Bürger innerhalb der Gemeinschaftsnormen und angesichts der Präsenz des Gesetzes dieser weitgehend geschlossenen Gesellschaft auf der Grundlage von Glauben und moralischer Tugend.101 Der „gute Bürger“ intendiert ebenfalls eine Art trans-politischer Sphäre, von der das politische Leben seinen Wert ableitet. Man kann sie allgemein die Sphäre Gottes oder der Offenbarung nennen. Sie ist dem Glauben zugänglich, der auf keinerlei weiteren natürlichen Voraussetzungen beruht. Die beiden ersten Typen repräsentieren die fundamentale Spannung – bei gleichzeitig fundamentaler Verwiesenheit aufeinander – zwischen Philosophie und der Polis, die Teil des „menschlichen Problems“ ist.102 Pluralität ist ebenso wie Abgrenzung und Konkurrenz zwischen den zum Typ gehörigen konkreten politischen Ordnungen impliziter Bestandteil des „Polis-Typs“. (C) Der dritte Typ kann als „somatischer Typ“ bürgerlicher Gegenwärtigkeit bezeichnet werden. Er repräsentiert nach der Analyse von Strauss die Moderne und ihre vermeintliche Lösung des „menschlichen Problems“. Kognitiv dominieren auch bei diesem Typ Meinungen, allerdings nicht solche, die sich aus traditionellen Glaubensgewißheiten religiöser oder profaner Natur speisen. Ihre Quelle sind vielmehr „rationale“ Anerkennungsverhältnisse innerhalb von bestimmten Interessengemeinschaften. Hier fehlt sowohl eine vernünftige, philosophische Basis als auch eine religiöse oder traditionale Grundlage. Strauss hält – wie gezeigt – im Gegenteil den Atheismus für ein notwendiges Element des „somatischen Typs“. Er ist insofern „somatisch“, also körperbasiert, als physische Selbsterhaltung und physische Begehren die Grundorientierung und die hedonistische Grundstruktur bestimmen. Der moderne Atheist artikuliert sich politisch in einer Rechtsterminologie. Der politische Raum und das Handeln in ihm werden geleitet durch die wirksame Präsenz der Anerkennung von Rechtsansprüchen sowie durch eine Menschenrechtsmoral, die von natürlichen Fähigkeiten oder Fertigkeiten und von religiösen Glaubensinhalten abstrahiert.103 Transzendenzbezüge gleich welcher Art sind hier nicht gegeben. Im Gegenteil: Aufgeklärtes Selbstinteresse und Streben nach angenehmer Selbsterhaltung verankern ihn im cis-politischen Raum.104 Die Universalisierungstendenzen, die diesem Typ (im prononcierten Gegensatz zum noetischen Typ) eigen sind, implizieren nach Strauss Tendenzen zu einer Kollektivierung der noetischen Kapazitäten und zu einer Ideologisierung des Denkens und des politischen Lebens.

101

Vgl. Strauss, RPCR: 148, 161 f. Strauss, RCPR: 148. 103 Strauss, RCPR: 162. 104 Strauss, TM: 296.

102

„Die elementaren und unauffälligen Bedingungen menschlicher Freiheit“

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Tabelle 1 Drei Typen bürgerlicher Gegenwärtigkeit Noetischer Typ Wissensform

Polis-Typ

Somatischer Typ

„Präsenz der Religion“ „Präsenz von Anerkennung“ „Präsenz der Philosophie“ (Offenbarungs-) Glaube / Meinung / Ideologie Weisheit / Vernunft / Noetische Tugend Meinung / Moralische Tugend Begehren

Tragende Identität

„Bürger des Ganzen“ / „Gute Naturen“

„Gute Bürger“ / Gläubige / Tugendhafte Menschen

Atheisten / Tyrannen

Lebensweise

Leben des Geistes / Wahre Freiheit / Mut, Mäßigung

Politisches Leben ,!"$)$*+&( %-($&($) ' ,#$+&)

„Angenehmes Leben“ Streben nach Selbsterhaltung / Politischer Hedonismus

Politische Ordnung

Trans-politische Gemeinschaft / Klassisches Naturrecht / Philosophische Politik der Verantwortung / Pluralismus / Demokratie

Trans-politische Grundlagen der Polis / Göttliches Gesetz Moralisches Gesetz Pluralität von Gesellschaften

Sub-politische Grundlagen des Staates Anspruch auf Rechte / „Rationale“ Gesellschaft / Universelle Tyrannis

Strauss kann nicht dafür in Anspruch genommen werden, ein elitäres Regime von Philosophen oder anderen Gruppen im Sinne eines rein noetischen Typs zu favorisieren. Der einzig gangbare Weg, eine universale Lebensform zu verwirklichen, wäre im Umkreis des noetischen Typs mit einer starken Präsenz der Philosophie zu finden. Philosophen, denen es um Wissen vom Ganzen geht, fühlen sich überall zu Hause, wo sie Mitphilosophen als Freunde finden. Als Mitglieder einer universalen Gemeinschaft sind sie „Bürger des Ganzen“. Das ist aber kein Modell für eine reale politische Ordnung, deren intellektuelles Medium immer Meinungen sind. Eine „Präsenz der Philosophie“ ist kein Allheilmittel für die politischen Mängel der Welt.105 Philosophen akzeptieren aus dieser Perspektive eine zweite, eine politische Identität als „gute Bürger“. Sie respektieren die grundlegenden Glaubenssätze und die Erfordernisse der Gesellschaft, in der sie leben. Diese Option ist in den klassischen Bezugsrahmen eingebettet und wird aus vor-modernen politischen Erfahrungen gespeist. Der Polis-Typ von bürgerlicher Präsenz impliziert Respekt für die wirksamen Vorstellungen vom Angestammten, von Religion und der Offenbarung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, ohne die eigene Lebensweise zu gefährden. Strauss hat Politik in Begriffen von noetischen Präsenzen analysiert, das heißt in Begriffen von möglicherweise impliziten, aber wirksamen Wissensbeständen in ihren verschiedenen Abstufungen. Von daher bezieht seine Kritik an modernen Visionen vom Universalstaat ihre Kraft, insofern diese die freiheitliche mentale Infrastruktur nicht reflektieren. Realpolitik fußt immer auf defizienten Formen des Wissens, nämlich auf Meinungen.

105

Davies, 2007: 143.

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VI. Noetischer Realismus in der Politik Ein homogener Universalstaat ist so weit entfernt wie die Philosophie aus dem Blick geraten ist. Liberale Gesellschaften müssen die Bedingungen von Freiheit achten, ohne diese mit einem unbeschränkten Handlungsraum zu verwechseln, und sie werden dabei mit manifesten Widersprüchen rechnen müssen. Die Hoffnung auf eine universale „politische Kultur“ als Basis für eine globale Demokratie ist wirklichkeitsfremd und, wo sie sich zur Ideologie verhärtet, gefährlich. Treffen wir in der Politik auf Tendenzen, einheitliche globale Strukturen zu errichten, sind wir der Gefahr von ideologischen und (quasi-)religiösen Terror-Regimes ausgesetzt. Wie dem auch sei, Leo Strauss hatte bereits beobachtet, daß körperliche Kräfte in der modernen Politik die vorherrschenden Orientierungsgrößen geworden sind. Als eine Folge davon analysieren sowohl Politiker als auch Politikwissenschaftler Politik in Kampfbegriffen eines Wettbewerbs um Macht. Hinsichtlich der inneren funktionalen Bedingungen von Politik, wie sie in den drei Typen bürgerlicher Gegenwärtigkeit begrifflich gefaßt sind, muß man das Augenmerk darauf richten, welche Art von Politischer Wissenschaft eigentlich in der Lage ist, mit den Werturteilen umzugehen, mit denen das „menschliche Problem“ sie konfrontiert. Eine positivistische Politikwissenschaft, die sich auf so genannte Tatsachen und die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung verläßt, wird mit ihren „Lösungen“ der drängenden Probleme scheitern. Insbesondere Transformationsgesellschaften in nicht-westlichen kulturellen Kontexten können von Strauss’ Ansatz profitieren, die noetische Struktur ihrer jeweiligen bürgerlichen Präsenz- respektive ihrer politischen Ordnungsmodelle – der überwundenen wie der angestrebten – zu beschreiben, begrifflich zu füllen und typologisch zu fassen. Kulturelle Diversität und religiöse Vielfalt können dabei als Momente politischer Pluralität eingefangen werden. Innerhalb eines pluralistischen Schemas müssen Beschränkungslinien auf einer moralischen Grundlage des politischen Lebens respektiert werden. Aber welche ist die jeweils relevante Autorität? Worin befindet sich das maßgebliche Herkommen? Gibt es vergleichbare Strukturen zur Offenbarungsreligion, zur klassischen und zur biblischen Moral und ihrer jeweiligen Beiträge zu einer vernünftigen Weltpolitik – um von der „Präsenz der Philosophie“ ganz zu schweigen? Der präsenztypologische Ansatz konfrontiert die Verantwortlichen in Transformationssystemen mit einer grundlegenden Entscheidung: Herkömmliche Modernisierung bleibt immer ausgerichtet an einer politischen Ordnung vom somatischen, hedonistischen Typ mit seinem Leitprinzip der Anerkennung – oder einem bekannten Typ „kritischen“ Denkens auf der Grundlage des institutionalisierten Atheismus. Gegenüber der Option der „Modernisierung“ ist jedoch die Alternative des „Polis-Typs“ für eine pluralistische Gesellschaft immer gegeben. Strauss favorisierte einen pluralistischen Kosmos von Demokratien, die die wesentlichen Grenzen der Politik berücksichtigen. Das kommt nicht etwa einer Abwertung des Politischen gleich. Vielmehr handelt es sich um ein realistisches Verständnis von politischer Ordnung auf der Grundlage, daß die noetischen Fähigkeiten von Menschen von eminenter Bedeutung für das politische Leben in einem pluralisti-

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schen Kosmos von Gesellschaften sind. Die Präsenz von Vernunft, Religion und Moral in politischem Handeln und in politischen Institutionen kann als ein Standard dienen, um die gegebene politische Situation zu klären, die für Strauss durch den ideologischen Wettbewerb im Kalten Krieg gekennzeichnet war. An diesem Standard bemessen gibt es guten Grund, daran zu zweifeln, daß die ökonomische Globalisierung zu einem Vereinheitlichungsdruck in Richtung auf ein universales Demokratiemodell oder sogar einen Universalstaat führen sollte. Die Demokratie hat als das praktisch beste Regime ihre Grenzen im Hinblick auf absolute Probleme. Strauss gibt uns gute Gründe, den Einsatz unserer nicht selten gewaltförmigen Mittel zur „Lösung“ fundamentaler Probleme in allen Teilen der Welt zu überdenken. Literatur und Abkürzungen Altman, William H. F. (2011): The German Stranger: Leo Strauss and National Socialism. Lanham: Rowman & Littlefield Publishers. Davies, Gloria (2007): Worrying about China: The Language of Chinese Critical Inquiry. Cambridge, Mass./London, England: Harvard University Press. Fukuyama, Francis (1992): The End of History and the Last Man. London: Penguin. Gildin, Hilail (1987): „Leo Strauss and the Crisis of Liberal Democracy“ and „A Response to Gourevitch“. In: Kenneth L. Deutsch/Walter Soffer (Hrsg.): The Crisis of Liberal Democracy: A Straussian Perspective. Albany: State University of New York Press, S. 91 – 103 und 114 – 123. Gourevitch, Victor (1968/1969): Philosophy and Politics I – II. In: Review of Metaphysics, 22, 1968/1969, S. 58 – 84 und 281 – 328. – (1987): The Problem of Natural Right and the Fundamental Alternatives in Natural Right and History. In: Kenneth L. Deutsch/Walter Soffer (Hrsg.): The Crisis of Liberal Democracy: A Straussian Perspective. Albany: State University of New York Press, S. 30 – 47. Gourevitch, Victor/Roth, Michael S. (1991): Introduction. In: Victor Gourevitch/Roth, Michael S. (Hrsg.): On Tyranny, by Leo Strauss. Revised Edition. New York: The Free Press, S. i – xxxii. Gunnell, John G. (1987): Political Theory and Politics: The Case of Leo Strauss and Liberal Democracy. In: Kenneth L. Deutsch/Walter Soffer (Hrsg.): The Crisis of Liberal Democracy: A Straussian Perspective. Albany: State University of New York Press, S. 68 – 88. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Werke, Bd. 12. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kauffmann, Clemens (2000): Strauss und Rawls: Das philosophische Dilemma der Politik (= Beiträge zur Politikwissenschaft; Bd. 117). Berlin: Duncker & Humblot. – (2004): Rawls the Socratic. In: RIFD: Quaderni della Rivista Internazionale di Filosofia del Diritto, 4. Omaggio a John Rawls: Giustizia, Diritto, Ordine internazionale. A cura di Antonio Punzi. Milano: A. Giuffrè Editore, S. 53 – 80. – (2010): Politische Theorie und Politikwissenschaft. In: Jahrbuch Politisches Denken 2010, S. 43 – 58.

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– (2013): Präsenz, Zeitbewußtsein und implizites Wissen: Drei Funktionsbedingungen demokratischer Politik. In: Ernst Christoph/Heike Paul (Hrsg.): Präsenz und implizites Wissen: Zur Interdependenz zweier Schlüsselbegriffe der Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld: Transcript Verlag, S. 277 – 296. Meier, Christian (1983): Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Montesquieu, Charles de (1992): Vom Geist der Gesetze. Übersetzt und herausgegeben von Ernst Forsthoff. 2 Bände. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Pippin, Robert B. (1993): Being, Time, and Politics: The Strauss-Kojève Debate. In: History and Theory: Studies in the Philosophy of History, 32, S. 138 – 161. Rawls, John (1999): A Theory of Justice. Revised Edition. Cambridge, Mass.: The Belknap Press of Harvard University Press. Smith, Steven B. (2006): Reading Leo Strauss: Politics, Philosophy, Judaism. Chicago/London: The University of Chicago Press. Strauss, Leo (1953): Natural Right and History. Chicago: University of Chicago Press. (NRH). – (1958): Thoughts on Machiavelli. Glencoe, Illinois: The Free Press. (TM). – (1959): What is Political Philosophy? and Other Studies. New York/London: The Free Press; Collier-Macmillan. (WIPP). – (1963): Über Tyrannis. Neuwied am Rhein/Berlin: Luchterhand. (ÜT). – (1964): The City and Man. Chicago: Rand McNally & Company. (CM). – (1968): Liberalism Ancient and Modern. New York: Basic Books. (LAM). – (1977). Naturrecht und Geschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp. (NRG). – (1991): On Tyranny. Revised and Expanded Edition. New York/Toronto: The Free Press. (OT). – (1996 ff.): Gesammelte Schriften. Band 1: Die Religionskritik Spinozas und zugehörige Schriften (1996 = GS I); Band 2: Philosophie und Gesetz. Frühe Schriften (1997 = GS II). Hrsg. von Heinrich Meier. Stuttgart/Weimar: Metzler. – (1989a): The Three Waves of Modernity. In: An Introduction to Political Philosophy: Ten Essays by Leo Strauss. edited with an introduction by Hilail Gildin. Detroit: Wayne State UP, S. 81 – 99. (TWM). – (1989b): The Rebirth of Classical Political Rationalism: An Introduction to the Thought of Leo Strauss. Essays and Lectures by Leo Strauss. Selected and Introduced by Thomas L. Pangle. Chicago/London: The University of Chicago Press. (RCPR). – (1999): German Nihilism. Edited by David Janssens/Daniel Tanguay. In: Interpretation, Vol. 26, No. 3, S. 353 – 378. (GN). Velkley, Richard L. (2011): Heidegger, Strauss, and the Premisses of Philosophy. On Original Forgetting. Chicago: The University of Chicago Press. Weichert, Ulrike (2013): Von der Geschichte zur Natur: Die politische Hermeneutik von Leo Strauss (= Philosophische Schriften; Bd. 81). Berlin: Duncker & Humblot.

Die „negative Imago des Lehrers“ Adorno über schulische Disziplinargewalt Von Reinhard Mehring Abstract Adornos gelegentliche, doch wirkmächtige pädagogische Stichworte werden sondiert, gegen Kant gehalten, im abstrakten und einseitigen Verweis auf die Disziplinarfunktion von Schule kritisiert und als Antidot gegen heutige Verklärungen des Lehrers zum „Lernbegleiter“ und „Partner“ empfohlen.

I. Adorno als Referenzautor „Kritische Theorie“ ist ein weites und prätentiöses Label für ein sehr heterogenes Projekt und Programm. Das Label ist sehr dehnbar und man wundert sich gelegentlich, wer und was alles darunter rubriziert wird oder sich selbst dazu zählt. Das Adjektiv ist eigentlich überflüssig, verstehen sich Unterscheidungen für Theorien doch von selbst. Theorien meinen grundbegriffliche Zusammenhänge für komplexe Beobachtungen und Beschreibungen und profilieren meist Beobachterperspektiven. „Kritische Theorie“ meint als Label aber eine praktisch eingreifende oder interventionistische Theorie der Praxis sozialen Handelns. Handlungsleitende Theorien betreffen Prinzipien und Normen der Praxis. „Kritische Theorie“ könnte deshalb „normative“ oder „normativ-praktische“ Theorie sein. Starke ethische, juridische und politische Theorien hat die ältere „Kritische Theorie“ bis auf Jürgen Habermas aber kaum entwickelt und vertreten. Dem Label gab schon Max Horkheimer, der es 1937 programmatisch einführte,1 vielmehr eine polemische Bedeutung. Horkheimer richtete es gegen die „traditionelle“ Theorie und deren scharfe Unterscheidung von Theorie und Praxis. Die politisch-praktische Auffassung von Theorie übernahm die ältere „Kritische Theorie“ dabei von Karl Marx, der bekanntlich „die versteinerten Verhältnisse […] zum Tanzen zwingen“2 wollte. Diese „Kritische Theorie“ Horkheimers war vor und nach 1933 eine institutionell um ein „Institut für Sozialforschung“ und eine „Zeitschrift für Sozialforschung“ versammelte Gruppe von „links“ und „marxistisch“ orientierten und zumeist „jüdischen“ Philosophen, Sozial- oder Rechtswissenschaftlern. Gerade in der Emigration seit 1933 wurde sie auch durch starke professionelle und ökonomische Interessen und asymmetrische Abhängig1 2

Horkheimer, 1937. Marx, 1956: 381.

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keitsverhältnisse zusammengehalten. Horkheimer hatte als Institutsleiter eine entscheidende Machtposition inne und es gab einflussreiche Vertraute wie Theodor W. Adorno und mehr randständige und abhängige Autoren wie Walter Benjamin, dessen Förderungschancen von der Vermittlung des ihm verwandten und befreundeten Adorno abhängig waren. Die „Kritische Theorie“ war gerade in der Emigration, wie die Schulgeschichtsschreibung es längst kleinteilig beschrieben hat,3 alles andere als ein herrschaftsfreier und rein wissenschaftsorientierter Verbund. Die politischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts bestimmen in erster Annäherung die Schulgeschichte der „Kritischen Theorie“. Zäsuren sind die Jahre vor und nach 1933 und 1945 mit der Frankfurter Formierung der Schule vor 1933, der Emigration nach New York und Remigration nach 1945. Neben dieser institutionellen und schulgeschichtlichen Perspektive bieten sich personale, politische und theoriepolitische Unterscheidungen an. Die personale Perspektive definiert sich durch das institutionelle Engagement zentraler Akteure wie Horkheimer, Adorno, Pollock oder auch Habermas. Die politische Perspektive ist durch das Verhältnis zum Nationalsozialismus, Stalinismus und den liberalen Demokratien Weimars, der USA und der Bundesrepublik Deutschland bestimmt und die theoriepolitische Perspektive durch das philosophische Verhältnis zum Marxismus, zur „positivistischen“ Akademisierung der Soziologie, zur damaligen Philosophie wie zur Psychologie und Psychoanalyse. Von Anfang an ist die „Kritische Theorie“ „revisionistisch“ orientiert. Sie antwortet auf den deutschen sozialdemokratischen „Revisionismus“ vor und nach 1918, die Entwicklung und den sozialpsychologischen Umbau der Psychoanalyse Sigmund Freuds und anderes mehr. Hauptvertreter der „Kritischen Theorie“ lehnten die sozialdemokratische Wendung des Marxismus ab. Juristen blieben Randgänger. Hermann Heller wurde zwar vor 1933 nach Frankfurt berufen, gehörte aber nicht zur engeren „Schule“. Otto Kirchheimer und Franz Neumann waren nur Nebenfiguren. Die eigenartige Abstinenz der älteren „Kritischen Theorie“ gegenüber normativ-praktischen – ethischen, institutionell-politischen und rechtswissenschaftlichen – Theorien zeigt sich schon hier. Schon in der Gründergeneration finden sich auch erhebliche Theorieverschiebungen innerhalb der Werke. Horkheimers pessimistische Resignation nach 1945 und seine Hinwendung zu Schopenhauer ist ein bekanntes Beispiel. Habermas’ frühe Distanz und fortschreitende Entfernung vom Institutsprogramm – bekanntlich scheiterte seine Habilitation in Frankfurt – zeigt sich schon in seinem Verhältnis zu den theoriepolitischen Säulen des Marxismus und der Psychoanalyse. Ein prägnantes, selten beachtetes Signal ist hier seine strikte Umstellung von Freud auf Kohlberg: Nachdem „Erkenntnis und Interesse“ die „klassische“ Psychoanalyse mit dem methodologischen Besen als „hermeneutisches“ Modell logifiziert hatte,4 bezog Habermas sich seit den frühen 70er Jahren theoriepolitisch und entwicklungspsychologisch

3 4

Jay, 1976; Wiggershaus, 1986; Albrecht/Behrmann/Bock, 1999. Habermas, 1966; vgl. Lorenzer, 1970 und 1974.

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nur noch auf Erikson und Kohlberg.5 Er beerdigte die theoriepolitischen Säulen der älteren „Kritischen Theorie“ früh schon sehr weitgehend und formulierte einen anderen und stärker akademischen Theorieanspruch. Habermas gehört mit seinem Theoriekonzept deshalb eigentlich nicht mehr in die Geschichte der „Kritischen Theorie“. Das gilt erst Recht für dessen Schüler und Nachfolger Axel Honneth, der sich inzwischen auch von Habermas ein Stück weit abwandte und sich heute systematisch vor allem auf einen recht schlichten und anerkennungstheoretischen Jenaer Hegel bezieht.6 Die „Kritische Theorie“ ist deshalb mit Theodor W. Adorno, pointiert gesagt, eigentlich 1969 gestorben. Man könnte sogar sagen, sie lebt heute zunächst und zumeist nur durch das Werk Adornos, findet Horkheimer gestern wie heute doch kaum systematisches Interesse und gehören Benjamin wie Habermas, um nur die zu nennen, im engeren Sinne nicht zur theoriepolitischen Schule und zum Projekt. Auch der Beitrag Adornos ist aber problematisch und auch dessen akademische Wirkung verblasste in den 70er Jahren jenseits seiner starken Anregungskraft und obligater Zitate schon bald. Adorno hatte an Prestige als „kritischer“ Denker und Pate der Studentenbewegung bereits eingebüßt, nachdem er bei einer Besetzung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung das Hausrecht beanspruchte und die Polizei rief. Eine „Busenattacke“, von den Akteurinnen eher schamhaft betrieben und nachträglich bereut, strafte ihn dafür im April 1969, wenige Monate vor seinem Tod, ab und markierte seine symbolische Kastration und Entmachtung als Autorität.7 Der dialektische Gestus seiner Diktion war nur begrenzt anschlussfähig. Adorno hatte „im Angesicht der Verzweiflung“ Hegels Dialektik des „absoluten Geistes“ in einen utopischen „Standpunkt der Erlösung“8 umgeschrieben. „Selbst seine eigene Unmöglichkeit muß er noch begreifen um der Möglichkeit willen.“9 Distinkte Aussagen mit wörtlichem Geltungsanspruch strich er durch und es blieb nur die „Utopie des Essayismus“ (Robert Musil) und der Essay als Form. Der negativistische Jargon der Uneigentlichkeit im totalen „Verblendungszusammenhang“, wonach es kein Wahres im Falschen gibt, erlaubte keinen akademischen Fortschritt im Wissenschaftsbetrieb, weshalb der akademische Betrieb bald seine Wege mehr mit Habermas ging. Was hier über die theoretischen Ambitionen der Schule im Bereich der Ethik wie der Rechtswissenschaft, aber auch im Feld einer konstruktiven politischen Theorie und Systemlehre gesagt wurde, gilt eigentlich auch für die Erziehungswissenschaft. Auch sie blieb eher ein Nebenthema für Randgänger der Schule. Für die Zeit vor 1933 wären etwa Paul Tillich (1886 – 1965), Karl Mannheim (1893 – 1947) und Siegfried Bernfeld (1892 – 1953) zu nennen. Eine akademisch ausdifferenzierte und systematisch orientierte Pädagogik und Erziehungswissenschaft haben die Hauptvertre5

Dazu Habermas, 1983. Vgl. Honneth, 1992. 7 Dazu eingehend jetzt Greiner, 2014: 33 – 43. 8 Adorno, 1951: 480. 9 Adorno, 1951: 481. 6

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ter der Schule nicht ausgebildet und vertreten. Weder Horkheimer noch Adorno oder Habermas haben darüber kontinuierlich und systematisch geschrieben. Die wichtigsten erziehungswissenschaftlichen Äußerungen stammen von Adorno. Dessen zentral einschlägige Publikation erschien aber erst posthum 1970, von Gerd Kadelbach herausgegeben, und versammelte unter dem prägnanten Adorno-Titel „Erziehung zur Mündigkeit“ einige eher beiläufige und populäre Vorträge und Gespräche. Es kann nicht deutlich genug betont werden: Weder Horkheimer noch Adorno oder Habermas, geschweige denn Benjamin, publizierten eine systematische Grundlegung der Erziehungswissenschaften. Für sie ging Pädagogik weitgehend in Politik auf und die erziehungswissenschaftlichen Beiträge dieser Großschriftsteller und Meinungsführer intellektueller Debatten beschränkten sich deshalb auf weit und vage angelegte Stichworte zur politischen Lage und Bildung. Das Subjekt dieser Bildung war nicht mehr eine „Klasse“ oder Schicht, sondern mehr das einzelne, intellektuell angesprochene Individuum. „Erziehung zum Individuum“10 gehört denn auch zu den zahlreichen Zielvorgaben, die Adorno im Gespräch improvisierte. Hebt man Adornos Beiträge für eine Erziehung zur Mündigkeit derart hervor, so stellen sich Fragen nach seiner Medienpolitik. Fast alle seine einschlägigen Texte wurden als Vorträge für den Hessischen Rundfunk geschrieben und gesendet. Diese Medienpolitik wurde in den letzten Jahren wiederholt in ihrem Wirkungswillen historisiert, besonders prägnant und ätzend in einem bedeutenden Buch über „Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“.11 Bei der Durchsetzung ihrer Stichworte hatte die „Frankfurter Schule“ stets einen starken Machtinstinkt. Eine solche Publizitätspolitik ist aber nicht negativ zu werten. Wirkungsgeschichtliches Bewusstsein und Wirkungswille gehören zum Geltungsanspruch einer Theorie. Wissenschaftler leben nicht im Elfenbeinturm von Wolkenkuckucksheim. Wer Hochschullehrer ist, richtet sich an ein Publikum. Wer von der „Wahrheit“, Nützlichkeit und Praktikabilität seiner Theorien überzeugt ist, sollte für sein Werk einstehen und sich um die Verbreitung seiner Konzepte bemühen. Publizität ist auch eine Bedingung der Möglichkeit von Kritik. Wo „Kritik“ intersubjektivistisch und praktisch gefasst ist, gehört die strategische Sorge um die Publizität zum Werk. Der medienpolitische Wirkungswille Adornos ist also für sich genommen nicht problematisch. Fragen stellen sich aber bezüglich des Verhältnisses von Theorie und Praxis: Waren Adornos praktische Interventionen theoretisch begründet? Verfügte er über eine Theorie, die ihm seine bildungspolitischen Interventionen konsistent erlaubte? Diese Frage ist keineswegs leicht zu nehmen. Gewiss sind praktische Interventionen auch auf mittlerem oder schwachem Begründungsniveau zulässig. Wissenschaftler dürfen sich in der Rolle des Bürgers mit mäßiger Kompetenz auch als Dilettanten „fachfremd“ äußern. Adorno warf sein akademisches Prestige und seine hohe Autorität als Intellektueller aber in seine bildungspolitischen Interventionen. Der kritische „Intellektuelle“ autorisierte sich generalzuständig. Seine 10 11

Adorno, 1970: 123. Albrecht/Behrmann/Bock, 1999.

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Positivismuskritik hatte ihm dabei die empirischen Ansprüche ermäßigt. Er reklamierte keine umfassende empirische Kompetenz in bildungspolitischen Fragen, um sich als Bildungstheoretiker zu äußern, und erhob seine Geltungsansprüche nur für die Grundbegriffe und Ziele der Bildung. Auch hier lässt sich fragen, ob er über angemessene und tragfähige Grundbegriffe verfügte. Führt man sich die lange und eindrucksvolle Reihe seiner größeren Publikationen vor Augen, so trat der Autor Adorno lange primär als Musikkritiker und Musikphilosoph auf. Dazu kamen seine literaturkritischen Essays, bezeichnenderweise als „Noten zur Literatur“ nur mit essayistischem Anspruch gesammelt, sowie diverse andere Publikationen. Erst in den 60er Jahren publizierte er größere philosophische Monographien mit akademischem Anspruch. 1963 erschienen die „Drei Studien zu Hegel“ und 1966 folgte die „Negative Dialektik“. Die gewichtige „Ästhetische Theorie“ erschien dann posthum erst 1970. Vor allem die beiden philosophischen Spätwerke müssen, akademisch betrachtet, die theoretischen Begründungen für die bildungspolitischen Stichworte tragen. Die früheren „Minima Moralia“ genügen hier nicht, so anregend sie auch sind. Das essayistische und aphoristische Philosophieren ist eine problematische Form für anspruchsvolle bildungspolitische Begriffe, Stichworte und Interventionen. Eine „Negative Dialektik“ aber ist in ihrem „negativistischen“ Theorierahmen als Begründungsmodell – nach verbreitetem, wenn auch strittigem Urteil – ebenfalls problematisch. Trägt Adornos „negativistische“ Metaphysik starke Begriffe von Erziehung, „Mündigkeit“ und „Bildung“? Das ist die zentrale philosophische Frage an den Bildungsbegriff Adornos. Diese Frage wird hier jedoch nicht in Auseinandersetzung mit den Hauptwerken erörtert – ich setze voraus, dass Adornos „Ästhetische Theorie“ und die „Negative Dialektik“ vielfach problematisch sind –, sondern lediglich in einer kritischen Lektüre zentraler Stichworte der „Erziehung zur Mündigkeit“. II. Adornos pädagogische Stichworte Erziehung zur „Mündigkeit“ ist für Adorno Erziehung nach „Auschwitz“. Eine „Wiederkehr von Auschwitz“12 zu vermeiden, ist seine primäre Erziehungsforderung. Die Chiffre „Auschwitz“ steht dabei historisch für den Völkermord im Zweiten Weltkrieg, namentlich die Shoah, aber auch als Inbegriff für „Barbarei“ schlechthin. Adorno macht den „kollektiven Narzissmus“ des „Nationalismus“ und den Antisemitismus für „Auschwitz“ verantwortlich. Seine vielfältigen historischen Aussagen zu den Ursachen und dem Verlauf des Holocausts sind hier nicht zu sammeln und zu gewichten. Eine „Wiederkehr von Auschwitz“ ist als historisches Ereignis selbstverständlich unmöglich. Adorno meint keine Wiederkehr von Auschwitz, historisch genommen, sondern die Gefahr einer Wiederkehr des Völkermords und Zivilisationsbruch des Rückfalls in „Barbarei“. Dabei identifiziert er „Barbarei“ weitgehend mit entfesselter Gewalt und äußert sich negativ über diverse Formen von Gewaltbereitschaft und Gewalt. Gewaltprävention und Friedenserziehung sind heute selbstver12

Adorno, 1970: 92.

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ständliche pädagogische Ziele deutscher Schulen. Die „Holocaustpädagogik“ formuliert, vom Zeitzeugengespräch angestoßen, noch weitere anspruchsvolle Ziele. Adorno nennt nur ein sehr allgemeines und politisch unstrittiges Ziel. Radikaler Pazifismus und totale Aggressionsvermeidung sind allerdings kaum möglich und von Adorno auch gar nicht gewollt und gefordert. Schon das Stichwort des Gewaltverzichts bleibt deshalb pragmatisch unterbestimmt. Schon den Sport beurteilt Adorno als „Erziehung zur Härte“ ambivalent. Dabei denkt er an die Militarisierung des Sportunterrichts im Nationalsozialismus und einen psychologischen Konnex von Körperkult, Körperkraft und Gewaltbereitschaft. Die Sportpädagogik sieht heute sehr wohl diese Gefahren, betrachtet Sportunterricht aber gerade als Chance zur Formung und Trainierung der Körperkräfte zum ausgeglichenen und disziplinierten Gebrauch. Sport kann Kräfte entfesseln, aber auch zur Fairness erziehen. Schon die altgriechische Paideia betonte einen Konnex von gymnastischer und musischer Erziehung,13 wo Adorno eine Alternative zu sehen scheint. Der Weimarer Neuhumanismus, greifbar etwa in Schillers Konzept der „ästhetischen Erziehung“, erneuerte das klassizistische Ideal der Kalokagathia. Adorno formuliert keine klare Verhältnisbestimmung von „gymnastischer“ und „musischer“ Bildung. Die spätestens seit Pestalozzi formelhaft einfach formulierten Fragen nach dem Verhältnis von „Kopf“, „Herz“ und Körper oder „Hand“ beantwortet er nicht eindeutig. Vieles klingt intellektualistisch „verkopft“; andererseits betonte Adorno die ästhetische Erfahrung. Sport rechnete er aber nicht eindeutig zu den positiven vitalen oder sinnlichen Erfahrungsmöglichkeiten. Friedenserziehung setzt Adorno sehr weitgehend mit Agressionsvermeidung gleich, ohne das Disziplinierungsniveau eines solchen Verhaltensstandards auch nur anzudeuten. Ein positiver Begriff von Macht und Gewalt als Mitteln des Friedens, wie er dem Rechtsstaat – mit der Legalität als „Befugnis zu zwingen“ (Kant) – selbstverständlich ist, findet sich kaum. Er vertritt, trotz oder wegen seines allzu starken und utopischen Verständnisses von „Demokratie“, auch keinen klaren Konnex von Friedenserziehung und Demokratieerziehung. Konstruktive Vorschläge zur Praxis der Friedenserziehung und Pädagogik der „Entbarbarisierung“ macht er kaum. Was er andeutet, ist oft nicht unproblematisch. So finden sich eigenartig starke Aussagen zur Stadt-Land-Differenz, die schon für die 60er Jahre ziemlich spekulativ gewesen sein dürften. Durchgängig geht Adorno nämlich von einer höheren Gewaltbereitschaft der Landbevölkerung aus. Solche Behauptungen wären durch die Kriminalitätsstatistik empirisch zu belegen. Adorno äußert sich aber nur spekulativ und bietet problematische Lösungen an. So konnte er sich 1966, als „Erziehung nach Auschwitz“, „vorstellen, daß etwas wie mobile Erziehungsgruppen und -kolonnen von Freiwilligen gebildet werden, daß sie aufs Land fahren und in Diskussionen, Kursen und zusätzlichem Unterricht versuchen, die bedrohlichsten Lücken auszufüllen.“14 Hier rutscht Adorno, in beiläufigem Fauxpas, in ein Konzept von Erziehungs13 14

Jaeger, 1934/47. Adorno, 1970: 99.

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diktatur ab, wie es gerade aus dem Stalinismus – weniger vom Nationalsozialismus, dem die „rationalistische“ Ideologie fehlte – bekannt war. 1966, in zeitlicher Nähe zur chinesischen Kulturrevolution, die Urbanität vernichtete, klingt Adornos Ausrutscher bedenklich. Ein System pädagogischer Überzeugungen lässt sich seinen gelegentlichen Äußerungen nicht entnehmen. Adorno formuliert seine Erziehungsziele weit und widersprüchlich und äußert sich zu den Mitteln oder Methoden und institutionellen Erfordernissen fast gar nicht. Er spricht von Erziehung zur „Mündigkeit“ und „Rationalität“, aber auch von „Liebesfähigkeit“ und „Erfahrungsfähigkeit“. Das Stichwort der „Mündigkeit“ bleibt, auch im Vergleich mit Kant, den Adorno zitiert, sehr unterbestimmt. Gelegentlich beruft er sich auf ältere Forschungen des Instituts für Sozialforschung zum „autoritären Charakter“. „Autonomie“ und „Heteronomie“ sind seine zentralen – ursprünglich kantianischen – Gegenbegriffe. Wo Adorno von Pädagogik spricht, bindet er sie an die Psychologie oder Psychoanalyse als Leitdisziplin. Sehr pauschal nur beruft er sich dabei auf die Sozialpsychologie Freuds, insbesondere auf Schriften der 20er Jahre, ohne die neueren ichpsychologischen Weiterentwicklungen der Psychoanalyse oder alternative psychologische Literatur zu erwähnen. Als Leitdisziplin der Pädagogik scheint er eine sozialpsychologische Psychoanalyse aufzufassen, ohne sein Instrumentarium näher zu diskutieren. „Autonomie“ und „Mündigkeit“ sind für Adorno offenbar nicht ohne psychoanalytische Aufklärung zu bekommen. Das Stichwort der „Mündigkeit“ dominiert dabei das weitere Konzept der „Autonomie“. Einen starken Begriff der autonomen „Persönlichkeit“ oder des „freien Geistes“ im Rahmen und Sinn von Kant oder Hegel vertritt er nicht. Sehr pauschal spricht er von einer Antithese von „verdinglichtem“15 und „richtigem“16 Bewusstsein. Der „alte Hegelianer“17, wie Adorno sich nennt, vertritt eine scharfe – nach Kant und Hegel unhaltbare – polemische Antithese von „Vernunft“ und „Verstand“. Nur der Vortrag „Philosophie und Lehrer“, der das alte Philosophicum als Pflichtanteil der Lehrerausbildung verteidigt, deutet mit Ausführungen zur „reflexiven Selbstbesinnung“ einer „lebendigen Bildung“ einen dialektischen „Zusammenhang von Sache und Reflexion“18 an. Das Philosophieren soll der „Selbstentfremdung“ im Fach entgegenwirken; der gebildete Lehrer soll kein Fachidiot sein. Solche Fragen nach dem Verhältnis von erzieherischen Aufgaben und Fachlichkeit, Lehrerrolle und Fachlehrertum, sind auch heute noch für Schulen zentral. Adornos Position ist hier aber nahezu eine Selbstverständlichkeit. Den Zusammenhang zwischen Bildungsprozessen und „Selbstverständnis“ hat damals Hans-Georg Gadamer beispielsweise besser erörtert.19 Adorno bietet kein klares Konzept der Erziehungsziele, geschweige denn entwickelte Überlegungen zu den 15

Adorno, 1970: 102. Adorno, 1970: 112. 17 Adorno, 1970: 124. 18 Adorno, 1970: 41. 19 Gadamer, 1960 und 1976. 16

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Mitteln und institutionellen Arrangements von Bildung. Gerade sein zentrales Stichwort der „Mündigkeit“ bleibt, schon verglichen mit Kant, vage und utopisch. Dialektische Überspitzungen und Übertreibungen nennt er „das Medium der Wahrheit“.20 Seine negative Dialektik des totalen „Verblendungszusammenhangs“ kennt kein Wahres im Falschen. Seine aphoristisch zugespitzten und steilen Formulierungen werden ästhetisch goutiert: „Das Ganze ist das Unwahre.“21 „Wahr sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen.“22 Von solchen Pointen führt, wie Stefan George es für sich sah, kein Weg in die Wissenschaft. Adornos Zielbegriffe Autonomie und Mündigkeit bleiben ihm deshalb exzentrische und utopische, konzeptuell nicht systematisch einlösbare Begriffe. Bezeichnend ist hier schon die Verkürzung von Kants Aufklärungs- und Bürgerbegriff.23 Kant verspricht keine „Mündigkeit“, sondern fordert den Ausgang aus selbstverschuldeter „Unmündigkeit“. Sein Bürgerbegriff betont – § 46 der „Metaphysik der Sitten“ – einen Konnex von Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit. Freiheit ist gesetzesförmig und egalitär. Bürgerliche Selbständigkeit ist eine Bedingung der Möglichkeit politischer und auch „sittlicher“ Freiheit. Kant formuliert einen tragenden Konnex von Sein und Bewusstsein und betont sozialhistorische und mentalitätsgeschichtliche Voraussetzungen praktischer Vernunft und Freiheit. Soziale Abhängigkeiten passen schlecht zu selbstbestimmtem Handeln. Kants zeitgebundene Differenzierung zwischen Staatsbürgern und „Staatsgenossen“, wonach nur die „Hausherrschaft“ emphatisch frei mit Anspruch auf volle Partizipationsrechte ist, lässt sich unschwer in systematische Aussagen zum Konnex von existentieller Unabhängigkeit und Freiheit umformulieren. Aus vergleichbaren Einsichten entwickelte das Grundgesetz die Sozialstaatlichkeit aus der „Menschenwürde“. Anders als Adorno lag es Kant freilich fern, Erziehung zur Mündigkeit als „Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand“24 zu proklamieren. Kant limitierte das Recht zum Widerstand im demokratischen Rechtsstaat strikt. Zivilcourage im Rechtsstaat aber forderte er als Tugendpflicht energisch und bewies sie selbst mutig im Zensurstreit um seine Religionskritik. Die Voraussetzungen von Autonomie und Mündigkeit lassen sich mit Kant klarer formulieren als mit Adorno, der die neuhumanistischen Schlüsselbegriffe semantisch zu utopischen Chiffren entleerte. Dass es Adorno mit der Verabschiedung der idealistischen Kategorien aber wirklich ernst war, zeigt etwa seine nachgelassene Vorlesung „Probleme der Moralphilosophie“ von 1963, die über das Verhältnis zu Kant bündige Auskunft gibt. Adorno weist hier die „unmittelbare Hilfe“25 einer Lehre vom „richtigen Leben“ erneut zu-

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Adorno, 1970: 24. Adorno, 1951: 80. 22 Adorno, 1951: 364. 23 Gerhardt, 1995 und 2002. 24 Adorno, 1970: 153. 25 Adorno, 1996: 9. 21

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rück, nennt Kant „die Moralphilosophie par excellence“,26 erneuert die schon von Hegel und Schiller formulierten Vorwürfe des „Formalismus“ und „Rigorismus“, lässt den „Zwangscharakter der Natur“ über Kants Philosophie der Freiheit triumphieren und liest Kants „scheinbare Welt der Freiheit“ kritisch als „in Wirklichkeit nur fortgesetzte Naturgeschichte“.27 Wie Freud lehre Kant die „Rationalität des Triebverzichts“. Als Fazit der „Probleme der Moralphilosophie“ entdeckt Adorno ganz allgemein: „Das einzige, was man vielleicht sagen kann, ist, daß das richtige Leben heute in der Form des Widerstandes gegen die von dem fortgeschrittensten Bewußtsein kritisch durchschauten, kritisch aufgelösten Formen eines falschen Lebens bestünde. Eine andere als diese negative Anweisung ist wohl wirklich nicht zu geben.“28 Sein letztes Fazit aus der Moralphilosophie, mit Kant, Ibsen und Nietzsche gezogen, schließt Adorno hier mit seinen programmatischen Remigrationsworten aus dem „Zuspruch“ der „Minima Moralia“ zusammen. Vom Guten ist ernstlich nichts positiv zu sagen; es bleibe eigentlich nur Nietzsches Konsequenz der „Denunziation“ der negativen Formen der „bürgerlichen Moral“. Man müsse mitspielen, wenn man kein „Heiliger“ sei. Mit dieser einfachen Alternative von Verstrickung oder Eskapismus greift Adorno auf typische Positionen der Weimarer Republik zurück, wie sie der Expressionismus und Existentialismus unter dem Eindruck der russischen Literatur und auch Max Webers formulierte. Hugo Ball wäre zu nennen. Adornos Rede vom „Widerstand“ ist undifferenziert, unpraktikabel, missverständlich und recht unkritisch mit dem ideologiekritischen Pathos und Stolz des „fortgeschrittensten Bewußtseins“ kontaminiert. Eine „Busenattacke“ konnte hier leicht als forcierte Konsequenz veränderter Praxis verstanden werden, und der negativistische Jargon verquickte avantgardistischen Dünkel leicht mit leerlaufender Phraseologie. Adornos Stichwort der „Mündigkeit“ hat im neueren pädagogischen Diskurs für einige Verwirrung gesorgt. Sachlich bietet es nicht einmal eine eindeutig rationalistische, intellektualistische und „kopflastige“ Engführung. Seine diversen Formulierungen der Erziehungsziele sind einfach zu unbestimmt, widersprüchlich und heterogen. Als pädagogischer Schlüsselbegriff scheint mir Kants „Selbständigkeit“ besser geeignet als Adornos Mündigkeit. Mündigkeit, nicht im Sinne pubertärer Renitenz, ist ein Aspekt von Selbständigkeit. Eltern und Schule, das ganze Erziehungssystem soll Kinder erwachsen, selbständig und mündig im vollen rechtlichen Sinne machen und zur Bürgerrolle führen. Die Zielbestimmungen der Landesverfassungen sind weiter. Baden-Württemberg schreibt beispielsweise „Ehrfurcht vor Gott“, „Brüderlichkeit“ und „Friedensliebe“, „Verantwortlichkeit“ und „berufliche“ und „soziale“ „Bewährung“ in die Verfassung. Solche Worthülsen laufen leicht leer und delegitimieren sinnvolle Schulpolitik. Erziehung zur Bürgerrolle wäre dagegen eine nüchterne Formulierung. Die dafür nötigen sozialen Kompetenzen heißen nicht nur Orientierung im Denken, sondern selbstverständlich auch ein relativ ausgewoge26

Adorno, 1996: 158. Adorno, 1996: 200. 28 Adorno, 1996: 248 f. 27

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nes und harmonisches Zusammenspiel von „Kopf, Herz und Hand“. Eine solche Pädagogik bürgerlicher Humanität ist mit Adorno nicht zu haben, der „die grauenhafte Welt der Leitbilder eines ,heilen Lebens‘“29 verpönte und sich einer „traurigen Wissenschaft“ verschrieb. Die „Lehre vom richtigen Leben“ schien ihm, der emphatischen „Zueignung“ seiner „Minima Moralia“ an den Freund Horkheimer folgend, nur als „traurige Wissenschaft“ vom „beschädigten Leben“ möglich.30 Erziehung zum Pessimismus kann nicht das pädagogische Gebot sein.31 Traurig ist diese Wissenschaft aber weniger im Pessimismus, der auch Lehrern gelegentlich gut ansteht und sich täglich vielfach bewahrheitet, sondern im aphoristischen Verzicht auf die akademische Ausführung, Systematisierung und Logifizierung polemischer Stichworte. Adornos beste Wirkung in die Erziehungswissenschaften konnte deshalb nur die korrektive Anregung sein. Es gibt bedeutende Wirkungen von Habermas in die neuere Pädagogik. Für Horkheimer oder Adorno vermag ich das nicht in gleicher Weise zu sehen. III. Enttabuisierung der Lehrerrolle? Einen anderen Aspekt und Beitrag halte ich aber für interessant: Adornos Vortrag „Tabus über den Lehrerberuf“ von 1965. Seine These lässt sich in zwei Sätze zusammenfassen: 1. Lehrer haben ein negatives Image; 2. Lehrer werden stellvertretend als „Sündenböcke“ der allgemeinen Disziplinargewalt der Gesellschaft in der öffentlichen Wahrnehmung und Erinnerung entwertet und gleichsam symbolisch kastriert. Die physische Gewalt des Disziplinarsystems „wird von der Gesellschaft delegiert und zugleich in den Delegierten verleugnet. Die, welche sie ausüben, sind Sündenböcke für die, welche die Anordnung treffen.“32 Diesen Vortrag und diese These halte ich für den interessantesten konkreten Beitrag Adornos zur Reflexion des Erziehungssystems. Dabei möchte ich die Personalisierung der Delegation sogleich abschwächen und bezweifeln, dass Lehrer Sündenböcke für andere Personen sind, „welche die Anordnung treffen“. Gemeint sein könnten hier Politiker oder andere Eliten. Da Adorno von juridischen Delegations- oder Weisungsverhältnissen spricht, kann er strenggenommen nur die Schulverwaltung und Schulpolitik meinen. Tatsächlich müssen Lehrer zwar exekutieren und ausbaden, was die Schulverwaltung anordnet und oft auch misslingen lässt. Lehrer an der Basis oder Schulfront halten solche dienstlichen Anweisungen häufig für falsch und müssen sie dennoch vollziehen. Dieser Konflikt zwischen schulischer Praxis und Schulverwaltung wird aber von der Elternschaft und im öffentlichen Diskurs weniger wahrgenommen. Eine konkrete Benennung verantwortlicher Akteure ist auch Adornos Sache nicht. Seiner allgemeinen Diagnose der „verwalteten Welt“ widerstrebt eine starke Personalisierung der Fehlleitungen des „Disziplinarsystems“. Im genannten Vortrag steht der Name 29

Adorno, 1970: 61. Adorno, 1951: 7. 31 Kerschensteiner, 1921: 78 f. 32 Adorno, 1970: 81. 30

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Franz Kafkas für die unpersönliche und transpersonale Auffassung des Disziplinarsystems der verwalteten Welt, die Max Weber, Pate aller neueren Herrschaftssoziologie, als System „bürokratischer Herrschaft“ beschrieb. Alle neueren Theorien der Disziplinargewalt zweigen von Nietzsche und Weber ab. Adorno beschreibt das Disziplinarsystem der „verwalteten Welt“ aber empirisch nicht eingehend, sondern signifiziert es mehr essayistisch und literaturkritisch mit Verweisen auf Kafka, Beckett oder auch Heinrich Mann33 und andere. Akademische Verweise auf schulgeschichtliche oder andere erziehungswissenschaftliche Literatur finden sich in seinem Vortrag, der starke historische Thesen beiläufig formuliert, nicht. Adornos Vortrag „Tabus über den Lehrerberuf“ von 1965 gehört in die späte Phase medienpolitisch organisierter Breitenwirkung der „Frankfurter Schule“, die sarkastisch als „zweite Gründung“34 der alten Bundesrepublik bezeichnet wurde. Auch dieser Vortrag ist eine flüchtige Gelegenheitsimprovisation. Für Tabus sind eigentlich Ethnologen zuständig. Adornos Rede von Tabus zitiert Sigmund Freuds Essay „Totem und Tabu“ von 1913 herbei. Nach Freud bezeichnen Tabus Verdrängungsschranken und Ambivalenzen im Umgang mit Wünschen und Gefühlen. Freuds Essay bietet kräftige Analogien zur Beschreibung des projektiven und stigmatisierenden Umgangs von Schülern mit Lehrern. Die Lehrer-Schüler-Interaktion prägt starke und ambivalente Gefühle aus. Der Disziplinierungsraum der Schule erzwingt indirekte Äußerungs- und Bewältigungsformen und deren normative Stabilisierung und Ablenkung durch Rituale. Mit Freud gesprochen, sind Schüler durch den Lehrer als „Vaterhorde“ zwangsvergemeinschaftet. Lehrer werden deshalb zum „Totemtier“ des Klassenverbandes verzerrt. Die Schulzeit wird oft lange vergessen und verdrängt. Spätere Klassentreffen und Netzwerkkommunikationen tragen dann Züge einer „Totemmahlzeit“, in denen sich die „Vaterhorde“ in spektakulärem Totentanz durch symbolische Kastration und Vatermord an der Schulkontraktierung rächt und als „Brüderclan“ emanzipiert. Das Bekenntnis zum Vatermord hält Freud für einen „Fortschritt“ der Kulturgeschichte, die Verweigerung des Gottesmordes für „tragische Schuld“.35 Adorno thematisiert die „Imago des Lehrerberufs“ als Tabubildung, ambivalente neurotische Projektion von Gefühlsambivalenzen, und argumentiert dabei vor allem in zwei Richtungen: 1. Ausführlich spricht er rezeptions- oder wirkungsgeschichtlich über das Bild vom Lehrer in der Gesellschaft. Die psychohistorische Rede von der „Imago“ schiebt den Geltungsanspruch der Aussagen dabei in Richtung metaempirischer Aussagen. „Verdrängte“ Erinnerungen entziehen sich distinkter Feststellungen und verschwinden im Meer der Metaphern und Deckerinnerungen für Gefühlsambivalenzen, die nur der privilegierte theoriegeleitete Analytiker tiefenhermeneutisch einigermaßen angemessen übersetzen kann. Adorno beansprucht eine exklusive Deutungskompetenz. Seine starke Behauptung lautet, dass der Lehrer in der Gesellschaft von den 33

Adorno, 1970: 83. Albrecht/Behrmann/Bock, 1999: 20. 35 Freud, 1986: 581.

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Überlebenden der Schulkontraktierung als „Schulmeister“ und „Schultyrann“, „Prügelknabe“ und „Sklave“ des Disziplinarsystems Schule erinnert, gefürchtet, geliebt und vor allem verachtet wird. Der Lehrer wird als allzu sichtbarer und angreifbarer Repräsentant des repressiven Systems erinnert: als der Prügelknabe und „Sündenbock“ für das repressive System im Ganzen. Der „Lehrer als Prügelknabe“ ist gleichsam sprichwörtlich, und schon Adorno griff hier eine geläufige Formel und Debatte auf.36 2. Mit diesem psychoanalytischen Imago-Argument verbindet Adorno den faktischen Befund, dass Lehrer als Lehrer dienstlich gezwungen sind, Macht zu verschleiern und Prozesse der Sozialdisziplinierung den Schülern gegenüber als pädagogische Bildungsprozesse zu verklären. Der Lehrer verkauft Erziehung als Bildung, Herrschaft als Freiheit und verschweigt die primäre Sozialisierungs- und Disziplinierungsfunktion von Schule. Lehrer müssen sich als Erziehungsagenten zu Apologeten und Propagandisten des Systems machen. Das allgemeine und diffuse Unbehagen am Disziplinarsystem Gesellschaft richtet sich deshalb gegen dieses letzte, schwache Glied der greifbaren Vollstrecker. Ich vernachlässige Adornos historische Thesen zum Lehrer als „Erbe des Mönchs“37 ebenso wie seine vergleichenden Andeutungen zur „magischen Verehrung“ des Lehrers in China und anderen religiösen Kulturen. Beachtlich ist auch Adornos durchgängig starke Unterscheidung der „imago“ des Schul- und des Hochschullehrers. Hier lässt sich vermuten, dass in den letzten Jahrzehnten ein Angleichungsprozess stattgefunden hat, der Hochschullehrer sozial deklassierte und die Differenzen parallel zur fortschreitenden Verschulung des Hochschulbetriebs und dem Anstieg der Immatrikulations- und Examinationszahlen verschliff. Adorno spricht nicht sozialwissenschaftlich von der Disziplinarmacht des Lehrers, sondern psychoanalytisch vom Bild des Lehrers. Die „Imago“ ist von der soziologisch messbaren Kategorie des „Prestiges“ zu unterscheiden. Adorno beruft sich auf Freud, attestiert ihm aber gelegentlich auch eine „Doppelfeindschaft gegen Geist und Lust“,38 modifiziert ihn und appliziert dessen spekulative Theorie des „Ödipuskomplexes“ – laut Sloterdijk Endprodukt einer „jahrtausendelangen Verschwörung des [theologisch verblendeten] Falschlesens“39 – nur sehr allgemein. Es muss nicht betont werden, dass Freud seine Psychoanalyse zunächst als individualpsychologische Behandlungsmethode der „talking cure“ für einzelne – faktisch wenige, teuer zahlende – Patienten entwickelte und erst mit der starken Generalisierung der Sexual- und Ödipustheorie – seit „Totem und Tabu“ – zur allgemeinen Sozialpsychologie und Kulturtheorie ausbaute. Diese Methode und Theorie ist bekanntlich höchst umstritten. Adornos Rede vom „Sündenbock“ scheint durch Freud auch nicht gänzlich gedeckt zu sein. Seine starken Annahmen eines kollektiven Gedächt36

Wenger-Hadwig, 1998. Adorno, 1970: 77. 38 Adorno, 1951: 102. 39 Sloterdijk, 2014: 177. 37

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nisses und Unbewussten sind problematisch und sein spekulatives Verfahren ist nicht sonderlich überzeugend, zumal das öffentliche Ansehen von Lehrern empirischen Befragungen und Studien relativ leicht zugänglich ist und auch heimlichere Aspekte und „Tabus“ indirekt erschlossen werden können. Es gibt seriöse Untersuchungen über das Ansehen der Lehrer in der Gesellschaft. Adornos Sündenbockthese ist in ihrer starken Formulierung dagegen kein empiriefähiger Befund. Man kann Erwachsene befragen, wie sie ihre Lehrer erinnern und unter der Disziplinargewalt von Schule litten. Weniger zugänglich ist die Frage, ob diese Macht- und Gewalterfahrungen „stellvertretend“ für die allgemeine Disziplinierungsgewalt des sozialen Lebens stehen. Nüchtern lässt sich von einer gesellschaftlichen „Integrationsfunktion“ von Schule sprechen. Schule integriert, qualifiziert und selektiert.40 Von der Qualifikation wird dabei gerne gesprochen, die Sozialintegration und Selektion wird diskreter behandelt. Sozialdisziplinierung und Selektion werden euphemistisch verharmlost. Auch der verbreitete pädagogische Egalitarismus ist eine Form der Ignoranz gegenüber der sozialen Differenzierung und steigert im Effekt die harten Verfahren der Differenzierung nur. Schüler fallen dann eben noch unvorbereiteter in die Härten der Konkurrenz. Die „Gemeinschaftsschule“ etwa – um ein aktuelles Beispiel aus Baden-Württemberg zu nennen – ist ein – terminologisch auf die Reformpädagogik vor 1933 zurückgehender und durch die Gemeinschaftsrhetorik belasteter – Euphemismus, der über den faktischen Trend der Reduktion eines dreigliedrigen auf ein faktisch stärker diskriminierendes und undurchlässigeres Zweiklassensystem von Qualifikationsschule und „Restschule“ hinwegtäuschen könnte. Adorno betrachtet das pädagogische Verhältnis einseitig unter dem Gesichtspunkt des asymmetrischen Herrschaftsverhältnisses. Dabei hat er einen Blick für die Deformationen des Lehrers im Betrieb, bezweifelt die Möglichkeit eines freiheitlichen pädagogischen Verhältnisses sehr grundsätzlich und betrachtet Schule als anstaltsstaatliches System repressiver Herrschaft. Deshalb geht er zunächst und zumeist vom „Misslingen“ pädagogischer Interventionen aus und sieht den Widerstand und die Verweigerung des Schülers als positives Zeichen der Selbstentdeckung und Selbstbehauptung irreduzibler individueller Freiheit an. Im Scheitern der Schule entdeckt Adorno eine List der Freiheit und Vernunft. Was lässt sich dazu heute in aller Kürze sagen? Adornos abstrakt und flüchtig errichtete psychoanalytische Fassade ist nicht überzeugend. Die geschwollene Rede von „archaischer Imago“ lizensiert willkürliche Behauptungen und nivelliert nötige Differenzierungen schulischer Repressionsniveaus. Die Betonung der Disziplinargewalt von Schule und des negativen Lehrerimages ist aber ein wichtiges Korrektiv gegen den verbreiteten pädagogischen Optimismus und Mythos von der „intrinsischen Motivation“. Adorno macht auf den Anstaltscharakter der Schule, die Schulpflicht und den Primat gesellschaftlicher Erziehungserfordernisse aufmerksam. Seine positive Wertung schulischer Verweigerung und Störung ist erhellend. Schule 40

Dazu Hepp, 2011: 28 ff.

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ist Pflicht. Spätestens mit der Pubertät gehen viele Schüler, gerade Jungs, nicht mehr freiwillig in die Schule, stören den Betrieb und verweigern die Leistung auch aus Protest gegen die Disziplinargewalt, die Form des Betriebs und das Handeln einzelner Lehrer. Dieses „factum brutum“ der Schulpflicht und des Anstaltscharakters von Schulen schließen eine weitgehende Umdeutung der Lehrerrolle in den „Partner“ oder „Begleiter“ intrinsisch motivierter Lernprozesse, wie er sich im neueren pädagogischen und auch schulpolitischen Diskurs gelegentlich findet, eigentlich aus. Adorno zerstört solche Illusionen über die Anstalt. Sein Vortrag bricht mit dem Tabu der Freiwilligkeit schulischen Lernens, das betroffenen Schülern und Eltern jenseits des pädagogischen Diskurses auch schwerlich je einleuchtete. Allzu viele Schüler sind es nicht, die ungefragt behaupten, dass sie freiwillig in die Schule gehen und gerne lernen. Es gibt sie aber. Adornos idealtypische Polarisierung der Opposition anstaltsschulischer Disziplinargewalt und pädagogischer Blockaden und Verweigerungen im Schülerhandeln ist deshalb überspitzt und für die praktische Organisation sachgerechter Schule wenig hilfreich, die sozial integriert, qualifiziert, selektiert und auch individualisiert. Von Adornos Polarisierung der Schüler und ihrer Anstalt führt kein Weg zur produktiven, gesellschaftlich wünschbaren Institution. Dass Schule eine disziplinierende Anstalt mit eigenen Regeln ist, die sanktioniert werden, kann ein politisches System bürokratischer Herrschaft und Organisation schwerlich je vergessen. Alle Kulturleistungen erfordern Sozialdisziplinierungen. Menschen müssen ihr Leben überhaupt eigenverantwortlich führen. Selbstzwang und Fremdzwang, Macht und Gewalt, sind unvermeidliche Mittel der Kulturarbeit. Kultur basiert, nach Freud, auf „Triebverzicht“. Kant betont die Spannung von „Sinnlichkeit“ und „Verstand“ und unterscheidet geschichtsphilosophisch, nach Rousseau mit zivilisationskritischem Unterton, zwischen „Kultivierung“, „Zivilisierung“ und „Moralisierung“. Die kulturtheoretische Semantik bietet seitdem die Unterscheidung zwischen positiver „Kultivierung“ und übersteigerter „Zivilisierung“ an, die vor und nach 1900 jedoch, selbst von Thomas Mann, nationalistisch instrumentalisiert wurde und deshalb für Adorno semantisch nicht attraktiv war. Adorno unterscheidet nicht zwischen positiver und negativer Sozialdisziplinierung. Disziplin und Disziplinierung – nicht als repressives „Lob der Disziplin“, das Mittel zum Zweck verkehrt – gehören aber zum Begriff der Kultur und Erziehung überhaupt. Die Organisationsfrage, wie Schule als Anstalt pädagogisch fruchtbar wird, kommt in Adornos antiinstitutioneller Betrachtung nicht konstruktiv in den Blick. Seine Tabukritik zielt korrektiv nur auf blinde Flecken und Ideologien der Bildung. Sie pointiert ein Basisfaktum, verdunkelt es jedoch wieder durch die tiefenhermeneutische Schlüsselattitüde der Rede von einer „Imago“. Soweit ist Adorno zuzustimmen: Der pädagogische Mainstream verharmlost das „factum brutum“ der Sozialdisziplinierung von Lehrern und Schülern. Die heutige Pädagogik baut allzu sehr auf dem Mythos vom lernwilligen und intrinsisch motivierten Schüler auf. Schüler entdecken ihre Freiheit auch in der Form des Widerstandes. Institution und Individuum konfligieren. Der Anstaltscharakter der Schule und die Disziplinargewalt des Lehrers werden aber auch in der Lehrerausbildung gerne

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verharmlost. Studenten sehen sich in pädagogischem Optimismus gerne als „Lernbegleiter“, Moderatoren, Partner und Freunde der Schüler, ohne den „Erziehungsauftrag“ der Sozialdisziplinierung und die Aufgabe der Einstellung auf bürgerliche Zukunft hinreichend zu realisieren. Eine Didaktik der Anstaltsschule sieht anders aus als eine Didaktik der Lernmilieus, in der Lehrer anregende Begleiter sein sollen, die ein intrinsisches Interesse des Schülers unterstellen, das vielmehr gesellschaftliche Erwartung und Forderung ist. Anomisches Störverhalten und delinquente Gewaltbereitschaft schulpflichtiger Kinder und Jugendlicher werden heute sozialwissenschaftlich und medizinisch-psychologisch vielfach empirisch eingehend beschrieben. Die zentralen Befunde sind längst im Markt der Ratgeberliteratur für überforderte Lehrer41 und Eltern angekommen. Die Professionalisierungsforschung beschreibt heute die ganze Vielfalt geforderter „Lehrerkompetenzen“. Adornos Fokus ist hier nicht vergessen. IV. Jenseits von Adorno Die Historisierung der Erziehungswissenschaften ist immer noch vergleichsweise mäßig entwickelt und leidet unter Anderem an modernitätstheoretisch überspannten Fortschrittsbegriffen und Fehleinschätzungen der älteren „Nationalpolitik“ von Gründergestalten wie Spranger, der im Kern nationalliberal und vernunftrepublikanisch argumentierte. Aktuelle Debatten um Kontinuität und Bruch in der deutschen Pädagogik nach 1945 und 1968 sind dadurch noch teils getrübt.42 Unstrittig ist die Akademisierung der Pädagogik als eigenständige universitäre Disziplin jedoch neueren Datums. Die Emanzipation von der Leitdisziplin der Philosophie erfolgte erst allmählich im Verlauf des 20. Jahrhunderts.43 Bis nach 1945 besetzten habilitierte Philosophen die pädagogischen Lehrstühle. Pädagogik wurde häufig noch in einer Kombination mit Philosophie oder anderen Fächern gelehrt. Auch Adornos akademischer Lehrer Hans Cornelius machte gelegentliche Ausflüge in die Pädagogik. Erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts kam es zu einem wirklichen Bruch und einer weitgehenden Emanzipation der Erziehungswissenschaft als eigenständiger und empirischer Disziplin von der Leitdisziplin der Philosophie. Der „Positivismusstreit“ um die philosophische Unbedürftigkeit empirischer Einzeldisziplinen war deshalb sachlich gerade für die Pädagogik besonders wichtig. Prominente Pädagogen engagierten sich in dieser Debatte aber nicht exponiert, zumal der Nationalsozialismus eine Generationslücke auch in die Hochschullehrerschaft gerissen hatte. Die „Generation des Unbedingten“ (Wildt) und auch die Frontgeneration der in den 20er Jahren Geborenen war diskreditiert – zu dieser Generation gehören aber prominente, teils belastete Vertreter wie Heinrich Roth – und fiel weitgehend aus, weshalb die älteren Pioniere, die schon die Weimarer Debatten geprägt hatten (Eduard Spranger, Theo41

Lohmann, 2003. So zuletzt Kersting, 2014. 43 Dazu Tenorth, 2008 und Horn, 2003. 42

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dor Litt, Hermann Nohl u. a.), auch den Neuaufbau nach 1945 tragen mussten, bis sie in den frühen 60er Jahren ziemlich gleichzeitig verstarb. Das lange Fortleben der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“ – ein Label, das ebenfalls sehr heterogene Ansätze und Niveaus verstellt – erklärt sich auch durch diese Generationslücke.44 Die ältere Bildungsphilosophie der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“ verfiel Mitte der 60er Jahre dann nahezu folgenlos dem plötzlichen und nahezu völligen Vergessen. Spranger und Litt wurden gleichsam über Nacht durch Adorno und Habermas als Referenzautoren ersetzt. In den 70er Jahren kamen die Bielefelder Schüler der Historischen Sozialwissenschaft und Niklas Luhmann hinzu.45 Hermann Gieseckes Konfliktdidaktik wurde einflussreich. Lehrstühle für philosophische Pädagogik wurden in „Allgemeine Pädagogik“ umgewidmet und heterogen besetzt. Die aufstrebende Nachwuchsgeneration stellte zitationspolitisch ziemlich plötzlich und teils äußerlich von „geisteswissenschaftlicher Pädagogik“ auf „kritische“ oder auch – großgeschrieben – „Kritische“ Pädagogik und Erziehungswissenschaft um. Wolfgang Klafki ist hier ein prominentes Beispiel. Die radikalistische Revolutionsemphase nach 1968 und die Marxismusdebatten der 70er Jahre diskreditierten dann „große“ Theoriedebatten und Meistertheorien. Die damalige erziehungswissenschaftliche Wirkung Adornos ist hier nicht zu erörtern. Kein prominenter deutscher Erziehungswissenschaftler wird heute zu seinen engsten Schülern gerechnet. Empirische und philosophische Defizite seines Werkes wurden unbeschadet seiner fortdauernden Anregungskraft und Autorität auch in den 70er Jahren schon vielfach gesehen. Die Erziehungswissenschaften orientierten sich jenseits der Historischen Sozialwissenschaft, soweit sie philosophischen Ehrgeiz und Impetus hatten, bald mehr an der entwicklungspsychologisch aufgepeppten Identitätstheorie und „Diskursethik“ von Jürgen Habermas. Dessen Gesamtwerk ist trotz seiner zahlreichen positiven und pietätvollen Referenzen an die „Frankfurter Schule“46 aber im Theorieanspruch und akademischen Gestus eine große Antithese zu Adorno. Habermas lehnte den negativistischen, antipositivistischen und antiakademischen, essayistischen Pfad von Anfang an ab und suchte eine andere Form: die umfassende akademische Rezeption, argumentative Aufarbeitung und philosophische „Aufhebung“ diverser aktueller Diskurse, Debatten und Autoren. Diesen Weg der Verwissenschaftlichung gingen auch die Erziehungswissenschaften, die im sozialdemokratischen Aufbruch und Ausbau der „Massenuniversitäten“ seit den 60er Jahren personell und institutionell ungeheuer anschwollen, ausdifferenziert wurden und große Synthesen und Referenztheorien Allgemeiner Pädagogik kaum noch zuließen. Es gab in der neueren deutschen Pädagogik deshalb wohl keinen Spranger oder Habermas mehr, der in der Lage war, eine konzise Bildungstheorie multiperspektivisch kompetent mit hoher Autorität zu entwickeln und die „gesamten Bildungswissenschaften“ fachlich überzeugend zu vertreten. 44

Dazu Garz, 2013. Dazu Asal/Schlak, 2009. 46 Dazu Habermas, 1981 und 1991. 45

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Seit den 70er Jahren differenzierten sich die Teildisziplinen schon innerhalb der Erziehungswissenschaften aus und volle Autorität erlangte man nicht mehr überall im Fach. Auch deshalb gab es nach der Erschöpfung der Marxismusdebatten wohl keine großen Theoriedebatten um die Leitdisziplinen der gegenwärtigen Erziehungswissenschaften. Man vollzog den von Habermas inaugurierten Shift von Freud zu Kohlberg nach und erkannte das Desiderat einer entwickelten Moralpsychologie und Ethik. Mit diversen Akzentsetzungen etablierte sich ein Amalgam der Bielefelder Größen Wehler und Luhmann, das fragwürdige Fortschrittskonzepte modernisierungstheoretisch begründete. Die Modernisierungstheorie wurde zum – vergleichsweise naiven – Erben der Geschichtsphilosophie, und relativ undifferenzierte Konzepte von Individualisierung wurden gängig. Seit den 80er Jahren zeichnete sich auch eine Götterdämmerung der paradigmatischen Rolle ab, die die Entwicklungspsychologie mit Piaget und Kohlberg seit dem systematischen Abschied von Sigmund Freud für bald zwei Jahrzehnte gespielt hatte, und die Neurobiologie erhob sich zur neuen Leitdisziplin. Die kritische Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen der Neurobiologie ist deshalb heute für die Erziehungswissenschaften eine zentrale aktuelle Aufgabe. Die „Allgemeine Pädagogik“ verlor ihre Rolle als Leitdisziplin, wie Kersting schreibt, verstärkt „an die expandierende Empirische Bildungsforschung“: „Deren universitäres Prestige verdankt sich ihrer neuen Rolle der Politikberatung“.47 Hier wäre das Feld für einen neuen Positivismusstreit, der die Übersetzung neurobiologischer Lerntheorien in die Pädagogik wissenschaftstheoretisch kritisiert und dabei den Unterschied zwischen einem spontan gewählten und einem institutionell arrangierten und bürokratisch vermachteten „Lernmilieu“ beachtet. Es gibt auch heute wieder pädagogische „Tabus“, die einer philosophisch aufgeklärten Kritischen Theorie bedürften. Adornos beiläufige Stichworte und seine negativistische Grundauffassung von der „verwalteten Welt“ aber haben hier und heute dafür nur noch eine begrenzte Anregungskraft. Literatur Adorno, Theodor W. (1951): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – (1963): Drei Studien zu Hegel. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – (1966): Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – (1970): Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmuth Becker 1959 – 1969. Hrsg. von Gerd Kadelbach. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – (1996): Probleme der Moralphilosophie. Hrsg. von Thomas Schröder (= ders.: Nachgelassene Schriften, Band X). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Kersting, 2014: 48.

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Politiktheoretische Krisenreaktion Gegenwartsdiskurse des Republikanismus Von Daniel Schulz Abstract In der jüngeren politiktheoretischen Debatte hat der Republikanismus als Paradigma politischen Denkens an Interesse gewonnen. Allerdings sind die kontinentaleuropäischen Strömungen des Republikanismus bislang dabei kaum berücksichtigt worden. Der Beitrag will diese Lücke in doppelter Hinsicht füllen: Zum einen wird eine Definition des republikanischen Denkens anhand eines offenen Kriterienkatalogs vorgeschlagen. Zum anderen wird die französische Tradition des Republikanismus aufgegriffen. Vor diesem Hintergrund können dann die Positionen von Foucault, Bourdieu und Derrida als ein Krisendiskurs des republikanischen Paradigmas gelesen werden, in dem die zentralen Leitideen der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit dekonstruiert werden. Abschließend werden die Konsequenzen dieses kontextualistischen Republikanismusbegriffs für die Politische Theorie diskutiert.

Es ist eine erstaunliche Tatsache, dass in der neueren politiktheoretischen Diskussion um den Republikanismus jene Diskurse weitgehend abwesend sind, die dem republikanischen Politikmodell seine zeitgenössische Form gegeben haben. In der von John Pocock geprägten Mastererzählung verläuft der Einfluss des republikanischen Denkens von den oberitalienischen Städterepubliken der Renaissance über die englische Revolution bis zur amerikanischen Revolution und bricht dort ab.1 Die kontinentaleuropäische und insbesondere die französische Traditionslinie werden in dieser Erzählung weitgehend ausgespart – sie bilden mit ihrem Umweg über die Entwicklung absolutistischer Staatlichkeit für die Cambridge School geradezu den Antipoden, die Negation des zivilgesellschaftlichen Republikanismus: Die mit Rousseau verbundene Linie bis zur Französischen Revolution wird ob ihrer vermeintlich verfehlten institutionellen Struktur, der fehlenden Elemente der Mischverfassung und der Repräsentation als Populismus aus der republikanischen Tradition ausgeklammert.2 1

Pocock, 1975; gleichwohl finden sich in den weiteren ideengeschichtlichen Arbeiten zum Republikanismus durchaus Ansprüche auf eine aktualisierte republikanische Theorie des Politischen, insbesondere eine „neo-römischen“ Rekonzeptualisierung des Freiheitsbegriffs als Nicht-Beherrschung: vgl. dazu Skinner, 1998; Pettit, 1997 (s. u.). 2 Zu einer solchen Einschätzung Rousseaus beispielsweise Pettit, 1997: 30; zur Entwicklung von den Städterepubliken zur Staatsräson Viroli, 1992; Münkler, 1987.

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Die französische Erzählung hebt dagegen hervor, wie die eigene republikanische Tradition mit der Aufklärung und der Revolution beginnend zu einem wesentlichen Prägefaktor der politischen, rechtlichen und sozialen Ordnung aufsteigt.3 Dabei weist sie im Vergleich zu ihrem angelsächsischen Pendant eine gänzlich verschiedene Pointe auf: Während der Republikanismus in der angelsächsisch geprägten Narration mit der Amerikanischen Revolution seinen Kulminations- sowie zugleich seinen wirkungsgeschichtlichen Scheitelpunkt erreicht und in der Folge von einer liberalen Hegemonie verdrängt wird,4 so nimmt die französische Erzählung dagegen hier erst ihren Anfang: Nachdem sich unter dem Ancien Régime der Gedanke einer liberal-konstitutionellen Monarchie mit den entsprechenden Reformprojekten entwickelte, gewannen erst mit der Revolution die republikanischen Ordnungsvorstellungen die Oberhand und dominierten den französischen Diskurs im späten 19. bis weit hinein in das 20. Jahrhundert.5 Das republikanische Narrativ ist im französischen Fall also keine politiktheoretische Opfererzählung von der Niederlage gegen den übermächtigen Liberalismus, sondern vielmehr eine Siegergeschichte, in der die republikanische Ordnung die liberalen Anfänge der Aufklärung fortschreibt und sie erst ihrer wahren Bestimmung zuführt.6 Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, wie diese Erzählung in der Mitte des 20. Jahrhunderts in eine tiefe Krise geraten ist. Verarbeitet wurde diese Krisenerfahrung des republikanischen Ordnungsparadigmas, so die These, in den politiktheoretischen Deutungsdiskursen, die gemeinhin als „Poststrukturalismus“ oder „Postmoderne“ rezipiert worden sind. Erst wenn man diese Diskurse in den politischen Ordnungskontext der republikanischen Krisenerfahrung stellt, wird ihre politiktheoretische Reichweite und ihre spezifische Rolle als Artikulation und Verarbeitung politischer Konfliktlinien sichtbar. I. Die Transzendenzkrise des französischen Republikanismus Die Dritte Republik hatte seit ihrer Gründung nach dem Deutsch-französischen Krieg 1870/71 die republikanische Traditionslinie zu einer erfolgreichen institutionellen Ordnung verdichtet. Mit der deutschen Besatzung und dem Regime von Vichy (1940 – 1944) endete diese in der französischen Geschichte seit der Revolution längste Ordnung. Der Versuch, nach dem Krieg mit der Vierten Republik an diese Erfolgsgeschichte anzuknüpfen, war nur von kurzer Dauer. Der Prozess der Entkolonialisierung brachte Frankreich mit dem Algerienkrieg an den Rand eines militärischen Putsches, den Charles de Gaulle durch eine neue Verfassungsgebung verhinderte. Die neue Präsidialverfassung der Fünften Republik beschränkt das Parlament massiv 3

Vgl. Nicolet, 1982. Hartz, 1955; kritisch zu dieser Engführung auf die liberale Tradition Vorländer, 1997. 5 Zu den ideengeschichtlichen Grundlagen des französischen Republikanismus im 19. Jahrhundert vgl. Berstein/Rudelle, 1992; Spitz, 2005; Hazareesingh, 2001; als Gesamtüberblick auch Audier, 2008. 6 Vgl. zum inneren Zusammenhang von Liberalismus und Republikanismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts Kalyvas/Katznelson, 2008. 4

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in seiner Macht und knüpfte zugleich an die bonapartistische Tradition einer plebiszitären Verkörperung der Volkssouveränität an.7 Zugleich aber stand de Gaulle auch für die Verteidigung der republikanischen Tradition, wie sie sich in der Synthese des Nationalstaats als eine Ordnung der demokratischen Freiheit und der Menschen- und Bürgerrechte herausgebildet hatte. In der komplexen Ordnungssynthese des Gaullismus war der Republikanismus als Leitsemantik nach wie vor präsent und bot selbst für kommunistische Strömungen paradoxe Anknüpfungspunkte und Überschneidungen im politischen Souveränitätsverständnis.8 Erst nach dem Zerfall dieser Ordnungssynthese und einer zögernden Liberalisierung der politischen Kultur auch in Frankreich wurden die Deutungselemente dieses Paradigmas problematisch und gerieten in eine zunehmend defensive Position.9 Die Krise des Republikanismus kann hier nicht an seiner minoritären Rolle festgemacht werden, sondern äußert sich zuerst in einer orthodoxen Verhärtung als Reaktion auf die liberalen Herausforderungen – Dekolonialisierung, Europäisierung, Entstaatlichung und kulturelle Pluralisierung sind nur einige Stichwörter, die diesen Prozess veranschaulichen. Diese Entwicklung zu einer republikanischen Orthodoxie zeigt sich nicht nur im historischen Denken, das die Nation und die Republik in die geschichtlichen Narrative von Erinnerungsorten übersetzt: Zwar obliegt diesen Topoi nach wie vor eine Sinnstiftung für die Gegenwart – zugleich aber sind sie als „vergangene Zukunft“ bereits Gegenstand einer melancholischen Distanzierung.10 Die politische Einheitsstiftung der Republik verschiebt sich damit von der Gegenwart in ein imaginiertes Goldenes Zeitalter. Das voluntaristische Selbstverständnis der Republik nimmt die Gestalt einer einheitlichen Nationalkultur an, die sich nun aber der permanenten Gefahr ihres Zerfalls in partikulare Gemeinschaften ausgesetzt sieht: Die Republik als soziokulturell gefestigte „Gemeinschaft der Bürger“ scheint der Bedrohung durch identitäre Fragmentierung ebenso wenig standzuhalten, wie sich die republikanische „Transzendenz des Politischen“ der globalen Ökonomisierung zu entziehen vermag.11 Die Krise der republikanischen Ordnung wird daher als eine nationale Sinnkrise verhandelt, in der angesichts einer ungekannten Herausforderung nationaler Staatlichkeit noch einmal die traditionellen Leitbegriffe der republikanischen Einheit mobilisiert werden – sei es das Politische als republikanische Handlungsermächtigung gegen naturwüchsige Gemeinschaften, sei es der Appell an die sakrale Einheit der Brüderlichkeit.12 Der Problemkontext dieser Diskurse kann daher als dreifache Transzendenzkrise des republikanischen Gemeinwesens in Frankreich umschrieben werden, die sich im 7

Vgl. Rosanvallon, 2015: 135 ff. Zur Geschichte des Gaullismus vgl. Hazareesingh, 2012. 9 Zu den Gründen dieser Krise vgl. Rosanvallon, 2004. 10 Nora, 1997. 11 Diese skeptischen Prognosen finden sich bei Schnapper, 1994; Schnapper, 2002; Schnapper, 2004. 12 So im Anschluss an Durkheims Religionssoziologie Debray, 2009. 8

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historischen, im politischen und im soziologischen Denken artikuliert: In historischer Hinsicht ist das sinnstiftende Narrativ der republikanischen Heilsgeschichte durch die Liberalisierungsschübe in Politik und Gesellschaft nachhaltig erschüttert worden. Die historiographische Revision der Revolutionsgeschichte seit den siebziger Jahren hat mit François Furet die Ambivalenz der revolutionären Ordnungsvorstellungen hervorgehoben und nicht zuletzt die republikanischen Elemente von Tugend und Einheit für die gewaltsamen Auswüchse der „terreur“ verantwortlich gemacht.13 In diesem Licht betrachtet konnten schließlich auch die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts nicht mehr als das ganz Andere der revolutionären Tradition dargestellt werden, sondern erschienen mehr und mehr in derselben Geschichte verwurzelt. In politischer Hinsicht ist dem Gemeinwesen mit der zunehmenden symbolischen Erosion der Nation seine übergreifende Einheitsvorstellung abhandengekommen. Angesichts der erstarkenden Gegenmächte und der zunehmenden systemischen Handlungszwänge konnten weder Staat noch Nation, Republik oder Verfassung die einstmals mit ihnen verbundenen Erwartungshorizonte einlösen, ein politisches Subjekt der autonomen Selbstgesetzgebung zu stiften.14 In soziologischer Hinsicht schließlich haben sich die gemeinsinnigen Bindungs- und Verpflichtungszusammenhänge der Gesellschaft aufgelöst, die mit der erfolgreichen Etablierung des republikanischen Ordnungsmodells als eine Solidargemeinschaft der Loyalitätsund Opferzumutungen begründet worden war, die aber angesichts sich vertiefender ökonomischer Verteilungskämpfe und der damit gekoppelten räumlich-urbanen, kulturellen und religiösen Segregation nicht-integrierter Minderheiten an ihre Grenzen gestoßen ist. Die weitgehend fehlenden institutionellen Vermittlungsmechanismen zur Konfliktbearbeitung haben diesen Prozess der sozio-ökonomischen und der sozio-kulturellen Erosion noch beschleunigt. Hinzu kommt die sinnfällige Krise des republikanischen Laizismus und seiner Hilflosigkeit angesichts zunehmend religiös codierter Konfliktlinien. Vor diesem Hintergrund können die jüngeren französischen Theoriediskurse als Krisendiskurse der republikanischen Tradition vorgestellt werden – eine Lesart, die sich exemplarisch anhand drei der bekanntesten Autoren Michel Foucault, Pierre Bourdieu und Jacques Derrida veranschaulichen lässt. Dieser Vorschlag geht weit über die bisherige Rezeptionspraxis hinaus und versucht, den Entstehungskontext und den politischen Problemhorizont dieser Positionen bei ihrer Interpretation zu berücksichtigen. Die These dabei lautet, dass die sogenannten „postmodernen“Autoren Frankreichs auf eine genuin politische Ordnungsproblematik antworten, die aus dem Zusammenbruch des überkommenen Modells nationaler Staatlichkeit und seiner prekär gewordenen Voraussetzungen hervorgegangen ist.15 Zuvor aber muss ein Blick auf den Begriff des Republikanismus selbst geworfen werden. 13 Furet, 1978; zur Strömung der an Tocqueville anschließenden Selbstrevision des politischen Denkens in Frankreich vgl. Audier, 2004. 14 Zur Kritik dieses politischen Einheitsdenkens vgl. insbesondere Lefort, 1981. 15 Zur ausführlichen Diskussion dieses Zusammenhangs vgl. Schulz, 2015.

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II. Was bedeutet Republikanismus? Angesichts vager Konturen und schemenhafter Flüchtigkeit könnte man meinen, das republikanische Denken sei nur schwer zu einem einheitlichen Paradigma zu verdichten, wie dies seinem liberalen Gegenpart durchaus erfolgreich gelungen ist. Nun kann der Republikanismus tatsächlich nicht im selben Maß auf eine ähnliche Geschichte als politische Bewegung der Moderne zurückgreifen, wie sie der Liberalismus mit seiner klaren Bindung an soziale Milieus und politische Zielsetzungen in der Zeit der Verfassungsbewegungen und der Parlamentarisierung vorzuweisen hat. Das republikanische Paradigma politischen Denkens besitzt trotz seiner übergreifenden Orientierung an der Freiheit des bürgerschaftlich verfassten Gemeinwesens unscharfe, offene Ränder, weil es sich über einen langen historischen Zeitraum erstreckt, durch vielerlei Brüche und Synthesen geprägt wurde und zudem eine weit gefächerte politiktheoretische Varianz seiner Erscheinungsbilder aufweist. Das Problem einer begrifflichen Definition des Republikanismus scheint also das Diktum Nietzsches zu bestätigen: „definirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat“.16 Vor dem Hintergrund dieser komplexen Entwicklung greift selbst die Minimaldefinition einer Gegnerschaft zu monarchischen Staatsformen ins Leere, als die der Republikanismus zeitweise und gegenwärtig in seiner verfassungsrechtlichen Lesart verstanden wurde – konnte doch selbst ein so unzweifelhaft republikanischer Denker wie Rousseau eine monarchische Regierungsform mit der republikanischen Ordnungsidee in Einklang bringen.17 Die Versuche der gegenwärtigen Politiktheorie des Republikanismus, eindeutige zentrale Kriterien anzugeben, sind daher zumeist mit einer Einseitigkeit und unter Ausschluss großer Teile des republikanischen Denkens erkauft worden: Einerseits wurde in der Folge von Hans Barons grundlegender Studie das republikanische Denken als ein „civic humanism“ umschrieben: Im Vordergrund dieser Lesart steht die Tugenddimension politischer Ordnung, die republikanische Qualität eines Gemeinwesens wird an der ethischen Gemeinwohldisposition der Bürger festgemacht.18 In dieser Linie steht nicht nur Baron, sondern auch John Pocock mit seiner Studie zum „Machiavellian Moment“.19 Aufgrund der starken Betonung der gemeinwohlorientierten Bürgertugend wird die Fortsetzung republikanischer Traditionen in modernen Handels- und Industriegesellschaften skeptisch betrachtet. Auch der humanistisch aufgeladene, aristotelische Begriff politischer Partizipation lässt die Fortführung dieses Ordnungsdenkens in der Moderne mit ihrer starken Unterscheidung des Öffent16

Nietzsche, 1980: 317; vgl. Skinner, 2012: 9. Rousseau, 1986: 41 („Republik nenne ich deshalb jeden durch Gesetze regierten Staat, gleichgültig, unter welcher Regierungsform dies geschieht. […] Jede gesetzmäßige Regierungsform ist republikanisch“. In der dazugehörigen Fußnote heißt es weiter: „Ich verstehe unter diesem Begriff [der Republik] nicht nur eine Aristokratie oder eine Demokratie, sondern ganz allgemein jede Regierung, die vom Gemeinwillen geleitet wird, der das Gesetz ist.“ Demnach kann in diesem Sinne „selbst die Monarchie republikanisch“ sein). 18 Baron, 1966. 19 Pocock, 1975. 17

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lichen und des Privaten und der normativen Vorrangstellung liberaler Abwehrrechte eher unwahrscheinlich werden. Gegen diesen Definitionsversuch haben sich Quentin Skinner und Philip Pettit auf die institutionellen Aspekte republikanischer Ordnung gestützt, um diesem Paradigma auch unter modernen Bedingungen individualisierter und interessengeleiteter, heterogener Gesellschaften eine politische Relevanz zuzusprechen. Gegen den aristotelischen Begriff positiver Freiheit wird daher republikanische Freiheit über eine institutionell verbürgte negative Freiheit der „Nicht-Beherrschung“ definiert, die sich eng an die Tradition der republikanischen Mischverfassung anlehnt.20 Dass nun weder der aristotelisch-tugendbasierte Definitionsversuch, noch der institutionenbasierte, „neo-römische“ Definitionsversuch die republikanische Tradition ganz erfassen und auch ihre modernen Ausläufer nur hoch selektiv abbilden können, hat Philipp Hölzing am Beispiel Ciceros überzeugend nachgewiesen.21 Eine komplexe Definition des Republikbegriffs steht damit immer noch aus: Anstatt republikanisches Denken allein auf einen emphatischen Partizipationsbegriff, auf eine materielle Tugendethik oder auf das Prinzip der „non-domination“ zu reduzieren und damit monodimensional zu verstehen, müsste ein komplexer Begriff von Republikanismus diese Aspekte aufeinander beziehen und darüber hinaus weitere Punkte berücksichtigen. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, die Komplexität des republikanischen Paradigmas nicht durch eine strenge Definition, sondern durch einen offenen Katalog von Kriterien zu umgrenzen. Ein solcher Kriterienkatalog muss zugleich hinreichend trennscharf sein, um republikanische Positionen von liberalen und anderen Positionen unterschieden zu können. Zum anderen jedoch muss er notwendig offen sein, um der Vielfalt republikanischer Ansätze zumindest annähernd gerecht zu werden. Republikanische Ansätze politischen Denkens weisen daher neben ihrer normativen Orientierung an Freiheit und Gemeinwohl mindestens folgende Merkmale auf: Sie sind erstens kontextsensibel, sie enthalten zweitens starke narrativ-historische Formelemente, sind drittens in ihrem Institutionenverständnis an der Endlichkeit und dem möglichen Scheitern politischer Ordnung orientiert, besitzen viertens ein positives Verhältnis zu politischen Konflikten und politischer Macht und haben schließlich fünftens ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Geltungsvoraussetzungen politischer Ordnung. Eine solchermaßen gefasste Begriffsdefinition wäre demnach weit genug, um den ideengeschichtlichen Reichtum der republikanischen Tradition nicht vorschnell abzuschneiden. Sie bleibt demnach offen für den Republikanismus als ideengeschichtliches Archiv und verdichtet zugleich den Begriff im Sinne eines politiktheoretischen Arsenals, um ihn für die gegenwärtigen politischen Ordnungsdiskurse brauchbar zu

20 21

Pettit, 1997; Skinner, 1998. Hölzing, 2014: 33 ff.

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machen.22 Im Folgenden soll diese Verbindung von Archiv und Arsenal in den einzelnen Aspekten des Republikanismusbegriffs genauer skizziert werden. Dabei handelt es sich nicht um die Frage, was Republikanismus in einem überhistorischen, rein begrifflich-philosophischen Sinne ist, sondern welche Spuren der zahlreichen Deutungskämpfe sich in diesem Diskurs abgelagert haben und wie diese Kämpfe und Spannungen das heutige Verständnis strukturieren. Es muss daher auch differenziert werden zwischen republikanischen Ordnungen und einem republikanischen politischen Denken. Historisch haben sich beide durchaus in einem engen Bezug zueinander entwickelt, aber in der Folge geht es hier nicht um die Frage, welche Ordnungsformen als republikanisch identifiziert werden können, sondern vielmehr, welche politiktheoretischen Diskurse und Positionen sich als republikanisch bezeichnen lassen.23 1. Republikanische Ansätze sind kontextsensibel Ihre Theoriebildung vollzieht sich nicht in einer imaginierten Voraussetzungslosigkeit, sondern ist eingebunden in soziale Sinnbezüge und kulturelle Texturen. Diese Einbettung in konkrete politische Ordnungskontexte bedeutet dabei keineswegs eine latente Orientierung am politischen Status quo, sondern bezieht die Möglichkeit des Traditionsbruchs und des gründenden Neuanfangs stets mit ein. Das spezifisch Neue kann jedoch nur als Differenz zum jeweils Alten erzeugt werden – oder pointiert ausgedrückt: keine Revolution ohne Ancien Régime. Republikanische Diskurse verweben Elemente dessen, was gut für die besondere Gemeinschaft ist, mit allgemeinen Überlegungen. In der Figur des Bürgers fließen beide Ebenen ineinander: Der Bürger ist immer Teil eines besonderen Gemeinwesens und zugleich die verwirklichte menschliche Möglichkeit, im Namen der Freiheit zu handeln. 2. Eng damit verbunden ist die narrative Form der republikanischen Theoriebildung Auch wenn die abstrahierende und verfassungsvergleichende Modell- und Typenbildung politischen Ordnungen zu den zentralen Leistungen republikanischen Denkens zu zählen ist, so sind die politischen Ordnungen selbst doch keine modellhaften, reinen Typen. Sie tragen vielmehr stets Spuren ihrer eigenen Geschichtlichkeit und sind nicht vom Bezug auf eine narrative Eigengeschichte ablösbar. Republikanische Ordnungen sind das Resultat historischer Kämpfe und Träger kollektiver Erinnerungsspuren. Sie können daher auch nicht aus wenigen Prinzipien deduziert werden, sondern bedürfen stets einer Rückbindung an spezifische Erfahrungsräume und Legitimitätserzählungen. Genau diese Dimension spiegelt sich auch in der republika22 Herfried Münkler hat die Unterscheidung von „Archiv“ und „Laboratorium“ eingeführt (Münkler, 2006: 103), Marcus Llanque hat diesen Gedanken als „Archiv“ und „Arsenal“ zugespitzt (Llanque, 2008: 1 ff.). 23 Zum Bezug politischer Theorie und Ideengeschichte auf Diskurse des politischen Denkens vgl. Llanque, 2008.

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nischen Theoriebildung wider: Machiavelli hat sich auf die Erzählung der römischen Geschichte von Titus Livius als leitende Vorlage seiner Discorsi bezogen und ist selbst Autor einer Geschichte von Florenz.24 Dieser narrative Rombezug findet sein Echo noch in den politiktheoretischen Diskursen der Amerikanischen und der Französischen Revolutionen, die ihre Zukunft paradox als erneuernde Wiederkehr des Vergangenen vorstellen und durch zahlreiche Beispiele und Vorbilder aus der historischen Anschauung fundieren.25 Aber auch für die gegenwärtigen Theorien des Republikanismus gilt dieser narrativ-historische Aspekt,26 wenngleich unter dem Einfluss analytischer politischer Philosophie gerade in der angelsächsischen Diskussion von Philip Pettits Republikanismus diese Dimension durch einen grundsätzlich anderen sprachlichen Duktus und einen anderen Status historischen Anschauungsund Erfahrungswissens eine Tendenz zu ahistorischen, nicht-narrativen formalistischen Argumentationsschemata zu beobachten ist. 3. Politische Institutionen sind fragil und endlich Im Gegensatz zu liberalen und zu imperialen Ewigkeitsvorstellungen stehen republikanische Ansätze der Idee überzeitlicher Geltung skeptisch gegenüber. Sie leben vom Bewusstsein, dass politische Ordnungen der Freiheit ein hohes Maß an Voraussetzungen bedürfen. Ihre Dauerhaftigkeit ist daher stets prekär. Diese Einsicht in die Unwahrscheinlichkeit einer auf Dauer gestellten Freiheit des Gemeinwesens prägt das Denken republikanischer Ordnung von der Antike bei Polybios über Machiavelli bis hin zu Rousseau und darüber hinaus.27 Gute Institutionen vermögen den Verfall nur aufzuhalten und zu verlangsamen, gänzlich abwenden können sie ihn nicht. Im Unterschied zum liberalen Denken kennt der Republikanismus auch kein lineares Fortschrittsdenken. In seiner klassischen Ausprägung besitzt er eine starke Nähe zum zyklischen Denken mit kulturpessimistischen Verfallselementen. Zudem weist er ein eigenes politisches Zeitverständnis auf, das sich mit der Betonung der politischen Gründung des Gemeinwesens insbesondere von den dynastischen, die Kontinuität von Herrschaft betonenden Legitimitätsdispositiven absetzt. Nicht die sakrale Ewigkeit, sondern das Bewusstsein vom Aufstieg und Fall weltlicher Mächte prägt das republikanische Ordnungsdenken. Politische Freiheit erscheint dementsprechend als ein knappes und seltenes Gut, das es den widrigen, stets im Wandel befindlichen Umständen abzuringen gilt. Die Erfahrung des Politischen 24

Machiavelli, 1934; Machiavelli, 2000. Vgl. Arendt, 1963. 26 So ließe sich festhalten, dass die für die Renaissance republikanischen Denkens wichtige Cambridge School mit ihrer historischen Politiktheorie selbst in einem Kontext entstanden ist, der die historische Dimension des Politischen weitgehend vernachlässigt hat – von den zeitgenössischen Strömungen eines deduktiven Ableitungsmarxismus, der sozialwissenschaftlichen Suche nach verallgemeinerbaren Gesetzmäßigkeiten bis zur liberalen Begründung normativer Universalien. 27 Polybios, 1973: 155; Machiavelli, 2000; Rousseau, 1986; mit Bezug auf das Politische in der Moderne Arendt, 1963. 25

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und damit der freien Gestaltbarkeit politischer Ordnung beruht auf einem erhöhten Kontingenzbewusstsein,28 wenngleich diese radikale Kontingenz paradoxerweise durch Formen der Heiligung und der Sakralisierung wieder invisibilisiert wird, um die einmal konstituierte Macht zu festigen und zu stärken. Die republikanischen Feste sind der Versuch der Sakralisierung gemeinsam geteilter Macht im Moment der überschießenden Vergemeinschaftung und zugleich Ausdruck und Erfahrung ihrer Flüchtigkeit und Vergänglichkeit am Tag danach.29 4. Republikanische Theorien sind Konflikt- und Machttheorien Auch wenn die Konstitution eines Gemeinwesens als politisch handlungsfähiger Einheit zu den grundlegenden Aspekten republikanischen Denkens zählt, so sind doch nicht Einheit und Konsens das vorrangige Ziel politischer Ordnungsbildung, sondern das Austragen politischer Konflikte im Rahmen der Verfassung. Die Mischverfassung als republikanischer Verfassungstypus erlaubt einen auf Dauer gestellten, institutionalisierten politischen Konflikt, der paradoxerweise die grundlegende Einheit erst möglich macht und sie stabilisiert. Gute (Verfassungs-)Gesetze sind die beste Form der Konfliktvermittlung, weil sie die verschiedenen Konfliktparteien angemessen in den politischen Prozess mit einbeziehen. Gute Verfassungen sind daher Möglichkeitsbedingungen politischen Handelns und aus diesem Grunde beinhalten republikanische Verfassungstheorien immer auch positive Machttheorien. So hat Machiavelli die Spaltung Roms zwischen Patriziern und Plebejern als Grundmoment der republikanischen Verfassung betrachtet.30 Diese Einsicht wird insbesondere von einem zivilgesellschaftlich geprägten Republikanismus hervorgehoben, der sich gegen die Sackgasse des Homogenitätspostulats wendet und das republikanische Paradigma kompatibel zu modernen Gesellschaftsformen, Heterogenität und Pluralismus der Lebensentwürfe macht. Zugleich ist damit aber ein positives Machtverständnis verbunden, das als ein spezifisches „Könnensbewusstsein“ die konstitutionelle Gestaltungsfähigkeit des Gemeinwesens unterstreicht.31 Politik ist in diesem Sinne das Medium kollektiver Handlungsfähigkeit und Ausdruck gesellschaftlicher Autonomie und Freiheit. Diese politische Macht der Freiheit steht nicht nur in den klassischen Diskursen des Republikanismus im Gegensatz zu einer als Sphäre der Notwendigkeit bestimmten Logik des Ökonomischen, sondern wird auch in der Gegenwart hervorgehoben.

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Greven, 2010. Schulz, 2013. 30 Machiavelli, 2000. 31 Meier, 1980. 29

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5. Republikanische Theorien besitzen ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Geltungsvoraussetzungen von Ordnungen Die Voraussetzungen politischer Handlungsfähigkeit und der kollektiv geteilten Freiheit gehören zu den zentralen Überlieferungen und zum Kern des Problembewusstseins der republikanischen Tradition. Die Frage nach der Geltung konstitutioneller Arrangements kann nicht allein mit dem Verweis auf positives Recht oder universale Rationalitätsstandards geklärt werden, wie sie der moderne Liberalismus im Anschluss an die Vertragstheorie und das neuzeitliche Naturrecht geprägt hat. Entscheidend für die Geltungsbedingungen politischer Verfasstheit sind die soziomoralischen Grundlagen des Politischen, die Bindungs- und Verpflichtungsverhältnisse, der Gemeinsinn der Bürger, die affektiven Bindungen, aber auch die Interessenkonstellationen sozialer Gruppen. Sie werden über ihre institutionelle Vermittlung zu Bindekräften des Gemeinwesens. Dieses Denken in Voraussetzungen betrifft auch die Frage der individuellen Freiheit: Während das liberale Denken diese Freiheit selbst als Voraussetzung einer gerechtfertigten politischen Ordnung sieht, so gilt für das republikanische Denken die Undenkbarkeit freier Individuen ohne ein freies Gemeinwesen. Zudem gehört zu diesem Themenkomplex auch die reichhaltige Tradition des Nachdenkens über soziokulturelle Bedingungen und Kontexte politischer Verfassung, sei es in Form von sphärensensiblen Gerechtigkeitstheorien,32 sei es in Gestalt von politischer Zivilreligion.33 III. Politiktheoretische Krisendeutung Welche Gestalt aber nimmt nun das politiktheoretische Denken des republikanischen Paradigmas in der gegenwärtigen französischen Debatte an, die über die oben genannte orthodoxe Verhärtung hinauszugehen beabsichtigt? Das Feld der französischen Poststrukturalisten markiert den Bruch mit der republikanischen Tradition und bleibt ihr doch zugleich in seiner radikalen Kritik negativ verhaftet. Was aus der Außenperspektive daher lange Zeit als eine Kritik der Moderne und als Kritik des Liberalismus verstanden wurde, ist in seiner politiktheoretischen Stoßrichtung daher sehr viel mehr eine Auseinandersetzung mit den republikanischen Leitideen der Französischen Revolution – der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit – in ihrer konkreten institutionellen Gestalt. Unter dem zunehmenden Liberalisierungsdruck von außen wird das republikanische Paradigma von innen heraus dekonstruiert, ohne das damit eine klare Ordnungsalternative verbunden wäre: 1. Die institutionelle Ordnung der Freiheit wird so bei Foucault zu einem Dispositiv der Mikromächte, die anstelle der politischen Ermöglichung kollektiven Handelns und der Gewährung von individuellen Rechten eine Disziplinierung gefügiger Subjekte erzeugt. 2. Die Gleichheit wird bei Bourdieu durch die soziologische Sichtbarmachung der verborgenen Distinktionsmechanismen des republikanischen Staates und seiner 32 33

Walzer, 1983. Rousseau, 1986.

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meritokratischen Institutionen zu einer ideologischen Chimäre. 3. Die Solidarität schließlich wird bei Derrida als naturwüchsige Vergemeinschaftung dekonstruiert, die in ihrer Selbstbeschreibung als eine universale Rechtsform auftritt, ihre Geltungsbehauptung jedoch nur aufgrund der ihr zugrunde liegenden partikularen Exklusionsmechanismen behaupten kann.34 Die nachfolgenden Bemerkungen können diesen Zusammenhang folgendermaßen skizzieren: (1) Foucaults Analyse der Relation von Souveränität, Recht und Disziplin lässt sich als eine negativierte Selbstbeschreibung des Republikanismus lesen, dessen Hegemonie durch eine zunehmende Ökonomisierung und Verrechtlichung des Politischen bedroht ist: Positiv besetzte republikanische Zentralbegriffe wie „Gesetz“, „Tugend“ oder „Pflicht“ tauchen bei Foucault in ihrer Umkehr wieder auf und lauten nun: juridische Macht, Disziplin, Strafe.35 Foucaults eigenwillige Geschichte der Gouvernementalität36 erzählt so in vielen Brechungen die langfristige Auflösung des republikanischen Freiheitsbegriffs in der liberalen Ordnung von Recht und Markt. Sie spiegelt das Bedrohungsszenario einer rein instrumentellen Rationalität, in der sich jegliche Form der nicht-funktionalen Autonomie, der „Selbst-Sorge“ in machtgenerierten und machtgenerierenden Funktionsbeziehungen verflüchtigt. In seiner Analyse gouvernementaler Mechanismen spiegelt sich der zentrale Topos republikanischer Tradition, auf soziomoralische Grundlagen institutioneller Ordnung angewiesen zu sein, die auch durch die machtvollen Institutionen selbst geformt werden. Die habituellen und evaluativen Dispositionen der Bürger, die in normativer Hinsicht die Voraussetzung ihrer politischen Autonomie bilden und zugleich ihr Ausdruck sind, stellen daher selbst das genealogische Produkt freier, aber bei Foucault: herrschaftsbewehrter Institutionen umfassender Disziplinarmächte dar. Während die klassischen Autoren Machiavelli oder Rousseau dieses Paradox noch als notwendige Bedingung der Freiheit und insbesondere ihres langfristigen Erhaltes reflektiert haben, so löst Foucault diese Paradoxie auf: Für ihn bildet die Analyse der machtvollen Prägeprozesse des politischen Subjektes zugleich den Nachweis, dass die damit verbundenen Geltungsansprüche republikanischer Freiheit sich selbst aufheben. Von der normativen Substanz republikanischer Ordnung und ihrer Rechtfertigung deutungsmächtiger, symbolisch machtbewehrter Institutionen bleibt hier nunmehr die subtile Morphologie von Herrschaft übrig. (2) Wenn Foucaults Werk also im Kontext der Krise moderner Staatlichkeit im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts als Dekonstruktion des republikanischen Freiheitsprinzips verstanden werden kann, so wird der zweite zentrale Hauptsatz dieses Paradigmas von Bourdieus Soziologie der gesellschaftlichen Unterscheidungen erschüttert. Seine Analyse des ungleich verteilten symbolischen Kapitals und der zentralen Rolle des Staates in dieser Asymmetrie kommt einer Dekonstruktion der re34 Zu einer ausführlichen Rekonstruktion dieser einzelnen Positionen als „negativer Republikanismus“ vgl. Schulz, 2015: 91 ff. 35 Foucault, 1977. 36 Foucault, 2004a; Foucault, 2004b.

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publikanischen Selbstbeschreibung gleich, die neben der liberal codierten Rechtsgleichheit und der Gleichheit vor dem Gesetz immer auch eine soziale Dimension umfasste.37 Bourdieus Werk gewinnt so erst dann seine ganze politische Bedeutung, wenn man in den von ihm untersuchten Institutionen der Bildung jene zentralen Säulen der republikanischen Ordnung erkennt.38 Die Bildungsinstitutionen sind die Generatoren symbolischer Legitimitätsressourcen: Sie dienen zugleich der Legitimation von sozialem Status und der Produktion staatlicher Legitimität durch die Erzeugung des Wissens vom Staat. Damit untergräbt diese Analyse das zentrale politische Versprechen des demokratischen Republikanismus. Der Skandal der Bourdieuschen Analyse liegt dabei nicht in der Offenlegung sozialer Unterschiede an sich. Der Republikanismus in seiner traditionellen Form und auch seine modernen französischen Ausprägung hatte immer eine starke Rolle für herausgehobene Eliten vorgesehen, die als Magistrate und Staatsdiener der Sache des Gemeinwohls verpflichtet waren.39 Die Erschütterung der republikanischen Selbstbeschreibung liegt vielmehr darin, die Mechanismen der elitären Selbstreproduktion aufgezeigt zu haben, welche das meritokratische Versprechen der sozialen Chancengleichheit und einer gleichberechtigten Teilhabe an der Auslese der Besten unterlaufen. Bourdieu zeigt, wie die republikanischen Institutionen hierarchische Ungleichheit produzieren und reproduzieren, die durch den Gedanken einer Leistungselite nicht gedeckt werden. Die republikanische Ordnung steht damit traditionalen Strukturen näher als es ihr modernes Selbstbild zulässt. Bourdieus Beschreibung der gesellschaftlichen Distinktionsmechanismen beflügelt so die fatale Legitimationskrise der Fünften Republik, in der die meritokratische Gemeinwohlorientierung zunehmend durch einen auf soziale Exklusion und Statuserhalt gerichteten Klientelismus verdrängt wird.40 (3) Die dritte Leitidee der republikanischen Ordnung ist das Ziel der politischen Theorie Jacques Derridas. Derridas Analyse der politischen Brüderlichkeitssemantik legt tradierte symbolische Ressourcen der politischen Ordnung des modernen Republikanismus frei, die dessen Selbstbeschreibung als Ordnung der Freien und Gleichen fundamental widerspricht. Nicht die freie Assoziation von Bürgern unter selbstgegebenen Gesetzen ist das zentrale Kennzeichen der politischen Gegenwartsordnungen. Die das Gemeinwesen integrierenden Bindungen liegen vielmehr auf einer anderen, vom republikanischen Staat nur latent thematisierten Ebene: In der republikanischen Brüderlichkeits- und Solidaritätssemantik perpetuiert sich somit 37

Zur republikanischen Gleichheitsidee Spitz, 2000. Bourdieu/Passeron, 1971; Bourdieu, 1984; Bourdieu, 1989. 39 Vor dem Hintergrund gegenwärtiger Differenzierungsprozesse von Leistungs- und Funktionseliten gewinnt dieser Aspekt des Gemeinsinns wieder zunehmend aktuelle Bedeutung. Vgl. mit bundesrepublikanischem Bezug Bluhm/Strassenberger, 2006: 341. 40 In der Distinktionsanalyse legt Bourdieu ein monarchisches Strukturprinzip der nur vermeintlich republikanischen Ordnung offen. Die Distinktion ist nach Montesquieu das zentrale Prinzip der Monarchie: „La nature de l’honneur est de demander des préférences et des distinctions“ (Montesquieu, 1995: 123). 38

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der naturwüchsige Diskurs der Abstammung, der in Krisensituationen immer wieder neu zur Schließung der Gemeinschaft aktualisiert werden kann.41 Der moderne Republikanismus hatte mit der Brüderlichkeit die Frage nach den soziomoralischen Geltungsvoraussetzungen und der Solidarität innerhalb des Gemeinwesens zu einem Rechtsprinzip universalisiert.42 Unter der Oberfläche eines umfassenden, an die rechtliche Bürgerschaft gebundenen Inklusionsangebotes liegt jedoch nach Derrida eine exklusive Dimension, die den Zugang zu politischer Partizipation und Solidaritätsansprüchen ethnisch und patriarchalisch steuert. Diese Codierung des Männlichen und des Verwandten unterläuft somit die Unterscheidung, welche die politische Gemeinschaft von der Sippe und der Familie trennt. Die unausgesprochene Paradoxie der Aufklärung besteht nach Derrida darin, alle Menschen zu Brüdern machen zu wollen und damit zugleich die partikulare Logik der Gemeinschaft zu generalisieren. In dem die Prinzipien der Gemeinschaft einerseits entgrenzt werden, müssen zugleich Bindungskräfte durch partikulare Abgrenzung erhalten und erzeugt werden. In der Umstellung von der Brüderlichkeit des Ethnos auf die Brüderlichkeit des Demos bleibt die männlich-ethnische Codierung latent. Auch hier geht es damit um die Kritik der Geltungsvoraussetzungen konstitutioneller Grundentscheidungen, also um ein genuin republikanisches Thema. IV. Kontexte des Republikanismus Was ist nun gewonnen, wenn die drei genannten exemplarischen Autoren als politiktheoretische Reaktion auf die Krise des Republikanismus gelesen werden? Grundsätzlich kann diese Perspektive darauf hinweisen, dass die politiktheoretischen Diskurse der „Postmoderne“ nicht vorschnell dafür in Haftung genommen werden dürfen, die Auflösung soziokultureller und ethischer Zugehörigkeiten und die damit zusammenhängende politische Einheit aktiv betrieben zu haben. Eine solche Krisendiagnose würde die theoretische Reflektion politischer Ordnungsprobleme nicht nur zu einem Teil der gesellschaftlichen Selbstdeutungen, sondern darüber hinaus zu einem kausalen Faktor im Verfall republikanischer Einheitsvorstellungen und damit zu einem schuldhaften Verhalten aufwerten.43 Ungeachtet der wirklichkeitsverändernden Deutungsmacht auch politiktheoretischer Diskurse muss eine solche moralisierende Zuschreibung jedoch zunächst als Zug im Kampf um politische Deutungshoheit gelesen werden.44 Jenseits solcher unvermittelten Kurzschlüsse jedoch gewinnt die Einbettung der Positionen von Foucault, Derrida und Bourdieu in die Krisengeschichte des französischen Republikanismus eine zusätzliche Erkenntnis 41

Derrida, 2002. Zur Genealogie der republikanischen Gleichheit Rosanvallon, 2011. 43 Eine solche Diagnose am „Denken von 1968“ Ferry/Renaut, 1988; zu einer durch theoretische Reflektion induzierten Krise souveräner Staatlichkeit auch Koselleck, 1973; dazu Bluhm, 2015. 44 Audier, 2009. 42

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der nur unterschwellig aufscheinenden Problemhorizonte, an denen sich diese Positionen abarbeiten – weil einerseits deutlich wird, wie viel die begrifflichen Überlegungen dem republikanischen Hintergrund als einer problemgenerierenden Negativfolie verdanken; und andererseits auch die Probleme des französischen Gemeinwesens und darüber hinaus jeglicher Versuch einer nationalstaatlich verfassten republikanischen Ordnung im Spiegel dieser Theorieposition deutlicher hervortreten als zuvor. Darüber hinaus scheint das Aufzeigen der jeweiligen politischen Ordnungskontexte und -probleme von politischen Begründungs- und Legitimationsdiskursen eine zu häufig vernachlässigte Aufgabe der politischen Theorie zu sein, die sich in erster Linie als Teil der Politikwissenschaft und nicht als Magd der Philosophie versteht. Mehr konkrete Analyse von Theoriediskursen als kontextbezogener Begründungsformen und als Legitimationspraktiken scheint hier kein gänzlich falscher Weg zu sein, um die spezifischen Kompetenzen der politischen Theorie und Ideengeschichte innerhalb der Politikwissenschaft zu stärken. Diese Kontextrelevanz gilt allerdings ebenso für den besonderen Fall der behandelten Theoretiker, wie auch für das republikanische Paradigma im allgemeinen Sinne. Indem sich republikanische Ansätze kontextfrei entwerfen und sich von den Erfahrungs- und Geltungsräumen ihrer eigenen historischen Genese auch semantisch ablösen, verlieren sie einen wichtigen Teil ihrer analytischen Erklärungskraft und ihres normativen Orientierungswissens. Paradoxerweise wird daher der Geltungsanspruch der mit dem republikanischen Denken verbundenen Universalismusbehauptung nicht gestärkt, sondern gerade geschwächt, weil ein Mehrwert gegenüber liberalen Ansätzen nicht mehr erkennbar ist. Das zielt insbesondere auf die neorepublikanische Deutung einer spezifischen republikanischen Tradition, die vergessen machen will, dass neben dieser Strömung gerade der europäische Republikanismus weitaus vielschichtiger und komplexer ist, als er aus dieser Perspektive erscheint. Unter theoriestrategischen Gesichtspunkten weist das anhand des offenen Kriterienkatalogs geschilderte Verständnis republikanischen Denkens eine Schwäche auf: Je stärker die Kontexte und Geltungsgeschichten in die theoretische Reflexion eingehen, desto aufwändiger wird ihre Adaption über diese Kontexte hinaus. Republikanisches Denken verlangt daher eine besondere Übersetzungsleistung und eine komplexe Diskussion der jeweils unterschiedlichen politischen, historischen, sozialen und kulturellen Sinnhorizonte. Die erfolgreiche Suggestion einer kontextunabhängigen Geltung mag umgekehrt einen wichtigen Grund für den Erfolg liberaler Theoriemodelle darstellen. Die Diskussion der politischen Theorie des Republikanismus und des Liberalismus sollte in jedem Fall versuchen, von allzu starren Abgrenzungsversuchen der konkurrierenden Paradigmen Abstand zu nehmen, um stattdessen nach theorie- und problembedingten Familienähnlichkeiten Ausschau zu halten.

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An der Levante wird laviert Beobachtungen des jüngeren deutschen Sachbuchschrifttums zum sogenannten Islamischen Staat Von Sebastian Huhnholz Angesichts der Horrormeldungen über die nunmehr bereits dreijährige Untatenabfolge des „Islamischen Staates“ sowie die Konsolidierung seines Machtbereichs hat sie wieder begonnen, die Herrschaft der Sachbücher. Die Regeln des segmentierten Buchmarkts verlangen, dass derzeit vor allem ein ganz bestimmter Typus des Massengenres Konjunktur hat, jener des besonders schnell zu schreibenden Buchs, das uns die lange und traurige Geschichte des politischen Scheiterns des Nahen und Mittleren Osten ein weiteres Mal erzählt, sie mal handbuchartig, mal umfänglichst dokumentarisch und mal idiosynkratisch aufzieht, und dabei nirgends die kolonialistische Tradition bis interventionistisch-imperialistische Funktion der westlichen und vor allem der US-amerikanischen Welt auszusparen bereit ist. Es wiederholt alle doch eigentlich sattsam bekannten Details über die Geburtsstunden al-Qaidas aus dem Geist des zuerst anti-sowjetischen, dann anti-wahabitischen, dann antiamerikanischen und nunmehr schließlich anti-schiitischen Guerillakampfes bis zum transnationalen Terrorismus. Und erst zu guter, oder eher schlechter – und meist sehr kurzer – Letzt erklären uns viele Beispiele benannten Typs, dass die sogenannte Arabische Rebellion, die Gaza-Kriege Israels und dessen perfektioniertes Besatzungsregime in der Westbank, die Taliban, der neue Krieg der Boko Haram und in jedem Fall der Aufstieg des „Islamischen Staates“ mit all dem zusammenhängen. Angesichts des ungeheuren Ausmaßes dieses Komplexes darf die Vielzahl der Sachbücher gerade nicht verwundern: Orientierung ist dringend geboten und für ohnehin etablierte Autoren ist die Gelegenheit sichtbar günstig.1 Oft beworben im Jar1 Musterbeispiel dieses Typus ist mittlerweile der weiter unten mit einem anderen Titel gleichwohl auch als Ausnahme heranzuziehende Guido Steinberg geworden, der von der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten gezielt zur massenmedialen Leitfigur des allgemeinen Themas „Radikaler Islam“ aufgebaut worden ist. Gerade sein gewaltiger öffentlicher Einfluss in der Berliner Republik bedingt, dass die Vielzahl seiner Publikationen (zuletzt Steinberg, 2015) bei einer bestimmten Klientel sehr gefragt ist, sich inhaltlich aber nicht immer leicht unterscheiden lässt. Derlei Publikations- und Interviewroutinen dürften das Problembewusstsein der massenmedial professionellen Rezipienten jedoch eher abschleifen als schärfen. Gerade durch allzu etablierte Medien-PartnerJoint-Ventures droht der berüchtigte Peter-Scholl-Latour-Effekt, dass also verlässlich nur jene bestenfalls spekulativen, schlimmstenfalls hochveralteten Aussagen durch das Staats- und Privatfernsehen abgerufen werden, die sich entsprechende Journalistinnen und Journalisten

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gon der Einzigartigkeit, wahlweise geschrieben von „dem“ wichtigsten „Islam-Experten“, vom „gefragten Experten“ oder „in den Medien gefragten Nahost- und Terrorismusexperten“, vorgelegt als „Ergebnis langjähriger Arbeit“ oder vom „aus eigener Anschauung“ langjährig erfahrenen „Nahostkorrespondenten“, vom „beste[n] Kenner des internationalen Dschihad“ usw. usf.,2 erzählen diese Bücher die erstaunliche Geschichte des allemal beunruhigenden Aufstiegs des sogenannten Islamischen Staates nach (im Folgenden nur „IS“ genannt) und stellen ihn in einen weitreichenderen Kontext. Gerade das „Zusammenhängen“ aller denkbaren Geschichts- und Erzählstränge aber ist ein analytisch ungeheures Problem. Wer wollte (und wer könnte) denn ihren Zusammenhang derzeit ernstlich bestreiten? Die dschihadistische Weltanschauung und ihre Propaganda ganz sicher nicht, und just darin sollte ein Unbehagen bestehen: Unsere Literatur reproduziert zu guten Teilen die feindselige Weltsicht, aus der sie ihre Sujets bezieht. Hält man das Sachbuchgenre gegen vergleichbar dokumentarische Arbeiten aus eher wissenschaftlich-professionellem Umfeld, etwa gegen Guido Steinbergs Studie „Al-Qaidas deutsche Kämpfer“, sticht sofort ins Auge, wie sehr letztere bei allem Detailreichtum durch die Sprache des Konjunktivs, der Perspektivenvielfalt und der umsichtigen Spekulation geprägt ist.3 Im Sachbuchkanon dominiert hingegen die Narrationsweise einer kasuistischen Kausalkette, in der sehr häufig ein Geschehen aus einem vorangegangenen resultiert, das wiederum aus einem anderen usw. Freilich kann Zeitgeschichte so verfasst werden, nur handeln wir uns damit drei, im Folgenden entlang des aktuellen Sachbuchschrifttums zu erläuternde Probleme ein: Teleologie (I), Kategorienverwirrung (II) und Ratlosigkeit (III). I. Erstens strebt die nachträglich in eine Abfolge gebrachte sinnhafte Interpretation von Ereignissen teleologisch einem Ursprung zu. Aus dem wird die Kausalkette sicher nicht erschöpfend erklärt. Wohl aber wird dadurch der jeweils erzählten Geschichte ein Anfang gegeben, der dramaturgisch hinreichend effektvoll ist, durch die konkurrierende Literatur so nicht narrativiert wird4 und überdies als stets wiederüber viele Jahre, in Scholl-Latours Fall: sage und schreibe sechseinhalb Jahrzehnte antrainiert haben. Wichtig ist dann kaum mehr, was wann gesagt werden kann, sondern eher von wem ein vorformatiertes Ergebnis verlässlich abgerufen werden soll. 2 Z. B. Kuhlmann, 2015, sowie beispielhafte Klappentexte einiger der herangezogenen Titel. 3 Steinberg, 2014. 4 Davon sind selbstredend auch Fachbeiträge der Wissenschaftszeitschriften betroffen, die ihrem Prinzip nach zwar auf eine Forschungsleistung abheben, welche aber im hiesigen Themenfeld methodisch bedingt kaum in der Erhebung von Daten liegen kann als vielmehr in deren möglichst innovativ abweichender Interpretation von anderen Darstellungen. Ein Beispiel: „This article revises the causal story about the rise of transnational jihadism. Past ac-

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kehrendes Leitmotiv der Erzählung zu taugen hat. Im Sachbuchbereich zielen derlei Ursprungserzählungen mittlerweile meist auf historische Ereignisse. Diese haben eine Stelle eingenommen, die in den früheren Konjunkturzyklen islamismusreferentieller „Bestseller“ die eher verschwörungstheoretisch gefärbten Schlagworte markiert hatten, Stichworte, die klare, meist materialistische Motivlagen und immerhin näherungsweise bestimmbare Tätermilieus suggerierten: Erdöl, Handelsrouten, Neokonservatismus, militärisch-industrieller Komplex etc. Heute ist es beispielsweise eher der „Sündenfall“ des vom CIA inszenierten Putsches gegen die „demokratisch gewählte Regierung“ Mossadeghs im Teheran des Augusts 1953, also eines amerikanisch forcierten Staatsstreichs gegen den „überzeugte[n] Anhänger des Parlamentarismus, […] Bewunderer Mahatma Gandhis [und] Abraham Lincolns“, auf den die Gewaltherrschaft des persischen Schahs folgte, die wiederum von der Iranischen Revolution fortgefegt wurde, in deren Gefolge dann erst laut dem Publizisten Michael Lüders der „islamische Fundamentalismus […] seinen Durchbruch [erlebte], auf Kosten säkularer, nationalistischer und prowestlicher Strrömungen und Parteien von Marokko bis Indonesien.“ Dass „der Iran ein schiitisches Land ist“, der Dschihadismus unserer Tage aber ein sunnitisches Phänomen, spielt laut Lüders „keine Rolle“: „Für den politischen Islam wurde Khomeini zum Big Bang – fast möchte man ironisch anmerken: Mit freundlichen Empfehlungen von CIA und MI 6“.5 Ein analoges Beispiel findet auch Behnam Said. In dessen gründlichem, indes durch eigene Feldrecherchen etwas persönlich verzerrten Buch „Islamischer Staat“ bleibt der Mitarbeiter des Hamburger Verfassungsschutzes den seit Jahren in deutschen Geheimdienstkreisen bevorzugten Phasenmodellen treu. Sie verharren analytisch in der unvermeidlichen Konsequenz des dynamischen Schematismus, bei dem alle Friktionen und Zufälle zugunsten des Pathos eines zwangsläufigen Schicksals hintangestellt werden. Das hat den Reiz der übersichtlichen Struktur und ermöglicht vor allem die homologe Adaption des eigenen Weltschemas auf recht beliebige Fälle. Bei Said ist es denn auch die syrische Stadt Hama, die zum Mastertopos der orientalistischen Ursprungserzählung wird: Die vom heutigen syrischen Bürgerkrieg erschütterte, „uralte, seit der Eisenzeit besiedelte Stadt Hama, am Ufer des Nahr al-Asi, der in früheren Zeiten als Orontes bekannt war“, war das Zentrum des Coup d’État vom 8. März 1963, der „die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen [Syriens] grundlegend [veränderte]. Er läutete den Beginn der Herrschaft der Hizb al Ba’ath (Partei der Wiedergeburt) ein und sorgte für einen grundlegenden Elitenwandel: Die Alawiten waren im Micounts placed great emphasis on the ideas of Sayyid Qutb, on Wahhabism, and on state support for the Afghan jihad, explanations that, as I have shown, are insuficient. Instead, I trace the origin of the foreign fighter phenomenon to a pan-Islamist identity movement that arose in 1970s Hijaz through a process of elite competition“ (Hegghammer, 2010/11: 89). 5 Lüders, 2015: 22 (Hervorhebung im Original).

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litär und auch in der Ba’ath-Partei in besonders hohem Maße vertreten, da sie sich von der Zugehörigkeit zu diesen Institutionen einen sozialen Aufstieg versprachen. Und in der Tat wurden mit der Machtausdehnung des Militärs und der Ba’ath-Partei die alten sunnitischen Machtzirkel verdrängt, und die religiösen Minderheiten aus ländlichen Regionen erlebten einen plötzlichen und unerwarteten Aufstieg. Insbesondere Alawiten aus der Heimatprovinz der Familie al-Assad, Latakia, profitierten von diesem Wandel. Hafiz al-Assad war als Angehöriger des syrischen Militärs maßgeblich am Putsch beteiligt. […] Heute scheint sich [das] Vermächtnis im Bürgerkrieg in Syrien nun voll zu entfalten“.6

Viel weiter zurück greift des Journalisten Rainer Hermanns „Endstation Islamischer Staat?“. „Ein Schlüsseldatum in der Geschichte des ,Islamischen Staates‘ ist der 4. Juli 2014“, schreibt Hermann. „An jenem Freitag trat Abu Bakr al-Baghdadi erstmals an die Öffentlichkeit. Für seine ,Kalifatspredigt‘ trug er das schwarze Gewand der abbasidischen Kalifen, die von 750 bis 1258 in Bagdad herrschten. Er predigte in Mossul, der zweitgrößten Stadt des Irak. Doch mit seinem Namen Baghdadi, den sich der Iraker Ibrahim Awwad al-Badri zugelegt hat, macht er seinen Anspruch klar: Er will, wie die Abbasiden, in Bagdad als das Oberhaupt aller Muslime herrschen.“7 Und Lüders ergänzt vortrefflich: „Selbstverständlich ist auch dieser Name symbolträchtig. Abu Bakr war einer der ersten Anhänger des Propheten Mohammed und dessen Schwiegervater. Nach Mohammeds Tod 632 herrschte er bis an sein Lebensende 634 als dessen ,Nachfolger‘, arabisch ,Kalif‘, über die Gläubigen. Bagdad wiederum war Sitz des Kalifats der Abbasiden […], das auf die Omajjaden in Damaskus folgte und ein Weltreich begründete, das von Spanien bis an die Grenzen Indiens reichte. Wenn man die Symbolik radikalisierter Sunniten entschlüsselt, dann heißt dies: Der ,Islamische Staat‘ tritt in der Tradition der Abbasiden die Nachfolge der Omajjaden an, womit Saudi-Arabien gemeint ist.“8

Hier erst schließt sich denn auch der Kreis zur Ideologie al-Qaidas, jenem heute aus Sicht seiner potentiellen Klientel stark abnehmend populären, als überaltet und verlebt geltenden Netzwerk, das dem jüngeren Dschihadismus ein laientheologisch besonders konsequentes und insofern propagandistisch wirkmächtiges Weltbild zur Verfügung gestellt hatte. Als sich al-Qaida während des vorletzten Golfkriegs vom wahabitischen Mutterradikalismus abspaltete, erklärte es Saudi-Arabien zu einem Apostasieregime, das es direkt und vor allem indirekt zu bekämpfen gälte. Das saudische Königshaus hatte, statt bin Ladins Angebot, seine aus dem anti-sowjetischen Kampf in Afghanistan heimgekehrte Guerillaarmee zu reaktivieren, zur Befreiung Kuwaits von Saddam Husseins Armee die Amerikaner ins Land der beiden großen heiligen Städten des Islams gelassen, Mekka und Medina. Fortan konzentrierte sich die dschihadistische Strategie solange wie möglich darauf, nicht zuerst den „nahen Feind“ zu bekämpfen, sondern vorrangig den „fernen“, jenen Westen, in dem ohnehin viele Dschihadisten längst lebten, teils geboren, teils hinvertrieben worden waren. 6

Said, 2015: 17 – 19. Hermann, 2015: 7. 8 Lüders, 2015: 89 f.

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Diese Ideologie folgte dem allen Muslimen vertrauten Gründungsereignis des Frühislam, der Rückeroberung des für verdorben befundenen Mekka durch die vom Propheten Mohammad im Exil der später nach ihm benannten Stadt, Medina, geschmiedeten Gemeinschaft jener „wahrhaft Gläubigen“ erster Generation. Heute werden sie als die „salaf as-salih“, die „frommen Altvorderen“ des sunnitischen Islam verehrt. Ihrem Lebensstil und dem Vorbild ihres Monotheismus-typischen Exodus nachzueifern gilt als schicklich, ein Ideal, das auch in der diesbezüglich oft zu unverständlich („Steinzeitislam“ usw.) referierten Bezeichnung „Salafismus“ geradezu ideal kulminiert: Es handelte sich zunächst um eine elitäre Exilantenideologie, die von einer Reinigung in der isolationistischen Diaspora zwecks revolutionärer Rückeroberung des protoimperialen Zentrums durch eine rechtgläubige Avantgarde erzählte, und insofern perfekt auf manche migrantischen Krisenmilieus in den Großstädten vor allem der westlichen Welt projiziert werden konnte.9 Just an dem nunmehr offensichtlichen Bruch scheitern bedauerlich viele jener Sachbuchnarrationen, die von langwelligen Zyklen der dschihadistischen Radikalisierung ausgehen, von Zyklen, die in einem mehr oder minder konkreten Ursprung ihren Ausgangspunkt gefunden hätten und derzeit im „IS“ lediglich geschichtskonsequent kulminierten. Denn war die dschihadistische Programmatik der alten Qaida tatsächlich eine elitäre Ideologie für radikale, im Geheimen operierende Exilanten, wäre doch zu klären, wie binnen weniger Jahre der „IS“ al-Qaida den Rang ablaufen konnte und zu einem offenkundig geopolitischen Massenakteur mit globaler populistischer Kommunikationsreichweite in einer zentralen Region der arabischen Welt werden konnte. Weder exklusiv elitär, noch geheim oder trotz einiger hundert europäischer Freiwilliger spezifisch europäisch strukturiert – das ist der „IS“, dessen Gestalt folglich viele der aufgebotenen großen Linien eher in Frage stellt als bestätigt. II. Ganz gleich daher, ob wir das Drama nun im Jahr eins des islamischen Kalenders beginnen lassen oder mit der fundamentalistischen Wahabisierung der reichen Sauds auf der Arabischen Halbinsel, dem Pan-Arabismus, dem Arabischen Nationalismus, mit dem Jahr 1953, 1963, 1979, mit „9/11“ oder 2014 – es stellt sich ein offenkundiges zweites Problem. Will man die Motivlage der plötzlich so effektiven Massenrekrutierung von freiwilligen Dschihadisten aus der gesamten muslimischen Welt und darüber hinaus ergründen, fügen sich diverse bislang gepflegte und empirisch vielfach bestätigte Theoriebausteine nicht sonderlich geschmeidig ineinander, zumal solche nicht, die mit dem spezifischen Theoriebegriff „Fundamentalismus“ operieren, statt mit durchweg unbestimmten Allerweltsbegriffen wie „radikaler Islam“, „Islamismus“, „politischer Islam“ oder den blinden „catch all“-Kampfkate-

9 Dazu Huhnholz, 2010: 37 ff.; ders., 2012. Nunmehr umfangreicher und vergleichend detaillierter auch Said/Fouad, 2014.

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gorien der zumal deutschen Sicherheitsdienste („politischer Extremismus“, „religiöser Terrorismus“, „islamistischer Extremismus“ etc.).10 Als Minimaldefinition von Fundamentalismus mag gelten eine streng schriftgläubige, antikontextualistische und insofern ahistorische, d. h. zugleich auch anwendungssüchtige Vorstellung von einer ab ihrer Verkündung zeitlos-ewigen religiösen Offenbarung unter radikal anti-orthodoxer Missachtung kultureller Traditionen und regionaler Religionspraktiken. Insofern ist Fundamentalismus nicht nur eine Erscheinungsform der Moderne, deren globalisierende Verbreitung ohne einen vom historischen Imperialismus begünstigten missionarischen Protestantismus kaum erfolgt wäre und somit typischerweise auch seine intensivsten Projektionsflächen in früheren Kolonien findet. Fundamentalismus ist zudem ein passender, religionsund konfessionskomparatistisch brauchbarer Oberbegriff auch für jene exaltierte sunnitische Ausprägung, die der Salafismus darstellt. Auch der Salafismus versteht sich als eine exklusive, konfessions- und dogmenspezifische Sonderkultur, vernachlässigt dabei aber, dass es sich bei ihm nur um eine spezifische Form von Diasporatheologie handelt. Als Laientheologie steht diese gegen etablierte Theologien muslimischer Länder und allemal gegen die vielen Schattierungen des Mehrheitsislams, ist aber auch abzugrenzen vom Phänomen einer reformorientierten und integrationsbemühten Diasporatheologie, die sich notwendigerweise ebenfalls von den Zentren der islamischen Welt emanzipiert.11 Exil, Diaspora, Elite, Exklusivität, Entfremdung etc. – das alles will auf „IS“ nicht recht zutreffen und lässt drei konforme Erklärungen zu: Entweder die allgemeine Fundamentalismusbestimmung war von Beginn an nicht für das dschihadistische Phänomen geeignet. Der „IS“ und der damit zusammenhängende Flächenbrand sind, zweitens, kein fundamentalistisches Phänomen, jedenfalls kein wesentlich fundamentalistisches. Oder aber, drittens, wir erleben derzeit eine neue Stufe des sunnitischen Fundamentalismus, eine, die die Schwelle zur Massenintegration überschritten hat. Folgt man der Literaturlage, sind die zweite und dritte dieser Optionen richtig. Die zweite trifft zu, da der katastrophale Flächenbrand in der Levante tatsächlich eine Ansammlung großräumiger Bürgerkriege ist, in denen immer wieder flexible Koalitionen geschmiedet worden sind. Der westliche Überfall auf den Irak, die anschließende Planlosigkeit bei dessen Neustrukturierung, der bis heute unverständliche Umstand, dass die US-Amerikaner den Irak nur ethnisch und religiös strukturierten und daher ausgerechnet der vordem unterdrückten schiitischen Minderheit die Macht gaben, die derangierte sunnitische Großarmee Husseins indes in die Arbeitslosigkeit und Armut entließen, damit einen Bürgerkrieg entfesselten und dann abzogen – all dies und vieles mehr war Bedingung der Möglichkeit, dass sich sunnitische und nunmehr verfolgte und geschasste Ex-Sympathisanten des säkularen Saddam-Regimes radikalisierten und begannen, mit al-Qaida und deren dschihadistisch-fundamenta10 11

Huhnholz, 2011. Dazu Huhnholz, 2010; Fischer, 2006.

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listischer Ideologie diffus zu fraternisieren. In der Folge verlor das elitaristische Konzept der Qaida an Einfluss; diverse paramilitärische sunnitische Splittergruppen öffneten sich für die militärisch erfahrenen, indes nicht zwingend ideologisch militanten Kader und Truppen des alten Irak. Deren professionelle Erfahrung mit selbst schwerem Kriegsgerät, das von den Amerikanern massenhaft ins Land gebracht worden und nicht nur im Irak leicht zu erobern war oder durch Überläufer gestellt wurde, bildete die technische Basis der effizienten Kriegführung des „IS“. Kontingent hinzu tritt der staatsterroristische Bürgerkrieg in Syrien: Bashar alAssad sah schnell ein, dass er seine rasant schwindende Macht nur würde konsolidieren können, wenn er den Westen Syriens hielt und den Dschihadisten um „IS“ den Osten überließ – ein politisch kluger Schachzug, der voraussichtlich Assads Herrschaft retten, das syrische Territorialgebiet teilen und in Ostsyrien ein semidschihadistisches Terrorregime begünstigen wird. Womöglich haben wir uns alsbald ab der südöstlichen Peripherie NATO-Europas neben der Türkei auf zwei gefestigte Diktaturen und zwei fundamentalistische Gebiete im schwelenden Dauerkrieg mit türkischer, kurdischer, israelischer und amerikanischer ad hoc-Beteiligung einzustellen: Syrien und Iran sowie „IS“ und Saudi-Arabien, auf vier Mächte also, die mit Ausnahme von Syrien und Iran einander feindseliger kaum sein könnten. Das ist offensichtlich kein fundamentalistisches Phänomen mehr. Das ist Geopolitik.12 So bedurfte es tatsächlich des benannten Zufalls des syrischen Bürgerkrieges, um die Katastrophe zu komplettieren. Durch ihn, seine Flüchtlingsströme und den dadurch natürlich auch im Westen angekommenen Weckruf an alle kampffähigen jungen Dschihadisten und muslimischen Guerilleros weltweit, ist ein bislang einzigartiges fundamentalistisch-reformatorisches „window of opportunity“ geöffnet worden, angesichts dessen es sogar erstaunen mag, allemal jedenfalls eine politisch gewichtige Botschaft ist, dass relational nur sehr wenige westliche Muslime überhaupt in diesen Krieg ziehen.13 Gleichwohl erleben wir hier zweifelsohne eine neue Stufe des sunnitischen Fundamentalismus. Guido Steinberg vertritt begründet die These, dass die eigentlich stille Saat des Dschihadismus der Qaida in ihrer internationalisierten Popularität nach 12

Dazu instruktiv von der Osten-Sacken, 2015. Said, 2015: 195, spricht von etwa vierhundert Verdächtigen, die sich zwischen 2012 und 2014 von Deutschland aus auf den Weg nach Syrien gemacht hätten. Ich würde dennoch, da wir nun mitten in unserer Gegenwart und der Frage der Inneren Sicherheit Deutschlands sind, des Weiteren zu bedenken geben: Vielleicht sollten uns nicht nur die westlichen Dschihadisten Sorge bereiten, die in den Krieg ziehen, sondern auch etwas mehr die, die bleiben. Denn sie firmieren als das eigentliche Druckmittel gegen westliche Interventions- und Hilfsgelüste. Das ist gewissermaßen nach dem Renaissancemodell der Schweizer Garde zu begreifen, also jener Neutralitätsstrategie, mit der die Schweiz begann, ihre Elitetruppen in die Herrschaftshäuser Europas zu vermieten. Griff ein Land die Schweiz an, konnte diese nicht etwa nur ihre Halbsöldner abziehen. Sie hatte vielmehr dafür gesorgt, dass über alle Höfe Europas verstreut hochkompetente, patriotische und mit der Infrastruktur vertraute Terroristen platziert waren. Ein Angriff auf die Schweiz hätte sofortige Mordanschläge in den Zentren der Angreifer zu Folge gehabt. Wir nennen dieses Modell heute „Schläfer“. 13

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„9/11“ zu suchen sei: Erst der massive Umbruch in den muslimisch geprägten Großregionen des Nahen und Mittleren Ostens seit dem Afghanistaneinsatz und dem Irakfeldzug, der Drohnenkriegsführung in Pakistan und vor allem Waziristan habe die „Hinwendung zu internationalistischen Ideologien“ in der muslimischen Welt selbst gefördert. Damit einher ging eine intellektuelle Transformation der sozialstrukturellen Zusammensetzung der Kämpfenden, die nun vermehrt auch aus deklassierten und bildungsfernen Schichten angeworben wurden.14 Entsprechend modernisiert, jugendaffin und massenkompatibel stellen sich derzeit ihre Propagandamittel dar. Somit eröffnete der „Krieg im Irak neue Rekrutierungspools in den Nachbarländern des Irak […]: Sehr viele junge Männer aus Syrien, Jordanien, Saudi-Arabien und Kuweit kamen, um gegen die Amerikaner zu kämpfen. […] Tausende junger Araber, die mit al-Qaida nichts zu tun haben wollten, beschlossen dennoch, im Irak zu kämpfen, weil die Vereinigten Staaten muslimisches Territorium und ein Kernland der arabischen Welt angegriffen und besetzt hatten.“15

Nicht der „IS“ allein, sondern das mit ihm assoziierte ideologische Gefechtsfeld also überschreitet dieser Jahre die Schwelle zur parastaatlichen Massenintegration und beginnt, mit wenigstens hinreichender Zustimmung große Gebiete immerhin flickenteppichhaft zu kontrollieren. Sicher mag man einwenden, dass doch auch SaudiArabien Ähnliches vermöchte. Mag sein, aber Saudi-Arabien nimmt gerade kein Kalifat für sich in Anspruch, also jene staatsreligiöse Institution, die sich als Zentrum sunnitischer Muslime versteht. Entsprechend ist der saudische Wahabismus zwar immer wieder auch missionarisch tätig, doch korreliert dessen Mission nicht mit räumlicher Expansion, mutiert also nicht in eine Art „Kalifatsimperialismus“. Überdies bleibt die saudische Herrschaft eine Elitenherrschaft, die beständig zu überdehnen unmöglich ist. Sie basiert auf dem Modell des ölreichen Rentierstaates, der sich Sklavenarbeit bzw. Lohnsklavenimport leistet, um jeden inneren Protest mit Geld und Prunk zu ersticken, andernfalls zu exportieren oder zu exekutieren. Dies zusammengefasst finden wir in der Region nunmehr eine Gemengelage vor, die durch vier große, einander gerade nicht verbündete Mächte – Iran, die in diesem Konflikt besonders doppelzüngige Türkei, die stille Atommacht Israel und das mittlerweile militärtechnologisch vom Westen proliferierte Saudi-Arabien – räumlich umschlossen wird und in deren Mitte mit dem Irak und Syrien zwei zerfallende, vordem leidlich säkulare Staaten in konfessionellen, religiösen und, zählt man die Kurden und den Libanon hinzu, auch ethnischen Bürgerkriegen versinken. Flankiert wird diese Konstellation durch wechselnde, unübersichtliche und insofern unzuverlässige interventionsähnliche Einsätze westlicher Staaten.16 14

Steinberg, 2014: u. a. 394 f., 23 ff., 41 ff. Ebd.: 42, 53. 16 Lüders, 2015: 69, ergänzt überdies die Deutung des „Stellvertreterkrieg[es], in dem sich, vereinfacht gesagt, zwei Lager gegenüberstehen. Auf der einen Seite die westlichen Staaten, die Türkei und die Golfstaaten, allen voran Saudi-Arabien, die Assad gestürzt sehen wollen. Auf der anderen Seite Russland, China und der Iran, die genau das zu verhindern suchen, und Assad nach Kräften unterstützen.“ 15

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III. Drittens folglich nun werden durch handlich verpackte Große Erzählungen politische Urteilskraft und vor allem sicherheitspolitisch so dringliche Antworten für angemessene, mögliche und strategisch effektive Bekämpfungsfragen oder wenigstens Eindämmungsversuche dieser Phänomene ebenso rar wie schwierig. Wo alles letztlich mit allem zusammenhängen soll, droht weniger nur, dass falsch gehandelt wird, als dass gar nicht oder viel zu spät gehandelt wird. Gerade Letzteres ist die derzeit bedrückendste Wahrscheinlichkeit, denn seit nunmehr drei Jahren verfestigt sich das über fast eine Dekade recht sorgsam geplante Gewaltregime der insgesamt erstaunlich kleinen, nicht mehr als 40 000 aktive Kämpfer zählenden Organisation des „Islamischen Staates“, dessen engerer Herrschaftskreis gleichwohl mehr als sechs Millionen Menschen unterworfen hat, dessen weiteres Einzugsgebiet bis an die NATOAußengrenze reicht und seinerseits „metastasiert“: „Das britische Militär-Fachjournal ,Jane’s Defense Weekly‘ bezifferte die Zahl der Gruppen, Grüppchen, Banden, Milizen Ende 2013 auf mehr als 1000.“17 Keine fünfzehn Jahre nach „9/11“ ist somit im vordem instabilen, aber dschihadistisch weitgehend unbesetzten Nahen und Mittleren Osten nicht nur ein geopolitisch hochambitionierter und militärisch ungemein fähiger dschihadistischer Großverband mit parastaatlichen Strukturen, eigenem Geheimdienst,18 eigenen Bildungsund Erziehungseinrichtungen globaler Ausstrahlungskraft und transkontinentaler Vernetzung entstanden.19 Dieser Großverband nimmt überdies just jene Formen eines „Kalifats“ an, das als seinerzeit angebliches Fernziel zu verhindern eine der viel zu vielen Leitstrategien des in Reaktion auf die katastrophalen Septemberanschläge von 2001 erklärten Antiterrorfeldzugs der westlichen Welt gewesen war. Was noch Mitte des letzten Jahrzehnts selbst in noch so halbstarken Dschihadistenkreisen als irre Fantasie galt, ist heute ein veritabler Kalifatsversuch.20 So fanden bald nach dem US-amerikanischen Irakkrieg vordem inkompatible Ideologien zusammen, wo, wie in Bagdad, geschasste Militärs Saddam Husseins, Führungsaltkader der Baath-Partei, bei der amerikanischen Neuordnung des Irak systematisch politisch exkludierte und räumlich segregierte Sunniten und mutmaßliche Dschihadisten gemeinsam in ein bald als Radikalierungsschule geltendes US-Gefängnis „Camp Bucca“ gesperrt wurden, das heute sarkastisch genau „Akademie“ genannt wird: Die Mehrheit der später führenden Funktionsträger und Entscheidungsspitzen des „IS“ saßen hier ein und schmiedeten eine Art Schattenkabinett. Aber auch vordem inkompatible Kompetenzen fanden zusammen, wo, wie in Mosul, die von den USA proliferierten, hochmodernen Waffenbestände der neuen 17

Ebd.: 75. Dazu speziell Reuter, 2015. 19 Zu Details siehe vor allem die leider abgelegen publizierte, gleichwohl solide Aufstellung von Hanne/Flichy de la Neuville, 2015. 20 Dazu Huhnholz, 2010. 18

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irakischen Armee Aufständischen und Überläufern zufielen. Vordem unmögliche Koalitionen entstanden, wo Assads Syrien, Achmadinedschads Iran, ein aufgerüstetes Kurdistan, ein von Flüchtlingsmassen überfordertes Jordanien und ein nach allen Seiten panisch aufrüstendes Saudi-Arabien als „realistische“ Verbündete der USA verblieben. Dass letztere überdies zunehmend zwischen „guten“ und „schlechten“ bzw. „bösen“, also kurzfristig anderweitig nützlichen und klassischen Dschihadisten zu unterscheiden begannen, hat, wie unter anderem bei Lüders nachzulesen ist, die Zersplitterung der Region vorangetrieben und jenes Mosaik nur noch kleinteiliger zertrümmert, auf dessen Fläche der „IS“ sich heute als unnachgiebig radikale Ordnungsmacht bewirbt.21 Nicht zu vergessen sind auch die gezielte Entfesselung konfessioneller Bürgerkriege, der florierende Handel mit Weltkulturerbegütern sowie die Versklavung oder Massakrierung von religiösen Minderheiten – und die Liste ließe sich fortsetzen. Umso mehr erstaunt aber nun, dass die gemeinsame Feststellung vieler Bücher zum Thema vor allem diese ist: Die gescheiterte, eigentlich unbedachte, ungeplante und von Exilirakern idealisierte Neuorganisation des irakischen Staatsgebietes nach der westlichen Intervention gegen das Regime Saddam Husseins führte zum stetig intensivierten Staatszerfall aufgrund eines gegen die Bedingungen der ethno-konfessionellen Struktur der Region US-amerikanisch wider Willen beförderten, religiösen transnationalen Bürgerkrieges einerseits und der neokonservativ-technokratischen Übergangsdiktatur andererseits, für die der Name des seinerzeit aus dem Ruhestand reaktivierten, als sachunkundig gescholtenen US-Zivilverwalters im Irak, Paul Bremer, steht. Die sich abzeichnende konfessionelle Dreiteilung des Irak in ein schiitisches Rumpfbagdad, einen autonomen kurdischen Norden und eine vom radikalsunnitischen „IS“ noch diffus beherrschte Fläche wird als direkte Konsequenz der von der „Koalition der Willigen“ einst systematisch betriebenen Exklusion der sunnitischen Mehrheitsbevölkerung von der irakischen Zentralmacht und ihren neuen Verfassungsstrukturen verstanden. In deren Konsequenz sahen selbst gemäßigte irakische Sunniten keine weniger schlechte Alternative für sich als die stillschweigende Duldung des „IS“ – wobei auch nicht unterschätzt werden sollte, dass dem „IS“ dank seiner durch Sklavenhandel, Zwangsprostitution, „Kidnapping-Freikäufe, Schariasteuern, Artefakteverscherbelung, Ölvermarktung sowie privates Sponsoring vom Golf […] zusehends praller“ gefüllten „Kriegskasse“22 eine Reihe von karitativen, infrastrukturellen und vor allem, so zynisch das klingen muss: sicherheitlichen Ordnungsleistungen nachgesagt werden, die aktiven Zuspruch erheischen. Bei all dem fällt freilich auf, wie wenig wir von „IS“ wissen, beziehungsweise wie viel von dem, was wir zu wissen meinen, letztlich terroristisches Produkt ist, also die Wiedergabe des sorgfältig inszenierten Kommunikationszirkels zwischen den Bilderproduzenten des „IS“ und deren Bilderlieferanten, den westlichen und globalen 21 Lüders, 2015: 80 ff. – ein Kapitel im Übrigen, das literarisch und kolonialgeschichtlich anspielungsreich „Im Herzen der Finsternis“ betitelt ist. 22 Kulow, 2014: 80.

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Massenmedien. Stellen wir diese kritische und nichtsdestotrotz hilflose Einsicht in die Zwangsläufigkeit terroristischer Mitteilungserfolge in Kommunikationsgesellschaften hier zurück und attestieren sie auch allen Verfassern der adressierten Sachbuchtitel, kommt deren einhelligem Tenor eine ganz eigene Qualität zu: Sie klären darüber auf, dass Aufklärung nicht viel hilft. Dass große Teile der arabischen Welt dieser Jahre in einem blutigen Chaos versinken, einem Chaos, von dem viele erfahrene und weitsichtige Beobachter begründetermaßen sicher sind, dass es erst der Anfang vieler größerer innerislamischer Konfessions-, regionaler Bürger- und innerarabischer Verteilungskriege ist, einem Chaos überdies, dem nicht eine einzige produktive, ordnende, legitime oder anerkannte größere Kraft mehr geblieben ist – dies alles lässt keinen Grund zur Hoffnung, dass es in dieser islamischen Reformation Gewinner wird geben können.23 Michael Lüders Buch „Wer den Wind sät“ beschließt insofern mit dem dieser Jahre womöglich überzeugendsten Rat: Flüchtlinge dauerhaft aufzunehmen. „Helfen wir ihnen, hier Wurzeln zu schlagen, denn sie werden bleiben.“24 Fazit Unter den hier gesichteten ist Lüders Buch zugleich das zornigste, denn die Kehrseite des Plädoyers für Großzügigkeit und Mildtätigkeit ist sein tiefer Glaube an die Schuld des Westens. Hierin ist „Wer den Wind sät“ bemerkenswert repräsentativ für das gesamte Genre. Gleichwohl auch übersät mit teils ätzenden Israelressentiments und all den traditionellen Topoi über die US-amerikanische Öl- und Waffenindustrie beschreibt Lüders ausführlich den atemberaubenden Hochmut, mit der bestenfalls naive, schlimmstenfalls korrupte demokratische Mandatsträger des Westens seit Jahrzehnten in fremde Länder einmarschieren und dort besten Gewissens zahllose Menschen ermorden lassen, um mit Karl-May-haftem Orientalismus letztlich vergeblich die „mental maps“ ihrer dienstbaren „think tanks“ zu suchen – also: natürlich rein gar nichts wiederzuerkennen als die eigenen Vorurteile. Seit dem Ziehen der Kolonialgrenzen mit dem Lineal hat sich, folgt man Lüders, wenig verändert. Das ist sicher ein wesentlicher Grund, warum so viele der derzeit zum Thema verfassten Bücher wie Verschwörungstheorien klingen. Nur dass es sich diesmal, blickt man auf „IS“, weder um Verschwörungen handelt, noch um Theorien. Praktische Politik ist Schuld an der Misere. Denn selbst unbeschadet der weiteren Entwicklung lässt sich schon heute festhalten, dass der „IS“ nicht nur eine der bislang erfolgreichsten transnationalen Partisanen- und Milizarmeen der Weltgeschichte ist, sondern eine, deren rasante Erfolge sich kumulativ tatsächlich auch als kontingente Summe notorisch verfehlter und selbstherrlicher Politik westlicher militärischer Interventionsmächte und nicht zuletzt verfehlter Integrationsstrategien Westeuropas 23

Die prononciertesten Parallelen zur christlichen Reformation bis zum Dreißigjährigen Krieg sieht Hermann, 2015. Völlig übers Ziel hinaus schießt dagegen Napoleoni, 2015, die kaum eine welthistorische Riesenreichsassoziation auslässt, um den „IS“ zu beschreiben. 24 Lüders, 2015: 174.

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nach „9/11“ darstellen ließen. Die Entstehung und der ungeheuerliche Erfolg des „IS“ ist jedenfalls kein tragisches Ergebnis rein geo- und weltpolitischer Zufälle, wiewohl ihm Zufälle gelegentlich in die Hände spielten. Nehmen wir daher Lüders wütende Perspektive nicht nur pars pro toto, sondern blicken mit weiteren Autorinnen und Autoren nüchtern auf die vergangenen zwei Jahrzehnte, sind bezüglich des Dschihadismus wesentlich zwei Trends zu identifizieren. Erstens: Nahezu alle offiziellen strategischen Ziele des Westens im Antiterrorkampf sind verfehlt worden. Zweitens: Nahezu alle offiziellen strategischen Ziele des Dschihadismus konnten erreicht werden. Zwei längere Zitate seien hier stellvertretend vorgebracht, um diesen Tenor der Liste vorerst abschließend zu Gehör zu bringen: Behnam Said meint, „die Entstehung von al-Qaida im Irak (AQI) [wäre] ohne den Sturz Saddam Hussains nur schwer dankbar gewesen. Ohne den aus AQI entstandenen ,Islamischen Staat im Irak‘ (ISI) hätte es wiederum keine al-Nusra-Front als einstigem Arm von ISI und weder den ,Islamischen Staat in Irak und Syrien‘ noch den grenzenlosen ,Islamischen Staat‘ gegeben. Der Irakkrieg ab 2003 führte also zur Ausbreitung [dsch]ihadistischer Organisationen im Irak, die dann wiederum in Syrien aktiv wurden und dort als erfahrene Kämpfer zunächst vom lokalen Widerstand begrüßt wurden. Andersherum ermöglichte das temporäre Ausweichen der irakischen Milizen nach Syrien und das dadurch bedingte materielle und personelle Anwachsen von ISIS/IS die Eroberung großer Gebiete im Irak seit Jahresbeginn 2014. Der syrische Bürgerkrieg hat in der Geschichte des [Dsch]ihadismus eine Phase fortgeführt, die bereits mit dem Arabischen Frühling ab 2011 eingeleitet wurde: […] Durch die zahlreichen Freilassungen von [Dsch]ihadisten aus den Gefängnissen Tunesiens, Libyens und Ägyptens traten […] zahlreiche Autoritäten wieder in Erscheinung, die eine lokale Machtbasis, abseits der trägen Strukturen al-Qaidas aufbauen konnten.“25

Sarah Birke und Peter Harling sekundieren, „[i]nsgesamt“ habe „der Islamische Staat eine Reaktion provoziert, die alle Zutaten enthält, die es braucht, um ihn stärker zu machen: westliche Militärinterventionen in weit entfernten Einsatzgebieten; ein regionaler Waffenwettlauf, bei dem eine Reihe von Ländern mit großem Eifer Geld und Ausrüstung an improvisierte Stellvertreter geben, deren egoistische und manchmal sektiererische Agenda die erodierenden staatlichen Institutionen weiter zerstört und die sozialen Verwerfungen noch verstärkt; wachsende Unterdrückung bürgerlicher Freiheiten und Ermächtigung rückwärtsgewandter (aber formal säkular orientierter) Machtstrukturen. Bei solchen Feinden braucht der ,Islamische Staat‘ fast keine Freunde. […] Während die Region sich organischen, kommunitaristischen Führungsstrukturen öffnet, macht der Westen alles nur noch schlimmer. Statt eine strategische Langzeitperspektive einzunehmen, sah er bei einigen Formen von Gewalt genauer hin als bei anderen, ordnete die verschiedenen Akteure willkürlich in eine moralische Hierarchie ein und bot jenen Kräften politische Unterstützung und militärische Hilfe, die zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. Der Westen billigt den Aufstieg proiranischer schiitischer Milizen entweder ausdrücklich oder unwissentlich; er militarisiert die kurdischen Splittergruppen, die in zahlreiche andere Konflikte in der Region verwickelt sind, und lässt den schon jetzt entsetzlichen Konflikt in Syrien wei25

Said, 2015: 190 f.

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ter eskalieren, indem Stellungen der Dschihadisten angegriffen werden und das Assad-Regime halbherzig rehabilitiert wird. Es ist schon schlimm genug, dass keine langfristigen Ziele abgesteckt wurden, hinzukommt, dass keine einzige dieser Kurzschlussreaktionen auch als solche durchschaut wurde. Man hat den Eindruck, dass jedes neue Problem westliche Regierungen von früheren Problemen ablenkte. Die Verwirrung des Westens hat da, wo er eine stabilisierende Rolle spielen sollte, das Leid in der Region verschlimmert. Der ,Islamische Staat‘ ist das Produkt der halbgaren Politik des Westens und anscheinend auch die Notausstiegsluke, durch die er den Folgen dieser Politik entkommen will.“26

Pointiert heißt das aus Sicht der meisten der hier annoncierten Titel nicht weniger, als dass der westliche Antiterrorfeldzug ein riesiger dschihadistischer Erfolg ist. Er hat aktiv jene ideologischen und logistischen Infrastrukturen und staatlichen Vakua begünstigt, ohne die alle fundamentalistischen Kalifatsfantasien, statt blutige Realität zu werden, geblieben wären, was sie vor noch wenigen Jahren gewesen waren: utopische Propaganda versprengter und militärisch unerfahrener Religionsromantiker. Vor diesem Hintergrund, dies zum Schluss, beobachten wir in gleich mehreren Titeln zum Thema plötzlich sogar einen erklärenden Rückgriff auf eine eigengeschichtliche, also nicht reflexhaft und feindselig abwehrende Assoziation: den Spanischen Bürgerkrieg.27 „Ideologisch inspiriertes politisches Abenteuertum ist kein neues Phänomen“, schrieb jüngst sogar noch der New Yorker Geisteswissenschaftler Mark Lilla. Man fühle sich beim Dschihadismus „an die internationalen Brigaden erinnert, die im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner kämpften. Und an demokratische Sozialisten wie George Orwell, die bald feststellen mussten, dass ihre Kameraden fanatische Anhänger der Sowjetdiktatur waren mit der Mission, den demokratischen Sozialismus in Spanien zu sabotieren, wenn nötig durch Mord, um eine kommunistische Revolution anzuzetteln.“28 Literatur Birke, Sarah/Harling, Peter (2015): Der „Islamische Staat“ hinter den Spiegeln. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 69, S. 38 – 50. Fischer, Karsten (2006): Arbeit an der Apokalypse: Zur Begriffsbestimmung von „Fundamentalismus“. In: Berliner Journal für Soziologie, 16, S. 429 – 440. Hanne, Olivier/Flichy de la Neuville, Tomas (2015): Der Islamische Staat: Anatomie des Neuen Kalifats. Berlin: Vergangenheitsverlag. Hegghammer, Thomas (2010/11): The Rise of Muslim Foreign Fighters: Islam and the Globalization of Jihad. In: International Security, 35, S. 53 – 94. Hermann, Rainer (2015): Endstation Islamischer Staat? Staatsversagen und Religionskrieg in der arabischen Welt. München: dtv. 26

Birke/Harling, 2015: 43 f., 47 f. U. a. Said, 2015: 109 ff.; unter Bezug auf ihn nun auch Münkler, 2015: 286 f. 28 Lilla, 2015: 13. 27

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Huhnholz, Sebastian (2010): Dschihadistische Raumpraxis: Raumordnungspolitische Herausforderungen des militanten sunnitischen Fundamentalismus. Berlin: LIT. – (2011): Das Spannungsverhältnis von Dschihadismus- und Terrorismusanalyse in Wissenschaft und Sicherheitspolitik der BRD. In: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Sonderheft, 4, S. 203 – 227. – (2012): Dschihadismus und Territorialität: Eine politiktheoretische Perspektive auf Ursachen, Bedingungen und Folgen fehlenden Territorialdenkens im militanten sunnitischen Fundamentalismus. In: Kleinschmidt, Jochen et al. (Hrsg.): Der terrorisierte Staat: Entgrenzungsphänomene politischer Gewalt. Stuttgart: Steiner, S. 189 – 216. Kuhlmann, Jan (2015): Die Verantwortung des Westens. Aufgerufen unter http://www.deutschlandradiokultur.de/ursachen-des-is-terrors-die-verantwortung-des-westens.1270.de.html? dram:article_id=321197 [Stand: 30. Juni 2015]. Kulow, Karin (2014): IS-Kalifat: Zivilisatorische Herausforderung und sicherheitspolitische Bedrohung. In: WeltTrends, 22, S. 79 – 84. Lilla, Mark (2015): Der hemmungslose Geist: Die Tyrannophilie der Intellektuellen. Aus dem Englischen von Elisabeth Liebl. München: Kösel. Lüders, Michael (2015): Wer den Wind sät: Was westliche Politik im Orient anrichtet. München: C.H. Beck. Napoleoni, Loretta (2015): Die Rückkehr des Kalifats: Der Islamische Staat und die Neuordnung des Nahen Ostens. Zürich: Rotpunkt-Verlag. Osten-Sacken, Thomas von der (2015): Die guten Bösen?: Mit der Islamischen Republik gegen den Islamischen Staat. In: Biene, Janusz/Schmetz, Martin (Hrsg.): Kalifat des Terrors: Interdisziplinäre Perspektiven auf den Islamischen Staat (Sicherheitspolitik-blog ebook). Frankfurt am Main: o.V., S. 71 – 76. Reuter, Christoph (2015): Die schwarze Macht: Der „Islamische Staat“ und die Strategen des Terrors. München: DVA. Said, Behnam T. (2015): Islamischer Staat: IS-Miliz, al-Qaida und die deutschen Brigaden. München: C.H. Beck. Said, Behnam T./Fouad, Hazim (Hrsg.) (2014): Salafismus: Auf der Suche nach dem wahren Islam. Freiburg im Breisgau: Herder. Steinberg, Guido (2015): Kalifat des Schreckens: IS und die Bedrohung durch den islamistischen Terror. München: Knaur. – (2014): Al-Qaidas deutsche Kämpfer: Die Globalisierung des islamistischen Terrorismus. Hamburg: Körber Stiftung.

Ein Warnschuss für den Westen: Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“1 Von Barbara Zehnpfennig Dass Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ just an dem Tag des Attentats auf Charlie Hebdo erschien, war ein grausamer Zufall; denn in dem Frankreich, das er in seinem Buch zeichnet, haben die Auseinandersetzungen zwischen muslimischen Immigranten und einheimischer Bevölkerung bereits gewaltsame, um nicht zu sagen: bürgerkriegsähnliche Formen angenommen. Der Kampf wird mit Kriegswaffen ausgetragen, doch die Presse berichtet darüber nicht. Wenn in der Ferne Gewehrsalven zu hören sind und von der Place de Clichy Rauchwolken aufsteigen, nehmen die im Umkreis Lebenden das wohl wahr, ihre Regierung jedoch verschweigt, welches Ausmaß der Hass der Bevölkerungsgruppen aufeinander schon angenommen hat. Das Versagen der Politiker ist allerdings nur ein Aspekt eines viel weiterreichenden Versagens: Für Michel Houellebecq kommt in dem Szenario, das sein Roman beschreibt, eine ganze Kultur an ihr Ende. Was den Stolz besonders Frankreichs, aber auch der restlichen westlichen Welt ausmachte, ihre Durchsetzung der Werte der Aufklärung, des Laizismus, der Republik – all das hat sich überlebt, verbraucht, es trägt die Existenz der Menschen nicht mehr. Eine ermattete, ihrer selbst überdrüssig gewordene Kultur hat nicht mehr die Kraft, sich der Macht des auf sie eindringenden Islam zu erwehren. Und dieser weiß die Macht auf eine Weise zu erringen, die den von ihm Überwältigten nicht einmal das Gefühl eines Verlustes übrig lässt. Es handelt sich um eine Unterwerfung, die glücklich macht – das ist das Erschreckendste in Houellebecqs Konstruktion einer nicht allzu weit entfernten Zukunft. Ein Zeugnis von Islamophobie, wie ihm immer wieder unterstellt wurde, ist dieser Roman nicht. Vielmehr rechnet Michel Houellebecq mit seiner eigenen Kultur ab, die an ihren unerfüllten Verheißungen, ihren inneren Widersprüchen, letztlich an ihrer Transzendenzlosigkeit zugrunde geht. Denn das ist das große Thema dieses Romans: Kann eine Kultur überleben, die Gott abgeschrieben und den Menschen damit ganz auf sich selbst zurückgeworfen hat? Houellebecqs Antwort ist – überraschend für einen Agnostiker – eindeutig: Eine solche Kultur ist dem Untergang geweiht, weil sie im Grunde nicht an sich selbst glaubt. „Transzendenz (ist) ein selektiver Fortpflanzungsvorteil“ (61). In einer religiös orientierten Gesellschaft sind Hedonismus 1 Über: Michel Houellebecq: Unterwerfung. (Übersetzung von Norma Cassau und Bernd Wilczek). DuMont Buchverlag, Köln 2015, 280 S.

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und Individualismus keine dominanten Verhaltensmuster; das steigert die Bereitschaft, Kinder in die Welt zu setzen. Eine glaubenslose Kultur schafft sich dagegen bereits biologisch ab. Das sind starke Thesen, und auch wenn der Autor sie verschiedenen Protagonisten in seinem Roman in den Mund legt, steht doch außer Zweifel, dass er ihnen Gewicht beimisst. Besonders trostlos wirkt sein Sittenbild, das zwar speziell auf Frankreich zugeschnitten ist, aber doch den Westen insgesamt meint, weil es innerhalb der westlichen Kultur keinerlei Kräfte der Erneuerung oder Genesung erkennen lässt. Es ist eine Krankheit zum Tode, die den Westen in Houellebecqs Augen befallen hat, und das vermeintliche Heilmittel, die Unterwerfung unter den Islam, ist tatsächlich nur das Palliativ für ein unausweichliches, schmerzgedämpftes Ableben. Houellebecq verlegt das Geschehen seines Romans in eine sehr nahe Zukunft, 2022, und so kommt einem ein Teil des genannten politischen Personals wie z. B. François Hollande, Manuel Valls oder Marine le Pen sehr bekannt vor. Diese Verquickung von Realität und Fiktion macht den Roman umso brisanter, denn die geschilderten Entwicklungen erscheinen dadurch weniger utopisch, weniger realitätsfern. So könnte es tatsächlich kommen, will der Autor dem Leser suggerieren. Ob man sich von seinem Pessimismus anstecken lässt, ist ein Prüfstein für den eigenen Glauben an die Wehrhaftigkeit der westlichen Kultur.

Der Held des Romans Der Ich-Erzähler des Romans, François, ist ein Suchender, der nicht glaubt, dass es da etwas zu finden geben könnte. Boshafterweise legt Houellebecq ihn als Literaturprofessor an, der sein tristes Dasein dem Autor Huysmans gewidmet hat, in dessen eigener letztlich vergeblicher Sinnsuche sich die Existenz seines professoralen Interpreten spiegelt. Boshaft ist diese Konstruktion, weil sie sinnbildlich für die Universität im Ganzen stehen soll. „Das Studium im Fachbereich Literaturwissenschaften führt bekanntermaßen zu so ziemlich gar nichts außer – für die begabtesten Studenten – zu einer Hochschulkarriere im Fachbereich Literaturwissenschaften.“ Es handelt sich also um ein autopoietisches System im strengsten Sinne, es ist eine hermetische Welt, die nichts Sinnvolles hervorbringt und nur um die eigene Reproduktion kreist. Die „über 95 Prozent Ausschuss“ an Absolventen „nimmt man in Kauf“ (13). Und so zeichnet Houellebecq auch nahezu das gesamte Personal dieser hermetischen Einrichtung als Sammelsurium trauriger Gestalten, die sich immer brennend für inneruniversitären Klatsch und neue Stellenbesetzungen, aber überhaupt nicht für die brennenden Probleme ihrer Gesellschaft und für Politik interessieren. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die Universität als eine der ersten Bastionen fällt, als die neue islamische Regierung an die Macht kommt. Houellebecq hat laut eigener Aussage nie eine Universität besucht. Aber er weiß sich einzufühlen. Ebenso wenig politisch denkend wie sein akademisches Umfeld, fristet der IchErzähler seine sinnlose, aber anständig alimentierte Existenz damit, die ungeliebte

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Lehrverpflichtung abzudienen, sich unter den Studentinnen jedes zweite Semester eine neue Geliebte zu suchen und seine abgestumpften Empfindungen durch das Ausleben seiner sexuellen Obsessionen sowie durch Alkohol und Tabak zu reizen. Seine wesentliche akademische Leistung war die Dissertation über Huysmans; seitdem hat er nicht mehr viel zustande gebracht. Das genügte aber für die Berufung an die Universität, und mit dieser Leistungsbilanz steht er unter den Kollegen sogar noch relativ gut da. Dass Houellebecq seinen Helden die Flucht in Sex und Alkohol antreten lässt, ist bezeichnend. Beides ist Ersatz für die eigentlich angestrebte Transzendenzerfahrung, beides ist der Versuch, die engen Grenzen des Ichs zumindest zeitweise zu überschreiten. Denn dass der Individualismus, einer der Kernbestände der abendländischen Kultur, jenes Glück ermöglicht, das man ihm zuschrieb, verneint Houellebecq im Roman vehement. Hier erscheint der Individualismus primär als Zerstörer gesellschaftlicher Strukturen, und das Wort, das das Buch geradezu leitmotivisch durchzieht, ist „Einsamkeit“. So lebt der Ich-Erzähler also dahin, zurückgeworfen auf sich selbst, zurückgeworfen auch auf seinen allmählich alternden Körper, dem umso größeres Gewicht zukommt, je geringer die seelische und emotionale Erfüllung ist. In einem solchen Dasein sind, wie der Erzähler ironisch bemerkt, „die beiden wichtigsten Ansprechpartner […], die dem Leben eines Menschen Struktur geben: Krankenversicherung und Finanzamt“ (154). Am Rande bekommt der Held des Romans mit, dass die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen immer härter werden. Spätestens als seine jüdische Freundin Myriam das Land verlässt und nach Israel geht, weil sie sich in Frankreich nicht mehr sicher fühlt, merkt er, dass die Einschläge näherkommen. Seine Reaktion ist sicher nicht nur für ihn typisch. Bisher hatte er nach dem Motto: „Nach mir die Sintflut“ gelebt. Nun aber „war es das erste Mal, dass mich ein unbehaglicher Gedanke durchfuhr: Was, wenn die Sintflut vor meinem Tod käme?“ (63) Und in der Tat wird der mit dem Leben hadernde Literaturprofessor nun in den Strudel der Ereignisse hineingerissen. Er begegnet einem Aktivisten der identitären Bewegung, der die Lage zum Bürgerkrieg eskalieren lassen will, einem Geheimdienstmitarbeiter, dessen Erkenntnisse die noch bestehende Regierung nicht interessieren, und nach dem Regierungswechsel dem neuen, zum Islam konvertierten Rektor, dessen Charisma sein strategisches Denken gut tarnt. In diesen Figuren zeichnet Houellebecq die politische Entwicklung des Landes nach. Die innere Entwicklung des Helden korrespondiert dem nicht, denn der äußeren Dynamik entspricht in seinem Inneren nichts. Seine halbherzigen Versuche, ähnlich wie sein trauriges Vorbild Huysmans zum Katholizismus zu finden, scheitern an seiner Unfähigkeit zur Hingabe: Hingabe ist das christliche Modell (vgl. 194). So bleibt am Ende statt der Hingabe nur die Unterwerfung, die islamische Variante des Verhältnisses zu Gott.

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Die politische Lage Houellebecqs Begeisterung für die liberale Demokratie hält sich ganz offensichtlich in Grenzen. Denn sein Protagonist kann den westlichen Stolz auf das demokratische Wahlsystem nicht verstehen, ist dies „doch nicht mehr als die Aufteilung der Macht zwischen zwei rivalisierenden Gangs“. In Frankreich wechselten sich bisher Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Regierungen ab, ein Spiel, das zunehmend den Überdruss der Bürger hervorruft. Dass die Kluft zwischen etablierter Politik und dem Leben der Menschen immer größer wird, zeigt sich am Erstarken des Front National. Die mögliche Wiederwahl eines linken Präsidentschaftskandidaten in einem „immer unverhohlener rechts denkenden Land“ (43) verweist auf die inneren Widersprüche eines Systems, das verbraucht ist und sich zudem einem neuen Herausforderer gegenübersieht: der neu gegründeten Partei der „Bruderschaft der Muslime“. Zwischen den Anhängern dieser (fiktiven) französischen Variante der Muslimbruderschaft und den Anhängern des FN spielen sich die eigentlichen gesellschaftlichen Kämpfe ab, und das etablierte Parteiensystem reagiert darauf ebenso selbstsüchtig wie hilflos. Wie Houellebecq den Ablauf der nun folgenden Präsidentschaftswahlen schildert, verrät viel über seine Verachtung für die politische Klasse, es verrät aber auch ein Gespür für die aktuelle politische Gemengelage und die in ihr lauernden Gefahren. Der charismatische Führer der „Bruderschaft der Muslime“ Mohammed Ben Abbes vertritt bewusst einen moderaten Islam. Es wird kein harter antisemitischer Kurs gefahren, die Palästinafrage wird nicht radikal beantwortet, das Existenzrecht anderer Religionen nicht bestritten. Massenzulauf erhält die Partei durch Kultur- und Wohlfahrtseinrichtungen, wie sie nach dem Vorbild der Kommunistischen Partei überall im Land etabliert werden. Das alles beschert der Partei in kurzer Zeit so viele Stimmen, dass sie nur knapp hinter den Sozialisten liegt. Unangefochten an der Spitze aber liegt der Front National. Interessant ist nun die Reaktion auf gesellschaftlicher und politischer Ebene. Die Leisetreterei der etablierten Parteien führt in Teilen der Gesellschaft zu einer Radikalisierung. Von Seiten radikaler Salafisten gerät die Bruderschaft unter Beschuss, weil ihnen der Anpassungskurs der Bruderschaft zu weit geht. Von Seiten der Identitären, einer tatsächlich in Frankreich und inzwischen auch andernorts existierenden rechtsextremen und völkischen Gruppierung, geraten die anderen Parteien unter Beschuss, weil sie der schleichenden Islamisierung, aber auch der Kolonialisierung Frankreichs durch einen weltweit operierenden Kapitalismus nichts entgegenzusetzen haben. Für die Identitären ist der Bürgerkrieg zwischen „Ureinwohnern“ und muslimischen Immigranten unvermeidlich, und je früher es dazu kommt, desto besser. Deshalb besteht eine identitäre Strategie darin, die Armee zu infiltrieren, um sie entsprechend ideologisch umzupolen. Eine direktere Strategie ist die Provokation anti-islamischer Ausschreitungen, welche die Spirale der Gewalt antreiben. Einer solcherart politisierten, radikalisierten Gesellschaft steht in Houellebecqs Roman nun ein Parteiensystem gegenüber, in dem es primär darum zu gehen scheint,

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auch in zunehmend ungemütlicher werdenden Zeiten sein Schäfchen ins Trockene zu bringen. In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen liegt Marine le Pen vom FN weit vor den anderen Amtsanwärtern; der muslimische Kandidat Ben Abbas aber ist knapp an dem sozialistischen Kandidaten vorbeigezogen. Damit besteht erstmals die Situation, dass die Parteien, die bisher die Beute unter sich aufteilten, aus dem Rennen ausgeschieden sind. Nun kommt alles darauf an, welche Wahlempfehlung die konservative UMP und die Sozialistische Partei ihren Wählern für die zweite Runde der Wahl geben werden. Im Endergebnis zeigt sich: Allen ist es wichtiger, den Front National zu verhindern, als den Weg zu einer islamischen Regierung zu blockieren. Die Konservativen sind zu schwach, um bei einem Bündnis mit dem FN nicht von diesem geschluckt zu werden; außerdem könnten sie ihren Wählern das Umschwenken zu einem antieuropäischen Kurs nicht plausibel machen. Die Sozialisten wiederum hindert ihr Mantra-artig vorgetragener Antirassismus daran, gegen den islamischen Kandidaten Stellung zu beziehen, und ihre Aversion gegen die Rechte ist stärker als ihre Treue zum Laizismus. So kommt es zu dem Ungeheuerlichen – der Bildung einer „republikanischen Front“. Sozialisten, Konservative und Liberale schließen sich zusammen, um den Kandidaten der Bruderschaft zu unterstützen, und bekommen zur Belohnung einen Anteil an den zu vergebenden Ministerien. Heimlich, still und leise fällt die westliche Demokratie in sich zusammen. Denn dass die islamische Legalitätstaktik zu einer grundstürzenden Veränderung des Systems führt, ist offensichtlich. Doch diejenigen, die für dieses System standen, können sich auch mit einem anderen arrangieren, sofern sie nicht auf ihre Vorteile verzichten müssen. Houellebecqs Roman kennt keine Charaktere mit echten Überzeugungen. Das islamische Programm Der neue französische Präsident heißt also Ben Abbas, und als Zeichen seiner Liberalität setzt er François Bayrou als Premierminister ein – ein Politiker, der sich bisher vor allem durch die Kombination von „Dämlichkeit“ (131) und Machtwillen hervorgetan hat und insofern die Rolle des nützlichen Idioten zuverlässig spielen wird. Da Bayrou über besonderen Rückhalt bei der katholischen Wählerschaft verfügt – die Houellebecq nicht als ihrerseits dämlich, sondern nur als durch Bayrous Dämlichkeit beruhigt darstellt –, kann Abbas die Berufung Bayrous als Symbol des neuen Humanismus benutzen, den er vertritt: der Islam als die eigentlich integrierende Kraft, nachdem der laizistische Humanismus nur zu Hyperindividualisierung und gesellschaftlicher Spaltung geführt hat. Besonders maliziös ist Houellebecq bei der Schilderung der Verhandlungen, die die Sozialisten mit dem neuen Präsidenten führen, bevor sie sich zu seiner Unterstützung entschließen. In der Wirtschafts- und Steuerpolitik gibt es kaum Differenzen, und auch bei der Sicherheitspolitik stellen sich die Sozialisten nicht quer, weil die Bruderschaft es besser als sie versteht, in dem zerrissenen Land Ruhe und Ordnung

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zu schaffen. Die entscheidenden Differenzen tun sich in der Bildungspolitik auf, für die Linke ein zentrales Feld, weil die Lehrer immer verlässliche Links-Wähler waren. Hier ist Abbas unnachgiebig, denn er setzt auf die Demographie: „Wer die Kinder unter Kontrolle hat, der hat die Zukunft unter Kontrolle und Schluss.“ (72) Und da die demographische Entwicklung den Muslimen in die Hände spielt, kann Abbas leicht auf Innen- und Finanzministerium verzichten; das ist alles nicht so wichtig. Wichtig ist, die Kinder von Anfang an richtig einzunorden. Die Sozialisten geben nach, weil sie das in ihren Augen zentrale Feld „Wirtschaft“ behalten. Die UMP wiederum „hat dem Bildungsministerium ohnehin nie viel Bedeutung beigemessen“ (126), für sie ist die Übernahme des Bildungssystems durch die Bruderschaft kein Problem. Da sie durch das Erstarken des Front National auf dem absteigenden Ast ist, ist sie in allem äußerst kompromissbereit, solange sie nur an der Regierung beteiligt wird. Die größte Schwierigkeit für die etablierten Parteien ist in Houellebecqs Roman nicht die Machtübernahme des Islam, sondern die Tatsache, dass sie nun miteinander koalieren müssen. Houellebecqs Bild der Funktionsweise des liberalen Systems ist mehr als düster. Es gibt keine Werte, die sakrosankt wären. Es gibt nur Interessen – von wem immer diese bedient werden. Dass die Stimmen der Wähler jedoch nur in einem Kampf der Werte zu gewinnen sind, ist dem Führer der Bruderschaft klar, und so passt er sein eigenes Programm geschmeidig den bestehenden Kräfteverhältnissen an. (132) Mit Besuchen im Vatikan bezeugt er seine religiöse Offenheit, auf den Rechtsruck im Land reagiert er, indem er das islamische Programm sozusagen als den Retter traditioneller Werte ausgibt: Die Scharia wird in seiner Darstellung zur Bewahrerin der Moral, der Familie, des Patriarchats. Sich zu Letzterem zu bekennen, traut sich nicht einmal der Front National, weil er dann sofort von den letzten noch vorhandenen Achtundsechzigern, die sich in den Medien verschanzt haben, als faschistoid gebrandmarkt würde. Gegen Abbas aber wagt die Linke diesen Vorwurf nicht zu erheben, „gelähmt“ durch ihren „grundsätzlichen Antirassismus“ (133). Houellebecq konstruiert also einen islamischen Politiker, der die Schwachstellen der Konkurrenten zielsicher ausmacht und gnadenlos ausnutzt. Hinter der liberalen Fassade lauert ein Machtwille, der sich Großes vorgenommen hat – nicht nur eine fundamentale Veränderung der französischen Gesellschaft, sondern auch die Gründung eines neuen Reichs. Die Veränderung der französischen Gesellschaft setzt bei der Erziehung an: Die Koedukation wird abgeschafft, die Lehrer müssen sich zum Islam bekennen, die Regelschule umfasst nur noch den Primarbereich, endet also mit dem zwölften Lebensjahr. Der Sekundarbereich, so noch vorhanden, muss privat finanziert werden, wobei die großzügige Unterstützung entsprechender islamischer Schulen durch die ÖlMonarchien gesichert ist. In sozialpolitischer Hinsicht fällt zunächst die drastische Erhöhung der Familienzulagen ins Auge, finanziert durch die Verringerung des Bildungsetats. Dass der Preis für diese Zulagen das Ende der Erwerbstätigkeit von Frauen ist, stößt schon deshalb nicht auf großen Widerstand, weil durch das Ausscheiden

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der Frauen aus dem Erwerbsleben die Arbeitslosenquote massiv sinkt. Die Streichung staatlicher Subventionen für Großkonzerne, die Förderung von Familienunternehmen, die radikale Kürzung von Sozialleistungen unter Bezugnahme auf das aus der katholischen Soziallehre stammende Subsidiaritätsprinzip – all diese Maßnahmen legen im Grunde die Rückkehr zu einer vormodernen Gesellschaft nahe, in der die Familie der entscheidende Bezugspunkt ist, nicht der Staat. Dass Polygamie und Zivilehe, Scharia und liberales Rechtssystem nebeneinander bestehen sollen, suggeriert ein friedliches Nebeneinander der Kulturen. Doch Houellebecq hatte ja zuvor schon angedeutet, dass sich die Kräfteverhältnisse langfristig demographisch klären würden. Insofern lässt er keinen Zweifel, wohin sich die Waage künftig neigen wird. Die Kolonialisierung, die der Machtantritt von Abbas faktisch bedeutet, soll aber bei Frankreich nicht enden. Der Plan ist viel größer angelegt. Letztlich geht es um die Gründung eines neuen Rom. Der Hebel dazu ist die EU: Diese soll ihren Schwerpunkt nach Süden verlagern und durch die Aufnahme der Türkei, Marokkos, Tunesiens, Algeriens und schließlich Ägyptens jene schon von der Regierung Sarkozy verfolgte Mittelmeer-Union unter ihrem eigenen Dach verwirklichen. Auf die finanzielle Unterstützung dieser Pläne durch die Öl-Monarchien wird man, so das Kalkül, schon deshalb zurückgreifen können, weil diesen durchaus daran gelegen sein müsste, ihre gerade unter Glaubensbrüdern beargwöhnte Ausrichtung auf die USA allmählich durch die Kooperation mit einem immer stärker muslimisch werdenden Europa ersetzen zu können. Wenn dann noch das direktdemokratische Element in der EU gestärkt wird, steht einer Wahl von Abbas als erstem Präsidenten Europas nichts mehr im Wege. Sein Vorhaben, „den Sitz der Kommission nach Rom und den des Parlaments nach Athen zu verlegen“ (261) sowie der zarte Hinweis darauf, dass man durch den Zugewinn der Staaten aus dem Maghreb das Gewicht der französischen Sprache innerhalb der EU entscheidend aufwerten könnte, steigern die Aussicht auf die Umsetzung seines Plans erheblich. Im Roman kommt nicht ganz so klar zum Ausdruck, was Houellebecq in einem Spiegel-Interview sehr deutlich äußerte:2 Auch jener islamische Politiker Ben Abbas ist im Grunde ein Mensch ohne echte Überzeugungen, also ein Machtpolitiker. Wenn aber nicht einmal der Angriff auf die westliche Kultur aus dem Glauben an die Überlegenheit der eigenen Kultur erfolgt, was bleibt dann überhaupt noch übrig? Das neue Leben François, der so ganz unheldenhafte Held des Romans, bemerkt die Veränderung des Lebens nach Abbas’ Wahlsieg sehr schnell. Die Sorbonne wird jetzt von SaudiArabien finanziert und lässt nur noch zum Islam konvertierte Professoren zu, aber natürlich keine weiblichen; das übliche Gesindel ist von der Straße verschwunden, 2

134.

„Ich weiß nichts“. Interview mit Michel Houellebecq, in: Der Spiegel, 10, 2015: 126 –

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weil die neue Regierung für Zucht und Ordnung sorgt; im Supermarkt hat die koschere Abteilung geschlossen; die Frauen laufen in sackartigen Gewändern herum. Sehr auffallend ist im Roman das gänzliche Ausbleiben eines feministischen Protestes gegen die Verbannung der Frau ins Haus und den Zwang zur Verhüllung aller aufreizenden Körperteile. Doch in besagtem Spiegel-Interview hatte Houellebecq die Befreiung der Frau auch als „weichen Fortschritt“ bezeichnet, der weder ein einheitliches Narrativ hervorgebracht habe noch unumkehrbar sein müsse. Vor allem in der feministischen Erklärung der Mutterschaft als Instrument patriarchalischer Herrschaftssicherung sieht der Autor eine Schwachstelle, nämlich die Schwachstelle des fehlenden Willens zur Reproduktion – auch der Reproduktion feministisch denkender Frauen. Insofern ist das Ausbleiben eines organisierten Protestes der Frauen konsequent. Houellebecq glaubt einfach, dass die Unterwerfung unter den Islam alles andere dominieren würde. „Der Mensch ist Gott unterworfen und die Frau dem Mann. Punkt, Schluss, aus.“3 Im neu aufgelebten Patriarchat hält sich der Mann für die eigene Unterwerfung schadlos, indem er seinerseits die Frau unterdrückt. François hat nun die Wahl, seine sofortige Pensionierung zu akzeptieren und, obwohl er eigentlich noch zwanzig Jahre arbeiten müsste, die volle Pension zu kassieren – die Saudis sind sehr großzügig. Oder er konvertiert zum Islam, bezieht das Dreifache seines bisherigen Gehalts und erhält eine repräsentative Wohnung sowie darüber hinaus Hilfestellung bei der Vermittlung passender Ehefrauen, dies natürlich im Plural. Die Entscheidung wird befördert durch die Begegnung mit dem neuen, charismatischen Rektor der Sorbonne, Robert Rediger. Dieser residiert in einem historischen Stadtpalais, verfügt über eine vierzigjährige Ehefrau, die für die Zubereitung köstlicher Speisen zuständig ist, eine gerade 15 Jahre alt gewordene Ehefrau für andere Zwecke und eine Bibliothek, die ihn als Kenner der westlichen wie der östlichen Kultur ausweist. Vor allem aber weiß er den Atheisten François durch seine Sicht des Kosmos zu beeindrucken. Für Kant ist der kosmologische Gottesbeweis nicht überzeugend. Redigers Begeisterung für die Schönheit, Gesetzmäßigkeit und unfassbare Ausdehnung des Weltalls, die sich nicht dem Zufall, sondern nur einer planenden Vernunft verdanken könne, hinterlässt aber tiefen Eindruck auf den immer noch um einen Lebenssinn ringenden Literaturprofessor. Es ist am Ende nicht ganz klar, was für die Konversion ausschlaggebend ist – die Großartigkeit des Kosmos oder die Aussicht auf ein trautes Heim mit treusorgenden Ehefrauen und verlässlicher kulinarischer und sexueller Versorgung. Auf jeden Fall geht François am Ende den Weg, den bereits die ganze Gesellschaft, allen voran aber seine rückgratlose Kollegenschaft gegangen ist: Er entschließt sich, sich einer Religion zu unterwerfen, die die Unterwerfung schon im Namen trägt. Besonders deprimierend aber ist das Schlussresümee: „Ich hätte nichts zu bereuen.“ (271)

3

Ebd.: 134.

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Religion und Politik Für Houellebecq ist der Islam, anders als das Christentum, eine politische Religion; ein Herrschaftsanspruch ist ihm wesenseigen. Im Roman macht Houellebecq das Christentum für die Verfallsgeschichte des Westens mitverantwortlich: Der christliche Humanismus, der Gott Mensch werden ließ, führt zu einer Überschätzung des Menschen; der christliche Rationalismus trägt zur Entzauberung der Welt bei; der christliche Vorbehalt gegenüber dem Weltlichen verhindert eine uneingeschränkte Bejahung der Schöpfung. Indirekt erscheint so das Christentum als Grund seiner eigenen Abschaffung – sein rationalistischer Humanismus bereitet den Laizismus de facto schon vor, und eine von Gott getrennte Gesellschaft muss an ihrem hypertrophen Anspruch scheitern, den Menschen an die Stelle Gottes treten zu lassen. Die spirituelle Leere, an der die westlichen Gesellschaften kranken, bildet ein Einfallstor für problematische Sinnangebote. Auf jeden Fall, so Houellebecqs Darstellung, mindert sie die Abwehrbereitschaft gegenüber einer Religion, die mit ihren klaren Hierarchien, ihrer sehr viel geringeren Anforderung an individuelle Entscheidungen und ihrem Einverständnis mit der Welt, wie sie ist, durchaus eine verlockende Alternative zu Atheismus oder Agnostizismus darstellt. Um die vereinzelten Menschen, so der Rektor der „Islamischen Universität Sorbonne“ im Roman, miteinander in Verbindung zu bringen, genüge der Bezug untereinander nicht. Es bedürfe des Wechsels auf eine höhere Ebene: Nur in Bezug auf ein Drittes, auf Gott, ließe sich die Gesamtheit der Individuen auch untereinander verbinden. Der westliche Individualismus hat diese Wahrheit vergessen und dafür einen hohen Preis gezahlt: Einsamkeit und Leere. Wie ist Houellebecqs düstere Diagnose der westlichen Kultur und sein Szenario einer nahen Zukunft, in der die Menschen die ihnen unbequem gewordene Freiheit freiwillig aufgeben, nun einzuschätzen? Naheliegend ist natürlich, diesen Roman als eine weitere Variante des „Untergangs des Abendlandes“ abzutun. Allerdings hat der Autor dem schon auf ironische Weise vorgebeugt, indem er den Rektor der Universität seine Bekehrung zum Islam auf dem intellektuellen Untergrund der Theorien von Toynbee, Darwin und Nietzsche vollziehen lässt. Tatsächlich sind es real vorhandene Wunden, in die Houellebecq mit seinem Roman den Finger legt: Eine durch und durch permissive Gesellschaft tut sich schwer, ihre Toleranz einzuschränken, selbst wenn es sich um ihre Gegner handelt. Der als Egoismus ausgelegte Individualismus hat irgendwann den Zynismus in seinem Gefolge: Nichts ist mehr heilig. Die von der Demokratie versprochene Gleichheit ist eine Fiktion – gerade in Frankreich gibt es starke Pauperisierungstendenzen –, und die von ihr gewährte Freiheit stellt für viele eine Überforderung dar. Gegenüber einer Kultur, die den eigenen Werten misstraut und sie nicht mehr offensiv zu vertreten bereit ist, ist eine Kultur, die ihre Defizite gegenüber dem Westen im wissenschaftlich-technischen Bereich durch den Glauben an die eigene moralische Überlegenheit zu übertrumpfen versteht, klar im Vorteil. Es könnte tatsächlich einmal auf

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einen Kampf hinauslaufen, der Islam sieht nur eine Möglichkeit vor, das „Haus des Friedens“ zu errichten: wenn alles unter islamischer Herrschaft steht. Und doch möchte man Houellebecq, so treffend viele seiner Beobachtungen auch sind, so scharf er die aktuelle Problemlage auch zu analysieren weiß, nicht vorbehaltlos zustimmen. Noch ist der Westen nicht am Ende, noch ist das politische System nicht einfach auf einen eingespielten Mechanismus der Verteilung von Beute an rein machtpolitisch denkende Parteien zu reduzieren. Auch das Christentum hat starke Kräfte der Regeneration, wie Houellebecq in dem Spiegel-Interview selbst eingestand. Dass die westlichen Werte etwas sind, das es zu bewahren lohnt, für das es sich auch zu kämpfen lohnt – dieses Bewusstsein bedürfte allerdings der Bestärkung. Vielleicht trägt Houellebecqs Buch ja dazu bei, indem es zeigt, was passiert, wenn ein Wertesystem von Menschen verteidigt werden soll, die seine Wohltaten durchaus genießen, seine Anforderungen aber von sich weisen.

IV. Rezensionen

Rezensionen

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Grit Straßenberger: Hannah Arendt zur Einführung, Junius Verlag, Hamburg 2015, 208 S. Die Taschenbuchreihe des Junius Verlages, die dem Ziel dient, in das Denken bedeutender Autoren einzuführen, bietet mittlerweile unverzichtbare Fachliteratur für verschiedenste akademische Disziplinen. So profitieren Politikwissenschaft, Soziologie, Philosophie, Pädagogik, Psychologie und Literaturwissenschaft von den profunden Einführungsbüchern, die verständlich geschrieben sind, ohne dabei die vorgestellten Denker simplifizierend unter Niveau abzuhandeln. Das Buch „Hannah Arendt zur Einführung“, das die an der Berliner Humboldt-Universität lehrende Grit Straßenberger verfasst hat, folgt dem auflagenstarken Buch von Karl-Heinz Breier,1 welches in der ersten Auflage im Jahr 1992 im Junius Verlag erschienen ist. In dem vorgängigen Einführungsbuch wurde die politische Theoretikerin Hannah Arendt maßgeblich als republikanische Denkerin gedeutet, deren politisches Denken vor allem auf die Gründung und Bewahrung einer politischen Freiheitsordnung zielt. Diese – damals neue – Lesart, in der Arendt als „Anwältin des Politischen“ und ihre politische Wissenschaft als „Bürgerwissenschaft“ verstanden wird, hat sich, wie die Rezeptionsgeschichte der letzten 25 Jahre zeigt, im Wesentlichen durchgesetzt. Hannah Arendt gilt mittlerweile als Klassikerin innerhalb des neoaristotelischen Diskurses, in dem moderne Denker systematisch auf die griechische Polis sowie auf die römische Republik Bezug nehmen.2 Grit Straßenberger ist im Jahr 2005 mit ihrem Buch „Über das Narrative in der politischen Theorie“ als Arendtinterpretin fachwissenschaftlich in Erscheinung getreten. Sie hat detailliert aufgezeigt, dass Arendt die Frage nach dem Sinn von Theorie für ein Verständnis des Politischen unter den Bedingungen der Moderne neu aufgeworfen hat und dem landläufigen Vorwurf der Wirklichkeitsfremdheit der politischen Theorie auf originelle und originäre Weise begegnet ist.3 Vor diesem Hintergrund nimmt man mit fachlicher Neugierde die von Straßenberger neu geschriebene „Hannah Arendt zur Einführung“ in die Hände und fragt sich, welchen neuen Hinsichten auf das Werk von Arendt nun Raum gegeben wird. Zum Verstehen welcher bislang unverstandenen Aspekte sind die Leser eingeladen?4 „Hannah Arendt zur Einführung“ gliedert sich in fünf Kapitel, in denen entlang zentraler Topoi das Denken von Arendt zur Darstellung gebracht wird. Nach einer kurzen Einleitung, in der deutlich gemacht wird, dass Arendt primär „als politische Denkerin“ (13) in den Fokus gerückt wird, entfaltet Straßenberger im ersten Kapitel 1

Vgl. Breier, 2011. Vgl. Gutschker, 2002. 3 Vgl. Straßenberger, 2005: 7 ff. 4 Michael Oakeshott deutet das Verstehen als ein unablässiges Geschehen, das vom „bislang-noch-nicht-Verstandenen“ zum Verstehen läuft. So gesehen sind wir Menschen – als bedingte Wesen – stets zum Verstehen aufgefordert. „What distinguishes a theorist is his undistracted concern with the unconditional, critical engagement of understanding in which every understanding (be it ,fact‘ or ,theorem‘) is recognized as a not-yet-understood and therefore as an invitation to understand“ (Oakeshott, 1975: 2). 2

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unter der Überschrift „Das Phänomen der totalen Herrschaft und die Krise der Moderne“ den Zusammenhang von Arendts kritischer Zeitdiagnostik und ihrer Totalitarismusdeutung. Für Hannah Arendt ist angesichts der Ermordung von Millionen Menschen entschieden, „dass die abendländische Tradition politischen Denkens unwiderruflich an ihr Ende gekommen ist und man nach diesem im Totalitarismus offensichtlich gewordenen ,Traditionsbruch‘ das Politische ganz neu denken muss.“ (15) Folgen wir Arendt, so stellt der Totalitarismus einen ideengeschichtlichen Bruch dar, der es unmöglich macht, in den althergebrachten Begriffen und Bildern politisch weiterzudenken. Max Weber folgend, deutet Arendt die moderne Welt als eine „entzauberte Welt“, in welcher uns die tradierten Maßstäbe abhanden gekommen sind. Gleichwohl sind wir – als unser Selbst auslegende und unsere Welt verstehende Wesen – nicht dazu verurteilt, einem vernunftwidrigen Nihilismus anheimzufallen. Das Verstehen (16 f.) zielt als geistige Tätigkeit der Menschen – und darin dem Handeln ähnlich – darauf, einen verständigen Umgang mit der Kontingenz des eigenen Weltaufenthalts zu gewinnen. Verstehen ist, wie Straßenberger mit Arendt aufzeigt, etwas anderes als das Erkennen. Verstehen führt zu keinen endgültig gesicherten Ergebnissen, mündet in keinen zweifelsfreien Wissensbestand. Das Verstehen begleitet unser unentwegtes Werden in der Welt, das Ausdruck unserer geschichtlichen Existenzverfasstheit ist. In diesem Sinne zielt Hannah Arendt in ihrer Totalitarismusstudie nicht auf eine leidenschaftslose Beschreibung der Diktaturen des 20. Jahrhunderts, sondern die Denkerin möchte den sich in diesen Systemen vollziehenden Zivilisationsbruch verstehen. Das von Arendt zur Sprache gebrachte „Ich will verstehen“ dient der Wiederversöhnung mit den Untaten der Gewaltherrschaft und ermöglicht so ein verständiges Zurecht-Finden in der Welt der menschlichen Angelegenheiten. Das Wesen und das Prinzip der totalen Herrschaft (30 ff.) werden von Straßenberger entlang der einschlägigen Kapitel und Passagen aus dem Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ erörtert. Für die Leser wird einsehbar, dass Arendt im Anschluss an Montesquieu einen originären Beitrag zur Weiterentwicklung der klassischen Staatsformenlehre unternimmt. Terror und Ideologie sind die Prinzipien der modernen totalen Diktatur. Das Ziel der totalen Herrschaft ist es, die für das Politische konstitutive Pluralität der Menschen zu vernichten, indem alle Bürger in das eiserne Band der entfesselten Schreckensherrschaft gezwungen werden. Straßenberger zeigt auf, dass mit der Errichtung der Konzentrationslager, die Hannah Arendt als „Höhlen des Vergessens“ bezeichnet, die vollendete Sinnlosigkeit um sich greift. Aus dieser Deutungsperspektive ging es den Verbrechern nicht allein darum, die Opfer zu inhaftieren, zu foltern, ökonomisch auszubeuten und zu töten, sondern die Untaten zielten auch auf die endgültige Auslöschung der Personen, die keine Spuren in der Welt der Hinterbliebenen mehr hinterlassen. Im zweiten Kapitel „Was ist Politik? Grundelemente einer politischen Handlungstheorie“ kommen die zentralen Begriffe des politischen Denkens von Arendt zur Sprache. Hannah Arendt wird als Handlungstheoretikern verstanden, deren Denken sich vor allem um Freiheit, Handeln, Macht, die Autorität der Verfassung, die

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Tätigkeit des Versprechens und um die Verantwortung dreht. Dabei wird deutlich, dass der Rückbezug auf die antike Polis nicht als Ausdruck eines geschichtlichen Heimwehs zu verstehen ist. Arendt ist alles andere als eine Nostalgikerin der Polis (vgl. 61). Die griechischen Stadtstaaten und die römische Republik dienen als Exempel, an denen die Erfahrungen, welche die Menschen im Politischen machen können, zum Vorschein kommen. Im weltbezogenen Sprechen und Handeln der Menschen leuchtet die Einmaligkeit der Person auf. In der weltbezogenen Kommunikation wandeln wir uns existenziell gesehen vom Niemand zum Jemand. Wenden wir diese „performativitätstheoretische Annahme“ (62) in das Politische, so wird nachvollziehbar, dass jede politische Freiheitsgründung auf sinnstiftende und kontinuitätsverbürgende Erzählungen – politiktheoretisch gesprochen auf Narrationen – angewiesen ist. Insoweit es uns als Bürgern gelingt, die Gründungsakte der politischen Gemeinschaft sprachlich in Erinnerung zu rufen und in unserem politischen Handeln gegenwärtig werden zu lassen, festigen wir unser bürgerschaftliches Selbstverständnis und unsere politischen Institutionen. Im dritten Kapitel „Die republikanische Demokratie: Konturen der guten politischen Ordnung“ schließt Straßenberger an die vorherrschenden Interpretationen, in denen Hannah Arendt als republikanische Denkerin gedeutet wird, an. Sie zeigt auf, dass Arendt in vielerlei Hinsicht „nicht in das gängige demokratietheoretische Raster“ (91) passt, weil ihr politisches Denken quer zu den vorherrschenden Theorien liegt. „Trotz des grundsätzlichen Vorbehalts gegen die Demokratie und der immer wieder aufgezeigten Selbstgefährdungen demokratischer Ordnungen redet Arendt keineswegs einer Elitenherrschaft das Wort.“ (90) Straßenberger entfaltet gekonnt Arendts republikanisches Politikverständnis, das durchaus auf die Beantwortung der demokratietheoretischen Kernfrage gerichtet ist, „wie politische Freiheit unter Bedingungen demokratischer Gleichheit institutionell auf Dauer gestellt werden kann.“ (91) Deutlich wird in den Ausführungen, dass die Arendt’sche Konzeption des öffentlich-politischen Raums im politiktheoretischen Diskurs der Gegenwart eine wahrhafte Sonderstellung einnimmt. Öffentlichkeit ist weit mehr als eine Sphäre, in der Kritik an den Amtshandlungen der Regierenden geübt werden kann. Die Öffentlichkeit ist jener Existenzraum, in dem die Menschen als Bürgerinnen und Bürger in Erscheinung treten können und in dem – ganz im antiken Sinne – das agonale Streben nach Exzellenz, aber auch das Streben nach politischem Einverständnis ihren Ort haben. Straßenberger schafft es, die schillernde Vielschichtigkeit des Öffentlichkeitsverständnisses von Hannah Arendt zu entwickeln, begrifflich zu bestimmen und damit dem Leser zugänglich zu machen. „Das dramaturgische Öffentlichkeitskonzept umfasst demnach drei Dimensionen: die agonal-expressive Dimension der öffentlich sichtbaren Darstellung von Differenz, die kommunikativ-assoziative Dimension der gemeinsamen Beratung und Entscheidung und die narrativ-mnemotische Dimension der Erinnerung und Tradierung politischen Handelns.“ (100) Im vierten Kapitel „Das Risiko der Urteilskraft: Unterscheidungen in der Kritik“ widmet sich Straßenberger den Unterscheidungen, die Hannah Arendt als streitlustige Denkerin vollzogen hat. Dabei ist es fachlich wohltuend, dass Arendt in dem Ein-

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führungsbuch nicht als unantastbare Säulenheilige erscheint, deren Denkwege nicht kritisiert werden dürfen. Mit Bezug auf zeitgenössische Kritiker gelingt es Straßenberger aufzuzeigen, dass sich Hannah Arendt in ihren leidenschaftlichen Stellungnahmen durchaus auch politiktheoretisch verstiegen hat. Vor allem die Trennung des Sozialen vom Politischen – wie im Aufsatz „Reflections on Little Rock“ in aller Deutlichkeit klar wird – ist nicht plausibel und argumentativ nicht durchzuhalten. An dieser Stelle wird einsehbar, dass sich auch eine hochkarätige Denkerin wie Hannah Arendt im Labyrinth der menschlichen Lebenswelt verrennen kann. Die weiteren Textpassagen, die Straßenberger zitiert, zeigen die „Anwendungsprobleme“ (142) der von Arendt vollzogenen Distinktionen beispielhaft auf, ohne dabei Arendt insgesamt der philosophischen Unstimmigkeit zu überführen. Im fünften Kapitel „Kontroverse Rezeptionen“ kommen die unterschiedlichen Rezeptionsstränge in der Arendt-Forschung zur Sprache. Auch wenn Hannah Arendt im Interview mit Günter Gaus sagt, dass sie als Denkerin „an Wirkung nicht interessiert“ sei, so hat sie als politische Theoretikerin doch deutliche Spuren in der Geschichte des politischen Denkens hinterlassen. „Hannah Arendt ist mittlerweile auf dem besten Weg, zu einer Klassikerin politischen Denkens zu werden.“ (155) Grit Straßenberger erreicht es, in ihrem Einführungsbuch das politische Denken von Hannah Arendt anhand zentraler Topoi und systematisierender Oberbegriffe gut zusammenzufassen und so die Fülle des Vorgedachten gut zur Anschauung zu bringen. Größtenteils werden die Leser mit der argumentativen Stoßrichtung und den bedeutsamen Begriffen von Arendt vertraut gemacht. Die Einführung bereichert die gegenwärtige Literatur zum politischen Denken von Hannah Arendt. Gleichwohl stellen einige Abschnitte den ungeübten Leser, der mit dem Denken von Hannah Arendt und der Politischen Theorie insgesamt noch nicht oder wenig vertraut ist, vor beträchtliche hermeneutische Herausforderungen. Wo Karl-Heinz Breier im Vorgänger-Einführungsbuch mit Hannah Arendt gedacht und im politiktheoretischen Dialog mit der Denkerin dem Leser die Gedankenwelt zugänglich gemacht hat, wird im Buch von Grit Straßenberger vor allem eine Perspektive auf Hannah Arendt gewonnen, in welcher die Denkerin politiktheoretisch verortet wird. Die „originelle Weise“ (156), mit der Hannah Arendt die Konventionen bisherigen politischen Denkens überschreitet und bisweilen sprengt, gerät so auch schon einmal aus dem Blick. Insoweit Arendt in den Kontext gegenwärtiger Fachdiskussionen gestellt wird, dient dieses sicherlich dem Überblick über derzeitige Forschungsstände, schmälert jedoch die Frische und die Ursprünglichkeit des eigenständigen Denkens. Hannah Arendt wollte ihr politisches Denken als „Übungen“ im politischen Denken verstanden wissen, in welchen keine fertigen Wissensbestände präsentiert werden, sondern in denen die Erfahrung des Denkens selbst erlebt werden kann und soll. Philosophie ist – wie Hannah Arendt in ihrem „Denktagebuch“ festhält – „das freie Denken“5 und als solches eine eigenständige Praxis, die mehr ist als ein institutionalisiertes Denken, das auf den Raum der Uni5

Arendt, 2002a: 283.

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versität beschränkt wäre. Philosophie als freies Denken gehört zum Lebendigsein des Menschen. Im Denken bemühen wir uns um ein ursprüngliches Verstehen unserer Daseinssituation und unternehmen den Versuch einer verständigen Ortsbestimmung. „Ich selber wirken? Nein, ich will verstehen. Und wenn andere Menschen verstehen – im selben Sinne, wie ich verstanden habe –, dann gibt mir das eine Befriedigung wie ein Heimatgefühl.“6

Gegen vielgestaltige Entfremdungs- und Verlassenheitserfahrungen hat Hannah Arendt das geistige Vermögen des Verstehens gestellt. „Ein Geschöpf, dessen Wesen das Anfangen ist, mag in sich genügend Ursprung haben, ohne vorgegebene Kategorien zu verstehen und ohne den Kodex von Sittenregeln, das heißt Moral, zu urteilen. Wenn das Wesen allen und besonders des politischen Handelns darin liegt, einen neuen Anfang zu setzen, dann wird Verstehen die andere Seite des Handelns, nämliche jene Form der Erkenntnis, durch welche […] die handelnden Menschen […] das, was unwiderruflich passiert ist, schließlich begreifen können und sich mit dem, was unvermeidlich existiert, versöhnen.“7

Wenden wir diese existenzielle Auffassung des Verstehens auf die Politische Theorie an, so bedeutet das: Wir sollten darauf bedacht sein, weniger aus zweiter Hand zu lesen, als zu lernen, eigenständig aus den geschichtlichen Ursprüngen und Anfängen zu denken. Nicht die Anhäufung von Wissen und die Sicherung des kognitiven Besitzes, sondern das In-Frage-Stellen gelten Arendt als originäre Praxis des Denkens und Vergewisserns. „Aus diesem Fragen entsteigt das Denken als Tätigkeit, die resultatlos ist – wie Spazierengehen.“8 Denken als ein existenzielles Erörterungs- und Vergewisserungsgeschehen bleibt ohne Ergebnisse. Gleichwohl ist dieses zwecklose Tun nicht sinnlos. Durch diese Tätigkeit werden wir uns in unserer existenziellen Verfasstheit und menschlichen Begrenztheit gewahr und können über eine verständige Selbstvergewisserung dem humanen Leben und Zusammenleben einen zulänglichen Sinn abgewinnen. Grit Straßenberger, die über viele Kapitel hinweg ein gut verständliches Buch verfasst hat und die geistige Tätigkeit des Verstehens zu Beginn des Buches hervorhebt, mutet im abschließenden Unterkapitel „Identität und Performativität“ dem Leser eine fachlich hochdifferenzierte Diskussion zu. Diese droht – vor dem skizzierten Verständnis des Verstehens – das hermeneutische Potenzial des Einführungsbuches zu verspielen. So endet das Buch beispielsweise in einer enorm verdichteten Zusammenfassung des Arendt’schen Denkens: „Über diese performative Verschränkung der agonal-expressiven und der kommunikativ-assoziativen Dimension politischen Handelns mit der narrativen Tradierung politischer Erfahrungen und deren Rezeption im öffentlich-politischen Raum entwirft Arendt eine Theorie des Politischen, die das emanzipative Potenzial politischer Interpretation gegen die (Selbst-)Gefährdungen 6

Arendt, 1998: 46 f. Arendt, 1994: 125 f. 8 Arendt, 1985: 53. 7

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demokratischer Politik stellt.“ (170 f.) Diese Komprimierung ist sicherlich Ausdruck fachsprachlicher Versiertheit, allerdings bleibt im Zuge dieser Verdichtung die didaktische Kunst der Vermittlung auf der Strecke. Der Leser ahnt, was von Straßenberger gemeint ist, wird jedoch erhebliche Schwierigkeiten haben, die Aussagen in eigenen Worten – und darauf zielt ja ein zum Verstehen einladendes Einführungsbuch – zu rekapitulieren. Hier wird weniger vom Anfang des Denkens als vom Ende des gegenwärtigen Rezeptionsstandes her gedacht. Fachlich vollkommen unerwähnt bleiben in dem Einführungsbuch jene Interpretationen, in denen Hannah Arendt als eine aus der Existenzphilosophie kommende Kritikerin der Moderne gedeutet wird, der es gleichwohl gelingt, das unpolitische Denken der Existenzdenker9 ins Politische zu wenden.10 Zwar verweist Straßenberger auf Harald Bluhm, der den Gang Hannah Arendts von der Weimarer Existenzphilosophie zum politischen Denken nachgezeichnet und die fortwirkenden Motive der Existenzphilosophie herausgestellt hat.11 Trotzdem bleibt die existenzphilosophische Frage nach dem Sinn des Lebens, die in Arendts Denken eine politische Reformulierung findet – „der Sinn von Politik ist Freiheit“, schreibt Hannah Arendt in ihrer geplanten aber nie zum Abschluss gebrachten „Einführung in die Politik“ – unbesprochen. Gerade Veröffentlichungen aus den letzten Jahren haben gezeigt, dass Hannah Arendt phänomenologisch-hermeneutisch gesehen ein Kind Heideggers12 bleibt. Sie vollbringt es, die existenzphilosophischen Einsichten im Rahmen einer politischen Theorie zu bewahren, weiterzudenken und letztlich für das Politische fruchtbar zu machen.13 Diese Deutung ist es allemal wert, in einem Einführungsbuch zur Sprache gebracht zu werden. Zumal die gegenwärtige Zeit durch ein ausgeprägtes Orientierungsbedürfnis in Fragen der Lebensführung geprägt ist, auf welches das politische Denken von Hannah Arendt sinnfällige Antworten geben kann. „Die Vernunft ist nicht auf der Suche nach Wahrheit, sondern nach Sinn“,14 schreibt Hannah Arendt in ihrem Spätwerk „Vom Leben des Geistes“.

Literatur Arendt, Hannah (1985): Das Urteilen: Texte zu Kants Politischer Philosophie. München: Piper. – (1994): Verstehen und Politik. In: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Übungen im politischen Denken. Bd. I. Hrsg. von Ursula Ludz, München: Piper, S. 110–127. Hannah Arendt im Interview mit Günter Gaus (1998). In: dies.: Ich will verstehen: Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Hrsg. von Ursula Ludz, 3. Auflage. München: Piper. 9

Vgl. Gantschow, 2011. Vgl. Trawny, 2012. 11 Vgl. Bluhm, 2003. 12 Wolin, 2001. 13 Vgl. Gantschow, 2012. 14 Arendt, 2002b: 25. 10

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– (2002a): Denktagebuch 1950 bis 1973: Bd. 1. Hrsg. von Ursula Ludz, München: Piper. – (2002b): Vom Leben des Geistes. 2. Auflage. München: Piper. Bluhm, Harald (2003): Von Weimarer Existentialphilosophie zum politischen Denken: Hannah Arendts Krisenkonzept und ihre Auffassung politischer Erfahrung. In: Thaa, Winfried/ Probst, Lothar (Hrsg.): Die Entdeckung der Freiheit: Amerika im Denken Hannah Arendts. Berlin/Wien: Philo. S. 69 – 92. Breier, Karl-Heinz (2011): Hannah Arendt zur Einführung. 4. Auflage. Hamburg: Junius. Gantschow, Alexander (2011): Das herausgeforderte Selbst: Zur Lebensführung in der Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann. – (2012): Von der Selbstsorge zur Sorge um die Welt: Hannah Arendts Umwendung existenzphilosophischen Denkens. In: Breier, Karl-Heinz/ders. (Hrsg.): Politische Existenz und republikanische Ordnung. Zum Staatsverständnis von Hannah Arendt. Baden-Baden: Nomos. S. 95 – 115. Gutschker, Thomas (2002): Aristotelische Diskurse: Aristoteles in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: J. B. Metzler. Oakeshott, Michael (1975): On Human Conduct. Oxford: Clarendon. Straßenberger, Grit (2005): Über das Narrative in der politischen Theorie. Berlin: Akademie. Trawny, Peter (2012): Hannah Arendt und die Existenzphilosophie. In: Breier, Karl-Heinz/ Gantschow, Alexander (Hrsg.): Politische Existenz und republikanische Ordnung: Zum Staatsverständnis von Hannah Arendt. Baden-Baden: Nomos. S. 31 – 48. Wolin, Richard (2001): Heidegger’s children: Hannah Arendt, Karl Löwith, Hans Jonas and Herbert Marcuse. Princeton: Princeton University Press.

Alexander Gantschow, Kiel

Kontroversen um Puritanismus und Kapitalismus Zur neuen kritischen Edition der „Protestantischen Ethik“ Max Webers Max Weber: Gesamtausgabe. Abteilung I: Schriften und Reden, Bd. 9: Asketischer Protestantismus und Kapitalismus. Schriften und Reden 1904 – 1911. Hrsg. von Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Ursula Bube, J. C. B. Mohr – Paul Siebeck, Tübingen 2014, XX, 994 S.*

Der bekannteste und in seiner Bedeutung, Rezeption und Wirkung wohl auch umstrittenste Text Max Webers, die in den Jahren 1904/05 im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ erschienene Aufsatzfolge über „Die protestantische Ethik und der ,Geist‘ des Kapitalismus“, liegt genau 110 Jahre nach seiner ersten Publikation im Rahmen einer wissenschaftlich-kritischen Ausgabe vor – erst jetzt, obwohl seit mehr als zwei Jahrzehnten an diesem Projekt gearbeitet worden ist. Der Heraus*

Künftig: MWG I/9.

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geber Wolfgang Schluchter, bereits seit Langem als hervorragender Weber-Kenner vielfach ausgewiesen, hat die Edition erst im Jahr 2008 „nach einer langen Vorgeschichte“1 übertragen bekommen, wie er im Vorwort ohne weitere Angaben feststellt. Indessen ist bekannt, dass die kritische Edition dieses Schlüsseltextes zuerst dem Historiker Hartmut Lehmann anvertraut war,2 der sich mehrfach aus der geschichtswissenschaftlichen und konfessionshistorischen Perspektive mit Webers Studie befasst hatte.3 Seit 1993 wurde an der damals von Lehmann geleiteten neueren Abteilung des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen an der Edition gearbeitet, doch aus verschiedenen Gründen kam die Fertigstellung eines druckfertigen Manuskripts nicht zustande, und als unter unerfreulichen Umständen das Institut vor einem Jahrzehnt geschlossen wurde,4 verschwanden im Strudel dieses Untergangs offenbar auch die weit gediehenen Vorarbeiten für die Edition. Erst einige Jahre danach konnte Schluchter mit der Wiederaufnahme der Arbeit am Text beginnen, deren Resultat nun vorliegt. Ein monumentaler Band von etwa eintausend Druckseiten ist nunmehr aus einer Schrift entstanden, die in ihrer ersten Fassung lediglich aus zwei längeren Aufsätzen von seinerzeit zusammen 164 Seiten bestand, anschließend jedoch stets weiter angereichert wurde, durch Ergänzungen, durch Kritiken und Antikritiken, endlich durch eine etwas überarbeitete und partiell erweiterte Zweitfassung, die in Webers Todesjahr 1920 im ersten Band seiner „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“ erschien.5 Tatsächlich haben sich die Editoren der MWG, hier einmal abweichend von ihren sonstigen Editionsgrundsätzen, dazu entschlossen, diese zentrale Abhandlung Webers zweimal zu edieren: Der 1920 erschienene Text „letzter Hand“ wird künftig in einem weiteren Band (I/18) der Gesamtausgabe erscheinen; Wolfgang Schluchter begründet dies in seiner umfangreichen Einleitung damit, dass die in Band I/9 ebenfalls aufgenommenen und kommentierten Kontroversen mit zwei Kritikern sich ausschließlich auf die frühe Fassung beziehen und sich als solche auch „nur im Zusammenhang damit angemessen verstehen“6 lassen. Der sehr opulent ausgestattete Band bringt jedoch, jeweils mit aufschlussreichen und sehr informativen editorischen Vorberichten ausgestattet und einem ausführli1

(Vorwort), ebenda, S. IX. Nachzulesen etwa bei Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München – Wien 2005, S. 338. 3 Siehe etwa Hartmut Lehmann/Guenther Roth (Hrsg.): Weber’s Protestant Ethic – Origins, Evidence, Contexts, Cambridge 1993; Hartmut Lehmann: Max Webers „Protestantische Ethik“. Beiträge aus der Sicht eines Historikers, Göttingen 1996. 4 Einige – durchaus nicht alle – Hintergründe dieser kaum nachvollziehbaren Fehlentscheidung der Leitung der Max-Planck-Gesellschaft beleuchtet neuerdings Werner Rösener, Das Max-Planck-Institut für Geschichte (1956 – 2006). Fünfzig Jahre Geschichtsforschung, Göttingen, 2014, S. 149 ff. 5 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, Tübingen 1920, S. 17 – 206. 6 Wolfgang Schluchter: Einleitung, in: MWG I/9, S. 1 – 89, hier S. 89. 2

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chen Sachkommentar versehen, nicht nur die beiden Hauptaufsätze der Jahre 1904 und 1905,7 sondern weitere Texte Webers aus dem Kontext seiner um 1903 begonnenen Protestantismus-Studien, die sich später zu einem thematisch geradezu monumentalen, am Ende unvollendet gebliebenen Forschungsprojekt über die Wirtschaftsethik der Weltreligionen ausweiten sollten. Da ist zunächst die von Weber selbst verfasste Zusammenfassung eines Vortrags, den er am 5. Februar 1905 (also zwischen der Publikation des ersten und des zweiten Aufsatzes) im legendären Heidelberger „Eranos-Kreis“ über „Die protestantische Askese und das moderne Erwerbsleben“ gehalten hat,8 sodann der in mancher Hinsicht ergänzende Aufsatz über „Kirchen und Sekten in Nordamerika“, den Weber im Frühjahr 1905, kurz nach seiner Rückkehr aus den USA, in zwei Fassungen zuerst in der „Frankfurter Zeitung“, anschließend in Martin Rades „Christlicher Welt“ publizierte.9 Auch die bereits vor einigen Jahren erneut abgedruckten Kritiken und Antikritiken zur „Protestantischen Ethik“, also die kritischen Aufsätze von Karl Fischer und Felix Rachfahl (diese jeweils in kleinerem Druckbild) samt Webers teilweise sehr ausführlichen Erwiderungen,10 sind im Band I/9 der MWG nun nochmals enthalten, wiederum mit editorischen Vorberichten und Kommentaren versehen, die kaum etwas zu wünschen übriglassen und viele sonst schwer zu beschaffende zusätzliche Informationen enthalten.11 Als letzter Weber-Text folgt der bekannte, das Protestantismus-Thema eher streifende Diskussionsbeitrag auf dem ersten Deutschen Soziologentag am 22. Oktober 1910, eine ergänzende Äußerung über Ernst Troeltschs wirkungsreichen Naturrechts-Vortrag.12 Als besonders verdienstvoll muss eine genaue Auflistung aller Hinweise Webers auf die von ihm geplante Fortführung seiner Studien und Überlegungen zum asketischen Protestantismus und dessen Wirtschaftsethik angesehen werden – es sind insgesamt nicht weniger als fünfzig Stück13 –, die bereits als solche erkennen lassen, in wie starkem Maße der Autor seine, wie meist, sehr schnell komponierten und ge7

MWG I/9, S. 123 – 215 und 242 – 425. Ebenda, S. 220 – 221 (beruhend auf Webers eigenhändiger Zusammenfassung im „Protokollbuch“ des Kreises, auch als Faksimile beigegeben (ebenda); siehe auch Hubert Treiber: Der „Eranos“ – Das Glanzstück im Heidelberger Mythenkranz?, in: Wolfgang Schluchter/ Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Asketischer Protestantismus und der ,Geist‘ des Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, Tübingen 2005, S. 75 – 153, hier S. 125 ff. 9 MWG I/9, S. 435 – 461. 10 Johannes Winckelmann (Hrsg.): Max Weber, Die Protestantische Ethik II: Kritiken und Antikritiken, Gütersloh 1978. 11 Fischers Texte und die beiden Weberschen Repliken sind neu abgedruckt in MWG I/9, S. 469 – 477 (Fischer), 478 – 490 (Weber), 494 – 497 (Fischer), 498 – 514 (Weber). Die in der Sache wichtigeren Kritiken des angesehenen Historikers Felix Rachfahl und die Antworten Webers finden sich ebenda, S. 521 – 572 (Rachfahl), 573 – 619 (Weber), 625 – 664 (Rachfahl), 665 – 740 (Weber). 12 MWG I/9, S. 747 – 764. 13 Vgl. ebenda, S. 90 – 96; es handelt sich insgesamt um 35 Hinweise im Aufsatztext, 15 in den ergänzenden Antikritiken Webers. 8

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schriebenen Abhandlungen als ergänzungs- und überarbeitungsbedürftig angesehen hat. Von großem Wert, nicht nur für die Weber-Forschung im engeren Sinne, erscheinen auch die Hinweise zu Webers Quellen; so wurden die Überreste seiner Handbibliothek ebenso ausgewertet wie die noch erhaltenen originalen Bücher in der Heidelberger Universitätsbibliothek, mit denen Weber seinerzeit arbeitete und die gelegentlich noch heute seine Arbeitsspuren enthalten.14 Wichtige Hinweise zu den verschiedenen, von Weber seinerzeit verwendeten Bibelübersetzungen15 enthält der Band schließlich ebenso wie eine Auflistung der von Weber zitierten Quellen und Fachliteratur.16 Der Textkommentar schließlich ist sehr reichhaltig ausgefallen, auch wenn es nicht gelungen ist, sämtliche Anspielungen oder apokryphe Zitate, die sich bei Weber gelegentlich finden und die auch den spezifischen Reiz vieler seiner Abhandlungen ausmachen, zu ermitteln. Ein Beispiel: Ziemlich gegen Ende der zweiten Abhandlung spricht er von der Gefahr einer möglichen „Versteinerung“ der westlichen Kulturentwicklung im nunmehr undurchdringlichen Gehäuse der modernen Arbeitswelt; er fügt – nach einer knappen Anspielung auf Nietzsches „letzte Menschen“17 – den Satz hinzu: „Dann allerdings könnte für die ,letzten Menschen‘ dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: ,Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz, dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben‘“; der Kommentar im Band I/9 hierzu lautet lapidar: „Als Zitat nicht nachgewiesen“.18 Oft ist dieser Satz, obwohl vom Verfasser ausdrücklich als Zitat gekennzeichnet, als genuine Äußerung Webers aufgefasst und als solche auch zitiert worden – noch die bekannteren neuesten Gesamtdarstellungen und Biographien tun dies.19 Indessen handelt es sich um eine Äußerung, die Weber offensichtlich im 1900 erschienen ersten Band von Gustav Schmollers monumentalem „Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre“ gefunden und fünf Jahre später (da ihm die Quelle vermutlich nicht mehr präsent war) aus dem Gedächtnis zitiert hatte. In Schmollers Original lautet das – von ihm einem namentlich ungenannt bleibenden „großen Techniker“ zugeschriebene – Zitat nämlich: „Genußmenschen ohne Liebe und Fachmenschen ohne Geist, dies Nichts bildet sich ein, auf einer in der Geschichte unerreichten Höhe der Menschheit zu stehen!“20 Ein Vergleich beider Fassungen zeigt, wie stark Weber das Zitat umgebildet und gewissermaßen „weberisiert“, also auf die Zwecke 14

Vgl. den Hinweis ebenda, S. 60. Im Vorbericht zur „Protestantischen Ethik“, ebenda, S. 112 – 119. 16 Ebenda, S. 843 – 868. 17 Ebenda, S. 423; vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra („Zarathustras Vorrede“). 18 MWG I/9, S. 423, (Kommentar) Anm. 84. 19 Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005, S. 327; Jürgen Kaube: Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen, Berlin 2014, S. 322; Dirk Kaesler: Max Weber. Eine Biographie, München 2014, S. 540. 20 Gustav Schmoller: Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Bd. I, Leipzig 1900, S. 225. 15

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seiner hier ersichtlich anthropologisch-kulturkritischen Argumentation zugeschnitten hat! Dass er es gleichwohl in Schmollers „Grundriß“ zuerst gelesen hat, dürfte wohl kaum anzuzweifeln sein. Im Grunde eine eigene Abhandlung, ein „Buch im Buch“ gewissermaßen, stellt Wolfgang Schluchters ausführliche und materialreiche, dazu gründlich informierende und luzide analysierende Einleitung dar.21 Mit Webers Werk ist der Autor seit Jahrzehnten aufs Genaueste vertraut; aus seiner Feder stammen maßgebliche Analysen und Interpretationen. Tatsächlich kann Schluchter in seiner sorgfältigen Rekontruktion der Genese der „Weber-These“ nachweisen, dass die ersten Vorstufen zur späteren Untersuchung von 1904/05 bereits in den Anfängen von Webers akademischer Lehrtätigkeit in Freiburg und Heidelberg in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts zu finden sind; seine Spurensuche ergibt, dass „das Spätere […] also tatsächlich im Jahre 1898 im Keim vorhanden“22 gewesen ist. Die Linie wird sodann weiter gezogen bis zum bekannten Einleitungstext des 1904 von Max Weber, Werner Sombart und Edgar Jaffé als Herausgeber neu begründeten „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“, in dem die Erforschung der allgemeinen „Kulturbedeutung“ des modernen Kapitalismus ausdrücklich als eine der wichtigsten künftigen Aufgaben des soeben neu formierten wissenschaftlichen Organs bezeichnet wurde.23 So sehr bei der Wahl des Themas der „protestantischen Ethik“, wie Schluchter – nicht zuletzt in indirekter Abgrenzung von Wolfgang J. Mommsen24 – feststellt, auch „logischmethodische, lebensgeschichtliche und politische Motive eine Rolle gespielt haben mögen, entscheidend waren doch die wissenschaftlichen Motive“.25 Anschließend umschreibt Schluchter noch einmal eingehend die „wissenschaftliche Problemsituation“ der Jahre um 1900, die den Rahmen für Webers Schrift abgaben und in deren Kontext seine Studie in geistesgeschichtlicher Betrachtung zu stellen ist.26 Dazu gehören die implizite Auseinandersetzung mit dem Marxismus und der Basis-Überbau-Lehre des Historischen Materialismus, die Rezeption der Schriften Eduard Bernsteins zur Geschichte des modernen Sozialismus, besonders zu den radikaldemokratischen Strömungen während der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts, dazu gehören vor allem auch die Anregungen, die Weber aus den wirtschaftshistorischen Arbeiten Eberhard Gotheins und Lujo Brentanos sowie der bekannten Studie Georg Jellineks zur Entstehung der modernen Menschen- und Bürgerrechte empfangen hat.27 Relativiert wird hingegen die (seitens 21

MWG I/9, S. 1 – 89. Ebenda, S. 6; vgl. 4 ff. 23 Vgl. [Max Weber/Werner Sombart/Philipp Jaffé]: Geleitwort der Herausgeber, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 19, N. F. 1 (1904), S. I*-VII*. 24 Vgl. Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890 – 1920, 3. Aufl. Tübingen 2004, S. 417; zu den persönlich-biographischen Motiven siehe vor allem Lehmann: Max Webers „Protestantische Ethik“ (Anm. 3), S. 109 ff., 147 ff. 25 Schluchter: Einleitung (Anm. 6), S. 26. 26 Hierzu und zum Folgenden ebenda, S. 26 ff. 27 Vgl. ebenda, S. 28 – 35. 22

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der früheren Weber-Forschung wohl überschätzte) Bedeutung der konfessionshistorisch argumentierenden Dissertation von Webers Schüler Martin Offenbacher28 über den Zusammenhang von wirtschaftlichem Erfolg und Konfessionszugehörigkeit am Beispiel der neueren Entwicklung des Großherzogtums Baden.29 Zwei Autoren, die um und nach 1900 zum persönlichen und wissenschaftlichen Kollegen- und Freundeskreis Max Webers gehörten, haben die Konzeption und die Ausgangsfrage der „Protestantischen Ethik“ jedoch maßgeblich und unübersehbar geprägt: Werner Sombart und Ernst Troeltsch. Obwohl Weber Sombarts Grundannahme, die Ursprünge des Kapitalismus seien in der Entstehung der Grundrente und in einer sich seit dem späten Mittelalter neu herausbildenden rechnungsmäßigen Wirtschaftsführung zu finden, in dieser Form nicht zustimmen konnte, übernahm er jedoch den bei Sombart erstmals formulierten Gedanken eines spezifisch kapitalistischen „Geistes“30, den Weber am Ende allerdings sehr anders als sein Vorgänger definieren sollte. Troeltsch wiederum hatte bereits in einem 1903 erschienen längeren Lexikonartikel über die „englischen Moralisten“ die spezifische Modernität des Calvinismus im Allgemeinen und des Puritanismus im Besonderen mit allen ihren Folgen für das gesellschaftliche und soziale Leben in der europäischen frühen Neuzeit klar herausgearbeitet und damit der Entwicklung von Webers spezifischer „These“ wichtige Anregungen und Sachinformationen gegeben.31 Weiterhin enthält Schluchters Einleitung wichtige Hinweise nicht nur zur Entstehung, sondern auch zur Arbeitsweise und zur (wie man es vielleicht nennen könnte) „inneren Weiterentwicklung“ der Weberschen Gedanken beim Schreiben der beiden Aufsätze selbst. Sehr zu Recht weist Schluchter nämlich darauf hin, dass zwischen der Abfassung des ersten und des zweiten (längeren) Aufsatzes die mehrmonatige Reise Max und Marianne Webers in die Vereinigten Staaten liegt, die vor allem in der zweiten Abhandlung und dann natürlich im „Kirchen und Sekten“-Aufsatz ihre unübersehbaren Spuren hinterlassen hat.32 Besonders die im zweiten Aufsatz entwickelte Konzeption des „asketischen Protestantismus“ als eines Idealtyps stellt ein neues Element, eine Weiterentwicklung und Präzisierung zentraler Gedanken der ersten Abhandlung dar. Ob Weber, wie Schluchter gelegentlich anmerkt, auf den Begriff des „Puritanismus“ eigentlich hätte verzichten können,33 wird der Historiker, da es sich hier eben um eine historisch präzise Bezeichnung handelt, die ein ganz be28

Martin Offenbacher: Konfession und soziale Schichtung, eine Studie über die wirtschaftliche Lage der Katholiken und Protestanten in Baden, Tübingen 1900. 29 Vgl. Schluchter: Einleitung (Anm. 6), S. 46 ff. 30 Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus, Bde. I-II, Leipzig 1902, hier Bd. I, S. 378 – 397. 31 Ernst Troeltsch: Die englischen Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts (zuerst 1903), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. IV: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hrsg. v. Hans Baron, Tübingen 1925, S. 374 – 429. 32 Vgl. Schluchter: Einleitung (Anm. 6), S. 56 ff.; zur Reise neuerdings ausführlich Lawrence A. Scaff: Max Weber in Amerika, Berlin 2013. 33 Schluchter: Einleitung (Anm. 6), S. 58.

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stimmtes, zeitlich-räumlich exakt zu bestimmendes Phänomen kennzeichnet, wohl bestreiten müssen, zumal die Anregungen, die gerade hier von Weber ausgegangen sind, von späteren Autoren dankbar aufgegriffen worden sind.34 Weber hat relativ rasch, um nicht zu sagen hastig gearbeitet, und dies merkt man bis heute dem Stil vieler seiner Texte an: sie umkreisen das Thema, stellen Fragen, geben vorläufige Antworten, formulieren Hypothesen, ergänzen oder korrigieren früher Gesagtes und greifen immer wieder die zentrale Fragestellung aus unterschiedlicher Perspektive auf; für Anfänger sind seine Abhandlungen daher nicht eben leicht zu lesen. Das mag – neben anderem – auch damit zusammenhängen, dass er sich, um einen Überblick über Thema und Problem zu bekommen, wie Schluchter ausführt, zuerst einmal „an wenigen Werken der Sekundärliteratur“ orientiert, „denen er weitgehend folgt, wobei er immer wieder auf die meist dort schon benutzten Quellen zurückgeht, um sie am Original zu überprüfen und unter Umständen anders zu akzentuieren oder auch zu ergänzen. Deshalb entsteht nicht zufällig mitunter der Eindruck, er habe passagenweise Ausführungen anderer nur paraphrasiert“,35 wobei allerdings ebenfalls anzumerken ist, dass er stets auch neue Quellentexte erschlossen hat – so etwa von Calvin, Baxter, Spener, Barclay und anderen. Endlich wirft Schluchter auch neues Licht auf die beiden erwähnten Kontroversen mit Fischer und Rachfahl,36 von denen besonders die kritischen Einwände des Zweitgenannten Weber zu schaffen machten – und es ehrt ihn auch noch im Nachhinein, dass er mit seinem ausgeprägten Willen zu Beachtung gegnerischer Argumente und zu präziser Erkenntnis gerade diese Auseinandersetzung so ernstgenommen und mit seinen Kritikern so intensiv diskutiert hat. Kurz gesagt: Der neue Band der Max-Weber-Gesamtausgabe hat sehr Vieles zu bieten, nicht nur die integrale, kommentierte Fassung zentraler Weber-Texte, sondern auch eine Fülle von Material und Informationen zum ideen- und wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund der ersten Fassung der „Protestantischen Ethik“. Freilich wird man Bedeutung und Wirkung dieses im besten Sinne klassischen Textes der deutschen Wissenschaft am Ende des Kaiserreichs erst dann ermessen können, wenn auch die zweite Fassung von 1920 im Band I/18 vorliegen wird. Man darf an dieser 34 So etwa von Herbert Schöffler: Protestantismus und Literatur. Neue Wege zur englischen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1922; ders.: Die Anfänge des Puritanismus. Versuch einer Deutung der englischen Reformation, Leipzig 1932. 35 Schluchter: Einleitung (Anm. 6), S. 60. 36 Vgl. ebenda, S. 72 – 75 (Fischer), 75 – 82 (Rachfahl). – Was Rachfahl anbelangt, so dürfte die Aussage des notorisch geschwätzigen Paul Honigsheim, Rachfahl habe seine Kritik an Weber als „eine strategische Positionierung der Ranke-Schule“ aufgefasst, veranlasst angeblich auch noch „von Max Lenz, dem akademischen Lehrer von Rachfahl“ (hier zitiert von Schluchter, ebenda, S. 515, Anm. 5), ins Reich der akademischen Legenden zu verweisen sein, zumal nicht Lenz, sondern Richard Roepell und Jakob Caro, dazu auch noch Gustav Schmoller die prägenden akademischen Lehrer Rachfahls gewesen sind. Außerdem war Rachfahl um 1908/09 längst ein arrivierter Ordinarius, der drei Rufe erhalten hatte und es daher kaum nötig gehabt haben dürfte, Anweisungen oder Aufforderungen früherer Lehrer zu folgen.

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Stelle wohl die Erwartung oder wenigstens die Hoffnung aussprechen, dass man auf Band I/18 nicht mehr so lange zu warten haben wird wie auf Band I/9. Hans-Christof Kraus, Passau Dirk Werle: Ruhm und Moderne. Eine Ideengeschichte (1750 – 1930). (Das Abendland; Neue Folge 38). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, 729 S. Diese sehr aufschluss- und ertragreiche Studie, eine germanistische Habilitationsschrift, die sich einem auf den ersten Blick eher unzeitgemäßen Thema widmet, kann auch über die eigenen Fachgrenzen hinaus Interesse beanspruchen, zumal das Konzept des Ruhms, das in diesem Buch tatsächlich vorrangig auf die Geistes- und Literaturgeschichte im engeren Sinne bezogen wird, zugleich eine politische Kategorie sui generis darstellt, was wiederum bedeutet, dass die Ergebnisse der vorliegenden Studie auch unter historisch-politischem Blickwinkel aufschlussreich und zugleich rezeptionsfähig, wenigstens aber anregend für die Ausbildung eigener Fragestellungen sein können. Das ist, was dieses Buch anbetrifft, zweifellos der Fall, zumal der politische Ruhm und der hiermit betriebene Kult – außerhalb Deutschland sicher noch heute in weit stärkerem Maße als bei uns, denkt man etwa an Gestalten wie Churchill, de Gaulle, Kennedy und andere – keineswegs der Vergangenheit angehört, sondern ein Gegenwartsphänomen geblieben ist. Die Leitfrage der Untersuchung wird folgendermaßen formuliert: Wie und warum konnte „in der Literatur und in den Geisteswissenschaften der Moderne […] von etwa 1750 bis etwa 1930 der Ruhm als literaturgeschichtliche und poetologische Idee thematisch“ (10) werden? Unter Aufnahme neuerer wissenschaftshistorischer Fragestellungen wie etwa der – aus der neueren Philosophiegeschichtsschreibung kommenden, unter anderen von Dieter Henrich und seinem Schülerkreis mit Bezug auf den Deutschen Idealismus betriebenen – „Konstellationsforschung“, formuliert Werle eine Doppelperspektive für die eigene Arbeit: Es soll erstens kritisch rekonstruiert werden, „wie sich die Idee des Ruhms in der Moderne in verschiedenen Konstellationen verzweigt“, und zweitens soll in einer, wie er bemerkt, „selbstreflexiven Perspektive“ der Fehler der älteren Geistesgeschichte vermieden werden, dass nämlich „die Geschichte des Ruhms selbst als Ruhmesgeschichte erzählt wird, in der nur die leuchtenden Fixsterne betrachtet werden“ (15); Beispiele für jene ältere, seinerzeit überaus einflussreiche Variante der Ruhmgeschichte, man denke etwa an die Caesar- und Shakespeare-Bücher Friedrich Gundolfs, gibt es in der Tat genug. Es geht also, neutral formuliert, um die Bedeutung des Konzepts von „Ruhm“ als Idee im Rahmen sowohl der neueren Literatur- wie auch der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte in Deutschland bis etwa zur Zeit um 1930. Hier vermag Werle einen deutlich erkennbaren „Bruch“ in der Ruhmkonzeption zu erkennen, denn das Ruhmkonzept konnte seit dieser Zeit allerdings als „Auslaufmodell“ (618) gelten, das von der aufstrebenden Psychologie und besonders auch von der Wissenssoziologie ihrerseits hinterfragt und letzten Endes nach und nach erfolgreich relativiert

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wurde. Die Tatsache, dass die Idee des Ruhms in der Gegenwart, jedenfalls in Deutschland, als unzeitgemäß, pathetisch und allgemein als schwer erträglich empfunden wird, hängt fraglos, auch darauf weist der Autor hin, mit dem Missbrauch des Konzepts in Politik und Propaganda des Nationalsozialismus zusammen; die Erinnerung hieran wirkt bis heute nach. Die Bedeutung des Ruhmkonzepts in der Vergangenheit ist jedoch nicht zu bestreiten, und wenn man davon ausgeht – so die klar formulierte Ausgangsthese der Untersuchung –, dass die Idee des Ruhms und die ihr verwandten Deutungskonzepte „ein ,kulturelles Wissen‘ darstellen, dann wird in der Studie gezeigt, wie sich ein über mehrere literarische Gattungen und wissenschaftliche Disziplinen vermittelnder Transfer dieses kulturellen Wissens aus der Literatur in die Philosophie und die Geisteswissenschaften vollzieht“ (24). Hierdurch werden die zwei großen Teile der umfangreichen und detailliert vorgehenden sowie sehr materialreichen Untersuchung bestimmt, die gleichzeitig bestrebt ist, an ältere kritische Genie- und Ruhmtheorien einiger heute wenig bekannter Wissenschaftler aus dem frühen 20. Jahrhundert (vor allem Julian Hirsch und Edgar Zilsel) anzuknüpfen. „Konstellationen I“ (67 – 392) untersucht zuerst die Genese des Ruhmgedankens anhand bestimmter literarischer Textsorten, die den Ruhm als solchen poetisch thematisierten (zuerst als Ode, Hymne, Elegie, später Schauspiel, Prosadichtung und Essayistik); neben der Antikenrezeption (Homer, Horaz) und dem besonders in Deutschland früh einsetzenden Shakespeare-Kult stehen hier die entsprechenden ästhetischen Konzepte und einschlägigen Äußerungen von Goethe, Schiller, Hegel, Nietzsche, Rilke, George und anderen im Mittelpunkt der Betrachtung. Der ein wenig kürzere zweite Hauptteil, „Konstellationen II“ (393 – 646), greift wiederum die Ruhmtheorien und -analysen in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen anhand ausgewählter Beispiele auf; Jacob Burckhardt, Carlyle, Emerson, Herman Grimm, aber auch Schopenhauer und Nietzsche bis hin zu prägenden Autoren des frühen 20. Jahrhunderts wie Lange-Eichbaum und Gundolf stehen hier im Vordergrund. Es ist etwas bedauerlich, dass ausgerechnet derjenige Autor, nämlich Georg Brandes, hier fehlt, der in seinen großen Monographien über „Geisteshelden“ der Vergangenheit (Michelangelo, Shakespeare, Voltaire, Goethe) nicht nur kräftig an der Tradierung von Ruhmkonzepten im Europa des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts mitwirkte, sondern mit manchen seiner vielen kleineren biographischen Essays über Zeitgenossen sogar an der Entstehung neuen Ruhms direkt beteiligt war: bekanntestes Beispiel ist Nietzsche, den Brandes durch seine schon 1888 publizierte Abhandlung über „aristokratischen Radicalismus“ in ganz Europa bekannt machte. Zu den wichtigsten Ergebnissen der inhaltsreichen und im Ganzen sehr bemerkenswerten Studie gehört wohl die (hier ausführlich begründete und belegte) Erkenntnis, dass die Ruhmidee in der Moderne sich zwar in sehr verschiedenen Formen ausdifferenziert hat, aber doch stets in erster Linie auf zwei zentrale kulturelle Problembereiche reagierte: zum einen auf das Problem des Todes und die Möglichkeiten, das Andenken an „große“ Persönlichkeiten auch über deren Ableben hinaus zu bewahren und ein bestimmtes Bild von ihnen der Nachwelt zu tradieren, – und zum anderen als Antwort auf ein allgemeines Orientierungsbedürfnis, das mit der zuneh-

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menden Ausdifferenzierung und Entwicklungsbeschleunigung zentraler Bereiche der modernen Kultur und Gesellschaft entstanden war. Dieses Bedürfnis erzeugte eben im Rahmen eines spezifischen „Traditionsverhaltens“ (653) eine Rede vom Ruhm, die jeweils auf eine besonders große Resonanz bei den „Orientierungsbedürftigen“ stoßen musste. Diese Ergebnisse und Thesen lassen sich mit Blick auf den historisch-politischen Bereich sicher noch deutlich erweitern, wenn man etwa an Ruhmbegründung als Element der Konstruktion einer vermeintlichen geschichtlichen Traditionslinie (beispielsweise: Luther – Friedrich – Bismarck – Hindenburg usw.) denkt oder auch daran, dass es historische konkurrierende Ruhmkonzepte gibt (etwa die Herausstellung Tillys als eines „Helden“ des katholischen Süddeutschlands gegen Gustav Adolf, den Heros der protestantischen Nord- und Ostdeutschen). Kurz gesagt: Es gibt so viele Anknüpfungspunkte auch für die historischen und politischen Wissenschaften, dass man sich nur wünschen kann, dieses überaus anregende und reichhaltige Buch möge möglichst starke Beachtung auch außerhalb des engeren Bezirks der Germanistik finden. Hans-Christof Kraus, Passau Peter Nitschke (Hrsg.): Der Prozess der Zivilisationen: 20 Jahre nach Huntington. Analysen für das 21. Jahrhundert. Frank und Timme, Berlin 2014, 286 S. Samuel P. Huntingtons Buch über den „Clash of Civilizations“ beginnt mit einer Anekdote: Kurz nach dem Ende der Sowjetunion begegnen sich russische und amerikanische Wissenschaftler auf einer Tagung in Moskau. Die alte Leninbüste auf dem Podium ist durch die Flagge der neuen Russischen Föderation ersetzt worden. Ein amerikanischer Tagungsteilnehmer bemerkt, dass sie mit der Oberseite nach unten aufgehängt wurde, und macht die Gastgeber darauf aufmerksam. Der Fehler wird in der Pause stillschweigend korrigiert.1 Die Geschichte gibt zu denken. Kulturelle Identität schöpft nicht einfach aus der Tiefe ihrer Tradition, sondern bildet sich in einem politischen Prozess – in einem Prozess aus Versuch und Irrtum. Auch Neuamerikaner, fügt Huntington an, seien zunächst hinter einer verkehrt herum gehaltenen US-Flagge hergelaufen.2 Von solchen kulturellen Identitäten, die allerdings über den Anspruch eines einzelnen Nationalstaates weit hinausreichen, sieht Huntington die politischen Konfliktlinien des 21. Jahrhunderts bestimmt. Als er mit dieser Hypothese 1993 erstmals in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ hervortrat – damals noch mit einem Fragezeichen versehen – löste er eine weltweite Debatte aus, wie sie laut Auskunft der Herausgeber kein anderer Artikel in der Zeitschrift seit den 1940er Jahren ausgelöst hatte und die nach Huntingtons eigener Erkenntnis zumindest die Reaktion auf alles, was er sonst geschrieben hatte, weit übertraf.3 1

Huntington, 1996a: 19; deutsche Übersetzung: Huntington, 1996b: 17. Huntington, 1996a: 19 f. (1996b: 18). 3 Aufsatz: Huntington, 1993. Debatte darüber: Huntington, 1996a: 13 (1996b: 11).

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Der von Peter Nitschke herausgegebene Sammelband, hervorgegangen aus einer Tagung der „Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens“ 2013 in Vechta, versucht im Abstand von 20 Jahren „eine kritische Bestandsaufnahme zu den Hauptthesen von Huntington“ (10, Anm. 5), die nicht von vornherein negativ ausfällt. Er gliedert sich in drei Teile zu je vier Beiträgen, die mit „Zivilisationsdeutungen“, „Kategoriale Leitbilder“ und „Adaptionen und Prognosen“ überschrieben sind. Damit folgt das Schema der altbewährten Einteilung in Erscheinung – Wesen – Ursache. Im ersten Teil werden nach der Vorstellung von Huntingtons Zivilisationsdeutung durch den Herausgeber analoge Überlegungen anderer Denker des 19. und 20. Jahrhunderts zur Sprache gebracht. Der zweite Teil fragt gewissermaßen nach der Ursache zurück und untersucht bestimmte Leitbegriffe und Voraussetzungen dieser Zivilisationsdeutungen wie „Kultur“, „Geschichte“, „Achsenzeit“ oder „Menschenrechte“. Im dritten Teil wird die Denkrichtung umgekehrt und auf die Betrachtung konkreter Anwendung und Umsetzung im islamischen, europäischen und asiatischen Kulturraum gelenkt. Im ersten Teil führt Peter Nitschke (13 – 44) zunächst in die Grundthesen Huntingtons ein und zieht dabei einige klare Linien. Der „eigentliche Anlass“ von Huntingtons Aufsatz, der nach Nitschkes Ansicht durch das drei Jahre später erschienene Buch eher verunklart wird (14 f.), sei das amerikanische Sicherheitsinteresse im Zusammenhang des allgemeinen „Niedergangs des Nationalstaates“ gewesen. Huntington habe in der damaligen Debatte ein für diese Debatte neuartiges Erklärungsmodell entwickelt. „Civilization“ stelle für ihn eine „cultural entity“ dar, eine Art politischer Grundsubstanz, die er als höchste Unterscheidung innerhalb der menschlichen Art vor der Unterscheidung zwischen Menschen und Nicht-Menschen definiert (15).4 Ein passendes deutsches Wort dafür ist „Kulturkreis“, – ein „Idealtypus“, „nicht identisch mit einem Staat“ und durch „Sprache, Geschichte, Traditionen, Institutionen“ und nicht zuletzt durch „die Religion“ bestimmt (16). Der Kulturkreis gibt seinen Mitgliedern „Halt in der Funktionalisierung der Waren- und Produzentenabläufe auf der Welt“, die wir gemeinhin als Globalisierung bezeichnen (17). Huntingtons Annahme eines kulturellen Essentialismus wird für viele Rezipienten noch dadurch verschärft, dass er kulturelle Identität an der Freund-Feind-Unterscheidung entstehen und wachsen sieht. „Wir wissen nur dann, wer wir sind, wenn wir wissen, wer wir nicht sind, und oft nur dann, wenn wir wissen, gegen wen wir sind“, so lautet einer seiner zentralen, lapidaren Sätze (31).5 Diese Identitätsbildung im Konflikt wird durch die Wahrheitsfrage zusätzlich befeuert. Jede Zivilisation ist nach Huntington davon überzeugt, „dass sie die einzig wahre ist“ (27) und „schreibt 4 Huntington, 1993: 23 f.: „A civilization is thus the highest cultural grouping of people and the broadest level of cultural identity people have short of that which distinguishes humans from other species.“ 5 Huntington, 1996a: 21 (1996b: 21): „We know who we are only when we know who we are not and often only when we know whom we are against.“ Die deutsche Übersetzung von Holger Fliessbach, die Nitschke zitiert, ist ungenau verkürzend: „Wir wissen, wer wir sind, wenn wir wissen, wer wir nicht sind und gegen wen wir sind.“

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ihre Geschichte als das zentrale Drama der Menschheitsgeschichte“ (41).6 Konflikte zwischen den Kulturkreisen sind deshalb „nicht einfach verhandelbar“ (32), in ihrem Kern vielmehr „unauflösbar“ (17). Es gibt „im Zweifelsfall keinen Konsens“ (33). Mit diesen Festlegungen steht Huntington gegen das ganze linksliberale Programm von Anti-Essentialismus, Ökonomismus und Relativismus. Seine Diagnose, so Nitschke, sei „ärgerlich, ja geradezu obszön für all diejenigen, die von einer universellen Menschenrechtslogik und deren demokratischer Durchdringung für die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts“ ausgingen (10). Umso gewichtiger ist Nitschkes Hinweis, dass Huntington den Glauben an den alleinigen Wahrheitsanspruch eines Kulturkreises in konservativer Skepsis nicht für richtig hält. Auch die westlich-abendländische Kultur – hervorgegangen aus jüdischem Gottesglauben, griechischer Philosophie und römischem Recht und mit dem Christentum als geistigem Kern (19) – sei für ihn nicht die „Krönung aller Zivilisationen“. Dass der Glaube an die zivilisatorische Überlegenheit des Westens falsch sei, bezeichnet Huntington vielmehr als die „zentrale These“ seines Buches (42).7 So resümiert Nitschke wohl richtig, dass es Huntington vorderhand darum gegangen sei, „Bedingungen des vorläufigen Überlebens der westlichen Zivilisation“ zu diskutieren (27). Er sei ein „Liberaler“ mit einer „konservativen Ethik“, der seine Aufgabe darin gesehen habe, „den Liberalismus im eigenen Lande vor bestimmten Fehldeutungen und Entwicklungen zu warnen“ (24). Gegen Ende seines Buches, so könnte man dieser Bewertung anfügen, zitiert Huntington die Sätze des Brutus aus Shakespeares „Julius Cäsar“, dass man auf der Reise des Lebens die Flut nutzen müsse, weil jene Reise sich bei Ebbe durch Not und Klippen winde und verliere, was sie gewagt habe. Diese Logik, so Huntingtons nüchterne Aussage, habe Brutus zur Niederlage von Philippi geführt. Der Westen dürfe in kluger Einschätzung der Dinge nicht versuchen, die Verschiebung seiner Macht aufzuhalten. Er müsse vielmehr lernen, sich durch Not und Klippen zu winden, sich in seinen Wagnissen zu mäßigen und seine Kultur zu beschützen.8 Man muss Huntington bei dieser Einschätzung fragen, warum der Westen in einer solchen schwächer werdenden Weise leben und seine Kultur nur noch beschützen soll. Hat der alte Mensch nicht das Recht zu sterben? Hat die Kultur, die das Ende ihres zivilisatorischen Wirkens erreicht, nicht das Recht unterzugehen? Oder hat der Westen seine Mission noch nicht erfüllt? Huntington erwähnt in seinem Buch selbst Vorläufer seiner organischen Zivilisationsdeutung wie Oswald Spengler und Arnold Toynbee. Es liegt von daher nahe, dass die drei anderen Autoren des ersten Teils des Sammelbandes nach diesem geistigen Umfeld von Huntington fragen. Dabei bleiben sie allerdings hinter den Mög6

Vgl. Huntington, 1996a: 54 f. (1996b: 74), 301 (495). Huntington, 1996a: 310 (1996b: 511). 8 Shakespeare: Julius Cäsar, 4. Akt, 3. Szene, Zeile 214 – 223. Huntington, 1996a: 311 (1996b: 512). 7

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lichkeiten zurück. Rüdiger Voigt (45 – 63) geht nach kurzer Erwähnung von Braudel und Toynbee (51) zu dem deutschen Dreigestirn Spengler, Gehlen und Jünger über, ohne dass man wirklich erfährt, was es mit Huntington verbindet. Spengler habe zum ersten Mal den Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen (53) – das tut Huntington nicht. Gehlen sei für seine Posthistoire-These berühmt (56) – bei Huntington geht die Geschichte weiter. Jünger habe den Übergang zu einem „planetarischen Weltstaat“ gedacht (60) – derlei lehnt Huntington gerade ab. Paul Noltes (65 – 86) „Kritik eines Historikers“ (80) nennt pangermanische (Herder, Hegel, Heinrich Rückert), panbritische (Dilke) und panslawische (Tschaadajew, Alexander Herzen, Danislevskij) Herrschaftstheorien des 19. Jahrhunderts (79), die der pax Americana nach dem Zweiten Weltkrieg vorhergingen, und stellt sein Konzept der Weltregionen (81) gegen das Kulturkreiskonzept. Erfolgversprechender erscheint die Tiefenbohrung von Harald Kleinschmidt (87 – 113), die sich auf den für Huntington wichtigen Autor Toynbee im wesentlichen beschränkt. Leider ist Kleinschmidt dermaßen damit beschäftigt, Toynbee Biologismus (88 f. mit Anm. 4, 113) und Kolonialismus (106 f.) zu attestieren, dass die Aussagen dieses Denkers hinter der an ihm geübten Kritik gar nicht hinreichend deutlich werden. Toynbees „Civilizations“, heißt es, seien „theoretisches Konstrukt“ und „Hirngespinste“ (112), so sehr an „philosophische Spekulationen und politische Propaganda“ gebunden, dass es „von Konventionen trieft“ (94). Am schlimmsten scheint es für Kleinschmidt zu sein, dass Toynbee „nie Angehöriger eines Lehrkörpers eines geschichtswissenschaftlichen Universitätsinstituts“ war, sondern – horribile dictu – mehr ein „historisch interessierter Außenpolitiker“ (109). Das allerdings hat er mit Huntington gemeinsam. Wenn Toynbee laut Kleinschmidt gegen die Markgenossenschaftstheorie seiner Zeit, die das moderne Europa aus den germanischen Stämmen der Völkerwanderung hervorgehen ließ (97), die Einheit mit der römischen und griechischen Kultur betont – mit der „katholischen Kirche als Bindeglied“ (98) – so scheint er ja auch manches historisch Richtige gesagt zu haben. Der zweite Teil des Sammelbandes präsentiert einige grundlegende Begriffe der modernen Zivilisationsdebatte und ist denkerisch einladender. Mirko Wischke (157 – 166) kritisiert, dass Huntingtons Kulturkreisbegriff noch nicht die „Quelle konfliktauslösender Spannungen“ benenne (157), dass er also die beanspruchte Ursache kultureller Konflikte in der Kultur noch gar nicht gefunden habe. Das ist eine starke Kritik. Kulturen, so Wischke, entfalteten ihr Konfliktpotential allererst durch „kulturgeschichtliche Neukodierungen“, durch „wertbezogene Auswahl und interpretative Neuordnung des Ausgewählten“ (164). Also: man benutzt Kulturunterschiede zwar zur Motivierung von Konflikten, die Ursache aber liegt woanders, bei den Interpreten. Doch worin besteht sie? Hier bleibt Wischke die Antwort leider schuldig. Semantische Leerformeln wie: „Die Konfliktpotentiale gehen von einem Komplex aus identitäts- und geschichtspolitischen sowie kulturgeschichtlichen Kodierungen aus“ (166), können schwerlich genügen.

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Der Beitrag von Thilo Schabert (167 – 179) kann als ein substantiellerer Antwortversuch auf die obige Frage gelesen werden. Der Autor fragt einleitend: „Woraus geschieht Geschichte?“ und legt die Frage acht bedeutenden Geschichtsdenkern der abendländischen Tradition vor, nämlich Herodot, Thukydides, Vergil, Flavius Josephus, Augustinus, Erasmus, Kant und Hegel (167). Sein an Hegel gemahnender Antwortdreischritt lautet: Erstens: Die Geschichte der Menschheit ist „Krieg, Streit, Streit, Krieg“ (169), angetrieben durch die menschlichen Leidenschaften wie Wut, Neid, Zorn und Rache oder Torheit und Eitelkeit (170). Dahinter stehen letztlich: Lust und Begierde (171). Zweitens: Die zerstörerische Bewegung aus Begierde ist „notwendig“ und „unvermeidlich“, denn sonst wäre der Mensch in Arkadien verblieben und hätte seine Talente nicht entwickelt (171 f.). Und drittens: Der Mensch muss sich für sein Tun „verantworten“ (173). Er fragt nach „Plan und Endabsicht“ (175) seiner gewalttätigen Geschichte. Am Ende bleiben zwei Wege: das Herausgehen aus „Macht und Politik“, das „Aufhören des Streits“ durch Suspendierung der Geschichte (178). Oder die Besinnung im Streit auf die Tugenden der Tapferkeit und Besonnenheit. Der Mut des Besonnenen zum Krieg, resümiert Schabert, sei ein Mut zum Frieden. Denn, so zitiert er Thukydides, die Besonnenheit lasse den Tapferen nicht vor der Zeit zum Krieg und zur rechten Zeit wieder zum Frieden kommen (178 f.). Man könnte hier noch weiter gehend Platon zitieren: Tapferkeit und Besonnenheit bedürfen der Anleitung durch die Gerechtigkeit, um zur rechten Zeit ihrer Ausrichtung gemäß zum Einsatz zu gelangen (Politikos, 308e – 310a). Den Kulturkreiskonflikten liegen divergierende Gerechtigkeitsvorstellungen zu Grunde. Aber es sind ungeprüfte Vorstellungen, die, weil sie nichts an sich selbst verändern, das Leid über die anderen bringen. Ging die bisherige Kritik in die Richtung, dass Unterschiede in den Kulturen noch nicht die Ursache von Kulturkreiskonflikten erreichen, so setzt Henning Hahn (181 – 198) den Hebel von einer anderen Seite an. Er vertritt die Auffassung, die Kulturkreise auf das gemeinsame Ziel der Menschenrechte verpflichten zu können. Menschenrechte könnten die „Bausteine einer kosmopolitischen Zivilisation“ (182) werden, wenn man sie nicht mehr wie bisher im Naturrecht (183), sondern abhängig von ihrer politischen „Institutionalisierung“ (185) verorte. Ein Recht sei politisch nur gegeben, wenn es sich an einen „Adressaten“ wende, „der über effektive Mittel zur politischen Einflussnahme“ verfüge. Wieso das nicht bedeuten soll, dass „Menschenrechtsansprüche von ihrer faktischen politischen Durchsetzung“ abhängen (185), muss das Geheimnis Hahns bleiben. Seine „funktionale Sicht auf Menschenrechte“ (190) postuliert Menschenrechte ohne das Recht und letztlich auch ohne eine Idee des Menschen, so dass am Ende wenig erfreulich ein „globales Menschenrechtregime“ (193, 198) zurückbleibt. Jürgen Gebhardt (117 – 155) fragt schließlich, wie die von Huntington vorausgesetzten Kulturkreise historisch entstanden sind und greift hierzu auf das von Karl Jaspers, Eric Voegelin und Shmuel N. Eisenstadt formulierte Konzept der „Achsenzeit“ zurück. Huntington, so Gebhardt, habe gegen die moderne Annahme eines „univer-

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salen irreversiblen Säkularisierungsprozesses“ (120) sehr richtig die Religion wieder in die Politik zurückgebracht (121), aber er verkenne „die historischen Wurzeln der Modernität“ (124). Gebhardt erblickt die Wurzel in einer „ontologischen Unterscheidung zwischen letzten und weltlichen Wirklichkeiten“,9 wie sie in der Achsenzeit vorgenommen worden sei (125). Die weltliche Existenz konnte fortan von „den Imperativen der transzendentalen Vision“ her interpretiert werden und dies „lief auf eine weitreichende Neuordnung der gesellschaftlichen Existenz hinaus“ (129). Gebhardt entwirft eine typologische Darstellung des historischen Ablaufes dieser Neuordnung. Ihre Stufen sind: Erstens die „ökumenischen Reiche“ der Perser, Makedonen, Römer und Sassaniden, Maurya-Reich und Han-Dynastie (133) und als „Ausklang“ der Islam (135). Zweitens die „orthodoxen Reiche“, nämlich Byzanz, das deutsche Reich des Mittelalters, die arabischen Dynastien der Omaijaden, Abbasiden und Osmanen und die neokonfuzianischen Reiche im Fernen Osten (136). Drittens „heterodoxe Ordnungsvorstellungen“ mit der Bildung von Nationalstaaten seit den Tagen der Reformation (138 f.) und viertens der Konflikt des westlichen Nationalismus mit den fortbestehenden orthodoxen „Reichsgesellschaften“ der übrigen Achsenzeitkulturen im ausgehenden 19. Jahrhundert (145). Ökumenische Reiche sind für Gebhardt Herrschaftsordnungen, die die „eine transzendente Wahrheit“ in der Herrschaft über die eine Welt abzubilden suchten (133), orthodoxe Reiche vergeistigten diesen Anspruch, indem sie sich unabhängig von ihrer territorialen Ausdehnung nur noch als „Repräsentanten“ der einen Menschheit begriffen (136). Als Folge der reformatorischen Individualisierung wuchs schließlich den christlichen Nationen „eine transzendentale Qualität zu“ (139), die sich in einem „System wechselseitiger Anerkennung“ miteinander verglichen (138). Die hier vorgelegte, bedenkenswerte und von Gebhardt ausdrücklich als „Skizze“ (145) und „kursorischer Überblick“ (131) gekennzeichnete „Morphologie des westlichen Zivilisationsprozesses“ (137) verdient eine ergänzende Kritik. Ist es schon auffällig, dass Gebhardt das mittelalterliche deutsche Reich etwas verschämt als „das Reich der lateinischen Christenheit“ bezeichnet (136), so verkennt er bei seiner Beschreibung der politischen Ausgestaltung der reformatorischen Idee die deutsche Rolle völlig. Es gibt für ihn lediglich die Alternative zwischen „der Selbstermächtigung des Volkes unter Gott“, die in den konstitutionellen Republikanismus der englischen Revolution und der amerikanischen Kolonien mündete (140), und dem „modernen Totalitarismus“, der von den französischen Jakobinern grundgelegt wurde (141). Die deutsche Nationalidee ist aber nicht „antiepiskopal, antimonarchisch und antietatistisch“ (140) und erst recht nicht totalitär, sondern in viel stärkerer Weise den alten orthodoxen und ökumenischen Reichsvorstellungen verpflichtet. Insofern ist Deutschland auch nicht in gleicher Weise wie der sogenannte „Westen“ (145) schuldig, nationale Selbstermächtigung und Totalitarismus in die japanische, chinesische und islamische Zivilisation hineingetragen zu haben (145 – 155). 9 Eine „ontological distinction between ultimate and mundane realities“. Gebhardt zitiert hier aus der Einleitung des Sammelbandes: Ben-Rafael/Sternberg, 2005: 8.

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Es ist vielleicht hilfreich, noch einmal an der Achsenzeit anzusetzen, auf die die deutsche Idee eines „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ so lebhaften Bezug nimmt. Karl Jaspers, der auch nach Gebhardts Urteil die Idee der Achsenzeit wesentlich „geprägt“ hat (126), hat sie, so Gebhardt, als einen zwischen 800 und 200 v. Chr. sich ereignenden Denkprozess beschrieben, in dem der Mensch sich „seiner selbst, des Seins im Ganzen und seiner Grenzen in der Erfahrung der Transzendenz“ bewusst geworden sei (126 f.). Gebhardt möchte diesen Zeitraum mit Voegelin, Eisenstadt und anderen lieber auf 800 v. Chr. bis 600 n. Chr. ausgedehnt wissen (127 f.) und bezeichnet ihn als „die durch Transzendenzerfahrungen strukturierte geschichtliche Konfiguration“ (127). In dem von Jaspers in den Blick genommenen Zeitraum geht es nach Gebhardts eigenem Referat aber gar nicht um Transzendenzerfahrung, sondern um die Erfahrung von deren Grenzen. Ich bin ich und stehe unwissend vor mir selbst, dem Sein und dem Göttlichen – das ist die Erfahrung, die Religionsstiftern, Propheten, Dichtern und Philosophen dieser Zeit gemeinsam ist. Das Entstehen universaler Reiche (127) wird von Jaspers gerade als ein Abschluss dieses Prozesses geistiger Öffnung und Offenheit gedeutet, der sich politischer Mittel bediente, wo die philosophischen versagten. Nicht umsonst ist Jaspers Konzept der Achsenzeit eng mit seinem anderen Konzept der „maßgebenden Menschen“ verbunden. Die Achsenzeit ereignet sich zeitgleich „in China, Indien und dem Abendland“ (127), als deren denkerische „Grundlage“ wiederum Konfuzius, Buddha, Jesus und Sokrates hervortreten.10 Sie alle erscheinen zunächst als in besonderer Weise nach der Erkenntnis der Wahrheit Fragende und Suchende, über alle ist die Geschichte im Sinne einer Wiederherstellung des status quo ante hinweggeschritten. Die ökumenischen Reiche strebten nach derselben Weltherrschaft wie die voraxialen „kosmologischen“ Reiche der „frühen Hochkulturen“ (132), aber sie nutzten die „ontologische Unterscheidung“ zwischen Immanenz und Transzendenz (125), um das Erkenntnisproblem im Bereich der Transzendenz aufzubewahren. Transzendenz ist gar keine Wahrheit, die man abbilden könnte (133), sondern nur eine Chiffre für die Wahrheit, eine unbekannte Variable. Kann man die „Spannung“ zu dem besonderen Geist, der laut Jaspers in der Achsenzeit erwuchs und seitdem in der Geschichte beständig wirksam wird, „indem er allem menschlichen Tun eine neue Fragwürdigkeit und Bedeutung gab“,11 als ein besonderes Erbteil der deutschen Kultur betrachten? Auch wenn man dies nicht tut, so wäre doch die historische Wurzel der Modernität (124) noch einen Gedankenschritt vor der ontologischen Unterscheidung zu verorten: im historischen Tatbestand der Umkehr unserer Denkrichtung von der scheinbaren Gewissheit zur Frage, der von Platon Periagoge und in den Evangelien Metanoia genannt wird. Im dritten Teil des Sammelbandes stehen sich in der Hauptsache der westlichabendländische und der chinesische Kulturkreis gegenüber. Zu Beginn wendet sich der aus dem Englischen übersetzte (10, Anm. 5) Artikel von Yehudit Ronen 10 11

Jaspers, 1957: 46. Jaspers, 1955: 18.

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(201 – 217) gegen den von Hahn formulierten Einwand, der sogenannte Arabische Frühling widerlege Huntingtons These, dass sich die Konflikte der Zukunft an den Bruchlinien der unterschiedlichen Kulturkreise abspielten. Denn, so Hahn, dort werde der Kampf innerhalb der islamischen Kultur und für die westliche Werte von Demokratie und Menschenrechten geführt (182). Ronen, die in Israel lehrt, macht demgegenüber deutlich, dass die Islamisten als die eigentlichen Gewinner dieser Kämpfe angesehen werden müssen (209). Es sei ihnen gelungen, „die Revolutionen des Arabischen Frühlings zu kapern“ (210), und dies sei auch wenig zu verwundern, denn in den gestürzten Regimen der arabischen Nationalstaaten spiegele sich das westliche Vorbild, nach dessen Muster diese Staaten entstanden seien (214). Islamistische Kämpfer, die aus Europa und dem Nahen Osten nach Syrien strömten, hätten kein Problem damit, ihren Kampf gegen Bashar al-Assad als „Krieg gegen Amerika und den Westen“ zu bezeichnen (215). Michael Gehler (219 – 239) legt eine Analyse und Darstellung der Europäischen Union vor, um die Frage zu beantworten, ob sie „ein Modell für das 21. Jahrhundert“ sein könne (220). Seine Antwort lautet am Ende, es „scheine“ so zu sein (239), und der in diesem Imperativ sich äußernde Zweifel ist nach der von Gehler gegebenen Darstellung auch verständlich. In euro-bürokratischem Tonfall werden Entstehung, Struktur, Entwicklung, Perzeption und Erosion (220) der EU abgearbeitet, ohne dass irgendwo Begeisterung aufkäme. Ohne „Mythos“ und „Schöpfungsakt“ (221), mit keinem „Gesicht“ identifizierbar (223) und mit „nach wie vor“ fehlender „Endzweckbestimmung“ (236) ist die EU auch noch militärisch unterlegen. Doch müsse sie daraus keine „Schwäche“ ableiten, sondern könne darin auch „Chancen“ sehen (235). Was aber ist, wenn andere daraus eine Schwäche ableiten und der Union keine Chance geben wollen? Immerhin habe sie ein „neues deutsches Imperium“ verhindert, sozusagen als „Imperiumsverhinderungs-Imperium“ (237). Immerhin. Gehler resümiert am Ende, die EU sei das „Ergebnis eines Kosten-Nutzen-Kalküls“ (237 f.). Das dürfte sie in ihrem heutigen Zustand wohl sein. „Mit Herz, Geist und Seele hat es wenig zu tun“ (237). Vor diesem Hintergrund und angesichts der terroristischen Bedrohung durch den Islamismus nimmt sich die chinesisch-konfuzianische Kultur beinahe als die bessere Wahl aus. Die Schlussbeiträge von Meung-Hoan Noh (241 – 251) und Gregor Paul (253 – 281) haben sie beide zum Thema. Beide sind von der Qualität der chinesischen Philosophie überzeugt. Noh argumentiert mit letzterer gegen Huntingtons These, dass kulturelle Einheit und Identität durch Abgrenzung gegen andere entstehe (242 f.) und bildet anschaulich den Deckel der amerikanischen Erstausgabe von Huntingtons Buch ab, auf dem das christliche Kreuz, der islamische Halbmond und das Yin-und-Yang-Zeichen zu sehen sind (249). Der Gegensatz von Yin und Yang ist für ihn „die wesentliche Bewegungstriebkraft des Universums“ (247). Er rufe eine unendliche Folge „dialektischer Aufhebungen“ hervor (245). In gleicher Weise zeige die menschliche Person keine fixierte „Identität“, sondern sei „in unendlichen Wandlungen“ begriffen. Einheit entstehe in dieser Situation nur durch „Harmonisierung“. Beispielweise könne er, Noh, seine „Identität als Ostasiate“ zu der eines „Weltbür-

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gers“ verwandeln, wenn er die entgegengesetzte „Identität eines Europäers“ hinzunehme (247). Das logische Problem von Nohs Theorie besteht darin, dass sie nicht in der Lage ist, die Ursache der Harmonisierung zu benennen. Die Erstursache Gegensatz kann ja nicht zugleich die Ursache von Harmonie sein. Der Taoismus besagt nach Noh zwar, dass Yin und Yang als die zwei Seiten des Gegensatzes zugleich miteinander „identisch“ seien (245), aber das lässt sich auf gar keine Weise mehr denken. Der Gegensatz ist „für eine harmonische Bewegung des Universums“ nur „notwendig“, aber damit noch nicht ursächlich. Nohs Identität als Ostasiate „kann“ sich mit der des Europäers zum Weltbürger harmonisieren, aber sie kann es auch nicht tun (247). Es bleibt ihm am Ende nur zu sagen, dass Huntingtons These, „Feindschaften rechtfertigen und sogar erzeugen kann“ (251), wohingegen die Yin-und-Yang-These Harmonie rechtfertigen und erzeugen kann. Damit ist wenig gewonnen. Der Beitrag von Paul geht schärfer an die Frage heran. Als „die wichtigsten Ursachen“ von Feindschaft nennt er „die Versuchung der Macht, Egoismus, Geltungsbedürfnis, sexuelles Interesse“ (279). Das entspricht der schon von Schabert herausgearbeiteten „Begierde“ als conditio humana (171). Neu hinzu tritt bei Paul die Ursache des „Fundamentalismus“ (261 f.). Fundamentalismus ist für ihn definiert als Verkündung einer „absoluten Wahrheit“, die „das höchste Gut“ bezeichnet. Nicht für die Durchsetzung dieser Wahrheit zu kämpfen, ist für den Fundamentalismus „das größte denkbare und faktische Übel“ (280). Folgt man dieser Sicht, so sind Begierde und absoluter Wahrheitsanspruch die Ursache von Disharmonie. Im Umkehrschluss ergibt sich, dass die Ursache von Harmonie in der Überwindung des Glaubens liegen müsste, das Gute schon zu kennen und möglichst viel davon haben zu sollen. Aber wie geht das? Paul sieht die Gefahr des Fundamentalismus für die meisten Weltreligionen als gegeben an: für Judentum, Christentum, Islam und Hinduismus, aber auch für philosophische Heilslehren wie den Marxismus-Leninismus und den Platonischen Idealismus. Im Konfuzianismus hingegen werde man fundamentalistische Formen „wohl vergeblich suchen“ (280). Dass Paul Islam und Marxismus mit Christentum und Platonismus in eine Reihe stellt, ist einigermaßen eindimensional, dass er die Einreihung Platons mit dem verhängnisvollen Werk Karl Poppers begründet (280, Anm. 53), ist regelrecht ärgerlich. Religion scheint für ihn mit dem Ausgehen von vorgegebener Wahrheit identisch und damit schon an und für sich fundamentalistisch zu sein (vgl. 262, Anm. 12). Doch gibt es im asiatischen Denken tatsächlich nur Gegensatz und Bewegung und keine feststehende Wahrheit? Aufschluss gibt hier das Konzept der Menschenwürde, das Paul im konfuzianischen Begriff des „ren“ – der Menschlichkeit – wiederfindet (267). Die konfuzianische Menschenwürde, so Paul, liege nicht in der „Gottesebenbildlichkeit“ des Menschen begründet (273), sondern „faktisch primär im Bewusstsein der eigenen Freiheit“ (274). „Dem Menzius zufolge wissen wir nämlich aus Erfahrung, dass alle Menschen den Hang und die Fähigkeit zur Moralität besitzen. Wir beobachten

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dies einfach“ (272). Nun haben andere gewiss anderes beobachtet. Aber setzt man die richtige Wiedergabe der Quellen durch Paul voraus, so gibt sich der konfuzianische Wahrheitsanspruch hier unzweideutig zu erkennen. Der Angehörige des chinesischen Kulturkreises weiß so sicher, was für ihn gut ist, dass er es gar nicht nötig hat, seine Würde als Mensch durch einen Rekurs auf Gott zu begründen. Seine „moralische Autonomie“ ist – zumindest im Anspruch – stark (275). Noch interessanter erscheinen bei Paul das Pathos und die emotionale Wucht dieses Anspruchs. Wörtlich heißt es: „Essen anzunehmen, das einem mit einem Fußtritt zugeschoben wird, bedeutet faktisch, sich dem Beleidiger zu unterwerfen, auf eine Freiheit, auf der man, wie man selbst weiß, bestehen sollte, zu verzichten. Das Essen zurückzustoßen und dies gar um den Preis des eigenen Lebens, ist dagegen ein unverkennbarer, ja heroischer, Bewunderung und Respekt heischender Akt der Freiheit“ (274 f.).

Ist er das wirklich? Kann es auch heroisch sein, in einem Konzentrationslager zu überleben? Das ist eine ernste Frage, denn sie verweist auf die existentielle Entscheidung, wie wir mit unserem Leben umgehen. Nicht ohne Grund kommt Paul deshalb auf das Thema des Selbstmordes zu sprechen. Im sinoasiatischen Raum habe er „als ehrenhafte Todesstrafe“ gegolten, als ein „letzter (heroischer) Akt der Selbstbestimmung“, der „den Freitod der Entwürdigung vorzog“ (276). Man soll also eine ungerechte und entwürdigende Tötung selbst ausführen, statt sie den Ungerechten nach Möglichkeit zu überlassen. Das ist weder platonisch, noch christlich gedacht, aber es zeigt doch, wie hart und fundamentalistisch man hier bereit zu sein scheint, für die Durchsetzung der Wahrheit, die man selbst ist, zu kämpfen. Christen waren da traditionell vorsichtiger. Als Thomas Morus in einem bekannten Film am Ende seines Martyriumsweges auf das Schafott steigt, drückt er dem Henker eine Münze in die Hand und sagt: „Ich vergebe Dir.“12 Das ist gute abendländische Art, aber leider weitgehend ausgestorben. Insgesamt zeigt der Sammelband „20 Jahre nach Huntington“ einen vielstimmigen Chor der Bewertung seiner Thesen. Von der Geschichte „überholt“, so schon der Herausgeber, scheinen diese jedenfalls nicht zu sein (13 f.). Letztlich bieten sie den Anlass, die wichtigere und entscheidende Diskussion darüber zu führen, wie wir es mit unserer Kultur im Land der untergehenden Sonne, im Abendland, halten. Huntington riet dem Westen 1993 zum Maßhalten, als dieser oder zumindest die Vereinigten Staaten von Amerika auf der Höhe der Machtausübung zu stehen schienen. Denn auf der Höhe, so Brutus richtig, stehen wir schon an der Neige.13 Huntington wollte, dass der Westen zumindest vorläufig überlebt, aber er sagt nicht wofür. Vielleicht um auch in Zukunft auf ein Leben der Wahrheitssuche hinzuweisen, das bereit ist, über sich hinauszugehen und das Kreuz oder den Schierling anzunehmen. So gesehen hätte der Westen das „zentrale Drama der Menschheitsgeschichte“ (41) bereits 12 „A Man for All Seasons“, Großbritannien, 1966. Nach dem gleichnamigen Theaterstück von Robert Bolt. 13 Shakespeare: Julius Cäsar, 4. Akt, 3. Szene, Zeile 216.

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geschrieben. Aber es muss in jedem Zeitalter neu gespielt und gewusst werden. Der Stolz auf unsere Geschichte ist eine Verpflichtung für jeden. Literatur Ben-Rafael, Elisier/Sternberg, Yitzhak (2005): Comparing Modernities. Leiden: Brill. Huntington, Samuel P. (1993): The Clash of Civilizations?. In: Foreign Affairs, 72, 3, Summer 1993, S. 22 – 49. – (1996a): The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York: Simon & Schuster. – (1996b): Der Kampf der Kulturen: Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen von Holger Fliessbach. München/Wien: Europa-Verlag. Jaspers, Karl (1955): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Frankfurt am Main/Hamburg: Fischer (Original 1949). – (1957): Die großen Philosophen. Bd. 1. München: Piper.

Ulrich Kühn, Berlin Elif Özmen: Politische Philosophie zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2013, 160 S. Politische Philosophie ist in einer Welt, die zunehmend aus den Fugen zu geraten scheint, wieder im Trend, an Einführungen zu diesem Thema mangelt es nicht. Allerdings besteht das heuristische Problem bei allen Einführungen meist darin, dass sich die Verfasser aufgrund der Vorgaben des jeweiligen Verlages meist deutlich beschränken müssen. Will die Einführung marktgerecht, d. h. für das studentische Publikum auch eine Kaufoption sein, muss das Buch seine Ausführungen auf einer knapp bemessenen Seitenzahl zu beschränken wissen. Insofern leiden alle derzeitigen Einführungen zur Politischen Philosophie darunter, wie sie mit dem Knappheitsgebot argumentativ umgehen. Das setzt notwendigerweise eine gut begründete Auswahl für das jeweils avisierte Erklärungsmodell voraus. Oder umgekehrt: das Erklärungsmodell selbst begrenzt allein schon die Auswahl der Themen und Autoren zur Politischen Philosophie. Im vorliegenden Fall hat sich Elif Özmen für das Konzept einer systematischen Präsentation entschieden, bei der (zunächst) nicht autorenorientiert vorgegangen wird, sondern die Argumentation nach kategorialen Leitfragen (über das Gute, die Freiheit, die Gerechtigkeit und die Demokratie) erfolgt. Sehr eingehend wird zunächst jedoch nach den Bestimmungsmustern von Politischer Philosophie gefragt, die hinsichtlich ihrer Argumentationsstrategien ausführlich und mit guten Thesen beleuchtet werden. Zu Recht verortet Özmen die jeweiligen Begründungssätze heuristisch wie hermeneutisch als das eigentliche Problem für die Politische Philosophie. Leider begreift sie aber ihr Themengebiet nicht im Sinne der Fülle von Angeboten und differenten Positionen, wie sie die Geschichte der Politischen Philosophie seit

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mehr als zwei Jahrtausenden mit reichhaltiger Argumentation dokumentiert, sondern Özmen verdichtet alles auf das, was sie eigentlich hierbei interessiert: nämlich die Begründungsformen für den demokratischen Staat und der ihm zugrunde liegenden pluralistischen Gesellschaftsform. Das ist in gewisser Weise nicht nur modernistisch, sondern beinahe schon ideologisch zu nennen. So lesen sich nicht zufällig die Ausführungen zu Rawls, der eine zentrale Denkfigur in der Argumentation darstellt (neben Kant, was hier nicht überrascht), wie eine Hochglanzstilisierung aus dem Wahlforum der FDP zum Thema Toleranz, Freiheit und Menschenrechte. Politische Philosophie sollte doch allerdings etwas mehr sein, als nur die Fokussierung auf ein bestimmtes Argumentationsmaterial. Unter Einführungsgesichtspunkten ist es dann auch wenig austariert, wenn Platon mal auf zwei Seiten ausgerechnet zur Idee des Guten erwähnt wird. Ansonsten sticht auch hier der Aristotelismus in seinen Hauptargumenten (der Herrschaft, der Normierung der Ordnung) immer wieder durch, was Özmen selbst gar nicht bemerkt. Alles drängt bei ihr ohnehin zur Modernität und angeblichen systemischen Aktualität im Jetzt. Hobbes ist dann diagnostischer Ausgangspunkt für den modernen Staat und natürlich Rousseau. Dazwischen liegende Welten werden nicht in Augenschein genommen. Offensichtlich kennt Özmen diese auch gar nicht, demonstriert doch ihr Literaturverzeichnis einen sehr einfachen Umgang mit Fachliteratur. Die Auswahl ist relativ schlicht. Auch bei den Klassikern fehlen bezeichnenderweise der „Politikos“ oder etwa die „Discorsi“. So folgt die Gesamterzählung immer dem Duktus des angeblich Neuen. Die Welt der Politischen Philosophie besteht dann nur aus Kommunitaristen und kritischen Rationalisten. Selbst wenn man den Vorteil hierbei in dem Plädoyer zugunsten des Individuums als dem politischen Subjekt sieht, dann überrascht es doch, wie einseitig hier etwa Hobbes oder Locke dechiffriert werden. Zwar sind die besseren Positionen dieser Einführung in den Aussagen zu Habermas, Rawls und Taylor zu sehen, doch ist dies dann tatsächlich als Einführung in die Politische Philosophie zu rechtfertigen? Muss tatsächlich die Aussage des Bundesverfassungsgerichtes zitiert werden (120), um ein philosophisches Argument stark zu machen? Mit einer Einführung zur Gesamtheit der Politischen Philosophie hat dies nichts zu tun. Wenn es um die Wiedergabe von Argumenten zugunsten der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland geht und gewisse universalistische Ansprüche, die sich hieraus etwa ableiten lassen, dann sollte man dies im Buchtitel auch so nennen. Peter Nitschke, Vechta

Autorenverzeichnis Dr. Martin Correll, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Dr. Detlef von Daniels, Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Koordinator) bei der Arbeitsgruppe Internationale Gerechtigkeit und Institutionelle Verantwortung, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. Prof. Dr. Hans-Georg Dederer, Universitätsprofessor für Staats- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht, Universität Passau. Prof. Dr. Rainer Enskat, emeritierter Universitätsprofessor für theoretische Philosophie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Dr. Alexander Gantschow, Lehrbeauftragter am Institut für Sozialwissenschaften, Christian-Albrechts-Universität Kiel. Prof. Dr. Dr. h.c. Hasso Hofmann, emeritierter Universitätsprofessor für Öffentliches Recht, Rechts- und Staatsphilosophie, Humboldt-Universität zu Berlin. Dr. Sebastian Huhnholz, Wissenschaftlicher Assistent am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft, Ludwig-Maximilians-Universität München. Prof. Dr. Clemens Kauffmann, Universitätsprofessor für Politische Wissenschaft, FriedrichAlexander Universität-Erlangen-Nürnberg. Prof. Dr. Hans-Christof Kraus, Universitätsprofessor für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Passau. Dr. Ulrich Kühn, Historiker und Philosoph, Berlin. Prof. Dr. Reinhard Mehring, Professor für Politikwissenschaft, Pädagogische Hochschule Heidelberg. PD Dr. Thomas Meyer, Vertretungsprofessor für Geschichte der Philosophie am Philosophischen Seminar, Universität Hamburg. Prof. Dr. Peter Nitschke, Universitätsprofessor für Wissenschaft von der Politik, Universität Vechta. Dr. Martin Otto, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Privatrechtsgeschichte sowie Handels- und Gesellschaftsrecht, Fernuniversität Hagen. PD Dr. Daniel Schulz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft, Ludwig-Maximilians-Universität München. Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig, Universitätsprofessorin für Politische Theorie und Ideengeschichte, Universität Passau.