Politisches Denken. Jahrbuch 2008 [1 ed.] 9783428529131, 9783428129133

Das von Barbara Zehnpfennig herausgegebene Jahrbuch Politisches Denken 2008 ist dem Thema "Die Herrschaft der Geset

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Politisches Denken. Jahrbuch 2008 [1 ed.]
 9783428529131, 9783428129133

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POLITISCHES DENKEN JAHRBUCH 2008 Herausgegeben von

V. Gerhardt, R. Mehring, H. Ottmann, M. P. Thompson, B. Zehnpfennig u Volker Gerhardt: Die erste Lehre von der Verfassung u Henning Ottmann: Platons Mischverfassungslehre u Ada Neschke-Hentschke: Platos Politische Theorie in den Nomoi u Peter Nitschke: Der Politiker und die Regeln des Politischen u Francisco L. Lisi: Nemo sua sponte peccat u Andreas Eckl: Nomoi, 884a–899d u Okko Behrends: Die Republik und die Gesetze u Klaus Schöpsdau: Platon als Reformer des Strafrechts u Alexander Demandt: Platon und der Wein u Damir Barbaric´: „Die möglichst schöne und zumal beste Tragödie‘‘ u Clemens Kauffmann: Platons „falsche‘‘ Theologie u Barbara Zehnpfennig: Die Abwesenheit des Philosophen u Kurt Sier: Die ,nächtliche Versammlung‘ in Platons Nomoi u Marcel van Ackeren: Entwicklungshypothesen über Platon

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Duncker & Humblot

Politisches Denken · Jahrbuch 2008

In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens Redaktionsanschriften: Prof. Dr. Volker Gerhardt, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin Prof. Dr. Henning Ottmann Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft, Universität München, Oettingenstr. 67, 80539 München Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig Politische Theorie und Ideengeschichte, Universität Passau, 94030 Passau

Wissenschaftlicher Beirat: Karl Dietrich Bracher (Bonn), Reinhard Brandt (Marburg), John Dunn (Cambridge), Iring Fetscher (Frankfurt), Wilhem Hennis (Freiburg), Dieter Henrich (München), Otfried Höffe (Tübingen), Hasso Hofmann (Berlin), Nikolaus Lobkowicz (Eichstätt), Hermann Lübbe (Zürich), Odo Marquard (Gießen), Kenneth Minogue (London), J. G. A. Pocock (Hopkins University), Melvin Richter (New York), Quentin Skinner (Cambridge), Michael Stolleis (Frankfurt)

Politisches Denken Jahrbuch 2008 Herausgegeben von Volker Gerhardt, Reinhard Mehring, Henning Ottmann, Martyn P. Thompson und Barbara Zehnpfennig

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0942-2307 ISBN 978-3-428-12913-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Die Herrschaft der Gesetze und die Herrschaft des Menschen – Platons „Nomoi“ Herausgegeben von Barbara Zehnpfennig Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Politik Die erste Lehre von der Verfassung – Der Beitrag der Nomoi zur Theorie der Politik Von Volker Gerhardt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Platons Mischverfassungslehre Von Henning Ottmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Platos Politische Theorie in den Nomoi – Geltung und Genese Von Ada Neschke-Hentschke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Politiker und die Regeln des Politischen nach dem Regiment der Nomoi Von Peter Nitschke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Recht Nemo sua sponte peccat – Platons Begründung des Strafrechts in den Nomoi (IX 859d–864c) Von Francisco L. Lisi. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nomoi, 884a–899d – Wovon man den Rechtsbrecher (noch heute) überzeugen muss Von Andreas Eckl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Die Republik und die Gesetze in den Doppelwerken Platons und Ciceros Von Okko Behrends . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 III. Geschichte Platon als Reformer des Strafrechts – Zu den Strafgesetzen in den Nomoi Von Klaus Schöpsdau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Platon und der Wein Von Alexander Demandt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

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Inhaltsverzeichnis

„Die möglichst schöne und zumal beste Tragödie“ – Über den geschichtsphilosophischen Hintergrund der Nomoi Von Damir Barbaric´ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 IV. Philosophie Platons „falsche“ Theologie: Zum Verhältnis von Ontologie und Theologie in den „Nomoi“ Von Clemens Kauffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Die Abwesenheit des Philosophen und die Gegenwärtigkeit des Rechts – Platons „Nomoi“ Von Barbara Zehnpfennig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Die ‚nächtliche Versammlung‘ in Platons Nomoi – Überlegungen zu ihrer Funktion Von Kurt Sier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Entwicklungshypothesen über Platon – Die Entwicklung vom Politikos zu den Nomoi als Fallbeispiel Von Marcel van Ackeren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Rezensionen Alexander Rüstow, Freiheit und Herrschaft. Eine Kritik der Zivilisation. Gekürzte Fassung der „Ortsbestimmung der Gegenwart“, hrsg. von Hellmut Rüstow, LIT-Verlag (Edition Walter-Eucken-Archiv), Münster 2005. Von Hendrik Hansen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Michael Th. Greven, Politisches Denken in Deutschland nach 1945. Erfahrung und Umgang mit der Kontingenz in der unmittelbaren Nachkriegszeit, Verlag Barbara Budrich, Opladen 2007, 304 S. Stephan Schlak, Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik, Beck-Verlag, München 2008, 277 S. Von Reinhard Mehring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Friedrich der Große, Potsdamer Ausgabe, Werke, Bd. VI: Philosophische Schriften, hrsg. v. Anne Baillot/Brunhilde Wehinger, Berlin (Akademie Verlag) 2007, 524 Seiten. Von Hans-Christof Kraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Platons Nomoi: Die Ansprache an die Siedler – Populärphilosophie für die breite Masse – (715e7–734e2) Von Sarah Hegenbart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

Einleitung Die „Nomoi“, Platons großes Werk über die Gesetze, sind zwar nicht gerade ein Stiefkind, aber doch auch kein Lieblingskind der Forschung; lange Zeit galten sie als sperrig und dunkel. Aber selbst wenn manche frühere Ansicht über diesen Text revidiert wurde, etwa die Meinung, den „Nomoi“ fehle es an stringenter Struktur, so wirken die Schwierigkeiten der Deutung offenbar doch noch immer abschreckend. Jedenfalls erfreuen sich die anderen politischen Schriften Platons wie „Politeia“, „Politikos“ oder „Gorgias“ erkennbar größerer Resonanz als jener Text, in dem Platon ein Gemeinwesen entwirft, das ganz und gar der Herrschaft der Gesetze unterstellt werden soll. Angesichts dieser Ausgangslage war es ein spannendes Unterfangen, Philosophen, Politikwissenschaftler, Juristen, Historiker und Altphilologen zusammenzubringen, um dieses so herausfordernde Werk Platons aus den unterschiedlichen Fachdisziplinen heraus in den Blick zu nehmen und zu diskutieren. Die Tagung „Platons ‚Nomoi‘ – die Herrschaft der Gesetze und die Herrschaft des Menschen“, die 2007 in Passau stattfand und deren Ergebnisse in dem vorliegenden Jahrbuch versammelt sind, zeigte, wie fruchtbar eine Zusammenarbeit über die Fächergrenzen hinweg sein kann, wenn sie sich auf einen klar umgrenzten und in sich reichen und komplexen Gegenstand konzentriert. In der Tagung reflektierte sich geradezu die Wissenschaftsgeschichte, wurde doch sichtbar, dass es tatsächlich der im Lauf der Geschichte entwickelten Spezialdisziplinen bedurfte, um den Facettenreichtum eines Denkens einzufangen, das noch vor jeder Spezialisierung die wesentlichen Aspekte des Lebens in sich zur Synthese brachte. Eine grobe Gliederung der angesprochenen Themenbereiche: Politik, Recht, Geschichte und Philosophie konnte diese Komplexität nur unzureichend widerspiegeln, zumal damit künstlich getrennt wurde, was im platonischen Text eine Einheit bildet. Dennoch half die thematische Einteilung bei der Orientierung – so, wie sie es hoffentlich dem Leser dieses Bandes erleichtert, einen Überblick über die Vielfalt der angesprochenen Bereiche, aber auch der Interpretationsmöglichkeiten zu gewinnen. Auch hier nämlich wiederholt sich, was schon immer Kennzeichen und Konsequenz der platonischen Philosophie war: dass das in ihr Ungesagte, das ungesagt bleibt, um das eigene Denken herauszufordern, zu höchst unterschiedlichen Deutungen Anlass gibt.

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Einleitung

Eine große Gesamtdeutung unternimmt Volker Gerhardt, mit dem der Themenbereich „Politik“ anhebt: „Die erste Lehre von der Verfassung“ entdeckt in den ‚Nomoi‘ ein Werk von frappierender politischer Aktualität und eine Verfassungstheorie, die den Gesamthorizont der menschlichen Existenz einbezieht. Henning Ottmanns Beitrag über „Platons Mischverfassungslehre“ akzentuiert einen spezifischen Aspekt dieser Verfassungstheorie, die Mischung der verschiedenen Verfassungstypen, und beurteilt die seitens der Verfassung eröffneten Möglichkeiten bürgerlicher Partizipation deutlich skeptischer als Volker Gerhardt. In Ada Neschke-Hentschkes Artikel „Platos Politische Theorie in den Nomoi – Geltung und Genese“ steht das Besondere der platonischen politischen Theorie im Mittelpunkt: dass sie als Theorie der Freiheit in der Philosophie der Seele gründet und auf diese Weise Gesetzesherrschaft und Willensfreiheit zu versöhnen trachtet. Ebenfalls um das Spezifische des platonischen Politik-Verständnisses geht es in Peter Nitschkes Beitrag „Der Politiker und die Regeln des Politischen“; allerdings rücken in dieser Interpretation Elemente des Zwangs und des hermetischen Abschlusses des politischen Systems in den Fokus, so dass sich für die Politik der „Nomoi“ eher das Bild eines „aufgeklärten Absolutismus“ ergibt. Unter der Rubrik „Recht“ finden sich drei Artikel, von denen die beiden ersten sich auf den Bereich des Strafrechts konzentrieren. Francisco Lisi geht in seinem Beitrag „Nemo sua sponte peccat. Platons Begründung des Strafrechts in den Nomoi (IX 859d–864c)“ der Frage nach, was mit der Formel, dass niemand freiwillig Unrecht begehe, gemeint sein kann. In seiner Deutung zielt die Rechtsordnung der „Nomoi“ auf eine restlose Verinnerlichung der Gemeinschaftswerte, so dass ein individueller Gewissensentscheid unmöglich wird. Im Gegensatz dazu sieht Andreas Eckl, „Nomoi, 884a–889d. Wovon man den Rechtsbrecher (noch heute) überzeugen muss“, gerade in den „Nomoi“ eine argumentative Rechtsbegründung vorgeführt, die auch für den modernen Rechtsstaat Vorbildcharakter haben könnte, weil sie auf die Einsichtsfähigkeit des einzelnen setzt. Einen ganz anderen Aspekt des Rechts thematisiert Okko Behrends in „Die Republik und die Gesetze in den Doppelwerken Platons und Ciceros“, nämlich den Zusammenhang zwischen Legitimation des Rechts und politischer Ordnung. Der große, freilich spannungsreiche, Bogen, den er dabei von Platon über die römische Republik bis zum modernen Republikanismus schlägt, leitet bereits über zum nächsten Themenkomplex, der „Geschichte“. Hier untersucht zunächst Klaus Schöpsdau, „Platon als Reformer des Strafrechts. Zu den Strafgesetzen in den Nomoi“, welche Neuerungen Platons Gesetzesstaat gegenüber dem herkömmlichen attischen Recht, so weit es aus der Überlieferung zu erschließen ist, vorsieht. Alexander Demandts Artikel „Platon und der Wein“ vergleicht die entsprechenden Ausführungen

Einleitung

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in den „Nomoi“, in denen es um die Frage der Selbstbeherrschung geht, mit anderen aus der Antike bekannten Stellungnahmen zum Thema Alkoholgenuss bzw. zum Verhältnis von Alkohol und Politik. Eine philosophische Wendung nimmt die Betrachtung der Geschichte im Beitrag von Damir Barbaric´, „Die möglichst schöne und zumal beste Tragödie. Über den geschichtsphilosophischen Hintergrund der Nomoi“. In dieser Darstellung erscheinen die „Nomoi“ als Reaktion auf ein als gottverlassen erlebtes Zeitalter. Mit der Frage, in welcher Beziehung die „Nomoi“ zur Theologie stehen, befassen sich u. a. auch die beiden ersten Artikel der Abteilung „Philosophie“. Clemens Kauffmann, „Platons ‚falsche‘ Theologie: Zum Verhältnis von Ontologie und Theologie in den ‚Nomoi‘ “, nimmt den ständigen Rückbezug des Gesetzesstaates auf theologische Elemente als politisch motiviert an; letztlich ist es die Philosophie, nicht die Theologie, auf der die „Nomoi“ gründen. Zu einem ähnlichen Ergebnis komme ich in meinem eigenen Artikel: Barbara Zehnpfennig, „Die Abwesenheit des Philosophen und die Gegenwärtigkeit des Rechts – Platons ‚Nomoi‘ “; allerdings wird hier die Untersuchung des Stellenwerts der Theologie im Rahmen der Frage behandelt, welche Konsequenzen es hat, wenn die Herrschaft der Gesetze die Herrschaft des Philosophen ersetzen muss. Inwieweit die „nächtliche Versammlung“, der sozusagen die Selbstreflexion des Gesetzesstaates überantwortet wird, ein quasi-philosophisches Korrektiv der Gesetzesherrschaft darstellen könnte, analysiert dann Kurt Sier, in: „Die ‚nächtliche Versammlung‘ in Platons Nomoi“. Abschließend wirft Marcel van Ackeren, „Entwicklungshypothesen über Platon. Die Entwicklung vom Politikos zu den Nomoi als Fallbeispiel“, noch einmal einen Blick zurück, nämlich zu dem vor den „Nomoi“ verfassten Dialog „Politikos“, um zu prüfen, was schon in einer Reihe von Beiträgen zuvor immer wieder thematisiert wurde: ob Platon mit den „Nomoi“ sein bisheriges Politikverständnis revidiert hat oder nicht. Welches Resümee könnte der Leser aus der Lektüre dieses Bandes über Platons „Nomoi“ ziehen? Er hat gute Gründe dafür genannt bekommen, den Gesetzesstaat der „Nomoi“ für historisch obsolet oder für hochaktuell zu halten, ihn als Theokratie oder als Vernunftstaat zu deuten, in ihm individuelle Freiheit unterdrückt oder verwirklicht zu finden. Wenn die Spannung, die zwischen den Interpretationen besteht, ihn dazu führt, sich durch Lektüre des Originaltextes ein eigenes Bild zu verschaffen, dann wäre diesem Band eine Wirkung beschieden, die sich alle Beteiligten nur wünschen könnten. Denn Platon zu lesen, ist immer ein Gewinn – selbst für seine Gegner. Passau, im November 2008

Barbara Zehnpfennig

Die Herrschaft der Gesetze und die Herrschaft des Menschen – Platons „Nomoi“ Herausgegeben von Barbara Zehnpfennig

I. Politik

Die erste Lehre von der Verfassung Der Beitrag der Nomoi zur Theorie der Politik Von Volker Gerhardt I. Zur Vorgeschichte der Politischen Theorie Wenn es richtig ist, dass die Politik ihren Anfang in den Reichen des Alten Orients genommen hat und somit auf eine viel tausendjährige Tradition zurückblicken kann, wird man voraussetzen dürfen, dass auch schon einige tausend Jahre über sie nachgedacht worden ist. Denn Politik ist ein Geschehen, das gelegentlich zwar von einem einzelnen Menschen verantwortet wird, aber stets von vielen getragen und durchgeführt werden muss, selbst wenn dadurch eine Menge von Menschen in Abhängigkeit gehalten wird. Die Vielen, auf deren Beteiligung es allemal ankommt, müssen durch gemeinsame Vorstellungen verbunden werden. Die Vorstellungen bedürfen der Begründung und sind, wie wir aus frühen Quellen wissen, niemals bloß einfach hingenommen worden. Es gab Gegensatz und Streit, der unter den Trägern einer Herrschaft, durch Beratung und Absprache behoben werden musste. Und selbst, wenn es eine autoritative Verfügung des gewalttätigen Machthabers gab, war ein tragendes Verständnis nötig, das auf einsichtige Gefolgschaft wenigstens bei den engsten Vertrauten setzen musste, die ihrerseits auf die Einsicht derjenigen rechnen können mussten, die ihre Befehle weitergaben. Selbst gesetzt, es hätte in den frühen Reichen am Nil und Euphrat oder in den Burgsiedlungen Palestinas und Anatoliens lediglich solche Befehlsketten gegeben, wären sie nicht ohne Gründe möglich gewesen, die auf die Einsicht der Beteiligten setzten. Die Wirksamkeit politischer Handlungsstrukturen ist somit schon unter Konditionen autokratischer Verfügung an das Mitdenken der Beteiligten gebunden. Politik ist auf Mitteilung angewiesen, benötigt ein von mehreren geteiltes Wissen, aber auch die Fähigkeit, am jeweils gegebenen Ort, eigene Entscheidungen zu treffen. Politik ist von Anfang an mit dem Bewusstsein von ihren Absichten, Verläufen und Folgen verbunden. Also dürfte es schon früh auch ein Nachdenken über das gegeben haben, was sie generell benötigt und begünstigt.

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Volker Gerhardt

Diese Schlussfolgerung wird dadurch gestützt, dass die Entstehung des Politischen im Alten Orient an hoch entwickelte ökonomische, technische und juridische Bedingungen geknüpft gewesen ist. Sie bedurfte der Arbeitsteilung und der sozialen Hierarchien und war vor allem an die Wirksamkeit der Schrift gebunden. Es war eine Wissensgesellschaft, die sich das Politische erfand, um die bereits erbrachten kooperativen sozialen Leistungen zu verbessern, auszuweiten und zu sichern. Da Wissen sich in Alternativen bewegt und an ein individuiertes Bewusstsein gebunden ist, darf man auch hier von der Reflexion als einer elementaren Bedingung des Politischen sprechen. Platon also, das soll meine Vorbemerkung kenntlich machen, war gewiss nicht der erste, der über die Bedingungen politischer Systeme nachgedacht hat. Er hatte Vorläufer nicht nur bei den Sophisten1 und auch nicht nur bei den Gründern griechischer Kolonien, sondern auch im weiten Vorfeld der Bildung des Politischen in den ihm voraus liegenden Jahrtausenden. Seine Verehrung Solons, der als die Autorität des nomothete¯s im Hintergrund der Nomoi steht und der sich bekanntlich durch Reisen im Vorderen Orient und in Ägypten gebildet hat, zeigt an, dass ihm die historische Tiefendimension des Nachdenkens über das Politische bewusst gewesen ist. Es geht ihm nicht nur darum, das Wissen aufzunehmen, das sich über die Jahrhunderte in Sparta, Athen und auf Kreta angesammelt hat, sondern auch ihre weit in die Vergangenheit reichenden Quellen anzudeuten. II. Konditionen im eigenen Land Wenn Platon nicht am Anfang der geschichtlichen Entstehung des Politischen steht, so befindet er sich doch mitten in der dramatischen Wende zur Autonomisierung der Politik. Die korporativen Institutionen sind gegründet, erste zentralisierende Leistungen des Rechts sind erprobt und die Fähigkeiten zur militärischen Organisation, zur effektiven Administration und zur Diplomatie sind erwiesen. Mehr noch: Sie haben bereits eine Reihe von grundsätzlichen Variationen hinter sich und werden, so weit wir wissen, von den Griechen erstmals in ihrer eigenen politischen Logik – unabhängig von mythischen und religiösen Ansprüchen – weiter entwickelt.2 1 Hier wäre insbesondere an Protagoras zu denken, der bereits mit einer Platon bekannten Schrift über Recht und Politik hervorgetreten ist (Politeia/„Vom Staate“ DK A 1). Perikles hatte Protagoras mit der Ausarbeitung der Verfassung für die unteritalische Kolonie Thurioi beauftragt. Diese Verfassung scheint eine gemäßigte Demokratie gewesen zu sein, die den Besitz beschränkte, Schulpflicht und Lehrerbesoldung vorsah. Mit der Gründung von Magnesia scheint Platon eine literarische Parallele zur praktischen Leistung des Protagoras zu suchen. 2 Yoffee, Norman: Myths of the Archaic State: Evolution of the Earliest Cities, States, and Civilisations, Cambridge 2005. Wimmer, Hannes: Evolution der Politik.

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Die Gründe dafür hat Christian Meier zu eruieren gesucht: Sie liegen in der Wanderungs- und Siedlungsgeschichte der Griechen, in den geographischen Gegebenheiten des von ihnen besetzten Gebiets, in ihrer auf Innovation und Agon gerichteten, hoch individualisierten Mentalität, sowie in der aus alledem resultierenden Notwendigkeit, ihre politische Expansion durch die Gründung von Pflanzstätten an den Ufern des Schwarzen und des Mittelmeeres voranzutreiben.3 Das nötigt sie, über die Verfassung ihrer eigenen Städte nachzudenken, damit die Kolonisten Siedlungen schaffen können, die den Mutterstätten vor allem in ihrer Struktur nahe bleiben. Es sind durch und durch politische Neugründungen, und zwar vornehmlich deshalb, weil nicht das Blut, sondern die Gemeinsamkeiten in ihrer jeweiligen Verfassung den Zusammenhang sichern. Das, wie ich glaube, vollkommen Neue dieser zweiten großen Phase im Aufbau des Politischen liegt aber in der parallelen Entwicklung mit den Künsten und der Wissenschaft – im Bewusstsein einer teilnehmenden Öffentlichkeit, die sich zunehmend als Organ der politischen Prozesse begreift: Sie beobachtet, bewertet und ist an Entscheidungen zumindest beteiligt. In sie wirken die zunächst noch mythologisch ansetzende Geschichtsschreibung, die liedhafte Lyrik und die massenwirksame Tragödie hinein. Hinzu kommen die fortschreitende Professionalisierung der Medizin, die zunehmend auf eine abstrakte Begrifflichkeit setzende Naturbeschreibung sowie die auf Rhetorik, Recht und Pädagogik spezialisierte, aber kein Gebiet des Wissens auslassende Sophistik. In Verbindung mit dem zunehmenden Handel und der wachsenden Kenntnis der umliegenden Länder und Völker machen sie die Öffentlichkeit zu einem bewusst Beziehungen herstellenden, den Horizont der einzelnen poleis weit überschreitenden Organ der Selbstwahrnehmung der hellenischen Kultur.4 Natürlich muss man zugestehen, dass es auch schon in Theben und Ninive sowie in den Reichen am Ganges, Jangtse und Hoangho eine fortschreitende Akkumulation von Wissen gegeben hat. Doch das kursierte in Von der Stammesgesellschaft zur modernen Demokratie, Wien 1996. Assmann, Jan: Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990; ders.: Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, München 1992, 19952; ders.: Stein und Zeit. Mensch und Gesellschaft im Alten Ägypten, München 1995; Sommer, Michael: Europas Ahnen. Ursprünge des Politischen bei den Phönikern, Darmstadt 2000. 3 Meier, Christian: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/M. 1980; ders.: Die politische Kunst der griechischen Tragödie, Dresden 1990; ders.: Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, Berlin 19932. Dazu kritisch: Gerhardt, Volker: Zur Herkunft der Politik, in: Merkur, 708, 2008, S. 430–435. 4 Rahe, Paul Anthony: Republics ancient and modern: classical republicanism and the American Revolution. Chapel Hill 1992; Unschuld, Paul: Was ist Medizin, Berlin/New York 2005.

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kleinen spezialisierten Zirkeln von Priestern und Beamten und wurde gleichsam in geschlossenen Räumen tradiert. Die Griechen aber praktizierten ihre Künste vor einem Publikum, das zustimmende und ablehnende Reaktionen zeigte, nach Art einer richtenden Instanz fungierte und zu weiteren Aktivitäten antrieb, je mehr es politischen Einfluss nehmen konnte. Bei den Griechen des 6. und 5. Jahrhunderts, so kann man die neue weltgeschichtliche Entwicklung pointieren, wurde das Wissen öffentlich. Es ist die öffentliche Entfaltung der artifiziellen und intellektuellen Fertigkeiten, mit denen die Griechen die Geschichte der Menschheit in eine neue Dimension überführten. Und es ist die Öffentlichkeit, in der sich erstmals das entfalten konnte, was wir heute Wissenschaft zu nennen pflegen. Dazu gehört auch die politische Theorie, die sich als Teil einer Reflexion über die Natur, das Recht, die Lebensführung des Menschen und die Stellung der Götter begriffen hat. In diesem Sinn kann Platon zu den ersten Theoretikern des Politischen gerechnet werden. Mit Sicherheit ist er der erste, von dem eine systematisch angelegte Gesamtdeutung überliefert ist. Sollte ihm Protagoras oder irgendein anderer vorausgegangen sein, so gibt es davon gleichwohl keine über die Antike hinausreichende Überlieferung. Platon stellt nicht nur die meisten seiner Nachfolger, sondern vermutlich auch seine Vorgänger in den Schatten – Sokrates ausgenommen. III. Die politische Bedeutung der Nomoi Platon hat viele Versuche unternommen, seine Interpretation des Politischen vorzutragen. In den frühen Dialogen, insbesondere im Kriton, im Laches, im Gorgias, im Protagoras sowie im ersten Buch der Politeia (Thrasymachos), sind wegweisende Einsichten präsent. Die später verfassten Bücher der Politeia bieten erstmals ein umfassend angelegtes Modell (paradeigma) einer polis, an dem sichtbar werden soll, was die Tugend der Gerechtigkeit für den einzelnen Menschen bedeutet; sie entwerfen eine politische Ethik, dürfen aber nicht selbst schon als eine das politische Handeln anleitende Theorie der Politik gelesen werden. Das ist der Fehler, den nicht nur die prominenten Kritiker Platons, sondern auch viele seiner philosophischen Anwälte begehen. Selbst der Klügste unter seinen Anhängern, Marcus Tullius Cicero, ist dem politiktheoretischen Missverständnis der Politeia erlegen. Der auf die Politeia folgende Politikos hat da schon ein anderes politisches Gewicht. Umso bedauerlicher ist es, dass er in der Rezeption und Interpretation von Platons politischem Denken so gut wie keine Rolle

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spielt.5 Der Politikos stellt die Politik in den expliziten Kontext des Lebens, versteht den Menschen als ein durchaus selbstständig lebendes, aber auf die Gemeinschaft mit seinesgleichen angewiesenes Tier, das in dieser Verbindung der Lenkung und Leitung durch seinesgleichen bedarf. Hier liegt die Formel vom zoon politikon bereits in der Luft, aber das Interesse des Dialogs ist auf eine Beschreibung der Voraussetzungen gerichtet, die ein Mensch braucht, um eine politische „Herde zu hüten“. Dabei werden wesentliche Eigenschaften des Politischen genannt: die Eigenständigkeit der Individuen, der sie treibende und zugleich hemmende Gegensatz der Interessen, die Notwendigkeit ihn im politischen Handlungszusammenhang zu einem verlässlichen Gewebe zu verknüpfen, die Unabdingbarkeit der Vorstellung eines Ganzen, dem die Handlungsgemeinschaft der Einzelnen dient, sowie ihre Angewiesenheit auf eine autoritative Führung, die vor allem der Urteilskraft bedarf, um der Vielfalt der Strebung im Ganzen der Gemeinschaft wie auch im Augenblick der Tat gerecht zu werden. In allen diesen Schriften steht Platons Theorie des Politischen bereits im Hintergrund. Entfaltet, bis in die Details ausgebreitet und begründet wird sie aber erst in den zwölf Büchern der Nomoi, die Platon wohl noch verfassen, aber redaktionell nicht mehr auf einander abstimmen konnte. Die Anfang der fünfziger Jahre noch einmal zu hörende Ansicht, die Nomoi seien gar nicht von Platon verfasst,6 liefert immer noch den Vorwand, sich die Mühe einer politiktheoretischen Deutung zu ersparen. Wer also die politische Lehre Platons kennen lernen möchte, muss diese Bücher lesen. Darin liegt keine Abwertung der anderen Schriften, wohl aber eine Kritik der überwiegenden Mehrzahl jener Interpreten, die über Platons politisches Denken urteilen, ohne die Nomoi einzubeziehen. Mir liegt an der Feststellung, dass Henning Ottmann in seiner kurz vor dem Abschluss stehenden Großtat einer umfassenden Geschichte des politischen Denkens zu den Wenigen gehört, die in diesen Fehler nicht verfallen.7 Im Übrigen kann man die Deutungen, die sich monographisch auf die Nomoi einlassen, an drei Händen abzählen.8 Doch darauf gehe ich hier nicht näher ein. 5 Siehe dazu: Chr. J. Rowe (Ed.): Reading the Statesman. Proceedings of the III. Symposium platonicum, St. Augustin 1995; Stanley Rosen, Plato’s Statesman: The Web of Politics, New Haven/London 1995; J. B. Skemp, Plato’s Statesman, London 1952. 6 Dazu: Müller, Gerhard: Studien zu Platons Nomoi, München 1951 (Zetema 3). 7 Ottmann, Henning: Geschichte des politischen Denkens, Bd. I, 2, Stuttgart/Weimar 2001. 8 Barker, E.: Greek Political Theory: Plato and his Predecessors, London 1918; Bernadette, Seth: Plato’s Laws. The discovery of being, Chicago/London 2000; Bobonich, Christopher: Plato’s Utopia Recast: His Later Ethics and Politics, Oxford

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Volker Gerhardt

Ich beschränke mich auf eine kurze Charakteristik der politischen Theorie, die in den nachgelassenen Büchern der Nomoi enthalten ist. Dabei lasse ich alle philologischen Details, für die ich ohnehin kein Fachmann bin, beiseite, verzichte auf eine Kritik der zeitbezogenen Einschränkungen, und versage es mir am Ende auch, auf die Frage einzugehen, was Aristoteles den Nomoi, die er, wenn nicht als abgeschlossenes Werk, so doch als ein im Entstehen begriffenes Projekt vermutlich bis ins Einzelne kannte, verdankt. Mein Überblick umfasst zwölf Punkte. Sie decken sich nicht mit der Abfolge und den Themen der zwölf Bücher, beziehen sich aber auf den ganzen Text, der natürlich Stoff für ein weiteres Duzend Punkte umfasst. Wenn die Auswahl anschaulich macht, dass Platons Nomoi eine Verfassungslehre enthalten, die weit über das hinausgeht, was im 20. Jahrhundert unter diesem Titel steht, ist mein Ziel erreicht. Platon entwirft nicht nur eine Rechtslehre, sondern greift viel weiter auf eine Lehre von den Institutionen aus, die sich der Frage verpflichtet weiß, wie politische Institutionen möglich sind. Die Lehre bezieht den Menschen ein, der diese Institutionen aufbauen, tragen und fortlaufend verbessern muss. Erst dadurch ist der Anspruch einer philosophischen Verfassungstheorie erfüllt. Mitten in der Phase der Autonomisierung der Politik denkt Platon an ihre Absicherung durch eine Konstitution. 1. An erster Stelle steht, dass sich die Politik einem gemeinsamen Nachdenken verdankt, einer „Deliberation“ wie man heute sagt, so als hätte man etwas Neues entdeckt. Drei wie zufällig zusammengetroffene Angehörige dreier durchaus verschiedener politischer Kulturen haben einen gemeinsamen Weg vor sich und nutzen ihn zu einem Gespräch: ein namentlich nicht benannter „Fremder“ aus Athen, ein nicht näher qualifizierter Besucher aus Sparta mit Namen Megillos sowie der einheimische Kreter Kleinias. Sie beschließen, die vor ihnen liegende Zeit auf dem Pilgerpfad von Knossos zur Grotte des Zeus auf den Höhen des Ida-Gebirges zu einer Unterredung über ein politisches Vorhaben zu nutzen. Anlass ist der vielleicht sogar historisch nachweisbare Plan9, ein neues politisches Gemeinwesen zu gründen, das eine optimale Verfassung erhalten soll – ein Ziel, das offenbar keiner besonderen Begründung bedarf. 2004; Morrow, G. R.: Plato’s Cretan City: A Historical Interpretation of the Laws, Princteton 1960, 19932; Schöpsdau, Klaus: Nomoi IV–VII, Übersetzung und Kommentar, Göttingen 2003; Stalley, R. F.: An Introduction to Plato’s Laws, Oxford 1983; Strauss, Leo: The Argument and Action of Plato’s Laws, Chicago/London 1975; Hentschke, Ada Babette: Politik und Philosophie bei Plato und Aristoteles, Frankfurt a. M. 1971; Görgemanns, Herwig: Beiträge zur Interpretation von Platons Nomoi, München 1960 (Zetema 16); Saunders, T. J.: Plato, the Laws, Harmondsworth 1970; Picht, Georg: Platons Dialoge Nomoi und Symposion. Vorlesungen und Schriften, Stuttgart 1990.

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Die drei Gesprächspartner, die man als Repräsentanten ihrer polis-Kulturen begreifen darf, sind sich einig, dass man bei dem geplanten Neuvorhaben die gesammelten historischen Erfahrungen aufnehmen sollte, um die geplante Stadt auf das verfügbare Wissen zu gründen. Dieses Wissen, so wird ebenfalls wie selbstverständlich vorausgesetzt, soll grenzüberschreitend sein. Es soll alle zur Verfügung stehenden Einsichten aufnehmen, um daraus die für das Wohl der Bürger besten Konsequenzen zu ziehen. Das Vorhaben ist, modern gesprochen, rational begründet, empirisch basiert und interkulturell angelegt. Die beste Verfassung wird in einem Verfahren der Prüfung aller Argumente gesucht, die mit Blick auf ihre Tauglichkeit für den politischen Zweck abgewogen werden. Die erste ausgearbeitet vorliegende politische Theorie ist somit deliberativ und setzt nicht nur die Einsicht der Planer, sondern vor allem auch die der beplanten Bürger voraus, von denen erwartet wird, dass sie unter den neu geschaffenen institutionellen Bedingungen in eigener Verantwortung leben. Auch dieser fraglos unterstellte Übergang in die Eigenständigkeit ist politiktheoretisch bemerkenswert. 2. Der zweite Punkt scheint zu dieser Absicht in Widerspruch zu stehen, denn er stellt die Möglichkeit des politischen Handelns unter die Konditionen einer sich in großen Zeiträumen immer wieder neu entwickelnden Natur. Es ist nicht die vergleichsweise kurze Phase einer sozialgeschichtlichen Entwicklung menschlicher Bedürfnisse, die Platon im zweiten Buch der Politeia erzählt, um kenntlich zu machen, dass es der Arbeitsteilung, einer vielfältig entwickelten Technik und einer hoch spezialisierten Kompetenz der Menschen bedarf, ehe ein Gemeinwesen politikfähig wird. In den Nomoi weitet sich der Blick auf den Zyklus wiederkehrender Fluten, die in ausgedehnten Zwischenzeiten den überlebenden Menschen Gelegenheit geben, das Land zu besiedeln und zu bebauen – mit der sicheren Gewissheit des nachfolgenden Untergangs. Ehe es zur Gründung von Städten kommen kann, darf das Leben nicht mehr auf die zuerst bewohnbaren Bergkuppen beschränkt bleiben; man muss die Ebenen als Weiden und Äcker nutzen können. Die Küsten müssen sicher sein, so dass man Land und Meer zum Handel und zum Austausch von Kenntnissen nutzen kann. Dabei ist es nicht nur von philosophischem Interesse, dass die Natur, von der hier die Rede ist, eine geschichtliche Entwicklung durchläuft. Die Pointe dieser vom Fremden aus Athen mit poetischem Aufwand ausgemalten Naturgeschichte des Politischen ist, dass zugleich ihr geschichtlich gewachsener Anteil an technischen Fertigkeiten kenntlich wird.10 Nicht 9 Friedrich Wilhelm Korff, Auf der Suche nach Magnesia, unveröffentlichter Vortrag, Berlin 1995.

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allein der Aufbau und die Verwaltung einer Stadt werden als eine weitestgehend durch Wissen angeleitete Technik vorgestellt. Die Natur setzt mit den Fertigkeiten des Menschen die Mittel frei, die er zu seinen Zwecken so nutzen kann, dass er mit ihrer Hilfe zu neuen Fertigkeiten und neuen Techniken gelangen kann. Platon verankert die Politik in einer Natur, die sich unter Mitwirkung des Menschen zur Kultur steigert. Doch auch die Kultur kommt niemals über die Natur hinaus. Hier ist Platon allen neuzeitlichen Denkern, die meinen, der Mensch könne den Naturzustand verlassen, indem er Staaten bildet, überlegen. Fortschritt, das streue ich hier nur ein, wird überall unterstellt, wo sich die Menschen ihrem Wissen anvertrauen. Deshalb denkt auch die Antike in Kategorien der Progression. Der Unterschied zur Moderne besteht in der realistischen Bewertung der unterstellten geschichtlichen Entwicklung. Da sie nicht endlos weitergehen kann, wird ihr Ende turnusmäßig voraus gedacht. Es ist eine im Prozess des Handelns nahe liegende Täuschung, wenn man zu dem Eindruck gelangt, in dem Generationen übergreifenden, auf Fortschritte setzenden politischen Denken würden die Zyklen der Natur in die Linearität der Geschichte überführt und somit außer Kraft gesetzt. Die Natur hat Zeit genug, um der Linearität des politischen Handelns ihren Auslauf zu lassen.11 Dass damit das Rettende nicht verloren gehen muss, gehört freilich auch zu den Konditionen des wohlbegründeten platonischen Realismus. Ich komme im zwölften Punkt darauf zurück, und merke hier lediglich an, dass zwischen dem ersten und dem zweiten Punkt natürlich nicht der geringste Widerspruch besteht: Die Deliberation ist selbst eine gewachsene Kultur, die sich auf Wissen stützen muss, das in einer von der Natur getragenen Sozialgeschichte des Menschen entsteht und, wie übrigens schon die Deliberation, auf Techniken angewiesen ist, um überhaupt wirksam werden zu können. 3. Der dritte Punkt tritt in der Tatsache hervor, dass sich Vertreter dreier verschiedener politischer Kulturen am Gründungsgespräch über die neue polis beteiligen. Politik ist für Platon offenkundig nicht an den Primat bloß einer Kultur und auch nicht an die Kontinuität einer einzigen Tradition gebunden. Indem sie Grenzen schafft und Gegensätze erzeugt, kann sie immer auch Grenzen und Gegensätze überwinden. Allein dadurch, dass sie auf Wissen gegründet ist und sich der jeweils besten Techniken bedient, kann sie nicht auf die gerade bestehenden Gegebenheiten festgelegt werden. Sie 10 Auch hier scheint es eine deutliche Parallele zu Protagoras Schrift Über den Urzustand zu geben. 11 Hier widerspreche ich Damir Barbaric ´ , Die „möglichst schöne und zumal beste Tragödie“. Über den geschichtsphilosophischen Hintergrund der Nomoi (im selben Band S. 225 ff.).

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muss sich entwickeln und treibt damit über bestehende Grenzen hinaus. Magnesia, das ist der Name der erdachten Stadt, soll die Vorzüge von Athen, Sparta und Knossos vereinen. Am deutlichsten macht Platon das im großen Alkibiades, wenn er Sokrates die These vertreten lässt, niemand könne ein guter Politiker sein, wenn er nur die Lage im eigenen Lande kenne.12 Um erfolgreich regieren zu können, muss man wissen, wie es anderswo zugeht. Dabei ist der athenische Politiker ausdrücklich nicht nur auf Hellas beschränkt. Wer in der eigenen Stadt überzeugen können will, muss Kenntnisse über Asien und Afrika einbeziehen. Letztlich treibt Sokrates seinen Gesprächspartner zu dem Zugeständnis, dass man Weltkenntnis im Ganzen haben muss, wenn man irgendwo auf der Erde politisch tätig sein will. Diese Logik kommt in der Gründungsdiskussion über Magnesia zur Anwendung. Mag die Bevölkerung auch aus der unmittelbaren Umgebung kommen. Nach ihrer Konstitution ist sie für jeden offen, der sich an ihre Gesetze hält. Und die Erfahrungen, die hier gewonnen werden, können Eingang in ein anderes Experiment mit anderen Beteiligten finden. 4. Der vierte Punkt benennt die anthropologische Grundlage der gesamten politischen Konstruktion Platons, die er in der Politeia auf die unüberbietbare Formel vom Staat als dem in Großbuchstaben geschrieben Menschen gebracht hat.13 In den Nomoi wird diese Parallele vorausgesetzt aber bis ins Selbstverhältnis des Menschen hinein verlängert. Schon in der ersten Beweisführung des ersten Buches wird gezeigt, dass die Zielsetzung der Politik in der Sicherung ihrer Bedingungen besteht. Denn das Ziel der Politik kann nicht, wie der Kreter und der Spartaner annehmen, im Krieg, sondern es muss im Frieden liegen, weil nur der Frieden die Voraussetzung zu weiteren Handlungen schafft (Nom 626b–628e). Ich bitte, die sachliche Kühle dieser Begründung zu beachten. Ihre weltgeschichtliche Kühnheit kommt hinzu, denn sie erfolgt zu einer Zeit, in der man in Griechenland der Eirene noch keinen Altar errichtet hat.14 Im Grunde sagt sie nichts anderes, als dass das Ziel der Politik nicht in ihrem Ende liegt. Friede besteht für Platon in der gewaltfreien Einigkeit der beteiligten Parteien. Wenn dies zutrifft, ist sie letztlich – unter den Konditionen der Analogie von polis und Person – die Einigkeit des Einzelnen mit sich selbst. 12

Platon, Alkibiades S. 105a/d. Rp II, S. 368 e 2 ff. 14 Dazu kommt es erst von der Mitte des 4. Jahrhunderts an, als man der Eirene die ersten Altäre zu bauen begann. Allerdings muss man beachten, dass schon Aischylos „Freiheit und Frieden“ (lysima t’achima) zu den obersten Gütern rechnete, um die man die Götter zu bitten hat (Hiketiden 811). 13

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Da diese Einigkeit mit sich selbst zugleich die Bedingung zielstrebigen Handelns ist, hat Platon das telos der Politik aus ihren Bedingungen abgeleitet und mit dem Ziel wesentlich die Bedingungen gesichert. – Muss ich das Unerhörte dieser Argumentationsfigur eigens betonen? Sie setzt das Ziel der Politik in die progressive Erhaltung ihrer selbst. Ultramoderne Denker glauben, einen solchen Beweis nur mit systemtheoretischen Mitteln, also unter Absehung von menschlichen Absichten, führen zu können. Platon kann auch ohne den vorsätzlich ignoranten Aufwand demonstrieren, dass in der Politik bereits der Weg das Ziel darstellt. Das hat es ihm schon im Politikos ermöglicht, auf jedes geschichtliche Endresultat politischen Handelns zu verzichten, und dennoch davon auszugehen, dass der Mensch gute Gründe hat, politisch tätig zu sein.15 Selbst wenn am Ende aller Politik nichts als Stillstand oder Chaos bliebe, stände der Mensch unter dem Anspruch, politische Verantwortung für sein Gemeinwesen zu übernehmen. Die theoretischen Mittel zu diesem Beweisgang gewinnt Platon aus der Analogie von polis und anthropos. Der Mensch muss sich in Bewegung halten, und er muss nach eigenen Zielen handeln. Dazu braucht er, wenn ihm die Ziele nicht gleichgültig sind, das Minimum einer Einheit mit sich selbst. Diese Einheit muss er in der polis zu errichten und zu sichern suchen, wenn sie mit seinen Handlungen übereinstimmen können soll. Damit zeigt er, dass die Parallele von Person und Institution nicht nur didaktische Vorzüge hat, sondern dass in ihr die systematische Elementarbedingung des Politischen überhaupt zu finden ist: Für die polis wie für den Menschen gilt, dass sie nur als eine mit sich einige Einheit handlungsfähig sind.16 Mit Blick auf den modernen Hörer merke ich an, dass diese Einheit nur möglich und nötig ist, weil es Vielheit und in der Vielheit Gegensatz gibt. Im Mythos vom Sonnenwagen, wie er im Phaidros vorgetragen wird, tritt mit brutaler Anschaulichkeit hervor, wie groß der Antagonismus der inneren Kräfte im einzelnen Menschen ist. Die Seelenteile stehen im Kampf mit einander; nur deshalb ist eine so entschiedene Steuerung nötig.17 5. Um die Fähigkeit zur Selbstlenkung und Selbststeuerung zu erlangen, muss der Mensch erzogen werden. Damit bin ich beim fünften Punkt, der Platon bekanntlich stets beschäftigt, in der politischen Perspektive der Nomoi aber eine besondere Pointe erhält. Die uns heute kurios erscheinende Methode der Erziehung durch die Verführung zum Alkohol hat den Effekt, die Selbstbeherrschung durch Selbsterziehung zu erlernen. Die 15 16 17

Politikos S. 269c–274d. Dazu: Gerhardt, V., Partizipation, S. 230 ff. Phaidros S. 246a–247b. ff.

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Symposien und Syssitien sind lediglich das gesellschaftliche Arrangement, um den Individuen die Chance zu geben, aus eigener Kraft zu sich selbst zu finden. Der Bürger hat also den entscheidenden Schritt zur politischen Eigenständigkeit von sich aus zu tun. Der Individualismus der Tugend wird auf einem individuellen Weg erreicht. Platon zeigt, dass die im Politikos ausdrücklich unterstellte Eigenständigkeit der handelnden Individuen in der politischen Erziehung nur geweckt, nicht aber anerzogen werden kann. So bestätigt sich die Analogie zwischen Person und Institution auch in der Pädagogik der Nomoi. So, wie die Freiheit nur durch Freiheit begründet werden kann, lässt sich Selbstbeherrschung allein im Akt der Selbstbeherrschung lernen. Nach dem gleichen Modell kommt es zur Kontinuität politischer Prozesse trotz der Diskontinuität im Wechsel von Personen. 6. Der sechste Punkt berührt die politische Konstitution im engeren Sinn: Das erste Erfordernis für eine politische Gemeinschaft liegt darin, dass sie Gesetze benötigt. Die stehen unter dem Anspruch der Kohärenz. Ein in sich abgestimmtes Insgesamt von Gesetzen aber nennen wir eine Verfassung. Die Ausarbeitung dieses kohärenten Gesetzgebungswerkes steht im Zentrum aller Bemühungen um die Gründung der neuen polis. Was immer in ihr geschieht und geschehen soll: Es muss in Übereinstimmung mit der Verfassung stehen. Es mag strittig sein, ob man sie bereits als „Grundgesetz“ der neuen Ordnung bezeichnen darf. Da die von Platon begründeten nomoi der neuen polis nicht aus einem separaten Gesetzgebungsakt hervorgehen, auch kein singuläres Rahmengesetz darstellen, könnte es verfehlt erscheinen, sie als „Verfassung“, als Constitution oder constitution im engeren Sinne zu deuten. Dennoch versteht auch Platon die im deliberativen Gespräch der drei Gründer entworfenen Gesetze als Muster, die eher Grundsätze als den konkreten Gesetzestext enthalten. Die Formulierung der einzelnen Gesetze unterliegt ohnehin dem Willen der später im bereits verfassten Gemeinwesen handelnden Personen. Die Nomoi geben nur den Rahmen vor, in dem sich die Gesetzgebung in der polis zu bewegen hat. Damit erfüllen sie eben die Funktion, die auch moderne Verfassungen haben. In ihr hat die polis ihre Identität – nicht im Territorium und seinen Grenzen, nicht in der ethnischen oder kulturellen Eigenart ihrer Bürger, sondern allein in den Gesetzen, die sich diese Gemeinschaft gibt. Daraus macht Aristoteles später das definiens einer politischen Organisation, worauf Dolf Sternberger dann viel später seine ingeniöse Formel vom „Verfassungspatriotismus“ gestützt hat.18 18 Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus (1979), in: Schriften, Bd. 10, Frankfurt 1990, S. 13 ff.

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7. Nach der Ausarbeitung der Verfassung ist das wichtigste Erfordernis, dass sie den Bürgern bekannt gemacht wird. Darin sehe ich den siebten Punkt der politiktheoretischen Innovation Platons. Allein die unablässige Abfolge der Generationen bringt es mit sich, dass nicht alle Bürger an der Ausarbeitung der Verfassung beteiligt sein können. Unterschiede im Grad der Bildung und im Ausmaß des Interesse kommen hinzu. Also werden vergleichsweise Wenige das Werk für Viele übernommen haben. Also ist der vordringlichste Akt nach der Beschlussfassung und Niederschrift, die öffentliche Unterrichtung der Bürger. Sie wird von Platon als ernster, aufwändiger, ja, auch weihevoller Akt eines kollektiven Lernens dargestellt (715d–734e). Das hat seinen triftigen Grund, denn die Bekanntmachung der Gesetze – mitsamt der ihnen zugrunde liegende Absichten und Gründe – ist der wesentliche Akt der Legitimierung der neuen politischen Einrichtung. Wie wir aus dem Kriton wissen, steht Platon das Modell des Vertrags so beiläufig wie selbstverständlich zur Verfügung.19 Warum macht er in den Nomoi keinen Gebrauch davon? Dem modernen Gemüt, dem der Vertrag als der inzwischen sogar für moralische Fragen jederzeit einsatzbereite deus ex machina zur Verfügung steht, muss es als ein kapitaler Fehler erscheinen, dass Platon die von ihm selbst gesehene Chance ungenutzt lässt. Doch der antike Denker ist weiter als Hobbes, Rousseau und Rawls. Er gründet die Legitimität auf das einzige, was sie tatsächlich tragen kann, nämlich die geäußerte und faktisch vollzogene Zustimmung der Bürger. Denn überall, wo es allgemein gültige Rechtsverhältnisse gibt, schließen sie (wie ebenfalls schon im Kriton gezeigt) Freiheit und Gleichheit ein. Sie müssen also nicht eigens erwiesen werden. Wo solche Verhältnisse praktisch anerkannt sind, ohne dass die Menschen sich dagegen erheben oder das Land verlassen, ist auch die Legitimität hergestellt. Anders ist es bei der Einführung einer neuen Verfassung. Hier muss vorab um Zustimmung geworben werden. Und das geschieht nach dem Vorschlag der Nomoi in einem Lernprozess, auf den die Siedler durch die Ansprache der Gründer eingestimmt werden (715e ff.). In ihr werden auch die Gründe, die Verfassungsprinzipien, erläutert und, wenn kein Widerspruch erfolgt, in legitimierender Weise akzeptiert. Bestätigt wird diese Deutung dadurch, dass Platon das öffentliche Proömium ausdrücklich als Alternative zur Gewalt (bias) bezeichnet (722b/c). Von der Überredung (peitho) durch einen Herrscher ist es dadurch unterschieden, dass es im Vorfeld strenger Verbindlichkeit steht. Hier also muss der Bürger keinen Zwang befürchten und kann sich, wie es ausdrücklich 19

Kriton S. 51c; vgl. auch das 2. Buch der Politeia S. 359a.

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heißt, gänzlich frei auf das „Wohlwollen“ (eumeneia) des Gesetzgebers (nomothete¯s) einstellen (723a). Platon setzt auch hier, von der ohnehin in allem unterstellten Freiheit und Gleichheit abgesehen, auf Wissen und auf Gründe; er appelliert an die Einsicht der Bürger. Bleiben sie nach der Ansprache zusammen, ist die Legitimität der Gesetzgebung tatsächlich im Ganzen gegeben. Denn die Gründe, die man den Siedlern vorträgt und die sie frei von Zwang akzeptieren, sind es zugleich, auf der die Rechtmäßigkeit der polis beruht. Wir haben hier, um es ohne Umschweife zu sagen, eine Legitimitätskonzeption, die den Vertragsmodellen der Moderne deshalb überlegen ist, weil sie faktisch leistet, was von den Späteren nur hypothetisch in Aussicht gestellt wird. 8. Den achten Punkt brauche ich nur zu streifen, denn ich habe ihn anderswo ausführlich dargestellt:20 Der Platon der Nomoi geht nicht davon aus, dass sich die vom Menschen ohnehin nur unvollkommen gedachte „beste Verfassung“ realisieren ließe! Denn selbst wenn es möglich wäre, die als Modell unterstellte, aber nur unzulänglich erkannte göttlich-kosmische Ordnung direkt in einen Plan für eine politische Verfassung zu übersetzen, wären selbst die besten Politiker nicht in der Lage, diesen Plan maßstabsgerecht umzusetzen. Denn die politische Praxis der Verfassungsgebung verlangt unter allen Bedingungen Zugeständnisse, die eine vergrößerte Distanz zum Ideal nach sich ziehen. In der Beratung mit anderen, die jeweils über eigene Erfahrungen verfügen und oft zu anderen Einsichten gelangen als man selbst, kommt, trotz strikter Ausrichtung an der Idee, nur die „zweitbeste Verfassung“ zustande. Aber damit nicht genug: Was aus der „zweitbesten Verfassung“ tatsächlich wird, ist nicht mit dem ausgehandelten Entwurf identisch, sondern weicht aufgrund der geographischen, historischen und religiösen Besonderheit der Bevölkerung gewiss in mehr als einem Punkt von der beschlossenen Ordnung ab. Beste Absichten und größtes Geschick der leitenden Männer vorausgesetzt, kommt man so lediglich zu einer „drittbesten Verfassung“. Doch auch damit hat es nicht sein Bewenden. Die erfahrenen Berater aus Athen, Sparta und Knossos halten es für selbstverständlich, dass nach der Einrichtung dieses „drittbesten Staates“ (wohlgemerkt: Ein besserer kann von Menschen prinzipiell nicht geschaffen werden!) immer wieder Änderungen nötig sein werden. Denn die Bürger machen Erfahrungen mit ihrem neu gegründeten Staat, und da sie es sind, von deren Urteil das Ganze abhängt, werden Korrekturen unvermeidlich sein. Was sich auf diese Weise ergibt, ist – in Relation zur Idee einer „besten“ Verfassung – die „viert20

Gerhardt, Volker: Partizipation, S. 382 ff.

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beste“ Verfassung, die sich nicht zuletzt durch das Bemühen um sukzessive Verbesserungen erhält. Sie ist das Optimum einer politischen Ordnung, wenn sie unter einer umsichtig-ausgleichenden Leitung steht – und sie beruht dennoch auf der Idee, ohne die sie nicht möglich ist. Gewiss, es ist eine Trivialität. Aber die Erfahrungen mit der Kritik an der Politik nötigen, daran zu erinnern: Eine Idee wird im konkretisierenden Prozess ihrer Realisierung nicht verworfen. Wohl aber führt der Versuch, sie umzusetzen, zu einer pragmatischen Konzeption von Politik. Die Botschaft der platonischen Verfassungslehre ist gerade in der von ihr beanspruchten Grundsätzlichkeit, dass alle Politik historisch-konkret, konzessionsbereit und somit pragmatisch zu sein hat. Die Vielzahl der an ihr beteiligten Personen und der unvermeidliche Wandel der Zeit mediatisieren zwangsläufig die Umsetzung der Prinzipien, auf die sich eine Verfassung gründet. 9. Um den neunten Punkt kenntlich zu machen, genügt der Hinweis auf eine die Gesetzgebung tragende Unterscheidung, nämlich die zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Politiktheoretisch reicht die Tatsache aus, dass Platon diese Unterscheidung kennt, sich mit ihr befasst und sie im Grundsatz respektiert. Dass er dabei weit hinter den Erwartungen zurückbleibt, die der moderne Verfassungsstaat uns zu haben erlaubt, versteht sich von selbst. Denn die Konzeption subjektiver Abwehrrechte, die der Staat nicht nur zu respektieren, sondern aktiv zu schützen hat, ist noch nicht gefunden. Dass sie in Situationen großer Gefahr, unter denen Platon das Gemeinwesen unablässig sieht, nicht immer eindeutig bestimmt werden können, zeigt die derzeit weltweit geführte Debatte über die mögliche Einschränkung der Rechte bei der Abwehr terroristischer Gefahren. Platon spricht von „öffentlichen und gemeinsamen Angelegenheiten“ (de¯mosia kai koina chre¯) und stellt sie den „privaten Tätigkeiten“ (idio¯n hoson) gegenüber. Er kennt die Auffassung, der zufolge eine politische Gesetzgebung sich auf den öffentlichen Bereich zu beschränken habe und in privaten Dingen darauf vertrauen könne, dass die Bürger schon von sich aus das Richtige tun (780a). Er referiert diese Auffassung und folgt ihr ausdrücklich – nicht. Seine Gründe dafür haben auch heute noch Gültigkeit. Wenn wir eine Gurtpflicht verhängen, Gewalt in der Ehe als Straftat ansehen oder Rauchverbote aussprechen, gehen wir ebenfalls von der Erfahrung aus, dass der Bürger nicht in jedem Fall schon von selbst das für ihn Richtige tut. Bei der Abgrenzung helfen uns grund- und menschenrechtliche Regelungen, die auch bei der Abwehr individueller Risiken zu wahren sind. Hier sind wir weiter, als Platon sein konnte. Es ist aber nicht so, dass die drei Gesprächspartner den von dem Athener ausdrücklich gemachten Unterschied zwischen öffentlicher und privater

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Sphäre politisch für belanglos halten. Sie achten den eigenen Besitz, wollen den Bereich des Hauses, in dem jeder sein eigener Herr sein können muss, schützen und respektieren auch persönliche Entscheidungen, die etwa dem aufwändigen Wahlgeschehen für die zahlreichen von den Bürgern zu besetzenden Ämter zugrunde liegen. Das Politische ist damit als ein Raum anerkannt, der erst unter der Bedingung entstehen kann, dass es eine gesellschaftliche, von individuellen Aktivitäten der Bürger getragene Basis kooperativen menschlichen Handelns gibt. In der Politeia ist das sogar die historisch-systematische Voraussetzung. Denn erst muss das arbeitsteilige System der Bedürfnisse in der „notwendigen“ wie auch in der „üppigen Stadt“ entstehen, ehe die auftretenden Gefährdungen eine politische Organisation erforderlich machen. Davon ist in der Beschreibung des Modells der Königsherrschaft der Philosophen zwar nur noch wenig zu erkennen; es bleibt aber anwesend, weil ja in allem die Tugend des Einzelnen, der die polis trägt, zur Debatte steht. In den Nomoi wird daraus ein gesetzliches Gebot, die persönliche Sphäre des einzelnen Bürgers zu achten. 10. Politik lässt sich im Ganzen als ein Kampf um das Recht verstehen, wenn man beide Begriffe der Formel ernst nimmt:21 Es geht um die Minimierung von Risiken sowie um die Herstellung von Sicherheit durch eine Schutz und Berechenbarkeit gewährleistende Sphäre des Rechts. Und angesichts der stets – nicht zuletzt durch die Politik selbst hinzukommenden Gefahren – geht es um einen bewussten Einsatz für die Schaffung, die Sicherung und den Ausbau der Rechte. Darum hat man zu kämpfen. Es gilt, den Rechtsbruch im Inneren abzuwehren und den Verlust der Rechte durch eine Niederlage im Krieg zu vermeiden. Platons Nomoi können im Ganzen wie in jedem einzelnen Detail als eine dauernde Anleitung zum Kampf um das Recht verstanden werden. Ein Beleg erübrigt sich, denn das Gespräch der drei Männer ist in weiten Teilen auf die Begründung und Darstellung des Rechts konzentriert, das der neuen polis ihre Form geben soll. Gleichwohl gibt es Besonderheiten, die vornehmlich mit der Priorisierung des inneren Kampfs um das Recht verbunden sind. Der Kampf gegen einen äußeren Feind, der in der Politeia nicht nur den Anlass zur Errichtung einer im engeren Sinn politischen Ordnung gibt, sondern auch durch die Betonung des militärischen Aspekts der Erziehung allgegenwärtig ist, steht in den Nomoi nicht im Vordergrund. Mit der Konzentration auf die Verfassung hat die Gesetzgebung im Inneren Vorrang und mit ihr die Abwehr der Gefahren, die durch Verfehlungen der eigenen Bürger entstehen. Größtes Gewicht haben der Aufbau und die Be21

Dazu: Gerhardt, Volker: Partizipation, S. 325.

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setzung der staatlichen Ämter. Platons Interesse ist auf die Beschreibung ihrer Aufgaben, um die Auswahl kompetenter Personen und auf die Kontrolle ihrer Tätigkeit gerichtet. An zweiter Stelle folgen die Begründung und Ausgestaltung des Strafrechts. Es ist wahrscheinlich, dass der Athener hier den besonderen Ehrgeiz hat, seiner Vaterstadt einen Spiegel vorzuhalten, um – wenn es nicht zu der Neugründung kommen sollte – wenigstens in seiner eigenen polis Reformen anzustoßen.22 Das alles macht deutlich, dass der Kampf um das Recht wesentlich ein Kampf gegen Missbrauch und Verbrechen ist. Darin kommt die primäre Sorge um die den Frieden sichernde Handlungsfähigkeit des Staates zum Ausdruck. Wenn es um die Errichtung eines Gemeinwesens und um die Organisation der eigenen Kräfte einer Bürgerschaft geht, dann ist die Schwerpunktsetzung Platons konsequent. Im Ganzen liegt darin aber eine Vernachlässigung der „Außenpolitik“. Die Beziehungen zu anderen politischen Gemeinschaften werden wesentlich durch den Wunsch nach Abgrenzung bestimmt. Magnesia soll eine polis sein, die das von Aristoteles gesetzte Kriterium der Autarkie erfüllt. Mit Blick auf das frühneuzeitliche Streben nach staatlicher Souveränität bietet sich hier gewiss ein aktueller Anknüpfungspunkt. Doch die Nachteile des Verzichts auf die äußeren Relationen überwiegen, vor allem deshalb, weil aus der Selbstbeschränkung weit reichende Restriktionen für den Handel und den Geldverkehr abgeleitet werden. Sie und die Einschränkung der Reisefreiheit der Bürger gehören zu den am wenigsten überzeugenden Seiten des platonischen Verfassungsentwurfs. Platons Vertrauen in die sich selbst organisierenden gesellschaftlichen Kräfte, das er mit seiner These über die Entstehung der polis im zweiten Buch der Politeia sowie mit seiner naturgeschichtlichen Rekonstruktion politischer Entwicklungen im ersten Buch der Nomoi unter Beweis gestellt hat, schwindet mit dem steigenden Grad politischer Administration. Je höher der institutionelle Aufwand, umso größer ist das Verlangen, ihn institutionell zu sichern. Das ist begründungstechnisch verständlich, stellt aber eine Gefahr für die freie Entwicklung des Staatswesens dar – von den Freiheitsverlusten der Bürger ganz zu schweigen. 11. Jeder, der meine Überlegungen zur Grundlegung des Politischen kennt, weiß im Voraus, welche beiden Einsichten jetzt noch folgen, obgleich ich die erste – und in der hier gewählten Zählung elfte – Position bislang noch nicht an Platon explizieren konnte. Bei der Ausarbeitung der 22 Dazu: Schöpsdau, Klaus: Platon als Reformer des Strafrechts, Typoskript 2007 (Druckfassung in diesem Band).

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Partizipation musste ich mir eine strikte Beschränkung in historischen Fragen auferlegen und habe mich damit begnügt, die terminologische Herkunft meines Hauptbegriffs bei Aristoteles und seinem ersten Übersetzer, Wilhelm von Moerbeke, nachzuweisen. In systematischer Perspektive reichte es aus, die erste Quelle für den Begriff der Partizipation in jenem to metechein kriseos kai arche¯s zu benennen, von dem in der Politik des Aristoteles die Rede ist (1275a 22 ff.). Aus dieser „Teilnahme am Gericht und an den Ämtern“, die Aristoteles zum Kriterium des Bürgers macht, wird auch in der einflussreichen Übersetzung des Nicole Oresme die participation, die von ihm aus den Weg in die moderne politische Terminologie gefunden hat.23 Bei Platon findet sich das metechein kriseos kai arche¯s als stehende Formel noch nicht. Er hat den Begriff der methexis für andere Aufgaben reserviert, denen Aristoteles bekanntlich skeptisch gegenübersteht. Umso interessanter ist, dass der Schüler den für untauglich gehaltenen metaphysischen Begriff des Lehrers in seiner Politiktheorie an die zentrale Stelle rückt. Beteiligung an den Ideen lehnt er ab, die Beteiligung der Bürger an den Aufgaben der polis hält er für konstitutiv. Doch alles dies tut hier nichts zur Sache. Entscheidend ist, dass die gesamte Verfassungskonstruktion der Nomoi auf dem Prinzip der Mitwirkung aller Bürger beruht. Teilnahme und Teilhabe sind von der Inauguration der Gesetze, über deren Ausführung und Verbesserung, die Übernahme und Ausübung von Ämtern bis hin zur gemeinsamen Verantwortung für den Kultus die tragenden Bedingungen des politischen Gemeinwesens überhaupt. Nichts ist möglich, ohne die Zustimmung der Bürger, die in ihrer Gesamtheit die Institutionen ihrer polis tragen und im Einzelnen bereit sein müssen, konkrete Aufgaben zu übernehmen. Platon ist dabei bisweilen der Formel des Aristoteles schon sehr nahe, etwa wenn er feststellt: „Wer an der Befugnis mitzurichten nicht teilhat (akoinvo¯ne¯tos), glaubt überhaupt am Staat nicht beteiligt zu sein (ou metochos)“ (768b). Damit ist begründet, warum die Bürger „mit Recht verärgert wären, wenn sie an den Rechtsentscheidungen unbeteiligt (amoiroi) wären“ (768a). Das Verb metechein findet also schon bei Platon eben die Verwendung, die es in der Formel des Aristoteles hat. Doch sehen wir auch hier von philologischen Einzelheiten ab. Entscheidend ist, dass in der gemeinschaftlichen Teilnahme die Autonomie des Politischen hervortritt. Es sind einzig und allein die Bürger, deren Dasein und deren Tätigkeit den Grund des Politischen legen. Was immer als Aufgabe 23 Schütrumpf, Eckhart: Die frühesten Übersetzungen der aristotelischen Politik, Vortrag an der HU am 7. Februar 2007.

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und Ziel der Politik genannt werden kann: Es muss der Einsicht der Menschen entspringen, die sich in einer polis zusammenfinden und die sie in partizipativer Verantwortung zu gründen, zu leiten und zu verantworten haben. – Damit bin ich bei meinem zwölften und letzten Punkt. 12. Es ist eine berühmte Frage, mit der die Nomoi eröffnet werden: „Ist es ein Gott oder irgendein Mensch, ihr Gastfreunde, der bei euch als Urheber eurer Gesetzgebung gilt.“ (624a) Die Angesprochenen antworten übereinstimmend und in bestem Glauben: „ein Gott“. Damit stehen sie, nach meiner Terminologie, noch in der frühpolitischen Phase der Institutionalisierung. Was sie im nachfolgenden Gründungsgespräch unter der Anleitung des Atheners intellektuell mit vollziehen, ist jedoch der Übergang in die Phase der Autonomie. Dass sie daraus auch die fällige praktische Konsequenz gezogen haben, belegt das Ende des ganzen Gesprächs, in dem es um den faktischen Beginn der Stadtgründung geht: Der Athener hebt unter Berufung auf ein Sprichwort die apriorische Bedingung eines jeden politischen Handelns hervor, nämlich dass „noch alle Möglichkeiten offen sind“ (968e), betont die Elementareinsicht allen politischen Handelns, nämlich dass es immer ein Wagnis (kindynos) ist (969a), und fordert dann den „mutigsten Mann“ (andreiotatos), nämlich den ortsansässigen Kreter Kleinias auf, die Gründung in Angriff zu nehmen. Dabei stimmt ihm der Spartaner Megillos emphatisch zu und betont zugleich, dass man den erfahrenen Fremden aus Athen nicht fortlassen dürfe, sondern als „Mitarbeiter“ (koino¯non poie¯teon) gewinnen müsse. So wird schon die Gründung als ein Akt der Partizipation dargestellt. Der in die Pflicht genommene Kreter Kleinias willigt ein: Er sagt: „Du hast ganz recht, Megillos, so will ich es machen, und du hilf mir dabei.“ Darauf antwortet der angesprochene Megillos mit dem letzten Wort des ganzen Dialogs: Sylle¯psomai: „Das will ich tun.“ Dieses Bekenntnis zur Partizipation – in den letzten Worten mit Blick auf die ersten Schritte – zeigt den Lernprozess an, der sich in der ganzen Unterredung ereignet hat: Es sollen diese drei Männer sein, die in enger Kooperation mit anderen, die im „nächtlichen Rat“ versammelt sind, die neue Stadt zu gründen versuchen. Wenn das Vorhaben gelingt, erfahren sie an sich selbst, dass nicht ein Gott der Gründer ist, sondern eine Gemeinschaft von Menschen. Die Politik hat sich vom Mythos ihrer theonomen Bedingungen gelöst und wird ausdrücklich als eine autonome Aufgabe des Menschen betrieben. Die Säkularisierung des Politischen mag sich historisch erst im Übergang zum 19. Jahrhundert vollzogen haben. Gedacht wurde sie bereits im ersten Auftritt der philosophischen Theorie der Politik.

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Erst im Licht dieser Erkenntnis können wir verstehen, warum die Berufung auf das Göttliche in Platons Nomoi dennoch eine so große Rolle spielt: Was der Einzelne und die Gemeinschaft politisch zu wagen haben, kann sich nie auf ein zureichendes Wissen gründen. Hinzu kommt die bleibende Unsicherheit mit Blick auf die Folgen des eigenen Tuns. Die Zukunft, auf die sich das politische Handeln richtet, ist und bleibt ungewiss. Um in dieser Lage das Vertrauen in die eigenen Kräfte nicht zu verlieren, braucht der Mensch den Glauben an den göttlichen Beistand, insbesondere dann, wenn es ihm gelingt, mit Platon das Göttliche als das zu verstehen, was der menschlichen Seele am nächsten ist (oikeiotaton on) (726a). Wie ernst es Platon mit diesem Zugang zum Göttlichen ist, wird deutlich, wenn er seine damals wie heute inakzeptable Dichterkritik in den Nomoi mit dem Hinweis erneuert, dass die Politik allemal „die größere Tragödie“ sei, so dass man auf deren Inszenierung auf der Bühne gut verzichten könne (817a/b). Aus dem Verhängnis der Tragödie aber kann nur ein Gott den Menschen retten. Mit diesem letzten Hinweis soll lediglich angedeutet sein, dass meine zwölf Punkte, in denen ich das benenne, was politiktheoretisch aus Platons Nomoi aufzunehmen und weiter zu führen ist, mühelos auch durch zwölf Punkte der Kritik ergänzt werden könnten. Die Beschränkung der Reisefreiheit, die Unterschätzung der sich selbst organisierenden gesellschaftlichen Kräfte, die Vernachlässigung der Außenpolitik und die Dichterkritik habe ich erwähnt. Die Überschätzung des Atheismus, für den drakonische Strafen vorgesehen sind, wäre ein weiterer Punkt. Aus ihnen und einer Reihe anderer wäre ebenfalls für die Gegenwart zu lernen. Doch da an Platon-Kritik kein Mangel ist, war es mir in Anbetracht der vor uns liegenden politischen Aufgaben wichtiger, zu zeigen, wie nahe er uns in dem ist, was wir selbst politisch zu bewältigen haben. Wir stehen nunmehr auch praktisch am Beginn des Zeitalters der politischen Konstitution und sollten die Einsichten beachten, die der erste Theoretiker der Konstitution des Politischen für uns bereit hält, wenn wir uns nur entschließen, sein letztes Werk zu lesen.

Platons Mischverfassungslehre Von Henning Ottmann I. An die Bedeutung der Mischverfassungslehre hat vor kurzem Alois Riklin erinnert (2006). Seine in Buchform gebrachten Aufsätze zeigen die Entwicklung der Lehre von Platon, Aristoteles, Polybios, Cicero über Contarini, Arnisaeus, Limnaeus, Harrington, Burlamaqui und Montesquieu bis zu John Adams. Adams Version der Lehre ist deren Schwanengesang. Seit ca. 200 Jahren scheint es mit der Mischverfassungslehre vorbei zu sein. Was bedeutet Mischverfassungslehre? Und warum ist sie seit ca. 200 Jahren tot oder doch zumindest ernsthaft erkrankt? Mischverfassungslehre bedeutet in erster Annäherung, dass Elemente verschiedener Verfassungen gemischt werden, entweder in einem Dreierschema (Monarchie – Aristokratie – Demokratie) oder in einem Zweier-Schema (etwa Oligarchie und Demokratie oder Aristokratie und Demokratie). Die Mischung hat vier Funktionen: Machtteilung, Machtbeteiligung und aus diesen entspringend Mäßigung und Stabilität. Die Mischverfassung wird traditionell mit Verweis auf Sparta erklärt. Sparta besaß die erste schriftliche Verfassung Europas. Es war zugleich die erste Mischverfassung und es war die langlebigste Verfassung der Antike. Warum ist die Mischverfassungslehre seit ca. 200 Jahren gestorben oder ernsthaft erkrankt? Ein Grund liegt im Siegeszug der Souveränitätstheorie, sei es in der Form der Fürsten-Souveränität (wie bei Bodin oder Hobbes), sei es in der Form der Volkssouveränität (wie bei Rousseau). Der Souverän will seine Herrschaft nicht teilen. Er will sie ganz für sich allein. Ein anderer Grund für die Krise der Mischverfassungslehre liegt in der Auflösung der ständischen Gesellschaft. Solange Patrizier und Plebejer, Adel und Bürgertum klar voneinander geschieden waren, war es möglich, den Ständen ihre jeweiligen Institutionen zuzuweisen: dem Volk das Volkstribunat und die Comitien, der Aristokratie den Senat, den einen ein Ober-, den anderen ein Unterhaus u. s. f. In einer Gesellschaft von Einzelpersonen und Verbänden wird es schwieriger, den Schichten je eigentümliche Institutionen zuzuordnen (es sei denn, man wünscht sich auch heute einen korporativen Staat). In den modernen Demokratien sind die Abgeordneten von der direkten Verbindung zu

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ihrer Wählerschaft oder ihrer Lobby gelöst. Sobald sie das Parlament betreten, sind sie Abgeordnete der gesamten Nation. So jedenfalls in der Theorie. Man könnte aus dieser Lage folgern, dass die Beschäftigung mit Mischverfassungslehren heute nur noch von antiquarischem Interesse ist. Dagegen freilich spricht, dass die Mischverfassungslehre den Vorzug der Ehrlichkeit für sich hat und sie auch heute noch, wenn auch nicht die vorherrschende Verfassungstheorie, so doch etwas von der Verfassungswirklichkeit spiegelt. Reine Verfassungen existieren nicht, es sei denn, es handelt sich um schlechte. Was traditionell als schlechte Verfassung gilt (Tyrannis, Oligarchie, Ochlokratie) kann man reine Verfassungen nennen, da in ihnen ein Einzelinteresse (das des Alleinherrschers, das der Reichen, das der Armen) ungehindert zum Zuge kommt. Gute Verfassungen sind gemeinwohlorientiert, und sie sind durch die Kombination verschiedener Verfassungen gemäßigt. Wenn heute pauschal von Demokratie gesprochen wird, so wird dadurch nur verschleiert, dass es immer einige wenige sind, die regieren und repräsentieren. Eine reine Demokratie existiert nirgends. Moderne Demokratien sind repräsentative Republiken, Mischungen von Rechtsstaat und Demokratie. Die Staatsgewalt mag zwar vom Volke ausgehen, aber sie wandert nach ihrem Ausgang irgendwohin. Der Siegeszug der Souveränitätstheorie in der Neuzeit hat seine Schattenseiten. Souveränität lässt – ob bei Bodin, Hobbes oder Rousseau – weder eine Gewaltenteilung noch eine effektive Gewaltenkontrolle zu. In ihrer absolutistischen Form führt sie zur Willkürherrschaft, in ihrer republikanischen Form zu einem Homogenitätsdruck, der aus Minderheiten Abweichler und Dissidenten werden lässt. „Souveränität“ ist ein säkularisierter theologischer Begriff. Er überträgt die Omnipotenz und die Unfehlbarkeit Gottes auf den weltlichen Souverän. Diese Übersteigerung staatlicher Macht mochte in Zeiten konfessioneller Bürgerkriege einen Ausweg bieten. Gleichwohl ist die ältere Souveränitätstheorie Zeichen eines Omnipotenzund Unfehlbarkeitswahnes. Aus all dem ist zu folgern, die Mischverfassungslehre könnte von nicht nur antiquarischem Interesse sein. Ein Reinheitsgebot für Verfassungen ist wirklichkeitsfremd. Es sind immer nur wenige, die regieren und repräsentieren, wie man es auch dreht und wendet. Ob es gelingen könnte – wie Riklin es vermutet –, die Gewaltenteilungslehren noch einmal durch Mischverfassungslehren abzulösen, ist wohl eher zu bezweifeln. Es ist eben nicht mehr möglich, wie dies noch bei Montesquieu geschieht, die einzelnen Gewalten mit bestimmten Ständen zu verbinden. Was bleibt, ist jedoch die Frage nach den jeweiligen Rechten, sei es des Volkes, sei es der Repräsentanten und der Regierung. Es bleibt vor allem die Frage, von welcher Qualität die Repräsentanten sind. Platons Frage, wer regiert, welcher Typus von

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Mensch regiert, hat sich in den modernen Demokratien keineswegs erledigt. Sie ist dort unvermindert aktuell. Regieren die Einsichtigen und Tüchtigen? Oder soll das Gesetz regieren? Personen oder Verfahren? Popper wollte sich bekanntlich für die Verfahren allein entscheiden (61980). Bei Platon dagegen blieb die Frage „wer regiert?“ immer im Spiel, auch als er in seinem Spätwerk eine Gesetzesherrschaft entwickelte. Verfahren allein machen noch keine Politik. Hinter Verfahren stehen immer Personen, die diese Verfahren durchführen. Kein Verfahren vollzieht sich von selbst. Rex oder lex ist kein sich ausschließender Gegensatz. II. Wenn wir zurückblicken auf die Entstehung der Mischverfassungslehre, dann versteht es sich, dass diese sich erst bilden konnte, als sich das Vokabular für Verfassungstypen ausgeprägt hatte. Die Mischverfassungslehre konnte somit erst im 5. und 4. Jh. v. Chr. entstehen (Aalders 1968). Der erste, der sie nachweislich benutzt, ist Thukydides. Dieser lobt die Verfassung des Theramenes aus dem Jahre 411 v. Chr. In dieser wurde das Bürgerrecht auf jene 5000 eingeschränkt, die sich die Hoplitenausrüstung leisten konnten. Diese Verfassung nennt Thukydides (VIII, 97, 2) eine cu·gkrasiò „der Wenigen und der Vielen“, man könnte übersetzen, eine „glückliche Mischung“ der Wenigen und der Vielen. Man sieht an dieser ersten nachweisbaren Verwendung des Mischungsvokabulars zwei Eigentümlichkeiten der griechischen Mischverfassungslehre. Sie dient a) dazu, Ansprüche der radikalen Demokratie zu restringieren, und sie tritt b) mit dem Anspruch auf, die patrios politeia, die herkömmliche Verfassung zu sein, wie sie vor der Radikalisierung der Demokratie bestand. Die erste Theorie der Mischverfassung, die man eine Theorie nennen darf, findet sich bei Platon. Er äußert sich zum Thema an drei Stellen: im Menexenos, bei dem man nicht weiß, wie parodistisch er gemeint ist; im Buch III der Nomoi und schließlich im 8. Brief. Dieser dem Dion in den Mund gelegte Brief empfiehlt, in Sizilien eine Mischverfassung zu errichten. Der Brief ist nach dem Tode Dions abgefasst. Er hat den Charakter einer ad-hoc-Empfehlung. Um die streitenden Parteien zu versöhnen, sollen an der Spitze drei Könige aus der Familie des Dion und des Dionysios stehen. In den Nomoi fehlt eine offen deklarierte monarchische Spitze (was nicht heißen muss, dass sie nicht doch in verdeckter Weise vorhanden ist). Zwischen dem 8. Brief und dem dritten Buch der Nomoi gibt es eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten. Das dritte Buch der Nomoi ist Platons wichtigster Text zur Mischverfassungslehre. Er kann letztlich nur aus dem Gesamtcharakter der Nomoi ge-

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deutet werden. Es genügt nicht, die Lehre separat aufzugreifen. Zudem knüpfen die Nomoi an die Lehre des Politikos an. Im Politikos hat Platon dem Staatsmann eine Messkunst zugeteilt, die das „Angemessene“, das „Passende“ und das „Gebührliche“ bestimmen sollte (284 e). Verfassungen sind nach der Lehre des Politikos – so es sich nicht um die beste Verfassung handelt – bloße „Nachahmungen“ der besten (mimh·mata). Zwar ist es besser, dass Verfassungen gesetzlich, als dass sie ungesetzlich sind. Aber schon im Politikos steht der Gesetzesbegriff unter dem Vorbehalt, ein Surrogat zu sein. Wenn die beste Verfassung nicht möglich ist, dann solche, in denen die Gesetze herrschen. Die Rangfolge des Politikos ist Monarchie, Aristokratie, Demokratie bei den gesetzlichen, Tyrannis, Oligarchie, (anarchische) Demokratie bei den ungesetzlichen Verfassungen. Messkunst, Maß, Vermeidung der Extreme, Gesetzlichkeit – das alles kehrt in den Nomoi wieder. Es ist die Aufgabe großer Gesetzgeber, das rechte Maß zu treffen (691 d). Als Vorbild gilt Lykurg, der sagenhafte Verfassungsgeber Spartas. Platon grenzt die Mischverfassung von zwei Extremen ab: von der extremen Alleinherrschaft, wie sie in Persien entstanden ist, und von der extremen Demokratie, wie sie Platon Athen unterstellt (693 d ff.). Die Willkür des persischen Despoten zersetzt Freundschaft und Gemeinschaft. Die extreme Freiheit der athenischen Demokratie zersetzt jegliche Autorität. Platon hatte dies schon in der Politeia in einer Satire auf die Demokratie vorgeführt (VIII, 557 a–563 d). In den Nomoi nennt Platon als Grund für die Despotie und das Zügelloswerden der Freiheit das Versagen der Erziehung und die Entartung der Musik. Mit letzterer spielt er an auf die Doppelbedeutung von Nomos, was sowohl „Gesetz“ und „Sitte“ als auch „Tonart“ und „Lied“ bedeuten kann. Eine wohlgeordnete Verfassung mischt demnach – anders als Persien und Athen – Freiheit mit Freundschaft und Einsicht. Eine gute Stadt muss den richtigen Ton treffen. Nietzsche hat noch daran erinnert, wenn er schrieb, man müsse den Staat „auf Musik gründen“, als er dies schrieb, dachte er noch, auf die Bayreuther Musik (Richard Wagner in Bayreuth, KGW IV/1, 30). Als Modell für eine Mischverfassung dient Platon in den Nomoi Sparta. An dessen Verfassung ist nach Platon die Mäßigung des Königtums zu loben. Dieses wird gemäßigt: a) durch das Doppelkönigtum, b) durch die Gerusia (mit der die Könige zusammen abstimmen) und c) durch die Ephoren, die der Hybris der Könige einen weiteren Zügel anlegen (692 a). „Gemischt“ (summeikto·ò, 692 a 7) wird demnach in Sparta das Königtum mit dem Ältestenrat und dem Ephorat. Gemischt wird die edle Geburt der Könige mit der Altersweisheit der Gerusia und der Zügelung der Monarchen durch das Ephorat. Diese drei Beschränkungen der Macht sind nach Platon ein göttliches Geschick. Die Zwillingsgeburt der Könige; die dem göttlichen Verfassungsgeber Lykurg zugeschriebene Einrichtung der Gerusia,

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die dem Theopompos als „drittem Retter“ zugeschriebene Einrichtung des Ephorats (Schöpsdau 1994, 428 ff.). Durch Mischung kommt das rechte Maß (to½ me·tron, 692 a 8) zustande. Platon vergisst auch nicht zu loben, was an der Verfassung Spartas immer gelobt wurde: ihre Langlebigkeit (692 b–c). Was er seltsamerweise nicht erwähnt, ist die Apella, die Volksversammlung, das demokratische Element der spartanischen Verfassung. Deren Rolle ist bekanntlich umstritten. Schon Aristoteles hält sie für unbedeutend (Pol. II, 1272 a 11), Andrewes (1960) meint dagegen, sich auf Xenophon berufend, dass die Volksversammlung durchaus ein Gewicht gehabt habe. Ob man wie Cicero (de re publ. II, 58) das Ephorat als eine Institution des Volkes betrachten kann und ob Platon es in dieser Rolle sieht, lässt sich durch den Text der Nomoi nicht entscheiden. Es dürfte aber unwahrscheinlich sein. Wie dem auch sei, athenische Aristokraten hegten oft eine Vorliebe für Sparta. Bei Platon ist es eine gemäßigte Vorliebe, da er auch die Schattenseiten der spartanischen Erziehung und Verfassung nicht verschweigt. Die Ausrichtung des Lebens am Militärischen allein ist für Platon wie für den Perikles des Epitaphios eine Verkümmerung. Sowohl in der Politeia (544 a–550 c) als auch in den Nomoi (628 d–e) wird sie kritisiert. In die gute Stadt müssen alle Tugenden hinein, nicht nur die Tapferkeit. In der Politeia war die Timokratie, die Militärherrschaft, die erste Entartung der besten Stadt (VIII, 547 d–550 c). Das heißt, die Timokratie steht der besten Verfassung, die eine Aristokratie oder Monarchie ist, näher als Oligarchie, Demokratie oder Tyrannis. Gleichwohl ist auch sie schon eine Entartung, da in ihr die Seelenordnung bereits verrückt ist. Der ehrliebende, mutartige Seelenteil rückt an die erste Stelle, vor Vernunft und Begierde. Eindeutig bestimmt ist bei Platon, wer mischt. Es ist der Gesetzgeber oder der Staatsmann. Undeutlicher ist, was gemischt werden soll und was die entscheidende Mischung ist. Mischverfassung – dieser Begriff klingt so, als ob das Entscheidende die Verfassung und ihr institutionelles Arrangement wäre. Aber Verfassungen beruhen bei Platon auf der jeweiligen Seelenordnung und den entsprechenden Tugenden. So besehen käme es eigentlich auf das Maß der Seele an: auf die rechte Mischung von begehrlichem und vernünftigem Seelenteil. Es käme darauf an, dass auch in der zweitbesten Verfassung die Einsicht noch über die Begierde herrschen kann. Dass dazu dann auch ein soziales und ein institutionelles Arrangement nötig ist, käme erst in zweiter Linie hinzu. Zum neuzeitlichen Republikanismus gehört das Lob der Gesetzesherrschaft: „government of law, not of men“. Platons Begriff des Gesetzes hat jedoch eine eigene Färbung. Zwar ist für Platon die gesetzliche Herrschaft besser als die ungesetzliche. Aber das Gesetz ist für ihn auch nur ein Not-

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behelf. Es ist eine Kompensation für den Mangel an Einsicht und Selbstbeherrschung (Nomoi 875 a). Dass die Nomoi eine wahre Gesetzesflut vorführen, bedeutet, Platon will zeigen: es werden um so mehr Gesetze nötig, je mehr es an Einsicht und Tugend fehlt. Dem korrespondiert, dass er in der Politeia als Gradmesser für den Zustand einer Stadt die Zahl der Ärzte und Richter angibt. Je mehr man von ihnen benötigt, um so schlechter die Stadt. Für den Republikaner der Neuzeit ist das Gesetz der Triumph über die fürstliche Willkürherrschaft. Für Platon ist es ein Surrogat für die eigentlich erwünschte Herrschaft der Einsichtigen und Tüchtigen. Besser als das tote Gesetz ist allemal das „lebendige“, der nomos empsychos, die lex animata, die im Hellenismus, in Byzanz und in der Stauferzeit so große Karriere machen wird (Delatte 1942; Steinwenter 1946; Kantorowicz 1990). Nur der verreisende Arzt hinterlässt ein Rezept. Mit dem persönlich anwesenden Arzt kann dies nicht konkurrieren. Platons Formulierung vom „Sklaven des Gesetzes“ (Nomoi 715 d, 8. Brief 354 c) ist nicht nur freundlich gemeint, so sehr man dies im Sinne der „ehrenvollen Sklaverei“ des Antigonos Gonatas deuten möchte oder es herabmildern möchte zum „Diener“ des Gesetzes oder zum premier serviteur des Staates. In seinem Buch über Mischverfassungslehre behauptet Wilfried Nippel, die in den Nomoi vorgestellte Verfassung werde von Platon „weder als ganze . . . als Mischverfassung gekennzeichnet noch (könne sie) inhaltlich als ein System von checks-and-balances gedeutet werden“ (1980, 141). Zwar habe Platon oligarchische und demokratische Verfahren wie Los und Wahl gemischt. Aber das sei „für das Ganze dieses Staatsentwurfes (nicht) konstitutiv“ (ebd.). Nippel nennt als Paradigma für Mischverfassungslehre Polybios und als Kern der Lehre die Interorgankontrolle. An Nippels Deutung ist sicher richtig, dass Polybios deutlicher als seine Vorgänger die wechselseitige Hemmung der Verfassungsorgane hervorhebt und er den Begriff des Gleichgewichts ins Spiel bringt. Aber eine Hemmung der Gewalten ist schon in Platons Analyse der spartanischen Verfassung vorgedacht, werden doch Doppelkönigtum, Gerusia und Ephorat als Hemmungen der monarchischen Gewalt eingeführt. Polybios zum Maßstab der Mischverfassungslehre zu machen, ist fragwürdig. Polybios hat einen griechischen Blick auf römische Verhältnisse geworfen. Manches wie die Dominanz des Senats und der Aristokratie hat er überhaupt nicht verstanden. Seine Kreislauftheorie, die Machiavelli so bereitwillig abgeschrieben hat, entbehrt der empirischen Fundierung. Sie ist nichts als ein in Bewegung gebrachtes Sechserschema der Verfassung. In einer Hinsicht freilich bleibt Nippels These diskussionswürdig. Man darf die Frage stellen, ob die von Platon in den Nomoi entworfene Verfassung selber eine Mischverfassung ist. Auf den ersten Blick scheint sie dies

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zu sein. Demokratisch-oligarchische Institutionen (wie eine Volksversammlung mit vier Vermögensklassen und ein Rat) werden gemischt mit Kontrollinstanzen (Gesetzeswächter und Euthynen) sowie mit aristokratischen oder monarchischen Einrichtungen (wie dem nächtlichen Rat und dem Amt des Erziehungsministers). Insofern der Besuch der Volksversammlung nur für die beiden oberen Vermögensklassen verpflichtend ist und die Wahlverfahren sich zu deren Gunsten auswirken, kann man versucht sein, von einer Demokratie mit oligarchischer Schlagseite zu sprechen, wie dies Aristoteles tut (Pol. II, 7, 1266 a). Riklin klassifiziert die Verfassung der Nomoi als „zweigliedrige Oligo-Demokratie ohne monarchisches Element“ (2006, 48). Aber beide Klassifizierungen, die des Aristoteles und die Riklins, zeigen nur die halbe Wahrheit. Sie sind korrekturbedürftig. So sehr die Vermögensklassen und die Wahlverfahren eine Oligarchie begünstigen, in ihrer Gesamtanlage sind die Nomoi gegen eine Herrschaft des Geldes gerichtet. Das beginnt bei der Begrenzung der Vermögensunterschiede auf das Vierfache (bei der beweglichen Habe), und es setzt sich fort in der Befürwortung eines Agrarstaates mit selbständig wirtschaftenden Familien und dem Ziel der Autarkie (Weber 1957). Alles wird gegründet auf Land und Boden, nicht auf Handel und Seefahrt. Wie in Sparta sind der Besitz von Gold und Silber verboten, die Währung ist nicht konvertierbar, Zins soll es nicht geben (742 a–c). Man ahnt bereits den für neuzeitliche Republiken so wesentlichen Gegensatz von virtue und commerce voraus. Denkt man an neuzeitliche Entsprechungen, fallen einem Harringtons „Oceana“, Jeffersons „agrarian virtue“ oder Fichtes „Geschlossner Handelsstaat“ ein. Wer von Oligo-Demokratie spricht, übersieht des weiteren die verdeckten aristokratischen und monarchischen Einrichtungen der Nomoi-Verfassung. Die nächtliche Versammlung ist eine aristokratische Institution, in der Einsicht und Kompetenz zur Geltung gebracht werden. Sie ist nach Platon die „Seele“ und der „Kopf“ der Stadt (Nomoi 961 d). Man kann sie als ein Erbstück der Philosophenherrschaft deuten. Das Amt des Erziehungsministers nennt Platon das wichtigste aller Ämter (766 e). Es ist eine Quasi-Monarchie. Platon hat damit etwas erfunden, was es in keiner der existierenden Poleis gab, während er ansonsten durchaus auf existierende Institutionen zurückgriff. Auch der Erziehungsminister ist verantwortlich für Einsicht und Tugend. Auch die Nomoi begründen eine Stadt der Erziehung. Sieht man die Mischung der Institutionen, so entwerfen die Nomoi eine Mischverfassung. Was diesen Eindruck stören kann, ist die nur begrenzte Rolle der Peitho, des Überredens und Miteinander-Redens. Zwar kann man sagen, mehr Peitho als in den Nomoi ist bei Platon nie. Zum Gesetzesgehorsam soll, wie es die Präambeln zeigen, überredet werden (Fögen 2006). Platon hat seine radikale Gegnerschaft gegen die Rhetorik, wie sie der Gorgias

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vorführt, gemildert. Was entsteht, ist jedoch kein „government by discussion“. Der Gesetzesbegriff Platons ist ein theologischer. Über Gesetze gibt es – trotz Volksversammlung und Rat – eigentlich nichts zu diskutieren. Das Maß aller Dinge ist, wie es in der Generalpräambel heißt, Gott (716 c). Platon entwirft eine Theokratie, nur dass in dieser nicht, wie in Theokratien sonst üblich, die Priester herrschen, sondern Philosophen, verkleidet als nächtliche Räte und als Erziehungsminister. Nach dem schönen Wortspiel über den nomos als tou nou dianomh·n (714 a), ist er eine „Zuteilung der Vernunft“. Diese weist ihrerseits auf göttliche Zuteilung zurück. Die Mäßigung, die in einer Mischverfassung liegt, geht am Ende verloren. Die Theokratie hat zu ihrer Kehrseite Asebie-Gesetze und eine Inquisition für Häretiker. Grundlage der Politik ist nicht „government by discussion“, sondern die Anwendung eines sowieso schon feststehenden Gesetzes, für das Diskussion und Meinungsstreit nicht nötig sind. Es genügt die höhere Einsicht einiger weniger, die um dieses Gesetz wissen. _

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Man könnte einwenden, dass Platon in den Nomoi die Freiwilligkeit des Gehorsams betont. Auch ist der Charakter mancher Präambeln so zu verstehen, dass sie den Bürgern die Gesetze – so gut wie möglich – erklären sollen. Es entsteht der Eindruck eines Dialoges. Aber kann es in Platons Gesetzesstadt eine dialogische Öffentlichkeit geben? Verräterisch ist die Wendung, der Gesetzgeber bediene sich „beinahe philosophischer Argumente“ (ýggu·ò, 857 d 2). Beinahe philosophischer Argumente – das heißt, die wahre Philosophie ist nur den Philosophen verständlich. Allen anderen steht nur eine Annäherung an die wahre Lehre zur Verfügung. Das Modell, an dem die Politik gemessen wird, ist auch in den Nomoi die ärztliche Kunst. Arzt und Patient stehen sich gegenüber wie Fachmann und Laie. Nur der eine hat das nötige Fachwissen, während der andere vertrauen muss, weil er nicht wirklich wissen kann. Zwar trifft diese Zweiteilung auch heute die traurige Wirklichkeit. Der Bürger vermag die von Fachleuten formulierten Gesetze in vielen Fällen nicht zu verstehen. Es kann nicht jeder Jura studieren, und offenbar besteht kein politischer Wille, die Sprache der Gesetze zu vereinfachen. Bei Platon kommt allerdings erschwerend hinzu, dass er zwischen Meinung und Wissen scharf zu trennen pflegt, die bloß Meinenden von den Wissenden unterscheidet. In demokratischen Gesellschaften lassen sich jedoch Ärzte und Politiker nicht miteinander vergleichen. Die Rolle eines Arztes der Gesellschaft kann es in dialogisch begründeten Gemeinschaften gar nicht geben. Niemand ist zum Psychotherapeuten demokratischer Gesellschaften berufen. Aus all dem folgt, es kann bei Platon durchaus Mischungen geben, Mischungen von Einsicht und Tugend, von oligarchischen und demokratischen Elementen der Verfassung. Aber es versteht sich, dass diese für Platon kein Gleichgewicht und keine Mischung gleichberechtigter Teile sind.

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III. Kehren wir noch einmal zurück zur Frage, was die Mischverfassungslehre heute noch bedeuten kann. Dolf Sternberger hat einmal geschrieben, das „Theorem“ sei der Verfassungslehre entglitten. „Die Sache selbst jedoch“, so Sternberger, „steht in voller Blüte. Die heutigen westlichen Verfassungsstaaten lassen sich samt und sonders als gemischte Systeme auffassen“ (Schriften Bd. 7, 1990, 152). Sternberger nennt als Vorbild für eine Mischverfassung nicht Platons Nomoi, sondern Aristoteles’ Politie. Er ist sich dabei wohl bewusst, dass aus der Bürgerschaft der Antike das Wahlvolk und aus den Aristokraten und Oligarchen die Parteien geworden sind. Stadtstaat und Flächenstaat, nach Autarkie strebender Kleinstaat und moderne Handelsrepublik, Ständegesellschaft und bürgerliche Gesellschaft liegen weit auseinander. Ein Repräsentant der modernen Republiktheorie wie James Madison kann behaupten, man habe die „unmixed and extended republic“ erfunden, und diese sei der Republik der Alten haushoch überlegen (Federalist Nr. 14). Der Preis, den ein Federalist wie Madison für den modernen Republikbegriff zahlt, ist allerdings erheblich. An die Stelle eines lebendigen Gemeinwesens tritt die tote Mechanik der Verfahren, der checks and balances. Betrachtet man die von den Federalists kommentierte Verfassung, ist sie durchaus gemischt: eine Mischung von Oligarchie und Demokratie oder Aristokratie und Demokratie, wenn man freundlicher urteilt. Auf Verfahren allein ist die Amerikanische Verfassung nicht gegründet. Vielmehr zehrt sie aus vielen Quellen vorpolitischer Gemeinsamkeit (etwa der Zivilreligion, dem Exceptionalismus, dem Patriotismus etc.). Die Schwierigkeit, heute eine Mischverfassungstheorie zu vertreten, liegt nicht darin, dass die Verfassungen heute nicht irgendwie gemischt wären. Sie sind es. Die Schwierigkeit liegt darin, dass das Einheitsdenken aus der Verfassungstheorie äußerst schwer zu vertreiben ist. Irgendwo muss die Macht zentriert sein, irgendwo müssen das letzte Wort und die letzte Entscheidung fallen. Die Metaphysik der Verfassungstheorie ist seit Sieyès die der natura naturans. Die Gewalten emanieren aus der schöpferischen Kraft der Volkssouveränität. Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht zur Umschreibung der Verfassungswirklichkeit. Wo ist der Wille des souveränen Volkes? Ist er bei der Regierung oder bei der Opposition oder bei beiden? Kann das Volk zugleich regieren und opponieren? Wo ist der Wille des Volkes, wenn eine Minderheitsregierung im Amt ist? Wo ist er, wenn der Abgeordnete allein seinem Gewissen verpflichtet entscheidet, das Volk mag wollen, was es will? Wer die Mischverfassungslehre heute noch vertreten will, muss sich zu dem Satz bekennen: Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Oder wenn sie vom Volke ausgeht, geht sie auch wieder

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von ihm weg. Sie mag ihm residual als ein Widerstandsrecht verbleiben. Aber für die Zeit zwischen Ausgang und im Notfall wieder reklamierter Souveränität ist sie anderswo. Ein Verzicht auf die Souveränitätslehre, die den modernen Staat auf einen Punkt bringt, ist verschiedentlich angedacht worden (so etwa von Kielmansegg 1977 oder Herzog 1971). Aber dies hat zu keiner Renaissance der Mischverfassungslehre geführt. Man wüsste gerne, warum dies so ist. Literatur Aalders, G. J.: Die Theorie der gemischten Verfassung im Altertum, Amsterdam 1968. Andrewes, A.: Die Regierung des klassischen Sparta (1966), in: K. Christ (Hrsg.), Sparta, Darmstadt 1986, S. 290–316. Delatte, L.: Les Traités de la Royauté d’Ecphante, Diotogène et Sthénidas, Liège 1942. Fögen, M. Th.: Das Lied vom Gesetz, München 2006. Herzog, R.: Allgemeine Staatslehre, Frankfurt a. M. 1971. Kantorowicz, E. H.: Die zwei Körper des Königs, München 1990. Kielmansegg, P. Graf: Volkssouveräntität, Stuttgart 1977. Krämer, H. J.: Arete bei Platon und Aristoteles, Heidelberg 1959, Amsterdam 1967, S. 201–220. Nippel, W.: Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit, Stuttgart 1980, S. 136–142. Popper, K. R.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bde., Tübingen 61980. Riklin, A.: Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung, Darmstadt 2006. Schöpsdau, K.: Platon, Nomoi Buch I–III, IV–VII, Göttingen 1994, 2003. Steinwenter, A.: Nomos empsychos, Wien 1946. Sternberger, D.: Der Staat des Aristoteles und der moderne Verfassungsstaat (1985), in: Schriften Bd. 10. Verfassungspatriotismus, Frankfurt a. M. 1990, S. 133–155. Weber, W.: Platons Stellung zur Sparta-Ideologie, Diss. Münster 1957.

Platos Politische Theorie in den Nomoi – Geltung und Genese Von Ada Neschke-Hentschke I. Einleitung 1. Politische Theorie und politische Philosophie Mein Beitrag mit dem Titel Platos Politische Theorie in den Nomoi – Geltung und Genese verfolgt das Ziel, die unverwechselbare Besonderheit der politischen Theorie aufzuzeigen, die in Platos Gesetzen entwickelt wird; dazu soll einleitend der Titel erläutert werden, um den Gang der Untersuchung anzuzeigen. In Absicht einer differenzierten Wahrnehmung unterscheide ich politische Theorie von politischer Philosophie. Erstere bildet den Inhalt der Politik des Aristoteles. Dort heißt es am Beginn des dritten Buches: „Die erste Frage ‚der politischen Theorie, m. Zusatz‘ besteht darin zu untersuchen, was denn das Wesen der Polis ist.“ (Aristoteles, Politik, III, 1, 1274 b33)1 Aristoteles will damit sagen, dass eine politische Theorie eine phänomengetreue Analyse und Beschreibung der politischen Gemeinschaft im Unterschied zu anderen Formen der Vergemeinschaftung (koinwnûa)2 und eine Lehre ihrer möglichen Verfassungen (politeûa)3 entwickeln muss. Dagegen stellt die politische Philosophie die Frage der politischen Theorie immer schon in den Rahmen der Begründung der politischen Gemeinschaft; sie fragt: „Aus welchen menschlichen Wurzeln entspringt diese Gemeinschaft?“ Plato erhebt diese Frage im zweiten Buch der Politeia.4 Diese Wurzeln freigelegt erforscht der griechische Denker als politischer Philo1 Aristotelis Politica, ed. W. D. Ross, Oxford, 1957: „Sxedün prÿth skÍyiò _ per˝ pülewò ûde in tû potÍ ýstin ê püliò.“ 2 Aristoteles, Politik, Buch I, Kp. 1–2. (deutsch: N. Tsouyopoulos/E. Grassi (Hrsg.), Aristoteles Politik, Hamburg 1965). 3 Aristoteles, Politik, Bücher III–VIII. 4 Plato, Politeia II, 369 b5 ss. (Platonis opera, ed. Joannes Burnet, vol. 4, Oxford 1902).

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soph darüber hinaus die tieferen Strukturen dieser Wurzeln, wie es im vierten Buch der Politeia geschieht.5 Dank dieses Vorgehens stellt Plato die politische Theorie in den Begründungszusammenhang einer Fundamentalanthropologie. Somit umgreift politische Philosophie politische Theorie, das Verhältnis gilt nicht umgekehrt. Platos politische Theorie, die den Kriterien des Aristoteles entspricht, findet sich in seinen Nomoi. In deren dritten Buch untersucht Plato die Frage, welchen empirisch-historischen Phänomenen die politische Gemeinschaft, die Polis, ihre Existenz und Eigenart verdankt; seine Analyse steht in nichts der berühmteren im ersten Buch der aristotelischen Politik nach. Im vierten bis sechsten Buch der Nomoi entwickelt Plato darüber hinaus seine Theorie der Verfassung, die auch die wirtschaftliche und soziale Ordnung einer zu gründenden Polis umfasst. Doch ist Platos politische Theorie gleichsam die Spitze eines Eisbergs; ihr spezifischer Sinn, der sie von allen bekannten politischen Theorien unterscheidet, entschlüsselt sich erst, wenn ihr Begründungszusammenhang berücksichtigt wird; auf diesen verweist die Tatsache, dass Plato selber seine politische Theorie nicht als „Wissen um das Wesen der Polis“, sondern vom Gorgias bis zu den Nomoi als „Wissen um die Seele“ definiert hat: „Dies nun, ich meine das Erkennen der natürlichen Wesensart und Haltung der Seelen, dürfte von einzigartigem Nutzen für jene Kunst sein, deren Aufgabe die Pflege dieser Anlagen ist. Das ist aber doch, behaupten wir, . . . die Aufgabe der Staatskunst. Nicht wahr?“ (Platon, Nomoi I, 650 b6–b9).6

2. Geltung und Genese Das Wort „Geltung“ im Titel meines Beitrags verweist auf die Rezeptionsgeschichte der Nomoi. Das zurückliegende Schicksal dieser Schrift Platos besteht darin, dass sie, seit dem Werk Friedrich Köppens mit dem Titel Gesetzgebung nach platonischen Grundsätzen, Landshut 1818, nicht mehr in ihrer philosophischen Bedeutung wahrgenommen wurde. Erst seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat sich diese Lage in dem Masse geändert, als die philologisch-historische Bearbeitung der Nomoi intensiv in Gang gekommen ist.7 Vor dem 19. Jahrhundert dagegen sind Platos Nomoi im Lichte 5

Plato, Politeia IV, 434 d2–441 c8 (Platonis opera, vol. 4) Platon, Les Lois_ (I–II). Texte établi et traduit par E. des Places, Paris 1976: _ _ uto m˚n ºr’_ºn twn xrhsimwtÜtwn e˜n _eŁh, t˛ gnwnai tJò fŸseiò te ka˝ e˜ceiò To _ _ _ h ýkeûn´h Ìò ýsti tauta qerapeŸein. ˙Esti dÍ pou, famÍn, twn yuxwn, t´ h tÍxn´ _ _ ¼ò oiÉmai, politik hò. \ H gÜr; (Übers. von K. Schöpsdau, Platon, Nomoi I–III. in: E. Heitsch, C. W. Müller (Hrsg.), Platon Werke, Band IX, 1, Göttingen 1994). 6

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der aristotelischen Politik-Tradition rezipiert worden, die zu einer der Trennung von Ethik und Politik, von Seele und Staat, von Moralität und Legalität geführt hatte, was der Ausbildung einer reinen politischen Theorie diente.8 Diese Trennung allerdings muss das Spezifische der politischen Lehre Platos mit Notwendigkeit verfehlen; denn solange Platos Nomoi nur als politische Theorie und nicht als Teil seiner politischen Philosophie wahrgenommen wurden, musste ihre Originalität verkannt werden. Dies möchte ich, im ersten Teil meiner Darlegungen, an einigen politiktheoretisch relevanten Rezeptionsstufen der Nomoi in der Vergangenheit aufzeigen. Dieser Weg wurde gewählt, weil er es erlaubt, am Ende dieses ersten Teils den platonischen Entwurf mit den Kategorien neuzeitlicher PolitikTheorie zu charakterisieren. Anschließend dagegen soll in dem zweiten, kürzeren Teil dieses Beitrags die Frage nach der Begründung gestellt werden; das Wort „Genese“ wird somit systematisch, nicht chronologisch verstanden. Wir fragen nämlich: Welches sind die philosophischen Voraussetzungen, aus denen sich die politische Theorie in den Nomoi mit Notwendigkeit ergibt? Mit dieser Frage folgen wir einem Hinweis Kants, der Platos Staatsentwürfe als „Ideal der Vernunft“ einstufte und gegen ihre Kritiker in Schutz nahm; denn Ideale sind nach Kant „notwendige Ideen“. II. Platos politische Theorie und ihre philosophische Begründung 1. Die Geltung von Platos politischer Theorie zwischen Aristoteles und Kant Alle politische Theorie betrifft die den Staat begründenden äußeren Handlungen von Menschen und deren gegenseitige Verflechtung, insbesondere aber die Handlungsfreiheit und ihre notwendige Einschränkung im Sinne friedlicher Koexistenz. Solche Einschränkung geschieht vor allem durch Herrschaft. Die aristotelische Staatsformenlehre ebenso wie die sie präzisierende moderne Souveränitätslehre fokalisiert daher jene Handlung, 7

s. die Bibliographie von T. J. Saunders, Bibliography on Plato’s Laws, revised and completed with an additional Bibliography on the Epinomis by L. Brisson, Sankt Augustin 2000, ferner die aktualisierte Bibliographie von Luc Brisson in: Luc Brisson/Jean François Pradeau, Platon, Les Lois, Livre XII–XII; Paris 2006, 387–396. 8 Zur Geschichte der aristotelischen Politiktheorie s. C. Horn/A. NeschkeHentschke, Politischer Aristotelismus. Die Rezeption der aristotelischen „Politik“ von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart 2008.

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die in Herrschaft (÷rxh·, imperium, potestas) besteht: sie legt fest, was Herrschaft ist und wann sie auf Anerkennung der Beherrschten stoßen kann, etwa, wenn sie dem Postulat des Gemeinwohls folgt. Im Lichte dieser Schwerpunkte haben die politischen Theoretiker, wenn sie die Nomoi gelesen haben, den Nomoi-Staat ausgelegt. Meine folgende Diskussion ihrer Interpretationen trifft eine Auswahl dahingehend, dass man das Werden unserer modernen liberalen Rechtsstaatauffassung unschwer nachverfolgen kann; sie reicht von Aristoteles über Bodin, Suarez, Grotius, Locke bis zu Kant. An ihrem Anfang steht Aristoteles, da er die ihm bekannten Verfassungslehren in das zum Kanon gewordene Schema der sechs Verfassungen gegossen hat. Mit der Klärung des römisch rechtlichen Souveränitätsbegriffs durch Jean Bodin beginnt das moderne Staatsverständnis, mit der Ableitung der Souveränität aus dem Volksganzen durch Francisco Suarez dagegen die moderne Demokratietheorie. Die von diesen Denkern geteilte Lehre vom sittlichen Ziel des Staates wird anschließend von Hugo Grotius verlassen; zwar erkennt schon Grotius die Verpflichtung des Souveräns, die vorstaatlichen Rechte der Bürger zu schützen, jedoch wird erst John Locke die Garantie dieser Rechte zum neuen Staatsziel erheben. Mit der Forderung einer geschriebenen Verfassung, die dem Schutz vorstaatlicher Menschenrechte dient und, Montesquieu folgend, die Teilung der Gewalten festlegt, gibt die Französische Nationalversammlung in ihrer Déclaration vom 15. August 1789 der Verfassung eine positiv rechtliche Form. Die Gesamtentwicklung mündet gleichsam in ihrer provokativen Erklärung: „Keine Gesellschaft, in der die Rechte des Menschen nicht gesichert noch die Teilung der Gewalten festgelegt wird, besitzt eine Verfassung.“ (Déclaration de l’assemblée nationale française du 15 août 1789, art. 16).9

Die Erklärung expliziert das Grundverständnis des modernen liberalen Rechtsstaates und liefert im 20. Jahrhundert Karl Popper die Grundlage, Platos Staatsentwürfe als totalitär zu verwerfen. Im Folgenden sind nun die unterschiedlichen Auslegungen vorzustellen, welche die genannten Autoren ausdrücklich – so Aristoteles, Bodin und Suarez – oder auch nur indirekt – so Kant – von Platos Nomoi-Staat gegeben haben.

9 G. Franz (Hrsg.), Verfassungen, Darmstadt 1975, 301 ..: „Toute société dans laquelle la garantie des droits n’est pas assurée ni la séparation des pouvoirs déterminée n’a pas de constitution.“ (Übers.von A. Neschke).

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a) Die Auslegung der Verfassung der Nomoi durch Aristoteles (Politik) „In den ‚Gesetzen‘ heißt es dagegen, es müsse die beste Verfassung aus Demokratie und Tyrannenherrschaft zusammengesetzt sein, die man doch beide entweder gar nicht mehr für Verfassungen oder doch nur für die schlechtesten von allen erklären kann. . . . Dazu aber hat obendrein die Verfassung in den ‚Gesetzen‘ offenbar gar nichts Monarchisches an sich, sondern nur oligarchische und demokratische Bestandteile und zwar dabei mit einer stärkeren Hinneigung zur Oligarchie.“ (Aristoteles Politik, III, 5, 1266 a1–a7).10

Aristoteles beurteilt Platos Staat in den Nomoi nach Maßgabe seines Schemas der sechs Verfassungen, nämlich Königtum, Aristokratie und Politie als gemeinwohlfreundliche, Tyrannis, Oligarchie und Demokratie als gemeinwohlfeindliche Verfassungen. Eine Verfassung definiert der Stagirit als die Festlegung der höchsten Ämter, d.h. der institutionellen Träger der souveränen Staatsgewalt (kurûa ÷rxh·);11 je nach der Begründung des Herrschaftsanspruches durch die potentiellen Träger der Souveränität differenzieren sich die Verfassungen; bringen diese Träger als Legitimationskriterium ihrer Herrschaft die freie Geburt in Anschlag, handelt es sich um eine Demokratie, machen sie den Reichtum geltend, um eine Oligarchie.12 Beiden Verfassungen entsprechen bestimmte Ausleseverfahren der Herrscher, der Oligarchie die Wahl, der Demokratie das Los. Aristoteles analysiert somit Platos Nomoi von seinen politiktheoretischen Grundlagen aus und kommt zu dem Ergebnis, dass Plato mit der ökonomischen Vierklasseneinteilung eine Privilegierung der oberen Besitzklassen in Hinsicht auf die wichtigsten Ämter vornimmt und mit dem Verfahren der Wahl den oligarchischen Trend seines Staates verstärkt. Insbesondere aber konstatiert er die Abwesenheit eines jeden monarchischen Elementes: „Dazu aber hat obendrein die Verfassung in den ‚Gesetzen‘ offenbar gar nichts Monarchisches an sich.“ (loc.cit., 1266 a6)

Diese aristotelische Interpretation der Verfassung des Nomoi-Staates wird jedoch eindeutig durch Platos Text widerlegt; Plato behauptet nämlich, dass eine wirkliche Verfassung in kein Verfassungsschema passe (Nomoi IV, 712 b8–715 e2) und dass, wenn man schon die historisch-faktischen Verfas10

_

Aristotelis Politica, ed. W. _D. Ross, Oxford 1957: . . . ýn d˚ to iò nümoiò ei˙rhtai toŸtoiò ¼ò dÍon sugke isqai tÌn ÷rûsthn politeûan ýk dhmokratûaò ka˝ _turÜnnidoò a¯ò h¨ t˛ parÜpan ou\k a˙n tiò qeûh politeûaò h^ xeirûstaò pas wn. . . . ýpeit’ ou\d’_ e˙xousa faûnetai monarxik˛n oud˚n, a˙ll’ ŽligarxikJ ka˝ dhmokratikJ, m allon d˚ ýgklûnein boŸletai pr˛ò tÌn o\ligarxûan. (Übers.von F. Susemihl in: N. Tsouyopoulos/E. Grassi (Hrsg.), Aristoteles Politik.) 11 Aristoteles, Politik, III, 6, 1278 b8–b11. 12 Aristoteles Politik, III, Kp. 8.

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sungen berücksichtige, eine Mischung angestrebt werden sollte, da so Freiheit und Herrschaft am besten vereinbar seien (Nomoi III, 693 d2–694 a1).13 Die Oligarchie verwirft Plato mit dem Argument, dass Besitz kein Kriterium für die Übernahme eines Amtes bilden dürfe, sondern allein die moralische Integrität und die Kompetenz der zu Wählenden den Ausschlag geben müsse (Nomoi, VI, 757 b7–c6). In Ablehnung aller vorgegebenen Schematismen und als seine ausdrückliche Intention verspricht der platonische Gesetzgeber einen ganz neuen Verfassungstyp zu errichten, nämlich eine Gesetzesherrschaft, eine Nomokratie (Nomoi, IV 712 b4–715 e2). Wie auch Aristoteles gibt Plato ein Kriterium an, das die Legitimität des Trägers der Souveränität aufweist. Im Fall der Herrschaft des Nomos besteht es im Wissen und in der Gewaltlosigkeit dieser Herrschaft: „Der gewichtigste Anspruch ‚sc. auf Herrschaft‘ aber dürfte . . . der sechste sein, der verlangt, dass der Unwissende Folge leistet, der Einsichtige aber führt und herrscht. Und dies . . . ist gewiss nicht gegen die Natur, sondern entspricht der Natur des Gesetzes, dessen Wesen in einer Herrschaft über Freiwillige besteht und nichts Gewaltsames an sich hat.“ (Plato, Nomoi, III, 690 b8–c3.)14

Ein Vorbild der eigenen Verfassung erblickt Plato in der Gesetzesdemokratie Athens des 5. Jahrhunderts (Nomoi III, 698 a9–701 c4), die er vermutlich, wie die Athener seiner Zeit, dem Gesetzgeber Solon zugeschrieben hat.15 b) Die Auslegung des Nomoi-Staates durch Jean Bodin (Les six livres de la République, 1576) Bodin, Verfasser der epochalen Sechs Bücher über den Staat von 1576, unterzieht die aristotelische Verfassungstypologie einer radikalen Kritik; denn nachdem er die Souveränitätsrechte der feudalen Herrscher auf das eine Recht der Gesetzgebung, der potestas legis ferendae zurückgeführt hat, stellt sich für ihn die Verfassungsfrage auf folgende Weise neu: Wenn es nur drei Stände im Staat gibt, nämlich Herrscherhaus, Adel und Gemeine, kann die Souveränität, die alle Macht in einem Monopol vereinigt, ihrem 13 So auch Nomoi VI, 756/7, wobei Monarchie und Demokratie durch die zwei Gleichheiten vertreten werden. Dazu K. Schöpsdau, Platon, Nomoi Buch IV–VII. (in: E. Heitsch, C. W. Müller (Hrsg.), Platon, Werke, Bd. IX, 2, Göttingen 2003, 386–393). 14 Platon, Nomoi (Les Lois, des Places op. cit.): t˛ d˚ mÍgiston, w ¢ ò ñoiken, _ · mona keleuon, t˛n d˚ ÷cûwma_ e¢kt˛n a^_ n gûgnoito, e˜pesqai m˚n t˛n ÷nepisth _ fronounta h¢ge isqaû te ka˝ a˙rxein. Kaûtoi tou tü ge (. . .)_ sxed˛n ou\k a¨n parJ fŸsin ñgwge faûhn gûgnesqai, katJ fŸsin d˚, tÌn tou nümou e¢küntwn _ ÷rxÌn ÷ll’ ou\ bûaion pefuku ian. (Übersetzung v. K. Schöpsdau, Platon, Nomoi I–III). 15 J. Bleicken, Die athenische Demokratie. Paderborn 1994, 185. Zu Platos Hochschätzung Solons vgl. Symposion 209 d6–d7.

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Wesen nach nur in je einem dieser Stände ihren Ort haben; unter diese aufgeteilt geht sie ihrer Kraft als Herrschaftsmonopol verlustig. Daher kann es nur drei Verfassungen geben, eine Mischverfassung widerspricht dem Prinzip der Unteilbarkeit der Souveränität. Aristoteles, der Platos Nomoi als Mischung interpretiert hatte, wird daher von Bodin heftig kritisiert. Für Bodin dagegen ist Platos Staat der Nomoi eine Demokratie: „Damit wird offenbar, dass Platos Staat der demokratischste aller Zeiten und noch reiner demokratisch ist, als der, der seine Heimat war und dem man nachsagt, er sei der demokratischste der Welt gewesen.“ (Jean Bodin, Les six livres de la République, Paris 1583, NA Aalen 1977, II, i, S. 265).16

Wie kommt Bodin zu diesem Urteil, das Plato als Erzdemokraten hinstellt? Lassen wir ihn selbst sprechen: „Die Souveränität weist er ‚sc. Plato‘ der Versammlung des ganzen Volkes zu, denn ihm gibt er die Macht, Gesetze zu erlassen und aufzuheben. Auch wenn es sonst keine Befugnisse hätte, würde das genügen, Platos Staat als Demokratie zu qualifizieren.“ (Jean Bodin, op. cit., S. 265).17

Demokratisch ist gemäß Bodin somit ein Staat dann, wenn die Herrschaft über die Gesetze beim Volke liegt; dies aber sei im Staat der Nomoi der Fall. Darüber hinaus findet Bodin in den Nomoi weitere demokratische Elemente. So fährt er fort: „Plato geht aber noch weiter und räumt der Versammlung des ganzen Volkes auch das Recht der Beamtenernennung und -absetzung ein; ja, damit nicht zufrieden, will er, dass das ganze Volk in allen Strafprozessen entscheiden soll . . .; kurz gesagt räumt er also dem Volk die Gewalt über Leben und Tod und das Recht ein, zu verdammen und zu begnadigen . . . .“ (Jean Bodin, loc. cit.).18

Diese Beurteilung wirft die Fragen auf, warum Bodin Platos Staat für demokratischer als die attische Demokratie hält und, daran anschließend, ob dieses Urteil berechtigt ist. 16 „Qui montre évidemment que la République de Platon est la plus populaire qui fut onques voire plus que celle de son pais mesmes d’Athènes qu’on dit avoir été la plus populaire du monde.“ (Übers. von B. Wimmer, in: P. C. Mayr-Tasch (Hrsg.) Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat, Band I, München 1981, 331. 17 „Quant à la souveraineté il l’attribue à toute l’assemblée du peuple; car il donne la puissance à tout le peuple de faire la loy et la casser: qui suffit pour juger que l’estat est populaire, quand il n’auroit autre chose.“ (Übers. von B. Wimmer, Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat, Band I, 330). 18 „Il passe plus outre et donne à toute l’assemblée du peuple puissance d’instituer et destituer tous officiers: et non content de cela, il veut aussi que tout le peuple ait toute puissance de juger tous les procès criminels, attendu, dit-il que tout le peuple y a interest ... Brief, il donne au peuple la puissance de la vie et de la mort, de condamner et d’octroyer graces.“ (Übers. von B. Wimmer, a. a. O.).

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Bodin bezieht als Historiker seine Kenntnisse der attischen Demokratie aus den griechischen Rednern und Geschichtsschreibern. Wenngleich nach deren Zeugnis die souveräne Gewalt bei der Volksversammlung (ýkklhsûa) lag, also bei dem Gesamtvolk – genauer gesagt, die Volksversammlung Athens vereinigte in sich die gesetzgeberische, richterliche und exekutive Gewalt in einem einzigen Machtmonopol; sie, nicht die Beamten, regierte die Stadt19–, folgt Bodin doch dem Urteil des Thukydides, der unterstreicht, dass die Verfassungswirklichkeit dem nicht entsprach: „Kurzum, würde man alle Demokratien, die je bestanden haben, analysieren, würde sich herausstellen, dass sie . . ..scheinbar vom Volk, in Wirklichkeit aber von einigen wenigen Bürgern . . .unter ihnen regiert worden sind . . .Während der Glanz- und Blütezeit des athenischen Staates wurde er vom Senat der Areopagiten regiert und als deren Macht beschnitten worden war, war, Thukydides zufolge, Perikles der eigentliche Alleinherrscher, obwohl es sich nach außen um eine Demokratie handelte.“ (Jean Bodin, op. cit. VI.iv, S. 945/946).20

Aus den Äußerungen Bodins ergibt sich daher, dass für ihn allein Plato eine wirklich demokratisch funktionierende Demokratie erfunden hat, die, im Fall ihrer Umsetzung, dem Schicksal aller bisher existierenden Demokratien entgangen wäre, nur dem Buchstaben nach eine Herrschaft des Volkes zu verwirklichen. Hat Bodin aber mit seinem Urteil Recht? Bodin hatte die traditionelle Lehre von der Souveränität, die zahlreiche Souveränitätsrechte kannte, dahingehend abgeklärt, dass im Mittelpunkt der Souveränität die gesetzgebende Gewalt mit ihrer Kompetenz der Gesetzgebung und Gesetzesänderung stehe. Er schreibt somit Platos Volksversammlung zu, Herr der Gesetze und deswegen der Souverän zu sein. Damit aber irrt er sich. Wie die sorgfältigen neuesten Rekonstruktionen der Verfassung des Nomoi-Staates durch K. Schöpsdau und L. Brisson gezeigt haben, hat Plato die Volksversammlung dahingehend entmachtet,21 dass er ihr lediglich die Zuständigkeit überlässt, die Regierenden zu wählen, die selbst nur noch sogenannte Gesetzesdiener sind, d.h. nur bestehendes Recht anzuwenden haben.22 Daher 19

Bleicken, Demokratie (1994), 161–190. „Brief, qu’on face recherche de toutes les republiques populaires qui furent oncques, on trouvera (. . .) qu’elles ont été gouvernées en apparence par le peuple et en effect par quelques uns des citoyens ou du plus sage d’entre eux qui tenoit lieu du Prince et de monarque. Tandis que la Republique d’Athènes fut belle et fleurissante, elle fut gouvernée par le Senat des Aréopagites; lors que leur puissance fut retranchée, Pericles, dit Thucydide, etoit vray Monarque d’icelle, ores qu’en apparence elle fut populaire.“ (Übers. B. Wimmer, Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat, Band II, 401). 21 Brisson/Pradeau, Platon, Les Lois I, 440; Schöpsdau, Platon, Nomoi IV–VII, 353. 22 Platon, Nomoi, IV, 715 b7–715 d6. 20

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gibt es in Platos Staat keinen menschlichen Souverän, d.h. keine natürliche Person, die Herr der Gesetze im Sinne Bodins ist, die also Gesetze geben und aufheben kann. Die absolute Geltung der einmal gegebenen Gesetze macht Platos Staat zu einen reinen Verfassungsstaat, versteht man darunter das antike Ideal des reinen Gesetzesstaates. In diesem Sinne ist Plato ist ein Konstitutionalist. Damit ist daher nicht gemeint, wie es der heute geläufige Begriff des Konstitutionalismus beinhaltet, dass die Verfassung die menschlichen Inhaber der souveränen Gewalt einschränkt oder kontrolliert.23 Plato geht es darum, sie überhaupt auszuschalten und durch das Gesetz zu ersetzen. Beiden Varianten ist das Misstrauen gegen den Machtmissbrauch gemeinsam.24 Doch ist Platon konsequenter als die modernen Konstitutionalisten: Bei Plato stellt die Verfassung nicht, wie bei den Revolutionären von 1789 das Mittel dar, menschliche Macht einzuschränken, sondern sie selbst verkörpert die Herrschergewalt. Ich schlage vor, dieses einmalige Projekt Platos einen radikalen Konstitutionalismus im präzisierten Sinn zu nennen.25 c) Die platonischen Nomoi im Werk des Fransciso Suarez, De legibus seu de Deo legislatore (Coimbra 1612) und Defensio fidei catholicae (Coimbra 1613) Bodin hatte in seinem Werk die These entwickelt, dass allein die Gestalt des Fürsten der genuine Träger der Souveränität sein könne. Daran schloss die Lehre vom Divine Right of the King an, die die fürstliche Souveränität als von Gott verliehen verteidigte. Im Rahmen der Neuordnung der Bezie23 Vgl G. Köbler (Hrsg.), „Konstitutionalismus,“ Lexikon de europäischen Rechtsgeschichte, München 1997, 302, ferner D. Grimm, „Verfassung II“, in: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band 6, Stuttgart 1990, 863–868. 24 Plato, Nomoi IX, 874 e3–875 d3 führt diesen Missbrauch auf die konstitutionelle Schwäche des Menschen zurück. 25 Dennoch fehlt es im Nomoi-Staat nicht an gesetzgeberischen Instanzen; Plato nennt sie aber – sicher sehr absichtlich – nicht, wie im Athen seiner Zeit, nur Gesetzgeber, sondern immer auch Gesetzeswächter. Letztere haben die Funktion, die Anwendung der Gesetze durch die Beamten zu überwachen oder auch Lücken der Gesetzgebung auszufüllen (Nomoi, VII, 770 a5–771 a4). Die Idee Platos eines radikalen Gesetzes- bzw. Verfassungsstaates tritt aber besonders in der Einrichtung der nächtlichen Versammlung zutage. Auch dieser Rat wird Wächter genannt (Nomoi XII, 965 c10), ihm kommt diese Funktion in einem konstitutiven Sinn zu, denn er allein ist beauftragt, das Ziel (skopüò, XII, 961 a6–e6), man kann auch sagen den „Geist der Verfassung“ im Sinne des ursprünglichen Gesetzgebers zu hüten; denn allein dieser Rat hat das notwendige Wissen, das ihn befähigt, über das Ziel der Verfassung Rechenschaft zu geben und die Mittel seiner Durchsetzung zu verbessern.

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hung zwischen Staat und Kirche nach der Reformation bekämpft Francisco Suarez, am Beginn des 17. Jahrhunderts in seinem Werk Über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber (De legibus seu Deo legislatore),26 diese Lehre und macht geltend, dass der natürlichen Vernunft zufolge die Souveränität nur im Ganzen des Volkskörpers liegen könne; ist doch die Souveränität des Volkes eine Folge des Naturrechts. Als Autoritäten der Lehre des Naturrechts gelten dem Spanier die antiken Philosophen; unter ihnen ragen Cicero und Plato als Autoren über die Gesetze heraus, wie Suarez am Eingang seines Werkes betont: „Vorzüglich sind es die Moralphilosophen, die viele Erörterungen über die Gesetze angestellt haben; denn Platon hat zwölf Bücher über die Gesetze geschrieben, die dann Cicero auf drei reduziert hat. Diese Philosophen scheinen ausschließlich die Grundlagen des Rechts überliefert zu habe; denn sie haben fast nur die menschlichen Gesetze behandelt, welche zweckmäßig sind, wenn es gilt den Staat und die Bürgerschaft in Gerechtigkeit und Frieden zusammenzuhalten, ferner haben sie so manches aufgezeigt, was das Wesentliche des Naturrechts anlangt, soweit es von der menschlichen Vernunft erfasst werden kann und die moralische Ehrenhaftigkeit und den Erwerb der Tugenden lenkt.“ (Francisco Suarez, Tractatus de legibus, Praefatio, S. X).27

Die stete Anwesenheit Platos im ersten Buch von Suarez’ Werk De legibus seu Deo legislatore erweist den spanischen Jesuiten als den letzten grossen Platoniker vor Kant;28 ein Vergleich ihrer jeweiligen Staatstheorie lässt Gemeinsamkeiten und Abweichungen bei Suarez erkennen, vor allem aber zeigt er, wo Plato in den Nomoi moderne Denkwege vorwegnimmt. In drei Fragen vor allem erweist sich Suarez Denken als platonisch. Sie betreffen 1. die naturrechtliche Begründung des Gesetzes, 2. den Ursprung des Staates aus einem gemeinsamen Volkswillen und 3. das Staatsziel. 26 Francisco Suarez, Commentaria ac disputationes in primam secundae Divi Thomae, de legibus seu legislatore Deo; tractatus de legibus. In: F. S., Opera omnia, ed. Soc. Jesu, curavit D. M André, vol. 5/6, Paris 1856 (im folgenden zitiert als Tractatus de legibus.) 27 „Nam imprimis philosophi morales multa de legibus disputant. Plato enim duodecim libros de legibus scripsit, quos fere Cicero ad tres reduxit [. . .] Verumtamen hi philosophi tantum jurisprudentiae principia videntur tradidisse. Nam fere de solis humanis legibus tractarunt quae ad rempublicam et civitatem in justitia et pace continendam convenientes sunt, et ad summum de naturali jure quatenus humana ratione ostendi potest, et moralem honestatem virtutum acquisitarum dirigit, nonnihil attigerunt.“ (F. S., Opera omnia, ed. Soc. Jesu, curavit D. M André, vol. 5). Übers. von A. Neschke). 28 Zu Suarez als Platoniker s. A. Neschke-Hentschke, Platonisme politique et théorie du droit naturel. Vol. 2: Platonisme politique et jusnaturalisme chrétien. Leuven/Paris 2003, 312–354.

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ad 1. Naturrechtliche Begründung des Gesetzes In der Tat, Einmütigkeit herrscht zwischen beiden in der Frage nach dem Wesen des Rechts, des Gesetzes. Nicht die Existenz von positiven Gesetzen bildet bereits einen Wert, sondern nur von solchen Gesetzen, die an eine metapositive Norm, das Gute genannt, gebunden sind. „So hat Marsilius Ficinus in seiner Einleitung zu Platos Minos, teils hier teils aus den Schriften ‚Der Staat‘ und ‚Die Gesetze‘, Platos Gesetzesbegriff aus dessen Geist so rekonstruiert: Das Gesetz ist die wahre Vernunft der Herrschaft, die die Beherrschten über geeignete Mittel zum Ziel des Besten führt“ (Franciscus Suarez, Tractatus de legibus, I, vii, 2).29

Das Beste, das das Gesetz ereichen soll, ist die Gerechtigkeit. Recht kann nur gerechtes Recht sein. Die Autoritäten der naturrechtlichen Tradition, begonnen bei Plato, haben diese Norm aufgestellt: „Augustin sagt: Mir erscheint kein Gesetz ein solches zu sein, das nicht gerecht ist. Deshalb sagt auch Cicero, dass die Gesetze zum Zweck des gerechten, friedvollen und glücklichen Leben gegeben werden. Daher haben diejenigen, welche ungerechte Gesetze erlassen haben, alles andere gegeben als Gesetze. Das bestätigt ausführlich Plato in seinem Dialog Minos.“ (F. Suarez, Tractatus de legibus, I, i, 6.)30

Das Gesetz muss somit bei Suarez, wie bei Platon, „richtig“ sein (Žrq˛ò nümoò, Nomoi, IV, 715 b3 ss); seine Richtigkeit entscheidet sich gemäß dem Kriterium der Gerechtigkeit, d.h. der Proportionalität, die mit dem Åautou prÜttein der Politeia bzw. der geometrischen Gleichheit (i\süthò gewmetrikh·) der Nomoi gemeint ist. (Politeia, IV, 443 c9–444 a2; Nomoi, VI, 756/757).31 Suarez übernimmt diese Lehre mittels der lateinischen Formel des „suum cuique“. Dazu sei daran erinnert, dass zwischen Plato und Suarez Platos Gerechtigkeit als geometrische Gleichheit oder Proportionalität zur distributiven Gerechtigkeit des Aristoteles, zum „suum cuique“ Ciceros und zur dritten Gerechtigkeitsregel des römischen Rechtsgelehrten _

29 „Sic Marsilius Ficinus, in argumento dialogi Minos Platonis, ex eius mente, tum ibi, tum in libris De Legibus et Repub., colligit talem legis descriptionem: ‚Lex‘ est vera gubernandi ratio quae ad finem optimum per commoda media gubernata dirigit.“ (F. S., Opera omnia, ed. Soc. Jesu, curavit D. M André, vol. 5. Übers. von A. Neschke). 30 ‚. . .‘ Augustinus lib. I, de libero arbitrio 5: „Mihi lex esse non videtur quae iusta non fuerit. Immo vero Cicero de legibus 2 dixit legem condi debere ad vitam iustam, quietam et beatam. Et ideo qui leges iniustas condidere quidvis potius tulisse quam leges. Quod etiam late confirmat Plato in dialogo citato“ ‚sc. Minos‘. (F. S., Opera omnia, ed. Soc. Jesu, curavit D. M André, vol. 5. Übers. A. Neschke). 31 Die geometrische Gerechtigkeit begründet nach Plato jegliche Ordnung, sei sie ontologisch, politisch oder moralisch. Vgl. dazu thematisch A. Neschke-Hentschke, Platonisme politique et théorie du droit naturel. Vol. 1: Le platonisme politique dans l’antiquité. Leuven/Paris 1995, 131 ss., 162 ss.

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Ulpians geworden war: „honeste vivere, neminem laedere, ius suum cuique tribuere“. Noch Kant wird seine Rechtslehre mit diesen Regeln in Übereinstimmung bringen.32 Wichtig hierbei war für Suarez das Faktum, dass Ulpian das suum cuique Ciceros als suum cuique ius, als subjektives Recht der Bürger gedeutet hatte. Dieser Interpretation folgt Suarez, da er selber ausführlich das ius als Handlungsspielraum, als facultas agendi, interpretiert (Tractatus de legibus, I, ii, 4–5). Somit hat der Staat für die gerechte Verteilung der persönlichen Handlungsfreiheit, d.h. der iura unter den Bürgern zu sorgen. Dank der Gesetze muss er jedoch dieser Freiheit ihr Maß zuteilen, ist doch das Gesetz „das Maß für die Richtigkeit menschlichen Handelns“: „et ratio etiam ex dictis manifesta est quia lex est mensura rectitudinis ‚sc. operationis humanae‘“. (F. Suarez, Tractatus de legibus, I, i, 6, Folge des obigen Zitats). Nur gerechtes Recht ist Recht heißt somit in Suarez Staatstheorie ganz wie in Platos Entwurf der Nomoi, dass der Staat der Ort des Rechts mit dem Ziel sein soll, den Bürgern ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit zu ermöglichen. ad 2. Ursprung des Staates Die naturrechtliche Begründung des Staates leitet Suarez aus seiner Lehre von dessen Ursprung ab. Die Menschen haben sich zu einer Staatsgründung deswegen vereinigt, weil sie ein gemeinsames Leben in Frieden und Gerechtigkeit führen wollten; hinter diesem Willen steht die allen gemeinsame natürliche Vernunft, die lex naturalis, die sie die Natur des Gerechten zu erkennen befähigt. In der Beschreibung, wie diese Staatsgründung vor sich ging, zeigt sich nun eine weitere Übereinstimmung des Spaniers mit Plato. Suarez zufolge entsteht der Staat dank der freiwilligen ersten Vereinigung einer bloßen Menschenansammlung (multitudo), die durch diesen Akt sich in ein Staatsvolk verwandelt, in ein corpus mysticum – Kant wird dies den Urvertrag der Republik nennen;33 daher liegt die ursprüngliche Souveränität, die potestas legis ferendae im Volke.34 Da jedoch das Volk als ganzes nicht imstande ist, sich selber die Gesetze zu geben, transferiert es seine Rolle des Gesetzgebers in einem positiven Rechtsakt, einem Vertrag, an einen Monar32 I. Kant, Metaphysik der Sitten. In: I. Kant, Werke in sechs Bänden, W. Weischedel (Hrsg.), Bd. IV, Darmstadt 1956, 344 (AB 43/44). 33 I. Kant, „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“... In: I. Kant, Werke in sechs Bänden, W. Weischedel (Hrsg.), Bd. VI, Darmstadt, 1964, 151, A 246/247. 34 Tractatus de legibus III, ii, 4. In: F. S., Opera omnia, ed. Soc. Jesu, curavit D. M André, vol. 5.

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chen, einen Adelsrat oder eine Volksvertretung. So entstehen die drei positiven, da auf den Vertrag gegründeten Verfassungen von Monarchie, Aristokratie und Demokratie, denen jedoch die ursprüngliche Versammlung, von Suarez in der Defensio fidei35 die „natürliche Demokratie“ (democratia naturalis) genannt, zugrunde liegt. (Defensio fidei, III, ii, 8). Suarez Staatsgründungsmythos gleicht auffällig der Geschichte, die Plato im dritten Buch der Nomoi erzählt; ihr zufolge haben sich verstreut, nach dem Gewohnheitsrecht lebende Kleingruppen zusammengefunden, um ein gemeinsames wohlgeordnetes Leben zu führen. Daraus entstand ihnen die Notwendigkeit, eine gemeinsame Rechtsordnung in schriftlich fixierten, positiven Gesetzen festzulegen (Nomoi, III, 680 e6–681 d6).36 Das Gesamtvolk ist somit der Sitz der gesetzgeberischen Initiative. Man darf daher Plato durchaus die scheinbar nur moderne These einer ursprünglichen Souveränität des Volkes zuschreiben. Jedoch im Unterschied zu Suarez transferiert bei Plato das Volk nicht seine Gewalt der Gesetzgebung an einen zukünftigen Herrscher, sondern an ein außerhalb der Herrschaftshierarchie stehendes Fachgremium der Gesetzgeber, das dann wieder in die Bürgerschaft zurücktritt (Nomoi III, 681 d). Herrschen soll das einmal erlassene Gesetz, die Inhaber der Regierungsgewalt dürfen das Gesetz nur anwenden. Genau in dieser Frage gehen die beiden Denker auseinander, obschon ihre Übereinstimmung im Grundsätzlichen sehr weit reicht.37 Das Staatsvolk bei Suarez übergibt die volle Kompetenz der Gesetzgebung an den zukünftigen Souverän; es bindet ihn aber nicht an eine geschriebene Verfassung, geschweige denn, dass Suarez, wie Plato, diese Verfassung selber zum Souverän erhebt. Suarez lebt unter der Herrschaft der spanischen Kaiser. Er akzeptiert menschliche Willkürfreiheit in der Erwartung, dass sie sich, aus Verantwortung vor Gottes Gesetz und dem Naturrecht, selbst begrenzt, sich als potestas ordinata versteht; stammt doch alle Gewalt letztlich von Gott und ist diesem verpflichtet.38 Nur, wenn die Staatsgewalt dem göttlichen und natürlichen Gesetz zuwiderhan35 F. Suarez, Defensio fidei catholicae, In: F. S., Opera omnia, ed. soc. Jesu, curavit C. Berton, vol. 24, Paris 1859. 36 Dazu der Kommentar von G. Picht, Platos Dialoge „Symposion“ und „Nomoi“. Stuttgart 1990, 188 ss. 37 Beide vertreten die ursprüngliche Volkssouveränität, den Urkonsens der zukünftigen Bürgerschaft, welche die politische Macht an die Gesetze bindet, schließlich eine Gesetzgebung, welche das positive Recht auf die gemeinsam intendierte und einheitlich interpretierte Gerechtigkeit verpflichtet. Daher ist Suarez der reinste Platoniker der naturrechtlichen Tradition vor Kant. 38 Paulus, Brief an die Römer, XIII,1 „Alle Macht kommt von Gott“ bildet die unumgängliche Referenz aller christlichen Staatsdenker. Zu Suarez revolutionärer Deutung dieser Stelle, vgl. Neschke, Platonisme politique . . ., vol. II. 368–371.

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delt, darf das Volk als ursprünglicher Souverän einschreiten. Dagegen gibt Plato der menschlichen Willkürfreiheit keinerlei Raum. Plato versteht Herrschaft als Unterwerfung unter das Gesetz und nur als solche. Da kein Mensch der Verführung der Macht gewachsen ist (Nomoi IX, 875 b–c), darf niemals ein Mensch über den Menschen herrschen. Regieren darf nur ein Gott; dieser Gott ist die Vernunft, ihr Manifest das Gesetz: „Und so sagt denn auch jetzt noch diese Sage, dass es für alle Städte, über die nicht ein Gott, sondern irgendein Sterblicher herrscht, kein Entrinnen aus den Übeln und Mühen, gibt; vielmehr müssten wir, so meint sie, mit allen Mitteln das Leben, das unter Kronos bestanden haben soll, nachahmen, und müssten dem, was an Unsterblichkeit in uns ist, gehorchen und so im öffentlichen wie persönlichen Bereich unsere Häuser und Städte verwalten, wobei wir der Verteilung der Vernunft den Namen ‚Gesetz‘ geben.“ (Platon, Nomoi IV, 713 e3–714 a2).39

Wie schon betont, hat sich Suarez über diese Forderung Platos hinweggesetzt. Dagegen hat sich Aristoteles, im Blick auf die realen Verhältnisse seiner Zeit, zum Echo von Platos Gedanken gemacht, wenn er in seiner Politik den nümoò als affektfreie göttliche Vernunft (nouò) definiert (Politik III, 15, 1287 a18–a32) und in der Nikomachischen Ethik unterstreicht, dass der Mensch nicht den Menschen, sondern den nümoò herrschen lassen solle (Nikomachische Ethik, V, 10, 1134 a35–1134 b1). _

ad 3. das Staatsziel Auch die Lehre vom Staatsziel macht Suarez zum Platoniker, obschon der theologisch-christliche Rahmen seiner Staatslehre zu bezeichnenden Abweichungen führt. In der Tat stimmen beide in der These überein, dass das Staatsziel die Tugend sei, von Suarez mit dem Juristen Ulpian die honestas, die Ehrbarkeit, von Plato die menschliche Vorzüglichkeit, ÷reth·, genannt. Jedoch bereitet bei Suarez die honestas des Bürgers die Gotteskindschaft des Menschen vor; wie bei Thomas von Aquin öffnen die bürgerlichen Kardinaltugenden – so ihr Name von cardo, die Pforte – den Weg zu den theologalen Tugenden und zur Gotteskindschaft des Menschen. Plato verspricht dagegen mit der Tugend die Freiheit; er verkündet, mittels der Tugend das dreifache Staatsziel von Einsicht, Freiheit und Freundschaft unter den Bürgern erreichen zu wollen (Nomoi III, 693 a5–693 d1). _

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LÍgei dÌ ka˝ nun oëtoò o¢ lügoò, ÷lhqeûan xrÿmenoò, w¢ò o˜swn ºn pü_ \ to_iò ou\d˚ pünwn wn au lewn mÌ qe˛ò ÷llÜ _tiò a˙rx´h_ qnhtüò, ožk ñstin kak _ _ oŁetai pÜs´h mhxan´½ tün ýp˝ tou Krünou ÷nÜfuciò, ÷llJ mime isqai de i h¢m aò _ toŸtˆ_w peiqomÍnouò legümenon bûon, ka˝ o˜son ýn h¢m in ÷qanasûaò ñnestin _ _ dhmosû`a ka˝ ùdû`a tJò oi\kh·seiò ka˝ taò püleiò dioike in tÌn tou nou dianomÌn ýponomÜzontaò nümon. (Platon, Nomoi, (Les Lois, des Places. Übers. von K. Schöpsdau, Platon, Nomoi IV–VII. In: E.Heitsch, C.W. Müller (Hrsg.), Platon Werke, Band IX, 2, Göttingen, 2004). 39

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Während Einsicht als Grundlage der Tugend und die Freundschaft der Tugendsamen als sokratisch-platonisch-aristotelische Gemeinplätze identifiziert werden dürfen, lässt sich das Staatsziel der Freiheit – zumal es zugleich in der Unterwerfung unter das Gesetz, also in der Dienerschaft bestehen soll – nur als ein Paradox verstehen. Zwar vermeidet Plato in den Nomoi weitgehend philosophische Paradoxa;40 die von ihm geforderte Unterwerfung unter die Gesetze steht jedoch offensichtlich mit dem Staatsziel der Freiheit im Widerspruch. Plato lässt den Widerspruch innerhalb der Nomoi bestehen. Er bildet daher einen dunklen Punkt des Werkes, den nur ein Blick auf Platos politische Philosophie wird erhellen können. Vor diesem Schritt sei jedoch die Geltungsgeschichte der Nomoi von Suarez bis zu Kant zu Ende geführt. d) Platos Nomoi von Suarez bis Kant Mit Suarez endet die platonisch-christliche Naturrechtstradition, die dem Staat die Verwirklichung kollektiver und individueller Gerechtigkeit als Ziel zumutet. Nach den Religionskriegen wird die individuelle Gerechtigkeit – sie heißt jetzt Sittlichkeit – eine Frage des persönlichen Gewissens;41 sie ist mit Gott selbst, so die Protestanten, oder mit der Kirche auszumachen. Die nichtkatholischen Denker Grotius, Hobbes und Locke beschränken daher die Aufgabe des Staates darauf, nur die Existenz, nicht aber die sittliche Essenz des Menschen zu sichern. Platos Spruch aus dem Kriton und den Nomoi, dass nicht das Leben (z hn) sondern das sittlich gute Leben (ež zhn) das Ziel des Menschen und des Staates sei, tritt dieser Auffassung diametral entgegen.42 _

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Während noch John Locke wie Suarez Recht und Staat aus Gottes Willen ableitet, da Gott die Existenz des Menschengeschlechtes will, beschränken Hugo Grotius und Christian Wolff die Staatslehre auf eine rein menschliche Ebene und schließen, gegen Suarez und Locke, Gott als Instanz der Letztbegründung allen Rechts aus. Das Überleben und seine menschenwürdige Ausstattung, das Glück oder die Wohlfahrt genannt, bleiben daher als einziges Ziel des Staates übrig.43 Damit aber wird die Sittlichkeit, das gute Leben, zum Mittel; sie tritt jetzt in den Dienst des Überlebens des Ganzen, da für ein gemeinsames Leben ein Minimum an sittlichen Regeln – damals als 40 Nach K. Schöpsdau, Platon, Nomoi, Bücher I–III, 448 benutzt Plato das Wort Freiheit eher konventionell. Ein Paradox dagegen stellt Plato mit dem Spruch „Keiner tut freiwillig Unrecht“ auf. (Nomoi, IX, 860 d1–d5 ss.). 41 K. H. Ilting, Naturrecht und Sittlichkeit, Stuttgart 1983, 115 ss. 42 Kriton 48 b4-b6; in den Nomoi erscheint derselbe Grundsatz in der Güterhierarchie (Nomoi, I, 631 b3–d2; V, 742 e2–e6; s. a. Nomoi IV, 707 d1–d4). 43 Vgl. etwa C. Wolff, Le philosophe–roi et le roi-phhilosophe. Théorie des affaires publiques, Paris 1985.

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das Naturrecht bezeichnet44 – gefordert ist. Die platonisch sokratische Werteordnung, die in den Nomoi mittels der Hierarchie der drei Güterklassen nachdrücklich als Prinzip der neuen Gesetzgebung eingeführt wurde, ist auf den Kopf gestellt. Im absolutistischen Wohlfahrtsstaat traten dagegen damals – analog zum heutigen Utilitarismus – die seelische und körperliche Tüchtigkeit in den Dienst des Erwerbs der äußeren Güter, m. a. W. das Sein des Menschen in den Dienst des Habens.45 Die Gegenkraft zu dieser Entwicklung bildet die praktische Philosophie Kants. e) Platos Staatsentwürfe in der Deutung Kants Hat man eigentlich bemerkt, dass Kant als Kritiker der Wolffschen Ethik und Rechtslehre die platonische Güterordnung wiederherstellt? Heißt es nicht am Beginn der Grundlegung der Metaphysik der Sitten: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut gehalten werden könnte, als allein ein guter Wille.“ (I. Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten.).46

Aus Kants restaurativer Revolution des Guten ergeben sich sowohl der kategorische Imperativ wie seine Rechtspflichtenlehre in der Metaphysik der Sitten.47 Den ideengeschichtlichen Hintergrund bildet in der Tat Kants Wiederentdeckung der platonischen Idee als Idee der praktischen Vernunft.48 Im Lichte seiner Neuinterpretation von Platos Ideen erkennt Kant, der mächtigen Gegnerschaft der Aufklärung gegen Metaphysik und Platonismus entgegentretend, dass Platos „Republik“ – Kant denkt dabei vor allem an den Staat der Politeia – ganz wie die eigene Republik ein Vernunftideal darstellt, da sie auf notwendige Ideen der Vernunft zurückgeht: „Die platonische Republik ist, als vermeintlich auffallendes Beispiel von erträumter Vollkommenheit, die nur im Gehirn des müßigen Denkers ihren Sitz haben kann, zum Sprichwort geworden . . . Eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, dass jedes Freiheit mit der andern ihrer zusammen bestehen kann, . . . ist doch wenigstens eine notwendige Idee, die man nicht bloß im ersten Entwurf einer Staatsverfassung, sondern auch bei allen 44

Ilting, Naturrecht, 204–226. Eine Ausnahme aus der aufklärerischen Staatstheorie bildet Leibniz (s. H. P. Schneider, „Leibniz“. In: H. Holzhey (Hrsg.), Überweg, Grundriss der Geschichte der Philosophie. Das 17. Jahrhundert 4/2, Basel 2002, 1125). 46 In: I. Kant, Werke in sechs Bänden, W. Weischedel (Hrsg.) Darmstadt 1956, Band, IV, 18 (BA 1/2). 47 Dazu W. Kersting, Kant über Recht, Paderborn 2004. 48 Vgl. K. Düsing (in Vorbereitung zum Druck) „Vernunftidee und Sittlichkeit bei Kant und Platon“ (Vortrag November 2007, Universität Wien im Rahmen des Kolloquium „Geist und Sittlichkeit“). 45

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Gesetzen zugrunde legen muss, und wobei man anfänglich von den gegenwärtigen Hindernissen abstrahieren muss, die vielleicht nicht sowohl aus der menschlichen Natur unvermeidlich entspringen mögen, als vielmehr aus der Vernachlässigung der echten Ideen bei der Gesetzgebung. (Denn nichts kann Schädlicheres und eines Philosophen Unwürdigeres gefunden werden, als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung, die doch gar nicht existieren würde, wenn nicht jene Anstalten zur rechten Zeit nach den Ideen getroffen würden . . .).“ (I. Kant, Kritik der Reinen Vernunft, AA, III, B 372–373, A 316).49

Aus diesem Text folgt, dass Kant im Staat den Ort der Freiheit erkennt und diese Verbindung eine notwendige Idee darstelle. Auch Plato macht den Staat zum Ort, besser Hort der Freiheit, aber handelt es sich dabei um eine notwendige Idee? Was ist mit dieser Freiheit gemeint? Wie sehr unaufgeklärt diese Frage ist, zeigt sich an folgendem Problem: Popper, als moderner liberaler Vertreter menschlicher Handlungsfreiheit, hat Platos Staat als totalitär und also unfrei bezeichnet und in Kants Freiheitsdenken das Gegengift zu Plato gefunden.50 Wie aber kann sich Popper auf Kant gegen Plato berufen, wenn wiederum Kant sich auf Plato bezieht, indem er, in der Fakultätsschrift,51 sogar sein eigenes Staatsideal, die republikanische Verfassung, ein „platonisches Ideal“ nennt? Für Kant bedingen sich republikanische Verfassung und Freiheit mit Notwendigkeit wechselseitig, da in dieser Verfassung allein der Bürger unter Gesetzen leben kann, denen er seine Zustimmung geben könnte. Wie aber verhält es sich mit dieser Notwendigkeit bei Plato? Welche Verfassung und welche Freiheit sind gemeint? Mit der Antwort auf diese Fragen werden wir auf den philosophischen Kern der platonischen Politik-Theorie stoßen. Diese Theorie, fasst man sie mit Begriffen zusammen, welche durch das nachplatonische politische Denken entwickelt wurden, stellt sich wie folgt dar: Plato als Theoretiker der Verfassung vertritt als beste Verfassung einen demokratisch legitimierten und naturrechtlich begründeten radikalen Konstitutionalismus.52 Dieser Konzeption zufolge ist allein das Gesetz Inhaber der Herrschaft, ist der Souverän; als Ausdruck der Vernunft ersetzt es den menschlichen Souverän mit dem Ziel, die von der Vernunft erkannte Gerechtigkeit im Staat zu verwirklichen. Den einzelnen Bürger betreffend vertritt Plato die These, dass das Gesetz ihn gut, d. h. einsichtig, gerecht und 49 In: I. Kant, Werke in sechs Bänden, W. Weischedel (Hrsg.), Darmstadt, 1963, Band II, 323/324 (B 372–373, A 316). 50 K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. I, Der Zauber Platos, Bern, 1957, 9–19. 51 I. Kant „Der Streit der Fakultäten“. In: I. Kant, Werke in sechs Bänden, W. Weischedel (Hrsg.), Darmstadt 1983, Bd. VI, 364 (A 155/156). 52 Vgl. oben S. 49 ff. unsere Erläuterung dieses Begriffs.

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frei mache. Was aber ist mit der Freiheit des Bürgers als Ziel des Staates gemeint? Es gilt daher, mit Plato Freiheit zu denken. Freiheit aber kommt nur der Seele zu, so dass politische Theorie als Theorie der Freiheit die Philosophie der Seele sein muss. 2. Die Genese der politischen Theorie Platos aus der Philosophie der Seele (yuxh·) a) Seele, Herrschaft, Freiheit Im zwölften Buch der Nomoi vergleicht Plato seine neu gegründete Polis mit einem Lebewesen: die Stadt besitzt insofern eine Seele, als ihr Wahrnehmung und Vernunft innewohnen müssen (Nomoi, XII, 961 d1–962 c3). Platos berühmte Parallele von Staat und Seele aus der Politeia gilt also in den Nomoi weiter. Die Parallele erlaubt es, symmetrisch den Staat von der Seele aus, aber auch die Seele vom Staat aus zu interpretieren. In der Tat versteht Plato die Struktur der Seele als eine politische Struktur, als eine Ordnung heterogener Teile, die auf Herrschaft angewiesen ist. Die Tugend der Gerechtigkeit nämlich besteht in der „Herrschaft über sich selbst“ (Politeia IV, 443 d4 a˙rcanta aët˛n Åautou).53 Herrschaft kommt der Vernunft zu; denn diese allein ist zur Herrschaft fähig (Politeia IV, 428 b1–429 a8. 431 a7; Nomoi, III, 690 b8; XII, 961 d ss.). Gerecht kann nur sein, wer der Herrschaft der Vernunft folgt. Man kann daher sagen: Plato verankert seine politische Theorie in der Philosophie der Seele, weil letztere der einzige Ort ist, wo wohlverstandene Herrschaft, nämlich die Herrschaft der Vernunft, zu finden ist. Die Herrschaft der Vernunft aber liefert den Schlüssel für das Paradox, dass die Bürger als Gesetzesdiener frei sein sollen. _

Dieser Schlüssel findet sich im Dialog Gorgias.54 Platon lässt hier den Rhetor Polos behaupten, frei sei nur der gesetzlose Herrscher, der Tyrann, da er alles tun könne, was er wolle (boŸletai). Diese Freiheit nennt man die ýcousûa – ein Wort, das man mit uneingeschränkter Handlungs- bzw. Willkürfreiheit wiedergeben muss, da kein Hindernis das Handeln beeinträchtigt. Platos Sokrates weist jedoch nach, dass alles tun können, was man will, also die Willkürfreiheit, gerade nicht Freiheit als Zeichen des Herrschens bedeutet, weil der Wille nur wirklich will, was sein Gutes ist. Wer alles tut, was ihm gut dünkt (a¯ doke i, Gorgias 467 a5), ohne geprüft zu haben, ob es für ihn tatsächlich gut ist, tut nicht, was er eigentlich will, ist nicht frei (Gorgias 466 a9–468 e5). Frei ist daher nicht, wer ohne Regel _

53 Sokrates nennt sie die ýnkrÜteia (Politeia IV, 431 a7; IX,589 a5; Gorgias 491 d10 et passim). 54 Platonis opera omnia, ed. Ioannes Burnet, vol. 3, Oxford 1903, 111961.

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über andere herrscht, sondern frei ist, wer Herr darüber ist, was sein Wille verwirklichen will; genauer frei ist, wer imstande ist, das Gute zu tun. Sokrates beurteilt hier die Freiheit der Handlung am Kriterium ihrer inneren Übereinstimmung mit dem Ziel des Willens anstatt, wie sein Gegner, am Fehlen äußerer Hindernisse.55 Doch woher stammt die Bindung des Willens an das Gute? Der Wille ist eine Grundfunktion von Seele überhaupt, der yuxh·. Der einzelne Mensch ist deren raum-zeitlicher Ort; die Seele bildet sein Antriebsprinzip und nimmt dabei immer die Richtung auf das Gute ein, ohne freilich zu wissen, was es sei: „Gutes aber genügt niemandem nur scheinbares zu haben, sondern jeder sucht was gut ist, und den Schein verachtet hierbei schon jeder. – Freilich sagte er. – Was also jede Seele anstrebt und um dessentwillen alles tut, ahnend, es gäbe so etwas, aber doch nur schwankend und nicht recht treffen könnend, was es wohl ist, noch zu einer festen Überzeugung gelangend, wie bei anderen Dingen, daher aber auch anderes mit verfehlt, was irgend nutz wäre: sollen über diese so wichtige Sache auch jene Besten im Staate so im Dunkeln sein, in deren Hände wir alles geben wollen?“ (Platon, Politeia, VI, 505 d11–506 a2).56

So ergibt sich: Nur wer erkannt hat, was das Gute ist, erreicht, was seine Seele will, ist Herr seiner Ziele und daher frei, wenn eben Freiheit darin besteht, eine Herrschaft über das echte Ziel des Willens zu besitzen, über das Gute. b) Vernunft und Gesetz Wer jedoch ist zu dieser Freiheit fähig? Da das angestrebte Gute gewusst werden muss, da es also zugleich einen appetitiven wie epistemischen Gegenstand bildet, kann nur eine kognitive Fähigkeit die Freiheit ermöglichen. 55 Die Lehre des Gorgias resümiert Plato in den Nomoi mit dem lakonischen Satz: „Man muss nicht wünschen, dass alles nach dem eigenen Willen geht, sondern_ _ e˜pesqai pÜnta t´h dass der Wille der eigenen Einsicht folgt.“_ (Ou\ to_uto eu\ktÍon _ _ Åautou boulh·sei, tÌn boŸlhsin d˚ m allon t´ h aëtou fronh·sei, Nomoi III, 687 e5–e9.) _ _ 56 . . ., ÷gaffiJ d˚ ou \ den˝ ñti ÷rke_i tJ dokounta kt asqai, ÷llJ tJ o˙nta _ _ _ zhtousin, tÌn d˚ dücan ýntauqa h˙dh p aò ÷timÜzei. Ka˝ mÜla ñfh. \O m˚n _diÿkei a˜pasa yuxÌ ka˝ toŸtou e˜neka_ pÜnta_prÜttei ÷pomanteuomÍnh ti e ùnai, _ ÷porousa d˚ _ka˝ ou\k ñxousa labe in Ákan_wò tû pot’ ýst˝ ou\d˚ pûstei_ xrh·sastouto d˚ ÷potugxÜnei ka˝ t_wn a˙llwn qai monûmˆw o Áa_ kaÁ per˝ tJ a˙lla, diJ _ _ _ ou˜tw fwmen de in ei\ ti _o˙feloò ên. per˝ dÌ t˛ toiouton ka˝ tosouton _ _ ka˝ ýkeûnouò toˇò beltûstouò ýn t´ h pülei o Áò pÜnta ýskotwsqai _ ýgxeirioumen . . . (Platon, Politeia, Der Staat. Griechisch und deutsch, bearb. von D. Kurz, Darmstadt 1967. Revidierte Übers. von F. Schleiermacher).

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Plato identifiziert diese Fähigkeit mit der universalen Vernunft. Um frei zu sein, muss der Mensch der universalen Vernunft folgen. Da nun die Freiheit eines jeden Bürgers unter die Staatsziele rechnet, stellt sich für Plato als politischen Theoretiker folgendes Problem: Wie kann die Organisation des Staates bewirken, dass jeder Bürger die universale Vernunft in sich zum Herrscher macht? Hatte nicht Plato in der Politeia allein die Philosophen als Vernunftträger und Wissende um das Gute ausgezeichnet?57 Die Lösung findet Plato in der Interpretation des Gesetzes als Vernunftmanifest. Sie ist ihm bereits in der Politeia präsent; denn an einer wenig beachteten Stelle gibt Plato den Hinweis, dass der Mensch bisweilen von sich aus das Prinzip Vernunft in sich zum Herrscher erheben kann, dass es aber für viele Menschen des Gesetzes bedarf, um diesem Prinzip zu folgen. Das Gesetz erhält somit die Funktion, den Außenhalt bzw. die institutionelle Stütze für die individuierte, universale Vernunft zu bilden: „Keineswegs jedoch in der Meinung, der Knecht solle zu seinem eigenen Schaden beherrscht werden, wie Thrasymachos von den Beherrschten meinte, sondern dass es beiden das beste sei, von dem Göttlichen und Verständigen beherrscht zu werden, am liebsten zwar so, dass jeder es als sein eigenes in sich selbst habe, wenn aber nicht, dass es ihm von außen gebietet, damit wir alle von demselben beherrscht auch nach Vermögen einander ... ähnlich seien und befreundet. – Richtig, sagt er. – Und klar zeigt das Gesetz, dass es darauf hinaus will; denn es tritt als Bundesgenosse jedem der Bürger zur Seite.“ (Plato, Politeia IX, 590 c8–e2).58

Genau diese Rolle des „Bundesgenossen des Bürgers“ schreibt Plato in seinem Marionettengleichnis (Nomoi, I, 644d7–645c6) dem Gesetz zu, indem er es die „Anleitung“ (÷gwgh·) des Bürgers nennt: „Denn einem einzigen dieser Züge müsse ein jeder folgen und ihn auf keinen Fall loslassen und müsse so gegen die anderen Drähte anstreben; dieser sei die goldene und heilige Leitung (÷gwgh·) der vernünftigen Überlegung, die man das gemeinsame Gesetz der Stadt nennen muss.“ (Plato, Nomoi, I, 644 e4–645 a2).59 57 Die Politeia aber ist kein Werk der politischen Theorie, sondern der politischen Philosophie; jeden Praxisbezug vernachlässigend (Politeia IX, 592 a10–b6) wird nicht nur die Grundlage der politischen Theorie, d. i. die Fundamentalanthropologie (Politeia IV, 434 d2–445 e4), sondern selbst deren ontologischer Hintergrund freigelegt (vgl. bes. Politeia VI, 500 b–d). _ _ _ 58 Ou \ koun ˜ina ka˝ _o¢ toioutoò ëp˛ o¢moûou a˙rxhtai oÁouper o¢ bÍltistoò, _ _ _ _ _ to u beltûstou, ñxontoò ýn aëtˆw t˛ _qe ion doulün famen de in e ùnai_ ýkeûnou _ _ a˙rxon, ou\k ýp˝ blÜb´h t´ h tou doŸlou oi\ümenoi de in a˙xesqai au\t˛n ¼sper QrasŸmaxoò ˆŒeto toˇò ÷rxomÍnouò ÷ll’ w¢ò a˙meinon o¨n pant˝ ëp˛ qeûou ka˝ _ ˙ rxesqai mÜlista mÍn oi\ke ion ñxontoò_ ýn aët`á, eù d˚ mÌ ñcwqen fronûmou a _ _ _ pÜnteò o˜moioi −men ka˝ fûloi tˆw au\tˆw ýfestwtoò, ˜ina ei\ò dŸnamin _ _ _ kubernÿmenoi. – Ka˝ _Žrqwò_ ge ñfh. – Dhlo i d˚ ge, þn d’ ýgš, ka˝ o\ nümoò Õti _ ˙ n. (Platon, Politeia, Übers. toiouton boŸletai p asi to iò ýn pülei sŸmmaxoò w von F. Schleiermacher, bearbeitet durch Kurz).

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Platos Identifikation der universalen Vernunft der Seele mit dem Gesetz der Stadt bildet den Kern seiner politischen Philosophie und fundiert die Spezifizität seiner politischen Theorie in den Nomoi. In der Tat, mit der Lehre vom Gesetz als Außenstütze der individuierten Universal-Vernunft verknüpfen sich bei Plato politische Theorie und politische Philosophie und geben zu einer ganz einmaligen Konzeption des Staates Anlass. Worin aber besteht diese Einmaligkeit? Plato, als politischer Theoretiker, vertritt die Herrschaft des Gesetzes, einen radikalen Konstitutionalismus im definierten Sinn;60 dem zitierten Text zufolge dienen jedoch bei Plato die Gesetze nicht, wie es die politische Theorie insbesondere seit Kant will, dazu, der Willkürfreiheit des äußeren Handelns Grenzen setzen, sondern Willkürfreiheit überhaupt zu unterbinden, da der vernünftige Wille nur vernünftiges Handeln erzeugen wird. Doch geht es Plato weniger um das äußere Handeln, als um die innere Freiheit.61 Freiheit findet ihren Ort im Willen; denn sie entsteht, wenn der Wille allein durch die Vernunft bestimmt wird. Auch Kant lehrt, dass der Mensch im tieferen Sinne frei ist, wenn sein Wille allein Vernunftgründen folgt. Diese Freiheit aber ist die sittliche Freiheit. Platos Gesetzes-Staat soll daher sittliche Freiheit möglich machen; bedeutet doch das Postulat, dem Gesetz zu folgen, dass der Wille der Vernunft unterstellt wird. III. Epilog: Plato, Kant und Popper Wenn Kant in Plato sein Vorbild für die praktische Vernunft und deren notwendiger Ideen der Freiheit aus Vernunft gesehen hat, so ist er Plato nicht gefolgt, die innere, sittliche Freiheit des Bürgers zum Ziel des Staates zu machen, mit Kants Begriffen ausgedrückt: die Moralität der Menschen unter die staatliche Kontrolle zu stellen. In diesem und nur diesem Punkt darf sich Popper auf Kant berufen. Grund ist, dass Kant das Staatsrecht als Zwangsordnung verstanden hat. Daher dürfen die Gesetze (das Recht) nur die äußere Handlungsfreiheit nach der Vernunft regeln. Den Willen zwingen heißt, dem Menschen die Freiheit der Selbstbestimmung, die individuelle Autonomie zu nehmen. Daher kann die Forderung der Moralität nicht vom Staat an den Bürger, sondern nur vom Einzelnen an sich selbst gestellt werden. Kant, Kind der Aufklärung, glaubt an die Kraft der Vernunft im Ein_

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Mi a ´ gÜr fhsin o¢ lügoò de in _twn e˜lcewn sunepümenon ÷e˝ mhdam´ h a^lloiò neŸroiò e˜kaston. TaŸthn d’ ÷poleûpesqai ýkeûnhò,_ ÷nqÍlkein to iò _ _ _ _ e Ánai tÌn tou logismou ÷gwgÌn xrus hn ka˝ ÁerÜn, t Ìò pülewò koin˛n nümon ýpikaloumÍnhn. (Übers. K. Schöpsdau, Platon Nomoi I–III.) 60 Vgl. o. S. 49. _ 61 So auch Politeia, IV, 443 d2: . . . per˝ tÌn ýnt˛ò pr acin. 59

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zelmenschen. Plato dagegen hat in die Durchsetzungskraft der Vernunft im einzelnen Menschen wenig Zutrauen; seinem Gleichnis der Marionette zufolge ist sie zwar ein goldener Faden, aber schwach gegenüber den eisernen Fäden von Emotionen und Trieben (Nomoi I, 645 a5–a6). Daher erhält das Gesetz die Funktion, die individuierte Vernunft so von außen zu stimulieren und zu stärken, dass sie fähig wird, Herr über die eisernen Fäden der Triebe und Emotionen zu werden, das Gute tun und damit frei sein zu können. Dass sich allerdings Plato der Problematik vom rechtlichen Zwang des Willens klar bewusst war, geht aus den schon erwähnten Stellen, an denen er die Gewaltlosigkeit der Gesetzesherrschaft betont,62 hervor, darüber hinaus aus dem Vergleich von Gesetzgeber und Arzt, der seinen Patienten, um Zwang zu vermeiden, zur Vernunfteinsicht führt (Nomoi, IV, 719 e7–720 a/6; IX, 857a–857e). Insbesondere aber äußert sich Plato zum Zwangscharakter (bûa) des Rechts in seiner Begründung für die Notwendigkeit der Gesetzes-Präambeln (Nomoi IV, 718 ab–724 b5). In der neuen Form des Gesetzes, dem ein Vorspruch vorausgeht, schafft sich der Gesetzgeber die Gelegenheit, die Gründe für seine Anordnung freizulegen und an die Einsicht des Adressaten zu appellieren. Aus dieser Neuerung der Form des Rechts wird klar, wie Plato dem Problem von dessen Zwangsaspekt begegnen wollte; Vernunft soll den Zwang unnötig machen, da die vernünftige Einsicht des Bürgers von sich aus bewirkt, was der Gesetzgeber mit einer Zwangsandrohung durchzusetzen sucht. Dahinter steht Platos Ideal eines Gesetzesstaates, in dem der Bürger, dank kindlicher Erziehung und lebenslanger Anleitung durch das Gesetz, sich dessen Vernunftanweisung zu eigen macht und dieser seinen Willen unterordnet.63

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s. o. S. 48 und Anmerkung 14. Dazu auch A. Neschke, Der Entwurfscharakter des Rechts als Ideal einer Form des Zusammenlebens, In: M. Senn/D. Puskas (Hrsg.), Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 115, Stuttgart 2007, 33–48. 63

Der Politiker und die Regeln des Politischen nach dem Regiment der Nomoi Von Peter Nitschke I. Was ist Politik bei Platon? „Was bedeutet überhaupt Politik bei Plato?“ – Eine solche Frage, wie sie in dieser Weise gestellt worden ist,1 mag auf den ersten Blick überraschen, ist aber in systematischer Hinsicht durchaus berechtigt. Zwar ist Platon in der Tradition abendländischen politischen Denkens der erste originäre Stichwortgeber für die Politische Philosophie, und die Politische Ideengeschichte wäre ohne seine Lehre geradezu interpretationsarm, doch lässt sich angesichts der Vielzahl von äußerst unterschiedlichen Interpretationen und fast schon diktatorischen Zuordnungen für oder gegen die platonische politische Philosophie der Stellenwert des Politikbegriffs in seiner Lehre nicht ohne Weiteres klar formulieren. Die bekannteste und gängigste Antwort ist zunächst noch die, welche Platon im Politikos formuliert, dass nämlich Politik etwas mit den Phänomenen und Effekten zu tun habe, die sich bei der Behütung und Pflege einer Herde ergeben. Politische Führung, so lernen wir hier, sei deshalb notwendig, weil es um die Zucht der Herde Mensch geht. Dazu existieren bestimmte Mittel und auch die Zwecke sind keineswegs beliebig. Wie bei der Webkunst muss der Politiker als Herrscher in der Lage sein, aus verschiedenen Webstoffen ein Ganzes zusammensetzen zu können. Politik, so lautet die Definition bei Platon, beinhaltet „die Sorge für eine gewisse Herde“, ist im Spezifischen „die Wissenschaft der Gemeindezucht der Menschen“.2 Die Mittel, die Platon dazu empfiehlt, bestehen aus der Beherrschung der Rhetorik, der richtigen Anwendung von Gewalt und der kompetenten Setzung von Recht.3 Sprechen-Können, Gewalt-Ausüben-Können und RechtSetzen-Können sind die Qualitäten, auf die es in der Politik ankommt. In erster Linie sind dies alles Eigenschaften (im Sinne von Fähigkeiten), die epistemologisch eines voraussetzen – nämlich die richtige Erkenntnis dar1 2 3

Hentschke 1971: 7. Politikos: 267 d. Vgl. ebd.: 303 e–305 e.

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über zu haben, wann etwas wie wirkt und eingesetzt werden muss. Die Kunst der Politik besteht demzufolge darin, scheinbar unterschiedliche Dinge zusammenzuführen, aus einer phänomenalen Vielheit eine existenzielle Einheit zu schaffen. Politik – oder besser in diesem Zusammenhang: das Politische – ist damit für Platon Existenzpolitik in dem Sinne, wie es um die Essentialität der Dinge des Menschen geht. Eine Ontologisierung des Politischen ist damit ganz grundsätzlich gegeben – und dies gilt dann auch für das praktische Handeln in der alltäglichen Form von Politik. Eine solche Bestimmung mutet allumfassend an, und so wird in der Tat von vielen Kritikern der platonischen politischen Philosophie (im Gefolge Poppers) wie auch von den Anhängern Platons dessen politische Intention bis auf den heutigen Tag verstanden. Die Vorwürfe eines Totalitarismus sind dann schnell bei der Hand. Doch kann man auch Einschränkungen machen, die gerade die Wirkungsweise einer ontologischen Politikperspektive betreffen. Die erste Einschränkung nimmt ein Argument auf, das im Symposion (zunächst) bei einer ganz anderen Fragestellung gemacht wird – nämlich nach der Qualität von Handlungen. Handlungen, d. h. auch politische, sind „an und für sich [. . .] weder schön noch häßlich“.4 Erst die Art und Weise, wie eine Handlung durchgeführt wird, entscheidet über ihre Qualität. Das ist eine zunächst funktionale Betrachtung von Handlungen. Diese erfolgen demnach um ihrer selbst willen, sind funktional, ihr wirklicher Wert, d. h. ihre Bedeutung, ergibt sich jedoch erst aus der Zielorientierung der Handlungen. Politik ist in dieser Hinsicht (leider) eine Handlungsebene, in der sich wahre normative Dimensionen faktisch nur unvollständig ergeben. Hier kommt z. B. „keine echte Freundschaft“ zustande,5 denn Politik bietet kein wahres Sein. Dinge wie Schönheit, Aufrichtigkeit oder gar Wahrheit spielen hier immer nur eine funktionale Rolle, sind Faktoren der Macht – aber eben kein Selbstzweck. Allerdings gibt es charakterologische Attribute, funktionale Tugenden, wenn man so will, mit denen Politiker besonders ausgestattet sein müssen, wenn sie (erfolgreich) agieren wollen. Das sind Wagemut, Tapferkeit und Männlichkeit. Sind diese Fähigkeiten „vollständig entwickelt, gehen nur derartige Männer in die Politik“.6 Allerdings müsste man sich hier dann auch ganz konkret die Frage stellen, die das Symposion generell vorantreibt: wenn die Liebe ein „Verlangen und Trachten nach dem Ganzen“ darstellt,7 was ist dies dann in Bezug auf die Politik? Platon behandelt bekanntlich im Symposion diese Frage für die Politik nicht. Auch die klassisch moderne, 4 5 6 7

Symposion: 180 e. Ebd.: 184 b. Ebd.: 192 a. Ebd.: 192 e.

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an Machiavelli geschulte Definition, Politik sei der Wille zur Macht, wird bekanntlich verworfen. Was also ist es dann, was die Politiker zur Politik treibt? – Die Aussicht auf Gerechtigkeit – wohl kaum! – Die Idee des Guten – vielleicht! – Aber welche Idee haben sie vom Guten – und wie kommen sie dazu, eine solche Idee zu haben? Eine befriedigende Antwort hierzu lässt sich eigentlich nicht in einer Bestandsaufnahme realer politischer Kriterien erörtern, denn diese wären alle nur wieder (lediglich) funktional, weil herrschaftsaffirmativ bezogen auf die jeweilige politische Ordnung in Zeit und Raum. Jedoch wäre in einer utopischen Sicht der Dinge es durchaus möglich, quasi unter den Prämissen eines Gedankenexperiments eine einigermaßen systematische Reflexion zur Bedeutung der Idee des Guten für die Politik zu formulieren!8 Setzt man die Vorstellung von Gerechtigkeit als höchstes Ziel der Politik an, würde ein solches Ziel erreicht sein, wenn ein jeder einem jeden freiwillig gäbe, was ihm zusteht. Das wäre dann eine wirkliche Liebe zum Mitmenschen. Eine solch harmonische Situation stellt sich aber systematisch, d. h. als eine Art Dauerkontrakt unter den Menschen, freiwillig nicht ein. Daran leidet gerade das politische Wesen, das der Mensch ist. Er sucht nach einer Gerechtigkeit, die in einer völligen Freiwilligkeit aller mit allen zweifellos ihre beste Grundlage hätte. Doch eben so ist die Anthropologie des Menschen nicht beschaffen. Freiwilligkeit stellt sich systematisch immer nur (und dann erst) ein, wenn die Ordnung auch mit Macht betrieben und aufrechterhalten wird. Das ist die Stunde des Staates bzw. die seiner Gesetze. Da nach der Definition des Eros man nur das begehrt, was man (jeweils) nicht ist bzw. woran man einen Mangel erleidet,9 ist der Staat bzw. die Politik dasjenige, was uns zum Begehren dessen führt, was wir offensichtlich auf uns allein gestellt in dieser Form so (noch) nicht haben. Das grundsätzliche, eigentlich schon wieder ontologische Defizit des Menschen besteht demzufolge paradoxerweise gerade in seiner mangelhaft ausgebildeten Sozialität! Politik erhält in dieser Beziehung die Qualität einer Ewigkeitsfunktion zum besseren Handeln: Sie muss etwas kompensieren können, und zwar auf Dauer, was zunächst nicht einfach freiwillig, d. h. in der Summe aller Beteiligten vorhanden wäre. Insofern ist Politik eine Anleitung zur Ewigkeit sozialen Handelns. Aus dieser ersten Einschränkung folgt, dass Platon der faktischen Politik den Anspruch auf eine wahre Politik gegenüberstellt. Diese ist aber zunächst nichts anderes als ein Gedankenexperiment. Es führt aber mit logischer Notwendigkeit zu der Frage, wer und wie denn die wahre Politik ein8 9

Vgl. hier auch Nitschke 2008b: 138 f. Vgl. Symposion: 200 e.

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führen und umsetzen könnte. Dies ist die Frage an das handelnde Personal, wenn man so will, die politischste Frage überhaupt, denn so, wie Platon dieses Problem behandelt, ist es nicht nur eine Akteursfrage, eine Institutionenfrage, sondern mehr noch eine nach der Beschaffenheit der menschlichen Seele selbst. II. Der Politiker . . . Die Frage nach der Qualität des Politikers in der Politik führt bei Platon zu einer zweiten Einschränkung des Ontologischen. Zentral für seine Verwendung von Politik und dem handelnden Akteur, dem Politiker, ist die Bewertung, dass Politik, im traditionellen Sinne verstanden, nicht glücklich macht! Selbst wenn das Volk die Politiker in Ehren hält und sie „als glücklich gepriesen“ versteht,10 sind sie „in Wahrheit nicht glücklich“. Das wahre Glück liegt nicht in den funktionalen Abläufen der Politik, sondern in den normativen, um nicht zu sagen seelischen Erkenntnis-Gewinnen, die aus wahrhaft gerechten Handlungen resultieren. Da der gängige Politikertypus des Sophisten dies aber nicht einsieht bzw. gar nicht versteht, gerät herkömmliche Politik als Begierde zur Macht zwangsläufig auf die schiefe Bahn zur Tyrannenherrschaft.11 Hier helfen nur die klassischen Tugenden: Besonnenheit, Vernunft und Tapferkeit.12 Die Tapferkeit (areth) ist insbesondere dasjenige Heilmittel, welches vor „Nachlässigkeit, Trägheit und Bequemlichkeit“ der Seele schützt.13 Sind demzufolge traditionelle Politiker in Platons Augen zu bequem? – Epistemologisch gesehen zweifellos: sie bringen nicht die notwendige Bereitschaft zu einem Denken jenseits des etablierten Horizonts auf. Sie verlassen nicht den Bereich des Feuers, befreien keine Gefesselten und gehen schon gar nicht auf die Suche nach einem möglichen Höhlenausgang. Machiavellis Virtffl-Verständnis knüpft, wenn auch in brachialer Weise, so doch mustergültig für den Handlungsbegriff, hieran an. Der wahre Staatsmann ist nur der, welcher die tradierten (und damit immer auch begrenzten) Handlungsspielräume durchbricht und sich auf das Neue in der Politik einlässt bzw. dies im spezifischen Sinne erst überhaupt generiert. Ganz im Sinne Machiavellis schimmert auch bereits bei Platon die Areté als eine Form von Wagemut durch, die konträr zur Feigheit liegt. Die Feigheit, sich kognitiv auf das Neue einzulassen, was wiederum zur Trägheit führt.14 Wer also meint, Platons Philosophie sei 10 11 12 13 14

Nomoi: 899 e. Vgl. auch ebd.: 900 a. Vgl. ebd.: 900 d–e. Ebd.: 900 e. Vgl. auch ebd.

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in den Nomoi nur ein düsteres, weil konservatives Alterswerk, der täuscht sich. Der Politiker bleibt auch hier der homo novus, der epistemologisch nun das Neue allerdings nicht nur denkt, sondern danach auch handelt. Um an das Neue zu kommen, muss man Philosoph sein. Deshalb die Forderung nach dem Philosophenkönig:15 Nur ein philosophischer Politiker oder ein politischer Philosoph beherrscht jene Differenzierungslogik, die notwendig ist, um aus dem (jeweils) Einen und dem Nicht-Einen die richtige Schlussfolgerung ziehen zu können. Und nur dann kann es gerechte Entscheidungen geben. Dabei muss der Philosoph auch kämpferisch sein können, nicht nur im kognitiven, sondern auch im physischen Sinne. Er ist Polemikos und Philosoph in Einem.16 Richtiges Denken, und damit auch richtiges Handeln, beinhaltet: „Quadrieren, Konstruieren, Addieren“.17 Dies alles sind jedoch nur Hilfstechniken zur Erkenntnis des wahren Einen. Denn es geht „bei dieser Wissenschaft [der Geometrie] um die Erkenntnis des immer Seienden“, „nicht aber um die Erkenntnis dessen, was bald entsteht und bald vergeht“.18 Die Welt ist nicht so, wie sie den Menschen erscheint, sie wird erst durch die geometrischen Verknüpfungen zu dem, was den Menschen wirklich zum Mensch-Sein befähigt. Auch wenn dies nur ein metaphysischer Symbolismus ist, so sollte man seine epistemologische Bedeutung nicht unterschätzen. Die Dialektik unterstreicht diese Bedeutung funktional und erhöht sie zugleich in eine normative Ebene, weil erst durch das dialektische Verfahren die substanziellen Erkenntnisakte einsetzen können: „Also geht allein die dialektische Methode, indem sie die Voraussetzungen aufhebt, auf den Anfang, um ihn abzusichern, und sie zieht das wahrhaftig in irgendeinem barbarischen Schlamm vergrabene Auge der Seele sanft hervor und führt es nach oben“.19 Die Geometrie vermittelt hierfür die angemessenen Proportionen. Der Philosoph, in seiner Eigenschaft als Wissenschaftler und Politiker, muss ein „gutes Gedächtnis“ besitzen, „belastbar“ sein „und in jeder Hinsicht Freude an der Arbeit“ haben.20 Gerade weil diese Eigenschaften nur einigen Wenigen zukommen, ist die dialektische Erkenntnis auch nicht für jedermann zugänglich. Die zweite Einschränkung läuft demzufolge darauf hinaus, dass es ein unaufhebbarer Gegensatz bleibt zwischen dem, der eine philosophische Politik anzuwenden weiß und denjenigen, die sie zu erleiden haben. Denn wissen sie wirklich, wie gut (oder schlecht) es ihnen geht? 15 16 17 18 19 20

Vgl. auch Nitschke 2008a. Vgl. Politeia: 525 b. Ebd.: 527 a. Ebd.: 527 b. Ebd.: 533 c/d. Ebd.: 535 c.

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Glücklich mag der sich seiner Dialektik bewusste philosophische Herrscher sein, aber ist es auch das Volk? – Oder umgekehrt: so lange die philosophische Politik nicht wirklich, d. h. umfassend umgesetzt worden ist, bleibt der Philosoph in der Politik immer unterhalb seiner Möglichkeiten, ist er (tragischerweise) verhindert – auch wenn das Volk sich eventuell sehr zufrieden zeigt mit dem, was es hat. Das Programm zur Philosophenherrschaft ist faktisch ein Minderheitenprogramm für eine Erkenntniselite, die es in der Realität extrem schwierig hätte sich im politischen Herrschaftsalltag durchzusetzen. Die zweite Einschränkung ist so gesehen die signifikanteste: sie problematisiert die Qualität einer reziproken Anerkennung für den richtigen Politiker. Der logos basilikos mag zwar gegeben sein,21 doch reicht das auch, damit die übrigen Menschen, d. h. das Volk dies tatsächlich anerkennen kann – oder gar überhaupt erkennen könnte? „Die Zeitgenossen einer Krise tun sich allerdings schwer, das Ausmaß ihrer Probleme zu erkennen“, konstatiert hierzu Eric Voegelin.22 Stets wird der Duktus vorherrschen, es sei noch nicht so schlimm – oder es könnte sich in naher Zukunft wieder alles hin zum Besseren wenden. Gerade der sophistische Politikos wird das den Bürgern einreden wollen. Wie unterscheiden sie ihn vom wahren Politikos? „Wenn ein Herrscher auftritt, der die Polis reformieren will, kann das Volk nicht wissen, ob er tatsächlich der wahre Herrscher oder nur seine mimêsis, der Tyrann, ist; sie werden sich von seinem Anspruch beleidigt fühlen, weil sie nicht glauben können, dass irgend jemand fähig ist, im Geist der Tugend (areté) und Weisheit zu herrschen“.23 Platon spitzt das Dilemma epistemologisch noch zu, wenn er in den Nomoi konstatiert, dass alle genannten, herkömmlichen Verfassungsformen nicht „wirklich Verfassungen“ seien.24 Sie bleiben unvollständig, defizitär, weil letztlich immer die Leidenschaften einer Gruppe oder Aller die Ordnung beeinträchtigen. Hier zeigt sich spätestens ein deutliches Misstrauen gegen das menschliche Vermögen, aus natürlichen Stücken, d. h. freiwillig, zur Sozialität zu gelangen. Im Gegenteil – keine „einzige menschliche Natur“ wird für fähig gehalten, „in eigener Machtvollkommenheit alle menschlichen Angelegenheiten zu verwalten und dabei nicht von Übermut und Ungerechtigkeit erfüllt zu werden“.25 In gewisser Weise ist es eine Art von Verfassungspatriot, die Platon hier vorschwebt.26 Zwang, Ordnung und Tugenden halten die interne Seelen21 22 23 24 25 26

Vgl. auch Voegelin 2002: 195. Ebd.: 197. Ebd.: 199. Nomoi: 712 e. Ebd.: 713 c. Vgl. auch ebd.: 729 d–e.

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struktur des Einzelnen wie auch das gesamte Gemeinschaftsgebilde zusammen. Die Seele des Politikos soll möglichst alle Gegensätze in sich vereinigen können: Zorn und Sanftmut bilden hier beispielsweise die Eckpunkte seiner Virtffl.27 Der Zorn ist notwendig, um in extremen Gefahrensituationen angemessen reagieren zu können. Gerechtigkeit lässt sich demnach für Platon nicht ohne ein katalysatorisches Element aus dem Bereich der (womöglich göttlich inspirierten) Affekte wieder herstellen. Allerdings soll der Zorn temperiert erscheinen: gemäßigt und „nicht aufbrausend nach Weiberart“.28 Bei all seinen Ausführungen bleibt Platon skeptisch hinsichtlich der idealen Struktur des Wissens, das er produziert. Die eigene Unwissenheit darf nicht als Weisheit ausgelegt werden, denn „die Folge ist, daß wir, während wir, genau gesagt, gar nichts wissen, dennoch alles zu wissen glauben, und weil wir nicht anderen das, was wir nicht verstehen, auszuführen überlassen, begehen wir unvermeidlich Fehler, wenn wir es selbst ausführen“.29 III. . . . ist vernünftig Die zweite Einschränkung zu Lasten eines ontologischen Anspruchs auf die Politik beinhaltet also die skeptische Frage, was die Wissenden wirklich wissen? – Das hierauf einsetzende Plädoyer für die Vernunft (nous/logos) ist somit der eigentliche Kern für die Betriebsgrundlagen des platonischen Politikers. Sie ist hermeneutisch vor allem auch deshalb geboten, weil es in der Welt des Politischen stets um eine Vielheit von Erscheingsformen geht: Alles hat mit Allem zu tun. Wer hier einer Fremd- oder gar Vieltuerei frönt, der kann politisch nicht bestehen. Da jedoch gerade auch der Politikos nicht für sich selbst arbeitet, sondern für all die anderen, die Herde seiner Schutzbefohlenen, ist zu fragen, was denn das Eigene des Politikers überhaupt sei? – Zweifellos ist technische und noetische Professionalität im Verständnis des Politischen das Gebot angesichts einer dilletantischen, hemmungslosen demokratischen Vielkönner-Kultur. Doch was kann dann der platonische Politiker besser und anders als all die sophistischen, wichtig tuenden Meinungsbildner? – Die Vernunft kann er besser gebrauchen, lautet zunächst die lapidare Antwort. Doch damit ist keineswegs eine instrumentelle Vernunft im Sinne einer Machtstrategie gemeint, wie sie dann paradigmatisch bei Machiavelli durchexerziert wird. Die Vernunft des Philosophenkönigs ist theologisch fundiert und durchleuchtet: Der Philosoph als Politiker ist zugleich auch ein göttlicher Dichter! Er führt die Mitmenschen auf neue Denkwege, die sie selbst ansonsten nicht beschreiten würden. Um das 27 28 29

Vgl. ebd.: 731 b. Ebd.: 731 d. Ebd.: 732 a/b.

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Göttliche in der Welt der Menschen vermitteln zu können, bedarf es bestimmter episteme für den Politikos. Arithmetik, Geometrie und Astronomie erfreuen sich daher nicht zufällig einer Beliebtheit in den Spätdialogen.30 Sie vermitteln dem Menschen Exaktheit zur Einsicht in die göttlichen Gesetze. Kein Wunder, dass neoplatonische christliche Autoren hier ihre unmittelbare Fortentwicklung zugunsten eines göttlichen Naturrechts machen konnten. Gott, das ist auch schon bei Platon die Notwendigkeit, mit der die Natur funktioniert. Wenn die Natur lehrt, wie das Göttliche eventuell, sagen wir es vorsichtig, funktioniert, dann bedarf es einer permanenten Jagd des Wissen-Suchenden-Geistes nach den Gesetzen der Natur.31 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage nach der Form des Staates: nicht jede Verfassung liefert auch den Erkenntnisgewinn für die Politik. Für Platon sind in dieser Hinsicht Demokratie, Oligarchie und Tyrannis „Nicht-Verfassungen“,32 also nicht einfach degenerierte Verfassungstypen, sondern das Gegenteil einer Verfassung schlechthin! In all diesen drei Herrschaftsformen geht es um das eigene Selbst: in der Tyrannis um die Pleonexie des Einen, das Ausleben seiner Begierden zu Lasten aller Übrigen. Die Oligarchen verfahren genauso, nur mit dem Unterschied, dass es jetzt eine Minderheit ist, die ihre Begierden über die Mehrheit stellt. Und die Demokratie? – Sie verkommt in der Herrschaft der Parteiungen, die sich selbst jeweils zum Sinnzweck des Ganzen machen, ohne das Ganze überhaupt verstehen zu können. Der wahre Staatsmann tritt dem allen entgegen, indem er nicht einer Partei, der Macht des Geldes oder der Gunst des Tyrannen folgt, sondern „einzig der Vernunft“.33 Folgen auch die Gesetze den Maßstäben der Vernunft, so sind sie tugendanleitend.34 Diese Vernunft ist aber keineswegs autonom, das unterscheidet die platonische Vorstellung von modernen Verständnisweisen. Sie bleibt an die Welt des Göttlichen gebunden, ja wirkt im eigentlichen Sinne erst durch ihre (vom Menschen bewusst) vollzogene Verbindung. Hierbei ist auf die Implikation zum Göttlichen zu achten: bereits in der dialogischen Selbst-Findung der Protagonisten der platonischen Spätdialoge versteht sich das Gespräch als anamnetisches Verfahren, in dem „nicht ohne eine Art göttlichen Anhauch“ die Ordnung der Dinge gefunden wird.35 D. h. die Erleuchtung im zu Erkennenden ist nur mithilfe des göttlich inspirierten Logos möglich. Der Logos ist also keine Form der Selbstkonstruktion des Geistes, vielmehr 30 31 32 33 34 35

Vgl. hier besonders Nomoi: 818 a ff. Vgl. ebd.: 825 a ff. Ebd.: 832 b. Ebd.: 835 c. Vgl. ebd.: 836 d. Ebd.: 811 c.

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konstruiert der Geist nur sich selbst in Bezug auf die richtigen Findungsmöglichkeiten der göttlichen Immanenz der Dinge, wie sie in den Ideen realiter anschaubar sind. Damit fällt auf alle menschlichen Handlungsweisen stets ein Licht aus dem Bereich des Göttlichen. So spekulativ Platon diese Immanenz – oder besser Wechselwirkung – in den Kognitionsakten belässt, so unmissverständlich wird doch hiermit die Höherwertigkeit eines wohlverstanden richtigen Denkens betont. Der angehende Politiker und erst recht der in der Praxis stehende kommen dann gar nicht umhin, die Abstufungen des Seienden in der positivistischen Existenz verbessern zu wollen. IV. . . . und gebraucht Gewalt Von Beginn des Gesprächs an in den Nomoi zielt alles auf eine Verschmelzung des menschlichen Logos mit den Prinzipien einer „göttlichen Verfassung“.36 Gerade in Bezug auf das Göttliche ist es Aufgabe der Staatskunst, die verschiedenen Seelenzustände zu prüfen und auf ihre richtigen Relationen hin festzulegen. Der Politikos ist demnach ein Seelenkoordinator – und damit wird von vornherein deutlich, dass es hier um theologische, um nicht zu sagen theokratische Denkstrukturen geht. Die politische Führung als Herdenleitung ist göttlich immanentisiert. Zwang bzw. die Ausübung von Gewalt gehört hier mit hinzu. Dies ist der signifikante Unterschied zur Politeia: Platon setzt offenkundig nicht einfach mehr auf die vernünftige Überzeugung, sondern auf den Zwangscharakter der guten Gesetze. Gesetzgeber dürfen daher auch nicht einfach dem Volk entsprechend seiner Bedürfnisse Recht geben. Dies würde (zumal in einer Demokratie) einer hemmungslosen Selbstbedienung pleonexistischer Leidenschaften gleichkommen. Als wenn man Ärzten „vorschreiben wollte, die von ihnen behandelten Leiber auf angenehme Weise zu behandeln und zu heilen“.37 Der zweitbeste Staat ist in dieser Hinsicht ein Vernunft-Staat,38 in dem die „Herrschaft des Gesetzes“ waltet, „die ihrer Natur nach über Freiwillige und nicht mit Gewalt ausgeübt wird“.39 Der Kontraktualismus eines Thomas Hobbes kann sich auf dieses Prinzip berufen. Das Gesetz funktioniert dank der Zustimmung aller Beteiligten, die ihrerseits eingesehen haben, dass es so, wie es das Gesetz besagt, am Besten ist. Platons Version ist aber nicht ein rückwärtsgewandtes Plädoyer für die gute alte Zeit; die steht hier genauso in der Kritik wie die Gegenwart.40 Der richtige 36 37 38 39 40

Ebd.: 630 d/e, Hervorhebung v. Übersetzer. Ebd.: 684 c. Vgl. ebd.: 688 e. Ebd.: 690 c. Vgl. ebd.

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Typus einer politischen Ordnung muss eigentlich erst noch gewonnen werden. Freundschaft, Einsicht und Freiheit sind hierbei die zentralen Maximen,41 die letztlich eine Mischform von Monarchie (Einsicht) und Demokratie (Freundschaft und Freiheit) begründet.42 Die Ordnung der Polis, wie sie in den Nomoi ausgesprochen wird, ist auch (wie schon in der Politeia) eine ständisch akzentuierte Ordnung. Ein Jeder hat hier seinen rechten Platz, d. h. auch „nur einen Beruf“, mit dem er „auch seinen Lebensunterhalt erwerben“ kann.43 Eine Funktionsgesellschaft, in der das Moment der Eintracht durch die ontologische Qualität der Gesetze hergestellt wird. Sofern denn die Menschen uneingeschränkt tugendhaft wären, was sie leider nicht sind, bedürfte es gar keiner Sicherung durch Gesetze.44 Doch es ist das berechtigte, weil empirisch bestätigte Misstrauen gegen die anthropogenen Defizite, das dazu führt, dass die Polis nur dann nachhaltig existieren und gut funktionieren kann, wenn die Gesetze ohne Einschränkung, d. h. auch ohne Ansehung der Person, angewandt werden. „Denn nicht zum Unheil wirkt sich eine Strafe aus, die nach dem Gesetz vollzogen wird, sondern sie bewirkt gewöhnlich von den beiden eines: entweder macht sie den, der sie erleidet, besser, oder sie macht ihn weniger schlecht“.45 Die Gesetze wirken um ihrer ontologischen Qualität willen über die reine Personalität der jeweils handelnden Akteure hinaus. Daher darf auf keinen Fall der Zustand eintreten, dass die Gesetze personalisiert werden: „Wer die Gesetze unter die Herrschaft von Menschen bringt und sie dadurch knechtet und den Staat einem Parteiklüngel hörig macht und wer das alles mit Gewalt durchsetzt und einen Aufruhr erregt und so gegen die Gesetze frevelt, den muß man gewiss für den allerärgsten Feind des ganzen Staates ansehen“.46 Gesetze sind so etwas wie Belehrung bzw. die Anleitung zur richtigen Erziehung. Das „Schöne, das Gute und das Gerechte“ sind die Prinzipien, nach denen alles ausgerichtet wird.47 Wenn etwas gerecht ist, dann ist es auch schön. Alles, was ungerecht ist, beinhaltet demzufolge nicht nur eine Schädigung des an sich Guten, sondern stellt auch eine Beeinträchtigung für das Schöne dar. Deshalb die Idee des Guten: sie ist der normative (wie 41

Vgl. auch ebd.: 693 c. Vgl. auch ebd.: 693 d. – Interessanterweise werden in diesem Zusammenhang historische Erscheinungsformen für die Argumentation durchaus bemüht, allerdings sind alle Beispiele nur in relativer Hinsicht ein analytisches Kriterium. Fakten liefern Beispiele für etwas, sie sind aber noch nicht dieses Etwas selbst. 43 Vgl. Nomoi: 847 a. 44 Vgl. auch ebd.: 853 b. 45 Ebd.: 854 d/e. 46 Ebd.: 856 b. 47 Ebd.: 858 d. 42

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auch funktionale) Leitfaden für die lebenslange Ausrichtung der Politik zum Besseren hin. Wobei es Platon nicht einfach nur um ein Besseres im Sinne einer kleinen Optimierung des Status Quo geht, sondern vielmehr um die grundsätzliche Ausrichtung auf das Beste hin. Wenn also die „Vorstellung vom Besten, wie auch immer ein Staat oder einzelne Bürger dies zu erreichen glauben, in den Seelen herrscht und einen jeden durchwaltet, dann muß man, auch wenn sie einmal einen Irrtum begeht, dennoch sagen, daß alles gerecht ist, was in diesem Sinne getan wird und was sich in jedem Menschen einer solchen Herrschaft unterwirft, und daß es für das ganze Leben der Menschen das beste ist“.48 Die Vorstellung vom Besten kann jedoch nur dann umgesetzt werden, wenn (1.) die Lust und (2.) das Streben hierauf zielen.49 Wer hiervon abweicht, gar sich üble Delikte zu Schulden kommen lässt, der wird nach dem Regiment der Nomoi hart bestraft: hier wird fast jedes Delikt als Vergehen an der Gemeinschaft ausgelegt und mit der Todesstrafe beantwortet – und dies „im Namen des ganzen Staates“.50 Gestraft wird bei Platon auch deshalb so hart wie möglich, damit die Strafen in der Menschenwelt „in nichts hinter denen im Hades zurückstehen“.51 Der Grund für diese recht schonungslose Betrachtung des Strafrechts liegt zweifellos in einer negativen Anthropologie, die Platon in seinem Alterswerk ungleich schärfer formuliert als in den früheren Schriften. Bei allem, was ein gut aufgestellter Staat macht, sind nach wie vor „die schlechten Menschen“ zu fürchten.52 Schlechte Menschen zerstören auch die besten Gesetze.53 Deshalb muss die politische Ordnung hier mit Nachdruck agieren und mit der ganzen Härte des Gesetzes vorgehen. Jede Relativierung der ursprünglichen Bestimmung ist hier fehl am Platze. Insbesondere sophistische Politiker neigen zur Verdrehung, Verwässerung der gesetzlichen Grundlagen. Damit erweist sich Platon als klarer Feind des modernen Liberalismus. Der Sophist verdreht nicht nur, er spricht auch falsch! Seine „Argumente sind nicht nur nicht richtig, sondern sogar verkehrt“ in der konkreten Anwendung!54 Eine richtige politische Position kann nur derjenige einnehmen, der nicht nur die Definition von Etwas beherrscht, den Namen korrekt wiedergeben kann, sondern auch das Wesen dazu begriffen hat.55 Offensichtlich ist Pla48 49 50 51 52 53 54 55

Ebd.: 864 a. Vgl. ebd.: 864 b. Vgl. ebd.: 865 a ff., Zitat 873 b. Ebd.: 881 b. Ebd.: 886 a. Vgl. auch ebd.: 891 b. Ebd.: 891 d. Vgl. ebd.: 895 d.

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ton der Meinung, dass die jeweilige ontologische Beschaffenheit der Seele die Voraussetzung dazu schafft, wie ein Mensch in der Welt der Menschen politisch und sozial agiert. Gute Seelen werden eine gute Politik anstreben, schlechte Seelen sind dazu gar nicht in der Lage. Eben deshalb gehören sie auch mit dem unerbittlichen Strafrecht regelrecht ausgemerzt. Das ist nun allerdings weit weg von den humanistischen naturrechtlichen Grundlagen der Prämoderne wie (erst recht) der Moderne! In dieser Hinsicht ist interessant, wie Platon die Gewaltfunktion betrachtet: ein Gewaltmonopol der Polis existiert hier eigentlich nicht, denn jedermann hat seine natürlichen Notwehrrechte, die er im Kontext der Ordnung der Polis als einer ontologischen Glaubensgemeinschaft wie (öffentliche) Polizeirechte gebraucht!56 – Dies ist um so einleuchtender, wenn man registriert, wie hier mit Privatbesitz umgegangen wird: In den Nomoi ist es das zentrale Gut, das zu schützen ist: „Von fremdem Eigentum soll niemand etwas forttragen oder wegführen; auch darf keiner irgend etwas vom Besitz seines Nachbarn benutzen, ohne dazu die Erlaubnis des Eigentümers erwirkt zu haben; denn aus so etwas sind alle vorher erwähnten Übel hervorgegangen, und daraus gehen sie auch noch jetzt und künftig hervor“!57 – Interessant ist dieser Passus auch deshalb, weil Platon hiermit eingesteht, dass man die pleonexistische Natur des Menschen in Bezug auf die Materialität der Verfügungsansprüche nicht wird beseitigen können, sondern man muss sie vielmehr anerkennen und in ein geordnetes Maß bringen. Der Weg der Abschaffung von Privatbesitz, den seit Morus viele prämoderne (oder auch moderne) Utopisten gegangen sind, ist demzufolge ein unrealistisches Unterfangen. Der Politiker muss die Balance zwischen öffentlicher Ordnung und den daran angepassten privaten Lebensräumen wahren bzw. wiederherstellen können:58 „Denn im privaten Bereich und in den Häusern geschehen viele unbedeutende Dinge, die nicht allen zur Kenntnis gelangen; diese können unter dem Einfluß von Schmerz und Lust und Begierde eines jeden einzelnen leicht anders verlaufen, als es die Empfehlungen des Gesetzgebers vorsehen, und dann unter den Bürgern verschiedenartige und ungleiche Gesinnungen hervorrufen; das ist ein Übel für die Staaten.“ Mit dem homo politicus verhält es sich wie mit dem Hausherrn: Er ist Herr über seinen (familiaren) Oikos, den er so gestalten sollte, dass eine Einheit in der Differenz der verschiedenen Interessen stets gegeben ist. Das setzt Mäßigung voraus, Selbstkontrolle und Vernunft im Umgang mit den Leidenschaften (der eigenen wie die der anderen). Denn daran mangelt es 56 57 58

Vgl. ebd. z. B.: 882 a–c. – Für den Kontext vgl. Nitschke 1992. Nomoi: 884 a. Ebd.: 788 a–b. – Vgl. hierzu auch Nitschke 2008b: 150.

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der großen Masse: „Die große Mehrzahl der Menschen dagegen verhält sich genau umgekehrt wie diese: in ihren Bedürfnissen sind sie maßlos, und wenn es ihnen möglich wäre, einen mäßigen Gewinn zu erzielen, ziehen sie einen unersättlichen Gewinn vor“.59 Der wahre Politikos muss daher einen Kampf in doppelter Frontstellung führen: a) gegen die Pleonexie seiner Mitbürger, b) gegen die daraus resultierenden Ungerechtigkeiten in der sozialen Struktur der politischen Gemeinschaft. Armut und Reichtum sind notwendigerweise die Folge dieser Pleonexie.60 Was dem einen nützt, schädigt die anderen. Offenbar betrachtet Platon die soziale wie ökonomische Struktur der Polis im Sinne eines Nullsummenspiels. Ein Mehrwert kommt hier nicht vor: Was der einen Seite abgezogen wird, kommt der anderen zugute. Überhaupt wird hier die Ökonomie im Wesentlichen als ein Ordnungssystem von guten Sitten begriffen. Deshalb ist es so wichtig, dass bereits im Oikos der Familie der richtige Umgang miteinander gepflegt wird. Wer diese familiare Ebene vernachlässigt, der wird auch (und gerade) auf dem Feld des Öffentlichen (also der Polis) selbst nicht zur richtigen Ordnung kommen. Allerdings ist die Linearität vom familiaren Oikos zur Polis nicht direkt gegeben. Der Staat ist kein großgeschriebenes Familienunternehmen! Die Polis setzt ihre eigenen Maßstäbe. Sie ist eigentlich sui generis, mehr als nur die Summe ihrer Teile. Eben deshalb bedarf es für die familiaren Lebenswelten auch einer Konditionierung durch die Ordnung der Polis. Das Regiment der Nomoi hat den Auftrag, die Pathologie der Gesellschaft, die ontologisch immer droht, mit strengen Regeln einzuhegen und das Leben der Menschen auf soziale Bahnen zu führen. Die Individuen müssen daher permanent vergemeinschaftet werden, nur dann kann die Ordnung sinnvoll und auf Dauer bestehen. Der Sinn dieser permanenten Vergemeinschaftung besteht bei Platon schon in der gleichen existenzialistischen Zuspitzung wie sie später für die Neuzeit Thomas Hobbes vorgenommen hat: Weil eine jede Vergemeinschaftung von Menschen durch andere Formen von Gemeinschaften bedroht werden kann, müssen alle, die zur Gemeinschaft gehören wollen oder sollen, „ihr Leben möglichst immer zusammen und gleichzeitig und gemeinsam mit allen andern zubringen; denn ein kräftigeres, besseres und wirksameres Mittel zur Rettung im Krieg und zum Sieg gibt es nicht als dieses und wird es niemals geben“.61 Aus der Notwendigkeit zur kollektiven Existenz, die dem Schutz des Einzelnen dient, resultiert auch die Ein- und Unterordnung unter das Gesamte:62 „anderen zu befehlen und sich von andern befehlen zu lassen“, das ist das Prinzip der Politik. Eine anthropologisch radikal formulierte Autarkie ist hier fehl am Platze – im Gegenteil: „die füh59 60 61 62

Nomoi: 918 d. Vgl. auch ebd.: 819 b. Ebd.: 942 c, Hervorhebung v. Nitschke. Ebd.

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rerlose Unabhängigkeit muß dagegen ganz aus dem Leben aller Menschen und aller Tiere ausgerottet werden, die den Menschen untertan sind“!63 Wenn aber die Macht in den Führungspositionen einer Gemeinschaft zentriert wird, wie Platon dies mit seiner Version der Nächtlichen Versammlung auf heutzutage bizarr anmutende Weise veranschaulicht, dann bedarf es der höchsten analytischen wie moralischen Anforderungsprofile für die Staatsbeamten. Die Höchsten müssen dann hier auch die Besten sein! Wenn das nicht der Fall ist, und das ist dann besonders das Problem der Demokratie, wenn „sie nicht mehr auf dasselbe Ziel hinstreben, machen sie aus dem einen Staat mehrere, erfüllen ihn mit Parteiungen und richten ihn dadurch rasch zugrunde“.64 Wie aber soll ein pleonexistisches Auseinanderdriften der höchsten Beamten, die ihren je individuellen oder gruppenfraktionierten Begierden folgen, vermieden werden? Platons Rückgriff auf die Grundlagen einer Theokratie versteht sich von hierher: wenn ein tugendhaftes Handeln und Denken durch eine rein instrumentelle Vernunft nicht auf Dauer praktiziert werden kann, weil sich mit den Notwendigkeiten von Sachzwängen (wie Machiavelli dies systematisch darstellt) immer auch Fehleinschätzungen ergeben können, dann ist die Rückbindung an die theologisch-politische Ordnungskomponente ein logischer Schritt. Die theokratische Politikerschicht, die er mit der Nächtlichen Versammlung propagiert, löst zwar nicht das Problem, ob deren Politik wirklich richtig ist, sie kann aber als formal richtig aufgefasst werden, so lange der theologische Gründungsmythos der Polis dem Sinn nach eingehalten wird. Zweifellos ist dies eine ideologische Positionierung (nach heutigem Verständnis), noch dazu eine theologisch dominierte, die im Sinne einer kritischen Vernunftmaxime mit einem Frageverbot einhergeht. Offenbar interessiert den ganz späten Platon mehr die Aufrechterhaltung der Ordnung selbst als die schonungslose Wahrheitsfrage über den Sinn dieser Ordnung. Der Wahrheitsanspruch wird hier behauptet und durch die theologische Verschmelzung mit dem Göttlichen geradezu versiegelt. Wer daran kritisch oder skeptisch anklopft, dem droht im Zweifelsfall die Todesstrafe. Das ist hart, weil Platon damit seine hermeneutische Position im Höhlengleichnis umdreht. Diejenigen, die eine Erkenntnis über die wirkliche Wirklichkeit haben, sind nun ans Feuer zurückgekehrt. Sie wissen zwar um die göttliche Dimension dieses Feuers, aber sie hüten es gleichzeitig wie ihren persönlichen Besitz vor den Übrigen, die intellektualistisch nicht in der Lage sind, dies substanziell einzusehen. Immerhin scheint das System, welches Platon vorschwebt, nicht so starr zu sein, wie moderne Kritiker im Gefolge Poppers hier meinen. Die große Masse mag „vom Wesen der Tugend abgeirrt sein, so ist sie deshalb 63 64

Ebd.: 942 c/d. Ebd.: 945 d/e. – Vgl. hier auch Nitschke 2007.

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doch nicht ebenso unfähig, bei anderen zu beurteilen, wer schlecht und wer gut ist“.65 Es besteht also doch eine epistemologische Korrelation zwischen den Beherrschten und den Herrschern. Mit der relationalen Einsichtsfähigkeit und reziproken Existenz zwischen den Bürgern und ihren Beamten ist auch eine strukturelle Dynamik für die Polis verbunden. Die Dinge bleiben nie gleich. Zwar ist der Gründungsmythos das, was den Tugendkatalog eidetisch zusammenhält, aber Institutionen und Sitten unterliegen auch einer Veränderung. Wenn Mängel da sind, müssen sie abgestellt werden. Das bedeutet, die ideale Polis entwickelt sich auch intern weiter. Sie unterliegt geradezu einer Dynamik zur Perfektion: „Denn ohne dieses Beobachten und Nachforschen wird kein Staat jemals in seiner Vollkommenheit bestehenbleiben können, ebensowenig aber auch, wenn man dieses Beobachten schlecht durchführt“.66 V. Die Utopie des Göttlichen Die Poliskonzeption in den Nomoi ist eindeutig theokratisch. Säkulare Interpretationen haben damit bekanntlich ihre Schwierigkeiten, kann man Platon doch in diesem Alterswerk eben nicht einfach einem Rationalismus der Moderne zurechnen.67 „Platons Sorge gilt weniger dem Problem, ein Volk zu finden, das gehorchen würde, sondern eher dem Problem, daß er keine Philosophenkönige finden kann, die herrschen könnten“.68 Eine regelrechte Wächterschicht scheint in den Nomoi nicht mehr existent. Die ökonomische Klasse ist jetzt eine ausgesprochen freie Bürgerschaft (mit klaren Besitzverhältnissen), unterhalb der die Sklaven und ortsansässige Fremde existieren. Die zweitbeste Form der Polis geht ganz offenkundig von einem anderen Menschentypus aus bzw. ist in der Einschätzung der hermeneutischen Grundlagen für die breite Masse sehr viel realistischer als etwa im Höhlengleichnis.69 Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Mehrheit der Bürger sich am Feuer aufhalten würde! Denn die Menschen, die den Ausgang aus der Höhle finden, sind sehr selten anzutreffen – damit schwindet auch die Fähigkeit zu einer wahren Freundschaft der Gemeinschaft. Der Appell des Philosophenkönigs funktioniert ontologisch nicht, jedenfalls nicht im Sinne einer kognitiven Erweiterung des bürgerlichen Bewusstseins. Deshalb müssen die Gesetze hinzugezogen werden, die zwar auch eine ontologische Grundlage haben, sonst 65 66 67 68 69

Nomoi: 950 b. Ebd.: 951 c, Hervorhebung v. Nitschke. Vgl. auch Voegelin 2002: 260. Ebd.: 261. Vgl. auch ebd.: 264.

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könnten sie gar nicht wirklich bestehen und würden auch nicht zur Verbesserung der Bürger beitragen. Allerdings ist es nun nicht mehr notwendig, dass die Bürger individuell den Sinn der Gesetze einsehen. Es reicht, wenn die nächtliche Versammlung der weisen Honoratioren, quasi das spartanische Ephorenmodell theokratisch verklärt, über die Einhaltung der Gesetze und Ämter wachen. Der wahre Politikos erscheint hier als eine Art Erlöserkönig wie in den altorientalischen Reichen.70 Das Grundproblem, was Platon hier, wie auch im Politikos und in der Politeia zu erfassen versucht, ist das Wechselspiel bzw. Gleichgewicht zwischen Freiheit und Einheit. Man kann sein Modell nunmehr tatsächlich als eine Figur der Mischverfassung bezeichnen, in der die Elemente von Monarchie und Demokratie letztlich immer zugunsten der Monarchie zusammengelegt werden.71 Das herausragende Merkmal dieser Ordnung ist (wie schon in der Politeia) die proportionale Gleichheit. Der Ansatz ist nunmehr erkennbar dramatisch:72 es gilt der fortwährende Kampf gegen alle Agnostiker dieser Welt, vor allem, wenn sie sich auf dem Gebiet des Politischen tummeln.73 Das Neue ist allerdings insofern das Alte, weil der Bezug zur Welt der Götter hier wieder reinthronisiert wird. Und zwar mit aller Macht: „Und ferner behaupten wir doch, daß alle sterblichen Lebewesen Eigentum der Götter sind, denen auch der ganze Himmel gehört“, konstatiert der Athener unmissverständlich.74 Das Neue in der Politik ist also die Wiederbelebung der theokratischen Denkstruktur. Damit rückt der späte Platon wieder näher heran an Homer! Der große Dichter wird hier auch zitiert:75 „Dies ist der richtende Spruch der Götter im hohen Olympos“. Wer sich hier gegen stellt, das sind die sophistischen Politiker: Gegenüber der wahren Dimension göttlichen Welt-Wirkens haben sie sich darauf verstanden eine innermenschliche Deutungs- und Handlungsstruktur zu etablieren. Hierbei handeln sie aber wie in einer Welt der arcana imperii: versteckt, verschlungen und heuchlerisch.76 Wenn die Politeia unzweifelhaft eine utopische Verfassung einfordert,77 dann sind demgegenüber auch die Nomoi nicht weniger utopisch. Man hat daher zu Recht das Alterswerk Platons als eine „legislative Utopie“ be70

Vgl. auch ebd.: 266. Vgl. auch ebd.: 293. – Grundsätzlich hierzu Rostock 1975 und präziser als etwa neuerdings Riklin 2006. 72 Vgl. Voegelin 2002: 304. 73 Vgl. ebd.: 312. 74 Nomoi: 902 b. 75 Ebd.: 904 e. 76 Vgl. ebd.: 908 d–e. 77 Vgl. auch Laks 1996: 43. 71

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zeichnet.78 Interessant ist dabei, dass Platon hier nicht mehr strikt auf die rationale Direktivfunktion des Philosophenherrschers (alleine) setzt, sondern mehr noch den Konsens unter allen Beteiligten einfordert.79 Das ist allerdings nicht unproblematisch: Wissen (um das Eine) und konsensuelles Verhalten angesichts einer pleonexistischen Vielfalt stehen sich in einem durchaus antagonistischen Verhältnis gegenüber.80 Eben deshalb bedarf es nach wie vor auch des Philosophen als Herrschers: nur er wird diesen strukturellen Antagonismus aufheben können. Die Gesetze helfen ihm dabei, aber nur begrenzt; letztlich wird es die göttergleiche Intuition sein, die ihm hier weiter hilft. Rational ist dies nur in den Formen der Logik. Max Weber hätte hier von Irrationalität sprechen können, da die theologische Dignität nicht rekapitulierbar ist. Entweder man hat sie – oder man hat sie nicht. Wie weit Platon in dieser Aneignung des Göttlichen dann geht, zeigt seine Festlegung auf den Zwang: Politische Herrschaft überzeugt hier nicht einfach nur, sie zwingt auch in die richtige Überzeugung! – Das ist in der Tat „eine gewisse Form von Tyrannei“!81 – Auch wenn die Nomoi sehr auf eine Kommunikationsstruktur bezüglich des Konsenses unter den Bürgern Wert legen, ist es kein Aufklärungsstück, welches sich hier entfaltet. Eher ein aufgeklärter Absolutismus, wenn man so will, jedoch mit einer starken theokratischen Schlagseite: „Daß Gott alles und mit Gott zusammen der Zufall und der rechte Augenblick die menschlichen Verhältnisse insgesamt lenken; doch klingt es weniger schroff, wenn man einräumt, daß zu beiden als Drittes das menschliche Können hinzukommen muß“.82 Der politische Mensch ist derjenige, der im richtigen Moment die Technik des Handelns einzusetzen versteht.83 78

Ebd.: 45. Vgl. auch ebd.: 47. 80 Vgl. auch ebd.: 48. 81 Ebd.: 53. 82 Nomoi: 709 b/c. 83 Machiavelli ist hier, im Handlungsbegriff, gar nicht so weit von Platon entfernt. Ein junger, besonnener, lernbegieriger, „mit gutem Gedächtnis“ ausgestatteter, tapferer und großgesinnter Tyrann, der auch noch vom Glück begünstigt wäre (Nomoi: 710 c), der kommt dem Idealbild des Principe sehr nahe. Wie sehr sich in den Nomoi die Argumentationslinien überschneiden, zeigt sich nicht zuletzt in der Bewertung der spartanischen Verfassung. Einerseits eine Monarchie, gesteht ihr Platon andererseits auch aristokratische Züge zu, sogar „etwas erstaunlich Tyrannisches“ wird in dem Modell der Ephoren (zu Recht) erblickt (712 d)! – Man könnte Machiavelli in diesem Kontext als einen abgefallenen Platoniker bezeichnen, der das Credo der Nomoi allzu sehr auf die Handlungskompetenz des Einen, der da das Gute will, fixiert. Was bei Platon noch durchaus euphemistisch mit der Beziehung zur Welt des Transzendentalen formuliert wird, das bleibt nun ausgespart und wird auf die harte Funktionalität der Machtmittel reduziert. Immerhin billigt auch Platon dem Tyrannen eine positive Existenzberechtigung zu – nämlich dann und dort, wo 79

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Alles in allem ist es durchaus angebracht, in Platons Argumentation in den Nomoi eine „Theorie der Rechtsstaatlichkeit“ zu verorten,84 wobei hier jedoch eine individualistische, auch gewaltenkritische Position fehlt. In Platons Polis existiert kein Widerstandsrecht. Der einzelne kann (und muss) im Idealstaat ganz und gar aufgehen: „es gibt dort keine schlechten Gesetze, und es gibt keine privaten Vorbehalte gegenüber dem staatlichen Willen, weil sich im Gemeinwohl letztlich die individuellen Interessen aller einzelnen erfüllen“.85 Mit dieser Perspektive wird der Idealstaat dann aber in der Tat (da hat Popper Recht) absolut vereinnahmend. Man muss das nicht totalitär nennen, aber die technische Dimension einer solchen staatsorientierten Vereinnahmung aller zu allem ist im 20. Jahrhundert schaurig zu betrachten gewesen. Auf jeden Fall ist dieser Staatstypus autoritär: Was die Vernunft im Staat befiehlt, das muss gemacht werden. Eine selbstkritische Hinterfragung eben dieser Staatsvernunft lässt Platon durch die theologische Aufwertung seines Regimes auch nicht mehr zu. Insofern ist hier die Theokratie Anfang und Ende der politischen Philosophie. Doch auch für diese (wieder einmal aporetische Konstellation in der platonischen Argumentation) gibt es eine dritte, (vielleicht) abschließende Einschränkung, die Platon vornimmt: Der göttliche Mann,86 der Gesetzeswächter als Garant einer ontologisch begriffenen Henologie des Politischen, basiert (auch und gerade) in den Nomoi nur auf einer formallogischen Argumentationsstruktur. Es gibt ihn noch nicht wirklich. Eine präzise inhaltliche Ausgestaltung ist damit auch für die zweitbeste Polis noch nicht wirklich konkret verbunden. Utopia bleibt ein offenes Land. Wie sagt der Athener am Ende der Nomoi: „Mir scheint, meine Freunde, daß für uns, wie es im Sprichwort heißt, noch alle Möglichkeiten offen sind“.87 Literatur Hentschke, Ada Babette (1971): Politik und Philosophie bei Plato und Aristoteles. Die Stellung der „NOMOI“ im Platonischen Gesamtwerk und die politische Theorie des Aristoteles. Frankfurt a. M. Laks, André (1996): Platons legislative Utopie. In: Polis und Kosmos. Naturphilosophie und politische Philosophie bei Platon. Hrsg. v. E. Rudolph. Darmstadt, S. 43–54. a) die neue Polis erst noch im Entstehen begriffen ist oder b) eine Selbstreinigung erfolgen muss (vgl. 735 c–d). 84 Rostock 1975: 161. 85 Ebd.: 165. 86 Nomoi: 966 d. 87 Ebd.: 968 e.

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Nitschke, Peter (1992): Von der Politeia zur Polizei. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Polizei-Begriffs und seiner herrschaftspolitischen Dimensionen von der Antike bis ins 19. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Historische Forschung 19 (1992) H. 1, S. 1–27. – (2007): Der Tod der demokratischen Ordnung – Eine neoklassische Rekonstruktion. In: Zeitschrift für Politik 54 (2007) H. 2, S. 141–161. – (2008a): Der „nackte Mensch“ – oder – Wie wird man Politiker? In: Politikos – Vom Element des Persönlichen in der Politik. Festschrift für Tilo Schabert. Zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. K.-H. Nusser, M. Riedl u. Th. Ritter. (Beiträge zur Politischen Wissenschaft, Bd. 149) Berlin, S. 113–130. – (2008b): Wie utopisch ist Platons Staat? Zur Lehre der utopischen Rezeptionen. In: Politeia. Staatliche Verfasstheit bei Platon. Hrsg. v. P. Nitschke. (Staatsverständnisse, Bd. 19) Baden-Baden, S. 137–165. Platon: Symposion. Griechisch/Deutsch. Übersetzt u. hrsg. v. Th. Paulsen u. R. Rehn. Stuttgart 2006. – Politeia. Griechisch u. Deutsch. Sämtliche Werke V. Nach einer Übersetzung F. Schleiermachers, ergänzt durch Übersetzungen v. F. Susemihl u. a. Hrsg. v. K. Hülser. Frankfurt a. M./Leipzig 1991. – Platons Höhlengleichnis. Das Siebte Buch der Politeia. Griechisch-deutsch. Hrsg., übersetzt, erläutert v. R. Rehn. Mit einer Einleitung v. B. Mojsisch. Mainz 2005. – Gesetze. Griechisch u. Deutsch. Werke, Bde.8/1–2. Bearb. u. übers. v. K. Schöpsdau. Hrsg. v. G. Eigler. Sonderausg. Darmstadt 1990. Riklin, Alois (2006): Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung. Darmstadt. Rostock, Michael (1975): Die antike Theorie der Organisation staatlicher Macht. Studien zur Geschichte der Gewaltenteilungslehre. Meisenheim am Glan. Voegelin, Eric (2002): Ordnung und Geschichte. Bd. VI – Platon. Hrsg. u. mit einem Nachwort v. D. Herz. München.

II. Recht

Nemo sua sponte peccat Platons Begründung des Strafrechts in den Nomoi (IX 859d–864c)* Von Francisco L. Lisi Es ist sicherlich ein gewagtes Unternehmen, über eine so ausführlich ausgelegte Stelle etwas Neues sagen zu wollen, vor allem nach den Beiträgen von K. Schöpsdau (1984) und Trevor J. Saunders (1968; 1991, S. 139–150), um nur die m. W. zwei gründlichsten Arbeiten zu erwähnen, die sich zuletzt mit der Stelle befasst haben. Die Beachtung, die der Passus verdient hat, beruht nicht nur auf seiner Bedeutung für das Verständnis der Prinzipien der Gesetzgebung Magnesiens, sondern vor allem darauf, dass der Athener anscheinend eine neue Deutung der „Penologie“, um Saunders Vokabel zu benutzen, vorlegt, während er das sokratisch-platonische Prinzip nemo sua sponte peccat im platonischen Alterswerk deutlich bestätigt. Die Art und Weise, wie der Text überliefert ist,1 hat ohne Zweifel seine Interpretation nicht erleichtert. In der Tat sind einige Passagen entstellt und der Gedankengang ist nicht immer deutlich zu erkennen. Bis heute gibt es zwei Hauptrichtungen der Auslegung dieser Stelle, deren Hauptmomente folgendermaßen aussehen: (a) Die sogenannte „traditionelle Auslegung“, die schon Stallbaum (III, S. 52 f.) verteidigt hat, und die eine Änderung in Platons Deutung des sokratischen Diktums voraussetzt. Gerechtigkeit sei das Gewissen des Einzelnen, das auch falsche Meinungen haben könne. Es handelt sich um Leute, die aus gutem Gewissen handeln, auch wenn sie die philosophische Erkenntnis nicht besitzen und irren können (kºn sfÜllhtaû ti; 864a4). Gerhard Müller (S. 56–59) und Herwig Görgemanns (S. 135–142) verteidigen teilweise die traditionelle Auslegung, indem sie die Unwissenheit als eine nicht schuldhafte Ursache falschen Han*

Der vorliegende Beitrag wurde im Rahmen des von der spanischen Subdirección General de Investigación des Ministerior de Educación y Cultura finanziell unterstützten Forschungsprojekt HUM2007–62750 verfasst. Ich möchte Herrn Dr. Hendrik Hansen besonders danken, der den deutschen Text gründlich korrigiert hat. 1 Ich verstehe nicht recht, warum sie für T. J. Saunders (1991, 139) „ploddingly written“ ist.

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delns betrachten. ê tou~ ÷rûstou düca in 864a1 bezeichnet für Görgemanns die „Ansicht über die Art und Weise, wie dies Beste verwirklicht werden soll“ (S. 139), d.h. ein praktisches Wissen über die Verwirklichung des Besten. Die Unwissenheit sei daher ein „technischer“ Begriff (Müller, S. 58), der so gebraucht werde, weil die Stelle auf den juristischen Zweck abgestimmt sei (Görgemanns, S. 140). (b) Dagegen wendete O’Brien (S. 85) ein, dass Unwissen als die dritte Ursache der Ungerechtigkeit zusammen mit Lust und Zorn zu betrachten seien und dass „Plato did not adopt the purely internal standard of“ the voice of conscience „as his final criterion of justice (S. 83)“, sondern er wiederhole die frühere platonische Auffassung, dass gut zu sein bedeute, weise zu sein (S. 87). Mary Margaret Mackenzie (S. 245–249) wiederum übernahm diese Interpretation 24 Jahre später. (c) Trevor J. Saunders (1968) nimmt zum Teil O’Briens Auffassung wieder auf, indem er gegen Görgemanns die theoretische Natur der Doxa unterstreicht und 864a1–8 für eine Beschreibung des Gerechten hält, weil der Athener von der Bestimmung des ungerechten Charakters zu der Darstellung des gerechten umschalte. Für Saunders wiederum beschreibt 864b6–7 die Ungerechtigkeit, deren Ursache die Unwissenheit sei. (d) In einem sehr gründlichen Aufsatz verteidigt Klaus Schöpsdau (1984) Müllers und Görgemanns These mit neuen Argumenten und behauptet, die ågnoia sei gar kein sittliches Phänomen (S. 113), denn die Kategorie des „Sich-beherrschens“ sei bei ihr inadäquat. Nach dem Athener sei gerecht, was in „bester Überzeugung“ geschehe (S. 116). Die Unwissenheit bestehe im Fehlen der vom Gerechten intendierten Handlung (S. 121 f.), sie sei also keine Ungerechtigkeit. (e) Jean Roberts, der Schöpsdaus Beitrag nicht kennt, kehrt zu O’Briens und Saunders Auffassung zurück. Für ihn ersetzt Platon die traditionelle Differenzierung zwischen vorsätzlicher und unvorsätzlicher Ungerechtigkeit durch die Unterscheidung zwischen Ungerechtigkeit und Unwissenheit. Die in der Ungerechtigkeit bestehende Vorsätzlichkeit aber sei auch Ausdruck des Unwissens. Für Platon sei Wissen noch das Fundament der Tugend, und man könne keine Änderung seiner Lehre in dieser Hinsicht feststellen. (f) T. J. Saunders (1991, S. 148 ff.) hat gegen Schöpsdaus Interpretation gewichtige Gründe vorgetragen, vor allem die Tatsache, dass der platonische Strafkodex doch mehrere Maßnahmen gegen die Ignoranzverbrechen vorsieht, vornehmlich gegen die Atheisten im 10. Buch. Er hat aber den Textbeweis seiner Position nicht anhand unserer Stelle erbracht.

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An dieser Stelle kann ich die erforderlichen Einwände gegen die verschiedenen Interpretationen nicht ausführen; dies soll im Laufe meines Exposés geschehen. Ich werde zuerst eine kurze interpretierende Inhaltsdarstellung geben und anschließend die Hauptprobleme der Stelle behandeln. I. Der Inhalt des Exkurses Der Passus kann in eine Einleitung (858d6–859b3) und zwei Teile (859b6–863a2 und 863a3–864c9) gegliedert werden. Im ersten Teil wird auf die Widersprüche der Menge hingewiesen und eine Erklärung des Sokratischen Prinzips nemo sua sponte peccat angegeben. Im zweiten wird das psychische Fundament dieser Lehre ausgeführt. 1. Der erzieherische Charakter der Gesetzgebung Nach der Behandlung der schlimmsten Verbrechensarten gegen den Staat (853a-857b) unterbricht der Athener die Darstellung der Strafgesetze, um ihre theoretischen Grundsätze darzulegen. Diese werden durch eine kurze Wiederholung der schon an verschiedenen Stellen unterstrichenen Charakteristika der geschriebenen Gesetzgebung (858d6–859b3) eingeleitet (vgl. z. B. IV 719c1–720e5, 722e1–723b6; VII 811c6–812a3): (a) Die Schriften des Gesetzgebers seien die wichtigsten und schönsten für die Staaten, der sich alle anderen anpassen müssten (856d6–859a1). (b) Die Gesetze sollten nicht nur befehlen, sondern auch wie Eltern mahnen und raten (859a1–b5). Durch diese Einleitung wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf den erzieherischen Charakter der Gesetze gerichtet. Damit soll der Unterschied zwischen dem platonischen und dem üblichen Verständnis der Strafgesetze unterstrichen werden. Die geschriebenen Gesetze, genau so wie die ungeschriebenen, sind ausschließlich Erziehungsgesetze, und die auferlegten Strafen sollten auch als Mittel zur Ausbildung und Verbesserung der Bürger betrachtet werden. 2. Der Unterschied zwischen der neuen Strafrechtslehre und der üblichen Auffassung Der erste Teil hat den Zweck, die platonische Konzeption von den gängigen Meinungen abzuheben. Er besteht aus drei deutlich differenzierten Abschnitten. Der erste (859b6–860c3) beinhaltet die Darstellung der in der üblichen Auffassung über die Beziehung zwischen Gerechtem und Schönem

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existierenden Widersprüche. Der zweite (860c4–862c10) beschreibt die scheinbare Inkonsequenz in der eigenen Lehre von der Strafe und der Unfreiwilligkeit der Ungerechtigkeit und räumt sie aus. Der dritte Abschnitt (861d1–863a2) schlägt eine neue Auffassung von Strafgesetzen vor, die auf dem Prinzip nemo sua sponte peccat beruht. Der erste Teil erfüllt eigentlich eine der Vorreden ähnliche Funktion: Er soll nicht nur die Gesprächspartner des Atheners sondern auch den Leser von der Kohärenz und Richtigkeit der Grundsätze überzeugen. Es ist gerade die Auffassung der Strafe als ein Mittel zur Heilung und Ordnung der Seele, die es erlaubt, die übliche Konzeption aufzuheben. Sie ist nur möglich auf der Basis der Lehre, dass keiner absichtlich Unrecht begehe. a) Der Widerspruch in der üblichen Auffassung von der Todesstrafe (859c6–860c3) Der Athener räumt zuerst den deutlichsten und einfachsten Widerspruch aus, und zwar denjenigen der Menge, der die Beziehung zwischen Gerechtem und Schönem/Gutem betrifft. Die allgemeine Übereinstimmung über die Koinzidenz zwischen dûkaion und kalün werde von den polloû nicht konsequent auf allen Gebieten aufrechterhalten, denn diese gelte auch im Falle von Leiden und Tun, und sie betrachten das Leiden der Todesstrafe als das Hässlichste (859d2–860c3), auch wenn sie gerecht sein könne. An dieser Stelle weist der Athener bloß auf eine Inkonsequenz hin, deren Lösung schon früher angedeutet wurde: Die erzieherische und heilende Funktion der Strafe erklärt, warum auch die radikalsten Maßnahmen im Falle der Verbrecher schön und gut sind. Die letzte Begründung liegt ja im platonischen Glauben an die Metempsychose, wie im weiteren Verlauf des Dialogs deutlich wird (vgl. IX 872d7–873a3, 881a3–b2; X 903d1–e1)2. Die in dieser Welt geleistete Buße erleichtert das Leiden der Seele im Jenseits und im nächsten Leben. Diese Auffassung findet sich auch in anderen platonischen Dialogen seit dem Gorgias (477a5–478e5) wieder. Die Todesstrafe ist demgemäß etwas Gutes und Schönes (vgl. XI 937d6–e2) sowohl für den Bestraften als für die Gemeinschaft; für jenen, weil sie das Ende des für die Seele größten Übels bedeutet; für diese, weil sie ein nützliches und erzieherisches Beispiel sei (IX 862e2–863a2; vgl. 854e1–855a1; XI 933e10–934b3; XII 957e4–958a2; V 728a2–c8).

2 Für eine Behandlung der verschiedenen Stellen der Nomoi, die sich mit diesem Thema befassen, vgl. S. P. Ward (S. 253–264).

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b) Der angebliche Widerspruch der Lehre vom unfreiwilligen Unrecht-Tun Die vom Athener vertretene Unfreiwilligkeit der Schlechtigkeit wird auch in Betracht gezogen, weil sie die Unvorsätzlichkeit der Ungerechtigkeit impliziert (860c4–861d9) und so den Strafenunterschied aufzuheben scheint, je nachdem, ob die ungerechte Tat absichtlich oder unwillkürlich geschah. Eigentlich sei der unvorsätzliche Schaden gar kein Unrecht (861e6–862a7). Daher sei es notwendig, zwischen Ungerechtigkeit und Schädigungen zu differenzieren. Jene sei eine innere Einstellung (vgl. çqei ka˝ dikaûw trüpw xrÿmenoò; 862b3–4), während der letztere das äußere ' ' Resultat der Handlung ausdrücke. Eine mit einer ungerechten Absicht vollzogene Handlung könne als Ergebnis einen Nutzen für den Betroffenen haben. Diese Unterscheidung solle der Gesetzgeber in Betracht ziehen. Deshalb sollten seine Gesetze nur dafür sorgen, dass der Schaden wiedergutmacht werde (862a7–c4). Hingegen sei die Ungerechtigkeit aber eine Seelenkrankheit, die geheilt werden müsse (862c6–9). Die Entschlossenheit, mit der der Athener die absolute Unvorsätzlichkeit behauptet (860d5–861a2), macht es hermeneutisch schwierig, irgendeine Änderung in Platons Auffassung zu vertreten. Erstens hat der Athener die Frage nach dem eigenen Widerspruch deutlich ausgesprochen und auf den Tisch gelegt. Zweitens geht er auf die gestellte Frage mit aller Entschlossenheit ein und vertritt nicht nur auf sokratische Weise die Unvorsätzlichkeit des Übels, sondern lehnt eine mögliche und leichte Erklärung kurz ab, nämlich diejenige, nach der die Ungerechten zwar unabsichtlich ungerecht seien, viele von ihnen aber vorsätzlich Unrecht tun (860d9–e2), so dass die konkreten Ungerechtigkeiten immer absichtlich begangen werden. Drittens stellt er ausdrücklich die Frage, welche Konsequenzen seine Auffassung für die jetzt zu entwerfende Gesetzgebung hat. Der Beweis einer Änderung in Platons Denken müsste daher mit zwei hermeneutisch sehr unwahrscheinlichen Voraussetzungen arbeiten: –

Platon ist sich der Änderung seiner Position nicht bewusst oder



aus einem uns nicht ersichtlichen Grund hat er es vorgezogen, diese Änderung grob zu vertuschen.

Diese Voraussetzungen sind umso unwahrscheinlicher, wenn man bedenkt, dass der Athener im Voraus schon die Lösung andeutet: Es soll bewiesen werden, dass die Verbrechen sich durch etwas anderes unterscheiden als durch Vorsätzlichkeit und Unvorsätzlichkeit (861a3–d9). Ein weiteres Argument liegt m. E. darin, dass der Ausräumung des angeblichen Widerspruches (861e1–862c10) eine Unterscheidung zwischen

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unvorsätzlichem und vorsätzlichem Schaden vorangeht, die den ersten aus den Unrechttaten ausschließt (861e6–862a7) und im Gegensatz zu der üblichen Auffassung eine Differenz zwischen Ungerechtigkeit und Schaden feststellt (862a7–c4) und so die übliche Identifizierung zwischen Schaden und Ungerechtigkeit aufhebt. Die Auffassung der Ungerechtigkeit als krankhafter Zustand der Seele erlaubt es, die Strafen als Heilungsmittel zu betrachten, deren Wirkung eine Art Erziehung darstellt. Es ist klar, dass der Athener „Absicht“ in zwei Bedeutungen versteht: im üblichen Sinn, der sich auf die unmittelbare Intentionalität der Handlung bezieht, auch wenn diese Intentionalität in einem Missverständnis oder in einem falschen oder krankhaften Zustand der Seele ihre Ursache haben kann (862a7–863a2), und im strengen Sinn, wonach die echte Absicht nur das Resultat von Wissen und gesundem Seelenzustand sein kann (863a7– 864c8). Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit werden so als Ordnung oder Unordnung der Seele verstanden. Gerechtigkeit bedeutet nicht nur die Herrschaft des obersten Seelenteils, sondern seine wissende, gesunde Herrschaft. Dieser Abschnitt hat also den Zweck, die Frage nach dem Schaden von der Frage nach der Ungerechtigkeit zu trennen.

c) Das Ziel der Strafgesetze Im letzten Abschnitt (862d1–863a2) des ersten Teils wird das Ziel der Strafgesetze bestimmt: Sie sollen die Ungerechtigkeit aus der Seele durch Erziehung (didÜcei) und Zwang (÷nagkÜsei; 862d2) tilgen. Die Strafe erhält so eine erzieherische Funktion, die auf die Zukunft gerichtet wird: Sie soll eine Änderung in der psychischen Beschaffenheit des Verbrechers bewirken. Diese Funktion hat die Strafe auch im Falle der unheilbaren Individuen. Die ihnen auferlegte Todesstrafe soll ja nicht nur ihrem elenden Leben ein Ende setzen und ihre Reinigung im Jenseits ermöglichen, sondern auch durch das gesetzte Beispiel auf die anderen Bürger erzieherisch wirken. Sie ist außerdem für die Stadt nützlich, indem sie die Gemeinschaft von schlechten Männern (÷ndrán kakán; e6) befreit. Damit werden auch die verschiedenen Widersprüche gelöst: (1) Der Widerspruch der Menge über die Beziehung zwischen Schönem und Gerechtem verkennt die Tatsache, dass die Todesstrafe auch für den Verbrecher gut ist (vgl. 862e3–4: gignÿskwn [der Gesetzgeber] pou toƒò toioŸtoiò p@sin ¼ò ojte ažtoƒò ñti z½n åmeinon). (2) Die Unterscheidung zwischen Schädigung und Ungerechtigkeit ermöglicht es, Wiedergutmachung und Strafe auseinander zu halten und die innere Freundschaft des Staates leichter zu fördern.

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(3) Die Unterscheidung zwischen gesunder und krankhafter Absicht und zwischen gesundem und krankhaftem Zustand der Seele erlaubt auch eine abgestufte Klassifizierung der Verbrechen und der entsprechenden Strafen. Es wird außerdem eine gewisse Entsprechung zwischen dem Zustand der Seele, der Absicht der Handlung, der Handlung selbst, dem Ergebnis der Handlung und der Strafe festgesetzt, die nicht nur eine Differenzierung in den Maßnahmen der Gesetzgebung erlaubt, sondern über die einfache Entsprechung zwischen Handlung, Ergebnis und Strafe hinausgeht, denn der Gesetzgeber muss nicht nur auf den jetzigen Seelenzustand hinblicken, sondern auch auf die von der Seele erlangte Erziehung, so dass er aus der krankhaften Absicht und der Schwere der Handlung auf den psychischen Zustand (diÜqesiò) der Seele und auf ihre Heilbarkeit schließen kann. Damit wäre eigentlich die vom Athener aufgeworfene Frage schon beantwortet. d) Das psychische Fundament der Lehre (863a3–864c9) Dennoch ist die Erklärung von der Ungerechtigkeit als ungesundem Seelenzustand zu knapp ausgefallen und die Unterscheidung zwischen dem üblichen und dem sokratischen Sinn von Absicht zwar vorausgesetzt, aber nicht deutlich umrissen, ja die entsprechende Terminologie wird vom Athener sogar inkonsequent gebraucht (vgl. ÷dikeƒn mÍn, åkonta mÇn, 862a2; ÷koŸsion ÷dûkhma, a3; Åkünta, d3). Die von Kleinias geforderte Klärung, die den zweiten Teil eröffnet (863a3–864c9), zielt gerade darauf, diese Punkte zu erläutern, denn der Unterschied zwischen Ungerechtigkeit und Schädigung und die Definition ihrer Kombinationen mit Vorsätzlichkeit und Unvorsätzlichkeit sind, wie ich schon vorweggenommen habe, von entscheidender Bedeutung für die Gestaltung der Gesetzgebung. Der Athener unterscheidet zuerst drei Ursachen von Fehlern: Zorn, Lust und Unwissenheit. Von der letzten gebe es zwei Formen: Einfaches Unwissen verursache nur leichte Fehler, während Ignoranz mit dem Schein des Wissens gefährlich sein könne, wenn sie mit Macht verbunden sei; ansonsten stelle sie nur einen Fehler von Kindern und Greisen dar. Gegen diese seien leichtere Gesetze anzuwenden. Die drei Arten der Seelenaffekte (pÜnta tau~ta, 863e2) drängen jeden Einzelnen, ihnen zu willen zu sein, so dass er oft in entgegengesetzte Richtungen zugleich gerissen werde (863a7–e4). An dieser Stelle werden die drei Ursachen der Fehler erwähnt, die ja auf die drei verschiedenen Seelenarten oder Seelenteile der platonischen Psychologie zurückgeführt werden können: Epithymetikon, Thymikon und Nus. Während die zwei ersten sich dem obersten Element widersetzen und ihre Herrschaft durchzusetzen versuchen (kreûttwn í Óttwn aëtou~ ełnai), ist

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die Unwissenheit eine Abirrung des obersten Teils der Seele und wird daher vom wahren Selbst erlitten. Deshalb kann man auf ihn den Ausdruck „besser oder schlechter als es selbst“ nicht anwenden. Dieser Abschnitt schafft die Grundlage für die Definition der Ungerechtigkeit als eine Störung des natürlichen Seelenzustandes, die mit der allgemeinen Lehre der Nomoi übereinstimmt (vgl. V 728a5–c8; IX 853d6–10, 854c3–5; X 888b6–8, usw.). Ungerechtigkeit sei die Herrschaft der verschiedenen Arten von Zorn, Angst, Lust, Unbehagen, Neid und Begierden über die Seele, sei es, dass die durch sie bewirkten Handlungen anderen schädlich werden oder nicht (863e5–864a1). Bei dieser Definition der Ungerechtigkeit will ich gegen die übliche Interpretation vertreten, dass es sich um verschiedene Pathemata der drei Seelenarten handelt, d.h. um Leidenszustände, die alle Seelenarten betreffen und nicht nur die zwei unteren. Dagegen bestehe die Gerechtigkeit (864a1–b1) in der Verhaltensweise der Seelenaffekte, die eine Stadt oder gewisse Individuen für richtig hielten (êgÇswntai püliò eŁte ùdiátaû tineò; 864a2–3). Dass diese Meinung sich in den Seelenarten (yuxaƒò) durchsetze (kratou~sa; a3) und den ganzen Bürger (pÜnta åndra)3 in Ordnung bringt (diakosm½ )4, sei das Beste für ' das ganze Leben der Menschen. Gerecht sei alles, was man in diesem Zustand mache, und auch, was sich einer solchen Herrschaft unterwerfe. Auch wenn sich irgendein Irrtum oder Fehler in der Festlegung der Handlung oder in ihren Folgen ergebe, sei sie dennoch gerecht. Schäden, die aus solchen Handlungen resultieren, werden von der Menge als unvorsätzliche Ungerechtigkeit betrachtet. Die Bestimmung der Gerechtigkeit stellt die Interpretation der Passage vor die größten Schwierigkeiten. Die Satzstruktur entspricht der Definition der Adikia. Die Herrschaft der Meinung, die die Stadt oder gewisse Personen über das Beste (tou~ ÷rûstou, a1: objektiver Genetiv) haben, entspricht der Tyrannis der unrichtigen Pathemata der Seele, und die knappe Feststellung, dass Ungerechtigkeit unabhängig von den verursachten Schäden sei (863e8), hat als responsio eine erweiterte Darstellung5, die die Funktion erfüllt, nicht nur die Bedeutung dieser Definition zu erklären, son3 Ich fasse pÜnta nicht im Sinne von „jeder“, wie es normalerweise gemacht wird, vgl. Tim. 38c, Resp. 608c und KG I, S. 633 f., Anm. 8 und unten S. 100 f. 4 diakosmeƒn hat hier seine übliche Bedeutung „in Ordnung bringen“, „anordnen“ und nicht „durchwalten“ oder „regieren“, wofür es keinen Beleg gibt. Es bezieht sich, wenn meine Interpretation richtig sein sollte, auf die Ordnung, in die die verschiedenen Seelenarten durch den Nomos gebracht werden müssen. 5 Schöpsdau (1984, S. 117) hat auf die Strukturparallele zwischen den beiden Definitionen aufmerksam gemacht.

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dern auch ihre Radikalität zu unterstreichen: Das Hauptgebot ist der Gehorsam gegenüber den Gesetzen und diesen unbestimmten, aber im Geiste des Lesers klar identifizierten ùdiátai6, sei es dass sie irren, sei es dass der Einzelne bei der Ausführung ihrer Gebote fehlt. Im zweiten Satzteil kehrt der Athener in einem gedanklichen Anakoluth zur Polemik mit der üblichen Auffassung zurück, aber jetzt handelt es sich nicht um mögliche Unfälle, die unabsichtlich geschehen könnten, sondern nur um die Schäden, die bei der Anwendung des Gesetzes entstehen. Letztlich fasst der Athener die Gattungen des Unrechts zusammen (864b1–c9). Es gebe drei Arten: (a) die Klasse des Schmerzes, die Zorn und Angst einschließe, (b) die Gattung der Lüste und Begierden, (c) das „Trachten nach der wahren Meinung und der Hoffnungen, was das Beste betrifft“ (b6–7). Die letzte Gattung wird in drei Unterteile unterschieden, aus denen sich fünf Gesetzesgattungen ergeben: diejenigen, die offene und gewaltsame Taten bestrafen, und diejenigen, die auf die mit Tücke begangenen Untaten hinzielen. Der Athener erwähnt auch eine dritte Gattung von Verbrechern: diejenigen, die beide Formen kombinieren, für die er auch die schärfsten Gesetze vorsieht (c6–9). Damit wird die Frage des Kleinias über die Beziehung zwischen Ungerechtigkeit und Schädigung sowie nach der Erklärung des Freiwilligen und des Unfreiwilligen beantwortet und eine Typologie der verschiedenen Straftaten hergestellt. Der Athener begründet auch die Notwendigkeit der verschiedenen Gesetze und Strafen für die Verbrecher, die aus der Äußerlichkeit der Handlung auf die Innerlichkeit des Seelenzustandes schließt und sie mit unterschiedlichen Strafen belegt. II. Die Hauptprobleme des Exkurses Die Inhaltsdarstellung hatte den Zweck, die Interpretation der Stelle zu verdeutlichen. Im Folgenden sollen die noch zur Debatte stehenden Fragen behandelt werden, damit die Grundlage der hier aufgestellten Hypothesen überprüft werden kann. 1. qumüò in 863a3 Die vom Athener am Anfang der genaueren Begründung seiner Lehre aufgestellte Alternative über die Natur des qumüò (863b2–3) bereitet zwar 6 Unter ùdiátai sollte man nicht nur die philosophisch Ausgebildeten verstehen, sondern im Allgemeinen die besonnenen und erfahrenen Bürger und insbesondere die leitenden Figuren der Gesellschaft.

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keine ernsten Auslegungsschwierigkeiten, ist aber der Grund für verschiedene Spekulationen über Platons Seelenlehre geworden. Görgemanns (S. 137) schließt aus der Behauptung, der Thymos könne als eine Stimmung (pÜqoò) oder als ein Teil der Natur der Seele aufgefasst werden, dass „das auf verschiedene Auffassungen“ hindeutet, „wie sie sicherlich in der Akademie diskutiert wurden“. Dennoch benutzt Platon nicht nur in den Nomoi7, sondern in seinem ganzen Werk das Wort in beiden Bedeutungen. Allerdings erscheint es in den Nomoi meistens als Zorn, und, wo er als Teil der Seele verstanden werden kann, muss dies erschlossen werden, weil die Bestandteile der menschlichen Seele nirgends thematisiert werden. An unserer Stelle bezieht sich diese Alternative mehr auf die folgenden Strafgesetze, wo bei den vom Thymos verursachten Verbrechen beide Aspekte betrachtet werden müssen: zuerst der Zorn als unmittelbare Ursache der Handlung und dann der Seelenteil, der die Herrschaft über die ganze Seele mit Gewalt an sich zieht und durch die Strafe und die Furcht davor, sie nochmal erleiden zu müssen, geheilt werden muss. Wie die Inhaltsangabe deutlich gemacht hat, wird Thymos im Exkurs eindeutig als Seelenpathos verstanden. Die Alternative ist eher als ein Hinweis auf die Seelenlehre zu verstehen, die die Grundlage der dargelegten Strafrechtsauffassung ausmacht. Daraus auf eine innerakademische Debatte zu schließen, wie Andreas Graeser (S. 16, 71) und andere dies tun, oder gar auf ein gewisses Wanken in Platons Seelenlehre, wie Rees (S. 115 f.) sieht, gehört zum Gebiet der Spekulation, und der Text gibt keinen Anlass dazu.8 2. Unwissenheit und Ungerechtigkeit Einer der Hauptstreitpunkte in der Auslegung des Exkurses liegt in der Stellung, die die Unwissenheit bei der Definition der Ungerechtigkeit erhält. Auf den ersten Blick scheint sie nicht in die Bestimmung des Unrechts miteinbezogen zu sein, und in der Tat sind die meisten Ausleger dieser Meinung. Görgemanns (S. 138) denkt z. B., falsches Handeln aus Unwissenheit sei „nicht schuldhaft“ und stelle somit „ein (juristisch) ‚unfreiwilliges‘ Unrecht“ dar. Er vertritt, dass „schuldhaft und strafwürdig nur eine falsche Handlung ist, die man von sich aus durch bessere Kontrolle der Triebe hätte vermeiden können“. Eine ähnliche Auffassung vertritt Schöpsdau (1984, S. 113 f.). Beide haben sich auf die vorangehende Unterscheidung zwischen der Wirkung von Lust und Zorn auf die Ganzheit der Seele und 7

Als pÜqoò vgl., z. B., I 649d5; IV 7171d4; VI 773c7; IX 867c8; XI 929a6. Als Teil der Seele I 633d3, V 730b7, 731d1; XI 934d7. 8 Diese Interpretation wurde schon teilweise von Schöpsdau (1984), S. 112) vorweggenommen. Vgl. auch Görgemanns, S. 137.

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den Folgen der Unwissenheit (863d6–e1) gestützt. Während die Herrschaft von Hedone und Thymos als „ihnen unterlegen sein“ bestimmt wird, ist eine solche Charakterisierung im Falle der Ignoranz offensichtlich nicht möglich, weil sie ein Pathos der obersten Seelenart ist.9 Die Verteidiger der Einbeziehung der Unwissenheit unter die Ursachen des Unrechts haben zwar auf die offensichtliche Tatsache der Existenz von Delikten hingewiesen, die ihren Ursprung in der Agnoia haben, besonders im 10. Buch. Dennoch haben sie die Hauptargumente der traditionellen Auslegung an dieser Stelle nicht widerlegt. In der Aufzählung der Ursachen der Ungerechtigkeit (863e6–8) erwähnt der Athener qumüò, füboò, êdonÇ, lŸph, fqünoi, und ýpiqumûai. Wenn man diese Aufzählung mit der späteren Klassifizierung der Unrechtsgattungen vergleicht (864b2–c2), wird klar, dass Thymos, Phobos und Lype sich ganz eindeutig dem mittleren Seelenteil zuordnen lassen, genauso wie Hedone und Epithymia dem Epithymetikon. Es fehlt aber eine genaue Entsprechung für Phthonos. Es gibt eine Stelle im Philebos (48d1–50a10), wo Phthonos als Erscheinung der Agnoia vorkommt (49c8–e9), die ihre Nennung in der hiesigen Aufzählung als Pathos des obersten Seelenteils erlaubt. Einen weiteren Grund für diese Interpretation sehe ich darin, dass in der späteren Zusammenfassung Phthonos nicht wieder erwähnt wird und an seine Stelle die Umschreibung der Unwissenheit tritt. Endlich schließt das pÜnta in 863e2 alle Seelenstimmungen mit ein. Es sieht also so aus, als ob der Athener eine prägnante Aufzählung der Hauptseelenzustände angeben möchte, die zur Ungerechtigkeit führen können, wobei die drei Seelenarten durch die entsprechenden Seelenstimmungen beschrieben werden. Diese Auslegung erfordert also eine Erklärung des Wortes turannûda in 863e8. In der Tat ist es unmittelbar deutlich und wird vom einleitenden Passus (863d6–e1) und Kontext (vgl. a7–b9) bestätigt, dass die Herrschaft der unteren Seelenteile eine Unordnung darstellt und als Tyrannei bezeichnet werden kann. Im Falle der Vernunft kann man aber auch von ungesetzlicher oder unordentlicher Ausübung ihrer Befugnisse reden, wenn sie sich in einem Zustand befindet, der nicht ihrer eigenen Natur entspricht. Der Gegensatz zwischen der Tyrannei der Fehlzustände der Seele und der Arche der richtigen Meinung (864a5) hat gerade die Funktion, diesen Unterschied zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu unterstreichen, nämlich zwischen der richtigen Herrschaft eines dem Gesetz und der Meinung der Re9 Schöpsdau (1984, S. 113): „Während bei Lust und Zorn diese Ausdrucksweise sinnvoll ist, da beide durch die Vernunft beherrschbar sind, würde eine ‚Beherrschung‘ der ågnoia überdies voraussetzen, dass man seine Unwissenheit erkannt hat; ein solcher seelischer Zustand kann dann aber kaum mehr als ågnoia bezeichnet werden“.

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genten folgenden Nus und der auf der Unwissenheit beruhenden gewalttätigen und willkürlichen Regierung des Selbst zu differenzieren. In diesem Sinne ist diese Macht auch Tyrannei, weil sie ungesetzlich und dem Gesetz entgegengesetzt ist. 3. Die Beziehung der Stelle zum Marionettengleichnis Für die Gesamtinterpretation haben die drei Zeilen zwischen 863e2 und 5 eine besondere Stellung: pÜnta dÍ ge protrÍpein tau~tÜ famen eùò tÌn aëtou~ boŸlhsin ýpispÿmenon Òkaston eùò t÷nantûa pollÜkiò Ñma („Aber wir behaupten, dass alle diese sich zugleich zum Willen jedes Einzelnen wenden, so dass er oft in entgegengesetzte Richtungen hingerissen wird“).

Das Bild ist eine direkte Anspielung auf das Marionettengleichnis im 1. Buch (644d9–645a3), an das es sogar wörtliche Anklänge gibt (vgl. ýpispÿmenon in IX 863e3 und spásin in I 644e2; eùò t÷nantûa pollÜkiò Ñma IX 863e3 und ÷llÇlaiò ÷nqÍlkousin ýnantûai offsai ep’ýnantûaò prÜceiò; I 644e3). Görgemanns (137, 139) hat schon auf die Beziehung des ganzen Exkurses zu dem Marionettengleichnis im 1. Buch (644d9– 645a3) hingewiesen, und diese Beziehung ist nicht ohne Bedeutung für die Interpretation, denn der Logismos, der die Meinung der Stadt und das verinnerlichte Gesetz darstellt, ist auch ein Pathos der Seele, dem man gehorchen soll (644e4–645b3, 645b4–5). Aus dem Marionettengleichnis wird deutlich, dass die Vernunft den Logos/Logismos der Stadt in sich aufnehmen und ihm Folge leisten muss, d.h. der natürliche Zustand wird nur durch die Anpassung an das Gesetz erreicht. Dieser Auffassung zufolge besteht der Inhalt der Vernunft vornehmlich aus den vom Nomos und von den Regierenden bestimmten Meinungen. Beim gerechten Bürger ist also von Individualität oder Gewissen im modernen Sinn nicht die Rede. 4. Die Meinung über das Beste Ein sehr umstrittener Punkt ist auch die Bedeutung von tÌn d˚ tou~ ÷rûstou dücan in 864a1. Die ganze Diskussion, wie sie oben schon dargestellt wurde (S. 1 ff.), hat sich darauf konzentriert zu bestimmen, ob diese Worte eine praktische oder theoretische Bedeutung haben. Diese Charakterisierungen sind freilich sehr unscharf, und es ist nicht sehr hilfreich, ‚technisch‘, ‚praktisch‘ oder ‚theoretisch‘ zu benutzen, ohne zur erklären, was man unter diesen Begriffen versteht. Das Syntagma macht den Anfang der Definition des Gerechten aus, aber wie seine Funktion als Accusativus Graecus deutlich macht, handelt es sich dementsprechend um eine all-

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gemeine Bestimmung dessen, was der Bürger für das Beste im Allgemeinen und in jeder Situation hält bzw. halten muss. Daher kann man diese Worte weder auf das Praktische im engen Sinne noch auf das nur Theoretische einschränken. Was folgt, bezieht sich auf das Gerechte: die Meinung der Stadt oder gewisser Einzelner ist die Beschreibung des Gesetzes einerseits, wie das Marionettengleichnis beweist, und die Meinung der gut Gebildeten, die in einem gut organisierten Staat mit der im Gesetz ausgedrückten Ansicht zusammenfällt.10 Hier bezieht sich aber ùdiátai an erster Stelle auf den Gesetzgeber und auf die Magistraten Magnesiens. Gerechtigkeit bedeutet also nicht, nach eigenem (guten) Gewissen zu handeln, sondern sein Gewissen dem Gesetzesgebot anzupassen, es zu verinnerlichen und es sich zueigen zu machen (gegen O’Brien 1957). Diese Verinnerlichung des Gesetzes ist aber nicht Wissen im höchsten Sinne, sondern eine Erkenntnis, die im besten Fall aus einer guten bürgerlichen Erziehung entstammt, und ihre Tugend ist nicht philosophisch, sondern bürgerliche Arete.11 Wie es an einer Stelle des 7. Briefes heißt: ožk ån pote gÍnoito eždaûmwn ojte püliò ojt’÷nÌr oždeûò, Õò ºn mÌ metJ fronÇsewò ëp˛ dikaiosŸnh diagÜgh t˛n bûon, çtoi ýn aëtá kekthmÍnoò í ' ' ' þsûwn ÷ndrán ÷rxüntwn ýn çqesin trafeûò te ka˝ paideuqe˝ò ýndûkwò („. . . dass niemals jemand glücklich werden kann – weder eine Stadt noch ein einzelner Mann –, wenn er nicht mit Vernunft und der Gerechtigkeit untertan sein Leben führt, sei es, dass er diese Tugenden in sich selbst besitzt, sei es, dass er unter der Regierung von frommen Männern in einem guten Charakter aufgezogen und als Bürger ausgebildet wurde“, Übersetzung D. Kurz mit großen Modifizierungen; 335d4–e1).

Zusammenfassend: Die hier diskutierte Stelle der Nomoi bezieht sich also auf die zweite Art von Gerechtigkeit, nämlich diejenige, die vom Gesetz in die Seele eingeprägt wird und die mit der Ansicht der Verständigen übereinstimmt. Es ist also Wissen, aber kein absolutes Wissen, es ist bürgerliches Wissen und in gewissem Sinne theoretisch und praktisch zugleich. Die Stelle des 7. Briefes macht auch die Existenz einer guten Regierung zur Bedingung der Gerechtigkeit, was in den Nomoi nicht so deutlich zum Ausdruck kommt. In ihnen wird das Gebot, den Gesetzen zu gehorchen, stärker betont. 10

Selbstverständlich sind auch die Philosophen mitgemeint. Platon weist in den Nomoi auf die Existenz von Menschen hin, die in anderen Städten leben und deren Bekanntschaft nützlich für Magnesien sein kann (XII 951a7b–c3), und unter denen vor allem die philosophisch Gebildeten zu verstehen sind. Der Satz ist also weit davon entfernt, „die ruhige Überlegung über das, was zu tun Recht und Pflicht sei“ zu bedeuten, wie es Ritter (1896, 283) interpretiert hat. 11 Über die Funktion des Nomos in der Erziehung und seiner Beziehung zur volkstümlichen Arete vgl. Lisi ( 1985), S. 347–358.

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5. toŸtwn in 864a2 Besonders problematisch ist die Interpretation vom toŸtwn in 864a2. Wie Saunders (1968, S. 432) feststellt, „no one has been able to make anything of toŸtwn“ (vgl. England II, S. 406). Die verschiedenen Konjekturen von Cousin bis Bury spiegeln diese Tatsache wider. Die Korrektur von A in tou~ton, anscheinend von derselben Hand des Kopisten, zeigt nicht nur, dass der Passus schon seit langem problematisch ist. Es kann auch bedeuten: (a) Der Kopist hat die Handschrift mit einer anderen kollationiert und eine varia lectio gefunden. (b) Die Stelle war im Archetyp korrupt und schwer verständlich. (c) Der Archetyp enthielt schon die varia lectio. (d) Es handelt sich um eine Konjektur des Schreibers selbst. Man kann über den Zustand des Archetyps nur spekulieren, vor allem, wenn man die Lage der Textüberlieferung in Betracht zieht. Dennoch kann das tou~ton, soweit ich sehe, nur auf das pÜnta åndra in a3 bezogen werden, eine unwahrscheinliche, aber nicht unmögliche Konstruktion, die den Vorteil hat, das Prinzip der lectio difficilior nicht zu brechen und paleographisch aus dem Diktat leicht zu erklären zu sein. Sowohl Cousins tou~to als Hermanns tou~to g’ – paleographisch besser –12 beziehen das Wort auf tou~ ÷rûstou in a1. Sie geben eine einfachere und deshalb verdächtigere Lesart wieder. Bury schlug eine sehr einfallsreiche Konjektur vor: ñfesqai toŸtou statt ñsesqai toŸtwn, und bezog toŸtou auf tou~ ÷rûstou. Das ñfesqai ist zwar sehr erfindungsreich, aber das toŸtou ist eine freilich unnötige lectio facilior. Diese Konjektur wurde von Diès und von Saunders (1968, S. 432) aufgenommen. Trotzdem hat Schöpsdau (1984, S. 118 f., Anm. 37) richtig darauf hingewiesen, dass der Aorist sich schwer mit dem ýlpûdwn von b6 vereinbaren lässt. Der Bezug des toŸtwn auf tou~ ÷rûstou, wie es Ast (II, S. 446) will, ergibt keinen richtigen Sinn, wie es schon Stallbaum bemerkt hat, geschweige denn wenn man es von êgÇswntai abhängig macht, wie es Ast vorschlug. Deshalb halte ich Hermanns Konjektur für die bisher beste. Dennoch spricht die Korrespondenz Õph. . .taŸth dagegen. '

'

In der Tat scheint das in a5–6 vorkommende t˛ t½ò toiaŸthò årx½ò gignümenon ëpÇkoon ÅkÜstwn für die Mehrzahl zu sprechen: Es sieht so aus, als ob der Bezug die verschiedenen Seelenstimmungen wäre, d.h. „[i]n der Art und Weise, wie die Stadt oder gewisse Individuen denken mögen, dass es [das Beste] ihnen [den Seelen-Pathemata, bzw. Seelenteilen] eigen sein wird“, bzw. wie sie festsetzen, dass die Seelenarten in jeder Situation affiziert werden und sich verhalten sollen. Ein anderes Indiz spricht, m. E., für die Aufrechterhaltung des überlieferten Textes, nämlich die Beziehung 12 Dieser Konjektur folgen Stallbaum, III, S. 52; England, II, S. 402 f., und O’Brien, S. 86.

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zwischen yuxaƒò und pÜnta åndra in c3. Auch wenn er nicht unmöglich ist, klingt der Bezug eines in der Mehrzahl stehenden und adverbial benutzten Substantivs zu einem in der Einzahl und allgemein verstandenen pÜnta åndra sehr merkwürdig. åndra soll an erster Stelle zeigen, dass es sich nicht um jeden Menschen handelt. Platon hat hier das Verhalten der Bürger des Staates vor Augen. Das mit adverbialer Bedeutung benutzte ýn yuxaƒò lässt sich in diesem Kontext als eine Referenz auf die drei Seelengattungen verstehen, wie sie im Timaios vorkommen.13 pÜnta könnte in diesem Zusammenhang auf die Ganzheit des einzelnen Bürgers bezogen werden. 6. kºn sfÜllhtai in 864a4 Wesentlich umstrittener ist die Phrase kºn sfÜllhtaû ti in 864a4, wie die einleitende Darstellung des Forschungsstands gezeigt hat. Die Hauptfragen lauten: (a) Beinhaltet sfÜllhtai eine Form der in 863c1–d4 behandelten ågnoia, wie Ritter (S. 283 f., 286), Schöpsdau (1984, S. 21 f. ) und andere interpretieren, oder nicht? (b) Worauf bezieht sich die Wendung: auf pÜnta åndra in a3 oder auf die früher definierte tou~ ÷rûstou düca? (c) Welche Bedeutung hat sfÜllhtai? Gegen die Auffassung, die in sfÜllesqai die Folge des Unwissens sieht, spricht an erster Stelle die Parallele mit der Bestimmung der Adikia (863e8): Die auch da in Eventualis verfasste Protasis unterstreicht, dass die Ungerechtigkeit nicht vom äußeren Ergebnis der Handlung bestimmt wird, sondern von der inneren Tyrannei der irrigen Pathemata. Dementsprechend bezeichnet sfÜllhtai auch das Ergebnis, dessen Qualität vom inneren Zustand beeinflusst wird: Unabhängig davon, ob es verfehlt oder nicht, ist eine mit einem geordneten Zustand der Seele realisierte Handlung gerecht. Der Kontext zwingt also dazu, im sfÜllhtai nicht einen aus der Ignoranz folgenden Fehler zu sehen. Die meisten Interpreten beziehen das Verb auf den Inhalt der Meinung über das Beste (so etwa Stallbaum, III, S. 53; Ritter, S. 283; Görgemanns, S. 138 f.; Saunders 1968, S. 431 f.; Schöpsdau 1977, II, S. 209; 1984, S. 121 f., wenn ich ihn richtig verstehe). Sie behaupten mit verschiedenen Nuancen, die Wendung drücke aus, dass die in a3–4 umschriebene Meinung eine „irrige Vorstellung“ (Ritter, S. 283) beinhalten könne. Andere, wie England (II, S. 403) und O’Brien (S. 86), geben ihr eine unpersönliche Be13 Im Timaios sind die Seelen-pathemata die Elemente, aus denen die sterblichen Seelengattungen gemacht werden (vgl. 69c5–d6 und über die Seelenlehre des Timaios: Lisi 2006 und 2007). Der Exkurs zeigt eine dem Timaios sehr nahe Psychologie.

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deutung, „even in case some damage ist done“ (England, II, S. 403). Eine dritte Auffassung (Adkins, S. 308 f.) bezieht de facto den Satz auf pÜnta åndra, indem sie ihn als Fehler des Einzelnen und nicht der Meinung über das Beste interpretiert. Eigentlich gibt es Gründe, alle Interpretationen zu vertreten, denn die Phrase, so wie sie formuliert ist, ist zweideutig, wobei die Auswahl des Verbes nicht ohne Absicht ist: Die Vorstellung des Schadens, die später in einem starken gedanklichen Anakoluth wiederaufgenommen wird, ist sorgfältig vermieden. sfÜllhtai kann sowohl auf den Fehlschlag der menschlichen Handlung hinweisen als auch auf die Unvollkommenheit der Verordnungen, oder gar einen ungewollten Schaden bezeichnen. In diesem Zusammenhang wäre es vielleicht ratsam, tû als Subjekt von sfÜllhtai aufzufassen 7. ñfesiò in 864b7 Die Bedeutung von ñfesiò in 864b7 ist ebenfalls Gegenstand einer Debatte gewesen. Verschiedene Konjekturen sind angeboten worden, von denen ich hier nur einige betrachten werde. Man hat es als anstößig empfunden, dass die wahre Meinung Gegenstand des Trachtens oder Strebens sein könne. Ritter und Gernet (S. 109 f.) sind der Ansicht, dass die Wendung eine Umschreibung des schon behandelten ºn sfÜllhtaû ti ist und sich auch auf die am Anfang der Gerechtigkeitsdefinition erwähnte Meinung über das Beste bezieht. Schöpsdau (1984, S. 118, Anm. 36) schließt sich dieser Interpretation an, schlägt aber vor, ýlpûdwn und düchò t½ò ÷lhqou~ò als subjektive Genetive von ñfesiò aufzufassen, und per˝ t˛ åriston als Angabe des Gegenstandsbereiches des Strebens zu nehmen. Auch wenn diese Interpretation möglich ist, darf man ihr die Frage entgegenhalten, warum gerade der Gegenstand des Strebens nicht im Genetiv steht, wie es üblich ist, sondern in einer präpositionalen Konstruktion ausgedrückt werden soll, die noch dazu gerade zu dem in zweiter attributiver Stellung stehenden Adjektiv ÷lhqou~ò passt, das neben ihr steht. In der obigen Inhaltsdarstellung sind ýlpûdwn und düchò t½ò tou~ ÷lhqou~ò als Hendyadis aufgefasst, aber diese Auslegung ist nicht notwendig. Immerhin ist die Hendyadis eine bei Platon ziemlich übliche Figur. Im Marionettengleichnis ist die Hoffnung oder Erwartung eine Art von Meinung, die Meinung über das Zukünftige. Der Nomos ist die Ansicht, die den Wert solcher Erwartungen einschätzt. Er kodifiziert gerade, was das Beste in einer bestimmten Situation ist und wie man handeln soll. Wenn man die Hendyadis nicht akzeptieren will, sollte man per˝ t˛ åriston als ÷p˛ koinou~ auffassen. Wie soll man denn das Trachten nach der richtigen Meinung der Hoffnungen über das Beste verstehen? Sicherlich betrifft diese Bestimmung sowohl den Gerechten als auch den Ungerechten. Beide möchten, dass der In-

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halt ihrer Erwartungen sich bewahrheitet. Diese Auffassung scheint aber im Widerspruch zu der Erwartung zu stehen, dass hier eine Umschreibung der Ignoranz angegeben werden soll. Dennoch ist diese die ganze Forschung beherrschende Vorstellung m. E. irrig. Die Klassifizierung der anderen Gattungen bezeichnet auch nicht unbedingt fehlerhafte Zustände: Lype und Hedone sind an sich keine negativen Bestimmungen, sie sind es nur in gewissen Situationen. Lype, Hedone und die entsprechenden Meinungen können sowohl der Ursprung von Arete als auch von Kakia sein (vgl. I 636d4–e3; II 653a5–b1). In dieser Hinsicht steht das Trachten hier im Verhältnis zu der Ansicht des Besten in 864a1, die auch einen allgemeinen Charakter hatte. Auf jeden Fall entsprechen die drei Arten von Fehlern den drei verschiedenen Pathemata, die früher beschrieben wurden und zu denen auch die Unwissenheit gehört. Im folgenden Text wird die Ignoranz in drei Unterarten geteilt (b8–c1). Die daraus resultierenden fünf Ursachen von Verbrechen können drei verschiedene Arten von Untaten verursachen, je nachdem, wie die Verbrechen begangen werden, die durch entsprechende Verordnungen geregelt werden. Das sokratische Prinzip wird jedoch aufrechterhalten, indem alle Verbrechen eine Seelenkrankheit voraussetzen, die eine Verblendung bzw. Unwissenheit über das echte Gute impliziert. III. Die Beziehung zwischen dem Exkurs und dem Rest der Nomoi Es ist hier nicht möglich, der im Exkurs vetretenen Auffassung in allen Einzelheiten in den Nomoi zu folgen, denn dies würde eine eigene Abhandlung erfordern, wie es die Arbeiten von Saunders (1991) und Mackenzie (1981) z. T. zeigen. Ich möchte aber auf einige Stellen hinweisen, die auch Licht auf den Passus im 9. Buch werfen. Bei der allgemeinen Vorrede zu der Gesetzgebung (V 726a1–734e2) kommt eine Stelle (731b4–732b4) vor, wo die Lehre von der Unvorsätzlichkeit der Ungerechtigkeit ausdrücklich vorgetragen wird: „Was . . .die Vergehen derer betrifft, die zwar Unrecht begehen, jedoch heilbares, so gilt es zuerst einzusehen, dass jeder Ungerechte unfreiwillig ungerecht ist. Denn von den größten Übeln wird doch niemand auf der ganzen Welt jemals auch nur eines freiwillig besitzen wollen, und am allerwenigsten in dem, was von dem Seinigen das wertvollste ist. Die Seele aber ist. . . für alle das wertvollste, in das Wertvollste wird also wohl niemand das größte Übel jemals freiwillig aufnehmen und sein ganzes Leben mit diesem Besitz zubringen“ (731c1–6; Übersetzung Schöpsdau 1977).

Die Auffassung, dass die Ungerechtigkeit eine Krankheit ist, wird durch die medizinische Terminologie unterstrichen, indem sie als ein Übel in der Seele auftritt, das heilbar (ùatÜ; 731c1) oder unheilbar sein kann.

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Der Thymos ist notwendig, sowohl um die eigenen Fehler zu vermeiden, als auch um die Irrtümer der anderen zu heilen. Die größte Quelle der Fehler findet sich in der Seele selbst, denn die bedingungslose Selbstliebe ist der Ursprung der ÷maqûa, die als scheinbares Wissen auftritt: „Die Folge ist, dass wir, obwohl wir genau genommen so gut wie nichts wissen, dennoch alles zu wissen glauben, und weil wir nicht anderen das auszuführen auftragen, was wir nicht verstehen, begehen wir zwangsläufig Fehler, wenn wir es selbst ausführen“ (732a6–b2; Übersetzung Schöpsdau 2003).

Diese Charakterisierung der Amathia ist komplementär zu jener der Agnoia im 9. Buch und zeigt, dass sie als bedingungslose Selbstliebe auch die von Hedone und Thymos verursachten Fehler begleitet, d.h. bei allen Fehlern muss man das Vorhandensein der Unwissenheit voraussetzen, das die Tyrannei der unteren Teile der Seele ermöglicht (vgl. oben S. 97).14 Eine andere, frühere Stelle in der allgemeinen Vorrede (728a3–728c8) erklärt auch den Sinn der schwierigen Zeilen von 865a1–3. Derjenige, wird da behauptet, der nicht mit allen Mitteln vermeide, was der Gesetzgeber als schändlich und schlecht bestimme, und seine ganze Fähigkeit und Kraft darauf einsetze, das zu betreiben, was im Gesetz als gut und schön definiert werde, wisse nicht, dass er die Seele entehre, obwohl diese das Göttlichste sei. Der Gesetzgeber und das Gesetz bestimmen den Inhalt der Arete, und die Verkennung dieser Werte ist eine Form von Unwissenheit, deren größte Strafe darin besteht, den Schlechten zu ähneln. Auf die Beziehung des Strafrechtsexkurses zum Marionettengleichnis (I 644d7–645c6) habe ich schon oben hingewiesen. Der Nomos wird da als der konkrete Inhalt der „goldenen und heiligen Leitung der vernünftigen Überlegung“ (tÌn tou~ logismou~ ÷gwgÌn xrusÌn ka˝ ÁerÜn; 645a1) bestimmt. Die Erziehung soll gerade diese Richtlinien des Gesetzes in die Seele der Kinder einprägen, und erst später wird dieser Inhalt mit der Vernunft begriffen und zur vollkommenen bürgerlichen Tugend entwickelt (II 653a5–c4). Sie muss im Kind die Liebe zu diesen Werten erwecken (vgl. I 643c8–d3), so dass es zu einem guten Bürger werden will. Deutlich werden hier bürgerliche Phronesis, Nous und Gerechtigkeit als die Herrschaft der Gebote des Gesetzes in der Seele, wie es sich aus dem Exkurs des 9. Buches ergeben hat. Die Liebe zu diesen Werten ist das Gegenteil der Selbstliebe, und Unwissenheit bedeutet in diesem Zusammenhang die Verkennung dieser Werte und die Verblendung, die das Trachten des eigenen Interesses gegen das Gemeinsame verursacht. 14 Diese Stelle ist außerdem eine implizite Bekräftigung des Gerechtigkeitsprinzips t˛ tJ Åautofl prÜttein, wie es in der Politeia vorkommt, und macht die Unwissenheit zur Zerstörungsursache jeder politischen und gesetzlichen Ordnung.

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IV. Platon und die rule of law Diese knappe Übersicht über einige Stellen der Nomoi wirft genügend Licht auf einige Punkte der platonischen Auffassung, die der modernen Anschauung diametral entgegenstehen, deshalb schwer verständlich sind und viele noch heute bestehende Missverständnisse erklären. An erster Stelle ist der Unterschied der platonischen Lehre der rule of law zu der modernen zu bemerken. Die Herrschaft des Gesetzes bedeutet für Platon nicht eine Instanz, die die Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft garantiert, sondern die Verinnerlichung eines Gebotes, die als Gewissen des Individuums fungiert. Sie gewährleistet nicht die individuelle Freiheit, sondern sichert soweit wie möglich die einheitliche Auffassung der Gesellschaft, damit die höchstmögliche Einheit erlangt werden kann. Dies bedeutet vor allem die Unterwerfung des Einzelnen unter das Gemeinschaftsinteresse. Diese ideologische Identifizierung des durchschnittlichen Bürgers mit dem Staatsgebot – sei es im privaten oder im öffentlichen Leben – ist der Kern der platonischen Doktrin. An der betreffenden Stelle kann also keine Rede vom ‚Gewissen des Einzelnen‘ im modernen Sinn sein. Mit anderen Worten ausgedrückt, es gibt keine Persönlichkeit und kein Selbst in modernen Sinn: Das Individuelle ist Ursprung des Übels und Ausdruck der sterblichen Seelengattungen, um die Sprache des Timaios zu benutzen. Erst durch die Verinnerlichung des Gesetzes werden die Menschen zu echten Menschen. Das Gesetz ist der nötige Ersatz der Herrschaft der Vernunft, die nur wenige und außerordentliche Naturen erreichen können (vgl. Leg. IX 874e7–875d5). Diese Haltung erklärt die Bedeutung, die die Erziehung in Platons Werk besitzt, und besonders die erzieherische Funktion, die das Strafrecht enthält: Es wird zu einem Werkzeug, um das Gesellschaftsgebot in die Seele des Einzelnen zu prägen und die Ordnung in der Seele wiederherzustellen. Die Heilung besteht aus dieser gewaltsamen Unterordnung des Einzelnen unter den Gesetzeszwang, wenn alle anderen Mittel gescheitert sind. Es gibt kein Selbst im modernen Sinn, keine rationale Individualität, die jenseits des Gesetzes fortschreiten kann: Die individuelle Seele muss so weit wie möglich die allgemeine Norm widerspiegeln, und dafür zu sorgen, ist die Aufgabe der Politik. Diese Auffassung kann auch die Haltung des Sokrates im Kriton erklären: Rationalität besteht darin, der gemeinsamen Norm des Staates Folge zu leisten, auch wenn ihre Konsequenzen im individuellen Fall schädlich bzw. irrig sein können.

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Nomoi, 884a–899d Wovon man den Rechtsbrecher (noch heute) überzeugen muss Von Andreas Eckl „. . . dass der Gesetzgeber sowohl beim Beginn der Gesetze insgesamt stets verpflichtet ist, sie nicht ohne Vorrede zu lassen, als auch bei jedem einzelnen Gesetz, . . .“ (Legg. 723b)

Der moderne Rechtsstaat gründet sich auf seine Gesetze. Die Bundesrepublik Deutschland hat im Grundgesetz ihre Verfassung. Für die Verfassungswirklichkeit und den Alltag der Rechtsordnung sind Bürgerliches Gesetzbuch, Strafgesetzbuch, Strafprozessordnung, das Verwaltungsrecht etc. jedoch kaum weniger wichtig. Sowohl das Grundgesetz als auch die anderen, ins einzelne gehenden Gesetzestexte und Gesetzbücher enthalten nun aber ausschließlich – abgesehen vielleicht von der kurzen Präambel des Grundgesetzes – Bestimmungen und Normen. Argumentationen und Begründungen für die Bestimmungen und Normen dagegen, die den zweifelnden oder zum Rechtsbruch geneigten Bürger überzeugen, an seine Vernunft und Einsicht appellieren, für seine Zustimmung zum Rechtssystem im allgemeinen und besonderen werben könnten, finden sich hier nicht. Wir suchen sie dort auch nicht, weil wir uns daran gewöhnt haben, dass sich das Rechtssystem um unser mitgehendes Rechtsverständnis nicht bekümmert. Kollisionen gilt es zu vermeiden, ansonsten bleiben wir unsererseits auf Distanz. Die Texte der Gesetzeswerke, auch der Gesetzentwürfe, überlassen wir der Interpretation durch die Juristen, die in den Kommentarwerken und aktuellen Begründungen der Gesetzesvorlagen ihre Bedürfnisse nach Rechtfertigung der Gesetze vollständig befriedigen werden. Uns fallen in dieser Lage Identifikationen mit dem Geist der Gesetze oder der Vernunft, die in ihnen liegt und zum Ausdruck kommt, eher schwer. Für den Leser der Platonischen Nomoi ist völlig klar, dass dies ein Defizit der Gesetze, der Gesetzeswerke und damit auch des Gesetzgebers ist. Der Leser der Nomoi hat nämlich Platons Analogie vor Augen, dass Gesetzgeber, die nur Bestimmungen, keine Begründungen vortragen, zu Gesetzgebern, die auch überzeugende Begründungen geben, im selben Verhältnis stehen wie die Ärzte, die nur durch die Anwendung technischer Mittel

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heilen, zu den Ärzten, die bei der Heilung auf die Beteiligung von Einsicht und Vernunft des Patienten setzen (vgl. Legg. 719e-720e, 857c–e)1. Im Zeitalter der Apparatemedizin sowie der verbreiteten berechtigten Kritik an derselben ist diese Analogie sofort eingängig. Darüber hinaus hat Platon mit den einzelnen Proömien in den Nomoi auch ebensoviele Muster vorgelegt, die zu erkennen geben, wie viel durch solche allgemein-vernünftigen Rechtfertigungen für das Verständnis und die Akzeptanz wirklich zu gewinnen ist.2 Von dieser Erfahrung aus ist das Defizit von Gesetzeswerken, die nur Bestimmungen enthalten, spürbar. Wird man umgekehrt einwenden können, dass nur ein Leser der Platonischen Nomoi das Fehlen von überzeugenden Begründungen und Rechtfertigungen für die Gesetze unserer Gesetzeswerke überhaupt registrieren und dann monieren wird? Ich glaube nicht: Nachdem der erste Versuch, einen europäischen Verfassungsvertrag zustande zu bringen, gescheitert war, hat man Erklärungen gefunden, die im Ergebnis auf dieselbe Kritik hinauslaufen: Das Hauptdefizit des ganzen Projektes des Europäischen Verfassungsvertrags lag darin, dass der Souverän in den einzelnen europäischen Staaten die politische Vernunft in dem Geist des Entwurfs nicht verstanden hat. Dem Text der Gesetze bzw. des Entwurfes war seine allgemein-vernünftige Begründung und Rechtfertigung nicht zu entnehmen. Man hat sich diesbezüglich ganz auf die begleitende Überzeugungsarbeit durch die Medien der politischen Willensbildung verlassen, die aber letztlich zu wenige und zuwenig erreicht hat. Bei entsprechender Analyse kann man von solchen Fällen aus also durchaus auch ohne Nomoi-Lektüre zu dem Platonischen Ergebnis kommen, dass den Gesetzeswerken, neuen wie bestehenden, überzeugende, allgemeine Akzeptanz erzeugende Rechtfertigungen und Begründungen beigegeben werden müssen.3 Im Fall des Verfassungsvertrages hat 1 Der griechische Text wird zitiert nach der Ausgabe von Burnet (Platonis Opera, Tomus V, 1 u. 2, hrsg. v. Ioannes Burnet, Oxford 1907). Als deutsche Übersetzung wird die von Klaus Schöpsdau zugrunde gelegt (Platon, Werke 8/1 und 8/2, Nomoi, Tomoi 1–6 bzw. 7–12, Sonderausgabe der 2. Aufl., Darmstadt 1990). 2 Görgemanns sieht die Proömien auf Grund ihrer Anlage zur „rhetorisch-dichterische(n) Mahnung“ (Görgemanns, Herwig, Beiträge zur Interpretation von Platons Nomoi, München 1960, S. 85) in einem Spannungsverhältnis zur Philosophie, gesteht aber zu, dass es auch besonders philosophische Proömien im Text gibt. Dort sollen die Bürger „die Gedankengänge des Gesetzgebers selbst kennenlernen und so zu einem kritischen Urteil über den Wert verschiedener gesetzlicher Bestimmungen geführt werden“ (ebd.). Genau dies wäre meines Erachtens das Ziel, das durch alle Proömien angestrebt werden sollte und uns durch Platon erstmalig vor Augen gestellt wurde. Vgl. Apelt, Otto, Einleitung, in: Platon, Gesetze, übersetzt und erläutert von Otto Apelt, Leipzig, Neudruck Hamburg 1993, S. X, der hervorhebt, dass die Verbindung von Proömium und Gesetz Platons „eigenste Erfindung“ ist. 3 In seiner „Theorie des Rechts“ führt Koller das Moment der „Überzeugung sowohl der Machtträger als auch zumindest eines Teils der Normunterworfenen, dass

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man diese Lehre auch gezogen und Werbekampagnen ins Leben gerufen, die dem Projekt, dem man zuallererst schon einmal einen neuen Namen, „Reformvertrag“, gegeben hat, affektive Unterstützung sichern, die Identifikation des Souveräns in den einzelnen Ländern mit dem Vertragswerk erleichtern sollen. Wenn man nur am Ergebnis orientiert ist, muss man sich den Erfolg dieser Kampagnen wünschen – aber wie aufklärerisch nimmt sich demgegenüber der Vorschlag Platons aus, den Gesetzen direkt Texte beizustellen, die sich noch dazu an Einsicht und Vernunft nicht der juristischen Fachleute, sondern der Bürger wenden? Die skizzierte Lage, dass unseren Gesetzeswerken und Gesetzentwürfen allgemein-verständliche Begründungen und Rechtfertigungen nicht direkt beigegeben sind, solche Begründungen aber, wie sich zeigt, notwendig, bei uns jedoch den Medien der politischen Willensbildung einfach überlassen bleiben, soll den Hintergrund des folgenden bilden. Hier möchte ich die Platonischen Überlegungen im X. Buch der Nomoi auswerten, um festzustellen, was man überhaupt vortragen müsste, um Akzeptanz für und eine Identifikation mit Gesetzeswerken zu erreichen. Dies ergibt zugleich eine Vorstellung, was Regierungserklärungen, Berichte in Rundfunk, Fernsehen, Internet und Zeitungen leisten müssten, wahrscheinlich aber strukturell nicht erreichen können, da zweifellos über den Tag hinaus, aber auch über kurz- bis mittelfristige Perspektiven und Interessen von Partialgruppen hinaus gedacht werden muss. Meine Auswertung konzentriert sich dabei lediglich auf Argumente zugunsten der Akzeptanz von Gesetzeswerken überhaupt und im allgemeinen. Genau dafür nämlich liefert meines Erachtens Platons Argumentation im X. Buch Material. Und gerade hierin finde ich die wichtigste Lehre, die wir aus den Nomoi ziehen können. Es geht dabei keineswegs darum, die juristische Fachsprache allen Bürgern zugänglicher und verständlicher zu machen, was sicher auch eine gute Zielsetzung wäre, sondern darum, den nicht-positivistischen Sinn von Recht und Gesetz noch einmal zu erklären und mit allgemein-vernünftigen Normen zu vermitteln. Der Zusammenhang, in dem Platon seine Argumentation entwickelt, ist bekanntlich der, eine bestimmte Sorte von Tätern oder Rechtsbrechern, nämlich die, die gegen die Götter, gegen Heiligtümer oder heilige Einrichtungen freveln (vgl. Legg. 884–885b), zu überzeugen, dass sie besser und aus Einsicht davon wieder Abstand nehmen. Weil diese offensichtlich nicht an die Heiligkeit der Götter und Einrichtungen glauben, strengt der Athener als Sprachrohr des Platonischen Denkens den Gottesbeweis in seinen drei die rechtlichen Anordnungen eine Rechtfertigung für sich haben, aus der sich ihre Verbindlichkeit oder Verpflichtungskraft ergibt,“ unter den ganz grundlegenden Voraussetzungen, „um ein wirksames System von Normen als Recht bezeichnen zu können“ (Koller, Peter, Theorie des Rechts. Eine Einführung, 2. verb. u. erweit. Auflage, Wien/Köln/Weimar 1997, S. 44, vgl. ebd. 59 f.).

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Stufen an, 1. dass es Götter gibt. Dies ist der Teil, den allein ich im folgenden betrachten will. 2. dass ihnen auch wirklich die Verhältnisse auf Erden nicht gleichgültig sind, und 3. dass man sie sich nicht so menschlich vorstellen dürfe, als ob sie bestechlich wären und sich von ihren göttlichen Entscheidungen durch Geschenke oder andere Verlockungen abbringen ließen.4 Auf diesen Zusammenhang dürfen freilich die vorgetragenen Überlegungen nicht festgelegt sein, wenn man sie in der soeben angezeigten Richtung auswerten möchte. Und sie sind es auch nicht. Sie ragen vielmehr aus diesem engeren Zusammenhang schon innerhalb der Nomoi heraus (vgl. Legg. 890b–c). Tätlichkeiten gegen Götter und Heiligtümer sind nämlich wegen der Göttlichkeit der Gesetze, die an vielen Stellen auf vielerlei Art behauptet wird (vgl. Legg. 713a, 762e, 957c)5, nicht nur Verleugnungen der Götter, sondern auch der Gesetze selbst und überhaupt in aller Allgemeinheit. Ein Gottesbeweis ist deshalb auch ein Beweis für die Existenz ‚göttlich-heiliger‘ Gesetze (vgl. Legg. 887b–c). Unter den durch die Argumentation angesprochenen Tätern und Rechtsbrechern wiederum hat man sich einen viel weiteren Kreis von Personen vorzustellen, nämlich nicht nur die, die gegen Gesetze und Vorschriften für das Verhalten gegenüber Göttern und Heiligtümern verstoßen haben oder daran zweifeln, sondern auch die, die gegen die vorgeschriebene Haltung gegenüber Heiligtümern im übertragenen Sinne, also gegen die Göttlich- bzw. Heiligkeit der Gesetze, verstoßen haben oder an ihnen zweifeln. Selbstverständlich würden wir heute nicht mehr von „Göttlichkeit“ oder „Heiligkeit“ der Gesetze reden. Die Säkularisierung ist weit fortgeschritten, aber sogar bei uns gibt es im Bereich des Rechts noch Symbolgebräuche, die belegen, dass wir die Sphäre des Rechts gegenüber dem Profanen besonders auszuzeichnen und von ihm besonders abzuheben wünschen – dies vor allem dort, wo der Einbruch der Profanität am nächsten liegt, wo sich der Eindruck einer gewissen Unheiligkeit und Abhängigkeit von menschlicher Schwäche dadurch aufdrängen kann, dass Menschen unübersehbar Einfluss nehmen, d.h. in der Rechtssprechung, vor Gericht. Die angreifbare Würde des Gerichts wird symbolisch gestützt: Man hat sich zu erheben. Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte tragen Roben etc. Die Wirkung auf das Publikum scheint auch durchaus noch gegeben.6 Es liegt also nicht 4 Legg. 885b; vgl. Rep. 362d–367e und Görgemanns, Nomoi, a. a. O. (A. 2), S. 86 mit A. 3. 5 Vgl. Schöpsdau, Klaus, Einleitung, in: Platon, Nomoi (Gesetze), Buch I–III, Übersetzung und Kommentar von Klaus Schöpsdau (= Platon, Werke, IX 2, Nomoi), S. 130, u. seine Anmerkung in: Platon, Werke 8/1, a. a. O. (A. 1), S. 247, A. 30. 6 Es bedarf schon eines besonderen Aktes, um sie zu mindern oder gar aufzuheben. Das einfache Sitzenbleiben dürfte nicht ausreichen, da in diesem Fall die Aufforderung, sich zu erheben, einfach nur bis zur Erfüllung der Forderung wiederholt

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ganz fern, sich Recht und Rechtsprechung von einer Aura umgeben vorzustellen, die ihnen eine quasi-göttliche Unantastbarkeit sichert und sie vor Willkürakten ihrer Verächter schützt. Weniger greifbar als die symbolischen, die Würde des Gerichts hervorhebenden Einrichtungen, aber ebenso eindeutig scheint mir unsere Einstellung zum Grundgesetz zu belegen, dass wir bereit sind, der Sphäre des Rechts unter Umständen eine besondere, nicht-profane Geltung zuzubilligen. Ansätze und Versuche zur Änderung des Grundgesetzes haben höhere, auch affektive Widerstände zu überwinden, nicht nur die rechtlich-gesetzlich ohnehin schon hohen Hürden des Verfahrens mit seinen Bedingungen u. a. der Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten. Die Integrität des Grundgesetzes wird als besonders wichtig erachtet; Habermas’ Aufruf zum „Verfassungspatriotismus“ – das Wort stammt von Dolf Sternberger –, sein Appell, patriotischen Stolz in Deutschland nur mehr mit Bezug auf unser Grundgesetz zuzulassen, durfte deshalb durchaus realistisch auf Akzeptanz hoffen. Es ist deswegen nicht so, als ob das Grundgesetz, unsere Verfassung, nicht dennoch eher Angriffen ausgesetzt und die Würde des Gerichts nicht immer weniger verstanden würden, zumal unsere Gesetzeswerke ja, wie anfangs angedeutet, der Distanzierung dadurch Vorschub leisten, dass sie keine allgemein-vernünftigen Rechtfertigungen und Begründungen enthalten. Nun – diejenigen, die an der Besonderung der Sphäre des Rechts zweifeln: das wären die modernen oder gegenwärtigen Adressaten des modernisierten, für die Zwecke unserer Gegenwart rekonstruierten platonischen „Gottesbeweises“ mit seiner Argumentation für das Göttliche Gesetz auch im übertragenen Sinne. I. Widerlegung des Materialismus und des Positivismus durch den Nachweis des Vorrangs alles Seelisch-Geistig-Gesetzlichen Gleich zu Beginn und innerhalb der einleitenden Überlegungen zum Gottesbeweis – ich werde weiter der Einfachheit halber wie Platon von „Gott“ und „Göttern“ sprechen, wir sind jedoch vorbereitet, dass es sich im Grunde um eine Argumentation für die praktische Vernunft und ihre Verbindlichkeit handelt – gleich zu Beginn also findet sich eine methodische Vorbemerkung, die uns den Zeitsprung erleichtert und wie auf unsere aufgeklärt-säkularen Zeiten zugeschnitten erscheint: „Sollen wir uns verteidigen, als würde uns jemand vor gottlosen Menschen anklagen, welche, um sich ihrerwerden muss. Der Witz des angeklagten Berliner Kommunarden, Fritz Teufel, der sich 1967 auf die Forderung des Richters hin erhob, aber den Kommentar folgen ließ: „Wenn’s der Wahrheitsfindung dient . . .“, ist dagegen eine echte Depotenzierung gewesen. Er bringt in Erinnerung, wofür und wozu ein Symbol oder Ritus ursprünglich angelegt und eingerichtet wurde. Damit ist die Reflexion im Spiel, die den gedankenlosen Vollzug eines Ritus plötzlich unmöglich macht.

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seits gegenüber unserer Gesetzgebung zu verteidigen, behaupten, wir täten etwas Unerhörtes, wenn wir gesetzlich festsetzten, dass es Götter gibt“ (Legg. 886e–887a). Man akzeptiert die Umkehrung der Beweislast, als ob allgemein anerkannt wäre, dass es keine Götter gäbe, dies also bewiesen werden müsse, dass es sie im Gegenteil doch gebe, und nicht etwa die Gottesleugner in der Pflicht stünden, ihre Position erst noch zu beweisen. Sieht man von einem in der Gesellschaft erstarkenden, wissenschaftlich aber widerlegten, naiven Kreationismus ab, so trifft die Fiktion des Atheners, die Fiktion einer allgemeinen Anerkennung der Gottlosigkeit, wahrscheinlich doch ziemlich genau unsere Realität in den europäischen westlichen Industrienationen. In ihnen werden nach Hegel, Feuerbach, Marx und Nietzsche die Überzeugungen bezüglich der Rechts- und Staatsordnung nicht mehr auf den Glauben an Gott gegründet werden (wenn auch eine gewisse Orientierung, siehe die Präambel des Grundgesetzes, immer noch vorhanden sein mag, zumindest bei den Vätern des GG). Die Lehren der Naturwissenschaft, die physikalische Erscheinungen erklärt, ohne einen Rückgriff auf göttliche Kräfte zu erlauben, haben sich – wieder abgesehen von Singularitäten wie vielleicht den Lehren von Stephen Hawking – vollständig durchgesetzt. Die Trennung von theoretischer Naturerklärung und Begründung praktischer Normen ist durchgeführt, ganz in Vollendung der Linie der Sophisten7, die der Athener behaupten lässt: „das“ – gemeint sind die Gestirne, die im Volksglauben als Götter oder etwas Göttliches gelten, so dass im Volksglauben der Verweis auf sie hier und so schon als Gottesbeweis fungieren kann – „das (die Gestirne also, Anm. d. Vf.) seien ja bloss Erde und Steine und daher keinesfalls imstande, sich um die menschlichen Angelegenheiten zu kümmern“ (Legg. 886d–e).8 Bei der Rekonstruktion des Beweises kann es uns nun zweifellos nicht mehr darum gehen, die Verbindungen zwischen theoretischer Naturerklärung und göttlicher Ordnung beziehungsweise zwischen Naturerklärung und 7 Wie weit sich die Lehren der Sophisten, der „jüngeren Weisen“ (Legg. 886d) damals bereits durchgesetzt haben, mögen Historiker entscheiden. Für Platon ist es zunächst noch eine Gefahr, deren Bekämpfung ihm aber durchaus noch realistisch möglich erscheint. Vgl. Legg. 886a („. . . dass alle Hellenen und Barbaren glauben, dass es Götter gibt“) und 887c–888a. 8 Vgl. Legg. 967c4, Apol. 26d4 f. Hegels Formulierung in „Glauben und Wissen“ beschreibt die Leistung des Verstandes gegenüber dem naiven Volksglauben, das ist bei ihm hier der subjektivistische Protestantismus, ganz analog: „Die Religion baut im Herzen des Individuums ihre Tempel und Altäre, und Seufzer und Gebete suchen den Gott, dessen Anschauung es sich versagt, weil die Gefahr des Verstandes vorhanden ist, welcher das Angeschaute als Ding, den Hain als Hölzer erkennen würde“ (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Jenaer Schriften, 1801–1807, in: ders., Werke in 20. Bd., Bd. 2, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1986, S. 289 f.).

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der Begründung praktischer Normen nachzuzeichnen und für die Zwecke der Moderne irgendwie wiederzubeleben. Das wäre eine eher theologische Aufgabe, an die sich aber, soweit ich sehe, heute auch ein Theologe nicht mehr ohne weiteres wagen würde. Wir dagegen sind auf solche Wiederbelebung auch gar nicht angewiesen, da der Athener im Verlauf des Beweises den Begriff der Natur, den er zum Beweis der Existenz der Götter heranzieht, gänzlich neu bestimmt. Und diese Neubestimmung setzt mit einer Kritik und Absetzung von einem empiristisch-materialistischen Naturbegriff ein, der bei der Leugnung der Götter ins Spiel gebracht wird (vgl. Legg. 891c, 892b). In diesem Zusammenhang wird klargestellt – ich formuliere den Gedankengang frei, ergänze und greife auch schon vor –, dass von dem materialistischen Naturbegriff aus – dieser besagt: alle Dinge (pÜnta . . . tJ prÜgmata) sind aus unbeseelten Elementen (Feuer, Wasser, Erde, Luft) entstanden (diJ toŸtwn gegonÍnai panteláò Øntwn ÷yŸxwn, Legg. 888e–889b) – dass also von einem materialistischen Naturbegriff aus die Götter gewissermaßen gar nicht geleugnet werden können, weil die Leugnung schon in diesem Begriff liegt und erfolgt ist. Man hat sich durch gewisse Vorentscheidungen ein Verständnis der Götter und mit ihnen zusammen des ganzen Bereichs des Geistig-Göttlichen in seiner Eigenart unmöglich gemacht (vgl. Legg. 891e8–892b1). Das geht im Einzelnen so vonstatten: Man nehme einen Materialisten oder Physikalisten an, der nicht von vorne herein nur materielles Sein anerkennt, sondern auch Geistig-Göttliches zumindest insofern, als er bei seinen Mitmenschen den Glauben daran beobachtet und sich deren Widerlegung zur Aufgabe macht (vgl. Legg. 886e). Bei dieser Widerlegung wird er zwangsläufig Materie und Geistig-Göttliches in Beziehung setzen müssen. Da wir aber einen waschechten Materialisten-Physikalisten vor uns haben, begreift er diese Beziehung wiederum materialistisch, und im besonderen Fall der „Weisen“, die Platon vor Augen hatte, entscheidet sich der Materialist für eine Beziehung der Genesis, die genetische Erzeugung des Geistig-Göttlichen aus der Materie über das Zwischenglied der menschlichen Kunst oder Technê: tÍxnhn d˚ Österon ýk toŸtwn ëstÍran genomÍnhn (Legg. 889c6 f.), wobei ýk toŸtwn sich grammatikalisch unmittelbar auf Physis und Tychê, Natur und Zufall, und mittelbar auf die Himmelskörper bzw. die „unbeseelten“ Elemente zurückbezieht (vgl. ýk toŸtwn, 889c4, mit Bezug auf diJ toŸtwn, 889b4, vgl. auch 891c1–4). Daraus, d.h. aus der Abkünftigkeit, der Früher-Später-Hierarchie ergibt sich dann die Defizienz des Geistig-Göttlichen, wobei Defizienz bei Göttern der Leugnung ihrer Existenz gleichkommt. Natürlich gibt es unter diesen „Weisen“ auch weniger waschechte Materialisten, die sich den materialistischen Naturbegriff nur zu eigen machen, weil er in ihr gesellschaftlich-politisches Kon-

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zept passt. Sie ziehen die Früher-Später-Hierarchie nicht nur zur Leugnung der Götter heran, sondern vor allem zur Leugnung der Göttlichkeit oder objektiven Idealität der Gesetze und weiterer abkünftiger Einrichtungen einer objektiven Vernunft und Seele. Zur weiteren Depotenzierung dieser Vernunft wendet man sich in diesen Kreisen dann noch an den gemeinen Verstand und bestätigt dessen Erfahrung, dass die faktischen Rechtssysteme differieren, jeweils im Dienste bestimmter Interessen stehen und dass ein Streit über die Richtigkeit kein Ende wird finden können. Nur der nicht gemeine Verstand weiß nämlich, dass diese faktische Lage nichts an der Notwendigkeit idealer regulativer Ideen zur Bewertung und Verbesserung von politischen und Rechtssystemen ändert. So dient die Depotenzierung der objektiven Vernunft durch die Sophisten am Ende der Rechtfertigung subjektiver Meinungen und gesellschaftlich-politisch der Rechtfertigung jeglicher subjektiv-willkürlicher Ermächtigungsstrategien (vgl. Legg. 889b–e, 891c). An welcher Stelle hat sich der Materialist das Verständnis des GöttlichGeistigen verstellt, an welcher Stelle setzt die Täuschung des Sophisten an? Es fällt uns nach der Analyse der platonischen Argumentation und der langen Tradition des Idealismus in der Philosophiegeschichte relativ leicht, dies anzugeben. Indem der Materialist auch die Beziehung zwischen Materie und Göttlich-Geistigem materialistisch begreift, hat er, kantisch gesprochen, den Begriff der Kausalität auf den Begriff der Kausalität in Raum und Zeit reduziert. Kausalität aus Freiheit ist verschwunden. Die genetische Bestimmung der Beziehung hat dieselben Konsequenzen: das Göttlich-Geistige wird auf Raum und Zeit reduziert.9 Die „ersten Dinge“, wie die abgeleiteten in der Konsequenz dann auch, werden zeitlich, „Kraft“ wird physikalisch verstanden (vgl. 889b5, d6). Die Kraft, aus Vernunft in die Welt der Erscheinungen in Raum und Zeit einzuwirken, ist unbegreifbar geworden – ein durchaus noch heute unterlaufender Fehler, man denke an die Neurophysiologie und ihr Verhältnis zur Freiheit. Wer die Beziehung zwischen Materie und Geist von vorne herein materialistisch konzipiert, benötigt am Ende keine weiteren Argumente mehr für die Widerlegung. Die sophistische Willkürermächtigung wiederum fährt zunächst auf dem Trittbrett10 mit und verlängert dann den Empirismus ins Gebiet der praktischen Vernunft. Auch hier scheint es mir ein modernes Pendant zu geben. Die Ablösung der idealistischen Naturrechtsauffassung durch den Rechtspositivismus wird jedenfalls mit ganz vergleichbaren Argumenten gerechtfertigt und kann auch zu ganz vergleichbaren Konsequenzen führen. 9

Das ist im Grunde der Fehler auch einer jeden Theogonie – vgl. Legg. 886b–d. Vgl. Friedländer, Paul, Platon II, Die Platonischen Schriften, Berlin und Leipzig 1930, S. 675. 10

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Gehen wir in den Text der Nomoi zurück: Hier hält sich der Athener mit der Widerlegung der Leugner nicht lange auf.11 Die soeben vorgetragenen Überlegungen bleiben unausgesprochen, sind aber, wie sofort deutlich werden wird, aus dem folgenden positiven Beweis der Existenz der Götter und des Geistig-Göttlichen leicht zu entwickeln. Vor allem diesen positiven Beweis gilt es ja gewinnend vorzutragen, wenn man direkt überzeugen will, nicht indirekt auf dem Umweg über die Widerlegung der Leugnung. Des Atheners Taktik hier ist – der Einsatz taktisch-rhetorischer Mittel wird meines Erachtens von Platon nicht nur hier in den Nomoi nicht verschmäht – ein Überraschungscoup. Der Athener behauptet nämlich, es sei genau umgekehrt, wie die Materialisten behaupten; das gerade Gegenteil sei richtig, die Seele und mit ihr das Geistig-Göttliche sei zuerst da, und ihr folge alles Körperlich-Materielle nach (Legg. 891d-892b). Dabei lässt er zu, dass zunächst der Schein entsteht, in seiner Behauptung würden die entscheidenden, die Behauptung tragenden Begriffe im selben Sinne verwendet wie in der soeben dargelegten materialistischen Position der Gottesleugner. Die Auflösung beginnt jedoch unmittelbar nach dem Coup mit einer sprachkritischen Bemerkung: In der Argumentation der Materialisten hat das Wort „Natur“ die Funktion, „die Entstehung der ersten Dinge“, gÍnesin tÌn per˝ tJ práta (Legg. 892c2 f.), zu bezeichnen, wobei sie dieses „Erste“, wie beschrieben, umstandslos mit der zeitlich „frühestentstandenen“ Materie identifizieren, um dann mit Hilfe ihrer FrüherSpäter-Relation die Minderwertigkeit des Göttlich-Seelischen abzuleiten. Der Naturbegriff des Atheners dagegen, der Begriff der „Natur“, den er in seiner Gegenbehauptung, die Seele, nicht die Materie, sei das Erste, verwendet, ist deutlich ein anderer Begriff von „Natur“ – ein Begriff, den ich im folgenden den „Funktionsbegriff“ der Natur nennen will: „Natur“ hat nun nicht mehr eine Funktion, sondern wird begriffen als Funktion: als das, was „die Entstehung der ersten Dinge bezeichnet“, aber so, dass noch ganz offen ist, was diese Funktion erfüllt, und was die einzelnen definierenden Prädikate inhaltlich ausgrenzen. So ist der Athener weit entfernt, die Identifikation der „ersten Dinge“ mit den zeitlich „frühestenstandenen“ Elementen einfach zu übernehmen, vielmehr ersetzt er in seiner Gegenbehauptung den Begriff der „ersten Dinge“ gewissermaßen noch einmal durch einen entsprechenden Funktionsbegriff (vgl. Legg. 892c3–5): Das Erste ist, was „die Führung übernimmt“ – so die Übersetzung von årxei durch Schöpsdau/Müller (Legg. 892a6), für das, was die Seele tut, wenn der Athener von ihr behauptet, sie sei in Wahrheit das Erste. Damit ist der letztere Funktionsbegriff aber inhaltlich durchaus bestimmt: Wenn unter 11 Es findet sich ja auch eine philosophisch anspruchsvolle Widerlegung des Materialismus im Rahmen der Ausführungen zur Gigantenschlacht im Sophistes: Soph. 246a–248a.

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årxein im materialistischen Kontext nur das zeitliche Anfangen verstanden werden kann, so hat sich im genannten Gebrauch von årxei bezogen auf die Seele dessen Bedeutung zum übertragenen Sinn, zum Herrschen oder Führen, erweitert und verschoben. Die Früher-Später-Relation mit ihrem genetischen Aspekt verwandelt sich entsprechend in eine abstraktere Beziehung der Asymmetrie zwischen einem Ersten, von der Geltung und Bedeutung her gesehen Prinzipiellen, nämlich dem Göttlich-Geistig-Seelischen, und einem Nachrangigen der Bedeutung und Geltung: der Materie (vgl. ÷rxümena, 892b8)12. Freilich ist mit dieser Bedeutungsverschiebung der Beweis noch nicht erbracht. Klar ist damit soweit nur, was durch den folgenden Beweis bewiesen werden soll, der Vorrang des Göttlich-GeistigSeelischen, damit auch des Gesetzlichen. Die Dimension, in der diese Vorrangigkeit gilt, bleibt vor der Hand aber noch etwas unklar. Die Formulierungen des Beweises bleiben diesbezüglich noch offen für eine raumzeitliche Lesart – man vergleiche den zeitlichen Sinn in Legg. 892a5: „da sie (die Seele, Anm. d. Vf.) vor (Òmprosffien) allen Körpern entstanden ist“ (swmÜtwn Òmprosffien pÜntwn genomÍnh)13 und den eher kausalprinzipiellen Sinn in 891e5: „Das, was die erste Ursache (aŁtion) alles Werdens und Vergehens ist, . . .“ (â práton genÍsewò ka˝ ðffior@ò aŁtion ãpÜntwn, . . .). Bevor wir zu dem zentralen Gedanken des Beweises übergehen, möchte ich kurz würdigen, welch höchst bedeutsame Errungenschaft in der vorgeführten Verschiebung zum Ausdruck kommt. Mit ihr wird jede Rückkehr zu einem quasi-naiven Gebrauch der Begriffe unmöglich gemacht. Ist die Verwendung des Begriffs der „Natur“ einmal daraufhin durchschaut, dass er eine Funktion in der Argumentation übernimmt, stellt sich unabweisbar die Frage, ob es sich mit den anderen Begriffen nicht ebenso verhält. Die Begriffe werden hinsichtlich ihrer operativen Leistung durchsichtig. Bestimmte Begriffsfüllungen, etwa die Füllung des Naturbegriffs durch den Materialismus, der „Natur“ als Ort der raumzeitlichen Entstehung aller Dinge fasst und damit eine Werthierarchie ‚früher entstanden gleich höherwertig‘ verbindet – solche bestimmten Begriffsfüllungen also werden damit zugleich als besondere Erfüllungen der Funktion erkannt. Dass andere Erfüllungen der Funktion gedacht werden können, ist damit klar. Die kritische Prüfung von Theorien erhält dadurch ein neues hochwirksames Instrumentarium. 12

Vgl. die Wiederaufnahme von årxein Legg. 896c3 (Aktiv und Passiv), wo es den zeitlichen Sinn völlig abgelegt zu haben scheint und nur noch die Asymmetrie von Herrschen und Beherrschtwerden zum Ausdruck bringt. 13 In der Übersetzung wird man der Verschiebung vom Zeitlichen zum Prinzipiellen aber irgendwie Ausdruck geben müssen. Schöpsdau/Müller entscheiden sich hier dafür, prütera (Legg. 892a8, b4) mit „ursprünglicher“ zu übersetzen.

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Bemerkenswert ist an dieser Stelle, hier in den Nomoi, aber darüber hinaus, dass Platon sehr weitgehend bei den Funktionen bleibt. Damit will ich sagen, dass Platon außerhalb der Nomoi, also normalerweise, den Weg von den Funktionen zu den idealen „Funktionserfüllern“, wenn ich mich einmal so ausdrücken darf, fortgeht. „Idee“ ist der Name, den er gebraucht zur Bezeichnung dessen, was idealerweise oder perfekt die in Rede stehende oder eben durch ihren Namen angezeigte Funktion erfüllt. Darauf aber beruft sich Platon in den Nomoi nicht. Ich erkläre mir das damit, dass er hier eine neue Rechtfertigung des Idealismus versucht, nachdem sich die „Ideenfreunde“ unter Umständen schon allzu selbstgefällig gebärdet – man denke an die „Ideenfreunde“ der Gigantenschlacht im Sophistes – und die Gegner der Ideenlehre sich schon mit allen Wassern gewaschen hatten. Die taktische Überlegung dabei könnte gewesen sein: Mag man auch an den Ideen Anstoß nehmen, die Funktionen, die sie übernehmen und für die sie stehen, wird man nicht angreifen können.14 Das wichtigste Beispiel zum Beleg meiner Behauptung führt uns nun aber mitten in den Beweis: auch die „Seele“ ist eine Funktion, deren Name wenig Bedeutung hat: „Welches ist nun die Definition (lügoò) dessen, was den Namen ‚Seele‘ trägt? Haben wir eine andere als die eben angegebene: ‚die Bewegung, die sich selbst bewegen kann‘?“ (˘Wi dÌ yuxÌ tojnoma, tûò toŸtou lügoò; ñxomen ållon plÌn t˛n nundÌ ‰hffiÍnta, tÌn dunamÍnhn ažtÌn aëtÌn kineƒn kûnhsin? Legg. 895e10–896a2). Die Frage wird natürlich verneint, und die Seele ist damit durch diesen Logos oder Begriff der Selbstbewegung in ihrer Funktion bestimmt. Was dies für den Beweis und für unsere Fragestellung, die den Beweis in Richtung auf die Widerlegung des Positivismus und die Akzeptanz des nicht-positivistischen Verständnisses von Recht und Gesetz auszuwerten versucht, bedeutet? – das soll jetzt im einzelnen durchgesprochen werden. Der Beweis gliedert sich in folgende Schritte. Das Beweisziel, um damit zu beginnen, ist die These, dass die Seele und ihr Verwandtes, also nach Nomoi 892b3 „Meinung, Fürsorge, Vernunft, Kunst und Gesetz“ (düca dÌ ka˝ ýpimÍleia ka˝ nouò ka˝ tÍxnh ka˝ nümoò), früher oder ursprünglicher sind als die körperlich-räumlichen Dinge beziehungsweise die physikalischen Elemente (vgl. Legg. 892c). Schon in der Formulierung von Nomoi 892c ist dabei die Bedeutung der Begriffe zum prinzipiellen Vorrang hin verschoben, erst recht dann in Nomoi 896b–c. Wird dieses Beweisziel erreicht, so soll sich daraus die Existenz der im eminenten Sinne guten und vollkommenen Götter in einem weiteren Beweisgang folgern lassen (vgl. 14 Cassirer hat in seinem Buch „Substanzbegriff und Funktionsbegriff“ (Berlin 1910), fußend auf der „neukantianischen“ Interpretation der Platonischen Idee als Hypothesis (Cohen und Natorp), einen analogen Versuch unternommen.

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Legg. 899c). Wir haben also die Schritte zunächst bis zum genannten Beweisziel und anschließend, im letzten Teil dieses Vortrags, zu der daraus gewonnenen Folgerung nachzuzeichnen. Der erste Schritt besteht darin, eine Bestätigung einzuholen, die Bestätigung nämlich, dass es eine bestimmte Form von Bewegung durchaus im physikalischen Sinne gibt, die etwas Wunderbares an sich hat (vgl. Legg. 893d3)15. Es ist dies die Bewegung, die zwei oder mehr verschieden große konzentrische Kreisscheiben vollführen, die sich auf einer Achse drehen, wobei bestimmte Punkte betrachtet werden. Der Drehpunkt dabei ist in Ruhe (vgl. Legg. 893c3 f.), ein beliebiger Punkt auf jeder Peripherie ist in Bewegung, und die Bewegungen der Punkte auf jeder der verschieden großen Peripherien stehen in jeweils bestimmtem Verhältnis zueinander. Sie tun dies, genauer gesagt, so, als ob ein und dieselbe Bewegung oder besser „bewegende Kraft“ ihnen allen die ihnen gemäße Bewegung mitteilte, so dass sich bestimmte Verhältnisse zwischen ihren Bewegungen einstellen, diese miteinander harmonieren und so insgesamt ein System bilden. Bestätigung also wird eingeholt dafür, dass es eine solche (toiaŸth) Bewegung bzw. bewegende Kraft (dŸnamiò)16 gibt, die sich selbst (ÅautÌn) in einem bestimmten gesetzlichen Verhältnis (÷nJ lügon) anderen Bewegungen bzw. Körpern mitteilt (dianÍmei)17 und dabei in ihrer Umdrehung ebenfalls ein bestimmtes gesetzliches Verhältnis aufweist (ýn taŸt´h t´h~ periðor ´a~ . . . katJ lügon, Legg. 893c5–d2).18 Etwas Wunderbares scheint an dieser Bewegung oder an diesem Bewegungssystem vorderhand gar nicht zu sein. Es ist leicht vorstellbar, und was im Gespräch besonders hervorgehoben wird, nämlich dass in diesem System bestimmte Punkte langsamer, andere gleichzeitig schneller in Bewegung sind und dies auch noch in bestimmten Verhältnissen (vgl. Legg. 893d1 f.), ist allenfalls wunderbar oder erstaunlich, wenn man von einem Begriffsrealismus her denkt, wo die gleichzeitige Bewirkung der Gegensätze „schnell“ und „langsam“ eine Unmöglichkeit (vgl. Legg. 893d5: ÷dŸnaton) sein mag. 15

Im Vorgriff ist hier schon Legg. 899a2–4 zu vergleichen, wo das Motiv einer wunderbaren Bewegungskraft wieder aufgenommen wird; vgl. ebenfalls noch Legg. 967b3, wo das Wunderbare den Logismoi zugeschrieben wird, die die Bewegungen gesetzlich regeln. 16 Schon seit Legg. 892a3 wissen wir im übrigen, dass auch die Seele sich vor allem dadurch auszeichnet, eine „Wirkkraft“ (dŸnamiò, Übersetzung Schöpsdau/ Müller) zu haben, die zumindest sprachlich-begrifflich der physikalischen „Wirkkraft“, die ebenso bezeichnet wird, vergleichbar ist (vgl. Legg. 889b5). 17 Vgl. hierzu Legg. 714a1 f., die Anmerkung von Schöpsdau (Platon, Werke 8/1, Nomoi, Tomoi 1–6, S. 249, A. 36) zur Stelle und Legg. 957c6 f. 18 Es kommt hier auf die Formulierungen an, da man genau diese im Verlauf des Beweises wiederfindet (vgl. schon hier Legg. 894d3 f.: tÌn ažtÌn aëtÌn dunamÍnhn kineƒn, 896a3: t˛ Åaut˛ kinei~n, 898a9: Òna lügon).

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Der Leser der Platonischen Schriften allerdings weiß recht genau, warum diese Bewegung hier „wunderbar“ genannt wird. Das Bewegungssystem, das hier vorgestellt wird, erhält Bestimmungen, die ebenso für das komplizierte astronomische System der Bewegung der Himmelskörper gelten, wie es in Timaios (35c–d, 38c–39e) und Politeia (Rep. 616d-617b) in Form von Mythen erzählt wird. Man kann die Gesprächsführung deshalb nur „geschickt“ nennen: Der Athener erhält durch die Bestätigung der Existenz des vermeintlich einfachen Bewegungssystems letztlich, weil die Bestimmungen dieselben sind, die Bestätigung auch für die Existenz des komplizierten Systems der Himmelskörper und zwar in der Darstellung, die hier gegeben ist. Geschickt ist darüber hinaus auch die Gesprächsführung: Der Athener tut so, als befände er sich in einem Elenchos und müsste einem anderen Rede und Antwort stehen (vgl. Legg. 893b4 f.), also jemandem, der anderer Meinung ist, als er selbst. Dies kann in diesem Fall dann nur ein Materialist/Physikalist19 sein. Der Athener formuliert dann zwar selbst, was das besondere an der Bewegung ist, die später im Beweis die tragende Rolle spielen wird. Dadurch aber, dass diese Ausführungen wie Erklärungen dessen, was in der Rede des Materialisten lag, daherkommen, wird Einigkeit oder Homologie zwischen dem Athener und seinem materialistischen Gegner in diesem Punkt suggeriert. Der Beweis ist damit bestens verankert, der materialistische Gegner ins gemeinsame Boot gesetzt. Der zweite Schritt besteht nun darin, mit dem gedachten Materialisten zusammen unter den vielen Formen von Bewegung bzw. von bewegenden Kräften diejenige zu identifizieren, durch die alle Dinge entstehen (vgl. Legg. 894a). Der Materialist müsste diese Frage, welche der Bewegungen oder bewegenden Kräfte dies leisten könne, im Grunde ablehnen, da in seinen Augen keine bewegende Kraft Ursache der Entstehung aller Dinge ist, sondern eben die physikalischen Elemente vor jeder Kraft, die an ihnen ansetzen mag, schon als entstanden gedacht werden. Als Einfluss mit verändernder Wirkung wird von ihm lediglich der Zufall verschiedener Kollisionen dieser Elemente zugelassen. Da er aber im ersten Schritt des Beweises schon der Existenz einer Bewegung bzw. bewegenden Kraft mit Wirkung auf physikalische Körper zugestimmt hat, kann er nun der gestellten Frage nicht mehr ausweichen. Auch die Entstehung ist ja ein Vorgang in Raum und Zeit und ebenso muss es die Entstehung der ersten Dinge sein (vgl. Legg. 894a). Man entscheidet sich in seinem Sinne für eine Bewegung bzw. bewegende Kraft, die durch Umschreibung ihrer Leistung, d.h. durch ihren Funktionsbegriff, bestimmt wird: Es ist diejenige, die nicht „immer nur etwas anderes bewegt und selbst nur von etwas anderem verändert 19 Vgl. zur Bestätigung, dass wirklich den materialistischen Zweiflern die Existenz der göttlichen Seele bewiesen werden soll: Legg. 895c.

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wird“, sondern „die sowohl sich selbst als auch etwas anderes bewegt und die sich allem Tun und Leiden einfügt“ (Legg. 894c). Nur sofern man (noch) nicht bereit ist, diese Bewegung oder Kraft, die die Entstehung aller, also auch der ersten Dinge bewirkt (vgl. Legg. 894c6–8), außerhalb der Zeitdimension anzusiedeln, muss sie zum wahrhaft Ersten aller Dinge in der Zeit erklärt werden (vgl. Legg. 888e5, 891c1–3, aber: 894d10). Die Situation ist jedoch zweifellos „dialektisch“ und zwar dialektisch im Sinne der Kritik der reinen Vernunft („Erster Widerstreit“, KrV B 454–461); denn sofern diese bewegende Kraft als erste physikalische Kraft in der Zeit ist, zählt sie sofort zu den Dingen, deren Entstehung erst bewirkt werden muss, und zwar durch dieselbe bewegende Kraft, die ihr bzw. sich selbst zeitlich voraus, also noch vor dem ersten Ding oder Kraft, damit außerhalb der Zeitdimension liegt.20 Der Athener bzw. Platon „beruhigt“ den Widerstreit dieser Dialektik mit der Vorstellung der Selbstbewegung lediglich (vgl. Legg. 894e4–895a3 und 895a6–b3). Denn mit Hilfe dieser Vorstellung mag man sich die Wirkungen vielleicht in Raum und Zeit denken, die bewirkende Kraft aber so, als ob sie jenseits von Raum und Zeit läge und aus diesem nicht-physikalischen Jenseits irgendwie (vgl. dazu vorgreifend Legg. 898e–899a) ihre Wirkungen im Diesseits entfalten könnte. Dass diese erste Bewegung oder bewegende Kraft eine besondere Funktion erfüllt und deshalb ein besonders ausgezeichneter Funktionsträger gefunden und benannt werden muss, dürfte auch dem Materialisten klar sein. Die Auszeichnung, die man im Gespräch namhaft macht, ist denn so zwar auch immer noch auf ihn zugeschnitten: sie wird als „die kräftigste“ (ýrrwmÍnoò im Superlativ: ýrrwmenestÜthn) und „besonders wirksam“ (praktikÌn diaðerüntwò, Legg. 894d1 f.), in der parallelen Überlegung, Nomoi 895a5–b8, als „älteste und mächtigste“ (presbutÜthn ka˝ kratûsthn, Legg. 895b5 f.) bezeichnet. In einer Formulierung wird aber unmissverständlich darauf hingewiesen, vor welchem Hintergrund diese Besonderheit in Wahrheit erst erscheinen und erfasst werden kann, nämlich vor dem Hintergrund einer Logik des Begreifens, katJ lügon (Legg. 894d10): „Ihrer Entstehung und ihrer Kraft nach ist sie doch logischerweise (katJ lügon) die erste“. In der Tat: auf empirischem Wege wäre die Archê der Genesis aller Dinge in Raum und Zeit nicht erreichbar. Von ihr muss man sich einen Logos, einen Begriff, bilden.21 20 Die Problematik ist auch im Timaios präsent, der uns auffordert, zwei verschiedene Formen von Ewigkeit zu unterscheiden, eine zeitenthobene und eine, die die gesamte Zeitdimension umfasst, ihr aber nicht enthoben ist: vgl. Tim. 37e–38a, 38b8–c3. Vgl. eine ähnliche Dialektik auch innerhalb des Beweises der Unsterblichkeit der Seele im Phaidros: Phaedr. 245d1–6. 21 Dies wird später Legg. 898d9–e3 auch explizit ausgesprochen: „Mit ihrer (der Vernunft, Anm. d. Vf.) Hilfe und durch Nachdenken wollen wir über sie (die Sonne

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Ich komme zum dritten und letzten Schritt des Beweises, dass es die Seele ist, die am Anfang aller Dinge steht. Dieser Schritt besteht darin, dem Logos der Bewegung, die sich selbst bewegt, den Namen „Seele“ zuzuordnen. Der Athener schaltet zu diesem Zweck einen kurzen sprachphilosophischen Exkurs ein, in dem die allgemeine triadische Struktur der Beziehungen zwischen Logos, Name und Sache in Ultrakurzform erläutert und am Beispiel des Logos der geraden Zahl, das ist „eine Zahl, die sich in zwei gleiche Teile zerlegen lässt“ und des Namens der geraden Zahl, das ist der Name „gerade“ Zahl veranschaulicht wird (vgl. dazu auch Legg. 964a). Der Exkurs ist ein bisschen kurz geraten, was man zum Beispiel daran sehen kann, dass der Zwischentitel für diesen Exkurs in der Übersetzung von Schöpsdau/Müller ankündigt: „Das Wesen der Seele ist Selbstbewegung“ (S. 295), während es richtig heißen müsste: „Der Logos der Seele ist Selbstbewegung“ (vgl. Legg. 895e10–896a2). Das „Wesen“ der Seele, ihre Usia, das identisch bleibende Seiende der Seele, ist ja das, was durch den Logos oder die Definition begriffen werden muss, aber wegen der Wahrheitsdifferenz der Logoi durchaus auch verfehlt werden kann (vgl. Legg. 895e5–8 mit Bezug auf das Beispiel „gerade Zahl“)22. Durch Anwendung dieser allgemeinen Einsichten auf den besonderen hier vorliegenden Fall wird dann in diesem letzten Schritt behauptet, dass das sprachliche Prädikat oder der Name für ein Ding in Raum und Zeit, dass sich selbst bewegt, „lebendig“ ist, genau dies aber auch das sprachliche Prädikat oder der Name für die Seele ist (vgl. Legg. 895c). Aus der Identität der Namen, die sowohl für das selbstbewegte Ding oder System in Raum und Zeit als auch für die Seele verwendet werden, wird auf die Identität der Begriffe geschlossen, so dass als Ergebnis Logos der Seele und Logos der Selbstbewegung identisch erscheinen. Wenn dem so ist, muss auch der Name „Seele“ für den Logos der Selbstbewegung akzeptiert werden (vgl. Legg. 895e10–896a2). Wir erhalten in der Gegenrichtung betrachtet den bekannten und bereits zitierten Funktionsbegriff der Seele: die Seele ist das, was sich selbst bewegen kann. Und weil dies, das, was sich selbst bewegt, am Anfang aller Dinge steht, ist die Seele das, was am Anfang aller Dinge steht. Der Schluss hat keine zwingende Logik. Von dem Faktum, dass man den Namen „lebendig“ für zwei seiende Dinge verwendet, kann man nicht auf als Beispiel für einen durch die Seele bewegten Himmelskörper, Anm. d. Vf.) noch folgendes zu erfassen suchen.“ (e2 f., Übersetzung Schöpsdau/Müller der Diès-Version; Burnet hat einen anderen, im Gehalt jedoch nicht abweichenden Text). 22 Im Phaidros werden zwar Usia und Logos in einem Atemzug genannt und mit Bezug auf die Seele als identisch ausgegeben (vgl. Phaedr. 245e3). Aber das ist eine Behauptung, nämlich die, dass die Seele in ihrem Wesen genau so ist, wie der Logos, der hier angeführt wird, sie darstellt.

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die Identität der Begriffe dieser seienden Dinge schließen. Es könnte sich um eine Homonymie handeln, die ganz unvereinbare Dinge mit demselben Namen belegt, wie zum Beispiel der Name „bachelor“ für eine Robbe, den Träger des akademischen Grades und einen unverheirateten jungen Mann verwendet werden kann.23 Der Beweis ist damit in Frage gestellt – aber wie sollte es auch anders sein? Worauf es uns hier ankommt, ist im übrigen ja auch nicht, die Behauptung dieses Beweises und in der Folge die Behauptung des Gottesbeweises zu wiederholen, aufs neue zu bekräftigen, sondern lediglich die Überlegungen bezogen auf unsere Fragestellung auszuwerten, ob wir darin nicht etwa Argumente finden, die wir dem modernen Rechtsbrecher oder Zweifler an der objektiven Verbindlichkeit unseres Rechtssystems vortragen können. Ein Grund zur Rechtfertigung des Schlusses, auf den sich der Athener implizit stützt, sei trotzdem noch angeführt. Er liegt in der Sprache: da die selbstbewegte Bewegung, die die Entstehung aller Dinge bewirkt, deutlich ein Moment aufweist, das nicht räumlich-zeitlich ist und auch so nicht verstanden werden kann, ist sie in gewisser Weise ein Anderes als die räumlich-zeitlichen Dinge. Die letzteren werden im Griechischen von Platon als åyuxa bezeichnet (z.B. Legg. 889b5, 896b8, 967a8, b3, c4), ein ihnen in gewisser Hinsicht Entgegengesetztes müsste deshalb als Nicht-åyuxon, also als ñmyuxon, als beseeltes Wessen, bezeichnet werden dürfen (vgl. auch Phaedr. 245e4–6). Danach ist der Name yuxh·, Seele, zumindest nach einer „Logik“ der sprachlich-konventionellen Bedeutungsfestlegung mit der selbstbewegten Bewegung als Nicht-åyuxon verbunden. Darüber hinaus kann auch noch ein billiger Einwand mit Recht abgewiesen werden, der Einwand nämlich, der Logos oder Begriff der „Seele“ bzw. der selbstbewegten Bewegung sei, Kantisch gesprochen, ja vielleicht nur ein „leerer Begriff ohne Gegenstand“, „ein Gedankending“ (KrV B 348), dem der Nachweis seiner objektiven Realität fehle. Die anfängliche Absicherung des Beweises durch die Zustimmung des Materialisten, dass es eine solche selbstbewegte Bewegung wirklich gebe, macht sich hier bezahlt. Dem Logos der Seele kann nun nicht mehr bestritten werden, was dem Logos der selbstbewegten Bewegung zugestanden worden war. Für uns aber ist von besonderer Bedeutung, dass mit der Benennung des selbstbewegten Bewegungssystems durch den Namen „Seele“ die Verbindung nicht nur zu einem kosmisch-astronomischen Geist, sondern auch zum individuellen Geist einer jeden Person geschlagen ist. Als gewissermaßen anthropologische Grundeinsicht ist festzuhalten, dass die Person eine Fähigkeit, dŸnamiò, zur Selbstbewegung hat und sich dadurch auszeichnet, in Freiheit Wirkungen auf die körperlichen Dinge auszuüben, zu denen sie als 23 Vgl. Eco, Umberto, Einführung in die Semiotik, S. 116 f. mit Bezug auf Katz und Fodor.

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Bewegungssystem auch selbst gehört. Diese Fähigkeit darf ohne weiteres auch als wirksam im Bereich der individuell-praktischen und gesellschaftlich-politischen Setzungen angesehen werden, wo das Individuum ebenfalls in ein System hineinwirkt, zu dem es selbst gehört. Insofern gehört die Feststellung dieser Fähigkeit mit Sicherheit zu den Feststellungen, die eine Akzeptanz des nicht-positivistischen Sinnes von Recht und Gesetz unterstützen können. Das Selbstbewegungssystem der Seele ist eine Fähigkeit, die empiristisch nicht erklärt werden kann. Sie ist als Funktionsbegriff im Gegenzug gerade dadurch bestimmt, empirisch beobachtbare Bewegungen und Zustände zu erklären und zwar als solche, die sich bestimmten Richtungsentscheidungen einer freien Selbstbewegungsfähigkeit verdanken. Physikalische Ereignisse, aber natürlich auch Gesetze, wie andere Produktionen des Geistig-Seelischen, sind danach Ergebnisse einer Realisierung von Selbstbewegungsfähigkeit, anders ausgedrückt, Ergebnisse der Selbstbestimmung des autonomen Systems. Diese Fähigkeit der Selbstbestimmung wird hier aber ganz für sich und noch unabhängig davon betrachtet, welchem Gesetz oder welcher Maxime sie folgt oder folgen soll. In gewisser Weise wird damit um so deutlicher, dass jedes Geschehen und jedes geistig-seelische Produkt in die Verantwortung der selbstbestimmten Entscheidungsfreiheit der Seele gestellt ist. Die Fähigkeit der Selbstbewegung ist damit nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Voraussetzung zu weiterer höchster Auszeichnung, zur Auszeichnung echter „Göttlichkeit“, deren Bestimmungen die weiteren Ausführungen darlegen. II. Überzeugung durch Nachweis der „Göttlichkeit“ des Geistig-Seelisch-Gesetzlichen im Falle vernünftiger Selbstbestimmung Es handelt sich hier um den letzten Teil eines Beweises, der über das bereits Bewiesene hinaus nunmehr auch noch darauf zielt, die Existenz Gottes als vollkommen guter Seele zu beweisen. Im Zusammenhang des Textes wird deshalb die Fähigkeit der Selbstbewegung der Seele so betrachtet und behandelt, als ob sie nicht nur dem personalen menschlichen Individuum eigentümlich sei, sondern auch einem personal gedachten überindividuellen göttlichen Wesen (vgl. Phaedr. 245c2–4). Sämtliche Formen von realisierter Selbstbewegungs- bzw. Selbstbeziehungsfähigkeit, die genannt werden, sind in diesem Sinne für die Menschen- wie für die Götterseele typisch: „Wesenszüge, Charaktereigenschaften, Wünsche, Überlegungen, wahre Meinungen, Fürsorge und Erinnerungen“ (trüpoi d˚ ka˝ çffih ka˝ boulh·seiò ka˝ logismo˝ ka˝ dücai ÷lhffiei~ò ýpimÍleiaû te ka˝ mnh~mai, Legg. 896c9–d1, vgl. Legg. 896e8–897a4). Die Strenge der logischen Ableitung ist hier überraschend: Ohne dass man an dieser Stelle im mindesten ahnen könnte, wie

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der Schluss auf die Existenz einer göttlich-guten Psyche möglich sein soll, wenn deren Psyche auf diese Weise einmal ganz der menschlichen analog vorgestellt worden ist, leitet der Athener aus den bisherigen Bestimmungen der Psyche als selbstbewegter Bewegung nichts weiter ab als eben diese, soeben charakterisierte, Fähigkeit zur Selbstbewegung, differenziert in einzelne ihrer Formen. Alle diese Formen sind theoretisch und praktisch ambivalent – so wie die Freiheit des Denkens und Handelns ebenso zur Willkür der Meinungen und Taten wie zur Orientierung an der Wahrheit und dem Guten ausschlagen kann (vgl. Legg. 896d5–8)24. Der Logos der Seele, yuxh·, ist nicht spezifiziert zu der eines Gottes oder Menschen, und er ist auch in seiner theoretischen wie moralischen Qualität noch nicht festgelegt. Das bedeutet natürlich umgekehrt: was immer nun im folgenden bezüglich der Seele noch abgeleitet werden wird, es werden diese Seele sowohl ein Mensch als auch ein Gott haben bzw. haben können. Den Funktionsbegriff der „Seele“ erfüllt eben, wer oder was die Funktion erfüllt, die der Begriff nennt. Vor diesem Hintergrund erfolgt der letztlich auf gewisse Weise genial einfache letzte Schritt des Gottesbeweises. Die Ambivalenz der Bestimmungen freier Selbstbewegung wird auf den Begriff gebracht, auf den Begriff des Gegensatzes zwischen Wohltätigkeit und „Übeltätigkeit“ (wenn dieser Ausdruck erlaubt ist) (Legg. 896e5 f.), Vernunft und Unvernunft (nou~ò und ånoia, Legg. 897b1–3), und dann wird, allerdings explizit nur für die kosmische Seele (vgl. Legg. 897c8), entschieden, dass es, wenn die genannte Alternative besteht (vgl. Legg. 897b1–4, c4–d2), die vernünftige Selbstbestimmung sein muss, die in der Realität des Kosmos am Werke ist. Die Entscheidung fußt auf einer Operationalisierung: Zum einen beschränkt man sich auf einen Ausschnitt der Wirkungen dieser schlechtweg alles bewirkenden Seele, immerhin den „gesamte(n) Lauf und Schwung des Himmels (gemeint sind die Himmelskörper, Anm. d. Vf.) und alles, was in ihm ist (das sind alle Himmelskörper, Anm. d. Vf.)“, und betrachtet zum anderen hier nur die Gesetz- und Regelmäßigkeit der Gesamtbewegung des Systems, sofern es sich „logisch“ (logismoi~ò, Legg. 897c6), damit ist hier wohl gemeint „mathematisch-rechnerisch“, begreifen lässt (Legg. 897c4–9). Die logisch-mathematische Gesetzmäßigkeit wird aber im vollen Bewusstsein der Einschränkung nur als Eigenschaft der Ähnlichkeit oder Verwandtschaft mit der Vernunft, die es zu beweisen gilt, ausgegeben (þmoûan ðŸsin . . . suggenw ~ ò, Legg. 897c6 f., vgl. e1: eùküna)25. Nach dieser Ope24

An dieser Stelle wird allerdings vor allem die praktische Ambivalenz betont. Dass beides gemeint ist, sieht man aber z. B. Legg. 897b8–c1 und natürlich durch Interpretation der aufgezählten Fähigkeiten, unter denen ja wahrheitsdifferente sind. 25 Vgl. Tim. 37d5 u. d7.

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rationalisierung ist dann jedoch die Entscheidung leicht; denn nur noch eine Erinnerung (Legg. 897e8–898b2) an das anfangs erwähnte, den Beweis verankernde, als real zugestandene selbstbewegte Bewegungssystem ist notwendig.26 Von diesem scheint klar zu sein, dass es als Abbild der Vernunft gelten darf (vgl. Legg. 898a3–6, b2 f.), und weil mit Bezug auf dieses Bewegungssystem bereits logische, mathematisch-rechnerische Gesetzmäßigkeit akzeptiert worden ist, gilt logische Gesetzmäßigkeit nun auch für das Selbstbewegungssystem der kosmischen Seele – freilich unter den einschränkenden Bedingungen der genannten Operationalisierung. Man sieht, auch dieser Beweisschritt hat seine Schwäche. In diesem Fall aber weist der Athener sogar eigens auf sie hin. Nicht jedem wird man abverlangen können, das selbstbewegte Bewegungssystem der Himmelskörper als Bild der vernünftigen Selbstbestimmmung, die Ursache aller Dinge in der Welt ist, anzunehmen. Nichtsdestoweniger gibt es in meinen Augen auch hier eine Möglichkeit, die Gedankenführung zu unterstützen. Durch die Bemerkung des Atheners, dass sie sich, wenn sie dieses Bild wählen, „wohl niemals als schlechte Hersteller schöner Bilder durch Worte erweisen“ (Legg. 898b2 f.), wird offengelegt, dass hier eine poetische Kompetenz ins Spiel gebracht wurde, die Produktion von Bildern, die logisch-dialektischen Einsichten entsprechen. Es geht um die Beförderung von Verständnis und Einsicht. Man setzt etwas als etwas (Vgl. Legg. 899c6: tiffiÍmenoi), gibt etwas als etwas aus, um Einsicht und Verständnis zu bewirken, die anders auf höchst schwierigem Weg nur oder gar nicht erreichbar sind. Die Gleichnisse der Politeia sind so entstanden.27 Eine Argumentation mit Hilfe von Gleich26 Im einzelnen bringt man durch folgende Ausdrücke das selbstbewegte Vernunftsystem in Verbindung mit dem einfachen selbstbewegten System der Bewegung am Anfang des Beweises (wodurch er verankert wird): Legg. 898a8: ýn t w `~ ažtw ` ~ mit 898a3: ýn Ån˝, 897e11: ýn Åni½ tüpw ` und 898b1 f.: ýn Ån˝ ðeromÍnhn ki·nhsin verweisen auf 893c3: ýn mi ´a~ Òdr ´a, c4: ýn mÍsw ` , c5: ýn Ån˝. Legg. 898a9: pr˛ò tJ ažtJ verweist auf die kleinen und größeren Kreise, denen sich die wirkende Bewegungskraft (Legg. 893d1) mitteilt: Legg. 893d1 f.: smikroi~ò te ka˝ meûzosin. Legg. 898a9: Òna lügon verweist auf: Legg. 893d1: ÷nJ lügon und d2: katJ lügon. Dass die Selbstbeziehung der einfachen Bewegung aus der Beweisverankerung (Legg. 893d1: ÅautÌn) Legg. 898a–b nicht wörtlich wiederholt wird, wird meines Erachtens dadurch ausgeglichen, dass die präpositionalen Ausdrücke Legg. 898a8 f., die die Umstandbestimmungen der Bewegung charakterisieren, zusammen mit der Betonung, dass die Bewegungen genau einem Gesetz und einer Ordnung unterworfen ist, insgesamt darauf angelegt sind, diese Selbstbeziehung zu suggerieren. Vgl. zu dieser Stelle Rep. 484b, Polit. 269d5–e6 und vor allem Soph. 249b12–c1; dort wird der Grundbegriff der „Ruhe“ oder des „Stillstands“ (stÜsiò) als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis begründet. Zusammen mit der vorliegenden Stelle aus den Nomoi kann man diese „Ruhe“ als die „Ruhe“ bzw. Stabilität des Gesetzes deuten. 27 Vgl. die Anspielung an das Gleichnisse-Kapitel der Politeia: Legg. 897d–e.

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nissen könnte sich nun meines Erachtens immerhin pragmatisch rechtfertigen: Nimmt man die Richtigkeit des Bildes an, akzeptiert man das Bild in diesem Fall als Bild für die Vernunft, so wird dies eine Wirkung auf das Handeln haben, nämlich eine solche, die mehr Vernunft in die Welt bringt. Die Annahme wirkt wie eine self-fullfilling prophecy und steigert damit sogar den Grad der Richtigkeit des Bildes rückwirkend. Im Bereich der praktischen Vernunft darf man dieses Argument nicht geringschätzen. Ich zitiere zum Beleg Peter Koller aus seiner Theorie des Rechts: „Ob es nun objektiv gültige Grundsätze der Moral gibt oder nicht, die Annahme, es gäbe sie, ist eine zweckmäßige Fiktion im Rahmen der öffentlichen Auseinandersetzung um eine vernünftige und allgemein konsensfähige Rechtspolitik.“28 Die Einsicht in den Zusammenhang dieser praktischen Selbstinduktion dürfen wir, so glaube ich, Platon mit Sicherheit zutrauen.29 Für den Athener und die anderen ist damit der Beweis der Existenz eines kosmischen Gottes, einer kosmischen Seele, die gut und vernünftig ist, vollendet. Das müssen wir hier nicht weiter kritisieren und kommentieren. Für unseren Gedankengang ist ja nicht von Bedeutung, ob die Argumente zum Gottesbeweis wirklich hinreichen oder nicht. Uns kommt es darauf an, die Überlegungen in Hinsicht auf überzeugende Gründe für die Idealität der Gesetze auszuwerten, die durch Individuen und Gesellschaften gesetzt werden. Entsprechend haben wir in unserer Rekonstruktion bisher beobachtet, dass bis hin zu diesem letzten Schritt des Beweises der Logos der selbstbewegten Seele indifferent gegenüber der Unterscheidung einer kosmischen und einer menschlich-individuellen Seele gehalten worden war. Zumindest implizit kann und muss es dabei auch bleiben. Im Gespräch geht man nämlich von dieser kosmischen Seele, die am selbstbewegten Bewegungssystem der Himmelskörper ihr Bild findet, zur Betrachtung eines Individuums innerhalb dieses Systems, nämlich der Sonne, über. Ebenso wie die Sonne nunmehr als individueller integraler Teil des selbstbewegten Seelensystems betrachtet wird (vgl. Legg. 898d3–e3), ebenso muss implizit oder dieser Analogie entsprechend auch das menschliche Individuum als integraler Teil des kosmischen selbstbewegten Seelensystems angesehen werden (vgl. dann später explizit Legg. 904b–d), sofern es – und das ist im Falle der menschlichen Seele nach der vorangegangenen Erkenntnis ihrer Freiheit zu ergänzen – sich selbst zur Integration bestimmt (vgl. etwa auch Legg. 689d4–e1). 28 Koller, Theorie des Rechts, a. a. O. (A. 3), S. 52. Nicht jede Annahme und nicht jedes Bild freilich darf man mit Hilfe dieses pragmatischen Arguments stützen. Das Kriterium ist oben bereits angegeben: Es muss vernünftiger Einsicht entsprechen. 29 Vgl. im Zusammenhang der Nomoi die Stelle: Legg. 663d–e, ansonsten Rep. 382c–d, 389b, 414b–c, Phaedr. 261c, Phaed. 114d, Polit. 303e–304d und zum Verhältnis Platons zur Rhetorik: Görgemanns, a. a. O. (A. 2), S. 57–65.

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Dasselbe gilt für jeden Einzelgott des religiösen Kultus. Auch ein solcher ist nach diesen Bedingungen in Wahrheit nur dann ein Gott, wenn er so gedacht werden kann und gedacht wird, dass er sich in dieses Vernunftsystem integriert. Einzelne Formulierungen lassen diese Abhängigkeit des Göttlichen von der Vernunft durchaus erkennen (vgl. Legg. 897b1 f.). Alles, was „heilig“ genannt zu werden verdient, bis hinunter zu einzelnen Entscheidungen des alltäglichen Lebens, die wie die Unterteilung des Staatsgebietes in eine bestimmte Zahl von Phylen vor dem Zugriff der Willkür geschützt werden sollen, müssen als göttlich-vernünftig gedacht werden können: „Jeden Teil haben wir uns nun als heilig zu denken, als eines Gottes Geschenk, da er den Monaten entspricht und dem Kreislauf des Alls“ (ÅkÜsthn dÌ tÌn moi~ran dianoei~sffiai xrešn ¼ò offsan ÁerÜn, ffieou~ dw ~ ron, ÅpomÍnhn toi~ò mhs˝n ka˝ t´h~ tou~ pant˛ò periüd`w, Legg. 771b4–6, Hervorhbg. d. Vf.). Diese logische Abhängigkeit des Begriffs von „Gott“ und einem „Göttlichen“ lässt sich in der Fortsetzung des Vorgetragenen vielleicht sogar am besten dadurch charakterisieren, dass auch hier ein „Funktionsbegriff“ vorliegt: „Gott“ oder „göttlich“ ist, was die Funktion erfüllt, welche die Vernunft ihm zuschreibt, die Funktion, welche vernünftig gerechtfertigt ist (vgl. Legg. 818a–b, 899b6 f. u. 941b8–c2). Dass dabei differenziert werden muss, ist nach den Nomoi klar (vgl. Legg. 904b); denn selbst Dämonen, Heroen, die Vorfahren und die noch lebenden Eltern der Menschen (vgl. 717b) haben, wenn man es nur vernünftig-rational anlegt, vernünftige kultisch-religiöse Funktionen, aber unterschiedliche, die dazu berechtigen, sie „göttlich“ oder „heilig“ zu nennen.30 A Fortiori gilt dies natürlich für das vernünftige Rechts- und gesetzlich geregelte Gesellschaftssystem (vgl. Legg. 713a), weil es alle diese göttlich-vernünftigen Funktionen setzt, ihnen Geltung verschafft und die Bedingungen für ihren Erhalt sichert. Deshalb hat man sich im übrigen auch die Götter so zu denken, wie es das Gesetz vorschreibt (vgl. Legg. 890a6 f., b6 f.). Was haben wir jetzt alles von Platon gelernt bezüglich unserer Ausgangsfrage? Wovon muss man den Rechtsbrecher überzeugen oder den, der das Gesetz noch nicht gebrochen hat, der nur daran zweifelt, aber kurz davor steht, es zu brechen? Nun, man müsste ihn davon überzeugen, dass er sich in einem ganz grundsätzlichen Irrtum befindet, wenn er etwa das Übertreten 30 So hat z. B. die Einrichtung der heiligen Bezirke den vernünftigen Sinn, dass die Menschen dort eine Stelle zur Versammlung haben, wo sie sich bei kultischen Gebräuchen (Opfern) kennenlernen und miteinander vertraut machen können (vgl. Legg. 738d). Die Einrichtung dient dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Verehrung der Eltern und Vorfahren dient der Vermeidung von Eitelkeit (man soll „alles was man erworben hat und besitzt, als Eigentum derer betrachten, die uns erzeugt und aufgezogen haben,“ Legg. 717b8–c1.). Vgl. aber zum möglichen Missbrauch Legg. 909d–910d.

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des Gesetzes oder eines Gesetzes als eine isolierte Handlung, einen Ausrutscher, eine Ausnahme betrachtete. Es ist vielmehr eine Negation der Integration in ein vernünftiges System, eine Negation, die ebenso sicher auf das System zurückwirkt, wie sich das System bis ins Kleinste und Individuellste hinein erstreckt (vgl. Legg. 903b–c). Obwohl es selbst weder im Großen noch im Kleinen empiristisch zugänglich ist, sind die Bewegungen und Wirkungen im System empirisch unbestreitbar. Diese Bewegungen und Wirkungen folgen vernünftigen Gesetzen, wenn ihnen zugetraut wird, vernünftigen Gesetzen zu folgen. Umgekehrt: Traut man es ihnen nicht zu, braucht man sich über Unvernunft und deren praktische Variante Ungerechtigkeit nicht zu beklagen. Was Vernunft als Gesetz des Systems genau heißt, wissen wir durch die Ausführungen im Gottesbeweis zwar noch nicht hinreichend, und dies bedarf weiterer Bestimmung und Erläuterung. Klar ist jedoch, dass Vernunft es ist, die die Richtungsentscheidungen des autonomen selbstbewegten Bewegungssystems auszeichnet, und dass das Individuum schon die Voraussetzung für die Vernunft im System verfehlt, wenn es sich selbst und das System im Großen nicht als frei bzw. zur Selbstbewegung und Selbstbestimmung fähig interpretiert. Vor diesem Hintergrund muss es sich und das System, in das es physisch wie gesellschaftlich integriert ist, sogar als der Vernunft bedürftig, und zugleich wiederum auch als zur vernünftigen Selbstbestimmung fähig erkennen. Eines wissen wir im übrigen über diese Vernunft dann doch schon, nämlich dass sie bei höchster Differenzierung für ihre integrierten Teile ein einziges, entsprechend komplexes Bewegungsgesetz fordert und realisiert. Dieses komplex-vernünftige Selbstbestimmungsgesetz liefert auch dem Subsystem von Recht und Gesetz auf der gesellschaftlich-politischen Ebene sein Gesetz. Entsprechend überträgt sich die Würde, die wir der vernünftigen Selbstbestimmung im allgemeinen geben müssen, auch auf Recht und Gesetz. Dass das Gesetz mit Gewalt zwingt, tut dieser Würde keinen Abbruch. Und es kann dies auch nicht zum Gegensatz zwischen Vernunft und Gesetz stilisiert werden, als ob Vernunft mit Zwang und Gewalt unvereinbar wäre. Die besondere Vernunftgemäßheit des gewaltsam zwingenden Gesetzes liegt gerade darin, für den Notfall und nur in diesem auch zur Gewalt greifen zu können: wenn alle Bemühungen, den unheilbar Unvernünftigen zu überzeugen, gescheitert sind und dessen Handlungen die Realisierungen freier vernünftiger Selbstbestimmungsfähigkeit des Systems in großen oder in kleineren bis individuellen Subsystemen gefährden.31 31 Dies ist die Antwort der Gesellschaft auf „Unheilbarkeit“. Auf individueller Ebene ist „Kampf und Gegenwehr“ erlaubt und in gewissem Sinne sogar geboten (vgl. Legg. 731b); denn der Athener führt hierauf bezogen eine „edle“ Form des „Zorns“ ein (ebd.). Das Problem, wer und nach welchen Kriterien die „Unheilbarkeit“ diagnostiziert, bleibt jedoch schwierig, Irrtümer jederzeit möglich. Im Falle ei-

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Nicht einmal das Fehlen genauerer Bestimmungen der Vernunft an dieser Stelle kann man meines Erachtens Platon zum Vorwurf machen. Was die Vernunft ist, was das Gute ist, lässt sich durch einen einfachen Logos und in S-ist-P-Propositionen nicht ausdrücken. Aus diesem Grund hat Platon bekanntlich in den Dialogen zu Gleichnissen gegriffen, wenn er nichtsdestoweniger mit solchen Forderungen konfrontiert wurde bzw. wenn er selbst den Vertreter seiner Position im Dialog aus didaktischen Gründen damit konfrontiert. Platons Begriff des „Guten“ und der „Vernunft“ ist deshalb nicht ausschließlich gleichnishaft unbestimmt. Der Logos der Vernunft und des Guten, wie ihn Platon erkannt und mit Gründen verteidigt hat, umfasst die positiven wie negativen Bestimmungen, die man aus sämtlichen Dialogen zum Thema gewinnen kann. Sie wären systematisch zu einem komplexen und makrologisch entwickelten Begriff zu ordnen, sofern sie es nicht schon sind. Dabei ist entscheidend, dass dieser Begriff systematisch offen ist. Kritische Einwände und Verbesserungen sind jederzeit erwünscht und willkommen: ka˝ sullÜmbane (Legg. 969d2)!32

nes solchen Irrtums würden im übrigen Strafe, „Kampf und Gegenwehr“ Unrecht bedeuten. Die Konzeption befände sich dadurch in einer Spannung zum Gebot aus dem Gorgias, man möge lieber Unrecht leiden, als Unrecht tun. 32 Offenheit für Kritik schließt Kritik auf Grund von historischen und empirischen Erfahrungen ein. So müsste man dem Verfechter unveränderlicher Gesetze in den Nomoi (vgl. Legg. 798a–b) meines Erachtens vorhalten, dass man die Dynamik der Entwicklung von Gesellschaften nicht unterschätzen darf. Diese macht eine permanente Anpassung des Rechtssystems notwendig (vgl. Koller, Theorie des Rechts, a. a. O. (A. 3), S. 59, der dies die „Gestaltungsfunktion“ des Rechts nennt). Die Instrumente dazu müssen institutionalisiert werden und ihrerseits kontrollierbar angelegt sein. Ein Ansatz dazu stellt in den Nomoi die „nächtliche Versammlung“ dar. Die Intention, die mit ihr verbunden ist, dürfte jedenfalls die sein, Korrekturen des Rechtssystems zu erdenken und umzusetzen. Dazu greift sie auch auf die Erkenntnisse von Beobachtern anderer Rechtssysteme in anderen Ländern und von Beobachtern des eigenen Rechtssystems im Inneren zurück. Sie ist damit im Sinne des Vorgetragenen ein Subsystem vernünftiger Selbstbestimmung, das in das System hineinwirkt, dessen Teil es ist, diese Wirkung (durch kritische Selbstreflexion) kontrolliert und korrigiert – dies alles vor dem Hintergrund von Einsichten in das Wirkungssystem der Vernunft im großen und in die vernünftige Integration aller Subsysteme.

Die Republik und die Gesetze in den Doppelwerken Platons und Ciceros*, ** Von Okko Behrends I. Die Republik als Verfassungsideal der Neuzeit Am Ende der verfassungsgebenden Versammlung, der Constitutional Convention von Philadelphia 1787, wurde Benjamin Franklin gefragt: „Was habt ihr erarbeitet? (What have you wrought?)“. Er antwortete: „Eine Republik, wenn ihr sie bewahren könnt (A Republic, if you can keep it)“. Gegen Ende des Sezessionskrieges, der die Sklavenbefreiung brachte, fasste Abraham Lincoln die gleiche Tat im Rückgang auf die vorausgegangene Unabhängigkeitserklärung von 1776 in einer Weise zusammen, die bis in die Wortwahl hinein der Sicht entspricht, mit der Friedrich Carl von Savigny in seinem „System des heutigen römischen Rechts“ den Staat aus dem Volksgeist hervorgehen ließ. Lincoln erinnert am Anfang der Gettysburg Address von 1863 an die Gründungstat: „Four score and seven years ago our fathers brought forth on this continent, a new nation, conceived in Liberty, and dedicated to the proposition that all men are created equal“ und schließt mit dem sich am Ende auf alle Völker ausweitenden Wunsch: „that this nation, * Einleitend gilt mein besonderer Dank Barbara Zehnpfennig für die Einladung des Rechtshistorikers zu einer Tagung, die sie unter ein besonders fruchtbares, Recht und politische Philosophie verbindendes Leitthema gestellt hatte. Herkunft, Tragweite und Aktualität der Fragestellung werden durch ihre am Ende (S. 248) ihres von ciceronischer Liberalität getragenen Buches „Platon zur Einführung“ (2005) genannten Publikationen ins Licht gestellt: „Reflexion und Metareflexion. Ein Strukturvergleich des Platonischen ‚Charmides‘ und Fichtes ‚Bestimmung des Menschen‘ “ (1987), „Hitlers ‚Mein Kampf‘. Eine Interpretation“ (2000) und die Übersetzung und Präsentation von Hamilton/Madison/Jay, Die Federalist Papers (1993). Vgl. jetzt auch ihren Artikel „Der platonische Staatsmann und seine Wiederbelebung im amerikanischen Neokonservatismus“, in: Politikos – Vom Element des Persönlichen in der Politik, Festschrift für Thilo Schabert (2008) S. 95–112. ** Folgende Übersetzungen wurden herangezogen: Diogenes Laërtes, Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Aus dem Griechischen übersetzt von Otto Apelt. 2. Auflage 1967. Philosophische Bibliothek. Felix Meiner Verlag; Platon, Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch (1977; Nachdruck 1990): V. Politeia (Übersetzung: Friedrich Schleiermacher) VI. Theaitetos (Friedrich Schleiermacher) VIII. Nomoi 1–6 (Klaus Schöpsdau); 7–12 (Klaus Schöpsdau und Hieronymus Müller). Die übrigen Übersetzungen sind solche des Autors.

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under God, shall have a new birth of freedom – and that government of the people, by the people, for the people, shall not perish from the earth“. Savigny formulierte 23 Jahre früher mit gleicher universaler Geltung (System I [1840] S. 29; Hervorhebungen im Original): „der Staat ursprünglich und naturgemäß in einem Volk, durch das Volk, und für das Volk.“ Beschworen ist von beiden eine spirituelle, höhere, sich selbst gleiche, aber in der Wirklichkeit immer neu erscheinende Kraft, welche die Menschen in den Völkern ergreift und zur Gründung von Republiken befähigt1, wobei allerdings Savigny das „politische Prinzip“, das in der republikanischen Verfassung Roms das von ihm neu systematisierte Recht erzeugt hatte, für die eigene Zeit durch eine entschiedene Romantisierung des Volksbegriffs machtpolitisch entschärfte2, es aber gleichwohl rechtswissenschaftlich im Zentrum hielt, indem er aus ihm eine nachdrückliche Fundamentalkritik des rationalistischen Gesetzgebungsstaates der französischen Revolution ableitete und das Primat einer dem freien Zusammenleben dienenden, eine normative, geistige Tradition aktualisierenden Rechtswissenschaft einforderte.3 Diese Sicht sieht im Zentrum die im Kern 1 Näher zu den Zusammenhängen Okko Behrends, Mommsens Glaube. Zur Genealogie von Recht und Staat in der Historischen Rechtsschule (2004) S. 16 ff. 2 Savigny, System I S. 30 definiert seinen Volksgeist als „das ideale Recht des Volks als Naturganzen“ und unterscheidet von ihm das „historische Recht des Römischen populus“. In der Verwendung des Vorbildes unterscheidet Savigny zwei weitere Volksbegriffe, von denen der eine nur die in einem Staat lebenden untertänigen Individuen, d.h. ohne die Regierenden, der andere alle ohne Ausnahme erfasst. In der ersten der beiden weiteren damit gegebenen Möglichkeiten kritisieren seine Worte die französische Revolution: Wer auf diese Weise die „Gesammtheit der Unterthanen“ durch das römische Vorbild ermächtigen wolle, versuche, „mit Umkehrung aller Wahrheit, die Herrschaft den von Rechts wegen Gehorchenden beyzulegen“. Die anschließende Ablehnung einer Republik, in der in antiker Weise das Herrschen und Beherrschtwerden grundsätzlich auf alle im Staat erstreckt wird, stützt Savigny auf drei Argumente, in denen sich in steigendem Maße ein romantischer Volksbegriff bekundet, nämlich dass „die einzelnen nicht als solche, und nach ihrer Kopfzahl, sondern nur in ihrer verfassungsmäßigen Gliederung den Staat ausmachen“, dass ferner, da angesichts der Minderjährigen (und damals auch der Frauen) nicht alle in der Verfassung handeln könnten, man insofern zu der „leeren Fiktion einer Vertretung“ Zuflucht nehmen müsse und dass schließlich das „ideale Volk“, im Unterschied zur Totalität der Einzelnen des gegenwärtigen Augenblicks, „die ganze Zukunft in sich schließt, also ein unvergängliches Daseyn hat“. In der Herleitung des Volkes aus der „Natur“ liegt die Möglichkeit für die spätere naturalistische, biologistisch-rassistische Deutung des Volkes, die Savigny fremd ist. Vgl. unten Anm. 4. 3 Sie ist Thema seiner erfolgreichen Programmschrift „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ (1814). Savignys rechtswissenschaftlicher, die Republik als Staatsform in der Vergangenheit haltender Republikanismus spricht sich dort (S. 12) in der Unterscheidung zwischen zwei „Lebensprinzipien“ („Elementen“, Daseinsweisen) des Rechts aus, einerseits dem „politischen“, in dem es das Volksleben ordnet und jedem bewusst ist, und dem „technischen“, in dem es

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auf dem eigenverantwortlichen Freiheitsbegriff des Privatrechts aufbauende, selbstbewusste, den Bürger und Menschen ins Zentrum stellende, menschliche Gesellung (nation, people, Volk): „We are the people . . .“ – „Wir sind das Volk!“. Es ist eine Gesellung, die, rechtlich verfasst, für Fremde grundsätzlich unbeschränkt aufnahme- und assimilationsfähig ist, mag sie auch, wie Savigny bemerkt, bei diesen Prozessen größere oder geringere Schwierigkeiten kennen, die von ihrem eigenen und dem Entwicklungsgrad der Hinzukommenden abhängig ist.4 Diese Assimilationsfähigkeit ist die moderne Version der in den republikanischen Staatstheorien des Hellenismus herrschenden Ansicht, dass ein Gemeinwesen stets zwei Zwecke erfüllt, nämlich die besonderen Rechte ihrer Bürgerschaft zu gewährleisten und eine Gliederung der zivilisierten Menschheit zu sein, die in der Gewährung von Rechtssicherheit zwischen Bürgern und Fremden nicht unterscheidet.5 sich zugleich „als besondere Wissenschaft in den Händen der Juristen“ befindet. Es heißt dann weiter (S. 13): „In verschiedenen Zeiten also wird bey demselben Volke das Recht natürliches Recht (in einem anderen Sinn als unser Naturrecht) oder gelehrtes Recht seyn, je nachdem das eine oder das andere Princip überwiegt, wobey eine scharfe Gränzbestimmung von selbst als unmöglich erscheint. Bey republikanischer Verfassung wird das politische Princip länger als in monarchischen Staaten unmittelbaren Einfluß behalten können, und besonders in der Römischen Republik wirkten viele Gründe zusammen, diesen Einfluß noch bey steigender Cultur lebendig zu halten.“ Zwar stammten die meisten Quellen aus der Kaiserzeit, aber (S. 89): „der Stoff ihrer Wissenschaft (war) den Juristen dieser Zeit schon gegeben, größtentheils noch aus der Zeit der freyen Republik“. Das Gültige der römischen Überlieferung ist danach nicht durch die geschichtliche Faktizität gegeben, sondern in historisch-kritischer Arbeit freizulegen (S. 8): „Wir befragen zuerst die Geschichte, wie sich bey Völkern edler Stämme das Recht wirklich entwickelt hat: dem Urtheil, was hieran gut, vielleicht nothwendig, oder aber tadelnswerth seyn möge, ist damit keineswegs vorgegriffen.“ 4 Savigny betont, System I S. 31, oft könne ein „fremdartiges Element dem Staat völlig assimiliert werden; nur hat die Möglichkeit einer solchen Assimilation ihre Bedingungen und ihre Stufen, wie sie denn besonders durch einige Verwandtschaft des neuen Elements, so wie durch die innere Vollkommenheit des aufnehmenden Staates gefördert wird“. Seine Worte, System I S. 28, die Abraham Lincoln vielleicht durch Vermittlung bekannt geworden sind, weil sie der Formulierung, dass „der Staat ursprünglich und naturgemäß in einem Volk, durch das Volk, und für das Volk entsteht“ unmittelbar voraufgehen und zugleich sowohl das Thema des amerikanischen Bürgerkrieges berühren als auch in gewisser Weise die Niederlage der Konföderierten vorhersagen, sind im Lichte dieser Feststellung zu lesen: „Wo immer auch der Versuch im Großen gemacht worden ist, Massen von Menschen ohne Rücksicht auf gänzliche Stammesverschiedenheit willkührlich zusammen zu bringen, wie in den Amerikanischen Sklavenstaaten, da ist der Erfolg sehr unglücklich gewesen, und es haben sich der Staatenbildung unübersteigliche Hindernisse in den Weg gestellt.“ 5 Vgl. Okko Behrends, Che cos’era il „ius gentium“ antico?, in: Luigi Labruna (Hrsg.), Tradizione romanistica e costituzione (2006) S. 7–62. und derselbe, Das

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Die Frontstellung Savignys, der im Interesse einer freien Zivilgesellschaft das Ideal einer politisch neutralisierten Republik formulierte, und die der founding fathers, die aus den gleichen Gründen eine politische Republik ins Leben riefen, war die gleiche. Abgelehnt wurde der neuzeitliche Absolutismus. Jenen war er in der Gestalt des englischen Königs persönlich gegenübergetreten, Savigny gedanklich in der Gestalt des dem Willen der Nation unbeschränkte, durch nichts begrenzte Souveränität zusprechenden Gesetzgebungsstaats der französischen Revolution, den er programmatisch bekämpfte.6 Im Hintergrund stand in beiden Fällen mit mehr oder minder starker Bewusstheit, aber der Sache nach unverkennbar, die Verfassungsidee der res publica. Sie hatte sich nach römischer, in der Annalistik zur Herrschaft gekommenen Geschichtsdeutung schon unter den guten sechs Königen des Anfangs ausgebildet, bevor das Erlebnis der Tyrannis des siebten Königs die Bürger dazu zwang, sie als eine moderierte, demokratische und aristokratische Elemente aufnehmende Verfassung auch staatsrechtlich als wahre Republik hervortreten zu lassen. Nach fast 500 Jahren Bestand und tiefgreifender Hellenisierung ihrer tragenden Theorie wurde sie als Res publica restituta die eigentliche rechtliche Legitimation des augusteischen Prinzipats und zugleich, da sie den Menschen im Zentrum hielt, zur gewährleistenden Kraft der aus dem Freistaat kommenden Rechtslehren.7 Und in der Folge dieser nie in Frage gestellten Neugründung hat noch Justinian seine Kodifikation des römischen Rechts in Gestalt des Corpus iuris als eine Regulierung der ihm anvertrauten res publica gesehen, die in den von ihm verarbeiteten Quellen immer noch weithin von der spannungsvollen Überlieferung des römischen Freistaats geformt war.8 Es ist diese Kontinuität, die den staatsrechtlich gewissermaßen geheimen, aber für die freiheitliche Zivilgesellschaft des 19. Jh.’s, bedeutenden Republikanismus der jene Quellen in ein System bringenden Historischen Schule erklärt und ebenso die von ihr ausgehende entschiedene Abwehr des neuzeitlichen Etatismus’ bestimmt, der den Staat als Willensträger zum alleinigen, voraussetzungslosen Schöpfer des Rechts erhebt. Abgewehrt war damit der neuzeitliche Geheimnis des klassischen römischen Rechts. Menschliche Freiheit und Würde in schützenden, friedlichen Wettbewerb erlaubenden Formen, in: Byoung Jo Choe (Hrsg.), Law, Peace, and Justice. A Historical Survey (2007) S. 3–72. 6 Vgl. nur Siéyès, Qu’est-ce que le Tiers État, 2. Aufl. 1789: „La nation existe avant tout, elle est l’origine de tout. Sa volonté est toujors légale, elle est la Loi elle-même.“ 7 Vgl. Okko Behrends, Princeps legibus solutus, in: Die Ordnung der Freiheit, Festschrift für Christian Starck (2007) S. 3–33. 8 Vgl. Okko Behrends, Der Schlüssel zur Hermeneutik des Corpus Iuris Civilis. Justinian als Vermittler zwischen skeptischem Humanismus und pantheistischem Naturrecht, in: Martin Avenarius (Hrsg.), Hermeneutik der Quellentexte des Römischen Rechts (2008) S. 193–297.

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Gesetzesbegriff, der in seiner ahistorischen Radikalität eine Säkularisierung des biblischen Gesetzesbegriffs ist, der seinem inneren Wesen nach darauf gerichtet ist, eine homogene, von einem Geist erfüllte Gesinnungs- und Gehorsamsgemeinschaft zu konstituieren, und zwar im Neuen Testament in eschatologischer, nicht mehr auf diese Welt blickender Erwartung.9 Wo dieser Gesetzesbegriff als Säkularisat in der Welt herrscht, ist das staatliche Gesetz als potentiell radikal revolutionäre Kraft dem Recht übergeordnet und aus allen rechtlichen Bindungen befreit. In der Republik ist dagegen das Gesetz selbst ein Geschöpf der Rechtsordnung und hat als solches die Aufgabe, im Rahmen der Verfassung, die es in seinen Grundprinzipien nicht antasten kann, das Recht zu klären und in zahllosen Einzelfragen dem steten Wandel der Verhältnisse anzupassen. Wie im folgenden gezeigt werden soll, weisen sowohl die beiden Werke Ciceros, De re publica und De legibus, als auch ihre Vorbilder, Platons Politeia und Nomoi, jeweils durch ihre Titel und ihren Inhalt auf diesen in der Moderne mit ungeheurer Radikalität hervorgetretenen Gegensatz hin. Zugleich sind beide Doppelwerke ihrerseits Dokumente des Versuchs, die damit bezeichneten Unterschiede in einer bestimmten Richtung zu lösen. Um dies deutlich zu machen, ist es zweckmäßig, mit Cicero zu beginnen. II. Ciceros Doppelwerk De re publica und De legibus: eine Vermittlung zwischen römischer Republik und höherer Herrschaftslegitimation Die Haltung, die Cicero – bekanntlich sein Leben lang ein Anhänger der skeptischen Akademie – in seinen Staatsschriften gegenüber dem idealistischen Gründer der Akademie Platon bekundet, ist höchst auffällig und frappiert durch ihre Gegensätzlichkeit. Sie verbindet eine unzweifelhaft echte, tief empfundene Platonverehrung mit einer ebenso klaren Zurückweisung von Kernbestandteilen seiner Lehre. Seine „imitatio Platonis“ im Geist höchster Verehrung und Zuneigung bekunden Textzeugnisse aus beiden Schriften. In De re publica erhebt Cicero Platon geradezu zum „Gott der Philosophen“, so dass, wenn später Plutarch oder Schopenhauer von „Platon dem göttlichen“ sprechen (der Letztere in 9 Vgl. Okko Behrends, Das staatliche Gesetz in biblischer und römischer Tradition. Sinn- und Gemeinschaftsstiftung durch Gehorsam fordernden Befehl oder positive Satzung im Rahmen einer immer schon bevorstehenden Rechtsordnung, in: Okko Behrends (Hrsg.), Der biblische Gesetzesbegriff. Auf den Spuren seiner Säkularisierung (2006) S. 225–341. Siehe dazu die Besprechung von Otto Eckart, Zeitschrift für altorientalische und biblische Rechtsgeschichte 12 (2006) S. 409–412.

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wohl abgemessener Hierarchisierung gegenüber Kant)10, Cicero den Ton angegeben hat: Cicero, de re publica IV 5,5 (nach Lactanz, epit. 33 [38], 1) Platon, der Hörer des Sokrates, den Cicero den Gott der Philosophen nennt, der als einziger von allen so philosophiert hat, dass er der Wahrheit näher gekommen ist.

Entsprechend stolz und verehrungsvoll bekennt sich Cicero zu der in seinen beiden Schriften verwirklichten Platonnachfolge: Cicero, de legibus I 5,15 (Atticus spricht zu Cicero) Da du über den besten Rechtszustand des Gemeinwesens bereits geschrieben hast, ist es, wie es scheint, folgerichtig, dass du auch über die Gesetze schreibst. Denn das hat, wie ich sehe, auch dein Platon getan, den du so bewunderst, den du über alle stellst, den du am meisten liebst. Cicero, de legibus II 6,14 (es spricht Cicero) Platon, ein Mann höchster Bildung und zugleich der gewichtigste aller Philosophen, der als „erster“ über den Staat geschrieben hat11 und getrennt davon über die Gesetze.

Nur im letzten Fragment wird die Verehrung durch den Hinweis relativiert, dass es sachlich gar nicht so viele Übereinstimmungen gibt wie die zahlreichen Zitate glauben machen könnten. Cicero, de legibus III,1,1 (Cicero und Atticus im Wechselgespräch) Ich will also, wie ich es geplant habe, jenem göttlichen Mann folgen, den ich vielleicht aus einer gewissen Bewunderung häufiger zitiere als nötig. – Du meinst offenbar Platon. – Ja, Atticus.

Das entspricht der voraufgegangenen Äußerung, die er in der gleichen Schrift seinem Bruder in den Mund legt, wonach sich in Wahrheit die Nachahmung Platons auf die äußere Dialogform beschränkt, während Cicero in der Sache ganz eigene Wege geht. Cicero, de legibus . II,7,17 (Quintus Tullius Cicero spricht und Marcus antwortet) . . . darüber freue ich mich sehr, dass du dich in anderen Sachverhalten und Ansichten bewegst als jener [sc. Plato]. Denn nichts könnte so verschieden sein wie 10 Vgl. Plutarch, De capienda ex inimicis utilitate 8,90c und den Auftakt des ersten Satzes von Arthur Schopenhauers Dissertation, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund, 1813, 2. Aufl. 1847: „Plato der göttliche und der erstaunliche Kant vereinigen ihre nachdrucksvollen Stimmen etc.“ Eine Bewunderung, die zugleich eine pointierte Einordnung in das Menschliche und daher Kritisierbare einschließt, dagegen bei Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I (UTB Francke, 6. Aufl. 1980) S. 141: „der größte Philosoph aller Zeiten (denn das war Platon)“. Vgl. ebenda S. 212 f. 11 D. h. als der Schriftsteller, dem von Cicero der erste Rang zuerkannt wird. Denn geschrieben über den Staat haben andere vor ihm wie Hippodamos von Milet und Platons großer Antipode Protagoras. Vgl. unten Anm. 53, 62 und 83.

Die Republik und die Gesetze in den Doppelwerken Platons und Ciceros 139 das, was du vorhin gesagt hast, sogar selbst das Proömium über die Götter. Nach meinen Eindruck ahmst du nur eines nach, den Stil der Rede. – Ich habe es vielleicht versucht. Denn wer kann oder könnte es ihm jemals gleichtun? Seine Ansichten zu übersetzen wäre dagegen sehr leicht; ich würde es tun, wenn ich nicht doch ich selbst bleiben möchte.

Das trifft zu. Cicero übernimmt in De legibus zwar Einzelregelungen aus den Nomoi, z. B. das in wörtlicher Übersetzung referierte Verbot, fruchttragenden Acker zu konsekrieren12, aber sein Verfassungsentwurf, der eine archaisierende, den Zwölftafelstil nachahmende Normierung des eigenrömischen, zutiefst republikanischen Rechtszustands ist, hat, wie er seinen Bruder Quintus ganz richtig feststellen lässt, vom Grundansatz her mit Platons Absicht, Verfassung und Gesetz in den Dienst der seelischen Erziehung des Menschen zu stellen, nichts zu tun. Diese Absicht Platons tritt, wie kürzlich treffend festgestellt worden ist, in den beiden Schriften mit steigender Entschiedenheit und Klarheit hervor.13 Cicero lag dagegen ein solcher Erziehungsauftrag des Gesetzgebers fern. Für ihn, der die hellenistische Philosophie seiner Zeit als Römer und vor allem auch als Schüler römischer Juristen kennengelernt hatte, war die durch Philosophie mögliche cultura animi nicht Sache eines Gebieters, sondern Sache jedes einzelnen der in der Rechtsordnung gesellig, aber frei lebenden und eigenverantwortlich um ihre Ausbildung und Bildung bemühten Menschen.14 12 Cicero, de legibus II 18, 45 (II 9,22). Der von Platon geäußerte Gedanke, dass zu bearbeitendes Land bereits auf seine Weise den Göttern geweiht und daher eine erneute Weihung unzulässig sei, war eine Klärung, die der römischen Religion nicht widersprach, da in ihr der älteste Kult in den bei der Rodung stehen gebliebenen und als solchen den Mächten geweihten Hainen stattfand, während der gerodete Boden der menschlichen Nutzung durch eine augurale Vermessung zubereitet wurde, die diesen mit der segnenden Wirkung „des Friedens und der Gnade der Götter“ (pax et venia deum) unter Jupiters Friedenshoheit stellte. 13 Vgl. R. F. Stalley, An Introduction to Plato’s Law (1983) S. 85 „The key virtue in the Republic is justice both in the state and in the individual. One major difficulty in the Republic is that the relationship between the just individual and the just state is purely analogical. The state is just when the three classes which comprise it are properly related to one another. The soul of the individual is likewise just when its three parts exhibit the correct kind of order. On this account there is no obvious reason why the just state, rather than states of other kinds, should be inhabited by just individuals. In the Laws there is also a parallel between the state and the soul, but the connection between the good state and the good soul is much more obvious. One can see why the sovereignty of law should flourish only where the citizens possess sophrosune and also how recognition of the sovereignty of law might itself promote that virtue.“ 14 Cicero, Tusculanae Disputationes II 5,13 „So wie ein Acker, obschon fruchtbar, ohne Ackerbau (cultura) nicht fruchbar sein kann, so auch ein Geist nicht ohne Lehre (doctrina): und daher sind beide ohne das andere schwach; der Ackerbau der Seele (cultura animi) ist aber die Philosophie.“ Da jeder seinen „Acker“ selbst bestellt und selber urteilen muss, ist eine Verständigung unter Menschen nicht leicht.

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Die Gründe, die ihn bestimmen, sich inhaltlich gegen Platon zu entscheiden, werden von ihm deutlich artikuliert. Zunächst ist es die Überzeugung, in einer Verfassung zu leben, die von ihrem in ihrer Gründungs- und Entwicklungsgeschichte wirkenden inneren Prinzip sich als freiheitliche Lebensordnung so sehr vor allen anderen bewährt habe, dass es ganz verfehlt wäre, statt ihrer, so wie es Sokrates bei Platon getan habe, eine ganz neue zu entwerfen. Dieses innere Prinzip ist, wie er, den führenden Iurisconsultus der ersten Hälfe des 2. Jh. v. Chr. und Verfasser der Origines Cato Censor zitierend15, ausführt, dass die Verfassung Roms nicht wie bei den maßgebenden Staaten Griechenlands das Werk eines Gesetzgebers, sondern das Ergebnis des Zusammenwirkens vieler Menschen und vieler Generationen gewesen sei. Cicero, De re publica II 1,2 Dieser (d.h. der Censor Cato) pflegte zu sagen, dass die Verfassung unserer Bürgerschaft deswegen die der anderen Bürgerschaften übertreffe, weil es in jenen fast immer Einzelne waren, von denen einer jeweils sein Gemeinwesen durch Gesetze und Einrichtungen verfassungsrechtlich gegründet habe wie Minos bei den Kretern, Lykurg bei den Spartanern [. . .], während unser Gemeinwesen nicht von dem Talent eines einzigen, sondern vieler, und nicht während des Lebens eines einzigen Menschen, sondern in mehreren Zeitaltern und Generationen gegründet worden ist. [. . .]. 3 [. . .] Das, was ich mir vorgenommen habe, werde ich leichter erreichen, wenn ich unser Gemeinwesen vorführe, als wenn ich mir, wie Sokrates bei Platon, irgendeines ausdenke.

Deutlicher formuliert Cicero den gleichen Gedanken in der zweiten Schrift, die mit ihrem die dezemvirale Sprache nachahmenden Gesetzgebungsstil mit gleicher Entschiedenheit die Verfassung der Vorfahren zum Vorbild hat: Es gehe ihm um eine Gesetzgebung für freie Völker, d.h. um solche, welche die Formen des richtigen Zusammenlebens unter Menschen aus eigener, fachwissenschaftlich betreuter Einsicht erkannt und Magistrate gewählt haben, um sie zu gewährleisten. Cicero, de natura deorum III 1,1 „Da aber ein jeder sein Urteil gebrauchen muss, ist es schwierig zu bewirken, dass ich das meine, was du willst.“ Es ist daher Aufgabe der Recht und Ethik umfassenden, das Wahrscheinliche herausarbeitenden Fachwissenschaften, Kenntnisse zu etablieren, an denen sich der Mensch orientieren kann. 15 Der Entwurf der römischen Rechtsgeschichte, der uns (wahrscheinlich in Form einer Kollegnachschrift) erhalten ist, weist ihm (mitsamt seinem spätgezeugten Sohn Licinianus) die nicht unbedeutende Rolle eines Vermittlers zu, die eines Juristen zwischen dem ersten Zwölftafelkommentar des von Ennius zitierten Sext. Aelius, dessen Werk im Rückblick als „Wiege des Rechts (cunabula iuris)“ gesehen wurde, und den drei Juristen, die das „Bürgerliche Recht (neu) gegründet hätten“ und deren Erträge Q. Mucius Scaevola p.m., Ciceros zweiter Lehrer in der vorklassischen Jurisprudenz, zusammenfasste. Vgl. Pomponius lb sg enchiridii D 1,2,2 §§ 38–41 (§ 38 a. E.).

Die Republik und die Gesetze in den Doppelwerken Platons und Ciceros 141 Cicero, de legibus III 2,4 (Cicero spricht und antwortet seinem Bruder) Wir aber, die wir Gesetze für freie Völker geben und das, was wir im Hinblick auf das beste Gemeinwesen meinen, zuvor in sechs Büchern ausgeführt haben, formulieren bei dieser Gelegenheit passende Gesetze für den Rechtszustand der Bürgerschaft, den wir richtig finden. Es bedarf daher der Magistrate, ohne deren Klugheit und Sorgfalt eine Bürgerschaft nicht bestehen kann, und in deren Ordnung die gesamte auf ein rechtes Maß gebrachte Verfassung des Gemeinwesens enthalten ist. [. . .] 2, 5 Mein Platon [Nomoi 701c] versetzte in das Geschlecht der Titanen diejenigen, die sich den Magistraten widersetzen so wie einst jene sich den Himmelsgöttern. [. . .] 5,12 [. . .] – Du hast die Ordnung aller Magistrate vor Augen geführt; aber es ist doch fast ganz die unserer Bürgerschaft, auch wenn du ein wenig Neues hinzugefügt hast. – Das hast du sehr richtig beobachtet, Quintus. Es ist nämlich die von Scipio in jenen Büchern gelobte und mit höchster Entschiedenheit gebilligte, gemäßigte Herrschaftsform des Gemeinwesens, die anders als durch eine solche Ordnung der Magistrate nicht erreicht werden kann.

Die Lehre von der Magistratur mit ihren Regeln über Wahlen, Kompetenzen, Amtsdauer und Bindung an das Recht ist, wie noch Ulpian in seinem Lehrbuch lehrt, das Zentrum des ius publicum, d.h. des republikanischen, eine gemischte Verfassung etablierenden Staatsrechts. Der Magistrat gewährleistet die Rechtsordnung und darin schulden ihm die Menschen Respekt, den er sich nötigenfalls auch mit den ihm rechtlich zur Verfügung gestellten Mitteln zu verschaffen weiß.16 Daher scheint es mir auch nicht frei von nachsichtiger Ironie, wenn Cicero im oben angeführten Text Platon mit einer Ansicht zitiert, die den Ungehorsamen, statt ihn mit rechtlichen Mitteln zur Ordnung zu rufen, mit der ganzen Wucht eines archaischen Mythos überzieht und in die Rolle der Urfeinde der Zivilisation stellt. Der zweite Grund, der als offene Platonkritik auftritt, gibt dem ersten theoretischen, kulturanthropologischen Rang. Platon und der insofern Schüler gebliebene Aristoteles hätten gemeint, dass Gerechtigkeit eine lediglich fremdnützige Tugend sei, die es als solche nur bei den Herrschern gebe. Cicero, de re publica III 7,10 (lat. Text nach Laktanz, epit. 50 [55] 5–8) Die meisten der Philosophen, vor allem aber Platon und Aristoteles, haben über die Gerechtigkeit gesprochen, und diese Tugend mit höchstem Lob anerkannt und gerühmt, weil sie jedem das Seine gewähre, weil sie die Gleichheit gegenüber allen wahre, und weil allein die Gerechtigkeit, während die anderen Tugenden gewissermaßen schweigend wirken und im Inneren verschlossen sind, so beschaffen 16 Ulpian 1 institutionum D 1,1,12 „Das öffentliche Recht besteht [. . .] aus den Magistraten.“ Vgl. Livius IV 4,1–5,7. Zur Veranschaulichung Ulpian 1 ad edictum D 2,3,1 pr „Allen Magistraten [. . . ] ist es gemäß dem Recht ihrer Amtsgewalt erlaubt, ihre Jurisdiktion zu verteidigen“; Paulus 1 ad edictum D 2,1,20 „Außerhalb des Territoriums des Recht sprechenden Magistrats ist Ungehorsam straflos. Dasselbe gilt, wenn er über die Grenzen seiner Jurisdiktion hinaus Recht sprechen will.“

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ist, dass sie weder nur mit sich selbst beschäftigt ist noch sich verborgen hält, sondern ganz nach außen hervortritt, und bestrebt ist, Gutes zu tun, auf dass sie möglichst vielen nütze. Als ob Gerechtigkeit allein im Richter oder in einem in irgendeiner Machtstellung Stehenden wirksam sein müsse und nicht in allen! In Wahrheit gibt es niemanden unter den Menschen, auch nicht unter den einfachsten und ärmsten, den die Gerechtigkeit nicht erfassen kann. Aber weil sie [Platon und Aristoteles] verkannten, was jene höchste Tugend, d.h. was dieses „Gut, das allen gemeinsam ist“ in Wirklichkeit ist, von woher es seinen Einfluss ausübt, was es für eine Aufgabe hat, haben sie es wenigen zugeteilt und behauptet, dass es nach keinerlei Eigennutz trachte, sondern allein dem Vorteil anderer diene. Und nicht ohne Grund trat Karneades auf, ein Mann höchsten Talents und Scharfsinns, der die Rede jener Philosophen widerlegte, nicht weil er fand, dass man die Gerechtigkeit schmähen müsse, sondern um zu zeigen, dass jene Verteidiger der Gerechtigkeit über diese nichts Gewisses und Festes vorbrachten.

Lactanz, der in Cicero nicht nur den Redner verehrte, sondern ihn am liebsten, Ciceros skeptisch abgetönte Liebe zu Platon nachempfindend, noch nachträglich bekehrt hätte17, folgt hier, wie Cicero selbst, den er ausgeschrieben hat, der berühmten Gerechtigkeitskritik des Karneades, die dieser im Jahre 156/5 in Rom vorzutragen Gelegenheit hatte, und zwar, wie wir heute genau wissen, wahrlich nicht vergebens, da sie über die skeptisch geprägte philosophische Rhetorik und die „Römischen Vorlesungen“ seines Enkelschülers Philon von Larissa in Rom am Ende einer Rechtslehre zum Erfolg verhalf, welche die skeptisch-humanistisch geprägte „Geistige Mitte“ des römischen Rechts zu werden bestimmt war.18 Die von Cicero und Lactanz erhobene Kritik wurde von den beiden großen, in Rom in hellenistischer Zeit nacheinander zur Geltung gelangten Rechtstheorien geteilt. Beide waren überzeugt, dass die Gerechtigkeit, die das Fundament jeder Rechtsordnung ist, anders als Platon es in zunehmen17 Vgl. Lactanz, Inst. III 13, 215 „Ich wünschte [. . .], dass Cicero ein wenig aus der Unterwelt emporsteige, auf dass der wortgewaltige Mann von einem nicht beredten Menschlein belehrt würde. Das „Menschlein (homunculus)“ konnte er bei Cicero finden, der von sich sagte, er verkünde nicht wie der pythische Apoll Gewisses (Tusc. disp. I 9,17), „sondern wie ein Menschlein unter vielen, das dem, was plausibel ist, vermutungsweise folgt (probabilia coniectura sequens). Denn um weiter voranzukommen, als dass ich Wahrscheinliches (veri similia) wahrnehme, fehlen mir die Mittel.“ 18 Siehe dazu jetzt Okko Behrends, Die geistige Mitte des römischen Rechts. Die Kulturanthropologie der skeptischen Akademie. Savigny-Zeitschrift, Rom. Abt. 125 (2008) S. 26–107, insbesondere S. 93 ff.; siehe auch derselbe, Das Geheimnis des klassischen römischen Rechts. Menschliche Freiheit und Würde in schützenden, friedlichen Wettbewerb erlaubenden Formen, in: Byoung Jo Choe (Hrsg.), Law, Peace, and Justice: A Historical Survey (2007) S. 3–72.

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der Entschiedenheit glaubte19, und anders als es nach ihm, insofern sein Schüler bleibend Aristoteles annahm20, weder rein uneigennützig noch bloße Herrschertugend sei, sondern ihre Kraft daraus beziehe, dass sie die grundsätzlich einen jeden Menschen ergreifende Vernunfteinsicht darstellt, dass zwischen dem Eintreten für die universale Gerechtigkeit und dem Geltendmachen des eigenen, individuellen, rechtlich geschützten Interesses, das den eigenen Lebenskreis bestimmt, kein Widerspruch, sondern vielmehr eine innere Übereinstimmung besteht. Daher vertreten auch beide Rechtstheorien eine republikanische Staatsentstehungslehre, freilich auf verschiedene Weise. Die für die vorklassische Jurisprudenz bestimmend gewordene, stoische Rechtslehre unterschied zwischen einer uranfänglichen, paradiesischen Kindheit des Menschengeschlechts, in der das Zusammenleben vom reinen, in naiver Unschuld beachteten Naturprinzip wechselseitiger Solidarität geordnet war, und der historischen Zeit, in der die alles determinierende göttliche Vernunft die Menschen selbständig und eigenverantwortlich wollte und daher in einem notwendigen Geschichtsprozess in Form von ordnenden Hinzufügungen (prosthe ¯´ kai) zur Natur die Rechtsordnungen der Poleis hervorbrachte, in deren Formen der Eigennutz und das Besondere und damit 19 Vgl. oben Anm. 13. Weil Platon den gewöhnlichen Menschen zur Herrschaft über sich selbst nicht für fähig hielt, lehrte er in den Nomoi 713c, dass der Mensch im Goldenen Zeitalter, der traditionellen Utopie der anfänglichen Unschuld, unter der Herrschaft höherer Wesen stand. „Weil nämlich Kronos erkannte, dass [. . .] keine einzige menschliche Natur fähig ist, in eigener Machtvollkommenheit alle menschlichen Angelegenheiten zu verwalten und dabei nicht von Übermut und Ungerechtigkeit erfüllt zu werden, [. . .] setzte er damals als Könige und Herrscher über unsere Staaten keine Menschen, sondern Wesen göttlicheren und besseren Ursprungs, nämlich Dämonen, so wie wir es jetzt bei den Schafen und allen zahmen Tierherden tun: nicht Rinder über Rinder, nicht Ziegen über Ziegen setzen wir ihnen als Führer ein, sondern wir selbst herrschen über sie, ein besseres Geschlecht als sie. In der gleichen Weise nun und aus Liebe zu den Menschen setzte also auch der Gott das bessere Geschlecht über uns, die Dämonen, welches mit großer Leichtigkeit seinerseits, zur großen Erleichterung unsererseits für uns sorgte und uns Frieden und Ehrfurcht und gute Gesetze und des Rechts Fülle schenkte und dadurch die Geschlechter der Menschen frei von Zwietracht und glücklich machte.“ Vgl. Politikos 270d–272d. 20 Auch Aristoteles entwirft den Staat aus der Perspektive des einsichtsvollen, erziehenden Gesetzgebers. Vgl. nur Politik VII, 13–16 (1331b–1336a). Daher sieht Aristoteles auch in dem zu Recht bewunderten fünften Buch der Nikomachischen Ethik im 10. Abschnitt (1137a, 31–1138a, 2) das Verhältnis zwischen formalem Recht und offen wertender Billigkeit im wesentlichen nur aus der Perspektive des Gesetzgebers und des Richters und nicht wie das rechtswissenschaftliche, von späteren hellenistischen Rechtstheorien geleitete römische Recht primär als Vermittlung zwischen der formalen Garantie subjektiver Freiheits- und Vermögensrechte und der bei ihrer Ausübung im Verkehr geschuldeten mitmenschlichen Rücksicht.

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auch Freiheit und Selbstverantwortung der Staaten und Bürger geschützt wurde. Das Naturrecht galt als fremdnütziges, die Menschen der neuen Lebensform weiterhin zu Zusammenarbeit und Austausch verbindendes Verkehrsrecht weiter. Römisch formuliert bildete sich damals die für jede civitas geltende Komplementarität von besonderem, eigennützigen, als universales Prinzip auch den fremden Bürger schützenden ius civile und dem fremdnützigen ius gentium. Die in konkreten Normen ausformulierten Verhaltensgebote folgten aus diesem dualistischen, die Menschen berechtigenden und verpflichtenden System des geordneten Zusammenlebens. Wenn Chrysipp am Anfang seiner Schrift „Über das Gesetz (Perì nómou)“ in einem berühmten, in die Digesten mit Herkunftsangabe aufgenommenen Satz vom verbietenden und gebietenden Gesetz als dem König aller göttlichen und menschlichen Dinge spricht, dann meint er diese konkreten Normen, kraft derer die göttlich-providentielle Natur dieser Philosophie das menschliche Leben leitet.21 Es wäre ein großes Missverständnis, wollte man daraus ableiten, Chrysipp habe in dieser Definition die Welt der Menschen als von einem homogenen Gesetz beherrscht gedacht und für einen Augenblick die Lehre seiner Philosophie vergessen, dass in historischer Zeit die in der Welt wirkende Vernunft die Menschen dazu bestimmt hat, die alten Naturstämme (gentes) zugunsten individueller Poleis oder Civitates zu verlassen, indem sie in der „volljährig“ gewordenen Menschheit das Streben nach dem Besonderen erregte. Die historische Vernunft befriedigte dieses von ihr selbst geweckte Bedürfnis in dem dualistischen, die Menschheitsgesellschaft gliedernden, aber nicht auflösenden System, das fortan von jedem Menschen die Vermittlung zwischen bürgerlichem Eigennutz und mitmenschlicher Fremdnützigkeit verlangte.22 Die akademische Skepsis, welche die klassische Jurisprudenz hervorgebracht hat, glaubte nicht weniger, dass die Rechtsordnungen der mediterranen Welt von Kräften hervorgebracht worden sind, die in jedem einzelnen wirkend zu dem Zusammentritt von Bürgerschaften geführt hatte. Nur fasste 21 Vgl. Marcian 1 institutionum D 1,3,2, wo sie in kennzeichnender Weise der auf Demosthenes zurückgeführten Gesetzesdefinition der rhetorisch humanistischen Tradition nachgeordnet erscheint. 22 Die wichtigsten Quellen sind v. Arnim, Stoicorum Veterum Fragmenta III S. 79 Nr. 323 (die Stadtrepubliken brechen als unter dem Prinzip des Besonderen und Eigennützigen stehende Zusätze zur Natur die natürlichen Stämme auf); S. 81 Nr. 328 (sie dienen als solche durch Rechtsschutzgewährung den Bürgern und allen auf ihrem Territorium lebenden Menschen) und S. 88 f. Nr. 360 (sie waren nötig, weil ein freies Leben in einer ausschließlich naturrechtlichen Ordnung nicht möglich ist) und für die vorklassische Jurisprudenz Roms Cicero, de officiis III 17, 69–70 und de oratore I 43,193 – 45,200. Für eine zusammenhängende Interpretation dieser und weiterer Quellen Okko Behrends, Che cos’era il „ius gentium“ antico?, in: Luigi Labruna (Hrsg.), Tradizione romanistica e costituzione (2006) S. 418–415.

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sie diese Kräfte von einem anderen Natur- und Erkenntnisbegriff ausgehend grundsätzlich anders auf. Was die Menschen zur Gründung von Civitates gebracht habe, waren hiernach vier distinkte Fähigkeiten, die vorstaatliche, von einem soziobiologischen (instinktgegründeten) ius naturale enthaltende Fähigkeit zum friedlichen, naturalistischen Leben in Familienverhältnissen und Tauschbeziehungen, die rationale Fähigkeit zur Wahrnehmung und Stabilisierung ordnender Strukturen (Institute) eines zivilisatorischen ius gentium, das Bedürfnis, diese nach den Umständen und positiven Richtigkeitsvorstellungen in zweckmäßig scheinender Weise gesetzlich und gewohnheitsrechtlich durch Regeln abzuändern (ius proprium civile) und schließlich ausbildungsfähige Ansätze zu einer emotiv begründeten Rechtsethik, die eine die Rechtsordnung verfeinernde Verhaltensleitung durch den Magistrat rechtfertigte.23 Cicero besaß eine genaue Kenntnis beider Jurisprudenzen. Mit der vorklassischen Jurisprudenz hat er sich in seiner Jugend als Schüler der beiden Q. Mucii Scaevolae, erst des Augur, dann des Pontifex, vertraut machen können, und er hat sie, wie viele Zitate beweisen, bis an sein Lebensende in lebendigster Erinnerung bewahrt.24 Die klassische Jurisprudenz hatte er als langjähriger Studiengenosse des Servius Sulpicius wie dieser an ihrer Quelle, der von der akademischen Skepsis geprägten philosophischen Rhetorik, kennen gelernt und ihren wesentlich dem Freund verdankten Erfolg nicht nur gepriesen, sondern auch durch eine eigene Programmschrift begleitet.25 Cicero folgt nun aber in seinen Staatschriften, wie er in der folgenden Stelle aus De legibus ausdrücklich sagt, keiner der beiden Jurisprudenzen, die er nacheinander als geltend kennen gelernt hatte, weder der vorklassischen, die ihr differenziertes System als vernunft- und naturrechtliche Interpretation der Zwölftafeln durchgesetzt hat, noch der klassischen, die ihr menschlich geschaffenes Recht vom Edikt, vom Jahresprogramm der Gerichtsmagistrate her konzipierte. Vielmehr will er der von beiden Traditionen getragenen, römischen Rechtsordnung durch eine erneute philosophische Herleitung eine höhere, umfassende, überpositive Geltungsquelle verleihen. Daher formuliert er: 23 Vgl. die näheren Nachweise in den oben Anm. 18 zitierten Abhandlungen „Die geistige Mitte“ und „Das Geheimnis des römischen Rechts“. 24 Vgl. nur Cicero, Laelius 1,1; de officiis III 17, 70. Im Brief ad familiares 7,22 schlägt Cicero, „nach weidlichem Trunk und spät (bene potus seroque)“ von einem geselligen Abend zurückgekehrt, das Ius civile des Q. Mucius pontifex auf, um seinen jungen Freund, den Juristen Trebatius, über eine in vorklassischer Zeit entschiedene Streitfrage zu informieren. 25 Vgl. den ausführlichen Lobpreis des Freundes Cicero, Brutus 41, 152, Ciceros von Gellius, Noct. Att. I 22,7 erwähnte Schrift De iure civili in artem redigendo und im übrigen erneut die oben Anm. 18 angeführten Arbeiten.

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Cicero, de legibus I 5, 17 (Atticus spricht zu Cicero) Nicht also aus dem Edikt des Prätors, wie die meisten jetzt [d.h. nach der Rechtsreform des Servius Sulpicius Rufus]26, und auch nicht aus den Zwölftafeln [d.h. wie vorher nach dem vorklassischen Recht, wie es Cicero bei den Mucii noch als geltend kennen gelernt hatte]27, sondern zutiefst aus dem dem Innersten der Philosophie meinst du [Cicero] das Recht schöpfen zu sollen.

Es geht um die Stabilisierung der Verfassungsverhältnisse von einem höheren Standpunkt aus, und zwar nicht nur für das seit dem Scheitern der gracchischen Reformen immer wieder von blutigen Parteikämpfen heimgesuchte und, wie Cicero erfahren musste, auch durch die Niederschlagung der catilinarischen Verschwörung keineswegs innerlich zur Ruhe gekommene Rom, sondern gleichzeitig mit universalem, für alle Gemeinwesen geltenden, verfassungstheoretischen Anspruch. Cicero, de legibus I 13,37 (Cicero spricht) Auf die Sicherung der Republiken, die Festigung der Rechtsverhältnisse und die Gesundung der [sc. im Innern zerstrittenen] Völker ist unsere gesamte Rede gerichtet.

Cicero lässt sich dann selbst für die eigenen Verhältnisse als der von der Philosophie ermächtigte Staatsmann in Vorschlag bringen. Die Rolle, in der er dies tun soll, ist die des – von ihm auch sonst oft als allgemein gültige Form beschworenen und als Ziel seines Ehrgeizes definierten28 – princeps civitatis, in dessen Person sich Philosophie und Regierungserfahrung vereinen. Cicero, de legibus III 6,14 (es spricht Cicero und Atticus antwortet) Einen, der in beiden Bereichen hervorragt, so dass er im Studium allen Wissens und in der Leitung der Bürgerschaft der erste ist, wen könnte man da außer ihm [d.h. den vorher erwähnten attischen Philosophen und Staatsmann Demetrius Pha26 Die programmatische Schrift des Servius Sulpicius – Cicero erwähnt ihn gleich im Anschluss rühmend als einen Mann von höchstem Ansehen und Wissen (summa auctoritate et scientia), der darin alle Juristen vor ihm überbiete – war in der Tat ein Decimus Brutus, dem späteren Caesarmörder, gewidmeter Ediktkommentar (Pomponius lb sg enchiridii D 1,1,2 § 44 a. E.), der erste in einer ruhmvollen, das klassische Recht prägenden Reihe. 27 In seiner Schrift De oratore I 43, 193–45, 200 führt er die enorme Fruchtbarkeit der alten, philosophisch inspirierten Zwölftafelinterpretation in einem Dialog zwischen Licinius Crassus und seinem ersten juristischen Lehrer Q. Mucius augur vor, nicht ohne am Ende auch des Sext. Aelius zu gedenken, der den ersten Zwölftafelkommentar vorgelegt hatte. Der Rhetor Licinius führt das Wort, ist aber voller Verständnis und Bewunderung für die ältere Jurisprudenz, obwohl er kurz vorher (I 42, 188–190) das sich in der philosophischen Rhetorik vorbereitende (dann von Servius verwirklichte) Projekt angekündigt hatte. Darin spiegelt sich Ciceros schon damals (die Schrift De legibus ist jünger) erreichte Haltung, die beide Richtungen gelten lässt, weil er sie beide von einer höheren Warte zu sehen gelernt hat. 28 Vgl. nur die Artikel in Pauly-Wissowas Realenzyklopädie (1939) Gelzer, M. Tullius Cicero (als Politiker) Sp. 828 f., Philippson, M. Tullius Cicero (Philosophische Schriften) Sp. 1116 f.

Die Republik und die Gesetze in den Doppelwerken Platons und Ciceros 147 lereus]29 so leicht nennen. – Ich glaube, es ist möglich, und zwar einen von uns dreien. [Atticus meint damit natürlich weder sich selbst noch Ciceros ebenfalls anwesenden Bruder Quintus, sondern seinen Freund.]

Cicero traut sich hier die Rolle zu, die im Somnium Scipionis im Traum (durch dessen gewaltsamen Tod allerdings vergeblich) Scipio Aemilianus angeboten und dort zugleich als gültiges Modell formuliert worden war.30 Damit hat Cicero in seiner Schrift De legibus nichts Geringeres getan, als das dann tatsächlich in Kraft getretene Modell des augusteischen Prinzipats zu konzipieren. Denn dessen verfassungsrechtliche Besonderheit bestand gerade darin, die beiden von Cicero erwähnten Jurisprudenzen, in denen Philosophie in positives Recht umgesetzt worden war, nebeneinander als Geltungsquellen des (von ihnen je in verschiedener Weise interpretierten) ius civile der nach weiteren schweren Bürgerkriegen im Jahre 27 v. Chr. wiederhergestellten Res publica anzuerkennen. Es verwirklicht diesen Gedanken, wenn Augustus die Vertreter beider Lehr- und Schultraditionen durch die Verleihung des ius respondendi ex auctoritate principis in Erwartung einer konvergierenden, die Rechtsordnung stabilisierenden Rechtsfortbildung für ihre professionelle Arbeit an der höheren Legitimation der neuen Herrschaft teilhaben lässt und diese damit gleichzeitig rückwirkend stärkt. Es war die in dieser Verleihung wirkende auctoritas principis, kraft derer Augustus aus der wiederhergestellten Republik herausragte und alle in ihr vorhandenen Ämter an Rechtssetzungsmacht übertraf, sie aber auch zugleich sicherte und legitimierte und mit dem, was er schützte, seiner Ausnahmestellung eine feste Grundlage schuf. Auf diese Weise wurde der Kompromiss zwischen der Republik, die als Lebensform der Zivilgesellschaft fortdauerte, und der monarchischen Ausnahmegewalt gefunden, der noch Justinians Kodifikation belebte.31 29 Die zehn Jahre, in denen dieser Schüler des Theophrast Athen verwaltet hat, galten als eine besonders glückliche Periode der späteren Geschichte dieser Stadt. Von den zahlreichen Schriften des peripatetischen Philosophen ist nichts erhalten. 30 Vgl. Cicero, de republica 12,12–13,13. Während sich für Scipio die Bedingung, die das Traumgesicht stellte, dass er seinen Mördern entkomme, nicht erfüllte, so dass er nicht zu dem „einen“ werden konnte, „auf den sich das Heil des Gemeinwesens stützt“, bleibt in der Darstellung das, was ihm sein Vorfahr zu Ermutigung sagte, gültig, nämlich die Behauptung einer göttlichen Herkunft, Bestimmung und Belohnung der wahren Staatenlenker. „Allen, die ihr Gemeinwesen erhalten, gefördert und vergrößert haben, ist im Himmel ein sicherer Platz bestimmt, wo sie selig das ewige Leben genießen; nichts ist nämlich jenem höchsten Gott, der die gesamte Welt regiert, von dem was auf Erden geschieht, willkommener als die vom Recht vergesellschafteten Versammlungen und Zusammentritte der Menschen, die wir Staaten nennen; deren Leiter und Erhalter sind von dorther [sc. dem Himmel] gekommen und kehren dorthin zurück.“ 31 Zur Struktur des Prinzipats näher „Princeps legibus solutus“ (oben Anm. 7), zu Justinians Haltung, die von dem platonischen Ideal des „gesetzgebenden Tyranns“,

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Der Anstoß dafür, dass Cicero diesen mittleren Weg finden und insofern tatsächlich, wie nicht zuletzt seine auf den jungen Caesar, den göttlichen Jüngling und „Befreier der Republik“ bezogenen und von Augustus aufgenommenen Formulierungen in den Philippiken bestätigen, der Lehrer des Prinzipats werden konnte32, liegt an der Art, in der er verarbeitet hatte, was er während eines halbjährigen Studiums 79/78 in Athen von Antiochos von Askalon gehört hatte.33 Er hat es sich nicht nach Art eines Schülers angeeignet, was ihn gezwungen hätte, seinen grundsätzlichen Skeptizismus abzulegen, sondern nach Art eines Staatsmannes, Redners und selbständig denkenden Individuums. Er hielt an seinem skeptischen Standpunkt fest34 der unbeschränkten, aber von der vera philosophia geführten Herrschaft des Philosophenkönigs geleitet wurde, in „Der Schlüssel zur Hermeneutik des Corpus Iuris Civilis“ (oben Anm. 8) S. 221 ff. 32 Cicero, Philippica III 2,3 „C. Caesar, ein Jüngling, fast eher ein Knabe, hat mit der Tatkraft eines unglaublichen und gewissermaßen göttlichen Verstandes [. . . (2, 4)] aufgrund privaten Entschlusses die Republik [. . .] befreit;“ IV 1,2 „C. Caesar, der die Republik und eure Freiheit aus eigenem Bemühen und Planen und schließlich auch mit eigenem Vermögen geschützt hat und schützt;“ V 16,43 „Welcher Gott hat dem römischen Volk diesen göttlichen Jüngling geschenkt?“ Cicero irrte sich nur darin, dass jemand, der sein Militärkommando als Imperator Caesar ergriffen und die Streitkräfte „privato consilio“ als Caesarerbe (III 6,14; IV 3,6) zusammengerufen hatte, sich nicht mehr durch Bewilligung des imperium (V 16,45 „Wir wollen also Caesar das Militärkommando geben, ohne das die Verwaltung des Militärwesens, das Halten eines Heeres und die Führung eines Krieges nicht möglich ist“) zum Senatsfeldherrn herunterstufen lassen und sich in den Regierungsgeschäften des Friedens, so wie Cicero es in seinem Consulat getan hat, der auctoritas des Senats unterordnen werde (II 5,11 „Mein Konsulat war, ihr Senatoren (patres conscripti), dem Buchstaben nach das meine, der Sache nach das eure. Denn was habe ich bestimmt, getan oder bewirkt ohne Beschlussfassung, hoheitliche Ermächtigung (auctoritate) oder Entscheidung dieses Kollegiums?“). Der junge Caesar hat den politischen Konsens, den er zu mobilisieren verstanden hat, nicht wie Cicero wollte, auf den Senat gelenkt (III 5,13 „Der so überwältigende Konsens der Munizipien und Kolonien Galliens ist ersichtlich darauf gerichtet, die Hoheitsgewalt dieses Kollegiums und die Majestät des römischen Volkes zu verteidigen“), sondern, wie er sich in der Senatssitzung vom 16. Januar 27 bestätigen ließ, auf die eigene, alle überstrahlende auctoritas geleitet. Man muss ihm bescheinigen, dass er damit Ciceros Lehren von dem von der Vorsehung berufenen Staatsmann, dessen eindrucksvollste Fassung sich im Somnium Scipionis findet, konsequenter verwirklicht hat, als der Meister, nicht weil er klüger war, sondern weil er die militärische Macht in den Händen hielt. Die immer wieder festgestellte Tatsache, dass Augustus in den im Monumentum Ancyranum bewahrten Res gestae seine Herrschaft mit den Worten Ciceros rechtfertigte, wird durch die hier und im Text geklärten Zusammenhänge vertieft. Vgl. Gelzer, Pauly Wissowa Realencyklopädie (1939) M. Tullius Cicero (als Politiker) Sp. 1057, 1069, 1077, 1090. 33 Vgl. Brutus 93, 315. 34 Bezeugt unter anderem von Plutarch in seiner Cicerobiographie. Ich gebe den Passus in der schönen, von Bernadotte Perrin besorgten Übersetzung wieder (Loeb Classical Library, Plutarch’s Lives VII S. 89): „On coming to Athens he attended

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und akzeptierte das, was die von Antiochos bewirkte Zusammenführung von Stoa und Alter Akademie gebracht hatte, nämlich die Möglichkeit von Menschen, die im platonischen Sinne der Anamnesis einen Zugang zum Quell der Wahrheit haben, als etwas, an das zu glauben nicht nur staatspolitisch nützlich ist, da es nicht nur der Legitimation der Herrschaft dient, sondern auch den Menschen adelt und kreativ macht. In dem Sinne nennt Quintus Tullius Cicero seinen Bruder in der Schrift für dessen Konsulatsbewerbung im Jahre 64 einen „homo Platonicus“.35 Ciceros Liebe und Verehrung zu Platon hat hier ihre eigentliche Wurzel. Sie gilt nicht dem Staatstheoretiker, sondern dem Idealisten, und folgt ihm daher auch nicht für das Alltägliche und Regelmäßige, sondern zieht ihn für das Außerordentliche heran. Daher weist Cicero zu Beginn des Dialogs seine eigene skeptische Akademie, deren Kritik alles zerstören würde, nicht fort, sondern bittet sie, wie der Römer es gegenüber seinen als anwesend empfundenen Göttern tut, um friedliche Duldung. Denn sie ist und bleibt die Grundlage seiner Weltauffassung.36 In späteren Jahren weist er in ganz verwandtem Sinn, um Übernahmen aus der stoischen Ethik zu rechtfertigen, darauf hin, dass ihm seine Akademie die Freiheit gebe, das, was er für plausibel halte, aus eigenem Recht zu vertreten.37 Man hat daher seinen Hinweis in De legibus, dass er Antiochos keineswegs in allen Stücken folge, durchaus ernst zu the lectures of Antiochus of Ascalon, and was charmed by his fluency and grace of diction, although he disapproved of his innovations in doctrine. For Antiochus had already fallen away from what was called the New Academy and abandoned the sect of Carneades, either moved thereto by the clear evidence of the sense-perceptions, or, as some say, led by a feeling of ambitious opposition to the disciples of Cleitomachus and Philon to change his views and cultivate in most cases the doctrine of the Stoics. But Cicero loved the systems which Antiochus discarded.“ Vgl. im übrigen die Eigenzeugnisse Ciceros unten Anm. 36 und 37. 35 Quintus Tullius Cicero, Comment. petitionis 46. 36 Cicero, de legibus I 13,39 „Die Verwirrerin all dieser Dinge, die Akademie, d.h. diese neue des Arkesialaos und Karneades, bitten wir, dass sie schweigen möge. Denn wenn sie in das, was von uns ersichtlich recht kundig eingerichtet und zusammengestellt worden ist, eindringt, würde sie allzu viel in Trümmer legen. Ich möchte sie jedoch nur „besänftigen“ (placare), sie fortzuweisen wage ich nicht.“ Der Skeptizismus ist damit als unabdingbares Existentiale Ciceros gekennzeichnet. Zuvor hatte er bemerkt, dass die „Alte Akademie“, der Peripatos und die Stoa (Zeno), d.h. die dogmatischen Schulen, deren Vereinigung Cicero von dem (I 21,54 auch genannten) Eklektiker Antiochos übernimmt, seinen Ausführungen zustimmen, während er die Epikuräer, die als strenge Materialisten nicht zustimmen können, gar nicht erst ernst nimmt und auffordert, friedlich in ihrem „Garten“ zu bleiben. – Dazu dass die „Besänftigung der Götter (placatio deorum) das zentrale Mittel der römischer Religiosität war, „Frieden und Segen der Götter (pax et venia deorum)“ zugleich zu sichern, siehe nur Cicero, de natura deorum III 2,5. 37 Cicero, de officiis III 4,20 „Unsere Akademie gewährt uns aber die große Freiheit, das, was uns grundsätzlich glaubwürdig vorkommt, aus eigenem Recht vertreten zu dürfen.“

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nehmen und mit Plutarchs Hinweis zu verknüpfen, dass sich Cicero durch die bei ihm gehörten Vorlesungen nicht von der Skepsis hat abtrünnig machen lassen.38 Cicero ist dem platonischen Idealismus nur in einem bestimmten, für ihn persönlich und als Staatsmann wichtigen Maße gefolgt, nämlich in Form einer skeptisch bleibenden Anthropologie, die gleichwohl der Suche nach einer höheren Sinnhaftigkeit des menschlichen Lebens grundsätzlich Raum verschafft und sie, wenn sie gegenüber den bewährten Ordnungen respektvoll und ohne dogmatische Intoleranz auftritt, als lebensnützlich anerkennt. Insoweit hat ihn der Vorwurf des Antiochos, das Lebensziel des Karneades ermangele der „Ehre (honestas)“, weil es tatsächlich den Menschen auf den Kreis einer skeptisch vermessenen Natur und Zivilisation verweist, beeindruckt.39 Diese Haltung kann er auch seinem Freund, dem Epikuräer Atticus, abfordern.40 Es ist diese Haltung, die seine Staatsschriften ermöglicht haben. Kraft ihrer konnte er in ihnen den Republikanismus der vorklassischen und klassi38 Cicero strebt in der von Antiochos geschlichteten Kontroverse, ob mit dem strikten Standpunkt der Stoa nur das moralisch Ehrenhafte (honestum) gut genannt werden kann oder ob nach der vom Peripatos geteilten Lehre der alten Akademie diese Bewertung auch verdient, was dem Menschen lebensnützlich ist, eine eigene Vermittlung an. De legibus I 21, 54 (Atticus) „Also stimmst du dem Antiochos zu [. . .]“. – (Cicero) Ob ich ihm [. . .] in allem zustimme oder nicht, werde ich bald sehen. Das meine ich , dass dieser ganze Streit zur Ruhe gebracht werden kann.“ Die Art seiner Lösung ergibt sich aus dem im Text Ausgeführten. 39 Vgl. Cicero, de finibus bonorum et malorum II 11,34: „Es gibt drei Lebensziele ohne Ehre [. . . ], das dritte ist das des Karneades“ und die Ausführungen, die ihre Quelle (V 8.33: unser Antiochos) nennen (V 6,18): „Und man braucht auch keine anderen Argumente gegen die Ansicht des Karneades zu suchen; denn auf welche Weise auch immer das höchste Gut mit dem Ergebnis formuliert wird, dass es der Ehre entbehrt, so können in diesem System weder Pflichten noch Tugenden noch Freundschaft bestehen.“ V, 8,21: „Zu größeren Dingen [. . .] sind wir geboren.“ 40 Vgl. de legibus I 7, 21 „Du, Atticus, räumst uns also ein [. . .], dass die gesamte Natur von der unsterblichen Götter Kraft, Natur, Gewalt, Geist, Walten (oder was es noch für Worte gibt, mit denen ich noch klarer ausdrücken könnte, was ich meine) beherrscht wird? Denn wenn du das nicht billigst, müssen wir unsere Sache vor allem erst einmal damit beginnen. – Ich räume es gewiß ein, wenn du es forderst; denn wegen des Gesangs der Vögel und dem Rauschen des Flusses [des Liris] fürchte ich auch nicht, dass jemand von den Mitschülern es hört. – Vorsicht ist in der Tat nötig; denn sie pflegen, wie es es sich für ‚gute Leute (boni viri)‘ gehört, sehr zornig zu werden und würden es nicht hinnehmen, wenn sie hörten, dass du den ersten Grundsatz des ‚besten Mannes (optimus vir) [d.h. Epikur]‘ preisgegeben hast, in dem er schreibt, das Gott sich um nichts kümmert, weder um Eigenes noch um Fremdes. – Fahre bitte fort. Denn ich bin gespannt, worauf sich das, was ich dir eingeräumt habe, bezieht.“ Es bezieht sich auf das Aufsuchen eines höheren Deutungsprinzips, das die vorgefundenen Ordnungen nicht auflösen, sondern durch die einer höchsten Macht verliehene Interpretationsgewalt zugleich zu stärken und fortzubilden vermag.

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schen Jurisprudenz verteidigen und gleichzeitig dem außerordentlichen Staatsmann Raum schaffen, und zwar mit steigender Entschiedenheit. Wenn Cicero in De re publica die republikanische Staatsverfassung der römischen Tradition, die über eine ausgewogene Mischung der Gewalten die Bürger an der Herrschaft beteiligte, als verpflichtendes Vorbild darstellt und im Somnium Scipionis den zur Rettung gestörter Verhältnisse bestimmten, göttliche Werke verrichtenden und göttlich belohnten Staatsmann vor Augen treten lässt (vgl. oben Anm. 30), finden wir in De legibus die gleiche Verbindung in Gestalt einer theoretischen Herleitung, welche die nach wie vor verteidigte römische Verfassung der Republik aus einer höchsten der menschlichen Vernunft fassbaren, geistigen, auch das Recht hervorbringenden Natur herleitet. Cicero, de legibus I 6,20 Da also die Verfassung der Republik, die Scipio in jenen sechs Büchern als die beste dargetan hat, erhalten werden muss, alle Gesetze auf diese Art Gemeinwesen abzustimmen sind, es auch Rechtsgewohnheiten einzupflanzen gilt und nicht alles in Schriftform geordnet werden soll, will ich den Stammbaum des Rechts aus der Natur herleiten.

Dieses aus der Natur legitimierte positive Recht (ius), das als solches die jeweilige Norm, das handlungsleitende Gesetz (lex) erzeugt, richtet sich (wie Cicero in diesmal unausgesprochen gelassener Kritik an Platon und Aristoteles lehrt) an alle Menschen, da die Rechtsordnung der Republik das Werk aller an ihr Beteiligten ist. Cicero, de legibus I 12,23 Den Wesen, denen die Natur die Vernunft (ratio) gab, denen hat sie auch die alles richtig ordnende Vernunft (recta ratio) eingegeben. Folglich auch das Gesetz, das die richtig ordnende Vernunft in Form des Befehlens und Verbietens ist; und wenn das Gesetz, dann auch das Recht. Und so wie allen die Vernunft, so ist auch allen das Recht gegeben.

Höchste Quelle dieses in allen menschlichen Verhältnissen gebietend oder verbietend gedachten Gesetzes ist Gott, in römischer Fassung Jupiter.41 In der Hand des zur Herrschaft Berufenen verwandelt sich das so begründete Recht folgerichtig in die generalklauselartige, von keinen formalen Regeln begrenzte Ermächtigung, das Wohl des Ganzen zu wahren.42 Cicero erkannte durchaus, dass die aus dieser Herleitung folgende Machtfülle ange41 Cicero, de legibus II 4,10 „Das Gesetz ist mit dem göttlichen Geist gleichzeitig entstanden. Daher ist das wahre und führende, zum Befehlen und Verbieten geeignete Gesetz, die alles richtig ordnende Vernunft Jupiters, des höchsten Gottes.“ 42 Cicero, de legibus III 3,8 „Königliche Gewalt sollen zwei haben [d.h. die alljährlich zu wählenden Konsuln]. Für sie soll das Wohl des Volkes das höchste Gesetz sein.“

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sichts der Missbrauchsgefahr notwendig etwas Schlechtes enthält, meinte aber, dass ohne diese Beimischung ihre Vorteile nicht zu haben seien.43 In überaus pointierter Weise bereitet sein vermittelndes Denken den Prinzipat vor, wenn er in einer geschwächten Republik, wie es die res publica restituta seit Augustus war, noch eine bedeutende Zukunft sah, und daher nicht bereit war, um der Verteidigung der Republik willen ihre vollständige Vernichtung in Kauf zu nehmen. Cicero, ad familiares XV,15 (an Cassius, Brundisium Mitte August 47) Und nur diejenigen tadeln unsere Ansicht [d.h. dass wir meinen, es sei richtig, unser Urteil von dem Ausgang der Schlacht von Pharsalus bestimmen zu lassen], die der Auffassung sind, es sei besser, die Republik ganz und gar zu zerstören, als dass sie beschnitten und geschwächt fortbesteht. Ich jedenfalls erblicke in der Möglichkeit ihres Untergangs keinerlei Hoffnung, in dem, was bewahrt werden könnte, dagegen große.

Aus heutiger Sicht hat er Recht behalten, nicht zuletzt gegenüber dem Verächter der Republik Caesar44, dem diese Nichtachtung der von Cicero verteidigten Tradition das Leben gekostet hat. Denn die Staatsordnung, die von Augustus ins Leben gerufen wurde, war die von Cicero akzeptierte res publica imminuta und debilitata, die, unter Führung einer monarchischen Ausnahmegewalt, durch Privatrecht, die Munizipalverfassung und die Reste der alten Staatsverfassung bei allen tiefgreifenden, sozialen Mängeln doch eine Art Zivilgesellschaft ermöglicht hat. Die beiden Jurisprudenzen, die in den beiden Rechtsschulen zu einer bedeutenden Nachblüte gelangten, entwickelten in dieser Epoche einen zwischen Natur- und Zivilisationsrecht vermittelnden Stoff fort. Von Justinian zusammengefasst, vermochte er in der Neuzeit über die europäischen Universitäten den Gedanken einer geistig selbständigen, alle Menschen berechtigenden und insofern republikanisch gebliebenen Rechtskultur am Leben zu erhalten. Die geistige Selbständigkeit Ciceros, die ihm die Vorbereitung des verfassungsrechtlich entscheidend geschwächten, aber gleichwohl wirksamen Republikanismus des Prinzipats erlaubte, ist nicht gering zu veranschlagen. Zwar verdankte er Antiochos, dem ungetreuen Schüler des Skeptikers Philon, den Gedanken, den Gegensatz, der im Übergang von der vorklassischen zur klassischen Jurisprudenz in seiner Lebenszeit mit Schärfe hervorgetreten war, nämlich zwischen der Stoa und der von Karneades und Philon geprägten Akademie, durch den Rückgriff auf die idealistische Anthropologie der 43 Cicero, de legibus III 10, 23 „Ich gebe zu, dass in der Staatsgewalt selbst etwas Böses enthalten ist; aber wir können das Gute, das wir durch sie gewinnen, ohne jenes Böse nicht haben.“ 44 Eine stehende Rede von ihm war (Sueton, Caesar 77): „Ein Nichts ist die Republik, bloß ein Name ohne Körper und Gestalt.“

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Alten Akademie zu mildern. Aber nicht nur die eindringliche, rechtlich und historisch kenntnisreiche Anwendung der römischen Rechtsgeschichte in den Schriften De re publica und De legibus, sondern bedeutsamer noch die skeptisch-tolerante Grundierung dieser Durchführung war Ciceros Eigentum. Denn Cicero trat nicht der fünften Akademie des Antiochos bei (vgl. oben Anm. 33), was ihn zum Dogmatiker gemacht hätte. Vielmehr fügte er die Möglichkeit eines princeps civitatis, wie er es hatte sein wollen (vgl. Anm. 32), d.h des kraft höherer Einsicht über den respektierten positiven Ordnungen der Republik stehenden und daher notfalls zu außerordentlichen Maßnahmen legitimierten Staatsmannes als eine plausible, den Menschen ehrende und seinen eigenen Erfahrungen entsprechende Annahme in sein skeptisches Weltbild ein. Da von diesem Standpunkt aus jeder, der diese seelische Möglichkeit für sich in Anspruch nimmt, seine Berechtigung dazu nicht wissen, sondern nur durch den Erfolg der entsprechenden Taten und Selbstinszenierungen unter Beweis stellen kann, zeigt sich am Ende Augustus auch darin als Ciceros Schüler, dass er sich auf dem Sterbebett von seinen Freunden ohne Zynismus, aber mit deutlicher menschlich-skeptischer Distanz zu seinem (ebenso unvollkommenen wie in der damaligen Epoche leistungsfähigen und in seinem historischen Wert nicht leicht zu überschätzenden) Werk der Res publica restituta dem Sinne nach mit der Wendung verabschiedete: „Spendet Beifall, Freunde, die Komödie ist beendet“.45 Ein weiterer Grund für die verfassungsrechtliche Kraft der in Ciceros Staatsschriften gelehrten Herleitung des Rechts der Republik aus einer höheren, einen Princeps der Republik autorisierenden und zugleich potentiell alle Verhältnisse durchdringenden Quelle sei hier nur kurz berührt, da seine ausführliche Klärung zu weit führen würde. Er liegt darin, dass der Rechtsentwurf, den Cicero in der Schrift De legibus in der geschilderten Weise ex intima philosophia herleitete, zugleich einen Rückgriff auf die ältere vorklassische Jurisprudenz der römischen Republik darstellte, deren System von dem (von Antipater von Tarsos ausgelösten) in großem Stil soziale Fremdnützigkeit fordernden Naturrechtsschub noch frei war; er hatte den Juristen P. Mucius Scaevola, Konsul des Jahres 133 v. Chr., zum geistigen Verbündeten der Reformpolitik des Tiberius Gracchus gemacht und war im umfangreichen Werk seines Sohnes De iure civili Q. Mucius Scaevola pontifex maximus in einer für die Folgezeit maßgebenden Weise ausgearbeitet worden.46 Cicero hat den Rückgriff deutlich herausgestellt, einerseits durch 45

Nach Sueton, Augustus 99 zitierte er einen griechischen Vers, der das gleiche in feinerer Weise aussagte. 46 Vgl. dazu Okko Behrends, Tiberius Gracchus und die Juristen seiner Zeit – die römische Jurisprudenz gegenüber der Staatskrise des Jahres 133 v. Chr., in: Klaus Luig/Detlef Liebs, Das Profil des Juristen in der europäischen Tradition, Symposion aus Anlass des 70. Geburtstages von Franz Wieacker (1980) S. 25–121.

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die in der Stilisierung der Schrift De legibus unverkennbar enthaltene Anspielung auf den Zwölftafelkommentar des Sext. Aelius, andererseits durch die Rolle, die er in der Schrift De oratore seinem ersten Lehrer Q. Mucius augur zuweist, in dem er (bevor er nach dessen Tod zu Mucius pontifex ging) noch einen Vertreter des älteren Systems der vorklassischen Jurisprudenz kennen gelernt hatte. Er tritt in dem Dialog als Vertreter der auf Sext. Aelius zurückgeführten Jurisprudenz auf, deren Interpretation die Zwölftafeln zu einem Gesetz gemacht hat, in welcher, wie Cicero formuliert, sich kraft des älteren Systems nicht nur alle Nützlichkeiten und Rollen der Bürgerschaft der Republik fänden, sondern auch alles, was die Philosophie dazu zu sagen habe, und zwar in einer solchen Verdichtung, dass sie als schmales Werk als Rechtsquelle sämtliche Bibliotheken der Philosophie an Wert übertreffe.47 Da die Leitidee, die das kaiserliche Prinzipat über die wiederhergestellte Republik stellte, aus dieser älteren vorklassischen, vom Naturrechtsschub noch freien Jurisprudenz stammte, erklärt es sich, dass die Kaiser in ihrer eigenen Rechtssetzung ein eigenes, außerordentliches, drittes Recht schufen, das extra ordinem blieb und sich in keines der in den beiden Schulen gelehrten republikanischen Rechtssysteme integrierte. Die aus den geschilderten Zusammenhängen erklärliche Grundtendenz dieses außerordentlichen Kaiserrechts, jeden Wertungswiderspruch zwischen dem Naturrecht und dem „Bürgerlichen Recht“ zu vermeiden, sondern vielmehr auch mit den Mitteln des Naturrechts menschliche Freiheits- und Vermögensrechte zu fördern48, hatte die Wirkung, dass im Wettbewerb der in den beiden jeweils zur Rechtsfortbildung zugelassenen Traditionen der Republik das sozialreformerische Naturrecht, das in der vom jüngeren vorklassischen Recht geprägten sabinianischen Schule vertreten wurde, zugunsten der Wertungen der klassisch-prokulianischen Schule zurück47 Siehe den gehaltvollen Text Cicero, de oratore I 43,193–45, 198. Die „übermächtige und glorreiche Philosophie“, die, in den Zwölftafeln wirksam geworden, eine Quelle für alle Erörterungen ist, „die es im Bürgerlichen Recht und den Gesetzen gibt“, ist die stoische. Cicero lässt sie von Crassus, der als Anhänger der skeptischen Akademie kurz vorher deren Reformprogramm verkündet hatte, als eine „andere Gattung von Klugheit (aliud genus prudentiae)“ charakterisieren (vgl. unten Anm. 62), und dann den Augur gegen Crassus selbst I 10, 43 „seine Stoiker (stoici nostri)“ ins Feld führen. Beschrieben ist die Genese der Jurisprudenz der „Vorfahren (maiores)“, die Cicero, de officiis III 70, 69 durch die Nennung ihrer beiden, aus der stoischen Rechtsentstehungslehre stammenden, komplementären Grundbegriffe: „Bürgerliches Recht – Naturrecht (ius civile – ius gentium)“ kennzeichnet. Vgl. oben Anm. 22. 48 Aufschlussreich insbesondere das kaiserliche Sklavenschutzrecht, das mit dem Freilassungsfideikommiß, dem Schutz des „Freikaufs mit eigenem Geld“ und auch schon mit dem Recht auf einen neuen Eigentümer nach Misshandlungen stets Individualrechte schützt. Vgl. dazu meine Untersuchung „Prinzipat und Sklavenrecht“, Institut und Prinzip I S. 417 ff.

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geschnitten und am Ende in allen wesentlichen Zügen auf das liberale Maß der älteren vorklassischen Jurisprudenz zurückgeführt wurde. III. Platons Doppelwerk Politeia und Nomoi: Von der klassischen Bürgerrepublik zum theonomisch verfassten Erziehungsstaat Bei Cicero ging die Entwicklung von De re publica zu De legibus bei explizit platonkritischer Verteidigung einer republikanischen Rechtslehre dahin, dass im zweiten Werk die Möglichkeit, die Republik unter eine sie sichernde Ausnahmeherrschaft zu stellen, die im ersten Werk nur mythisch vorbereitet worden war, normtheoretisch durch eine Prinzipienableitung durchgeführt wurde. Platons Thema war ein anderes. Ihm ging es von vornherein um die Republik als einer Einrichtung der Seelenleitung, in der Politeia unter dem Leitgedanken einer erziehenden Analogie, in den Nomoi durch die gewährleistete Herrschaft erziehender Gesetze (vgl. oben Anm. 14). Auch diese Entwicklung hatte, wie Cicero gewiss nicht verkannt hat, als er sich zu einer analogen Werksequenz entschloss, zur Stärkung der Herrschaft dessen geführt, der die „Gesetze“ deutete und durchsetzte. Genau so wenig wird Cicero verborgen geblieben sein, dass sich das, was die Kritik seit Karneades mit durchschlagendem Erfolg an Platons Sichtweise getadelt hat, nämlich die ausschließliche Konzentrierung der Gerechtigkeit bei den Herrschenden, sich im zweiten Werk Platons radikalisiert hatte. In der Politeia ist die Bürgerschaft, deren Zusammentritt den Staat gründet, in ihrer Selbständigkeit noch deutlich sichtbar, z. B. in der Aufmerksamkeit, die dem Markt, dem Geld und dem Außenhandel gewidmet ist.49 In den Nomoi wird dagegen, um im Interesse der Bürgereintracht die Entstehung großer Vermögensunterschiede zu verhindern, der Besitz von Gold, Silber und Devisen, also von allem, was im Außenhandel eingesetzt werden kann, verboten und nur Binnengeld erlaubt.50 Diese Entwicklung ordnet sich in einen größeren Zusammenhang ein, wenn man sieht (und es ist von mir in einer Studie zur Entwicklungsgeschichte des Kaufs bereits hervorgehoben worden51), dass die in Platons Politeia (und später bei Aristoteles) gegenwärtige Erkenntnis, dass die staat49

Politeia 371a. Nomoi 741e–74c. Die im Text genannten internationalen Tauschmittel unterliegen einer strafbewehrten Ablieferungspflicht. Zugelassen ist nur Geld, das im Ausland wertlos ist. 51 Okko Behrends, Der ungleiche Tausch zwischen Glaukos und Diomedes und die Kauf-Tausch-Kontroverse der römischen Rechtsschulen, in: ders., Institut und Prinzip II (2004) S. 629–653, S. 641 Anm. 42. 50

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lichen Gold- und Silberwährungen (im Gegensatz zur Binnenwährung der Nomoi) im Wirtschaftsverkehr zum „Maß aller Dinge“ werden, an eine zentrale Aussage des von Platon vielzitierten Protagoras erinnert. Denn es ist der Mensch, der mit der Bereitstellung eines rechenhaften Wertmessers die Voraussetzung dafür schafft, dass sich mit Angebot und Nachfrage ein Preis für die Waren bildet; wo kein Geld ist, da ist auch kein Preis.52 Die sich im steten Wandel befindenden Bedürfnisse des Gattungswesens Mensch bringen vermittels des Geldes die Preise hervor, und zwar mit der typischen, die Dynamik gerade auch des zwischenstaatlichen Handelsverkehrs auslösenden Differenz zwischen dem jeweiligen konkreten Vertragspreis und dem „auf dem Markt“, d.h. prognostizierbar woanders erzielbaren Preis. Dieser Befund wird durch eine Nachricht, die Diogenes Laertes zweimal anführt, einmal nach dem Aristoteliker Aristoxenos aus der Zeit des Theophrast, zum anderen nach Favorinus, dem Skeptiker und Zeitgenossen des Aulus Gellius (ca. 80–150 n. Chr.), zu einer aufschlussreichen Information, da die Verbindung von Befund und Nachricht darauf deutet, dass die von der Politeia zu den Nomoi zu beobachtende Entwicklung zusammenfällt mit einer Radikalisierung der Platon von Anfang an bestimmenden Kritik an der von Protagoras vertretenen Auffassung der Polis. Beide Autoren bekunden nämlich, dass Platons Politeia in wesentlichen Stücken auf den Antilogiken – den „Wider- oder Gegenreden“ – des Protagoras beruhe. Das klingt übertrieben, muss aber einen wahren Kern haben.53 Tatsächlich zeigen sich in Platons Werk zahlreiche auf Protogaros zurückführende „Gegenreden“, beginnend mit der zentralen, ob Gott oder der Mensch das Maß aller Dinge sei. Platon, Nomoi 716c Die Gottheit dürfte nun für uns am ehesten das Maß aller Dinge sein, und dies weit mehr als etwa, wie manche sagen, irgend so ein Mensch.54 52 Diogenes Laertes IX 51: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nicht seienden, dass sie nicht sind.“ Vgl. Platon, Kratylos 385e–386d; Theaitetos 152a–154b. 53 Diogenes Laertes III 37 „Aristoxenos sagt, fast die ganze Republik sei aus des Protagoras Antilogika entlehnt“; ders. ebda III 57, wo es in einem hier nicht näher interessierenden Zusammenhang von Platons Staat heißt: „ Von dem übrigens Favorin im zweiten Buch seiner vermischten Schriften sagt, dass er sich schon fast ganz in den Antilogika des Protagoras findet.“ Vgl. zu der Aussage Heinrich Gomperz, Sophistik und Rhetorik (1912, Nachdruck 2005) S. 180: „einen Kern muss sie doch haben“. Angesichts des Interesses, dass die Frage gerade für einen Skeptiker hatte, darf man annehmen, dass Favorin nicht versäumt, sich ein selbständiges Urteil zu bilden. Wie sich die Antilogiken zu der von Diog. Laert. IX 55 erwähnten Schrift des Protagoras über den Staat verhalten, ist ungewiss. Vgl. Kurt von Fritz, RE (1957) s. v. Protagoras Sp. 920. 54 Gemeint sind Protagoras und seine Anhänger. Vgl. oben Anm. 52.

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Platon entscheidet sich für Gott. Das göttliche Maß lässt nach Platon als eine die Seelen erfassende Kraft die Menschen ihren Platz in einer gottgewollten Ordnung ergreifen.55 Kenntnis, Handhabung und Durchsetzung dieses Maßes gehört in die Hand eines dem Göttlichen nahen Herrschers. Gerechte Verhältnisse können nur dann erwartet werden, wenn ein solcher Herrscher auftritt. Platon hat diese Überzeugung in den Nomoi mit besonderem Nachdruck vorgetragen.56 Sie findet sich aber schon in der Politeia.57 Bezeichnenderweise lässt sich auch Platons, von Karneades kritisierte Lehre, dass die Gerechtigkeit ausschließlich eine Herrschertugend sei, in eine solche „Gegen- oder Widerrede“ einordnen. Das zeigt der das genaue Gegenteil vertretende Rechtsentstehungsmythos, den Protagoras in Platons nach ihm benannten Dialog erzählt. Danach wurde die menschliche Spezies wie alle anderen zu ihrer Zeit von den Göttern geschaffen, aber bei ihrer dem Prometheus in Auftrag gegebenen Ausstattung zunächst vernachlässigt. Denn der die Zukunft bedenkende Prometheus hatte die Arbeit selbst dem – nur aus Erfahrung lernenden – Epimetheus überlassen und musste bei der Kontrolle, die er sich vorbehalten hatte, erkennen, dass jener zwar alle Arten so ausgestattet hatte, dass sie als solche überleben konnten, den Menschen aber vergessen und nackt und wehrlos gelassen hatte. Er sah keine andere Möglichkeit für ihr Leben auf der Welt, als ihnen durch Diebstähle bei den Göttern, bei Athene und Hephaistos, göttliche Gaben zu verschaffen, die „technische Vernunft (éntechnon sophía)“ und das „Feuer“. So mit göttlichen Vorzügen ausgestattet, kraft derer sie sich ausreichende Lebensbedingungen (Behausungen, Kleider, Nahrung) schufen, bauten die Menschen als einzige Lebewesen Altäre und verehrten 55 In der Sache führt der Athener näher aus (716c–718 a), dass dem Ähnlichen (dem Menschen) das Ähnliche (Gott) deswegen lieb sei, weil es ihm Maß gebe. Daher sei Ziel der höchstmögliche Grad einer Annäherung oder Angleichung an Gott. Sie werde in der rechten Gesinnung erreicht. 716d: „Der Besonnene unter uns dem Gott lieb, denn er ist ihm gleich“. Der rechte Sinn erweise sich vor allem in der Verehrung der Götter, Dämonen, Heroen und Eltern und gegenüber den letzteren in der betätigten Überzeugung, ihnen alles zu verdanken und der Erfüllung der dadurch begründeten Pflicht, ihnen das Gewährte in ihrem Alter mit allen Kräften des Vermögens, des Leibes und der Seele zurückzuzahlen. 56 Es bewirke (Nomoi 711d–712b): „tausendfältiges, ja jegliches Gute in dem Staat“, wenn „eine göttliche Liebe zu einer besonnenen und gerechten Lebensweise“ die Mächtigen ergreife. Denn „wenn in einem Menschen die größte Macht mit Einsicht und Besonnenheit in eins zusammenfällt“, nehme „die Entstehung der besten Staatsform und ebensolcher Gesetze ihren naturgemäßen Anfang“. Ein solcher Staatsmann erfüllt, wenn er Gesetze gibt, einen unmittelbaren göttlichen Auftrag. Daher die Aufforderung des Atheners: „Lasst uns also die Gottheit bei der Einrichtung des Staates um Hilfe anrufen; möge sie uns erhören, und wenn sie uns erhört, gnädig und huldvoll nahen, um mit uns den Staat und die Gesetze recht zu ordnen.“ 57 Politeia 473c, 11 ff.; 499b, 1 ff.; siehe auch den 7. Brief 326a, 7–b, 4.

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die Götter, litten aber darunter, dass ihnen die „bürgerliche Kunst (politikè techne¯)“, die Kunst der Organisation einer stadtbürgerlichen Gemeinschaft, einer Republik, fehlte. Sie konnten sich, erst noch vereinzelt lebend, gegen die wilden Tiere nicht verteidigen, brachten sich aber in den Städten, die sie daraufhin bauten, wechselseitig um. Da fürchtete Zeus, das Menschengeschlecht möchte untergehen, und sandte ihnen durch seinen Boten Hermes das „Recht (díke¯, ius)“ und das im Gewissen Pflichten anerkennende ´¯ s, verecundia)“, das erste als „schmückende Ordnungen „Schamgefühl (aido der Städte (póle¯on kósmoi)“, das andere als „Band solidarischer Freundschaft (desmoì philías)“. Und auf die Frage des Hermes, ob er diese Kunstfertigkeit wie die übrigen nur wenigen zuteilen solle oder allen, entschied Zeus, jeder einzelne müsse daran teilhaben; es könnten Staaten nicht bestehen, wenn sich nur einige wenige auf diese Kunst verstünden. Daher solle Hermes auch in seinem, des Zeus’ Namen ein Gesetz geben, dass jeder, der die beiden Teile der „scientia civilis“ – so könnte Cicero einst in seiner lateinischen Version des Dialogs übersetzt haben58 – nicht zu erfassen vermöge, getötet werden solle wie eine „Krankheit der Stadt“.59 Es ist ein kluger, wohldurchdachter Mythos. Technik und Recht bilden noch heute die entscheidenden Lebensbedingungen der Menschheit. Und es gibt zu denken, dass über Technik und Feuer, dem Urbild aller Energie, da sie als göttliche Kräfte auf unrechte Weise in die Hände der Menschen gekommen sind, ein Schatten liegt, nicht aber über Recht und Scham, beides wohlbedachte Gaben des Zeus’, mögen sie auch, wie die Vermittlung durch Hermes, den Gott der Hermeneuten andeutet, stets der Interpretation bedürfen. 58 Vgl. zu dieser Übersetzung, die (anders als die des Timaios) verloren ist, Philippson, RE (1939) Marcus Tullius Cicero (Philosophische Schriften) Sp. 1150. Für Cicero ist ars civilis nicht belegt, wohl aber scientia civilis, und zwar in einem Kontext, wo sie sich auf beide republikanische Jurisprudenzen bezieht. Vgl. Cicero, de oratore I 43, 193 (es spricht Licinius Crassus, Ciceros Vorbild): „Wenn jemand die ‚bürgerliche Wissenschaft (civilis scientia)‘ erfreut, die Scaevola nicht für etwas dem Redner Eigenes hält, sondern von einer anderen Art [sc. der stoischen] Klugheit herleitet, so findet er sie unter Entfaltung aller Nützlichkeiten und Rollen von den Zwölftafeln erfaßt.“ Vgl. auch ibidem III 31, 122 f., wo Crassus diese civilis scientia für die Rhetorik beansprucht und von den Philosophen zurückfordert, auch von Sokrates, der im Georgias die Redner verlacht habe. Für die Bürger und Menschen genügte, wie sicher auch der sich als Lehrer verstehende Protagoras gemeint haben wird, das (in casu ratbedürftige) Parallelwissen in der Laiensphäre. Man beachte die Analogie zwischen dem Dualismus der „Nützlichkeiten“ und „Rollen“ und dem protagoräischen Dualismus, der zwischen dem von der „Scham“ gestifteten „Band der Freundschaft“ und dem „Recht“, das in einer an den römischen Census erinnernden Weise „die schmückende Ordnung der Städte“ erzeugt, unterscheidet. 59 Vgl. die ausführliche, Protagoras selbst in den Mund gelegte Darstellung Platons, Protagoras 320c–322d.

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Im übrigen könnte der Gegensatz klarer nicht sein. Bei Protagoras ist grundsätzlich jeder Mensch im Besitz der ihnen von Zeus zugedachten, durch Hermes vermittelten Rechtskompetenz, so dass die Last, in seinem freien Handeln das, was Recht und Scham verlangen, richtig auszulegen, jeder trägt und andernfalls die im Gemeinwesen vorgesehenen Sanktionen erleidet. Bei Platon übernimmt dagegen ein weit über die Menschen der Alltagsgeschäfte herausgehobener „dämonischer Mann“ diese Last, indem er den Bürgern das, „was von den Göttern kommt“ ausdeutet und so über sie herrscht, wie einst in der Kindheit des Menschengeschlechts wirkliche Dämonen als eine den Menschen überlegene Gattung von Wesen über sie geherrscht hatten.60 Der an dieser Stelle schon deutlich hervortretende Befund, dass sich Platons Denken in Frontstellung gegen Protagoras entwickelt hat und in den von den Antilogiken gestellten Alternativen jeweils die andere Wahl trifft, lässt sich weiter bestätigen, und zwar mit der bereits angedeuteten Pointe, dass sich diese Entwicklung im Fortschreiten von dem einen zum anderen Werk radikalisierte und gelegentlich zu Schritten führte, über deren grundsätzliche Entschiedenheit sich Platon, wie es scheint, ausdrücklich Rechenschaft gegeben hat.61 Dies gilt etwa für die Alternative, ob Staaten von ihrem Ursprung und von ihrem maßgebenden Modell her als erweiterte Familien oder als Zusammentritt Nicht-Verwandter zu verstehen sind, die Protogaros unter dem Gesichtspunkt „Über die anfängliche Herstellung von Staaten“ erörtert haben könnte.62 Tatsächlich erscheint in Platons Politeia am Anfang die Staatsentstehung wie später bei Cicero noch als coetus, als Zusammentritt Einzelner verschiedener Herkunft zu einer sich an einem Ort zusammenfindenden Menge63, wie es die im Auftrag des Perikles unter Be60 Platon, Symposion 202e–203a. Vgl. zu dem Text Martin Avenarius, Tradition, Vorverständnis und Wirkungsgeschichte der Quellen. Vom Einfluss der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik auf das romanistische Verstehen, in: ders., Hermeneutik der Quellentexte des Römischen Rechts (2007) S. 1 Anm. 1. Vgl. auch Politikos 308c. Zur Dämonenherrschaft im Goldenen Zeitalter Platons oben Anm. 19. 61 Platon, Nomoi 888a „Mein Kind, du bist noch jung; in ihrem Fortschreiten wird dich aber die Zeit dazu bringen, dass du vieles von dem, was du jetzt glaubst, verwirfst und das Gegenteil annimmst.“ 62 Ob der überlieferte Titel auf ein selbständiges Werk des Protagoras deutet oder Teil seiner Schrift „Über den Staat“ ist, steht dahin. Heinrich Gomperz, Sophistik und Rhetorik (oben Anm. 53) S. 178 Anm. 363 (aus S. 177), weist im übrigen darauf hin, dass das Wort katástasis (Staatsgründung) bei Isokrates im Sinne von Verfassungsform belegt ist. Aber auch Platon verwendet es in diesem Sinn (Politeia 497b). 63 Vgl. Cicero, de re publica I 25, 39 „Die Republik ist eine Sache des Volkes, das Volk aber [. . . ] ist ein Zusammentritt einer durch Übereinstimmung im Recht und durch Gemeinschaft des Nutzens vergesellschafteten Menge“; ferner VI 13,13 zu den „durch das Recht vergesellschafteten Versammlungen und Zusammentritte

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teiligung des Protagoras durchgeführte panhellenische Gründung Thurioi programmatisch vorgeführt hatte (vgl. unten Anm. 82 und 84). Entsprechend pragmatisch ist als Ziel der Stadtgründung in der Politeia noch der wechselseitige Nutzen bestimmt, den die Menschen aus dem Verkehr untereinander ziehen. Zu dem Zweck wird nicht nur das Geld als den Wirtschaftsverkehr (über die Polisgrenzen hinaus) förderndes Tauschmittel anerkannt, sondern der Leser muss, da das wechselseitige Bedürfnis bestimmend ist, in diesem Abschnitt noch den Eindruck gewinnen, dass das, was die Handwerker fertigen, nach menschlichen Bedürfnissen und nach menschlichem Maß gemacht ist. Platon streift auch noch die Ansicht, dass in diesem zwischenmenschlichen Verkehr eine Gerechtigkeit liege, die als solche von den Verträge schließenden Menschen gewahrt werden soll, also primär in ihrer Verantwortung liegt und von ihnen erwartet wird, tut dies aber in einer Weise, in der die in den Nomoi endgültig vollzogene Abwendung bereits enthalten ist.64 Und schon in der Politeia erfährt man etwas später, dass die Artefakte, welche die Handwerker herstellen, auch die beispielhaft genannten Betten und Tische, nicht menschliche, sondern göttliche Ideen realisieren65 und die Gerechtigkeit in der Stadt sich nicht im menschder Menschen, die Bürgerschaften genannt werden.“ Siehe auch Cicero, de inventione I 1,2–2,3 und pro Sestio 42, 91. 64 Politeia 368b–372c. Für die in Gedanken gegründete Stadt, in der die Einzelnen der zusammengekommenen Menschenmenge sinnvoll und arbeitsteilig miteinander in Verkehr stehen und Geld und Kaufleute (ortsansässige und Fernhändler) für die Leistungen der Landwirte und Handwerker bereits einen effektiven Markt geschaffen haben, stellt Adeimantos die Frage, ob es denn hier nicht eine Gerechtigkeit gebe, die zusammen mit all dem, was sie insofern betrachtet hätten, entstanden sein könnte und stellt dazu fest, selbst etwas derartiges nicht zu sehen. Sokrates stimmt ihm darin zu und fordert zu weiterer Prüfung auf, ohne die von seinem Gegenüber gemachte (ersichtlich bewusst schwach gehaltene) Konzession aufzugreifen (372a): „wenn nicht etwa die Gerechtigkeit in einem gewissen Nutzen enthalten ist, den die Menschen für einander haben“. Das für das vorklassische römische Recht maßgebende stoische Naturrecht ist auf eben diesem wechselseitigen Nutzen (usus) aufgebaut und Cicero, de officiis I 7,22 verbindet die Mitteilung dieser Lehre mit der eigenen, individualethisch geprägten, skeptischen Grundhaltung, indem er das Halten von gegebenen Leistungszusagen im Verkehr für die Grundlage der Gerechtigkeit (fundamentum iustitiae) erklärt. Man wird nicht fehlgehen, wenn man in der im Dialog gemachten Konzession eine Bezugnahme auf Protagoras sieht, den die Rechtswerte „Recht“ und „Scham“ zu ganz entsprechenden Aussagen zum Verkehrsrecht geführt haben müssen, wie wir sie in der Skepsis finden. 65 Politeia 596b–597d. Gott ist der Hervorbringer der „Ideen“, auf die blickend der Handwerker die „Geräte“ hervorbringt, und die das „wahrhaft Seiende“ an ihnen sind (596c; 597d). Platon nennt Gott dieser in allen Dingen wirkenden Schöpfertätigkeit wegen ironisch und in unverkennbarer Anspielung auf Protagoras einen (596d) „ganz wunderbaren Sophisten“. Denn der menschliche Sophist Protagoras hat gewiss nach menschlichem Maß geurteilt und unterschieden zwischen den Gegenständen, die der Mensch in der Natur vorfindet und die ihm Stoffe liefern

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lichen Zusammenleben als Leistung der jeweils verantwortlich Handelnden verwirklichen soll, sondern in der Harmonie, in der alle Teile des Gemeinwesens an dem ihnen bestimmten Platz wirken und darin der Herrschergestalt entsprechen, die diese Harmonie zwischen den herrschenden und dienenden Teilen, den göttlichen Staatsgedanken, in seiner eigenen inspirierten Seele gefunden hat und daher zur Leitung der Verhältnisse berufen ist.66 Die Abkehr von einer menschlichen, kulturanthropologischen Herleitung des gestaltgebenden, für das private und staatliche Leben grundlegenden Denkens könnte deutlicher nicht sein: Menschliche Artefakte, von Menschen benannte, werden zur Verwirklichung göttlicher Ideen. Wenn Platon das Geld als Paradigma für die hinter den menschlichen Artefakten stehenden göttlichen, „wahrhaft seienden“ Ideen übergeht, so besagt das nicht, dass es nicht notwendig mitgemeint ist. Er vermeidet es, weil an seinem Beispiel das homo-mensura-Prinzip mit nahezu unwiderleglicher Evidenz auftritt, weil Geld nun einmal in keiner Weise einem natürlich-naturhaften Bedürfnis dient, sondern den spezifisch zivilisatorischen Zwecken der Rationalisierung des Tauschverkehrs und der Ermöglichung unbegrenzter Kapitalbildung. In den Nomoi ist dann der noch den Anfang der Politeia beherrschende Gedanke, dass der Staat von einem Zusammentritt einzelner Menschen erzeugt wird, ganz aufgegeben. Urbild und Vorbild ist jetzt die natürliche, patriarchalische Familie, deren innere Ordnung als Herrschaft über zunächst Unmündige nur naturwüchsige Gesetze kennt. Ihre Verfassung gilt als das allergerechteste Königstum. Der Zusammenschluss solcher Familienherrschaften macht dann zwar, da alle einige Besonderheiten mitbringen, einen Gesetzgeber nötig, aber nur in der Weise, dass er zwischen den Varianten das Vorzugswürdigere auswählt.67 Primäres Erhaltungsprinzip des Gemein(Bäume, Metalle) und den Artefakten, die er als Erfinder spezifizierend aus ihnen macht (Betten, Geld). Vgl. den Text Anm. 113. 66 Politeia 497a–502d. Möglich ist das in einer Staatsverfassung philosophischer Natur (497b), die entsteht, wenn die Herrschaft, die bei einem oder mehreren liegt, ihr durch Tugendnähe in Wort und Tat entspricht (498d). Der Philosoph, der mit „Göttlichem (theíon)“ und „Wohlgeordnetem (kosmíon)“ umgeht, empfängt davon dieselbe Beschaffenheit (500d) und kann daher für den Staat ein „göttliches Muster (theíon paradeígma)“ entwerfen (500e) und die Verfassung retten (502d). An die Stelle von „Recht“ und „Scham“ in den Seelen aller tritt die Wahrnehmung des göttlich Schönen in der Seele eines einzigen oder ganz weniger Menschen. 67 Nomoi 680e „Werden in solchen Staatsordnungen nicht die Ältesten herrschen, weil die Herrschaft von Vater und Mutter auf sie gekommen ist, während die anderen ihnen folgen und sie so wie Vögel einen einzigen Schwarm bilden werden [vgl. dazu unten Anm. 106], indem sie unter väterlichem Regiment und somit unter dem allergerechtesten Königtum leben?; 681b „sie [. . .] bringen [ . . .] ihre eigenen Gesetze mit [. . .] und gewiss ist es unvermeidlich, dass die eigenen Gesetze ihnen jeweils am besten gefallen, die der anderen aber erst

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wesens bleibt die Zeugung, nicht gleichberechtigt der Zuzug oder die Eingemeindung. Die Zeugung von Kindern, welche die Polis vermehrt, bedeutet Anteilhaben an der Art Unsterblichkeit, die Gott mit der Natur des Menschen vereinbaren konnte, und ist Pflicht.68 Der Staat der Nomoi kann auf diese Weise eine Staatsgesinnung von der Intensität des Familiensinns anstreben. Für die Lösung sozialer Spannungen infolge ungleichen Bodenbesitzes und Überschuldung setzt Platon daher auf die gute Gesinnung einzelner und rechnet mit der Möglichkeit, dass reiche Grundbesitzer, ohne durch explizite Rechtsregeln dazu genötigt zu werden, ihren Eigennutz mäßigen und von ihrem Land abgeben oder Schulden erlassen.69 Während über Fortdauer und Ungestörtheit der rechten Gesinnung mit dem Recht über Tod und Leben ausgestattete, im Geheimen wirkende Staatsorgane wachen, erscheint das Volk als ganzes als ein sozialer Organismus und wird mit einer Herde verglichen, die der Reinigung durch Ausmerzung schlechter Stücke bedarf. Um der dafür erforderlichen Gründlichkeit willen bedürfe es eines Mannes, der Tyrann und Gesetzgeber in einer Person ist. Mit der Aussendung von Kolonisten, die ein milderes Mittel einer solchen Purifizierung ist, befreie sich die Polis, wie Platon mit Blick auf die dafür ausgewählten, auf Umsturz gesonnenen „Armen“ sagt, von einer „Krankheit der Stadt“, d.h. von einer Störung, die Protagoras im Extremfall des Einzelnen kennt, dem die von die Hermes übermittelten Zeus-Gaben Recht und Scham fehlen.70 an zweiter Stelle. [. . .] Damit wären wir unversehens am Ursprung der Gesetzgebung angelangt.“ Gesetzgebung ist danach zunächst Auswahl zwischen naturwüchsigen Normen. 68 Nomoi 721b „Nun ist das Geschlecht der Menschen etwas [. . .], das [. . .] in der Weise unsterblich ist, dass es Kindeskinder hinterläßt, dabei aber stets dasselbe und eines bleibt, und so durch Zeugung an der Unsterblichkeit teilhat. Sich dessen freiwillig zu berauben, ist niemals fromm, und mit Vorsatz beraubt sich dessen, wer von Kindern und Ehegattin nichts wissen will; siehe auch Symposion 207d; Aristoteles, Polit. 1252, 28. Danach später Justinian, Nov. 22 praef. (a. 535) „Denn wenn die Ehe so ehrwürdig ist, dass sie für das menschliche Geschlecht ersichtlich eine künstliche Unsterblichkeit einführt und die aus der Erzeugung der Kinder erneuerten Geschlechter dauernd bestehen bleiben, wobei Gottes Güte, soweit es möglich ist, unserer Natur Unsterblichkeit verleiht, ist unsere Sorge für die Ehe richtig.“ Vgl. dazu Bibl. Gesetzesbegriff (oben Anm. 9) S. 263. 69 Nomoi 736d „Es muss stets eine Anzahl von Neuerern geben, die selbst reichlich Land besitzen, die aber auch viele ihnen verpflichtete Schuldner besitzen und bereit sind, mit den Notleidenden unter diesen aus Großmut zu teilen, indem sie ihnen teils die Schulden erlassen, teils Land unter sie verteilen, weil sie irgendwie an der Mäßigung festhalten und der Meinung sind, dass Verarmung nicht in der Verringerung des Vermögens, sondern in der Steigerung der Unersättlichkeit besteht. Denn diese Gesinnung ist der entscheidende Anfang für die Erhaltung eines Staates.“ 70 Nomoi 735d: „Von den vielen Formen gründlicher Reinigungen [. . .] kann wohl nur jemand anwenden, der Tyrann und Gesetzgeber in einer Person ist, nämlich diejenigen, die schwierig und zugleich die besten sind [. . .], die auf dem Weg des Rechts mit Hilfe der Vergeltung zur Strafe führt und Tod oder Verbannung als äußerste Grenze der Vergeltung festsetzt. [. . .] Die mildere von den beiden Reinigungen aber ist für uns die folgende: Alle diejenigen, die aus Mangel an Nahrung sich bereit und gerüstet zeigen, als Besitzlose den Anführern zu einem Angriff auf die Güter der Besitzenden zu folgen, diese schickt sie wie eine eingewachsene Krankheit des Staates, indem sie ihnen den Namen „Kolonie“ beilegt, eine Beseitigung unter schönklingendem Namen, auf möglichst freundliche Weise fort.“ Vgl. auch Politikos 293d–e. 71 Theaetet 161c: „Nur über den Anfang seiner Rede wundere ich mich, dass er nicht gleich seine : „Wahrheit“ so beginnt, das Maß aller Dinge sei das Schwein oder der Affe, oder was man noch unter allem, was Wahrnehmung hat, Unvernünftigeres nennen könnte, damit er recht hochsinnig und herabwürdigend begönne, zu uns zu reden, indem er zeigt, dass wir zwar ihn bewunderten als einen Gott seiner Wahrheit wegen, er aber doch nicht besser wäre an Einsicht als ein halberwachsener Frosch, geschweige denn als irgendein anderer unter den Menschen.“

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Begriffsbestimmung des Menschen. Danach wäre der Mensch ein „flügelloses, zweifüßiges, plattnageliges, für die stadtbürgerliche Wissenschaft – oder in der allgemeineren Fassung: „für die Wissenschaft gemäß der Vernunft empfängliches Wesen“.72 Man darf sie aus mehreren Gründen als durch Protagoras angeregt ansehen. Die Definition des von den auffälligen deskriptiven Merkmalen herausgeforderten Gegenbegriffs lautet: „Ein beflügeltes, zweifüßiges, spitznageliges (bekralltes), für die die stadtbürgerliche Wissenschaft“ – oder: „für die Wissenschaft gemäß der Vernunft – unempfänglichen Wesen“ und stellt damit eine Spezies vor Augen, mit der sich Protagoras tatsächlich beschäftigt und um die er sich geradezu verdient gemacht hat, weil er, um auch bei ihr den Geschlechterunterschied terminologisch fassbar zu machen, das im Griechischen von Hause nur geschlechtsneutrale Wort „alektryóon (Huhn)“ um eine weibliche Form alektrýaina („Hühnin“) ergänzt hat, so dass fortan auch in seiner Sprache „Hahn“ und „Henne“ sprachlich unterschieden werden konnten.73 Und dieser Artenvergleich, den man in der die verschiedenen Stufen der Verständigkeit herausstellenden Weise schon bei dem auch von Platon herangezogenen Komö72

Vgl. Karl Heinz Hülser (Hrsg.), Platons Werke, Band X „Definitionen“ S. 432–455 (448): „Der Mensch: Ein flügelloses, zweifüßiges, plattnageliges Lebewesen, das allein von allen Wesen der Wissenschaft gemäß der Vernunft fähig ist.“ Sextus Empiricus, adv. math. VII 281: Platon definiert den Menschen schlechter als die anderen, indem er sagt „Der Mensch ist ein flügelloses, zweifüßiges, plattnageliges, für die vernunftgemäße politische Wissenschaft empfängliches Lebewesen“. Die zweite Definition dürfte, da spezifischer, dem Original näher sein. In der Sache unterscheiden sie sich nicht oder nur dadurch, dass die zweite Begriffsbestimmung das, was die erste sagt, durch ein Beispiel ausdrückt. Die Begriffsbestimmung ist im übrigen provokant und nicht gerade hochgestimmt, aber gewissermaßen technisch in Ordnung, da sie sowohl die differentia specifica nennt (die Vernunft) als auch das genus proximum sichtbar macht, auch wenn dieses den Menschen mit einer nicht besonders hoch angesehen Spezies der Tiere, den Hühnern, in Verbindung bringt. Schon der im Text näher erläuterte Kontext macht wahrscheinlich, dass es sich um eine der nicht ganz wenigen Definitionen handelt, die auf Platon zurückgehen (vgl. Paul Shorey, What Plato said [1933, Nachdruck 1978] S. 443), und zwar hier auf seine Auseinandersetzung mit Protagoras. Eine Bestätigung liefert der Politikos. Dort wird im Zuge einer fortschreitenden Einteilung (266e) die vorher entsprechend gebildete politische „Herde der Zweibeiner“ in die nackten Menschen und das Federvieh zerlegt und später (276a) als Gegenstand der menschlichen „Herdenzucht“ das „zu Fuß gehende und unbefiederte“ Lebewesen genannt. 73 Theodor Gomperz, Griechisches Denken I, 4. Aufl. (1925) S. 356 ff.; Heinrich Gomperz, Sophistik und Rhetorik (oben Anm. 53) S. 198. Die von beiden Autoren herausgehobene Einordnung dieser Bemühungen in eine „Lehre von der Wortrichtigkeit (orthoépeia)“ kehrt wieder in dem Gewicht, den die von der skeptischen Akademie inspirierte klassische Jurisprudenz auf die Wortrichtigkeit legte. Vgl. nur Quintilian, V 14,34 anerkennendes Wort von den „Rechtsgelehrten (iuris consulti), die sich um die Richtigkeit der Worte allerhöchste Mühe geben“.

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diendichter Epicharm findet74, unterrichtet, wie das für einen Lehrer, der für Geld tätig war, passt, in unterhaltsamer und einprägsamer Weise: Denn dass die Begabung, eine Polisrepublik ins Leben zu rufen, dem Haushuhn in einer den Menschen positiv herausstreichenden Weise tatsächlich fehlt, ist nicht ohne Witz und lässt sich gut merken: Diese Art kommt über eine die „Frauen“ unterdrückende, in einer Art Harem haltende Hühnerhof-Monarchie eines bevölkerungspolitisch allein tätigen Hahnes nicht hinaus. Umso deutlicher wird, dass der Mensch die Begabung zur stadtbürgerlichrepublikanischen Zivilisation hat, einschließlich der Fähigkeit, die Gleichheit der Geschlechter zu verwirklichen, eine Ansicht, die vermutlich Protagoras auch schon vertrat. Auch Platon ist für sie mit Nachdruck eingetreten, aber in einer Weise, die, da er die selbständige Kleinfamilie seinem Erziehungsstaat zu opfern bereit war, wie eine idealistische Radikalisierung seines Vorgängers erscheint.75 Übrigens ist – diese Bemerkung sei hier in Parenthese erlaubt – erst das heutige Eheleitbild spezifisch „republikanisch“ geworden, da es beide Ehegatten wie zwei Konsuln solidarisch auf das Ganze berechtigt und damit wie einst die römische Republik die Monarchie grundsätzlich abschafft und für Herrschaft an die menschliche Fähigkeit zur Verständigung appelliert und jeden erhobenen Widerspruch grundsätzlich ernst zu nehmen gebietet.

74 Diogenes Laertes zitiert eine Beweisführung, dass Platon dem Epicharm viel entlehnt habe (III, 9–17), und in ihrem Rahmen dessen Verse: „Eumaios, Weisheit ist auf eine Gattung nicht/ beschränkt, denn alles, was lebt, hat auch Verstand./So laß dich nur erinnern an das Hennenvolk:/Denkst du genau, nicht lebend’ge Junge bringt’s/ hervor; es brütet aus sie und beseelt sie so./Doch wie’s mit dieser Weisheit ist bestellt, das weiß/Natur allein: sie hat es ganz von selbst gelernt.“ Vgl. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, 9. Aufl. hrsg. von Kranz (1959) II S. 198 (Epicharm Nr. 4). 75 Zu der Forderung einer Frauen- und Kindergemeinschaft (Platon, Politeia 449a–466d) heißt es bei Cicero, de re publica IV 5,5 oder genauer im Echo des ihn ausschreibenden Lactanz (epit. 33 [38], 1–5): „Kann es in irgendeiner Weise ertragen werden, dass auch die Ehegatten und Kinder gemeinschaftlich sind? Soll es keinen Unterschied der natürlichen Abstammung, kein bestimmtes Geschlecht, keine Familie, keine Blutsverwandtschaft und Schwägerschaft geben, sondern alles wie in Viehherden vermischt und ungeschieden sein?“, zu Platons Forderung nach ihrer Gleichberechtigung im öffentlichen Leben: „Er gewährt den Frauen sogar das Rathaus, gestattet ihnen Militärdienst und Ämter. Was für ein Unglück wird in der Stadt herrschen, in der sich die Frauen die Aufgabe der Männer aneignen.“ Ich würde vermuten, dass Protagoras hier als Gesetzgeber ähnlich wie die skeptische Philosophie im klassischen Recht das Herkommen entscheiden ließ, d.h. die traditionelle Ausschließung der Frauen von den Ämtern als Entscheidung der Vorfahren akzeptierte, vor der Vernunft aber nicht bestritt, dass Frauen in gleicher Weise wie Männer zu solchen Aufgaben befähigt sind.

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IV. Die Verteidigung des Ideals einer von ihren Bürgern getragenen Republik Was bei Platon die den Erziehungsstaat radikalisierende Bewegung von der Politeia zu den Nomoi ausgelöst und bei Cicero in einer analogen Bewegung von De re publica zu De legibus die Legitimität eines kraft außerordentlicher Vollmacht über der freiheitlichen Republik stehenden princeps civitatis bekräftigt hatte, waren jeweils erlebte Krisen, bei Platon bekanntlich der überaus negative Eindruck einer zur Herrschaft gelangten Radikaldemokratie, in deren Bewertung ihm Cicero voll und ganz zustimmte76, bei Cicero die Erfahrung, dass der römische Staat unter dem Einfluss der schweren sozialen Konflikte in zwei unversöhnliche Teile auseinanderzubrechen drohte. Sie ließ ihn nach einer Herrschaftsidee suchen, die der überkommenen Verfassung unter tunlichster Wahrung der republikanischen Kontinuität kraft einer höheren Legitimation eine neue Stabilität zu geben vermöchte.77 Diese Analogie lässt die Unterschiede nur um so deutlicher hervortreten. Platon misstraute der zur Republik gehörenden Leitidee der Herrschaft von Menschen über Menschen grundsätzlich78, Cicero vertrat dagegen einen im Kern selbstsicheren Republikanismus, der auch in der geschwächten Republik einen Wert sah, der zu verteidigen war. Dahinter stand die gesamte hellenistische Entwicklung, die sich von Platons Angriffen gegen die Republik nicht hat überzeugen lassen. Schon Aristoteles hatte gegen Platons Gedanken, den Staat als menschliche Organisationsform durch theonomische Prinzipien zur Vollkommenheit zu führen, eingewendet, dass ein zusammengesetztes Etwas wie ein Gemeinwesen der von Platon angestrebten Vollkommenheit gar nicht fähig sei.79 Dieser Gedanke setzte sich allgemein durch und lag auch dem für Rom so folgenreichen, die geistige Selbständigkeit der Bürger betonenden Republikanismus 76 Cicero (de re publica I 43,66–67) übersetzt die vernichtende Analyse Platons (Politeia VIII 562c–d) mit großer Zustimmung. 77 Man vergleiche nur die Diagnose (Cicero, de re publica I 19,31): „in einer einzigen Republik zwei Senate und fast schon zwei Völker“ mit dem im Somnium Scipionis propagierten Heilmittel (VI 12,12): „Du (Scipio) bist der einzige, auf dem das Heil der Bürgerschaft beruht; um nicht viele Worte zu machen: du musst als Diktator die Republik festigen“. Der verwendete Terminus „rem publicam constitutere“ erinnert nicht ohne Grund an die späteren „constitutiones principis“ und das ihnen voraufgehende „rem publicam restituere“. 78 Nom. 713c: „Keine menschliche Natur reicht hin, das Menschliche zu verwalten.“ Vgl. oben Anm. 19. 79 Ada Babette Hentschke, Politik und Philosophie bei Platon und Aristoteles. Die Stellung der NOMOI im Platonischen Gesamtwerk und die politische Theorie des Aristoteles (1971) S. 414 f.

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der Stoa zugrunde.80 Nicht minder wichtig war der schon bei Aristoteles beginnende und dann bei seinem bedeutenden Schüler Theophrast weitergeführte empirisch-beobachtende Wissenschaftsstil, der im Recht zur Sammlung, Beschreibung und analytischen Bewertung der in der damaligen Welt vorherrschenden republikanischen Verfassung führte und am Ende auch in der Akademie die skeptisch-beobachtende Empirie zur Quelle allen Wissens erhob.81 Denn wer die mediterrane Kultur auf diese Weise in Augenschein nahm, konnte nicht an der Tatsache vorbeigehen, dass die Organisationsform der sich selbst verwaltenden Stadtrepublik trotz aller Mängel und Probleme ein großer Erfolg war und als der vielleicht doch entscheidende Träger der erreichten Blüte in Kultur und Wirtschaft anerkannt werden musste. Um naheliegende Einzelbeispiele zu geben. Die von Perikles initiierte panhellenische Gründung der unteritalischen Stadt Thurioi, bei der Protagoras die Rolle des Gesetzgebers spielte82, hatte nicht alle machtpolitischen Ziele Athens erfüllt, war aber für sich genommen auch alles andere als ein Misserfolg. Viel später, im Jahr 131 v. Chr., gab es, wie Diodor berichtet, unter den Bürgern, deren Vorfahren aus den verschiedensten Städten Griechenlands zusammengekommen waren, einen Streit über die Person des 80

Vgl. Seneca, epist. mor. 102, 6: „Aus selbständigen Bestandteilen (ex distantibus) [. . .] bestehen Heer, Volk, Senat. Denn jene , durch welche diese Körper gebildet werden, hängen durch Recht und Ethik (iure aut officio) zusammen, sind aber von Natur aus getrennt und einzelne (singuli). [. . .] Wir halten nichts für gut, was aus Bestandteilen besteht; denn von einem Geist muss das eine Gute erfasst sein.“ Diese Voraussetzung trifft nach der Stoa für den lebendigen, mit Gott identifizierten Kosmos zu, nicht auf ein Volk; dessen jeweilige Glieder, als Menschen im Besitz eines eigenen Bruchstücks des göttlichen Geistes, können Vervollkommnung nur dadurch erreichen, dass sie sich mit dem Sinn des gesamten, die Menschheit umfassenden Kosmos in Harmonie setzen. Vgl. die Skizze der stoischen Staatslehre oben Anm. 22 und 47 sowie unten Anm. 96 und 108 und zu einer näheren Erläuterung dieser Weltsicht meine unten Anm. 115 zitierte Untersuchung „Das Kunstwerk in der Eigentumsordnung.“ 81 Alfons Wesche, Cicero und die Neue Akademie, Untersuchungen zur Entstehung und Geschichte des antiken Skeptizismus, 2., unveränderte Auflage (1975) S. 18 ff. 82 Diogenes Laertes IX 1: „Protagoras [ . . . ] stammt aus Abdera, wie Herakleides Pontikos [in seiner Heimat lehrender Philosoph der 2. Hälfte des 4. Jh. ] in seinem Buch über Gesetze sagt; auch soll er diesem letzteren zufolge für die Thurier Gesetze abgefasst haben.“ Vgl. Kurz von Fritz RE (1957) s. v. Protagoras Sp. 908. Mit der 444/443 erfolgten Gründung versuchte Perikles, die Lage nach der schon länger zurückliegenden Zerstörung von Sybaris dazu zu nutzen, Athen in Groß-Griechenland am gleichen Ort einen starken Stützpunkt zu schaffen. Vgl. Philipp, RE (1939) s. v. Thurioi Sp. 646; Franz Miltner, RE (1939) s. v. Perikles Sp. 769: „dass Hippodamos, Protagoras und Herodot, alle aus der nächsten Umgebung des P., dabei waren, ist sicher.“

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Gründers. Und da, wie er sagt, viele bedeutende Männer an ihr beteiligt waren (neben Protagoras, wie überliefert ist, auch Hippodamus von Milet83), gab das konsultierte Delphi die Antwort, man möge Apollo als Gründer betrachten.84 Diese Einordnung hätte auch Protagoras akzeptiert, da er „Recht“ und „Scham“, die in seinen Augen eine Polis-Verfassung ermöglichen, als Gaben des Zeus deutete, wenn auch durch Hermes vermittelt und daher stets der (in Rom den Juristen auf den Plan rufenden) Interpretation bedürftig. Das zweite zentrale Beispiel ist in diesem Zusammenhang natürlich Rom, das sich 451/50, wenige Jahre vor der Gründung von Thurioi, mit den Zwölftafeln als gerade zwei Generationen alt gewordene Republik sein Grundgesetz gegeben hatte, das so lange trug, dass sogar Livius es noch für seine Zeit als „Quelle allen öffentlichen und privaten Rechts“ bezeichnete.85 Das Gesetz konnte diese Rolle deswegen so dauerhaft erfüllen, weil es frühzeitig, nach einer Quelle schon etwa nach einhundert Jahren nach Inkrafttreten, von hellenistischen Interpretationen erfasst wurde, und zwar am Ende mit einer solchen Intensität, dass Cicero das kurze Gesetz wegen der durch Interpretation an seinen Text herangetragenen rechtlichen Gehalte, was Geltungskraft und Ergiebigkeit angeht, über die Bibliotheken aller Philosophen stellte.86 Die stoische Philosophie, welche diese systematischen 83 Die Beteiligung des Hippodamos von Milet dürfte sich auf seine berühmte geometrische Stadtplanung beschränkt haben. Vgl. Philipp, RE (1931) s. v. Sybaris Sp. 1009. Aristoteles Politik II 8 (1267b), der ihn als ersten reinen Theoretiker des Staatsrechts vorstellt und darum recht kritisch schildert, lässt von einer Beteiligung an einer praktischen Gesetzgebung nichts verlauten. 84 Diodor XII 35 „When Crates was Archon in Athens, the Romans elected as consuls Quintus Furius Fusus and Manius Papirius Crassus (a. 131 B.C.). This year in Italy the inhabitants of Thurii, who had been gathered together from many cities, divided into factions over the question from what city the Thurians should say they came as colonists and what man should justly be called the founder of the city. The situation was that the Atheneans were laying claim to this colony on the grounds, as they alleged, that the majority of its colonists had come from Athens; and, besides, the cities of the Peloponnesus, which had provided from their people not a few to the founding of Thurii, maintained that the colonization of the city should be ascribed to them. Likewise, since many able men had shared in the founding of the colony and had rendered many services, there was much discussion on the matter, since each one of them was eager to have this honour fall to him. In the end the Thurians sent a delegation to Delphi to inquire what man they should call the founder of their citiy, and the god replied that he himself should be considered to be its founder. After the dispute had been settled in this manner, they declared Apollo to have been the founder of Thurii, and the people, being now freed from the civil discord, returned to the state of harmony which they had previously enjoyed.“ 85 Livius 3,34,6: „noch jetzt“. 86 Vgl. Pomponius liber singularis enchiridii D 1,2,2 §§ 5/6, §§ 36/37 und oben Anm. 47.

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Gehalte geliefert hatte, sah bei der Gründung der Staaten so sehr die einzelnen Menschen handeln, dass es sogar die Gründungslegende Roms akzeptieren konnte, nach der Romulus die künftigen Bürger durch Ausschreiben eines Asyls gewonnen hatte. Denn für sie ist das Staatsvolk keine Bildung der mit biologischen Mitteln wirkenden, primären Natur, sondern mit allen Konsequenzen Geschöpf eines von Menschen gestaltbaren, das Besondere wollenden und daher die Freiheit begünstigenden, in jedem einzelnen wirksamen (wenn auch entschieden patriarchalisch überdeterminierten87) Willens. Auf diese Weise lehrte sie einen die Menschheit erfassenden, pantheistisch begründeten Republikanismus. Es war für sie ein im Kosmos wirkender göttlicher Geist, der überall auf der Welt die Menschen dazu geführt hat, das Zeitalter des reinen Naturrechts ihrer Kindheit zugunsten einer Welt gleichgeordneter Staaten zu verlassen, die, als Gliederungen der Menschheit gedeutet, ihre und ihrer Bürger Besonderheiten schützen, aber zugleich gastliche und kooperierende Einrichtungen waren. Er erfasste die Menschheit, als ihre Glieder zu eigenverantwortlichem, geschichtlichen Handeln herangereift waren, brach die Homogenität und Solidarität der naturwüchsigen Stämme zugunsten des jeweils Besonderen und Eigennützigen in Staaten und Haushalten auf, bewahrte aber gleichzeitig den Zusammenhang der auf eine neue Stufe getretenen societas humana in Form eines naturrechtlichen Verkehrsrechts. Die Götter leben in diesem Rechtsbild als Werte vermittelnde Kräfte mit den Menschen in den Städten zusammen wie Eltern mit ihren Kindern in den Häusern, und zwar indem sie sowohl Werte der strikten Selbstbehauptung als auch Werte der fremdnützigen Zusammenarbeit repräsentieren.88 Ganz anders der aus einer idealen Transzendenz wirkende platonische Gott, der die Welt über göttlich inspiriert gedachte, naturhaft entstandenen Einzelstaaten regierende Herrscher leitet.89 Da hinter Platons Herrschern auch ein Drohen mit göttlichen Strafen steht90, erlaubte 87 So war die erst in der Staatlichkeit mögliche und für ihre innere Struktur maßgebende privatrechtliche Familie durch den Mannesstamm definiert, da nach der Überzeugung der Stoa nur der männliche Same imstande war, Blutsverwandtschaft weiterzugeben. Die Theorie war aber geistig genug, um z. B. die Annahme als Kind als vollgültige, „konsanguine“ Verwandtschaft anzuerkennen. Vgl. dazu zuletzt „Der Schlüssel zur Hermeneutik“ (oben Anm. 9) S. 201 ff. 88 Vgl. v. Arnim, StVFr III S. 82 Ziff. 334 und 338. 89 Vgl. v. Arnim, StVFr II S. 308 Nr.1043 (Salvianus de gubern. Dei I 3) „Platon und alle Schulen der Platoniker bekennen, dass Gott der Herrscher aller Dinge ist; die Stoiker bekunden, dass er sich als Steuernder immer innerhalb dessen aufhalte, was er führe.“ 90 Mit dem Mythos des Totengerichts über die Seelen erklärt Platon, dass die Götter sich um die Welt kümmern, und zwar in einer Weise, die ihnen (Nomoi 904a) „wunderbar leicht“ fällt, nämlich durch einen sich gewissermaßen von selbst vollziehenden Spruch, dem keiner entgeht. Die Seelen, die im Leben von häufigeren und größeren Ungerechtigkeiten geprägt worden sind, wandern (904d) „in die Tiefe und

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sich der Hauptschriftsteller der Stoa Chrysipp aus der Sicht der von ihm vertretenen, in den Göttern auf alle einwirkende Werte des menschlichen Zusammenlebens verehrenden Rechtslehre sogar den Spott, Platons Gott ähnele einem Kinderschreck.91 Bedenkt man all dies, dann war an der von Cicero und Laktanz wegen ihrer zutreffenden Kritik an Platons nur den Herrscher berechtigenden Gerechtigkeitsidee gelobten Rede, die Karneades im Jahre 156/5 auf der berühmten Philosophengesandtschaft in Rom gehalten hatte, das eigentlich Neue nicht das republikanische Prinzip, das alle Menschen an der Gerechtigkeit teilhaben und von ihr berechtigt und verpflichtet werden lässt – das vertrat auch die Stoa – , sondern die erst jetzt vollständig vollzogene Rückkehr zu Protagoras und die im akademischen Skeptizismus liegende Erneuerung des homo-mensura-Satzes. Es war eine radikale, im Rahmen der Akademie vollzogene Abkehr von dem, was Platon wollte und wurde von dem Titel der Mitte des 2. Jh. erschienenen Schrift des Noumenios „Über die Treulosigkeit der Akademie gegenüber Platon92“ treffend kommentiert. Die sie tragende skeptische Philosophie wurde über die philosophische Rhetorik und die Römischen Vorlesungen des Karneades-Enkelschülers Philon von Larissa, wie schon bemerkt, zur Schöpferin der klassischen römischen Jurisprudenz. Auf diese Weise kehrte zunächst die von Protagoras bewirkte, von Platon bekämpfte kategoriale Trennung des menschlichen, die Welt wahrnehmenden Erkenntnisvermögens von einer höheren, göttlich inspirierten Quelle in systematisch ausgearbeiteter Form wieder. Wenn Protogaros am Anfang seiner Schrift „Wahrheit“ (Alétheia) oder „Niederwerfende Gründe (Katabállontes Lógoi)“ sagt: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, dass sie sind, der Nichtseienden, dass sie nicht sind“, und zu Beginn seiner in die sogenannten unteren Bezirke, die die Menschen als Hades und mit ähnlichen Namen bezeichnen und vor denen sie sich gewaltig fürchten und davon träumen, sowohl im Leben als auch nach der Trennung vom Leibe.“ Vgl. auch Politeia 330d–e. 91 Vgl. v. Arnim, StVF III S. 77 Nr.. 313 „In den Schriften zu Platon über die Gerechtigkeit (ad Platonem ipsum de iustitia) korrigiert er sofort die Rede über die Götter und sagt: ‚Es ist nicht recht, den Képhalos [einen attischen Heros] durch Furcht vor den Göttern von Unrecht abzuhalten, was leicht zu verleumden ist, viele auf das Gegenteil führende Tendenzen enthält sowie Offenkundigkeiten, die dem Prinzip, dass die Strafen von Gott ausgehen, widersprechen, ganz so als ob es keinen Unterschied gebe zu Akko und Alphito, mit denen die Frauen die Kinder, die nicht aufpassen, erschrecken.‘ Indem er so die Ausführungen Platons verspottet, lobt er ihn wiederum in anderen Dingen und zitiert ebenda öfter die Verse des Euripides: ‚Und es ist doch so, auch wenn dem Wort Gelächter gilt, dass Zeus und die Götter das Leiden der Sterblichen wahrnehmen‘.“ 92 Vgl. Numénius, Fragments, Texte établi et traduit par Édouard des Places. S.J., Edition „Les Belles Lettres“ (1973) S. 62 ff.

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Schrift „Über die Götter“ den Satz formuliert, der in Athen zur Einziehung und Verbrennung seiner Bücher führte: „Von den Göttern weiß ich nicht, weder dass sie sind noch dass sie nicht sind; denn vieles hemmt uns in dieser Erkenntnis, sowohl die Dunkelheit der Sache wie die Kürze des menschlichen Lebens“93, dann besagt das, dass der Mensch von dem, was er nicht weiß und wissen kann, keine sein Leben bestimmende Seinsaussagen ableiten darf, vielmehr sich insoweit notwendig darauf beschränken muss, das ihn umgebende Sein nach menschlichem Maß zu bestimmen und bewohnbar zu machen. Es ist die gleiche Sicht, aufgrund derer die akademische Skepsis zwischen „menschlichem Recht (ius humanum) = Gleichheit (aequitas)“ und „göttlichem Recht (ius divinum) = Religion (religio)“ unterschied und die „Bürgerliche Religion (civilis religio)“ ausschließlich dem mos maiorum überwies, weil es zwar ein religiöses Empfinden, eine naturalis religio, im Menschen gebe, aber universale Wahrheiten im Sinne ihrer Wahrscheinlichkeitslehre, die in dem auf Gleichheit (aequitas) aufbauenden menschlichen Recht ein universales ius gentium möglich macht, in dem Verhältnis der Menschen zu den Göttern nicht wahrnehmbar aufträten. Diese klare, systematisch begründete Trennungsthese verbot religiöses Argumentieren im Recht, schloss aber eine Respektierung, Wertschätzung und geistige Pflege der traditionalen Kulte in einem Gemeinwesen im Namen des mos maiorum ausdrücklich ein.94 Ohne eine solche Haltung hätte Protagoras angesichts der bedeutenden Stellung der Religion im Leben einer antiken Polis niemals Gesetzgeber von Thurioi werden können. Die Verfassung dieser Stadt folgte vielmehr so sehr dem Herkommen, dass die Bürger von Thurioi selbst die Gründung auf Charondas oder Zaleukos zurückführten, auf großgriechische Gesetzgeber, deren Taten wie bei Romulus und den Dezemvirn als mythische, der Wahrheit nahe und daher im Sinne des Richtigen auslegungs- und fortbildungsfähige Gründungstaten eingestuft wurden95; daher zögerte das Orakel von Delphi nicht, sogar Apollo selbst zum wahren Gründer von Thurioi zu erklären (vgl. oben Anm. 84). Protagoras und die klassische Jurisprudenz stimmten daher ersichtlich darin überein, dass Recht und Religion zu trennen seien, weil die Religion nicht in den Bereich des Wissens gehört, dass der Religion aber gleichwohl ein Platz in der Weltwahrnehmung gebührt. 93 Vgl. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker (oben Anm. 74) II S. 265 (Protagoras Fr. 4). 94 Siehe dazu Okko Behrends, Das Gewohnheitsrecht und die Gewohnheit des Rechts, in: Dietmar Willoweit (Hrsg.), Die Begründung des Rechts als historisches Problem (2000) S. 102 ff. 95 Vgl. einerseits Diodor 12, 11,4 und V. Ehrenberg, The Foundation of Thurioi, American Journal of Philology 69 1948) S. 155; andererseits Cicero, de legibus I 22, 57; II 6, 14 f, III 2, 5 mit De oratore I 44,197.

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Ein noch grundsätzlicheres Merkmal, das Karneades erneuerte, war die Grundlegung des Rechts in Natur und Konvention, d.h. in der Überzeugung, dass das Naturwesen Mensch sich lebensweltliche Sicherheit nicht nur durch Definition und Bearbeitung der Gegenstände der körperlich gegebenen Umwelt schafft, sondern auch und gerade durch Erzeugung ordnender Strukturen, deren Prototyp sich in der im Zusammentreten zur Staatlichkeit enthaltenen Übereinkunft, eine Bürgerschaft zu sein, zeigt und das in der Folge die ganze Fülle der in der Staatlichkeit möglichen rechtlichen Beziehung unter das Prinzip der rationalen Verständigung stellt. Die auf diese Weise von der skeptischen Akademie erzeugte Dichotomie zwischen körperlicher Natur und den die spezifisch menschliche Lebenswelt erzeugenden, gedanklichen (unkörperlichen), auf vernünftiger Übereinkunft beruhenden Rechtsinstituten ist nun in der Tat nichts anderes als eine vielleicht zur höheren Prägnanz gebrachte Fassung des Gegensatzes von vorgefundener Natur und Konvention, die Karl R. Popper als Kennzeichen der „Großen Generation“ und ihrer Protagonisten Protagoras und Demokrit aufgewiesen hat.96 Es war nun auch tatsächlich der große, aus der gleichen Stadt Abdera stammende Zeitgenosse des Protagoras, der Naturphilosoph und Ethiker Demokrit, welcher der akademischen Skepsis und damit auch der klassischen Jurisprudenz Roms (vgl. oben Anm. 18) das Leitwort geliefert hat: „Die Wahrheit ist in der Tiefe verborgen, alles wird durch menschliche Einrichtungen und Meinungen (institutis et opinionibus) zusammengehalten.“97 Pla96 Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I S. 95 und Anm. 3 (S. 314). Wenn Popper betont, dass das, was er „kritischen Dualismus“ oder „kritischen Konventionalismus“ nennt, nicht bedeutet, dass konventionelle Normen „bloß willkürlich“ sind, dann entspricht das präzis der skeptischen, auf höchste Grade der Wahrscheinlichkeit gerichteten (von willkürlichen Dezisionismen freien) Methode. Die Sicht begründet vielmehr, dass der Mensch (und weder Natur noch Gott) für das, was er, von seinem Verstand geleitet, als Recht wahrnimmt und anerkennt, verantwortlich ist. In der akademischen Skepsis ist dies dadurch normativ klargestellt, dass die Verhältnisse des ius gentium aufgrund der „Zusammenkünfte der Menschen (conventa hominum)“ zum Staatsverband entstehen und möglich werden. Mit ihr unterstellt sich der Mensch vernünftigen Ordnungsformen erzeugenden Regeln und stimmt ihnen mit Hilfe fachwissenschaftlicher Betreuung (daher kraft Quasi-Konsens [quasi consensu]) zu. Durch positive Gesetze und Gewohnheitsrecht kann er diese universalen Regeln in Richtung eines „Sonderrecht (ius proprium)“ modifizieren und lebt im übrigen in der durch gedankliche Strukturen ergänzten Körperwelt nach den Geboten seiner geselligen Natur, die in soziobiologisches „Naturrecht (ius naturale)“ und rechtsethische „natürliche Gleichheit (naturalis aequitas)“ zerfallen. Vgl. dazu das „Rechtssystem (ratio iuris)“ Cicero, Partitiones oratoriae 37, 129 f. (40, 139: „mitten aus jener, nämlich ‚unserer‘ Akademie“) und die oben Anm. 18 zitierten Abhandlungen. 97 Cicero, Academici I 12,44: „wie Demokrit“ (es folgt das im Text gegebene Zitat; siehe auch Cicero, Lucullus II 10,32 und Isidor VIII 6,12). Cicero stellt es

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ton hat bekanntlich jegliche offene Auseinandersetzung mit Demokrit vermieden und damit, wie schon in der Antike festgestellt wurde, dem Rang seines Denkens Respekt gezollt.98 In der Tradition der skeptischen Akademie und der von ihr geformten klassischen Jurisprudenz ist demgegenüber seine Wirkung vielfach zu spüren. Aus seiner Überzeugung, dass die allem zugrundeliegende „Wahrheit“, da dem Bereich der „Atome“ und dem „Leeren“ zugewiesen, dem menschlichen Wissen dauerhaft entzogen sei, hatte er nicht den Schluss gezogen, dass darum nun die ethische Aufgabe, die Bedingungen des richtigen Zusammenlebens der Menschen zu klären, die er wie die akademische Skepsis dem Bereich menschlichen Setzens und Meinens zugewiesen hatte99, gering zu achten sei. Seine Äußerungen zeigen das Gegenteil. Ohne die bewertende „Kenntnis der Dinge (notio rerum)“ ist es dem Menschen nicht möglich, „glücklich“ (beate) zu leben. Er kann zwar auf manche rein sinnliche Wahrnehmung, wie die der Farben, verzichten, nicht aber auf die Wahrnehmung der ethischen, rechtlichen und physischen, ihre sinnhafte Ordnung einbeziehenden Qualitäten oder Werte der Dinge.100 Was dann im Folgenden so dar, dass der unter dem Demokritwort stehende Skeptizismus des Arkesilaos ganz dem entspricht, den er bei Philon gelernt hatte und dem er treu geblieben war (vgl. oben Anm. 34): dieser (d.h. Karneades) war der vierte nach Arkesialos; er verharrte in der Lehre des Arkesilaos. Eine kürzere Fassung des Demokritwortes überliefert Diogenes Laertes IX 72; vgl. Diels, Fragmente der Vorsokratiker (oben Anm. 74) II [im Folgenden „Diels II“] S. 166: Demokrit Fr. 117; dort auch S. 139 f. Fr. 6–10 weitere erkenntniskritische Äußerungen Demokrits. 98 Diogenes Laertes bemerkt in der Demokrit-Biographie (IX, 40) nach der eher anekdotischen Überlieferung, dass Platon die Absicht gehabt habe, alle Schriften Demokrits, die er zusammenbringen könne, zu verbrennen: „Und soviel ist klar: während Platon fast aller älteren Philosophen gedenkt, tut er des Demokrit nirgends Erwähnung, selbst da nicht, wo er irgendwelche Einwendung gegen ihn anbringen müsste, offenbar weil er sich bewusst war, dass er es mit dem besten aller Philosophen zu tun haben würde.“ 99 Vgl. die Entgegensetzung in den von Diogenes Laertes mitgeteilten Lehrsätzen (9,44,1): „Die Prinzipien aller Dinge sind die „Atome“ und das Leere; alles andere wird gesetzt (nenomístai) – oder, die Überlieferung stellt zur Wahl – geglaubt (doxázesthai)“ und (9,45,4): „Eigenschaften beruhen auf Setzung; von Natur aus gibt es die „Atome“ und das Leere)“. In der Alternative, die von der Überlieferung des ersten Satzes geboten wird, deutet das erste Verb kaum zufällig auf die von der consuetudo anerkannten, menschlich gesetzten Einrichtungen (instituta), das zweite auf Meinungen (opiniones). 100 Cicero, Tusc. Disp V 9,113: „Demokrit konnte, als er das Augenlicht verloren hatte, weiß und schwarz nicht unterscheiden, wohl aber gut und böse, gerecht und ungerecht, anständig und unanständig, brauchbar und unbrauchbar, groß und klein. Ohne Farbunterschiede wahrzunehmen, kann man glücklich leben, nicht aber ohne Kenntnis der Sachen.“ Da für Demokrit die Farbwahrnehmung wie alle sinnliche Wahrnehmung (vgl. Diels II S. 140 Fr. 11]) in den Bereich des Meinungsmäßigen gehört, ist mit der hier getroffenen Unterscheidung den Werturteilen ein eigener Rang angewiesen.

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Demokrit insofern von den Gesetzen101, den Magistraten102, der Gerechtigkeit innerhalb der Rechtsordnung103 und dem Wert einer auf diese Weise republikanisch verfassten Demokratie104 sagt, ist ebenso klassisches Gedankengut geblieben wie die Art und Weise, in der er die Bedeutung der ethischen Gesinnung des Einzelnen für die Geltung des Rechts hervorhebt.105 Auffällig sind auch speziellere Kontinuitäten, so die analoge Übertragung der „Wahrheitslehre“, dass alles aus kleinsten unteilbaren, sinnlich nicht wahrnehmbaren, sich im Leeren bewegenden Elementen besteht, auf die Ebene der sinnlichen Wahrnehmung einschließlich ihrer Anwendung auf soziale Gesamtheiten.106 Denn es steht in der Tradition Demokrits, wenn die klassische Jurisprudenz das Staatsvolk, das die rechtsfähige Bürgerschaft bildet, als universitas singulorum, als eine strukturierte Gesamtheitsstruktur von sich im Generationswechsel ablösenden, freien „Individuen“ deutet.107 Auch 101

Die Gesetze würden jeden uneingeschränkt nach seinem Belieben leben lassen, wenn nicht der eine den anderen schädigte (Diels II S. 194 Fr. 245). 102 Gute Amtsführung wird erwartet und nicht besonders gelobt, schlechte getadelt (Diels II S. 199 Fr. 264). Den Magistraten gebührt Schutz vor unberechtigter Verfolgung für das, was sie in ihrer Amtszeit unter Beachtung der Gesetze getan haben (Diels II S. 200 Fr. 266). 103 Nicht aus Furcht, sondern aus Verpflichtung soll man sich der Verfehlungen enthalten (Diels II S. 155 Fr. 41) und das Pflichtmäßige tun (Diels II S. 197 Fr. 256). 104 Eine wohlverwaltete Stadt ist die größte (rechten Lebenswandel ermöglichende) Lebenshilfe (órthoosis, Diels II S. 195 Fr. 252); Armut in einer Demokratie steht über dem Glück unter Fürsten wie Freiheit über Knechtschaft (Diels II S. 195 Fr. 250). 105 Der Mensch sollte sich insbesondere vor sich selbst schämen (aideîsthai) und sich als inneres Gesetz geben, nichts Schädliches zu tun (Diels II S. 199 Fr. 265). 106 In der Stelle Diels II S. 176f. Fr 164 wendet Demokrit den Satz, gleich zu gleich gesellt sich gern, nicht nur auf alle Lebewesen an (das dafür verwendete griechische Wort entspricht lat. congregantur) – ausdrücklich genannt werden Vogelschwärme [vgl. dazu oben Anm. 67] –, sondern auch auf Steine in der Brandung und gesiebte Linsen, Gersten- und Weizenkörner. Die Nutzanwendung auf einen von der Gleichheit abgeleiteten Gesellungstrieb der Menschen ist evident. 107 Die Darlegungen eines unmittelbaren Schülers des Servius Sulpicius, Alfenus Varus, 6 digestorum D 5,1,76, leiten unter Berufung auf „die Philosophen“ die Existenz eines Kollegialgerichts, einer Legion, eines Volks, eines Schiffes und auch die des menschlichen Körpers aus dem Zusammenhang der jeweils kleinsten, ohne Identitätsverlust der Gesamtsache, ersetzbaren Bestandteile ab und betonen abschließend: „Wenn aber jemand glauben würde, dass eine Sache durch Austausch ihrer Teile eine andere würde, dann würde aus diesem Gedanken folgen, dass wir selbst nicht mehr dieselben wären, die wir vor einem Jahr waren, und zwar deswegen, weil, wie die Philosophen gesagt haben, die kleinsten Teile, aus denen wir bestehen, täglich unseren Körper verlassen und andere von außen an ihre Stelle treten; daher nimmt man an, dass eine Sache dieselbe bleibt, die sich in der gleichen Gestalt erhält.“ Diese Bestandteil- und Stoffwechsellehre erweitert die Lehre von Cicero (Lucullus 17, 55): „jenen unteilbaren Elementen (individua), aus denen, wie Demokrit

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die für das klassische Denken charakteristische Zentralstellung des Menschen als Person, die jeden einzelnen von seinem sprechenden und unverwechselbaren Gesicht, seiner sozialen „Maske“ her definiert und damit sowohl das Gleichheitsprinzip als auch das Recht auf eine individuelle, nach menschlichem Maß frei gestaltbare Biographie verbrieft (vgl. oben Anm. 18), verwirklicht das Demokritwort: „Jeder Mensch ist eine kleine Welt für sich“.108 Mit der Anweisung eines Platzes in einer von einem einzigen großen hierarchischen Gerechtigkeitsprinzip geführten Verfassung ist dies unvereinbar. Leitwerte dieses spezifisch kulturanthropologischen Rechtsbildes sind Gleichheit, Freiheit und die Vielfalt des Individuellen, nicht Schönheit und Harmonie eines Ganzen. Demokrits Aussage, dass die Ordnung der Lebenswelt von geprüften und bewährten „Einrichtungen und Meinungen“ geformt ist, gilt denn auch für Protagoras wie für Karneades und dessen Schüler. Alle streben nach einem belastbaren Wissen nach menschlichem Maß. Genauso wenig, wie aus dem Skeptizismus der Akademie folgt, dass ihre Wahrscheinlichkeitslehre nicht mit Nachdruck auf die Ausarbeitung orientierenden Wissens gerichtet war – sie erlaubte vielmehr die systematische Begründung einer ausdifferenzierten, fachwissenschaftlich betreuten Rechtsordnung109 –, darf man aus den behauptet, alles bestehe“, in einer vermutlich auch schon der Staatslehre des Demokrit zugrundeliegenden Analogie auf alle Bestandteile, die durch Teilung zerstört oder getötet würden. Zur „Einheit der Einzelnen (universitas singulorum)“ als Rechtsträger Gaius II 11 und Ulpian 10 ad edictum D 3,4,7,2 „In [. . . ] einer Einheit kommt nichts darauf, ob alle bleiben, ein Teil bleibt oder alle ausgewechselt werden.“ Infolge der Schulenkonvergenz wird in hochklassischer Zeit für das Staatsvolk sowohl klassisch von gens (d.h. das mit dem zivilisatorischen ius gentium entstehende Volk) als auch vorklassisch von populus (das sich aus den jeweils vom naturrechtlichen ius gentium beherrschten gentes herauslösende Volk) gesprochen. Daher umfasst die Rede (Gaius I 1) „vom Völkergemeinrecht, nach dem alle Völker leben (ius gentium, quasi quo iure omnes gentes utuntur)“ beide Bedeutungen, primär die klassisch-institutionelle, aber als ergänzende Interpretationsmöglichkeit auch die vorklassische. – Nicht übersehen sollte man, dass unter der Herrschaft des ius gentium sich die universitas personarum auf alle sich auf dem Territorium aufhaltenden Personen erweitert. 108 Diels II S. 153 Fr. 34. Platon wertete dagegen den Menschen nach der Art, wie er als Teil der Menschheit und des Gemeinwesens seinen Platz ausfüllte, ein Rechtfertigungsgedanke, der sich auch in der Stoa findet, deren höchste denkbare Existenzform, die des Weisen, darin besteht, die determinierte, über die Handlungsvernunft entscheidende Sinnhaftigkeit der Weltsituation, in die er gestellt ist, zu erfassen. Daher die Kritik des Ciceronianers Lactantius, Divinae instit. VII c. 4: „Darin fehlen die Stoiker in nicht geringem Maß, dass sie sagen, nicht um des Menschen, sondern um der Menschen willen sei die Welt geschaffen worden.“ 109 Die Ansicht des in den folgenden Sätzen zitierten Karneades gründet sich für das praktische Leben, das es anleiten will, in einem maßgebenden Sinne auch auf die systematisch (u. a. rechtswissenschaftlich) geklärten Gegenstände (Cicero, Lucullus 31, 99): „Wenn etwas dem Anschein nach Wahrscheinliches (specie probabile)

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scharfsinnigen Aussagen des Protagoras, dass wahr ist, was jedem erscheint110, dass es keinen Widerspruch gibt111 und dass man über alles streiten kann einschließlich der Frage, ob man wirklich über alles streiten kann112, den Schluss ziehen, dass sein Denken nicht zugleich auf die Begründung einer dem menschlichen Zusammenleben dienenden Rechtsordnung gerichtet war. In den genannten Klärungen wird ja nicht bestritten, dass es belastbar in Geltung gesetzte Meinungen gibt, sondern erst einmal herausgearbeitet, dass das Denken des Menschen frei und beliebig ist, dafür geschieht und sich nicht zeigt, was dieser Wahrscheinlichkeit widerspricht, wird der verständige Mensch davon Gebrauch machen; und so läßt sich das gesamte Leben vernünftig führen (sic omnis ratio vitae gubernabitur).“ Die Möglichkeit der Wahrscheinlichkeit ist dabei in der phänomenologisch und strukturell definierbaren Natur der Dinge gegründet. Daher heißt es ebenda: „Es wäre wider die Natur, wenn es nichts Wahrscheinliches (probabile) gäbe“. Vgl. näheres in den oben Anm. 18 zitierten Abhandlungen. 110 Diog. Laert. IX 51 „Er [Protagoras] behauptete, die Seele bestehe lediglich aus den sinnlichen Wahrnehmungen, wie ihn auch Platon kennzeichnet im Theaetet, und alles sei wahr.“. Platon, Theaetet 159 „Wahr also ist mir meine Wahrnehmung, denn sie ist die meines jedesmaligen Seins. Ich also bin der Richter, nach dem Protagoras, dessen sowohl, was mir ist, dass es ist, als dessen, was mir nicht, dass es nicht ist.“. Das ist richtig und wird nur dann absurd, wenn behauptet wird, dass diese wahren seelischen Zustände über sich selbst hinaus etwas daran ändern, was in der nach menschlichem Maß vermessenen Realität im übrigen der Fall ist. 111 Platon, Euthydem 286c; Theaetet 152a–172b (160c f., 171c); Diog. Laert. IX 53. Wenn A dieses und B jenes über etwas objektiv Gleiches denken oder sagen, sind das nur zwei koexistierende Seelenzustände oder zwei gleichzeitige Sprechakte, keine Widersprüche. Solche Unterschiede werden zu Widersprüchen nur unter der Annahme, dass in den Menschen ein universales oder göttliches Denken denkt. Cicero, Academicorum reliquiae cum Lucullo 46, 142, arbeitet den Gegensatz deutlich heraus: „Ich komme nun zum dritten Teil der Philosophie (der Ethik). Einen Standpunkt vertritt hier Protagoras, der meint, dass dasjenige für einen jeden wahr ist, was einem jeden scheint. [. . .] Platon aber wollte jedes Wahrheitsurteil und die Wahrheit selbst von den Meinungen und Sinnen entfernen und dem Denken selbst und dem Verstand zuordnen.“ Die Kategorien der Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit, die nach der Übereinstimmung einer Aussage mit der nach menschlichem Maß vermessenen und geordneten Welt fragen, bleiben im übrigen von den Klärungen des Protagoras, die auf eine entschiedene Delegitimierung des subjektiven Meinens hinauslaufen, unberührt. Platon muss dagegen die dem Frieden gefährliche „Laienwahrheit“ durch die (anthropologisch nicht begründbare) Konzentration der Wahrheitserkenntnis bei den Herrschenden bannen. 112 Seneca, epistulae morales 88, 43 „Protagoras sagt, dass man über eine jede Sache gleichmäßig nach beiden Seiten argumentieren kann und auch über die Frage selbst, ob eine jede Sache nach beiden Seiten erörtert werden kann.“ Ein solche Betrachtungsweise ist natürlich geeignet, dem sokratischen Dialog, der auf eine Enthüllung der in den Seelen erinnerungsfähig vorhandenen Wahrheit aus ist, den Boden zu entziehen. Darauf mag sich die erstaunlich anachronistische Nachricht beziehen, dass Protagoras (Diog. Laertes IX 53): „auch die sokratische Art der Gesprächsführung zuerst ins Wanken .“

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aber auch insoweit erst einmal in die Sphäre des objektiv Belanglosen gehört. Diesen Klärungen setzt Protagoras dann eine eigene, objektivierende Erkenntnislehre entgegen, die in der Phänomenalität der allen (!) Menschen so erscheinenden Stofflichkeit begründet ist, und zwar in der Relation der sich natürlich (nach ihren natürlichen Möglichkeiten) verhaltenden Gegenstände zu den sich ebenfalls natürlich (nach ihren natürlichen Möglichkeiten) verhaltenden Menschen; Dingen, die sich den Menschen nicht in solcher Relation zeigen (wie bei den Göttern der Fall), wird das Sein nach menschlichem Maß abgesprochen. Sext. Empiricus ordnet diese Lehre seiner eigenen pyrrhoneischen Sicht folgend als dogmatisch ein113, eine Einordnung, die bezeichnenderweise bei ihm auch die Wahrscheinlichkeitslehre der skeptischen Akademie erfährt.114 Es springt ins Auge, dass eine solche Erkenntnislehre für Protagoras schon von dem Mythos gefordert war. Denn sowohl die der Athene geraubte „technische Klugheit“ als auch die Hermesgaben „Recht“ und „Scham“, die dem Menschen als Gattungswesen verliehen wurden, sind auf die Etablierung von objektiviertem Wissen gerichtet, das für alle Menschen verbindlich ist. Technik und Recht sind ohne als objektiv richtig anerkannte Regeln nicht denkbar. Auch das Geld, das wirtschaftliche Maß aller Dinge, stellt eine objektivierte, dem individuellen Meinen entzogene, den Gesetzen des Marktes unterliegende Regelung dar. Die Tendenz, Protagoras auf die These zu reduzieren, es gäbe nur eine subjektivistische und relative Wahrheit des je individuellen Standpunkts, ist daher bei ihm genauso falsch wie die entsprechende Tendenz gegenüber der akademischen Skepsis. Protagoras und seine Erneuerung durch die skeptische Akademie stimmen auch in der spezifisch anthropologischen Grundlegung des menschlichen, mit der Gründung der Poleis oder Civitates beginnenden Zivilisation und Kultur überein. Der Mensch ist eine Spezies unter anderen, aber herausgehoben, bei Protagoras durch die geraubte Technik, die Götterverehrung und die Hermesgaben „Recht“ und „Scham“, in der skeptischen Akademie in ganz paralleler Weise durch die Fähigkeit zur Neu- und Um113

Sext. Empiricus, Hypotyp. I 54 ff.: „Es sagt aber Protagoras auch, dass Begriffe aller Phänomene ihren Grund in der Stofflichkeit haben, da die Stofflichkeit das Vermögen hat, in Bezug auf sich selbst alles insoweit zu sein, als es allen erscheint. [. . .] Denn das, was sich nach der Natur verhält, das kann von den Dingen aus der Stofflichkeit als das, was es den sich nach der Natur Verhaltenden erscheint, erfasst werden. Alles nämlich, was den Menschen erscheint, ist auch der Fall, das aber, was den Menschen in keiner Weise erscheint, das ist nicht der Fall. Wir sehen also, dass er [. . .] hinsichtlich des Umstands, dass die Begriffe aller Phänomene ihren Grund in der Stofflichkeit haben, einen dogmatischen Standpunkt vertritt.“ 114 Vgl. Sextus Empiricus, Pyrrh. Hypotyp. I 230; Die geistige Mitte (oben Anm. 18) S. 61 Anm. 76.

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gestaltung der Welt, die in der Spezifikationslehre einen besonders hervorstechenden Ausdruck gefunden hat115, durch das der jeweils tradierten Gewohnheit überwiesene „göttliche Recht (ius divinum)“, das in den verschiedenen Formen der jeweiligen positiven „Religion der Bürgerschaft (civilis religio)“ der gemeinmenschlichen „natürlichen Religiosität (naturalis religio)“ dient, und schließlich durch das „menschliche Recht (ius humanum)“, das entsprechend dem protagoräischen Gegensatz von ordnendem Recht und ethisch verpflichtender Scham zwei Teile unterscheidet, einerseits die „Einrichtung des für alle gleichen Rechts“ (institutio aequitatis) oder „Bürgerliche Gleichheit (civilis aequitas)“, andererseits das sozialethische „natürliche Gleichheitsgefühl“ (naturalis aeqitas) und damit dem zur Rechtspflege berufenen Magistrat eine doppelte Aufgabe stellt, nämlich sowohl die formalen Rechtsstellungen zuweisende Ordnungen zu gewährleisten als auch ergänzend, unterstützend und korrigierend auf einem mitmenschlichen Handeln zu bestehen, das in der Erfüllung von Pflichten und dem Unterlassen von Schädigungen mit den Grundwerten des sozialen Gewissens des Menschen übereinstimmt.116 Sowohl Protagoras als auch das auf Karneades zurückgehende Denken vergleichen das menschliche Recht mit den bei sozialen Tieren geltenden Ordnungen, Protagoras, wie wir angenommen haben, mit der die menschliche Republik herausstreichenden Hühnerhofmonarchie, die skeptische Akademie mit der (möglicherweise auch bei dem Abderiten vorgeprägten) Lehre von den Instinkten des soziobiologischen ius naturale, z. B. Paarung, Zeugung, Nachkommensaufzucht, die der Mensch mit anderen höheren, gesellig lebenden Tieren gemeinsam hat. 115 Wer eine neue bewegliche Sache herstellte, erwarb an ihr Eigentum, auch wenn das Material fremd oder gar von ihm gestohlen war, weil der Gegenstand, etwa das aus Holz gefertigte Schiff, allein durch ihn auf der Welt war und daher von ihm als dem ersten Besitzer angeeignet wurde. Vgl. Okko Behrends, Die Spezifikationslehre, Savigny-Zeitschrift, Rom. Abt. 112 (1995) S. 195–238 und zuletzt aus der Sicht der vorklassischen Jurisprudenz, die der stoischen Naturrechtslehre folgend eine Spezifikation oder Verarbeitung ablehnte, ders, Das Kunstwerk in der Eigentumsordnung, Gedächtnisschrift für Jörn Eckert (2008) S. 65–100. 116 Vgl. die ausführliche Darstellung in den oben Anm. 18 genannten Abhandlungen. Da die skeptische Rechtstheorie die technisch „Institute (instituta)“ genannten, Rechte zuweisenden Strukturen als gedanklich formierte „unkörperliche Gegenstände (res incorporales)“ den körperlichen, der technischen Bearbeitung unterliegenden Gegenstände an die Seite stellt, könnte man in der Hervorbringung der Institute eine Fähigkeit wirken sehen, die der protagoräischen „technischen Vernunft“ verwandt ist. Da aber die Institute nicht in kreativer Erfindung geschaffen werden, sondern Rechtsverhältnisse erfassen, die sich in den Beziehungen zwischen den Menschen sowie unter allen körperlichen und unkörperlichen Gegenständen als beobachtbar vorhandene Strukturen tatsächlich sinnvoll feststellen lassen, dürfte eine solche Annäherung der Hermesgabe „Recht“ mit der belasteten, ja aufgrund eines Diebstahls erworbenen „technischen Vernunft“ in die Irre führen.

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Entscheidend ist erneut, dass auch in dieser protagoräisch-skeptischen Tradition Polis oder Civitas und das in ihr geltende Recht Geschöpfe von Kräften sind, die in die Verantwortung jedes einzelnen Menschen gelegt sind und sich im freien Zusammenleben in der Zivilisation weiter bewähren. Platons Idee einer von einer dämonisch-göttlichen Inspiration der Herrschenden abgeleiteten Legitimation ist fern. Es ist eine Konfrontation, die einen Gegensatz von polarer Grundsätzlichkeit erkennen lässt und durch ihre Genese Whiteheads Satz widerlegt, dass die Philosophiegeschichte sich am Ende als „eine Reihe von Fußnoten zu Platon“117 darstellt. In der Frage, ob das den Staat ausmachende Recht nach menschlichem Maß oder nach einem göttlichen Gerechtigkeitsprinzip zu bilden ist, war Platon Partei, nicht gültiger Grundtext. Man durfte ihm widersprechen. Denn wenn Platon feststellt: „Keine menschliche Natur reicht hin, das Menschliche zu verwalten“ und daher fordert, dass die Macht in die Hand von dem Göttlichen nahen Philosophenkönige gehört118, so entrinnt er nicht der Tatsache, dass es stets Menschen bleiben, die das Menschliche verwalten, und für Menschen nun einmal nach aller Erfahrung nicht unbegrenzte, gottgleiche Vollmachten, sondern die verantwortlichen Zuständigkeiten auf Zeit, wie sie in einer Republik vergeben werden, das Richtige sind. Cicero hat, als er in seinen Staatsschriften den Prinzipat vorbereitete, in einem Maß, das wir heute nicht mehr teilen können, den Platonischen Glauben an die höhere Legitimation des Ausnahmemenschen für seine Krisenzeit rezipiert, aber doch mit einem entschiedenen Vorbehalt zugunsten der Republik. Sein Platonismus blieb skeptisch gegründet. Diese Haltung erlaubte ihm, an der aus der römischen Geschichte kommenden, mehrfach neu interpretierten und dadurch immer wieder konsolidierten Überzeugung festzuhalten, dass für freie Menschen die Republik die richtige Lebensform ist und seine Verehrung für Platon in einem humanistischen oder kulturanthropologischen Idealismus zum Ausdruck zu bringen, der ihm überpositive, über das bereits gesicherte hinausführende Quellen des Denkens erschließt, die eigenes Urteilen und Handeln in offenen Räumen legitimiert, sich aber gleichwohl von Dogmatismus frei hält. Als die Akademie nach Philon von Larissa mit dessen Nachfolger Antiochos von Askalon unter eklektischen und konziliatorischen Vorzeichen eine Rückkehr zur dogmatischen alten Akademie erlebte, hat Cicero diese Wende in vollem Umfang zur Kenntnis genommen, nicht aber geteilt, sondern nur genutzt. Von seinem grundsätzlich skeptisch bleibenden, auf Selbstständigkeit des Urteils 117

Alfred North Whitehead, Process and Reality (1926) II 1,1 „The safest general characterization of the European philosophical tradition is that it consists of a series of footnotes to Plato“. 118 Vgl. oben Anm. 19 und 78.

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insistierenden Standpunkt119 aus vermochte er die orientierenden und ordnenden Leistungen der Rechtssysteme, die er als geltend erlebt hatte, des stoischen und des skeptischen, anzuerkennen, erhob aber zugleich den Anspruch, von einem höheren Standpunkt aus über sie urteilen zu können, als Staatsmann, als in Gerichtssachen tätiger Anwalt120 und als philosophisch interessiertes Individuum. Es ging ihm letztlich um den Rang des urteilenden und wertenden Bewusstseins, des animus, der sich durch die skeptischen, festen Grund gebenden Weltdeutungen gefördert fühlt, sich aber doch nicht in sie einschließen lassen will. Ciceros Antwort ist daher ein skeptisch grundiertes, von einem klaren Ignorabimus getragenes, aber den Anspruch als Möglichkeit nicht preisgebendes Offenhalten der Frage, ob das menschliche Bewusstsein kreative Quellen besitzt121, im eigenen Interesse, aber auch in dem seiner Mitbürger und Mitmenschen. Seine Berufung auf die platonische Seelenlehre tritt damit als eine überschwengliche Möglichkeit auf, die weder seine im Skeptizismus begründete Urteilsfreiheit beeinträchtigen122 noch in Zweifel stellen soll, dass die damit verbundene No119 Daher beanspruchte Cicero, insofern ganz Anhänger Philons (vgl. oben Anm. 39), Platon als Gründer der skeptischen Akademie. Vgl. Academici 12,46: „Diese Akademie nennen sie die Neue, die mir die Alte scheint, wenn wir doch Platon zu dieser Alten zählen, in dessen Schriften nicht behauptet und vieles nach beiden Seiten erörtert und über alle Gegenstände nichts Sicheres gesagt wird – gleichwohl wird jene, die du (sc. Varro) vorgestellt hast, die alte, diese Neue genannt. Sie wird bis zu Karneades geführt.“ Varro sah dagegen wie Antiochos, auf den er sich beruft, in der neuen Akademie, die in dieser Entgegensetzung von Kritolaos bis zu Philon reichte, ganz im Sinn des Treulosigkeitsvorwurfs (oben Anm. 92), eine „Abspaltung (discidium)“ und einen „Abfall (defectio)“ (I 12,43). 120 Dies wird vor allem durch Ciceros Topica bezeugt, die dem vor Gericht argumentierenden Redner die rechtlichen Argumentationsweisen beider Traditionen zur Verfügung stellt, mag die Schrift auch, da aus der Sicht der skeptischen Akademie geschrieben, der von „Unser Servius“ zum Erfolg geführten klassischen Tradition methodisch näher stehen als der vorklassischen seines alten Lehrers Q. Mucius pontifex, der genauso präsent ist, dem aber das „Unser“ vorenthalten bleibt (Topica 8, 36 f.; 9,38 f.). 121 Kennzeichnend ist, was in dem fiktiven Dialog, Cicero, Tusc. disp. I 11, 24 f., einer Art Gespräch der Seele mit sich selbst, Ciceros Ich auf die Aufforderung des Tu antwortet, doch die Schrift Platons über die Seele zu lesen. Er hatte gestanden, gerne daran glauben zu wollen, dass die Seele nach ihrem Tod zu ihrem wahren Wohnort zurückkehre: „Aber ich weiß nicht, wie es kommt. Wenn ich lese, stimme ich zu. Wenn ich aber das Buch hinlege, und mit mir selbst über die Unsterblichkeit der Seele nachzudenken beginne, dann entgleitet mir die ganze Zustimmung“. Später verdeutlicht sich der Dialog zu einem Lehrer-Schüler-Gespräch. Vgl. Philippson (1939) RE. s. v. M. Tullius Cicero (Philosophische Schriften) Sp. 1142. 122 Ciceros Ankündigung (Tusc. disp. V 12,36): „Aus Platon, dieser gewissermaßen heiligen und erhabenen Quelle wird unsere gesamte Rede fließen“ folgt mit geringem Abstand die Feststellung (ebenda V 11,33): „Was immer unsere Seele mit Wahrscheinlichkeit trifft, sprechen wir aus; allein so sind wir frei“. Das, wofür Ci-

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bilitierung der menschlichen Person jedem Bürger zugute kommen kann.123 Wo diese Haltung verstanden wurde, bei Augustus, den besseren Kaisern und bei den von ihnen autorisierten Juristen, sehen wir die gleiche Verbindung: einerseits Respekt vor den durch die tradierten Rechtsquellenlehren gegründeten, in verlässlichen Formen festgestellten, republikanischen Rechtssystemen, andererseits eine behutsam in Anspruch genommene Befugnis, für ihre Fortbildung einzutreten, wenn ein als überlegen empfundenes Gerechtigkeitsurteil dies fordert. Die fortdauernde Gründung dieser Haltung im Skeptizismus zeigte sich in dem Bewusstsein, dass eine jede solche freie Gerechtigkeitsargumentation hoch gefährlich, weil in besonderem Maße irrtumsanfällig, ist. Daher hat der gleiche Jurist, der, diese Entwicklung pointiert resümierend, das Recht als Kunst der Gerechtigkeit definierte, mit Leidenschaft auf die verderblichen Folgen hingewiesen, die eine unbedachte Nutzung dieser Interpretationshoheit bedeutet. Das hieß zugleich: Dem gesicherten, in den Verhältnissen etablierten Rechtswissen gebührt der Vorrang.124 Und obwohl der spätantike Dominat, der durch Grundhörigkeit des Kolonats, Erblichkeit zahlreicher Berufe und andere Zwangsregeln die cero eintritt, ist eine nicht naturalistische Anthropologie (Tusc. disp. V 13,38): „Die menschliche Seele (animus) ist aus göttlichem Geist (ex mente divina) genommen und kann mit niemandem als mit Gott verglichen werden, wenn das ohne Frevel zu sagen erlaubt ist.“ 123 Cicero will in der ihm aufgezwungenen politischen Untätigkeit auch und gerade für seine Mitbürger schreiben (Tusc. Disp. I, 3,5): „So wie wir unseren Mitbürgern ein wenig genützt haben, als wir beansprucht waren, so wollen wir ihnen nach Kräften in der Muße dienen.“ Und die Rechtsgleichheit war ihm der Kern jeder Republik, gerade weil man die Verschiedenheit der Vermögen nicht ändern wolle und die der Begabungen nicht ändern könne. Cicero, de re publica III 32, 49: „Wie kann die Gesellschaft der Bürger durch das Recht erhalten werden, wenn die Rechtslage der Bürger nicht gleich ist? Wenn anerkanntermaßen die Vermögen nicht angeglichen werden sollen, die Begabungen nicht gleich sein können, müssen gewiß die Rechte gleich sein.“ 124 „Denn, wie Celsus treffend definiert, ist das Recht die Kunst des Guten und Gerechten (ius est ars boni et aequi)“ zitiert der severische Jurist Ulpian (1 institutionum D 1,1,1 pr), um zu begründen, dass „der Begriff des Rechts (nomen iuris)“ von der „Gerechtigkeit (iustitia)“ benannt sei. Ulpians Zeitgenosse Paulus (17 ad Plautium D 45,1,91,3) zitiert Celsus demgegenüber zu einer der in einem solchen Recht stets stellbaren „Frage des Guten und Rechten“ mit der generellen Stellungnahme: „in dieser Kategorie wird oft unter der Autorität des Rechts [. . .] auf das Schädlichste geirrt“. Der Grund dieses Widerspruchs zwischen Bekenntnis und Bedenken verweist auf einen unauflösbaren Konflikt. Denn das, was sein Zeitgenosse und Kollege in der Leitung der prokulianischen Rechtsschule sagt, galt auch für ihn: „das Recht kann und soll fest bestimmt sein“ (Neratius 5 membranarum D 22,6,2. Wird aber das Recht unter eine naturrechtliche Zielsetzung gestellt (vgl. Paulus 14 ad Sabinum D 1,1,11: „das, was immer gerecht und gut ist [. . .], ist Naturrecht“), wird ihm angesichts der prinzipiellen Offenheit des Gerechtigkeitsbegriff die Berechenbarkeit grundsätzlich genommen.

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Gesellschaft immer stärker den Zwecken des um seine Erhaltung bemühten Staates unterwarf und sich mit seiner sich im Neuplatonismus äußernden, vorbehaltlosen Platonverehrung von Ciceros differenzierter, im Recht die Freiheit der Menschen verteidigender Haltung denkbar weit entfernte, war das Prestige der auf dieser Grundlage erarbeiteten Juristenschriften des Prinzipats so groß, dass sie als dessen Kernbestand in Justinians Kodifikation aufgenommen wurden und dadurch instand gesetzt wurden, mit Folgen, die bis auf den heutigen Tag die moderne Rechtskultur und den eingangs zitierten verborgenen, aber wirkungsmächtigen Republikanismus der Historischen Rechtsschule prägen.

III. Geschichte

Platon als Reformer des Strafrechts Zu den Strafgesetzen in den Nomoi Von Klaus Schöpsdau Das Thema der folgenden Darlegungen bedarf einiger einschränkender Präzisierungen: (1) Das im Thema genannte Strafrecht ist praktisch identisch mit dem attischen Strafrecht, das dem Athener Platon wohlvertraut war. Es ist zugleich für den Rechtshistoriker das einzige Recht der klassischen Zeit, das aus direkten und indirekten Quellen (d.h. aus Inschriften bzw. Zitaten vor allem bei den Rednern) so weit rekonstruierbar ist, dass überhaupt ein Vergleich mit Platon möglich ist.1 (2) Wenn im Folgenden Platon als Strafrechtsreformer vorgestellt werden soll, soll damit nicht gesagt sein, dass es Platons primäres Ziel gewesen wäre, das Rechtswesen Athens zu reformieren, sondern es soll gezeigt werden, in welchen Punkten Platon von seiner eigenen Theorie her zur Kritik an der attischen Praxis gelangt und was sich an dieser Praxis ändern müsste, damit ein Strafrecht entstünde, das den platonischen Maßstäben genügt.2 (3) Platons Reformkonzept blieb ein bloßer Entwurf. Eine konkrete Auswirkung auf das positive attische Recht lässt sich nicht nachweisen. I. Die Gesetzesproömien Ohne Nachwirkung im positiven Recht blieb auch die bedeutendste gesetzestechnische Neuerung Platons, deren eigentliches Anwendungsgebiet gerade das Strafrecht ist, nämlich die Vorschaltung einer Vorrede (‚Präambel‘, gr. prooímion) vor das eigentliche Gesetz. Vorrede und Gesetz ergeben zusammen die für die Nomoi typische Form des „zweifachen (d.i. zweiteiligen) Gesetzes“ (vgl. 721d8, 722e5). 1 Als Vergleichsgröße kommt sonst nur noch das Stadtrecht von Gortyn aus dem 5. Jh. in Betracht, das aber das Strafrecht nur anhangsweise berücksichtigt (Kohler/ Ziebarth, S. 43). 2 Ungeachtet der Kritik bleibt Platon aber in vielen Punkten dem attischen System verpflichtet (Einzelnachweise bei Chase).

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Die sachliche Notwendigkeit dieser formalen Neuerung begründet Platon mit folgenden Überlegungen (vgl. 718a–723e). Um die Bürger zur Tugend hinzuführen, stehen dem Gesetzgeber zwei Mittel zur Verfügung: Zwang und Überredung. Instrument des Zwangs ist das Gesetz, das gesetzeskonformes Verhalten durch Androhung von Strafe zu erzwingen sucht. Ein solcher Zwang ist aber kaum vereinbar mit der Herrschaft des wahren Gesetzes, die auf freiwilligem Gehorsam beruht (690c). Daher gilt es die Bürger so zu beeinflussen, dass sie dem Gesetz freiwillig folgen und daher die Strafandrohung des Gesetzes nicht angewendet werden muss. Der literarische Ort dieser Beeinflussung ist das Gesetzesproömium. Je nach den hierbei angewandten Überredungsmitteln lassen sich drei Proömientypen unterscheiden: 1. Das durch rationale Argumentation überzeugende Proömium. Diesen Typ vertreten lediglich die explizit (887c1, 907d1) als Proömium bezeichneten Beweise zur Widerlegung der drei Formen des Atheismus (891b–903b, 905d–907b) sowie der sog. Strafrechtsexkurs im 9. Buch (857b–864c), der die platonische Strafkonzeption entwickelt.3 2. Das mittels Lob und Tadel auf die Bürger einwirkende Proömium. Dieser Pröomientyp, in welchem unerwünschte Verhaltensweisen als unschön getadelt und sozial geächtet werden (vgl. 823a–c; ferner 728a5–7, 730b5, 732e7), wird da eingesetzt, wo strafende Gesetze unangemessen sind, z. B. bei dem Gesetz über die Jagd (823c). 3. Das auf göttliche Sanktionen verweisende Proömium. Es wird vor allem im Strafrecht in warnender Funktion angewendet. Als Beispiel diene das Proömium zum vorsätzlichen Mord.4 Nachdem der das Gespräch leitende Athener die Gier nach Reichtum als Hauptursache dieses Verbrechens angeprangert hat, fährt er fort (870d4–871a1): „Für all diese Fälle mag dies nun als Vorrede gesagt sein und dazu noch die Lehre, die auch viele aus dem Munde derer zu hören bekommen, die sich in den Mysterien mit solchen Dingen befasst haben, und von der sie fest überzeugt sind: dass nämlich die Vergeltung für derartige Taten im Ha3

Seine Proömienfunktion ergibt sich schon daraus, dass die Unterbrechung der Strafgesetzgebung durch den Exkurs mit demselben Ärztevergleich gerechtfertigt wird (857c), der 720a–e die Einführung von Proömien begründet hatte. Als Adressaten des Strafrechtsexkurses kommen sowohl die Bürger Magnesias als die Recht sprechenden Beamten in Betracht. 4 Hierher gehören die Warnungen vor Freveln gegen Fremde (729e–730a), Inzest (838b), vorsätzlichem Mord (870d), Misshandlung Älterer und der Eltern (879b–c, 880e–881a), Aneignung fremden Eigentums (913c), Unrecht gegen Waisenkinder (927b), Vernachlässigung der alten Eltern (931c). Das längste Proömium dieser Art ist der eschatologische Mythos vom Schicksal der Seele im Jenseits (903b–905c).

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des stattfindet und dass sie, wenn sie wieder hierher zurückkehren, zwangsläufig die naturgemäße Strafe erleiden müssen, die darin besteht, dass jemand selber erleidet, was er getan hat, und von der Hand eines anderen durch ein ähnliches Schicksal sein neues Leben endet. Wer sich davon überzeugen lässt und schon aufgrund der bloßen Vorrede eine solche Strafe von ganzem Herzen fürchtet, für den brauchen wir das darauf folgende Gesetz nicht anzustimmen; für den Ungehorsamen jedoch sei folgendes Gesetz in schriftlicher Form verkündet.“ Derartige Proömien, die jedem größeren Gesetz in den Nomoi vorangehen, hat, wie der Athener behauptet (722e), noch kein Gesetzgeber bisher hervorgebracht. In der Tat lassen sich vor Platon keine griechischen Gesetze mit generellen oder speziellen Proömien nachweisen;5 denn die bei Diodor 12,20,1–3 und Stobaios 4,2,19 und 24 (IV 123,12 ff. und 149,14 ff. W.-H.) überlieferten Proömien der vorplatonischen Gesetzgeber Charondas und Zaleukos, die Cicero (De leg. 2,14) als Vorbilder Platons nennt, sind sicher nachplatonische Fälschungen.6 Platons Neuerung blieb jedoch ohne Einfluss auf die positive Gesetzgebung und fand nur bei den Philosophen ein – allerdings geteiltes – Echo: Poseidonios etwa lehnte die Proömien ab, da ein Gesetz kurz sein müsse (Seneca, Ep. 94,37–38); Cicero (a. a. O.) und Seneca (a. a. O.) befürworten sie; Cicero folgt sogar dem platonischen Vorbild, indem er in De legibus seinem Sakralrecht und den Magistratsgesetzen je ein Proömium als laus legis voranstellt (De leg. 2,15–16; 3,1–5).7

5 Vgl. Ries, S. 80–103. Von anderer Art sind die der Selbstdarstellung dienenden Prologe, die Hammurabi und andere babylonische Herrscher ihren Rechtssammlungen vorausschicken; dazu Ries, S. 5–74. 6 Sie verwenden weitgehend platonisches Gut, das sie aber in pythagoreischem Sinne umformen: vgl. Kölble, S. 39 ff.; Morrow, S. 555–556; Thesleff (1961), S. 111 und (1972), S. 68. 85. 94 f.; Speyer, S. 137; Ries, S. 83 ff. 117–118; Link, S. 11 f.; Hölkeskamp S. 59. Für die Echtheit treten ein Pfister, S. 176 ff. und Düll, S. 320–322. Delatte, S. 177 ff. glaubt, dass in den überlieferten Proömien ein älterer echter Kern stecke. 7 Direkter Einfluss Platons liegt nur in diesen ciceronischen Proömien vor. Die Proömien der sog. Numabücher gehen eher auf die ps.-pythagoreischen Proömien des Zaleukos und Charondas als auf Platon zurück (Kölble, S. 75 ff.). Die Proömien der Konstitutionen der späten Kaiserzeit und in juristischen Sammelwerken wenden zwar erstmals die von Platon inaugurierte Form des ‚doppelten Gesetzes‘ in der Praxis an, doch enthalten sie kein Indiz dafür, dass sich die Verfasser des platonischen Vorbildes bewusst gewesen wären (vgl. Kölble 96 ff. und 107 ff.); die kaiserlichen Konstitutionen sprechen von der Weisheit und der Fürsorge des Kaisers, die juristischen Einleitungen geben allgemeine Leitsätze zu den folgenden Paragraphen und wenden sich an die Juristen als Gesetzesausleger.

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II. Platons Strafkonzeption Im Folgenden soll zunächst Platons Strafkonzeption vorgestellt und dann deren Auswirkung auf die Strafgesetzgebung aufgezeigt werden, wobei jeweils auch die Unterschiede zum attischen Recht zur Sprache kommen sollen. 1. Die Scheidung zwischen Schaden (blábe) – Ungerechtigkeit (adikía) Eine Grundfrage jeder Straftheorie ist die nach dem Zweck der Strafe.8 Platon gibt seine Antwort im Strafrechtsexkurs (860c–864b)9 sowie einem Passus im 11. Buch (933e–934b). Platon lehnt die von allen Gesetzgebern gemachte Unterscheidung zwischen unfreiwilligen und freiwilligen Unrechtstaten (adikémata) ausdrücklich ab (861b) und unterscheidet statt dessen zwischen dem durch die Straftat angerichteten Schaden (blábe) und der Ungerechtigkeit (adikía), worunter er die zur Tat führende seelische Verfassung des Täters versteht. Der Schaden ist gleichsam die ‚Außenseite‘ oder das objektive Moment und die Ungerechtigkeit die ‚Innenseite‘ oder das subjektive Moment der Tat. Letzteres ist für deren Beurteilung ausschlaggebend. Eine in ungerechter Absicht ausgeführte Tat ist immer ungerecht, auch wenn sie einen andern gar nicht schädigt oder ihm sogar nützt. Umgekehrt ist die ungewollte Zufügung eines Schadens nicht als Ungerechtigkeit (auch nicht als unfreiwillige), sondern lediglich als eine (unbeabsichtigte) Schädigung zu werten (862a–b). Gemäß dieser Scheidung zwischen (äußerem) Schaden und (innerer) Ungerechtigkeit zieht eine Straftat zwei Arten von Rechtsfolgen nach sich: In jedem Falle erforderlich ist eine Wiedergutmachung des Schadens. Als ‚zivilrechtliche‘ Maßnahme soll sie das Opfer mit dem Urheber der Schädigung versöhnen und zwischen beiden wieder Freundschaft stiften (862b–c). Sie besteht in der Regel in einer Geldzahlung an das Opfer. Die in der Straftat sich manifestierende Ungerechtigkeit des Täters verlangt dagegen nach Maßnahmen, die ihn im Sinne der Spezialprävention dazu bringen, dass er das Gerechte liebt und daher seine Tat nie mehr wie8

Grundlegend hierzu Mackenzie, Saunders (1991) und Stalley. Einzelne Strafbestimmungen begegnen zwar in jedem der Bücher IV–XII; ausschließlich dem Strafrecht gewidmet sind jedoch die Bücher IX und X, die die großen Verbrechen gegen die Stadt, gegen die Seele und den Körper der Bürger und gegen die Götter behandeln. Das rechtsphilosophische Fundament für all diese Strafsanktionen liefert der sog. Strafrechtsexkurs in Buch IX. Zu diesem vgl. meine detaillierte Analyse (Schöpsdau, 1984). 9

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derholt. Als Mittel hierzu nennt Platon Belehrung oder Zwang (862d). Belehrung ist die Funktion der Gesetzesproömien und überhaupt aller erzieherischen Maßnahmen, die, sofern sie sich an alle Bürger wenden, der positiven Generalprävention dienen. Das Mittel des Zwangs ist natürlich die vom Gesetz angedrohte Strafe. Schadensersatz und Strafe unterscheiden sich aber nicht nur durch den Bezug auf das Äußere bzw. Innere der Tat, sondern auch durch ihre zeitliche Blickrichtung. Die Strafe, die den Täter zur Vernunft bringen soll, wird nicht wegen seiner Tat verhängt, heißt es 933e–934c, da man ja Geschehenes nicht mehr ungeschehen machen kann, sondern damit in Zukunft der Täter selbst und die Augenzeugen seiner Bestrafung die Ungerechtigkeit entweder gänzlich verabscheuen oder doch zu einem großen Teil von ihr loskommen. Einen ähnlichen Gedanken hatte der Sophist Protagoras im gleichnamigen platonischen Dialog geäußert (Prot. 324a–b): „Niemand bestraft jemanden, der Unrecht tut, deshalb, weil er Unrecht getan hat, außer wer sich wie ein Tier auf unvernünftige Weise rächen will. Wer aber jemanden mit Verstand bestraft, der bestraft ihn nicht wegen des vergangenen Unrechts – denn Geschehenes kann er nicht ungeschehen machen –, sondern wegen des künftigen Unrechts, damit weder er selbst neues Unrecht begeht noch ein anderer, der ihn bestraft sieht.“10 Platon löst also den Strafzweck ausdrücklich von der begangenen Tat. Strafe ist eine präventive und keine reaktive Maßnahme wie die Rache oder die Vergeltung. Die angemessene Reaktion auf die Tat ist gerade nicht die Strafe, sondern die Wiedergutmachung des Schadens. Die Strafe dagegen ist ein zukunftsorientierter Rechtsakt. Sie zielt im Sinne der sog. tertiären Prävention auf Rückfallverhütung, und zwar nicht durch bloße Abschreckung, sondern vor allem durch Besserung des Täters, die darin besteht, dass er von seiner seelischen Disposition zum Unrechttun loskommt und die Gerechtigkeit lieb gewinnt (862d, 934a–b). Die von der Strafe zu bewirkende Besserung des Täters deutet Platon als Heilung. Denn Ungerechtigkeit ist eine seelische Krankheit (862c8).11 Deren Heilung setzt natürlich ihre Heilbarkeit voraus (957e3–4). Erweist sie 10

Saunders (1981) und (1991), S. 133–136 schreibt diese Argumentation dem historischen Sophisten zu; ebenso Schiappa, S. 183. Manuwald, S. 182 rechnet daneben mit der Möglichkeit, dass Protagoras eine zeitgenössische Straftheorie verwendet. 11 Diese Wertung des Seelenzustands des Täters als Krankheit wird bereits im Protagoras angedeutet (Prot. 325a7–b1). Zur Besserung vgl. auch Gorg. 525b: Wer in der rechten Weise bestraft wird, wird entweder selber besser und hat insofern einen Nutzen von der Strafe, oder er nutzt andern, indem er durch das Exempel seiner

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sich als unheilbar, soll der Täter mit dem Tod bestraft werden. Hierfür gibt der Athener in 862e eine mehrfache Begründung: einerseits ist es für den Unheilbaren nicht besser, am Leben zu bleiben,12 andererseits nützt seine Hinrichtung der Stadt in zweifacher Weise: sie hat (im Sinne der Generalprävention) eine abschreckende Wirkung auf andere (vgl. 854e7 f.) und befreit die Stadt von einem schlechten Menschen. Platons Unterscheidung zwischen Schaden und Ungerechtigkeit ist auch dem attischen Recht nicht fremd, auch wenn sie hier nicht immer so deutlich auftritt. So legt das Gesetz Athens fest, dass eine vorsätzliche Schädigung den doppelten Schadensersatz, eine unfreiwillige Schädigung aber nur den einfachen Schadensersatz nach sich zieht (Demosthenes 21,43). Die Verdopplung der Strafsumme trägt offensichtlich dem subjektiven Moment an der Straftat Rechnung, das Platon als Ungerechtigkeit bezeichnet und der Seele des Täters zurechnet. Von Bedeutung ist aber, dass Platon im Straffrechtsexkurs das Kriterium der Freiwilligkeit bzw. Unfreiwilligkeit meidet und nur auf die moralische Gesinnung abstellt. Entsprechend heißt es beispielsweise in dem Gesetz über das Beackern des Nachbargrundstücks: „Wer (. . .) den Boden des Nachbarn bearbeitet, indem er seine Grenzen überschreitet, der soll den Schaden ersetzen; und um von seiner Unverschämtheit und Niederträchtigkeit geheilt zu werden [also nicht: wegen Vorsätzlichkeit!] soll er daneben noch den doppelten Betrag des Schadens an den Geschädigten zahlen“ (843c6 ff.). 2. Der Unterschied zwischen Unrechtstaten (adikémata) und Verfehlungen (hamartémata) Eine weitere juristische Distinktion Platons ist die zwischen hamartémata (also Verfehlungen im allgemeinsten Sinn) und adikémata (wörtl.: Unrechtstaten), mit der er sich ausdrücklich von den Gesetzgebern distanziert, die alle Verfehlungen als Unrechtstaten (adikémata) bezeichnen (861b). Kriterium für Platons Unterscheidung zwischen hamártema und adíkema ist die jeweilige seelische Ursache der Handlung (863b–864b). Als solche nennt der Athener drei Antriebe: (1) den Zorn, (2) die Lust und überhaupt die Begierden und (3) die Unwissenheit oder Unkenntnis (ágnoia). Die ersten beiden Antriebe sind beherrschbar, die Unwissenheit dagegen nicht (863d10–11). Die Ungerechtigkeit (adikía) definiert nun der Athener als die Herrschaft von Zorn und Lust über die Seele. Eine Unrechtstat (adíkema) Strafe zu ihrer Besserung beiträgt (ferner 472d–480b, 507c–508b; Rep. 380a–b, 409e–410a, 591a–b). 12 Weil er nämlich durch weitere Verbrechen seiner Seele noch größeren Schaden zufügen würde und nach dem Tod dafür noch schwerere Strafen erleiden müsste.

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und damit ein schuldhaftes Verhalten liegt folglich nur in diesen beiden Fällen vor. Eine durch Unwissenheit verursachte Handlung ist dagegen lediglich eine Fehlhandlung (hamártema); zumindest gilt dies für die „einfache“, d.h. nicht mit der Einbildung von Wissen verbundene Unwissenheit (die sich teilweise mit dem modernen „Tatbestandsirrtum“ und der Fahrlässigkeit vergleichen lässt).13 Bestätigt wird dies dadurch, dass der Athener (= Platon) dann, wenn er seine eigene Auffassung und nicht die der Masse oder der übrigen Gesetzgeber vorträgt, die Gesamtheit der durch Zorn, Lust oder Unwissenheit veranlassten Handlungen als hamartémata zusammenfaßt, während er umgekehrt unter den Ursachen der Ungerechtigkeit (adikía) niemals die Unwissenheit nennt; hamartémata ist also der weitere und neutrale Begriff gegenüber dem schuldhaften adíkema.14 3. Die Vereinbarkeit mit dem Sokratischen Paradox Die Bestrafung schuldhafter Unrechtstaten scheint nun aber unvereinbar mit der These des Sokrates, dass jedermann nur unfreiwillig Unrecht tut. Da diese These in den Nomoi von Platon ausdrücklich noch einmal bekräftigt wird,15 stellt sich die Frage, inwiefern ein Gesetzgeber (wie dies auch Platon selbst tut) zwischen unfreiwilligen und freiwilligen Vergehen unterscheiden und letztere mit schwereren Strafen belegen kann, ohne mit der sokratischen These in Widerspruch zu geraten (860d–861a). Die Lösung, die Platon mehr implizit als explizit gibt, ist folgende:16 Die durch die drei Ursachen ausgelösten Verfehlungen sind gemäß der sokratischen These allesamt ungewollt insofern, als sie dem wahren Wollen 13 Beispiele aus der Dichtung für die Entschuldigung einer Verfehlung mit Unwissenheit oder Unkenntnis gibt Dover, S. 155. Geradezu juristisch argumentiert der „Sophist“ bei Xenophon, Kyr. 3,1,38, der den Tigranes bittet, seinem Vater nicht zu zürnen, weil er ihn (den Sophisten) töten lassen will; „denn er tut dies nicht aus boshafter Gesinnung (kakónoia), sondern aus Unwissenheit (ágnoia); alles aber, was die Menschen aus Unwissenheit an Fehlern begehen (agnoíai examartánousi), betrachte ich als unfreiwillig (akou´sia)“. 14 Vgl. die entlastende Verwendung des Terminus hamártema gegenüber den Bezeichnungen asébema bei Antiphon 5,91 oder adikeîn bei Thukydides 1,69,6. Dass freilich auch eindeutige Verbrechen als hamartémata bezeichnet werden konnten, zeigen die Belege bei Dover, S. 152–153. Da sich Platon jedoch weigert, den Terminus adikía auf Handlungen anzuwenden, die keine Ungerechtigkeit darstellen (862a), ist zu erwarten, dass er Unrecht, wenn er es als solches kennzeichnen will, immer mit dem Terminus adikía bzw. adíkema und nicht mit einem anderen Terminus bezeichnet. 15 Vgl. Nom. 860d und 734b. 16 Vgl. dazu Schöpsdau (1984), S. 130–132, sowie die Untersuchungen von Roberts, Winkel, Saunders (1991), S. 139 ff., Rotondaro, Lee, S. 135 ff., Weiss und Horn.

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des Täters zuwiderlaufen (863e2–3). Denn jedermann will das für ihn Gute und wird daher niemals das größte Übel, die Ungerechtigkeit, freiwillig in seine Seele aufnehmen und sein ganzes Leben mit diesem Besitz zubringen wollen (731c). Beurteilt man die Delikte aber nach der Möglichkeit der Beherrschung der Antriebskräfte (dies ist der strafrechtlich relevante Gesichtspunkt), dann treten sie auseinander in die durch Zorn und Lust verursachten Verfehlungen, für die wegen der Beherrschbarkeit dieser Antriebskräfte der Täter strafrechtlich voll verantwortlich ist, und in die aus Unwissenheit resultierenden Verfehlungen, bei denen eine solche Beherrschung nicht möglich ist. Beschränkt man, wie dies Platon tut, die Bezeichnung adikémata auf die im Zustand der Ungerechtigkeit verübten Taten, dann müssen strafrechtlich alle adikémata wegen der Beherrschbarkeit der Antriebskräfte als freiwillig gelten. So wird z. B. das schlimmste Delikt, nämlich vorsätzlicher Mord, dessen Auslöser die Überwältigung durch Lüste und Begierden und Neidgefühle ist, dennoch (oder gerade deshalb) ausdrücklich als „freiwillige und in voller Ungerechtigkeit“ begangene Tat bezeichnet (869e). Die sokratische These bleibt aber unverändert gültig, dass alle Unrechtstaten letztlich ungewollt sind. Kriterium für die Bestrafung der Täter ist daher nicht so sehr die strafrechtliche Freiwilligkeit ihrer Tat, als vielmehr die in dieser sich manifestierende Ungerechtigkeit, die wie eine Krankheit ungewollt ist und von der der Täter (sofern noch heilbar) geheilt werden muss. 4. Das Verhältnis zum attischen Strafrecht hinsichtlich des Strafzwecks Ein Vergleich der platonischen Strafkonzeption mit der attischen ist nicht ohne weiteres möglich. Denn mangels entsprechender Primärquellen lässt sich nicht eindeutig feststellen, ob das attische Recht der Strafe einen bestimmten Zweck zuwies und wenn ja, welchen.17 Es ist aber immerhin möglich, Platons Konzeption mit den bei den attischen Rednern belegten Äußerungen zum Strafzweck zu vergleichen, wobei natürlich zu berücksichtigen ist, dass diese Äußerungen vielfach parteitaktisch bedingt sind. Dabei zeigt sich, dass bei den Rednern nur selten von Besserung die Rede ist und wenn, dann oft in dem Sinne, dass alle früheren Besserungsversuche bei dem Angeklagten nichts gefruchtet haben; es dominiert eine retributive, d.h. auf Vergeltung und Rache zielende und somit vergangenheitsorientierte Zielsetzung, neben der aber auch der Gedanke der Abschreckung vertreten wird.18 Hinzu tritt oft eine religiöse Argumentation, die die Hinrichtung 17 Todd (1993), S. 13 bezweifelt, dass das attische Recht überhaupt juristische Prinzipien formuliert hat.

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oder Verbannung eines Mörders fordert, um durch seine Beseitigung die Stadt von der mit dem Blutvergießen verbundenen Befleckung zu befreien. Dieser Gedanke einer zu beseitigenden Befleckung spielt in Platons theoretischen Äußerungen über den Zweck der Strafe keine Rolle; wohl aber begegnet er als ein Element traditioneller Religion in allen Strafgesetzen Platons, die ein schweres Delikt betreffen. III. Die Auswirkungen auf die Strafgesetzgebung in den Nomoi Die aufgezeigte Strafkonzeption bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die konkrete Gestaltung des materiellen und formellen Strafrechts in den Nomoi. Allerdings hat Platon seine Theorie nicht bei allen Gesetzen mit letzter Konsequenz in die Praxis umgesetzt. Am deutlichsten kommen ihre Prinzipien bei den Kapitalverbrechen zur Geltung, an denen er seine Theorie geradezu modellhaft vorführt, während er es in andern Fällen dem zuständigen Richter überlässt, seine Konzeption bei der Rechtsprechung zu berücksichtigen (vgl. 875e ff., 934b–c). 1. Konsequenzen für das materielle Strafrecht (Klassifizierung und Bestrafung der Delikte) a) Die Analyse der seelischen Ursachen der Vergehen im Strafrechtsexkurs lässt eine Klassifizierung aller Straftaten nach eben diesen Ursachen erwarten. Diese Erwartung wird jedoch enttäuscht. Das einzige Delikt, das nach seiner Ursache klassifiziert wird, ist die Tötung und Körperverletzung im Zorn, bei der es sich um eine von Platon selbst neu geschaffene Kategorie handelt (Näheres dazu unten). Ansonsten verwendet Platon bei den Tötungsdelikten die im attischen Recht üblichen Kategorien der ungewollten und der gewollten (vorsätzlichen) Tötung. Der vorsätzlichen Tötung werden alle übrigen irrationalen Regungen als Motive zugeordnet, so die Lust, die Begierden und Neidgefühle (869e), Geldgier, Ehrgeiz und Furcht vor Aufdeckung einer Straftat (870a–d).19 Weit weniger eindeutig tritt die Unwissenheit (ágnoia) in den Strafgesetzen zutage. Fasst man sie als einen Defekt des Verstandes, so berührt sie sich mit der in 864c–e als strafmildernd bewerteten infantilen oder senilen 18

Vgl. die Übersicht über die bei den Rednern belegten Strafziele bei Saunders (1991), S. 120 ff. 19 Dieselben Motive stehen wohl auch hinter den vorsätzlichen Körperverletzungen, die wie im attischen Recht als versuchte Tötung behandelt werden (876e–878b).

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oder sonstigen Unzurechnungsfähigkeit.20 Ferner kann sie als kausal für diejenigen Tötungen angesehen werden, die bei pflichtgemäßem Handeln ungewollt durch Fahrlässigkeit unterlaufen, etwa wenn ein Patient unter der Behandlung eines Arztes stirbt21 oder wenn ein Bürger bei den gesetzlich vorgeschriebenen Manövern oder im Krieg ungewollt einen Mitbürger tötet oder verwundet (865a–b; vgl. 831a); im letzten Fall kann eine Verwechslung mit einem Feind Ursache sein, die das attische Recht als strafbefreiende ‚Unwissenheit‘ wertet.22 Ausdrücklich als Ursache genannt wird die Unwissenheit aber nur beim Atheismus (886b7), den Platon auf die Unwissenheit (amathía) der materialistischen Naturphilosophen zurückführt, die aber als höchste Weisheit gilt; hier liegt also die Form der doppelten, weil sich weise dünkenden Unwissenheit vor.23 b) Sodann wäre zu erwarten, dass alle Strafgesetze dem Zweck der Besserung Rechnung tragen. Aber die Besserung wird nur bei wenigen Delikten ausdrücklich als Strafzweck genannt. Denn Besserung ist offensichtlich ausgeschlossen in den erschreckend vielen Fällen, in denen Platon die Todesstrafe vorsieht, die die Unheilbarkeit des Täters voraussetzt.24 Ferner ist eine Besserung nicht nötig, wenn gar keine Ungerechtigkeit vorliegt, die 20

Vgl. den Hinweis auf die Vergehen von Kindern und Greisen 863d1–2. Dieser Fall kommt der Formulierung des Strafrechtsexkurses am nächsten, dass eine im „Streben der wahren Meinung nach dem Besten“ (864b7) vollzogene Handlung gerecht ist, auch wenn der Handelnde einmal einen Fehler begeht (kºn sðÜllhtaû ti 864a4). 22 Vgl. agnoésas bei Aristot. Ath. pol. 57,3, Demosth. Or. 23,55. Vgl. auch Nom. 902a7, wo im Falle einer (hypothetisch angenommenen) Vernachlässigung der Menschen durch die Götter den Göttern entlastend Nichtkenntnis (ágnoia) ihrer Pflichten unterstellt wird. 23 Überhaupt ist einfache Unkenntnis (ágnoia) beim Atheisten auszuschließen. Denn er hat nicht nur als Kind die religiöse Praxis seiner Eltern und der Stadt (887c–888a) miterlebt, sondern ist auch als Bürger Magnesias vom Gesetzgeber ausführlich über die Existenz, Fürsorge und Unbestechlichkeit der Götter belehrt worden. Die gefährlichsten Atheisten sind die, bei denen zur falschen Ansicht über die Götter noch die Überwältigung durch Lust und Begierden hinzu kommt (908c; vgl. 886a9) und die andere zu verführen suchen (908d–e). 24 Die Todesstrafe wird verhängt bei Tempelraub, Hochverrat, Umsturz, vorsätzlichem Mord, aber auch gegen Bürger, die trotz Zeugnisunfähigkeit vor Gericht auftreten (937c) oder aus Geldgier prozessieren (938c), gegen einen Beobachter, der aus dem Ausland sittlich verdorben zurückkehrt und sich in Fragen der Gesetzgebung einmischt (952c–d), bei Beherbergung eines Verbannten (955b), eigenmächtigem Friedensabschluss oder Kriegführung (955c), der Annahme von Bestechungsgeldern (955d) oder Widerstand gegen die Urteilsvollstreckung (958c) vgl. die Übersicht bei Knoch, S. 149–151. Bei diesen Delikten wurde die Maximalstrafe offenbar primär zur Abschreckung gewählt, weil diese Vergehen die politische Autorität des Staates und seine moralischen Grundlagen unterminieren; das Kriterium der Heilbarkeit des Täters tritt demgegenüber in den Hintergrund. 21

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geheilt werden müsste, so bei der unvorsätzlichen Tötung25 oder Körperverletzung26. Ausdrücklich genannt ist die Besserung nur bei drei schweren Delikten:27 (1) bei Tempelraub erhalten Sklaven und Fremde eine singuläre Strafe, durch die sie „vielleicht zur Besinnung kommen und sich bessern“ (854d5); (2) bei Tötung im Zorn muss der Täter zeitweise ins Exil gehen, „damit er seinen Zorn zügeln lernt“ (867c8); (3) die redlichen Atheisten werden fünf Jahre in einem Gefängnis inhaftiert, das durch seinen Namen (sophronistérion 909a1) auf den Strafzweck des sophronízein („zur Besinnung bringen“; vgl. 934a1) hindeutet. Es ist sicherlich kein Zufall, dass es sich im ersten und im dritten Fall um Strafen handelt, die von Platon selbst konzipiert sind, und bei der Tötung im Zorn um eine Deliktkategorie, die Platon gegenüber dem attischen Recht neu geschaffen hat. Besserung als Strafzweck darf man auch in den übrigen Fällen annehmen, in denen Platon – hierin weit über die athenische Praxis hinausgehend28 – eine Haftstrafe verhängt, die dem Täter Zeit zur Besinnung lässt, so für Bürger, Fremde und Metöken, die einen Älteren misshandeln (880c–d).29 Ein sicherer Hinweis auf die Besserung als Strafzweck ist die Verschärfung der Strafe bei Rückfall 25

Sie zieht neben der Reinigung nur das Exil nach sich, das ausdrücklich damit begründet wird, dass der Täter dem aus dem Grab heraus wirkenden Zorn des Opfers aus dem Weg gehen muss (865d–e). 26 Sie erfordert nur Schadensersatz (879b). 27 Ein sachlich äquivalenter Hinweis auf „Heilung“ begegnet außerhalb der eigentlichen Strafrechtsbücher IX und X in einem konkreten Strafgesetz nur in 843d, wo die Verdoppelung der Strafsumme bei absichtlichem Beackern des Nachbargrundstücks ausdrücklich damit begründet wird, dass der Täter von seiner Unverschämtheit geheilt werden soll. 28 Freiheitsentzug wird von Platon nicht nur als Erzwingungshaft (855a–b) und Untersuchungshaft (871e), sondern auch als eigenständige Strafe verhängt, so neben tätlicher Beleidigung (880b–c) und Asebie (909a–c) auch bei Ausübung von Kleinhandel (919e–920a) und der Behinderung von Wettkampfteilnehmern (954e–955a). – Im zeitgenössischen Athen wird die Gefängnisstrafe zwar selten in den erhaltenen Zeugnissen erwähnt, doch ist an ihrer Existenz nicht zu zweifeln; sie wird nicht nur als Sicherungshaft bis zum Prozess angewandt (Demosthenes, Or. 24,146) oder als Schuldhaft oder als Zusatzstrafe zur Geldbuße angeordnet (vgl. Demosthenes, Or. 24,103–114.146; Lysias, Or. 6,21 ff., 10,16), sondern wird auch als reguläre Strafe verhängt: so hat Sokrates bei der Strafabschätzung die Option, für sich eine Haftstrafe zu beantragen (Platon, Apol. 37b–c). Vgl. Gernet (1917), S. 79 und (1951), S. CXC; Knoch, S. 143 ff., Harrison, S. 242–244, Karabélias, S. 103, Todd (1993), S. 140; Allen, S. 121–135; Triantaphyllopoulos, S. 248. 29 Auch die gegen Bürger vorgesehenen Schläge (z. B. 881d) dienen vielleicht der Besserung, sofern man der überwiegend gegen jüngere Bürger vorgesehenen Züchtigung eine pädagogische Absicht unterstellen darf; Schläge treffen die jüngeren Agronomen (762c), Obstdiebe unter 30 Jahren (845c) und bei Vernachlässigung der Eltern den Sohn bis zum 30. und die Tochter bis zum 40. Lebensjahr (932bc).

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(z. B. 868a, 909a, 938c). Denn dieser beweist, dass die für das erstmalige Delikt verhängte Strafe ihren Besserungszweck verfehlt hat.30 c) Wenn das Maß für die Strafe die in der Tat sich manifestierende seelische Ungerechtigkeit ist, so müssen äußerlich gleiche Tatbestände je nach dem Grad dieser Ungerechtigkeit unterschiedlich schwer bestraft werden.31 Deshalb unterscheidet Platon im Gesetz über Religionsfrevel (Asebie) sechs Arten von Delinquenten, die sich durch ihre atheistische Überzeugung und ihre moralische Disposition unterscheiden und unterschiedlich bestraft werden (vgl. 908b–e);32 im athenischen Gesetz hingegen gab es nur eine einzige Kategorie. Bei den Tötungsdelikten kennt Platon über 30 Kategorien, die neben den psychischen Voraussetzungen auch den sozialen Status von Opfer und Täter beim Strafmaß berücksichtigen, wodurch sich eine äußerst differenzierte Skala von Strafen ergibt. So wird die Tötung eines Sklaven milder bestraft als die eines Freien, weil letztere gegenüber der Tötung eines Sklaven, der ein bloßes ‚Besitzstück‘ ist (776b), die größere seelische Ungerechtigkeit verrät. Aus dem gleichen Grund wird die Tötung eines Verwandten schwerer als die eines Bürgers und die eines Blutsverwandten schwerer als die eines Ehegatten bestraft. Ein aufschlussreiches Beispiel für die Differenzierung der Strafe nach dem moralischen Zustand des Täters bietet das Gesetz über Tempelraub: für einen Sklaven oder Fremden sieht es eine Art Tätowierung nebst Auspeitschung und Ausweisung vor; ein 30

Nicht zu bestreiten ist, dass in den Strafgesetzen von Buch IX neben oder statt der Besserung noch andere Strafzwecke (außer der bereits erwähnten Beseitigung einer religiösen Befleckung) sichtbar werden. Dass der Täter in die Verbannung gehen muss, um dem aus dem Grab wirkenden Zorn des Opfers zu entgehen (865d–e), oder dass bei Tötung im Zorn die Strafe auf einjähriges Exil reduziert wird, wenn das Opfer vor seinem Tod im Akt der Verzeihung (áphesis) den Täter losgesprochen hat (869d–e), zeigt, dass die Strafe auch ein dem Opfer Genugtuung verschaffendes Element enthält. Stärker noch kommt der retributive Gedanke der Rache zur Geltung, wenn die Hinrichtung des Täters in Sichtweite des Grabes des Opfers erfolgen soll (872b). 31 Umgekehrt müssten äußerlich ungleiche Tatbestände, sofern sie die gleiche kriminelle Energie voraussetzen, mit derselben Strafe belegt werden, so z. B. vorsätzlicher Mord und vorsätzliche Körperverletzung, die wie in Athen als versuchter vorsätzlicher Mord behandelt wird. Platon erkennt dieses Prinzip ausdrücklich an, weicht aber zugleich durch eine mildere Bestrafung von ihm ab und begründet dies mit der Ehrfurcht vor dem göttlichem Eingreifen, das die Vollendung des Mordvorsatzes verhindert habe (877a). Inkonsequent ist auch die zeitliche Verkürzung des Exils aufgrund der sog. áphesis, der Lossprechung des Täters durch das Opfer (869d–e); denn die für die Tat kausale Ungerechtigkeit des Täters wird ja durch die Lossprechung nicht geringer als die eines nicht losgesprochenen Täters. 32 Sie ergeben sich durch Kombination von drei intellektuellen Irrtümern (1. es gibt keine Götter; 2. die Götter kümmern sich nicht um uns; 3. die Götter sind bestechlich) mit zwei moralischen Haltungen (1. gerechtes Ethos; 2. Unbeherrschtheit gegenüber der Lust gepaart mit Intelligenz und Heimtücke).

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Bürger aber soll mit dem Tod bestraft werden; denn „der Richter soll ihn als bereits unheilbar ansehen, indem er bedenkt, welche Erziehung und Pflege er von Kind an bekommen und sich dennoch nicht von den größten Übeltaten ferngehalten hat“ (854e; ähnlich 942a).33 Wegen der nur dem Bürger zuteil gewordenen Erziehung ist dessen moralisches Versagen größer und daher schwerer zu bestrafen. d) Dem Grundsatz der Strafbemessung nach der jeweiligen seelischen Verfassung des Täters trägt Platon auch durch eine eindeutige Strafdifferenzierung bei vorsätzlichem Mord und unvorsätzlicher Tötung Rechnung. Nach attischem Recht hatte Mord die Todesstrafe oder lebenslanges Exil zur Folge; bei unvorsätzlicher Tötung musste der Täter ebenfalls ins Exil, konnte aber zurückkehren, wenn die Verwandten des Opfers ihm aídesis (d.h. Verzeihung) gewährten.34 Wenn die Verwandten allerdings die aídesis verweigerten, musste der unvorsätzliche Totschläger lebenslänglich in der Verbannung bleiben, so dass die Rechtsfolge der unvorsätzlichen Tötung sich nicht von der eines Mordes unterschied. Platon, der für vorsätzliche Tötung Tod oder freiwilliges lebenslanges Exil vorsieht (871d), befristet bei unvorsätzlicher Tötung eines Bürgers das Exil auf ein Jahr; außerdem macht er im Interesse des sozialen Friedens dem nächsten Verwandten des Getöteten die Gewährung von Verzeihung zur Pflicht, sofern der Totschläger die gesetzliche Strafe auf sich genommen hat (865e–866a).35 e) Die bedeutendste Neuerung Platons auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts ist, wie schon erwähnt, die Schaffung des Tatbestands der Tötung im Zorn (thymós), die jedoch vom positiven Recht nicht rezipiert wurde. Das attische Recht kannte nur zwei Kategorien von Tötungsdelikten: vorsätzliche Tötung (phónos ek pronoías) und Tötung ohne Vorsatz (phónos me ek pronoías), eine affektbedingte Tötung wurde vermutlich als vorsätzliche Tötung behandelt.36 Da Platon die Kategorie der Tötung im Zorn selbst 33

Auch die Staffelung der Geldbußen nach der Klassenzugehörigkeit (774a–b, 880d, 882a, 934d, 945a–b, 948b), die vordergründig darin begründet ist, dass die Buße für ein Mitglied der obersten Vermögensklasse ebenso ‚schmerzhaft‘ sein muss wie für ein Mitglied der untersten Klasse, trägt letztlich dem unterschiedlichen Grad der Ungerechtigkeit Rechnung. Denn die Vermögensklassen spiegeln auch Abstufungen der Tugend (Arete) wider (vgl. dazu Knoch, S. 39, Saunders [1972], S. 31f., Schöpsdau [2003], S. 330). Weil nun die Arete, die ihn von einer Straftat abhalten müsste, bei einem Angehörigen der höheren Klassen größer ist, ist auch seine Ungerechtigkeit größer. 34 Vgl. das Gesetz IG I3 104 = I2 115; Text bei Stroud, S. 5f. und Koerner, Nr. 11. 35 Diese Abmilderung der Rechtsfolgen bei unvorsätzlicher Tötung blieb allerdings ohne Auswirkung auf das positive Recht; vgl. Heitsch, S. 6. 36 So MacDowell (1963), S. 59–60, und Loomis, S. 93; alternativ konnte lediglich auf gerechtfertigte Tötung plädiert werden. Eine ursprüngliche Subsumption der

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geschaffen hat, kommen in dem betreffenden Gesetz seine strafrechtlichen Vorstellungen am reinsten zur Geltung. Schon die Schaffung dieses Tatbestands ist eine Konsequenz aus seiner Straftheorie, wonach die seelische Disposition des Täters das Kriterium für die Strafzumessung ist. In der psychologischen Differenzierung geht Platon so weit, dass er die Tötung im Zorn nochmals in zwei Tatbestände unterteilt: Im einen Fall tötet der Täter das Opfer auf der Stelle in spontanem Zorn, empfindet aber sogleich Reue über seine Tat.37 Im andern Fall bringt jemand, der durch eine Beleidigung gekränkt wurde, den Beleidiger später mit Vorbedacht um und empfindet keine Reue. Der erste Täter gleicht nach Platon einem unfreiwilligen Täter, ist jedoch kein ganz unfreiwilliger, sondern nur ein „Bild“ eines unfreiwilligen Täters; der zweite Täter ist einem freiwilligen Täter ähnlich, aber seine Tat ist nicht ganz freiwillig (866d–867a).38 Als Strafe schreibt Platon (neben der religiösen Reinigung) für den ersten Täter ein zweijähriges, für den zweiten Tätertyp ein dreijähriges Exil vor.39 Die Verhängung des Exils wird ausdrücklich damit begründet, dass der Täter im Exil seinen Zorn zügeln lernen soll (867c8), sie hat also ausdrücklich die Besserung zum Strafzweck. Während des Exils haben zwölf Gesetzeswächter die näheren Umstände der Tat noch genauer zu prüfen, um herauszufinden, ob der Täter Verzeihung verdient und wieder in die Gemeinschaft aufgenommen werden kann.40 Die Entscheidung hierüber überlässt Platon also nicht wie in Athen den Verwandten des Opfers, sondern überträgt sie den Gesetzeswächtern als den Repräsentanten der Polis (867e).41

zornbedingten Tötung unter die unvorsätzlichen Tötungen vertreten Maschke, S. 124, und Cantarella, S. 309 ff. 37 Die Reue betrachtet auch Aristoteles, Nik. Eth. 3,2. 1110b19 als Indiz des Nichtgewollten. 38 Weil sie durch eine Beleidigung provoziert wurde (866e). Vgl. Aristoteles, Nik. Eth. 5,10. 1135b25–27: Taten im Zorn gelten mit Recht nicht als vorsätzlich, weil nicht der Täter, sondern der, der ihn erzürnt, mit der Tat anfängt (árchei). 39 So entsteht eine vierstufige Skala von Tötungsdelikten und entsprechender Dauer des Exils: einjähriges Exil für unbeabsichtigte Tötung; zweijähriges Exil für die spontane Tötung im Zorn; dreijähriges Exil für die geplante Tötung im Zorn und lebenslanges Exil (als Alternative zur Todesstrafe) bei der vorsätzlichen Tötung (871d). 40 Wenn die Antwort negativ ausfällt, müsste der Täter weiter in der Verbannung bleiben – eine Konsequenz, von der nichts im Gesetz steht. 41 In Athen sah das Gesetz Drakons (vgl. Anm. 34) vor, dass im Falle unvorsätzlicher Tötung bei Fehlen der zur aídesis berechtigten Verwandten die aídesis ersatzweise von den Mitgliedern der Phratrie des Opfers, also der weiteren Verwandtschaft des Opfers, gewährt werden konnte.

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2. Konsequenzen für das formelle Strafrecht (Strafverfolgung, Prozessverfahren) Der zweite Bereich, in dem Platons Strafkonzeption konkrete Auswirkungen hat und zu deutlichen Abweichungen vom attischen Recht führt, ist (a) die Strafverfolgung und (b) das Strafprozessverfahren. a) Wenn Ungerechtigkeit eine Krankheit ist, die der heilenden Strafe bedarf, muss ein Täter in seinem eigenen Interesse vor Gericht gestellt werden. Dies erfordert eine Verschärfung der Strafverfolgung gegenüber der attischen Praxis. Bekanntlich war im attischen Recht die Verfolgung eines Mörders oder Totschlägers Sache der Verwandten des Toten, die hierzu eine Privatklage (díke phónou) bei dem zuständigen Beamten einreichten.42 Dazu waren die Verwandten aber nicht verpflichtet, und das attische Recht enthielt kein Mittel, um sie dazu zu zwingen, so dass selbst bei vorsätzlicher Tötung die Verwandten sich mit dem Mörder gegen Zahlung einer Geldsumme auf die Unterlassung der Verfolgung einigen konnten. Für Platon ist der Gedanke, dass ein Totschläger unbehelligt in der Gemeinschaft lebt, unerträglich; deswegen sieht er bei unvorsätzlicher und vorsätzlicher Tötung vor, dass die zur Verfolgung verpflichteten Verwandten des Toten bei Unterlassung der Verfolgung von jedem belangt werden können, der den Getöteten rächen will (866b; 871b); außerdem soll die durch den Mord verursachte Befleckung und der Fluch der Götter auf den nachlässigen Verwandten übergehen. Dem Ziel, einen Mörder auf jeden Fall vor Gericht zu bringen, dienen weitere Abweichungen vom attischen Verfahren. In Athen musste ein angeklagter Fremder Bürgen für sein Erscheinen vor Gericht stellen, die bei seinem Nichterscheinen eine vereinbarte Summe zahlen mussten.43 Platon dehnt die Pflicht zur Stellung von Bürgen bei eigenhändigem Mord auch auf die Bürger aus (871e).44 In Athen hatte ferner ein des Mordes Angeklagter die Möglichkeit, nach dem ersten der beiden Plädoyers das Land für immer zu verlassen, um sich der drohenden Todesstrafe zu entziehen.45 Platon lässt diese Möglichkeit gleichfalls zu, schränkt sie aber dadurch ein, dass der Täter noch vor der Eröffnung des Verfahrens und der damit verbundenen Aufforderung zur Stellung von Bürgen die Stadt verlassen muss (871d), so dass ihm wenig Zeit zur Vorbereitung seiner Flucht bleibt. 42 So die überwiegende Meinung der Rechtshistoriker; vgl. u. a. Gagarin (1979), Todd (1993), S. 273. Hansen (1981) versucht dagegen die Existenz auch einer graphè phónou nachzuweisen. 43 Vgl. MacDowell (1978), S. 76. 44 Vgl. Saunders (1972), S. 87–88. 45 Nach Pollux 8,117 war diese Möglichkeit aber Elternmördern verwehrt; für die Glaubwürdigkeit dieser Notiz, für die es keine sonstige Bestätigung gibt, plädiert Garner, S. 103; skeptischer MacDowell (1963), S. 114.

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b) Platons Straftheorie erfordert vor allem eine bestimmte Form des Strafprozessverfahrens und eine entsprechende Organisation des Gerichtswesens. An Formalien als solchen ist Platon zwar wenig interessiert (855d, 956e),46 weshalb er manche Details der Strafverfolgung übergeht, vermutlich weil für sie die attische Regelung gelten soll. Hier jedoch veranlasst ihn seine Strafkonzeption zu substantiellen Reformvorschlägen, die sich mit einer scharfen Kritik an der attischen Praxis verbinden: „Wenn ein Richter stumm ist und bei den Untersuchungen nicht mehr als die streitenden Parteien spricht, (. . .) so wäre er wohl nie zu einer Rechtsentscheidung fähig. Deswegen wird wohl nicht so leicht eine große Zahl von Richtern gut richten noch eine kleine Zahl von schlechten Richtern. Der zwischen den beiden Parteien strittige Punkt muss stets ganz klar sein; die Zeitdauer aber sowie bedächtiges Vorgehen und mehrmalige Untersuchungen tragen dazu bei, dass der Streitpunkt klar wird“ (766d–e). – „In einer Stadt, in der die Gerichte schlecht und sprachlos sind und unter Verbergung ihrer eigenen Ansichten in geheimer Abstimmung ihre Entscheidung fällen und, was noch schlimmer ist, wenn sie nicht einmal schweigend entscheiden, sondern voller Lärm wie ein Theater, weil sie mit Geschrei die Redner beider Seiten loben oder tadeln – in diesem Fall pflegt der ganzen Stadt ein schlimmes Leid zuzustoßen“ (876b). Ziel dieser Kritik ist zunächst die personelle Besetzung der Gerichte. In Athen konnte das Volksgericht, die sog. Heliaia, im Extremfall aus 2.501 Geschworenen (dikastaí) bestehen.47 Gerichte dieser Größe verwirft Platon wegen der damit verbundenen Passivität der Richtenden. An ihre Stelle sollen kleinere Gremien treten, in denen jeder Richter zu Wort kommen kann (766d).48 Sodann muss der Richter über Sachkompetenz und moralphilosophische Bildung verfügen; denn ihm obliegt es, die Ordnung des Staates zu sichern (957c–e).49 Das oberste Gericht Magnesias besteht daher aus den Beamten, die sich in ihrem Ressort als die besten erwiesen haben (767c–d); 46

Das attische Recht legte umgekehrt auf die Regelung des Rechtsverfahrens größeren Wert als auf eine exakte Beschreibung des Tatbestands; vgl. Todd (1993), S. 64 ff. So stellt das Gesetz bei Dem. 21,47 fest „wenn einer Hybris begeht (. . .), soll jeder, der will, bei den Thesmotheten schriftlich Anklage erheben usw.“, ohne zu klären, was Hybris ist. Im drakontischen Mordgesetz wird der Tatbestand in nur zwei Zeilen beschrieben, der Rest des Gesetzes betrifft das Verfahren. 47 Vgl. Todd (1993), S. 83 Anm. 10. 48 Allerdings scheint eine Bemerkung in 768a auf die Einsetzung eines Volksgerichts nach athenischem Muster hinzudeuten; im System der Nomoi spielt ein Volksgericht jedoch keine erkennbare Rolle (vgl. Schöpsdau [2003], S. 433–435). 49 Vgl. Pol. 305b–c: Die Jurisdiktion ist als Hüterin der Gesetze eine Dienerin der königlichen Kunst. Sie scheidet anhand der Vorgaben des Gesetzgebers, was Recht und Unrecht ist.

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bei Kapitalverbrechen wird die Richterbank noch durch die Gesetzeswächter verstärkt (855c). Während in Athen ein Richter nur einmal zu Beginn seines Amtsjahres vereidigt wurde, hat der magnesische Richter vor jedem Prozess einen Eid abzulegen, der ihn auf ein gerechtes Urteil verpflichtet. Seinen Spruch fällt der magnesische Richter öffentlich, nicht wie in Athen geheim (767d, 855d, 876b).50 Nach Ablauf der Amtszeit ist er – anders als in Athen – für seine Amtsführung rechenschaftspflichtig (761e5). Ein weiterer grundlegender Unterschied betrifft das Prozessverfahren. Ziel des athenischen Verfahrens war nicht die Ermittlung der Wahrheit, sondern eine Entscheidung zwischen den vom Kläger und vom Beklagten geltend gemachten Rechtspositionen; es handelt sich also in angelsächsischer Terminologie um ein „adversarial system of justice“ im Gegensatz zu dem von Platon vertretenen „inquisitorial system of justice“51. Infolgedessen war der Richter in Athen weitgehend zur Passivität verurteilt. In der Voruntersuchung, der sog. anákrisis, hatte der zuständige Beamte nur die Positionen der beiden Parteien festzulegen und die Zulässigkeit der Klage festzustellen. Im anschließenden Prozess vor dem Volksgericht war keine Intervention des Gerichts üblich; Zeugenverhöre gab es nur in Ausnahmefällen.52 Platon hingegen beseitigt das athenische Vorverfahren, das nur dazu dient, die Positionen der Parteien zu bestimmen. Aus religiösen Gründen schafft er auch den Parteieneid ab, mit dem in Athen Kläger und Beklagter ihren Standpunkt beschworen, weil zwangsläufig einer der beiden Eide ein Meineid sein müsse (948d–949c); aus dem gleichen Grund verbietet Platon auch den Eid, mit dem in Athen in der anschließenden Hauptverhandlung der Zeuge je nach Parteizugehörigkeit die Schuld oder Unschuld des Anklagten beschwören musste (vgl. Antiphon 1,28). Nicht vorgesehen ist in den Nomoi auch die paragraphé, d.h. die Gegenklage, durch die in Athen der Beschuldigte die Zulässigkeit der Klage anfechten konnte;53 Platon überlässt also die Beurteilung der Zulässigkeit der Klage ausschließlich dem zuständigen Beamten. Die Hauptverhandlung dient in Magnesia dem Zweck, die Wahrheit über den Tathergang und die seelische Verfassung des Täters zu ermitteln und zu einem Urteil zu gelangen, das nicht einfach den Rechtsanspruch der einen 50

Für Athen vgl. z. B. Lysias 12,91, Demosthenes 19,239. Termini nach Todd (1990), Glossary-Index, S. 215; für „adversarial“ gebraucht Todd (1993), 67f. und passim auch „adversary“. 52 Vgl. Todd (1990) S. 23 ff. Vgl. auch Thür, S. 49: „Das Beweisverfahren war nur rudimentär entwickelt, es gab weder Urteilsspruch noch -begründung. Keine Partei wusste, warum sie verurteilt oder freigesprochen worden war, keine Instanz konnte Fehler korrigieren.“ 53 Vgl. Lipsius, S. 846 ff.; Harrison, S. 115. 51

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Partei gegen den der anderen abwägt, sondern der Tat und dem Täter möglichst gerecht zu werden sucht. Der die Verhandlung leitende Richter ist daher befugt, fragend und belehrend in den Prozess der Wahrheitsermittlung einzugreifen. Während in Athen die Zeugenaussage im wesentlichen nur die Behauptungen einer Partei wiederholte und keine direkte Kritik daran erlaubt war,54 darf und soll der Richter in Magnesia auch die Zeugen befragen, um sich ein objektives Bild zu machen (855e). Im Interesse der Wahrheitsfindung erhalten freie Frauen und Sklaven ein gegenüber Athen erweitertes Recht zur Zeugenaussage (937a–d).55 Bei Kapitalprozessen soll die Verhandlung so ablaufen, dass zunächst Kläger und Beklagter je nur eine Rede halten. Dann beginnt der Älteste mit der Befragung, die von den anderen Richtern fortgesetzt wird. Die hierbei gemachten Aussagen werden schriftlich festgehalten und versiegelt auf dem Altar der Hestia verwahrt. Diese Prozedur soll jeweils an drei aufeinander folgenden Tagen durchgeführt werden; dann hat jeder Richter seine Stimme unter Eid offen abzugeben. Gegen ein in dieser Weise gefälltes Urteil ist keine Revision zulässig (855c–856a). Hinter dieser Vorschrift Platons steht die Überzeugung, dass die Ermittlung der Wahrheit ausreichend Zeit erfordert. In Athen betrug die Prozessdauer bei öffentlichen Klagen einen Tag; bei Privatprozessen war die Dauer vom jeweiligen Streitwert abhängig; Aristoteles (Ath. pol. 67,1) rechnet mit vier Privatprozessen pro Verhandlungstag. Wenn Platon, wie erwähnt, für Kapitalprozesse nicht weniger als drei Verhandlungstage zwecks gründlicher Abwägung aller Aspekte verlangt (856a, vgl. 766d5),56 so wirkt hierbei sicherlich auch seine Erfahrung aus dem Prozeß gegen Sokrates nach, den er Apol. 37a–b zu den Richtern sagen lässt: „Wenn auch ihr ein Gesetz wie andere Menschen hättet, dass über Leben und Tod nicht an einem Tag entschieden werden darf, dann, glaube ich, hätte ich euch überzeugt“. Angesichts der Wahrheitsorientierung des Prozessverfahrens überrascht es nicht, dass Platon der gerichtlichen Rhetorik und ihrem Anspruch, auch der ungerechten Sache zum Sieg verhelfen zu können, geradezu feindlich gegenübersteht und jeden Versuch, die „Macht der Gerechtigkeit in den Seelen der Richter“ ins Gegenteil zu verkehren, mit schweren Strafen belegt (937e–938c). 54

Vgl. Gernet (1951), S. cxlvii; Latte, S. 40. Die Aussage einer Frau oder eines Sklaven konnte eine streitende Partei in Athen nur durch einen beweisenden Eid bzw. durch Folterung erhalten, vgl. Todd (1993) S. 96f. 56 Hierin kann Platon durch den Areopag beeinflusst sein. Die dort verhandelten Prozesse dauerten zwar nicht drei Tage (so richtig Piérart, S. 460 Anm. 145 gegen Morrow, S. 282), aber der eigentlichen Verhandlung gingen drei Voruntersuchungen durch den Basileus voraus. 55

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Was die Festsetzung einer Geldstrafe betrifft, so besitzt der Richter in Magnesia einen größeren Ermessensspielraum als der Geschworene in Athen; dieser konnte sich bei einem schätzbaren Prozess (agón tímetos) nur zwischen der Schätzung des Klägers und der Gegenschätzung des Verurteilten entscheiden.57 Für Platon ist eine Straffestsetzung durch ein Gesetz nur erforderlich in einem Staat mit schlecht ausgebildeten Richtern. In Magnesia dagegen sollen möglichst viele Fälle dem kompetenten Richter überlassen bleiben, der kraft seines Wissens in dem jeweiligen Fall die angemessene Strafe festzusetzen vermag und daher nicht an die „Schätzungen“ der beiden Parteien gebunden ist (876a–e). Zum Schluss sei noch auf ein unscheinbares Detail hingewiesen. Platon verlangt, dass an den Verhandlungen vor dem obersten Gericht und an den Kapitalprozessen58 alle Ratsmitglieder und alle Beamten, von denen diese Richter gewählt worden sind, sowie nach Möglichkeit alle Bürger als Zuhörer teilnehmen sollen (767d–e bzw. 855d). Der Sinn dieser Forderung, die die Verhandlung bedenklich in die Nähe eines Schauprozesses rückt, ist nicht so sehr in der negativen Prävention durch Abschreckung zu sehen als darin, dass die Gerichtsverhandlung positiv eine Lehrstunde in Ethik und Moral sein soll. Denn der Richter hat nicht nur die Wahrheit zu ermitteln, sondern auch sein offen abgegebenes Urteil mit seiner persönlichen Meinung zu begründen.59 Auch hierin erfüllt der Richter die ihm von Platon zugewiesene Aufgabe, „sowohl sich selbst als auch den Staat auf rechter Bahn zu halten, indem er in den guten Menschen ein Fortdauern und Zunehmen der Gerechtigkeit bewirkt und in den Schlechten eine Abkehr von Ungerechtigkeit“ (957d–e). Literatur Allen, Danielle: Imprisonment in classical Athens, in: Classical Quarterly 47, 1997, S. 121–135. Cantarella, Eva: Fünoò mÌ ýk pronoûaò. Contributo alla storia dell’ elemento soggettivo nell’ atto illecito, in: Symposion 1971. Vorträge zur griechischen und hellenistischen Rechtsgeschichte. In Gemeinschaft mit Josef Modrzejewski und Dieter Nörr herausgegeben von Hans Julius Wolff, Köln 1975, S. 293–319. 57 Die Geschworenen waren also Schiedsrichter (‚arbitrators‘), keine Mittler (‚mediators‘): Todd (1993), S. 89. Diese Wahlmöglichkeit bestand natürlich nicht in den agônes atímetoi, in denen die Strafe gesetzlich festgelegt war. Vgl. dazu die Übersicht bei Harrison, S. 80–81. 58 Da das Kapitalgericht zum überwiegenden Teil aus den sog. Auserlesenen Richtern besteht, darf die Forderung von 767d–e auch auf das Kapitalgericht übertragen werden. 59 Dies ist aus der Forderung zu schließen, dass die Richter ihre Meinungen nicht verbergen sollen (876b).

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Platon und der Wein1 Von Alexander Demandt Vita vinum est. Trimalchio

Im Jahre 416, während des „faulen Friedens“ zwischen Athen und Sparta, errang der Tragödiendichter Agathon seinen ersten Theatersieg. Er feierte ihn mit einem Symposion, an dem auch Sokrates und Platons Bruder Glaukon teilnahmen. Nachdem die Gäste gegessen hatten, brachten sie das Trankopfer, sangen den Hymnos auf Dionysos und begannen den Umtrunk. Einige der Anwesenden hatten indessen schon am Abend zuvor gefeiert und waren davon noch etwas mitgenommen, so dass der Arzt Eryximachos vorschlug, es solle diesmal niemand zum Trinken gezwungen werden. Man kam überein, den Rausch zu vermeiden, auch das Flötenmädchen zu den Frauen zu schicken und reihum den Eros, den Gott der Liebe, zu preisen2. Nachdem die Reden gehalten worden waren, endete die Runde in der 1869 von Anselm Feuerbach gemalten Szene, wie der bekränzte, beschwingte Alkibiades mit einem Genossen aufkreuzt und große Heiterkeit auslöst, indem er sich zum Symposiarchen aufwirft und das Gelage mit einer Lobrede auf Sokrates beschließt3. Platon, der vom Mahl und den Reden in seinem „Symposion“ berichtet, gewährt uns Einblick in eine Form des Philosophierens, die auch Xenophon, Speusippos, Epikur, Plutarch und Macrobius mit ihren Dialogen beim Wein bezeugen. Bei Platon ist das Symposion indessen nicht nur Rahmen, sondern auch Gegenstand des Philosophierens. Kein anderer antiker Denker hat der sozialen, politischen und pädagogischen Bedeutung des Gelages eine solche Aufmerksamkeit gewidmet wie Platon. Denn die verlorene 1 Für die Nomoi-Tagung in Passau vom 27. bis 29. September 2007 überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten auf Englisch im Center for Hellenic Studies in Washington bei Kurt Raaflaub am 22. März 1993 und in Charlottesville am 24. bei David Kovatsch; auf Deutsch vor der Gesellschaft für Medizingeschichte bei Robert Jütte in Stuttgart am 20. Februar 2006 und im Historicum zu Thorn (Polen) bei Szymon Olszaniec am 4.April 2006. Frühere Fassungen erschienen im Archiv für Kulturgeschichte 78, 1996, S. 67 ff. und bei A. Demandt, Sieben Siegel, 2005, 50 ff. 2 Platon, Symposion 177 C. 3 Platon, Symposion 212 C ff.

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Schrift des Aristoteles über die Trunkenheit, peri methe¯s, behandelte offenbar nur medizinische Fragen. Das bezeugen die erhaltenen Fragmente über das Problem, weshalb alte Männer schneller berauscht werden als junge Frauen4 und warum Biertrinker im Rausch auf den Rücken fallen, Weintrinker hingegen nach allen Seiten wanken5. Aristoteles6 glaubte, dass der Wein die Körpersäfte und damit die Charaktere kurzfristig so bestimme, wie die Natur das dauerhaft tue. So zeige derselbe Mensch im Verlaufe eines Gelages unterschiedliche Temperamente: Zu Beginn wortkarg, dann redselig und tatenfroh und zuletzt leichtfertig und albern. Im Wein tue man Dinge, die man eigentlich verschmähe. Beispielsweise rege der Wein zum Küssen an, und zwar zum wahllosen Küssen selbst alter und hässlicher Menschen, vor denen es einen nüchtern gruselte. Aristoteles7 parallelisierte zudem die Charaktere der Menschen mit den Weinsorten. Dass ein Wein auf der Zunge süß schmecke, sei noch kein Beweis für seine Güte. Entscheidend sei, wie man sich am nächsten Morgen im Kopf fühle – und da käme gewöhnlich der Kater. Ebenso zeigten sich die Menschen uns bei ihrer ersten Bekanntschaft meist von ihrer besten Seite, aber mit der Zeit offenbare sich doch ihr fieser Charakter. Wein hat nicht nur mit Gesundheit, sondern auch mit Gemeinschaft zu tun. Das Mahl dient wohl bei allen Völkern der Vergewisserung der Zusammengehörigkeit. Die rituelle Einbindung des Einzelnen, die sich in der Beherrschung der Tischsitten kundtut, hatte im Symposion der archaischen Gesellschaft Griechenlands eine besondere, auch von anderen Völkern wie den Etruskern und Kelten übernommene Stilisierung erfahren. Platon verarbeitete das in seine politischen Theorien. Seine wichtigsten Ausführungen über den Wein finden sich in den „Nomoi“. Im Vergleich zu den übrigen Staatsschriften wird den „Gesetzen“ bekanntlich eine größere Wirklichkeitsnähe zugeschrieben, und dafür spricht neben der Erörterung des Sklavenhandels8, des Selbstmordes und der Ehescheidung9 auch die über das Weintrinken. I. Für und Wider Wir erinnern uns der Rahmenhandlung der Nomoi: auf dem Wege von Knossos zur Höhle des Zeus auf dem Ida beraten drei alte Männer die für eine geplante Tochterstadt von Knossos im Landesinneren geeignete Ver4 5 6 7 8 9

Macrobius, Saturnalia VII 6, 14 ff. Athenaios 34 B; 447 AB. Aristoteles, Problemata 953 b ff. Aristoteles, Eudemische Ethik 1238 a. Platon, Gesetze 916 B. Platon, Gesetze 930 B.

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fassung. Ihr Name sollte lauten: die Stadt der Magneten. Die drei Männer sind ein namenloser Athener, den ich im folgenden „Platon“ nenne, der Spartaner Megillos und der Kreter Kleinias. Die neue Stadt soll sich von der Vernunft leiten lassen10. Die Erörterung beginnt mit den weithin bewunderten Gesetzen Spartas. Sie seien darauf ausgerichtet, den täglichen Kampf zu bestehen. „Was die Menschen Frieden heißen, ist bloß ein leeres Wort“. Tatsächlich herrsche ein doppelter Kriegszustand, der einerseits darin liege, dass sich alle Städte feindlich gegenüberstehen, andererseits darin, dass sich der einzelne Mensch mit sich selber dauernd im Streite befinde. Es gibt sozusagen stets eine äußere und eine innere Front. Erstere ist politischer, letztere ist moralischer Natur. Platon sieht den Einzelnen geprägt durch den Konflikt zwischen dem besseren, dem rationalen Leitvermögen und den schlechteren, den irrationalen Trieben. Der schönste Sieg sei der über sich selbst. Das Leben müsse so geordnet sein, dass der innere wie der äußere Friede geschaffen werde. Auf Heilmittel könne man da verzichten, wo die richtige Verfassung vorliege. Gesundheit ist besser als die beste Medizin. Eine Verbesserung des Staatslebens muss nach Platon von den Individuen ausgehen. Deren paideia sei das Ziel der Gesetzgebung. Platon entwirft einen Erziehungsstaat, dessen Bürger lebenslang erzogen werden, die von der Geburt bis ins Greisenalter zum besseren Leben ermahnt werden müssen. Aufgabe des Gesetzes ist es, die höchsten Werte zu vermitteln. Sie bestehen nicht in körperlichen Vorzügen, nicht in Gesundheit und Schönheit, nicht in Kraft und Gewandtheit – das ist die zweite Güterklasse –, erst recht nicht in Reichtum – das ist die dritte Güterklasse –, überhaupt nicht in den menschlichen, sondern in den göttlichen Gütern, in den Qualitäten der Seele – das ist die erste Güterklasse. Platon bestimmt als Güter die Kardinaltugenden: Vernunft, Besonnenheit, Tapferkeit und Gerechtigkeit. Er lobt die dorischen Gesetze, weil sie jene Menschen, die ihnen folgen, tugendhaft und daher glücklich machen. Mit großem rhetorischen Aufwand sucht er zu beweisen, dass nur der Tugendhafte glücklich und zugleich würdig sei, glücklich gepriesen zu werden. Letzteres bleibt bei Platon von Gesetzes wegen auf die Tugendhaften beschränkt. Nur sie dürften der Eudaimonie teilhaftig heißen. Sie ist kein subjektives Empfinden, sondern eine objektive Befindlichkeit. Die Entfaltung der Tugenden wird erschwert durch Emotionen. Platon unterscheidet zwei positive Affekte: Lust und Hoffnung und zwei negative: Schmerz und Furcht. Dies seien die vier, den Kardinaltugenden entgegenstehenden vernunftlosen Ratgeber der Seele. Lust und Schmerz sind Empfindungen gegenwärtiger Güter und Ungüter, Furcht und Hoffnung sind Ge10

Platon, Gesetze 919 C.

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fühle gegenüber künftigen. Ihren Einfluss abzudämmen, sei die Leistung des gebildeten Menschen, der sich selbst zu beherrschen wisse. Der Mensch wird als Marionette beschrieben, die an den genannten vier Drähten der Leidenschaft hängt, aber noch einen fünften, goldenen Leitfaden besitzt, der die Vernunft verbildlicht. Zwei der schlechten Ratgeber sieht Platon in den dorischen Gesetzen gebändigt: den Schmerz und die Furcht. Zu deren Überwindung gebe es in Kreta und Sparta genügend Vorschriften: die Gymnastik, die Krypteia, die Jagd und die Syssitien. Weil die Krieger im Felde sowieso zusammen speisen, tun sie dies, um in der Übung zu bleiben, auch im Frieden. Damit wird der Staat als solcher aber auf ein Heerlager zurückgeschnitten11. Dies ist Platon zu wenig, eine polis sei mehr als ein stratopedon. Darum fordert er, die beiden anderen Ratgeber, Lust und Hoffnung, in den Erziehungsprozess einzubeziehen. Dies verleihe dem Staatsleben Anmut, charis. Wo allein Schmerz und Furcht gebändigt werden, gibt es nur einseitige, nur „hinkende“ Tugend. Platon sucht die politisch-moralische Erziehung in naturgegebenen Neigungen zu verankern, so dass durch spielerische Antizipation das Kind zunächst lustvoll imitiert, was es später im Leben ernsthaft betreibt. Dazu sollen die Gelage beitragen. Wein hat etwas mit Lust zu tun. Megillos, der Spartaner, wendet sich dagegen. Die lakedaimonischen Gesetze verböten zu Recht alle Lustgefühle und jede Ausgelassenheit. Nicht einmal beim Dionysosfest sei dies statthaft. Einen betrunkenen Nachtschwärmer prügele man ohne weiteres durch, so dass es in Sparta nicht vorkomme wie in Athen oder Tarent, dass an den Dionysien die ganze Stadt angeheitert sei. Trunkenheit sei eine Schande. Plutarch12 meinte, die Spartaner hätten Wasser getrunken und sich durch den rotfarbenen Kothon-Becher die Illusion gegönnt, Wein zu trinken. Von Plutarch13 hören wir weiter, dass die Heloten bisweilen alkoholisiert wurden und in diesem Zustand den Epheben als abschreckendes Beispiel dienten. Platon erinnert darauf an die Zuchtlosigkeit der spartanischen Frauen und gibt zu, dass Trunkenheit abzulehnen sei. Auch er will nicht, dass die Athener Epheben im Rausch nachts randalieren. Trunkenheit wird von ihm nur am Dionysosfest zugelassen14. So wie die Thraker und Skythen, die Kelten und Iberer, die Karthager und Perser dürfe man nicht trinken. Sowohl der Kriegsgeist der einen wie die Schwelgerei der anderen scheint ihm barbarisch, zumal wenn der Wein unvermischt genossen wird und sich die 11 12 13 14

Plutarch, Lykurg 24. Plutarch, Lykurg 9. Plutarch, Demetrios 1, 4. Platon, Gesetze 775 B.

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Weiber am Trank beteiligen. Das eine Extrem, die Maßlosigkeit, sei ebenso abzulehnen wie das andere, die Abstinenz. Dass der Antialkoholismus der Spartaner historisch dubios ist, lässt sich aus dem Schicksal anderer Weinverbote, etwa derjenigen von Buddha und Mohammed15 erwarten und ergibt sich u. a. aus Kritias, von dem wir hören, dass in Sparta die Schale nicht kreiste, sondern jeder seinen eigenen Becher hatte16, sowie aus Aelian17, der den Spartanerkönig Kleomenes auf die Liste der berühmten Trinker setzte, zumal er nach skythischer Unsitte den Wein pur getrunken habe. Xenophon bestätigt allerdings ex negativo die Mäßigkeit: Die Lakedaimonier bevorzugten als Symposiarchen Nichtspartaner, von denen höhere Quantitäten zu erwarten wären18. Trinkzwang sei allerdings nicht statthaft. Die Grenze des Erlaubten war für die Spartaner der Heimweg zu Fuß, für Wehrpflichtige ohne Licht19. Platon weiß, dass es bei Gelagen zu Raufereien kommen kann; in Milet, Böotien und Thurioi sei das üblich. Wein hat etwas mit Leichtsinn zu tun. Berüchtigt war die Randale betrunkener Thessalier20. Die Erfahrung ist alt. „Der Wein macht lose Leute“ heißt es in den „Sprüchen Salomonis“21 oder in der „Vulgata“ luxuriosa res vinum et tumultuosa ebrietas; quicumque his delectatur, non erit sapiens. Man trinkt nicht im stillen Kämmerlein, sondern in heiterer Runde. Damit sie nicht ausarte, benötigt sie einen strengen und nüchternen Symposiarchen, der das Mischungsverhältnis und die Zahl der Becher für jeden Trinker bestimmt. Dies entspricht Platons Forderung, im Idealstaat der Magneten geschehe nichts ohne Aufsicht, weder bei Männern noch bei Frauen, weder im Kriege noch im Frieden22. Die Symposiarchie war gemein-griechische Sitte, sie lebte wieder auf im Kommerswesen studentischer Verbindungen. II. Symposion und Bildung Wein hat etwas mit Bildung zu tun. Der Bildungswert des platonischen Gelages beruht zum kleineren Teil auf den dabei geführten Gesprächen. In Sparta waren das angeblich die Heldentaten im Staatsdienst23. Über die in 15 16 17 18 19 20 21 22 23

Koran, Sure 5, 92. Athenaios 432 D; 463 E. Aelian, Varia historia II 41. Xenophon, Anabasis VI 1, 30. Xenophon, Staat der Lakedaimonier 5, 4; 5, 7. Philostratos, Vitae sophistarum 501. AT. Sprüche Salomonis 20, 1. Platon, Gesetze 942 B. Xenophon, Staat der Lakedaimonier 5, 6.

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der Antike sonst übliche Unterhaltung beim Wein unterrichten uns nicht nur die sympotischen Philosophendialoge, sondern auch die umfangreichen Exzerpte des Athenaios von Naukratis. In seiner Enzyklopädie der Tafelkultur bringt er eine Fülle von Themen für Tischgespräche, die freilich Platons Bildungsideal nicht unbedingt entsprechen. Der größte Teil des Bildungswertes liegt für Platon in der Erziehung zur Zucht. Bei Beginn des Trinkens, heißt es, werden wir heiter und offen, im fortgeschrittenen Stadium dagegen hemmungslos und unvernünftig. Der Wein stärkt die Gefühle und schwächt den Verstand. Deswegen besteht die Kunst darin, den Punkt zu entdecken, an dem die positive Wirkung des Weines sich entfaltet hat und die negative noch nicht eingetreten ist. Maß halten, darin liegt die pädagogische Aufgabe des Symposiums. Besonnenes Trinken stiftet Freundschaft. Keine andere Gelegenheit ist so wie diese geeignet, das für die Gesellschaft unabdingbare Schamgefühl zu entwickeln, sich selbst beherrschen und den anderen kennen und lieben zu lernen. Zucht gegen sich selbst, Freundschaft gegen den andern, darauf beruht die Gemeinschaft. „Die Perser prüfen ihre Männer in betrunkenem Zustand“, sagte ein griechisches Sprichwort24, und ebendies billigte auch Platon. Bildung entwickelt sich nach seinem Wort aus der geregelten Trinkgesellschaft. Völliger Verzicht auf den Wein sei einfacher durchzuführen, aber habe nicht den propädeutischen Effekt. Platons Bildungsziel ist die rationale Affektkontrolle, peripatetisch gesprochen: die Metriopathie, die sich gegen die dorisch-stoische Apathie wendet. Der Mensch soll nicht ohne Liebe und Hass, ohne Lust und Furcht leben, sondern den rechten Gegenstand, das rechte Maß finden. Darum sind die Musen in der paideusis unentbehrlich. Zum Wein gesellt sich der Gesang und der Tanz. Dionysos ist der eine, Apollon der andere Lehrer. Der von Platon25 geschätzten dorischen Melodik wurde nachgesagt, dass sie Trunkene nüchtern mache26. Das Lernen soll von der Lust beflügelt werden. Platon unterscheidet Altersquanten: bis zum 18. Lebensjahr sollen Knaben überhaupt keinen Wein trinken, bis zum 30. dürfen die jungen Männer es mit Maßen. Danach ist die verbotene Grenze die zur Trunkenheit, und mit dem 40. Lebensjahr soll der Mensch sich’s schmecken lassen, um periodisch wieder jung zu werden. „Jugend ist Trunkenheit ohne Wein“ heißt es im West-Östlichen Divan. Greisen gibt der Wein die Jugend wieder, sie werden sangesfroh und tanzlustig und überwinden die natürliche Alters24 25 26

Apostolios, in: Paroemiographi Graeci II, S. 554. Platon, Staat 399 A. Damon, in: VS. 37 A 8; Martianus Capella 926.

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scheu. Altersgrenzen für Alkoholika hat es auch in wirklichen Gesetzen gegeben. Nach Athenaios27 durften freie Römer ab 30, nach Aelian28 ab 35 Jahren trinken. Die Freude hat mimetische Gewalt, sie macht den, der sich freut, dem ähnlich, worüber er sich freut. In einer nicht ganz durchsichtigen Abwandlung seiner Kunstlehre aus der „Politeia“ erklärt Platon die Musenkünste generell für Metamorphosen der Mimesis: Das wird ausführlich an der Musik demonstriert, der geradezu magische Gewalt zugetraut wird. Die Musik imitiert den Charakter29, genauer: sie stellt Charakterzüge dar und verzaubert die Menschen im guten wie im schlechten Sinne. Musik führt, recht geleitet, zur arete¯. Wein hat etwas mit Musik zu tun. Die Seelen der singenden Trinker erhitzen sich30 und werden formbar wie glühendes Eisen, das im kalten Zustand spröde bleibt. Freilich ist ein geschickter Schmied vonnöten. Der Symposiarch soll über sechzig Jahre und besonnen sein. Wir besitzen einige Trinklieder (skolia), die politisch-historische Texte enthalten. Trinklieder wurden bisweilen von Staatsmännern verfasst, so von Dionysios aus Chalkis, dem Gründer von Thurioi31. Tacitus32 berichtet von Spottgesängen auf Nero beim convivium. So wie die Athener beim Weine Harmodios und Aristogeiton als Freiheitshelden feierten33, besangen die Germanen später die Freiheitstat des Arminius, vermutlich beim Biere34. Da mit fortschreitendem Gelage das Singen ins Gröhlen übergeht, bietet es einen brauchbaren Maßstab für die Niveaukurve. Gewiss kann der Wein den Menschen toll machen, aber dazu hat ihn Gott nicht gestiftet, sondern – wie es schon in der Fabel Jothams im Alten Testament heißt: um Götter und Menschen fröhlich zu machen35. „Götter und Menschen“: Luther hat hier „Elohim“ nicht sinngemäß mit „Gott“, sondern wörtlich mit „Götter“ übersetzt, um den Herrn der Heerscharen nicht als Trinker erscheinen zu lassen. Platons Deipnosophie steht möglicherweise, ebenso wie seine Musiktheorie, unter pythagoreischem Einfluss. Apuleius36 bemerkt, dass Platon meistens „pythagorisiere“ (Plato pythagorissat in plurimis). Genaueres ist des27 28 29 30 31 32 33 34 35 36

Athenaios 429 B. Aelian, Varia historia II 38. Platon, Gesetze 798 D. Platon, Timaios 60 A. Plutarch, Nikias 5; Athenaios 669 DE. Tacitus, Annalen XIV 48. Athenaios 695 AB. Tacitus, Annalen II 88. AT. Richterbuch 9, 13. Apuleius, Florida 15,60.

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wegen schwer zu ermitteln, weil die Quellen zu Pythagoras überwiegend kaiserzeitlich sind. Gewiss ist, dass die Pythagoreer als erste einen Zusammenhang zwischen Stoffwechsel und Gedankenwelt gesehen und zur Grundlage ihrer Lebenslehre gemacht haben. Im Laufe seiner Entwicklung habe der Mensch sich immer weitere Nahrungsquellen erschlossen und sei dadurch zugleich immer stärker von ihnen abhängig, von ihnen geprägt worden. So sei die Ernährung sowohl Symptom als auch Ursache für die wachsende Begehrlichkeit. Wir denken an Ludwig Feuerbach (1859), „Der Mensch ist, was er isst“. Typisch sei das am Wein abzulesen: solange der Mensch Herr über den Wein ist, beflügelt dieser die Seele; sobald der Wein Herr über den Menschen wird, lähmt er sie. Dagegen helfe nur eine philosophische Diät. Jamblichos37 erklärt, sie bestünde darin, dass die Pythagoreer nur nachts tränken; Athenaios38 hingegen meinte, sie enthielten sich völlig. Sie äßen nur Brot und tränken nur Wasser und lebten wie in einem Gefängnis. Das erinnert an den Spruch des Pherekydes von Syros39, die Welt sei eine Höhle, ein Kerker (phroura), und an Goethe im Götz: „Die Welt ist ein Gefängnis“. Der Wein erscheint als Befreier aus diesem Kerker. Seit Anakreon trägt Dionysos den Beinamen Lyaios – Erlöser. Enge Übereinstimmung zeigt Platons Weinlehre mit Xenophanes von Kolophon40. Er forderte, Gelage als Gottesdienst zu begehen. Wein hat etwas mit Religion zu tun. In fast allen Religionen spielt der Alkohol eine Rolle. Er erleichtert die Vereinigung mit der Gottheit, das Heraustreten aus dem Körper, die Ekstase. Xenophanes denkt indessen eher pädagogisch. Man solle beim Gelage weder erfundene Mythen singen, noch Heldentaten im Bürgerkrieg preisen. Man lobe die Tugend und lehre die Jugend! Platon41 beschränkte die Musik auf Lobgesänge für bewährte Bürger. Sein pädagogisches Ziel ist mithin bei Xenophanes bereits fassbar. Auch das Maß des Zuträglichen wird bei ihm bestimmt, gemäß der spartanischen Sitte müsse man noch ungeleitet nach Hause kommen. Zwischen dem Bildungswesen und dem Symposion gibt es eine weitere, begriffsgeschichtliche Verbindung. Die Paideia stand unter dem Schutz Apollons und der Musen. Daher wird das Wort musike¯ (techne¯) bisweilen gleichbedeutend mit paideia gebraucht. Wenn sich der Sinn von musike¯ gleich Musenkunst in Musik, Tonkunst verengt hat, so beruht dies auf dem Zusammenhang zwischen Poesie, Musik und Tanz42. Wer keinen Musik37 38 39 40 41 42

Jamblichos, Vita Pythagorae 97 f.; vgl. 69; 107; 188; 205 ff. Athenaios 161 B. Pherekydes von Syros, in: VS. 7 B 6. Xenophanes, in: VS. 21 B 1. Platon, Gesetze 829 DE. Quintilian, Institutio I 10, 9 ff.

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unterricht genossen hatte, wie Themistokles43 oder Kimon44, galt als ungebildet. Die Musik war mit der Kreisbewegung verbunden, einerseits im dithyrambischen Rundtanz der Chorlyrik, andererseits im Symposion, wo im Kreise herum getrunken und vorgetragen wurde. Sokrates schlug beim Gastmahl des Agathon vor, rechtsherum im Kreise den Eros zu loben45. Der Begriff hierfür ist seit Euripides46 enkyklios. Plutarch47 spricht von „musisch und enzyklisch Gebildeten“. Der Ausdruck enkyklios paideia, der unserer „Enzyklopädie“ zugrundeliegt, bedeutet ursprünglich die im Kreise vermittelte Bildung und wurde erst später, bei Quintilian48, im heutigen Sinne als „enzyklopädisch, allumfassend“ verstanden49. Wein hat etwas mit Geist, aber auch etwas mit Politik zu tun. III. Alkohol und Politik Wer Politik machen will, braucht Freunde. Sie gewinnt und erhält man sich, indem man sie beschenkt und bewirtet. Seit Agamemnon gehört es zur Pflicht des Herrschers, als Gastgeber zu glänzen50. Das gilt für die Griechen und ebenso für die Perser, Kelten und Germanen, wo das Gefolgschaftswesen ohne regelmäßige Bewirtung nicht zu denken ist. Bei den Römern war das nicht anders. Caesar kredenzte bei seinem spanischen Triumph dem Volk von Rom die teuersten griechischen Weine51, und diese Sitte haben die Kaiser ebenso beibehalten, wie die Statthalter in den Provinzen. Das silberne Tafelgeschirr war ein gastronomisches Herrschaftsinstrument. Der Weingenuss muss, wie in der Pädagogik, so in der Politik kontrolliert werden. Für einen Herrscher ist die Liebe zum Trunk allemal bedenklich. Der sechste der Sieben Weisen, die sich einmal zu einem legendären Symposion trafen52, Pittakos von Mytilene, empfahl dem Tyrannen Periander von Korinth, den Alkohol zu meiden, damit seine wahre Raubtiernatur nicht ans Licht käme und er den Ruf des treusorgenden Landesvaters nicht verlöre53. Die Athener tadelten die Trunksucht des sonst so beliebten Kimon54. 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54

Cicero, Tuskulanen I 4. Plutarch, Kimon 4. Platon, Symposion 177 D. Euripides, Iphigenie auf Tauris 427 ff. Plutarch, Alexandros 7 ; ders., Moralia 7c. Quintilian, Institutio I 10, 1. Fuchs 1962, S. 369 ff. Homer, Ilias IX 74; 93; XVII 248. Plinius, Naturalis historia XIV 17/97. Plutarch, Moralia 154 D. Athenaios 427 E. Plutarch, Moralia 800 D.

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Dionysios II von Syrakus soll einmal 90 Tage hintereinander betrunken gewesen sein und davon trübe Augen bekommen haben55. Sein Sohn Hipparinos wurde im Rausch ermordet56. Alexander soll in betrunkenem Zustand den Palast von Persepolis angezündet57 und später seinen Retter Kleitos umgebracht haben58. Auch seine Todeskrankheit brach nach einem Bankett aus59. Alexander wurde den größten Trinkern der Antike zugerechnet60. Mit gutem Grund heißt es daher in den Sprüchen Salomonis61: „Nicht den Königen, Lamuel, ziemt es, Wein zu trinken noch den Fürsten starkes Getränk! Sie möchten trinken und der Rechte vergessen und den elenden Leuten Schaden zufügen. Gebt aber starkes Getränk den Sterbenden und Wein den betrübten Seelen“. Wein hat etwas mit Trost zu tun. In Platons Gesetzesstaat müssen die Beamten auf den Wein verzichten. Alle Magistrate, heißt es, sollten während ihres Amtsjahres nüchtern bleiben. Dasselbe hatte Antiphon der Sophist62 gefordert: Der Staatsmann dürfe kein philopote¯s sein und den Wein über die Politik stellen. Große Staatsmänner haben dies beachtet. Themistokles besuchte keine Gelage mehr, als er seine politische Laufbahn begann. Er wollte den Eindruck vermeiden, dass er private Freundschaften über die öffentlichen Angelegenheiten stelle, und in seinen Entscheidungen nüchtern bleiben63. Entsprechend verbietet Platon64 den Wein auch Richtern und Steuermännern zu Schiff. Trunkenheit am Steuer war auch in der Antike gefährlich. Platon will in seiner kretischen Musterstadt auch bei den Beratungen Nüchternheit gewahrt wissen. Plutarch65 meinte, der nykterinos syllogos, der nächtliche Rat, berate beim Wein, aber dies sagt Platon nicht, der somit kein Zeuge für die Streitfrage ist, ob die Sitte, beim Wein zu beraten, persischen oder griechischen Ursprungs sei: Plutarch entscheidet sich für letzteres, verweist auf die Gelage der Thesmotheten und der Prytanen in Athen, auf die Phiditia der Spartaner, die er sich offenbar doch mit Weingenuss vorstellt, und auf die Andreia der Kreter. Schon die Gastereien bei Agamemnon in der Ilias66 deutete Plutarch in diesem Sinne und erklärte, die 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66

Plutarch, Dion 7; Athenaios 435 E. Athenaios 436 A. Curtius V 7, 5. Curtius VIII 1, 22 ff. Plutarch, Alexandros 38; 50 f.; 75 f. Aelian, Varia historia XII 26. AT. Sprüche Salomonis 31, 4 ff. Antiphon, in: VS. 87 B 76. Plutarch, Moralia 800 B. Platon, Gesetze 674 A. Plutarch, Moralia 714 C. Homer, Ilias IX 74; 93.

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am besten regierten, patriotischsten Völker berieten und beschlössen beim Wein. Allerdings kann man mit Alkohol auch den Gegner außer Gefecht setzen, das erlebte Polyphem.67 Anschließend behandelt Plutarch die Frage, ob der Wein in der Politik überhaupt akzeptabel sei. Sein fiktiver Gesprächspartner erklärt, der Wein wecke Leidenschaften wie die Sonne die Schlangen und verunsichere den Verstand. Der Weingegner führt Platons „Kratylos“68 an, wo Dionysos als Weinspender (Didoinysos), und oinos – „Wein“ als Geistnehmer etymologisiert wird: oinos d’hoti oiesthai noun echein poiei to¯n pinonto¯n tous pollous ouk echontas. Wein komme von „Wähnen“, weil die Betrunkenen sich geistreicher dünkten als sie sind. Sie füllten ihr he¯gemonikon, ihr „Leitvermögen“ mit Lärm, wollen sich lieber hören lassen als selber hören, lieber befehlen als folgen. Dieselben Einwände hat der ältere Plinius69erhoben. Für ihn waren die 195 Weinsorten, die man zu Neros Zeit kannte, ein Ausdruck der Dekadenz. Die Natur habe allen Wesen Wasser zum Trinken gegeben. Allein der Mensch bevorzuge ein Getränk, das den Sinn verwirrt und verwandelt, Leidenschaften und Verbrechen auslöst. Indem Menschen etwas tränken, was kein Tier trinke, würden sie selbst zu Tieren. Plinius berichtet von den Trinksitten der Völker, unter denen die Parther das meiste leisteten. Der größte Säufer bei den Griechen sei Alkibiades gewesen; unter den Römern habe Marc Anton diesen Ruhm behauptet, der vor der Schlacht bei Actium sogar ein Buch über seine Leistungen als Trinker verfasst und veröffentlicht habe. Dann aber sei er von einem gewissen Novellius Torquatus aus Mailand, einem Vertrauten des Kaisers Tiberius, überboten worden. Plinius zählt die opera ebrietatis dieses Helden auf, die er vollbracht habe, ohne zu lallen, ohne zu speien, ohne zu pinkeln. Eine Inschrift aus Tivoli belehrt uns, dass es dieser Meistertrinker unter Tiberius bis zum Prokonsul der Narbonensis gebracht hat, dann aber überraschend mit 44 Jahren verstarb70. Aufgrund eines ärztlichen Gutachtens habe dann Tiberius ein Gesetz erlassen, man solle lieber vor als nach dem Essen trinken71, doch hat sich das aus gutem Grunde nicht durchgesetzt. Die Argumente gegen den Wein leuchteten Plutarch nicht ein. Bewusst lässt er das Gespräch über den Wein beim Wein durchführen, so dass die Einwände durch die Situation abgemildert werden. Maßvoll genossen, belebe Wein den Geist, den Mut, die Phantasie – aber auch größere Quanten 67 68 69 70 71

Homer, Odyssee IX 350 ff. Platon, Kratylos 406 C. Plinius, Naturalis historia XIV 28 f./137 ff. Corpus Inscriptionum Latinarum XIV Nr. 3602; Dessau Nr. 950. Plinius 1.c.

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seien unter Umständen zu verkraften. König Philipp habe nach Chaironeia im Rausch wild schwadroniert, als aber die Gesandten der Griechen erschienen, sei er stocknüchtern geworden. Mit Recht trage Dionysos die Beinamen Eleuthereus und Lysias, so wie er auch Eubouleus heiße72. Der Liebe Philipps zum Wein hat sein Gegner Demosthenes die Abstinenz entgegengesetzt. Demosthenes ist unter den bekannten Wassertrinkern73 der berühmteste Antialkoholiker der Antike74. Seine Biographen verbanden dies mit dem mürrischen Wesen des Redners, mit seiner Ungeselligkeit und seinem Eigensinn, sie stellten dem das heitere Wesen seines Widersachers Aischines gegenüber75. Wein inspiriert: Aischylos habe trinkend gedichtet76 – so wie zuvor Anakreon77 und hernach der Archipoeta das getan haben: poculis accenditur animi lucerna/cor imbutum nectare volat ad superna78. Plutarchs Argument, dass der Wein die Hintergedanken offenbare, ist der Sinn des Sprichwortes en oinó alétheia79, in vino veritas. Wein hat etwas mit Wahrheit zu tun. Platon bringt es im Symposion80 in der Fassung: „Wein und Kindermund tun die Wahrheit kund“. Der Gedanke ist alt. Alkaios81 verwendete ihn, er nannte den Wein ein dioptron, einen Spiegel. Philochoros82 meinte, die Trinkenden offenbarten nicht nur ihre eigenen Geheimnisse, sondern auch die der anderen; und Horaz83 schrieb: verax Liber aperit praecordia condita. Bei den Dionysien in Athen soll die Siegesprämie aus einem Dreifuß bestanden haben, weil man im Weine die Wahrheit sage und der Tripous das Attribut des wahrsagenden Apoll sei84. Wieder zeigt sich die aus Platon bekannte Nähe zwischen Dionysos und Apoll. Der Wein verbindet sie. Von einzelnen Völkern wird die Sitte berichtet, beim Trunk zu beraten, sodann das Gesprochene zu überschlafen und am folgenden Tage nüchtern zu beschließen. Eustathios85 bezeugt es für die Skythen, Herodot86 für die 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86

Athenaios 716 B. Athenaios 43/44. Demosthenes VI 30; XIX 46. Philostratos, Vitae sophistarum 507 f.; Plutarch, Moralia 848 C. Athenaios 428 E. Athenaios 429 B. H. Watenphul und H. Krefeld, Die Gedichte des Archipoeta, 1958, S. 75. Zenobios, in: Paroemiographi Graeci I S. 85. Platon, Symposion 217 E. Alkaios, fr. 53; 57 (Bergk) – 153; 173 (Page). Athenaios 37 F. Horaz, Satiren I 4, 89. Athenaios 37 F. Scholien zu Homer, Odyssee III 138, vgl. Ilias IX 70. Herodot I 133.

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Perser und Tacitus87 für die Germanen. Dass die Athener um so klüger wären, je mehr sie getrunken hätten, ist Spott von Aristophanes88. Wir kennen aus der Antike eine Reihe von Beispielen dafür, dass wichtige politische Entscheidungen unter Alkoholeinfluss zustande gekommen sind: die Befreiung Thebens 379 durch Pelopidas von den Spartanern89, die Verschwörung des Civilis 69 n. Chr.90, die Usurpation des Magnentius 35091, der Mord des Eriulf durch Fravitta unter Theodosius92 usw. Die Lex Salica verzeichnet einen eigenen Paragraphen si quis in convivio . . . fuerit interfectus93. Bei den Franken kam das offenbar öfter vor. Alkohol macht gewalttätig und leichtsinnig. Darum hat Platon94 den Kriegern der Magneten im Felde den Wein untersagt. Nach Aristoteles95 gab es ein solches Verbot zwar auch bei anderen Völkern, es steht aber im Gegensatz zu der sonst vielfach bemerkten Vorliebe gerade kriegerischer Völker zum Alkohol. Neben den von Platon selbst genannten Beispielen behauptet Aristoteles96 dies für die Skythen; Tacitus97, Appian98 und Ammianus Marcellinus99 bezeugen es für die Germanen. Wein hat etwas mit Mut zu tun. Unter Pescennius Niger rufen die meuternden Legionäre: vinum non accepimus, pugnare non possumus100. Dass der Trunk mutig macht, dient Macrobius101 zur Erklärung dafür, dass die Römer Mars und Liber Pater identifiziert hätten. Bindeglied ist der Triumph, denn der Thriambos galt als bacchisches Ritual. Liber Pater . . . saepe homines ad furorem bellicumque usque propellit. In Sparta habe das simulacrum Liberi statt des Thyrsos einen Speer getragen. Plutarch102 überliefert eine ägyptische Aitiologie, wonach der Wein seine Kraft daher hat, dass er aus dem Blut entsprossen sei, das beim Kampfe der Titanen (?) gegen die Götter in die Erde geflossen sei103. 87

Tacitus, Germania 22. Aristophanes, Lysistrata 1227 ff. 89 Plutarch, Pelopidas 9 ff. 90 Tacitus, Historien IV 14; 29. 91 Zosimus II 42, 3. 92 Zosimus IV 56. 93 Lex Salica 71/43. 94 Platon, Gesetze 674 A. 95 Aristoteles, Oikonomia 1344 a. 96 Aristoteles, Problemata 72 a. 97 Tacitus, Germania 22. 98 Appian, Bellum civile II 64. 99 Ammian XVIII 2, 13. 100 Scriptores Historiae Augustae, Pescennius 7, 8. 101 Macrobius, Saturnalia I 18. 102 Hekataios von Abdera, in: VS. II, S. 244. 103 Ge ¯ s perihodos bei Plutarch, Moralia 353 BC. 88

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Wein galt in Ägypten als das Blut der Feinde; wer es trinke, gerät in den Siegesrausch. Platon104 lobt das karthagische Weinverbot für Krieger, weil es im Kampfe mehr auf Besonnenheit als auf Draufgängerei ankomme. Das Weinverbot im Stadion von Delphi richtete sich vermutlich mehr an die Zuschauer, an die antiken Hooligans als an die Wettkämpfer105. Die Variante zu in vino veritas lautet ja: in vino feritas. Apuleius106 zitiert einen griechischen Weisen, der genaue Maße angab. Der erste Krug (creterra-krate¯rion) löscht den Durst (sitis), der zweite erzeugt Heiterkeit (hilaritas), der dritte weckt die Lust (voluptas), der vierte bewirkt Irrsinn (insania). Angewandt auf die Rhetorik wirkt der Wein wie folgt: der erste Krug fördert den Elementar-Unterricht, der zweite das Grammatik-Studium, der dritte die Rednergabe. Dann aber trinkt man nicht weiter. Die enthemmende Kraft des Weines hat schon die Sieben Weisen beschäftigt. Als Gesetzgeber seiner Heimatstadt setzte Pittakos auf Straftaten im Rausch die doppelte Buße107. Er achtete weniger auf die subjektive Schuld, die durch den Alkohol vermindert wird, als auf den objektiven Schaden, den der Alkohol vergrößert. Aristoteles108 scheint das zu billigen, aber Platon wäre damit gewiss nicht einverstanden, weil er solchen Straftaten, die unter der Einwirkung von Krankheiten oder Wahnsinn erfolgen oder von Alten oder Kindern begangen werden, mildernde Umstände einräumt109. Im römischen Recht erhöht die im Rausch begangene Tat die Schuld110. Zaleukos setzte bei den epizephyrischen Lokrern auf das Trinken ungemischten Weines die Todesstrafe, es wäre denn auf ärztliches Attest111. Kara ben Nemsi wusste das. Weingenuss macht leicht zuchtlos, darum versagt Platon ihn den Sklaven112. Aristoteles113 ist nicht ganz so streng, empfiehlt aber gleichfalls, Sklaven durch Weinbeschränkung vor Leichtsinn und Ungehorsam zu bewahren. Um politischen Widerstand zu unterbinden, hatte schon der ältere Dionysios in Syrakus die Gelage verhindern wollen. Er verbot sie nicht geradezu, aber er schonte als Richter die Kleiderdiebe114. Da man den Mantel 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114

Platon, Gesetze 674 A. E. Kirsten und W. Kraiker, Griechenlandkunde, 1962, S. 261. Apuleius, Florida 20. Aristoteles, Rhetorik 1402 B; Nikomachische Ethik 13 B 30. Aristoteles, Politik 1274 B. Platon, Gesetze 864 D; 934 A. Auctor ad Herennium II 24. Athenaios 429 A; Aelian, Varia historia II 37. Platon, Gesetze 674 A. Aristoteles, Oikonomia 1344 a. Plutarch, Moralia 175 E.

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beim Symposion ablegte, bot dies Gelegenheit zum Diebstahl. Wer zuviel trank und nicht aufpasste, bestrafte sich selbst. Das Motiv des Weinverbotes für Unterschichten wird durch eine äsopische Fabel115 illustriert: Die Führer der Mäuse im Krieg mit den Wieseln konnten wegen ihrer großen Kopfzier nicht in die Löcher flüchten und wurden gefangen. Die Lehre lautet: wenn das Volk gedrückt wird und Führer den Aufstand leiten, müssen diese dran glauben. diese Fabel werde an die Wände der Wirtshäuser gemalt, historia in tabernis pingitur, dient also dazu, den Geist des Aufruhrs zu dämpfen. Philostrat116 motivierte das Verbot Domitians, außerhalb Italiens Wein anzubauen117, damit, dass er die Provinzialen rebellisch mache. In Rom war den Sklaven der Weingenuss nicht gestattet118. Ein Weinverbot für Frauen ist aus Milet und aus Massilia überliefert119. Auch den Römerinnen war der Wein untersagt120. Nach Polybios erfanden die Römer den Kuss, um festzustellen, ob ihre Frauen nüchtern waren121. Ein Römer, der seine Frau beim Weintrinken ertappt und erschlagen hatte, soll von Romulus freigesprochen worden sein122. Alkimos aus Sizilien erzählt, eine Frau aus Kroton habe dem durstigen Herakles einen Trunk Wein verweigert, worauf der Heros das Weinfass in Stein verwandelt habe: eine Legende, die erklärt, weswegen die Frauen Italiens überhaupt keinen Wein tränken123. Den Spartanerinnen war, wenn überhaupt, nur verdünnter Wein gestattet124. Dass die griechischen Frauen gewöhnlich mitzechten, bemerkt Athenaios125: philoinon to tón gynaikón genos koinon, „Frauen lieben gewöhnlich den Wein“, und nennt die berühmtesten Trinkerinnen mit Namen126. Der Gesetzgeber Zaleukos aus Lokroi bestimmte, eine freie Frau dürfe sich nicht von mehr als fünf Sklavinnen begleiten lassen, außer sie wäre betrunken127. Platons gleichnamiger Zeitgenosse beschreibt in seiner Komödie „Phaon“ die Weinseligkeit der Frauen in einer Folge obszöner Anspielungen128. Für strenge Sittenrichter war das Weintrinken von Frauen 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128

Phaedrus IV 6. Philostratos, Vitae sophistarum 520. Sueton, Domitian 7, 2. Athenaios 429 B. Athenaios 429 AB; Aelian, Varia historia II 38. Athenaios 429 B; 440 E nach Polybios; Aelian, Varia historia II 38. Athenaios 440 F. Plinius, Naturalis historia XIV 14. Athenaios 441 A. Xenophon, Staat der Lakedaimonier 1, 3. Athenaios 440 DE. Vgl. Aelian, Varia historia II 41. Diodor XII 21. Athenaios 441 E ff.

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anstößig, aber verhindern konnte man es nicht. Nach Herodot129 nahmen auch bei den Persern Frauen am Gelage teil. Der Weingenuss der Frauen unterliegt bei Platon einer Einschränkung. Da er für die Magneten in Kreta gesunden Nachwuchs wünscht, fordert er von den Heiratenden und den Eltern überhaupt, vor der Zeugung auf Weingenuss zu verzichten. Hat Wein etwas mit Erbgesundheit zu tun? Der Rausch sei dem künftigen Kinde schädlich, an Leib wie an Seele. Platon begründet das medizinisch130, doch ist die Vorschrift ursprünglich wohl kultisch. Wir kennen sie aus dem Alten Testament. Im 13. Kapitel des Richterbuches wird die Geburt Simsons erzählt. Der Engel des Herrn erscheint seiner Mutter und verkündet ihr: „Du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären. So hüte dich nun, dass du nicht Wein noch starkes Getränke trinkest und nichts Unreines essest“. Der Heiratspolitik widmet Platon große Aufmerksamkeit, denn durch Eheverbindungen werde die Polis zusammengehalten. Sein Bild ist der Mischkrug: Wasser mit Wein ist bekömmlich, so sollen auch die Bürger sich mischen. Reiche sollen Arme heiraten, Starke Schwache, Behende Behutsame. Dieses Gesetz – es widerspricht dem Prinzip „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ – werde zuerst Unwillen wecken, die Leute würden schäumen wie Wein beim Mischen, dann aber gebe es das beste Getränk131. Die Metapher wurde zum Sinnbild, als Alexander nach der Meuterei von Opis die Versöhnung der Makedonen und Perser durch ein Gelage besiegelte, bei dem die Streitenden aus demselben Krater tranken132. Im Alexanderroman133 berichtet der König seiner Mutter Olympias von einem ungeheuren Goldgefäß, das aus der Perserbeute von Susa stammte und möglicherweise in Opis benutzt wurde134. Auch von anderen Orten gibt es Belege: Zum panionischen Fest in Smyrna gehörte ein Trunk aus dem großen Liebeskrug135. Die gemeinschaftsstiftende Kraft des Weinkelches kennen wir aus der griechischen136 wie aus der christlichen Symbolik. Eine metaphorische Verwendung der schädlichen Wirkung des Weines begegnet in der „Politeia“137. Im Zuge seiner Demokratiekritik schreibt Platon: „Wenn die demokratische Polis in ihrem Durst nach Freiheit unersätt129 130 131 132 133 134 135 136 137

Herodot V 18. Platon, Gesetze 775 BC. Platon, Gesetze 773 D. Arrian VII 11, 8. Pseudo-Callisthenes, Alexanderroman II 28. W.W. Tarn, American Journal of Philology 60, 1939, S. 66. Philostratos, Vitae sophistarum 612; ders., Vita Apollonii IV 5 f. Plutarch, Moralia 825 B. Platon, Staat 562 CD.

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lich wird und in die Gewalt eines bösen Schankwirtes gerät, dann berauscht sie sich am ungemischten Wein der Freiheit und wird zügellos“138. Ebenso kann man sich an der Macht berauschen auf die, gemäß Platon139, die großen Staatsmänner das Volk von Athen süchtig gemacht hätten. Es wäre die Aufgabe von Themistokles, Kimon und Perikles gewesen, das Volk zu bessern – aber diese Erziehung habe man versäumt, und das Ergebnis liege nun vor. Wein hat etwas mit Freiheit zu tun. Die Metapher vom Freiheitsdurst kennt auch Livius140 Platons Oinologie ist in seiner Schule lebendig geblieben, wie Athenaios141 bezeugt: Der Akademiker Polemon riet allen, die zum Essen gebeten würden, den nächsten Tag zu bedenken und nicht zu viel zu trinken. Timotheos, der Sohn Konons, gewöhnt an üppige Gelage, wie man sie Feldherren gab, wurde von Platon zu einem Symposion in die Akademie eingeladen, dort einfach und musisch (musikós) bewirtet und sagte: Platons Gäste fühlen sich auch am Tage danach wohl. Hegesander berichtet, Timotheos habe Platon am folgenden Tage getroffen und ihn deswegen gelobt. Hegesander ist der einzige nachweisbare Autor neben Platon, der in seiner Schrift über den besten Staat (hé aristé politeia) auf das Symposion eingegangen ist. Erhalten sind nur seine Bemerkungen zum Kottabos-Spiel beim Wein142. Die Verbindung zwischen Symposion und Bildung blieb bis in die Spätantike erhalten. Eunap rühmt die philosophischen Gelage eines Reichspräfekten143. Auch Platons Lehre blieb lebendig. Ein Zeugnis dafür findet sich in den Saturnalien des Macrobius144. Nach dem Gespräch sagt Evangelus: „Lasst uns, bevor wir auseinandergehen, dem Wein zusprechen, was wir dem Gebote Platons gemäß dürfen. Denn er hat den Wein, der Geist und Körper erwärmt, gepriesen“. Um hier aber kein Missverständnis aufkommen zu lassen, bemerkte der Mitredner: „Trinken wir, aber mit Maß, unter Aufsicht und aus kleinen Bechern“. als Warnung stand vielleicht das Ende des Stoikers Chrysippos 207 v. Chr. dahinter: er hatte süßen Wein unvermischt getrunken, war im Taumel gestürzt und gestorben145. So wie Li Tai Pe. Der Wein ist in der antiken Literatur kein bloß kulinarisches Thema, vielmehr hat es auch seine politische und pädagogische, religiöse und philoso138 139 140 141 142 143 144 145

Zum „Wein der Freiheit“: Plutarch, Lysander 13, 5; Athenaios 441 A. Platon, Gorgias 519 A. Livius XXXIX 26. Athenaios 419 CD. Athenaios 479 D. Eunapios, Vitae sophistarum 491. Macrobius, Saturnalia II 8, 4 ff. Diogenes Laertios VII 184.

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phische Dimension – nicht nur in der Antike. Die Lehre, die ich daraus ziehe, denn der Wein hat auch etwas mit mir zu tun, lautet: Da gewiss die weisen Alten mit der Regel Recht behalten, Est in vino veritas, trinke ich das edle Nass nicht, um meinen Durst zu stillen, sondern um der Wahrheit willen.

Literatur Durry, M.: Les femmes et le vin. Revue des Etudes Latines 33, 1955, S. 108 ff. Fuchs, H.: Enkyklios Paideia, Reallexikon für Antike und Christentum V, 1962, S. 369 ff. Hagenow, G.: Aus dem Weingarten der Antike. Der Wein in Dichtung, Brauchtum und Alltag, 1982. Hehn, V.: Kulturpflanzen und Haustiere, 1911. Koller, H.: Enkyklios Paideia, Glotta 34, 1955, S. 174 ff. Kunst der Schale – Kultur des Trinkens: Ausstellungskatalog München 1991. Murray, O.: Sympotica. A. Symposium on the Symposium, 1990. Seltman, C.: Wine in the Ancient World, 1957. Schmitt-Pantel, P.: La cité au banquet. Histoire des repas publics dans les cités grecques, 1992. VS = H. Diels und W. Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker, I–III, 1934–1937.

„Die möglichst schöne und zumal beste Tragödie“ Über den geschichtsphilosophischen Hintergrund der Nomoi Von Damir Barbaric´ Der bestimmende Horizont von allem, was in den Nomoi dargelegt wird, und der Hintergrund, vor dem der tragende Sinn des gesamten Werks aufleuchtet, ist wohl die Zeit, und zwar in ihrer unermesslichen „Länge und Unendlichkeit“ (mÇkouò te ka˝ ÷peirûaò, Nom. 676a81). Im letzten Werk Platons ist die Zeit nicht in erster Linie das bewegte, genauer der Zahl gemäß unaufhörlich kreisende Bild der in Einem bleibenden Ewigkeit, wie sie im Timaios bestimmt wird. Alles, was in den Nomoi dargelegt wird, setzt den Horizont nicht einer solchen, vorwiegend kosmologisch orientierten ‚Himmelzeit‘ voraus, sondern einer anderen, die vielleicht am entsprechendsten als eine ihrem Wesen nach qualitative, und d.h. immer schicksalhafte ‚Lebens-‘ bzw. ‚Erdenzeit‘ zu bestimmen ist.2 Darunter ist zum ersten eine solche Zeit zu verstehen, von der ein Lebewesen jeweils unmittelbar angegangen wird. Zum zweiten ist diese Zeit sowohl in beiden Richtungen, nämlich auf Vergangenheit sowie auf Zukunft hin, als auch in jedem Augenblick der jeweiligen Gegenwart durch den 1 Die Nomoi-Zitate stammen aus: Platon: Nomoi (Gesetze). Buch I–III (Platon Werke IX 2). Übersetzung und Kommentar von Klaus Schöpsdau, Göttingen 1994, und: Platon: Nomoi (Gesetze). Buch IV–VII (Platon Werke IX 2). Übersetzung und Kommentar von Klaus Schöpsdau, Göttingen 2003. Bei den Bücher VIII–XII wird in der Regel zitiert nach der Übersetzung von Hieronymus Müller: Platon: Sämtliche Werke, Bd. 6: Nomoi. Nach der Übersetzung von Hieronymus Müller mit der Stephanus-Numerierung herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grassi, Gert Plamböck, Berlin 1959. Der zugrundegelegte griechische Text nach der Ausgabe Burnets: Platonis Opera. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit Ioannes Burnet, Tomus V, Oxford 1907. 2 Insofern kann vielleicht gesagt werden, dass Platon in seinem letzten Werk auf die ursprüngliche griechische Erfahrung der Zeit zurück kommt bzw. sie wieder aufnimmt. Vgl. Georg Picht: Platons Dialoge „Nomoi“ und „Symposion“, Stuttgart 1990, S. 138: „Nun ist aber die Zeit, so wie sie Platon, im Unterschied zu Aristoteles, verstanden hat, etwas anderes als das bloß abstrakte Verstreichen. Die Zeit wird vielmehr bei Platon, wie überhaupt im frühen und klassischen Griechentum, aktiv als eine Macht verstanden, die das Verborgene ans Licht bringt und das, was im Licht steht, wieder verschlingt.“

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Charakter der Unermesslichkeit und damit der Unverfügbarkeit bestimmt (vgl. ÷plhstün ti ka˝ ÷mÇxanon, Nom. 676b7). Demnach ist die unermessliche Weite dieser Zeit nicht als ein ewiger gleichmäßiger Lauf zu fassen. Im Gegenteil ist sie innerlich gegliedert in relativ geschlossene Epochen, die voneinander qualitativ verschieden sind. Obwohl jeder dieser Epochen eine allen anderen verhältnismäßig ähnliche Struktur zueigen ist, wird doch eine jede durch eine eigene, nur ihr eigentümliche Grundfassung maßgeblich bestimmt. Daher sind die Übergänge von einer dieser Epochen zu der anderen keine ruhigen, gleichsam harmlosen Anknüpfungen. Vielmehr ereignen sie sich als ungeheuere, alles erschütternde kosmische Katastrophen, in der die meisten der bisherigen Lebewesen vernichtet und nur wenige unter ihnen gerettet werden. Die schwer nachvollziehbare Geschichtsauffassung des späten Platon kann am ehesten als die stufenartig gegliederte Kombination der zyklischen und der geradlinig fortlaufenden Zeit bestimmt werden.3 Demnach bewegt sich die dem Himmel bzw. der Weltseele eigene immerwährende Zeit im vollkommenen Kreislauf, während die Zeit des Erdenbereichs, worin das Entstehen und Vergehen bzw. das endliche Leben stattfindet, eine Kombination des Kreisförmigen und Linearen ist. Obwohl die den Lebewesen innewohnenden Seelen an sich unsterblich sind und ihr immerwährendes Leben in den geschlossenen Perioden verbringen, wird jede einzelne Seele, die sich zu einem Körper gesellt und mit ihm zu einem sterblichen Ganzen zusammenwächst, eben damit dem ewigen Kreislauf entzogen und verfällt der todbringenden, gerade laufenden Bahn zwischen der Geburt und dem Tod. Allgemein gesehen, vollzieht sich die Zeit der Erde in einem ewigen, wenn auch von dem kosmischen Grundgesetz immer teilweise abweichenden und durch die ständig wiederkehrenden Katastrophen vorübergehend gestörten Kreislauf. Im Unterschied dazu schreitet die Zeit innerhalb einer besonderen Epoche der Erdengeschichte, die ihren Anfang und ihr Ende jeweils durch eine große Naturkatastrophe hat, mehr oder weniger geradlinig fort, und zwar immer nach demselben Muster der Entwicklung, der gemäß aus den dürftigen Anfängen das immer reicher Entfaltete und Vielfältigere entsteht. 3 Vgl. Günter Rohr: Platons Stellung zur Geschichte, Berlin 1932, insbes. S. 104. Zurecht weist Hans Herter: Gott und Welt bei Platon, Bonner Jahrbücher 158, 1958 (Festschrift Franz Oelmann), S. 106–117, jetzt in: Hans Herter: Kleine Schriften. Hrsg. von Ernst Vogt, München 1975, 316–329; hier: S. 329 mit Anm. 53, darauf hin, dass die Zeit für Platon trotz seinem „zyklischen Denken“ „monodrom [ist], denn die Periodizität bedingt keine ewige Wiederkunft, sondern lässt der Variabilität Raum, wie schon die Fortdauer des Menschengeschlechts wenigstens in Resten über alle Katastrophen hinweg erweist . . .“

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Dieses zwar vereinfachte, aber vielleicht einigermaßen übersichtliche Gesamtbild der Platonischen Ansicht von Zeit und Geschichte, die dann im Wesentlichen von Aristoteles übernommen wird und für die nachkommende Geschichtsschreibung maßgeblich blieb, ist aber noch nicht vollständig. Was fehlt, ist ein besonders wichtiger Bestandteil, der nur Platon eigentümlich ist und von dem er selbst nur einmal, und zwar nur in der mythischen Sprache gesprochen hat. Der große und in mancher Hinsicht befremdliche Mythus im Politikos, der wie bekannt schon in der Antike nicht weniger als heute als ein Prüfstein und Kreuzweg für die Interpreten galt4, erzählt nicht von den immer wieder sich ereignenden innerweltlichen Katastrophen, sondern von einer ganz eigenartigen Katastrophe der Welt im Ganzen, genauer von einer vollständigen Umkehr ihres Kreislaufs. Die schicksalhafte Notwendigkeit dieser Umkehr legt Platon in einem hoch spekulativen Gedankengang und gleichsam deduktiv dar (Polit. 269d5–270a6). Da die Welt in der Gemeinschaft mit dem Körper entstanden ist, ist es für sie unmöglich, ohne Anteil an der Bewegung zu sein. Um dem am meisten Göttlichen, das sich immer in derselben Hinsicht auf dieselbe Weise verhält, möglichst ähnlich zu sein, hat die Welt von ihrem göttlichen Schöpfer die Kreisbewegung bekommen, die sie jedoch nicht aus eigener Kraft vollbringt, sondern die ihr immer wieder von der sie bewegenden und leitenden Weltseele verschafft wird. Da aber das Gefüge der Welt in sich außer der Seele auch das Körperliche enthält, muss auch diesem Körperlichen die Möglichkeit eingeräumt werden, sich an der Laufbahn der Welt zu beteiligen. Daraus folgt, dass es grundsätzlich nur zwei völlig verschiedene Weltalter geben kann. In einem wird die Welt von ihrem göttlichen Urheber geführt und beherrscht, während sie in dem anderen sich selber überlassen wird, um von sich und durch sich weiter bewegt zu werden. Im ersten Zeitalter bleibt der Kreislauf der Zeit noch einheitlich und geht nicht in die Dimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinander. Hier erlangt die Welt ihr Leben und ihre Unsterblichkeit noch von ihrem göttlichen Vater. Alles, was die Lebewesen brauchen um zu überleben, ergibt sich hier von sich. Selbst der Anfang ihres Lebens ereig4 So ist dieser Mythus z. B. für Alfred E. Taylor: A Commentary on Plato’s Timaeus, Oxford 1928, S. 79, nur ein „fanciful Orphic myth“, und für John A. Stewart: The Mythes of Plato, London 21960, S. 197, eine „fanciful story“. Dementgegen gehört er etwa für Herter, S. 329, „zum Genialsten und Grandiosesten in seinem [sc. Platons] Werk“. Es ist das Verdienst Herters, entgegen einer Reihe von bedeutsamen Interpreten (z. B. Proklos, Susemihl, Theiler, Festugière) und in Anlehnung an Plutarch und Stallbaum die reale, nicht bloß formelle und methodische Bedeutung des kronologischen Moments im Mythus überzeugend nachgewiesen zu haben. Vgl. Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule, Stuttgart 21968, S. 284 ff.

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net sich von selbst und ohne ihr eigenes Tun, denn das Leben geben sie nicht einander durch Zeugung und Geburt, sondern ein jedes entspringt zum Leben unmittelbar aus der Erde. Aller Sorge für das eigene Leben entledigt, verbringen die Menschen dieses Zeitalters ihr Leben in voller Geborgenheit der seligen Muße, ohne Frauen und Kinder, ohne Eigentum, ohne irgendwelche Kunst und Arbeit. Wenn die vom Schicksal bestimmte Stunde der großen Umkehr kommt, lässt der Gott das Steuer der Welt aus der Hand und zieht sich zu seiner Beobachtungsstelle zurück, während die Welt, von der angeborenen Begierde geleitet, in der umgekehrten Richtung zu kreisen beginnt. Auch die anderen Gottheiten, die mit dem höchsten Gott Kronos zusammen bisher die Welt überwacht und um sie gesorgt haben, ziehen sich allmählich zurück und überlassen die Welt sich selber. In der Welt, die jetzt über sich und über alles, was es in ihr gibt, frei verfügt, bleibt das Gedächtnis an den Gott und seine Führung zunächst noch bewahrt, so dass die Folgen dieser „größten aller Umschläge“ (Polit. 207c) für eine lange Zeit nicht zum Vorschein kommen. Im weiteren Zeitverlauf fällt aber der göttliche Ursprung der Welt immer mehr in die Vergessenheit, während das Körperhafte (t˛ swmatoeidÇò, Polit. 273b4) in dem Weltgefüge, nämlich die ursprüngliche Ungeordnetheit und Ungefügtheit (÷tacûa, ÷narmostûa), die der weltschaffende Gott ehemals, wie es im Timaios heißt, vernünftig überreden musste, um die Welt zu regeln und zu gestalten, immer mehr zur Herrschaft kommt. Von der immer kräftiger und unersättlicher werdenden Begierde (ýpiffiumûa, Polit. 272e6) in Richtung auf dieses allererste Chaos geleitet, wird die Welt immer wegloser und verfällt immer mehr der Gefahr der Vernichtung (diaðffiorÜ, Polit. 273d3). Am Ende kommt sie sogar zu dem Punkt, wo ihr, wenn der Gott nicht wieder rettend einspränge, nur noch ein Versinken ins grenzenlose Meer der Unausgeglichenheit bevorstehen würde (Polit. 273d6).5 Wie die Welt im Ganzen müssen in diesem Zeitalter der Selbstständigkeit auch alle sie bewohnenden Lebewesen die Sorge um sich auf sich selbst nehmen. Erst jetzt beginnen sie durch die Geburt ans Leben zu kommen, 5 Insofern fällt es schwer, der stark verharmlosenden These von Luc Brisson: Vernunft, Natur und Gesetz im zehnten Buch von Platons Gesetzen, in: Aleš Havlícˇek u. Filip Karfík (Hrsg.), The Republic and the Laws of Platon. Proceedings of the First Symposium Platonicum Pragense, Prague 1998, S. 182–200, zuzustimmen, nach der eine Lehre Platons vom „Wechsel von Ordnung und Unordnung“ nicht bestehen kann, „weil die Weltseele nur der Wahrheit und der Gutheit fähig ist“ (S. 192). Zum Teil in Anlehnung daran meint Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1/2: Die Griechen. Von Platon bis zum Hellenismus, Stuttgart/Weimar 2001, S. 78, dass es rätselhaft bleibt, „ob Platon im Ernst eine gottverlassene Welt darstellen wollte“. Auch Ottmann neigt dazu, eine solche Möglichkeit zu bestreiten, da sie „mit seinem Denken absolut unverträglich“ wäre. Konsequent spricht Ottmann weiterhin nur von einer „relativen Abwesenheit des Gottes“.

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erst jetzt, da sich nichts mehr von sich gibt und darreicht, entsteht die Notwendigkeit von Ackerbau und anderen Künsten. Der göttlichen Fürsorge verlustig gegangen, sind die Menschen jetzt gezwungen, die Herrschaft über sich selbst zu nehmen und zu diesem Zweck die politische Kunst zu üben. (Polit. 274de) Das alles soll in Betracht gezogen werden, will man das letzte Werk Platons vor seinem eigenen Hintergrund verstehen. Die erste Bedingung dafür macht die Einsicht aus, dass Platon seine Gegenwart als eine solche Zeit erfährt, die im Wesentlichen dem vom Gott verlassenen Weltalter angehört. Auch seine umfangreiche Beschäftigung mit einer Art mythischer Geschichte, die in der geplanten und nicht vollendeten späten Trilogie Timaios, Kritias, Hermokrates zur Gestaltung kommen sollte, entspringt dieser Überzeugung. Es ist naheliegend, die im Kritias geschilderten Weltmächte Atlantis und Ur-Athen am Anfang des im Politikos-Mythos geschilderten zweiten Weltalters zu verorten, wo sich die Welt „der Möglichkeit nach immer noch an seinen Demiurg und Vater erinnert“ (Polit. 273b).6 Vermutlich hat der alte Platon die für Hermokrates geplante Darstellung der wachsenden Degeneration im Laufe der Zeit zwischen diesem Anfang des gottverlassenen Zeitalters und seiner eigenen Gegenwart aufgehoben zugunsten des Versuchs, in seinem letzten Werk Nomoi eine mögliche Verwindung desselben Zeitalters vorzubereiten.7 Demgemäss wird am Anfang des dritten Buches als das Hauptthema des ganzen Werks die unendliche Weite und Grenzenlosigkeit der Zeit samt der in ihr sich ereignenden Umschläge bestimmt (Nom. 676a5–8). Darüber hinaus weist Platon auf den großen Mythos aus Politikos als den wahren Hintergrund von allem, was im Werk folgt, durch eine anscheinend beiläufige Anspielung hin. Denn der Ort des Gesprächs ist der Weg nach der Kretischen Höhle, wo der Überlieferung nach die Göttin Rea ihr Kind Zeus versteckt hat und wo er erwachsen und stark genug geworden ist, um von seinem Vater Kronos gewaltsam die Herrschaft über die Welt zu übernehmen. Gerade der Umschlag der Kronos-Herrschaft zu jener des Zeus ist der Anfang des gegenwärtigen Weltalters. Der Gang der drei sich unterhaltenden Greise zur Höhle des Zeus ist demnach als Gleichnis für den forschenden Rückgang der Philosophie zum Ursprung des gegenwärtigen Zeitalters zu verstehen, um daraus Sinn und Bedeutung dieses Zeitalters zu erkennen. Als die Zeit des Gesprächs wird der Tag der Sommerwende, genauer der Tag der Umwandlung Gottes (tofl ffieofl trepomÍnou, Nom. 683c5), er6

Paul Friedländer: Platon, Bd. 1: Seinswahrheit und Lebenswirklichkeit. Dritte durchgesehene und ergänzte Auflage, Berlin 1964, S. 214. 7 Francis M. Cornford: Plato’s Cosmology. The Timaeus of Plato, London 1977 (11937), S. 7.

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wähnt, was vor dem Hintergrund des Politikos-Mythos als der schicksalhaft bestimmte Zeitpunkt zu deuten ist, in dem Kronos die Welt verlässt und sich von ihr zurückzieht, von allen anderen älteren Gottheiten, Dämonen und Heroen gefolgt. Von der Sommerhitze der unmittelbaren Nähe des Göttlichen kehrt sich jetzt die Welt zur Kälte des Winters (ebd.), wo ihr ein langer Weg in Einsamkeit und wachsender Verlassenheit bevorsteht. Vom klaren Bewusstsein des unabwendbaren Schicksals, unter dem das gegenwärtige Weltalter steht, ist das letzte Werk Platons vollständig geprägt. Denn wie alles Wesentliche ist auch die Politik beim späten Platon nicht im Licht eines anscheinend zeitlosen ‚An-sich‘ zu denken, sondern immer nur ‚perspektivisch‘, d.h. in Hinsicht auf die jeweilige geschichtliche Epoche, im Horizont derer allein alle darin vorkommenden Phänomene angemessen zu verstehen sind.8 Jetzt, von diesem neugewonnenen wesentlich geschichtlichen Standpunkt, erscheint die den unbedingten Anspruch auf eine ‚Umkehr der ganzen Seele vom Werden zum Sein‘ erhebende und sich auf dem ‚höchsten Lehrgehalt‘ gründende Politeia als ein solcher Staat, den allein „Götter oder Göttersöhne bewohnen“ können (Nom. 739d6; vgl. 948b5). Jetzt tut es Not, nicht mehr nach diesem, sondern nach einem anderen, zweitbesten Staat zu suchen, dessen Ansprüche für das jetzige Geschlecht nicht zu hoch sind und der für die Menschen, wie sie jetzt sind, erträglich sein soll. (Nom. 740a1)9 Auch sonst ist das Wort „jetzt“ im Werk immer wieder zu hören: „Da wir aber nicht, wie die alten Gesetzgeber, welche, wie jetzt die Sage geht, Göttersöhnen, den Heroen, Gesetze geben, und, selbst von den Göttern stammend, diese für andere desselben Ursprungs aufstellen, sondern da wir jetzt als Menschen Menschen Entsprossenen Gesetze geben . . .“ (Nom. 853c2–7; vgl. 875c1–d5) Mit dem Blick auf die Wahrheit der eigenen geschichtlichen Epoche lässt Platon die einschränkenden Worte fallen: „denn mit Menschen sprechen wir und nicht mit Göttern“ (Nom. 732e3). In Hinblick auf die Grundverfassung des gegenwärtigen Zeitalters gilt es vor allem, das Wesen des Menschen neu zu bestimmen. Dabei soll, der we8 Vgl. Lewis Campbell: The Sophistes and Politicus of Platon, Oxford 1867, S. XXVIII: „The chief motive of the fable is to recall the mind from reseting in a mere abstract ideal. ‚We are not living in the golden age‘: that is, in forming our conception of true statesmanship we must take account of the imperfect conditions of the actual world.“ 9 Francisco Lisi: Die Stellung der Nomoi in Platons Staatslehre, in: Aleš Havlícˇek u. Filip Karfík (Hrsg.): The Republic and the Laws of Platon. Proceedings of the First Symposium Platonicum Pragense, Prague 1998, S. 89–105, insbes. S. 101: „Die Nomoi sind also ein Vorschlag für diese Zeit, einer der verschiedenen möglichen Vorschläge.“ Vgl. Apostolos L. Pierris: The Metaphysics of Politics in the Politeia, Politikos and Nomoi Dialogue Group, ebd., S. 117–145, insbes. S. 143.

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sentlichen Vorherrschaft der Begierde im jetzigen Zeitalter gemäß, auch beim Menschen, als dem Gefüge von Seele und Körper, dem Körper selbst, sowie dem an der Seele, was dem Körper am nahesten liegt, nämlich der Begierde, der Lust und dem Schmerz, eine viel größere Bedeutung zugemessen und anerkannt werden. Daher die neue, für das gesamte Werk maßgebliche Grundbestimmung des Menschen: „Etwas wesenhaft Menschliches sind nun vor allem Lust und Schmerz und Begierden, an denen zwangsläufig jedes sterbliche Wesen geradezu wie festgebunden und aufgehängt ist mit seinen stärksten Neigungen.“ (Nom. 732e4–7) Vom Standpunkt des einzelnen sterblichen Lebewesen gesehen, erscheinen jetzt Schmerz und Lust als das Tiefste und Grundlegendste schlechthin: „Wenn aber Menschen über Gesetze eine eingehendere Betrachtung anstellen, dann gilt fast die ganze Betrachtung den Lust- und Schmerzgefühlen in den Städten wie in den Gemütern der Einzelnen. Denn diese beiden Quellen lässt die Natur frei dahinströmen, und wer aus ihnen schöpft, wo und wann und soviel sich gehört, der ist glücklich, und zwar eine Stadt ebenso wie ein einzelner Mensch und überhaupt jedes Lebewesen; wer das aber ohne Verstand und ohne rechtes Maß tut, der wird wohl ein jenem entgegengesetztes Leben führen.“ (Nom. 636d7-e3) Da das gegenwärtige Zeitalter immer weniger durch die kreisläufige Ewigkeit und immer mehr durch die geradlinig ins Unendliche fortschreitende, in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinandergehende Zeit bestimmt wird, soll jetzt neben Begierde, Lust und Schmerz auch die Zeit, und zwar diese geradlinig fortlaufende, als das Wesentliche am Menschen erklärt werden: „Nun ist das Menschengeschlecht etwas, das mit der gesamten Zeit zusammengewachsen ist und das sie unaufhörlich begleitet und begleiten wird . . .“ (Nom. 721c2). Im Einklang mit der Welt, die im gegenwärtigen Zeitalter selbst um das eigene Leben sorgen muss und daher stets darauf aus ist, sich vor der Ungewissheit und Bedrohlichkeit der künftigen Zeit immer schon im voraus zu sichern, strebt auch der Mensch dieser Epoche in erster Linie danach, für sich als das Individuum durch die Arbeit und für die eigene Gattung durch die Zeugung und Geburt das möglichst lange dauernde Leben zu sichern. Daher die zentrale Rolle, welche die Zukunft bei diesem Menschen spielt, wie dies in der Weiterführung des Gedankens, dass die Lust und der Schmerz, diese beiden „unvernünftigen Ratgeber“, das Wesentlichste an jedem Menschen ausmachen, festgestellt wird: „Und neben diesen noch Meinungen über das Künftige, deren gemeinsamer Name ‚Erwartung‘ ist; der besondere Name lautet ‚Furcht‘ für die Erwartung, die dem Schmerz, und ‚Zuversicht‘ für diejenige, die dem Gegenteil vorausgeht. Zu diesen allen kommt noch die vernünftige Überlegung, was denn von dieser besser oder schlechter sei, welche, wenn sie zur gemeinsamen Überzeugung einer Stadt geworden ist, ‚Gesetz‘ heißt.“ (Nom. 644c9–d3)

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Das zumeist und in erster Linie Menschliche im gegenwärtigen Zeitalter ist also das Gefüge von Begierde, Lust und Schmerz, die alle wesentlich bestimmt sind durch die unbedingt zu sichernde Zukunft im Horizont der unaufhörlich fortgehenden, stets kommenden und gleich vorübergehenden Zeit. Erst ein solcher Mensch, der Mensch einer derart nackten, ganz unverhüllten Bedürftigkeit, stimmt mit der die Welt jetzt allein bewegenden kosmischen Begierde vollständig überein. Daraus erhellt auch warum die Lust in den Nomoi ein zentrales Thema ist. Denn in der Welt, die in einer Art geschichtlicher Trägheit mindestens an der Oberfläche immer noch nach den alten Gewohnheiten und Sitten lebt und sich weigert, das, was ihr in diesem neuen Zeitalter zugrunde liegt und alle ihre Bahnen leitet, auch nur wahrzunehmen, woraus ihre wachsende Hilflosigkeit angesichts der Kraft dieses Neuen entspringt – die Stellung, die in Nomoi durch die beiden ehrwürdigen Greise aus Sparta und Kreta vertreten wird –, kommt alles darauf an, die im Wechselspiel von Lust und Schmerz steckende Begierde zu entschleiern und als eben das nachzuweisen, wovon die gegenwärtige Welt letztendlich einzig beherrscht und geführt ist. Der Forderung aus der Politeia treu, dass auch der, der zur Schau des Guten gestiegen ist, zurück in die Höhle kehren muss, um dort mit den anderen des eigenen Geschlechts das Schicksal zu teilen, besteht der alte Platon in seinem letzten Werk darauf, dass sich auf Erstaunen aller, die mit der Sache nicht vertraut sind, „jemals ein Mensch freiwillig in einen ganz schlimmen Zustand stürzen soll“ (Nom. 646b5). Es gilt, sich ohne den mindesten Vorbehalt der vollen Kraft der Lust zu öffnen und „inmitten in sie“ (Nom. 634a9) zu treten, um sie dort erst zu bekämpfen und möglicherweise auch zu besiegen. Weder die Blindheit in bezug auf die Lust, woraus eine unbewusst bleibende Verknechtung durch sie entspringt, wie es in Kreta der Fall sei, noch die Spartanische Askese und der gewaltsame Verzicht auf die „größten Lustgefühle und Vergnügungen“ (Nom. 635b5) lässt die vollkommene und höchste Tugend entspringen, die allein imstande ist, den Sieg im größten und schwierigsten Krieg zu erringen, aus dem erst der echte Frieden und die wahre Freundschaft entstehen könnte. In Bezug auf die Lust ergibt sich daher als unausweichlich, „diese Gepflogenheit des Rausches [zu] kosten und ihr nicht mit aller Kraft nach Möglichkeit aus dem Weg [zu] gehen“ (Nom. 649d8). Die Erfahrung der vollen Kraft der Lust wird am besten im Weinrausch gemacht. Denn durch den Wein fließt den Lüsten, Schmerzen, Begierden und Süchten die beste Nahrung ein, während die Wahrnehmungen, Erinnerungen, Meinungen und Überlegungen gleichzeitig schwächer werden, wodurch der Berauschte zum Zustand eines ganz unbesonnenen Kindes (paƒò) gebracht wird. Aus der im Rausch entstandenen Lust wachsen dann auch

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die Furchtlosigkeit, Überheblichkeit, die blinde und unbegründete Hoffnung sowie die eingebildete Mächtigkeit. (Nom. 649a8–b6) Dasselbe verführerische Trugbild der anscheinend unbegrenzten Allmacht findet Platon auch im Wesen dessen, was ‚das Spiel‘ (paidiÜ) hießt und worin die Wurzel und Herkunft von Gymnastik, Musik, Tanz und überhaupt der ‚Kunst‘ im weitesten Sinne des Wortes liegt. Die möglichst genaue Erkenntnis des Wesens vom Spiel ist wiederum die Bedingung dafür, zum angemessenen Begriff der Erziehung (paideûa) zu kommen. Kind, Spiel und Erziehung stehen für Platon, und zwar nicht nur aufgrund der auffälligen Wortverwandtschaft, im innigsten Zusammenhang. In Hinsicht darauf reicht es nicht zu, mit der Erziehung erst in der reiferen Jugend zu beginnen, wie es auch im Allgemeinen nicht genügt, die Erziehung nur als eine verstandsmäßige Belehrung zu fassen. Dem grundsätzlichen Ansatz der Nomoi gemäß, greift Platon auch hier viel tiefer, bis zum letzten inneren Kern des gegenwärtigen Menschen, der aus Lust, Schmerz und Begierde besteht: „Bei Kindern ist die erste kindliche Empfindung Lust und Schmerz, und dies sind die Gestalten, unter denen sich Tugend und Schlechtigkeit erstmals in den Seelen einstellen. Was aber Einsicht und festgegründete wahre Meinung angeht, so ist es ein Glücksfall, wenn sie jemandem auch nur im hohen Alter zuteil werden . . .“ (Nom. 653a5–b6) Hier kommt eine weitere wesentliche Eigentümlichkeit der Nomoi zum Vorschein, die auch erst vor dem im Bisherigen dargelegten geschichtsphilosophischen Hintergrund des Werks angemessen zu verstehen ist. Die Überzeugung, dass die Erkenntnis des Guten notwendig mit dem Entschluss zusammenhängt, dieses Gute zu wünschen und zu wollen, dieser ‚intellektualistische‘ Grundsatz der frühen und klassischen Platonischen Ethik liegt den Ausführungen in den Nomoi nicht mehr zugrunde. Platon scheint ihn, wenn nicht ganz aufgehoben, dann mindestens wesentlich eingeschränkt zu haben. Denn die vielfältige Erfahrung mit der Sophistik aller Art hat ihn inzwischen belehrt, dass die abgründige Kluft zwischen dem Gedachten und Gesprochenen einerseits und dem wirklich Gewünschten bzw. Gewollten andererseits eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste Merkmal des gegenwärtigen Zeitalters ist. Nicht nur fällt die Entscheidung über Tugend oder Laster beim Menschen schon in der frühesten Kindheit, wenn die Kinder noch gar nichts vom Verstande erreicht haben, sondern es bleibt auch fraglich, ob sie ihn auch später als reife Menschen erreichen werden. Was aber noch schwieriger ist, die wirkliche Zuverlässigkeit eignet in der Gegenwart weder dem Verstande noch der Rede. Vielmehr ist es zumeist so, dass beide eher dazu dienen, die tiefe Kluft zwischen dem, was im Innersten der Seele wirklich gewünscht und gewollt wird, und dem, was im bloßen Reden als wertvoll und erwünscht

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vorgetäuscht wird, zu verdecken und unkenntlich zu machen. (Nom. 655e5–656a5)10 Nachdem auch sonst in Platons Spätwerk die Wahrheit einen stark geschichtlichen Sinn bekommen hat, infolge dessen sie nicht mehr ausschließlich das Seiende, sondern vielmehr das, was wird und geschieht, bedeuten soll (vgl. gegonüò ka˝ ñxon ÷lÇffieian, Nom. 684a1), findet sich Platon angesichts der wachsenden Gefahr, die sich an der immer größeren Kluft zwischen dem innerlich Gewollten und dem äußerlich Kundgegebenen meldet, dazu veranlasst, selbst den Begriff des Wissens von Grund auf anders zu bestimmen. So hebt er etwa bei der Erörterung der wahren Bedeutung von Besonnenheit hervor, dass darunter in Wahrheit nur jene gewöhnliche und volkstümliche (dhmÿdh) zu verstehen ist, nicht aber „jene, von der einer in erhabenem Ton sprechen könnte, indem er zwingend die Identität des Besonnenseins mit der Einsicht beweist . . .“. Unter der ‚Tugend‘ soll nach dieser Erklärung in erster Linie das verstanden werden, „was den Kindern und Tieren angeboren ist und sogleich an ihnen aufblüht, so dass die einen gegenüber der Lust unbeherrscht sind, die anderen aber sich beherrschen“ (Nom. 710a5–8). Dementsprechend gilt es jetzt auch, den ganzen Bereich des Wissens wesentlich anders zu fassen. Die äußerste Unwissenheit wird als ein „Missklang zwischen Schmerz und Lust und der vernunftgemäßen Meinung“ bestimmt, der darin liegt, dass „jemand etwas, obwohl es ihm schön und gut scheint, nicht liebt, sondern hasst, das aber, was ihm schlecht und ungerecht erscheint, liebt und sich daran freut“ (Nom. 689a5–9). Um die Eigentümlichkeit dieser neuen Bestimmung von wahrem Wissen und Unwissen hervorzuheben11, zögert Platon nicht vor der wohl absichtlich übertriebenen und fast grotesk klingenden Behauptung, dass „denjenigen Bürgern, die in dieser Unwissenheit befangen sind, nichts anvertraut werden darf, was mit dem Regieren zu tun hat, und dass man sie als unwissend schelten muss, auch wenn sie sehr kluge Rechner und in allen Finessen und in allem, was zur Geistesgewandtheit führt, wohlgeübt sein sollten; die entgegengesetzt Veranlagten aber muss man als weise bezeichnen, auch wenn sie, wie es im Sprichwort heißt, weder lesen noch schwimmen können . . .“ 10 Treffend bemerkt Herwig Görgemans: Beiträge zur Interpretation von Platons Nomoi (Zetemata 25), München 1960, S. 158, dass „die Unterordnung der Triebe in den Nomoi deshalb an Wichtigkeit gewinnt, weil sie nicht mehr selbstverständlich ist und die Affekte sich gegen das bessere Wissen durchsetzen können“. 11 Picht, S. 283: „Der Philosoph, der uns gelehrt hat, die Seele als Leben und Leben als reinen Bewegungsvollzug zu verstehen, kann philosophische Erkenntnis nicht als ein starres Begriffsgerüst darstellen; er muss vielmehr diese Erkenntnis selbst als Vollzug einer denkerischen Bewegung entwickeln. Das ist der letzte Grund für Platons Lehre, dass Philosophie nicht aussagbar ist. Sofern sie überhaupt ist, muss sie im Einklang von Denken und Streben, von Verstand und Trieb vollzogen werden.“

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(Nom. 689c8-d3). Im selben Zusammenhang wird die höchste und echteste Weisheit als die Harmonie zwischen der Begierde und den Meinungen bestimmt, wobei die bloße Scharfsinnigkeit und vielfältige Gewandtheit des Verstandes den Handwerkern überlassen werden können. (Nom. 689c2)12 Damit sind wir bei einem anderen wichtigen Moment unserer Überlegung. Der immer weiter gehende philosophische, wissenschaftliche, technische und politische Fortschritt im jetzigen Weltalter, wo die Welt von Gott ent- und freigelassen wird, um weiterhin selbst für sich zu sorgen, ist durch eine tiefe Zweideutigkeit gekennzeichnet. Trotz aller Errungenschaften führt dieser Fortschritt nämlich immer weiter weg von der ursprünglichen bedürfnislosen Geborgenheit der unter dem erhaltenden und sorgenden Schutz des Kronos stehenden Welt. Mit dieser Zweideutigkeit im Blick gilt es die im gegenwärtigen Zeitalter immer weiter schreitende allseitige Entwicklung einmal auch unter dem Gesichtspunkt dessen zu ermessen, was darin immer mehr verloren geht. Es ist unschwer zu erraten, dass damit nichts anderes gemeint ist als gerade der gesuchte volle Einklang von Verstand und Begierde. Der einseitig auf den Fortschritt gerichtete Blick kann freilich diesen Mangel an der ursprünglichen Harmonie als das Entscheidende des gegenwärtigen Zeitalters nicht entdecken. Ihm bleibt verborgen, dass das Wesen dieses Zeitalters in einer immer größeren Spannung zwischen dem Verstand und der Begierde liegt.13 Sie sind als zwei völlig entgegengesetzte Grundmächte des Lebens anzusehen, denen die zwei höchsten Prinzipien der Philosophie Platons innewohnen, der ersten die einigende Eins und der zweiten die entzweiende unbestimmte Zweiheit.14 Insofern ist ja nicht darauf zu hoffen, dass man der höchsten diese Welt bedrohenden 12 Dazu Görgemanns, S. 147 f.: „Hier stehen der wahren Weisheit die bloße Intelligenz (c9–d1) sowie äußere Kenntnisse und Fertigkeiten (d3) gegenüber. Diese Dinge schließt Platon vom Begriff der ‚größten Weisheit‘ vollständig aus. Sie ist von jedem theoretischen Wissen und jeder intellektuellen Fähigkeit unterschieden, da sie nur in der Übereinstimmung der Affekte mit der Einsicht besteht.“ Vgl. Gaiser, S. 392: „Eine Steigerung und ‚Verselbstständigung‘ der Erkenntnis in der Seele einzelner Menschen ist also für die Periode des allgemeinen Zerfalls nicht etwa ausgeschlossen, sondern gerade kennzeichnend.“ Ähnlich Christoph Horn: Warum zwei Epochen der Menschheitsgeschichte?, in: Markus Janka u. Christian Schäfer (Hrsg.): Platon als Mythologe. Neue Interpretationen zu den Mythen in Platons Dialogen, Darmstadt 2002, S. 137–159. Vgl. S. 159: „Zu beachten ist zudem die Tatsache, dass Platon zu einer vorsichtig positiven Einschätzung des Zeus-Zeitalters gelangt, das durch handwerklich-technische Entwicklungen, durch wachsende Autonomie und durch Philosophie als Kompensation der Mängellage charakterisiert ist. Das ändert nichts daran, dass Platon einen Zustand bevorzugt, in dem solche Kompensationen gar nicht erst erforderlich sind.“ Im Allgemeinen sehr erleuchtende Erklärungen zum Thema bei Schöpsdau (1994), S. 414 ff., insbes. S. 416. 13 Gaiser, S. 258 ff. 14 Ebd., S. 254 ff.

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Gefahr, nämlich dem endgültigen Versinken ins Grenzenlose der vollen Unausgeglichenheit, dadurch entkommt, dass sich die philosophischen, wissenschaftlichen, technischen und politischen Mittel der Selbsterhaltung dieser Welt immer weiter, bis ins Unendliche steigern. Mit Platon müsste man hingegen gerade in dieser unendlichen Steigerung ein klares Zeichen der unaufhaltsamen Annäherung an die erwähnte höchste Gefahr sehen.15 Vom Ergebnis dieser Überlegung kann das klärende Licht auf die auffällige und rätselhafte Ambivalenz der Stellung Platons zum Leben der Menschen im Kronos-Zeitalter fallen. Dabei darf die unübersehbare ironische Distanz, mit der Platon darüber spricht, nicht darüber hinwegtäuschen, dass er die einzig echte Politik in der gegenwärtigen Welt ausdrücklich und eindeutig als die unter den wesentlich veränderten, und zwar schlimmer gewordenen Umständen vielleicht glückende Nachahmung des Lebens unter der Herrschaft des Kronos bezeichnet. In diesem Zusammenhang wird auch das neue Schwergewicht verständlich, das im Werk auf die kunstvolle Überredung (peiffiÿ) fällt. Sie zeugt von einem fast verzweifelten Versuch, die die Welt immer ausschließlicher beherrschende und leitende Begierde einigermaßen zu stillen und zu beruhigen. Das soll vor allem dort geschehen, wo sie am stärksten wirkt und trotzdem in der Regel verkannt und daher vernachlässigt bleibt, nämlich beim jugendlichen Spiel, sowie im weiten Bereich der aus dem berauschenden Spiel entspringenden Musik und Kunst überhaupt. Da der Verstand als solcher nicht imstande ist, den ganz jungen und unbesonnenen Seelen die Richtung zu geben und sie dem rauschhaften Machtbereich der Begierde zu entreißen, muss der Kampf gegen Lust und Begierde auf eine ganz andere Weise geführt werden, nämlich durch die sanfte Überredung, die sich auch selbst der Lust bedient und sich auch selbst darauf versteht, die jungen Seelen zu bezaubern. Der wahre Politiker wird sich zur Aufgabe machen, dazu beizutragen: „[d]ass ein jeder, Erwachsener und Kind, Freier und Sklave, Mann und Frau, ja die ganze Stadt der ganzen Stadt ohne Unterlass das, was wir durchgegangen sind, als einen Zaubergesang vorsingen muss, und zwar mit allen möglichen Abwandlungen und in der größten Mannigfaltigkeit, so dass daraus für die Sänger eine Art Unersättlichkeit nach Hymnen und Lust daran erwächst.“ (Nom. 665c2–7; vgl. 840c5–9) 15 Vgl. Brigitte Wilke: Vergangenheit als Norm in der platonischen Staatsphilosophie, Stuttgart 1997, S. 227: „Ob die Entwicklung der Menschheit zum Positiven oder zum Negativen verläuft, ist in der Anfangsphase des eigenständigen Weltalters unentschieden. Doch muss im Laufe der Zeit eine zunehmende Abweichung von der göttlich gelenkten Vergangenheit konstatiert werden, so dass der Fortschritt der Menschheit in der Technik, Kultur und Politik insgesamt negativ einzuschätzen ist (273 C–D).“

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Wie ist dieses drastische und in manchem fast skurril scheinende Bild zu verstehen? Kann „das vernünftige Spiel von Greisen“ (Nom. 769a1), wie Platon selbst den Inhalt der Nomoi bezeichnet, noch weiter getrieben werden? Scheinbar kaum. Und trotzdem gilt es, die Sache ohne den mindesten Vorbehalt ernst zu nehmen, will man das entscheidend Neue am Politikverständnis des späten Platon fassen. Auch in diesem Fall soll dies am besten dann gelingen, wenn der im Politikos-Mythos gezeichnete geschichtsphilosophische Horizont der Nomoi in Betracht gezogen wird. In der vom Gott entlassenen und weiterhin sich selber leitenden Welt bleibt die Menschheit zunächst und auf eine lange Zeit hin nicht allein. Im Gegenteil nehmen die anderen Götter – die Olympischen, mit dem Rechts- und Herrschaftsgott Zeus an der Spitze – die große Umkehr zum Anlass, einzuspringen und die anfängliche Rat- und Hilflosigkeit der Menschen durch die Stiftung der vielfältigen Künste aufzulösen. Aber die mit dem Verlauf der Zeit sich immer stärker durchsetzende Begierde bringt auch diese Götter zusammen mit den sie begleitenden Halbgöttern, Dämonen und Heroen dazu, zu fliehen und sich in der Nachfolge des höchsten Gottes von der Welt zurückzuziehen. In der Zwischenzeit sind sie wohl bereit, den seltenen unter den Menschen, die nicht nur dazu fähig sind, in der neuen Bahn der Welt und in der diese Bahn leitenden Begierde samt dem ihr entspringenden Übermut (Öbriò) die höchste Gefahr zu erkennen, sondern darüber hinaus über den ebenso seltenen Mut verfügen, dieser Gefahr um jeden Preis Widerstand zu leisten, in ihrem wenig aussichtsvollen Kampf als Mitkämpfende beizustehen: „Denn da wir uns selbst das Zugeständnis gemacht haben, die Welt sei mit gar vielem Guten, aber auch, und zwar in der Mehrzahl, mit dem Entgegengesetzten angefüllt, so ist, behaupten wir, ein derartiger Kampf ein immerwährender und einer großen Vorsicht bedürftiger; unsere Verbündeten dabei aber sind Götter und Dämonen und wir der Götter und Dämonen Besitztum. Verderben bringt uns mit Unverstand verbundene Ungerechtigkeit und Frevelhaftigkeit, Rettung mit Weisheit verbundene Gerechtigkeit und Besonnenheit, welche Tugenden in den beseelten Kräften der Götter ihren Sitz haben . . .“ (Nom. 906a2–b1) In der Welt, die bald von den letzten Göttern und Dämonen verlassen wird, bleibt die ganze Last dieser ungeheueren Wache nur noch beim Menschen, und zwar bei einem solchen, dem es noch gelingt, wach und besonnen genug zu bleiben (vgl. Nom. 808a–d), um den wahren Sinn und Zweck dieses „unsterblichen Kampfes“ sowie den wirklichen Gegner darin zu erkennen. Ganz allein, ohne Verbündete und Helfer, muss er sich auf den Kampf mit einer selbstständig gewordenen Welt einlassen, die, von der Lust und Anmaßung berauscht, immer mehr der Ungerechtigkeit und Überheblichkeit verfällt (vgl. Nom. 835c).

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Es ist bekannt, dass die Politik für Platon im Unterschied zu Aristoteles16 sowie zur fast gesamten folgenden Politikauffassung eine nicht nur menschliche Angelegenheit war. Man spricht davon, dass bei ihm die Politik in erster Linie kosmisch, vielmehr theologisch und religiös begründet sei.17 Das ist sicher richtig. Es ist aber etwas anderes, sich sowohl die Voraussetzungen als auch die Folgen dieser heute mehr als befremdlichen Ansicht wirklich zueigen zu machen. Die erste Bedingung dafür soll darin liegen, dass die merkwürdige Platonische Bestimmung des Menschen als eines „göttlichen Spielzeugs“, um die der Gehalt des gesamten Werks kreist, ohne Vorbehalt ernst genommen wird. Es ist hier nicht möglich, eine entsprechende Interpretation des im ersten und dann wieder im siebten Buch der Nomoi vorkommenden ‚Marionettengleichnisses‘ zu geben.18 Besprechen wir also nur ein, wenn auch ganz wesentliches Moment. Zum ersten ist festzustellen dass die Bestimmung des Menschen als eines göttlichen Spielzeugs „mit dem Blick auf die Gottheit und unter diesem Eindruck“ (Nom. 804b7) fällt. Daraus folgt, dass dieser 16 Dazu: Ada Babette Hentschke: Politik und Philosophie bei Plato und Aristoteles. Die Stellung der „NOMOI“ im Platonischen Gesamtwerk und die politische Theorie des Aristoteles, Frankfurt am Main 22004, S. 325 ff.; Ernst Sandvoss: Soteria. Philosophische Grundlagen der platonischen Gesetzgebung, Göttingen 1971, S. 344 ff.; Gaiser, S. 311 ff. In methodischer Hinsicht gilt es die allgemeine Bemerkung Pichts, S. 22, zu beachten: „Wenn uns das Studium der ‚Gesetze‘ dazu zwingen sollte, das überlieferte Platon-Bild zu revidieren, so würde eines der Fundamente des europäischen Denkens erschüttert; denn der Platonismus, nicht der authentische Platon, ist einer der Grundpfeiler christlicher Theologie und europäischer Philosophie geworden. Es gibt deshalb kaum ein Werk von Platon, dessen Studium heute wichtiger wäre; denn wenn wir genötigt sind, die ‚Gesetze‘ und die übrigen Alterswerke als einen einzigen großen Zusammenhang zu verstehen, so wird die gesamte Interpretation der platonischen Philosophie auf eine neue Basis gestellt. Es verändert sich dann nicht nur unsere Auffassung von Platons politischem Denken, es verändert sich auch die Deutung der Ideenlehre und überhaupt der platonischen Ontologie.“ 17 Darin, diese These zur Grundvoraussetzung einer umfangreichen Auslegung der Nomoi zu machen, geht Sandvoss wohl am weitesten. Vgl. Hentschke, S. 307: „Der ganze Staat, wie ihn die ‚Nomoi-Gesetzgebung‘ aufbaut, ‚kreist um die Götter‘ im prägnanten Wortsinn. Über die makrokosmische Ordnung wird die staatliche, über diese die des einzelnen bürgerlichen Lebens erzeugt, so dass die Ordnung des Staates zur Bildung des Einzelnen, sowie seine Erhaltung durch den Einzelnen auf den geordneten Gestirnsläufen beruht.“ In demselben Sinne neuerdings auch Ottmann, S. 83 f: „. . . in den Nomoi dreht sich alles um Theologie, vom ersten bis zum letzten Wort.“ 18 Vgl. zuletzt: Walter Mesch: Marionette Mensch und ganze Tugend. Zur Bedeutung eines Gleichnisses aus Platons Nomoi, in: Damir Barbaric´ (Hrsg.): Platon über das Gute und die Gerechtigkeit, Würzburg 2005, S. 93–107. Die Auslegung dieser zentralen Metapher hat der Verf. im Zusammenhang einer umfassenden Interpretation der Nomoi dargebracht: Damir Barbaric´: Politika Platonovih Zakona. Uvod u studij Platona [Die Politik der Platonischen Nomoi. Eine Einführung in das Studium Platons], Zagreb 1986.

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Selbstbestimmung des Menschen ein pÜffioò, ein erschütterndes Erleiden zugrunde liegt. Zweitens meldet sich in diesem Erleiden ganz unmittelbar das Gefühl der wesentlichen Abhängigkeit und daher auch Unselbstständigkeit des Menschen zu Wort.19 Die „Alternative, unter die Platon die ganze Untersuchung über die Prinzipien der Gesetzgebung rückt“20 und die schon in der Frage aufscheint, mit der der athenische Fremdling das ganze Gespräch im Werk eröffnet, nämlich die Frage, ob der Gott oder irgendeiner von den Menschen als Urheber der Gesetzgebung gilt, löst sich gleichsam von selbst auf. Der nicht nur gegen Protagoras, sondern gegen die sophistische Gegenwart im Ganzen gerichtete Satz über den Gott als Maß aller Dinge, dieser „oberste Grundsatz der platonischen ‚Nomoi‘ “21, braucht angesichts dieser erschütternden Erfahrung keine weitere Begründung. Die Überzeugungskraft dessen, was auf diese Weise in der Begegnung mit dem Gott erlitten wird, ist so stark, dass daraus beim Menschen gar kein Bedürfnis entstehen kann, weiter nach den erklärenden Gründen zu fragen. Es bleibt uns nicht nur verborgen, ob wir in der Tat bloß ein Spielzeug der Götter sind oder ob sie damit doch „irgendeine ernste Absicht zusammengefügt“ haben, sondern es leuchtet uns dabei ein, dass wir dies auch nicht wissen können, vielmehr nicht wissen sollen (Nom. 644d7)22. Das einzig entsprechende Verhältnis zum Geheimnis unseres Seins ist das reine Staunen (ffiaumÜzein), das auch sonst seit Theaetet für Platon als der einzige Ursprung des wahren Philosophierens gilt. Sinn und Zweck des eigenen Seins bleibt für den Menschen ein Wunder. Gewiss nicht ohne Absicht bedient sich Platon, wenn es um die Bestimmung des Seins des Menschen geht, des merkwürdigen Worts ffiÜuma.23 19 Es ist in der Forschung des öfteren mit Recht darauf hingewiesen worden, dass dieses Gefühl, obwohl richtig gedeutet als das „religiöse Pathos der Abhängigkeit und Schwäche“, worin „ein Grundzug der Nomoi“ besteht, jedoch nicht einfach als eine bloß passive Ausgeliefertheit des Menschen zu verstehen ist, wie es etwa Gerhard Müller: Studien zu den Platonischen Nomoi (Zetemata 3), München 1968, S. 134, tut. Die Sache ist viel verwickelter und soll eingehender und differenzierter überlegt werden. Eine Voraussetzung dazu liegt gewiss darin, dass die Frage nach dem Wesen dessen gestellt wird, was Platon und die Griechen überhaupt unter der ‚Person‘ bzw. dem ‚Individuum‘ eigentlich meinen. Vgl. dazu Picht, S. 159 ff., sowie: Damir Barbaric´: Das Maß. Ein Grundbegriff der politischen Philosophie Platons, in: Andreas Eckl/Clemens Kauffmann (Hrsg.): Politischer Platonismus, Würzburg 2008, S. 7–15, insbes. S. 14 f. 20 Picht, S. 65. 21 Ebd. 22 So E. B. England, der in seinem Kommentar: The Laws of Plato. The Text Edited with Introduction, Notes etc., 2 Volumes, Manchester 1921, ad loc., die Bedeutung von Präsent gignÿskomen folgendermaßen erklärt: „the present means we are (not) inquiring (into this – i. e. the motive of the pulling).“ 23 Zur Bedeutung des Wortes vgl. Klaus Schöpsdau (1994), S. 237. Zu Schöpsdaus Auslegung des betreffenden Gedankens Platons, die sich zurecht gegen die überwiegende Deutung im Sinne vom „Pessimismus des alten Platon“ wendet, vgl.

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Daher auch die Forderung Platons, in der die entscheidende Absicht des ganzen Werks maßgeblich zusammengefasst zu sein scheint, dass die Menschen in sich genug Kraft finden müssen, um „ein ihrer Natur gemäßes Leben zu führen, da sie ja größtenteils Marionetten sind und an der Wahrheit nur geringen Anteil haben“ (Nom. 804b2). Das heißt, dass sich die Menschen als Spielzeuge Gottes, was in der Tat das Beste an ihnen ist, eben dieser Rolle fügen müssen „und möglichst schöne Spiele spielen und so ihr Leben zubringen“ (Nom. 803c). Platon besteht darauf, dass das Spiel entgegen der geläufigen Meinung in Wahrheit das Schwerste von allem und die „ernsteste Sache“ (Nom. 803d7) ist. Denn gerade im Spiel steigert sich zu seinem höchsten Gipfel jener größte und schwierigste Kampf, der einzig zur wahren Tüchtigkeit führt. Im Spiel wird der Mensch der unaufheblichen Erstaunlichkeit seiner Natur inne und übt sich darin, die wesentliche Unwissenheit zu ertragen und sich seinem sterblichen Schicksal zu fügen. Als ein solcher, der unheilbar sterblich ist (÷texnáò ýðÇmeroi, Nom. 923a3), lässt der Mensch durch das Spiel in sich die Scham und die Verhaltenheit (aùsxŸnh, aùdüò) wachsen24, die ihn beide daran hindern, die eigene sterbliche Natur, von der angeblichen Allmacht der verführenden Lust berauscht, zu vergessen und ihr blindlings entfliehen zu wollen. Nur im Spiel und durch das Spiel als Fest und Feier (ÅortÇ) wesen den Menschen die Götter an (metJ ffieán, Nom. 653d5; auch 665d4). Nur in der vollen Offenheit und Ungeschütztheit des heiligen insbes. S. 235. Ähnlich Ottmann, S. 95: „Das Bild der Marionette suggeriert Mechanik und Unselbstständigkeit, eine Leitung und Lenkung von fremder Hand. Beim Philosophen der Lebenswahl und Entscheidung kann dies jedoch nicht der eigentliche Sinn des Bildes sein.“ Hingegen Wilke, S. 34: „Die Vorstellung, der Mensch stelle ein von Gott bzw. den Göttern geschaffener Besitz dar, trägt im zehnten Buch der Nomoi (902 B–C) maßgeblich dazu bei, die tätige Fürsorge (ýpimÍleia) der Götter für die Menschen plausibel zu machen. Da die Menschen Besitz göttlicher Mächte sind, fungieren diese als Mitstreiter im Kampf des Menschen gegen Ungerechtigkeit, Hybris und Unverstand.“ 24 Nach Helmuth Kuhn: Die wahre Tragödie. Platon als Nachfolger der Tragiker, in: Konrad Gaiser (Hrsg.): Das Platonbild. Zehn Beiträge zum Platonverständnis, Hildesheim 1969, S. 231–323 (deutsche Neufassung von: The True Tragedy – On the Relationship between Greek Tragedy ad Platon, in: Harward Studies in Classical Philology 52, 1941, S. 1–40 und 53, S. 37–88), erweist sich Platon als ein echter Nachfolger und zumal Überbieter der klassischen griechischen Tragödie vor allem durch die Wiederaufnahme der grundlegenden Bedeutung von Furcht als „Grundton der tragischen Gemütsbewegung“ (S. 296). Vgl. S. 263: „Furcht (ðüboò), die vorherrschende Gemütsbewegung in der Tragödie, wird auch in Platons mit der Tragödie wetteifernden Schöpfungen mit der ihr gebührenden Aufmerksamkeit bedacht.“ Auch S. 269: „In den Gesetzen [. . .] zeigt sich Platon ängstlich darauf bedacht, dass die göttliche Furcht von den Bürger gepflegt werde.“ Kuhns sowohl gelehrte als auch einfühlsame Abhandlung ist in mancher Hinsicht bahnbrechend gewesen und ist immer noch einer eingehenden Auseinandersetzung wert.

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Spiels können die Menschen die Nähe und zumal Ferne der Götter wirklich erfahren.25 In einem derart spielenden Leben findet Platon die Vollendung der alten attischen Tragödie und die Erfüllung ihres tiefsten Sinnes. Im heiligen Spiel der gottgewandten und dem übergöttlichen kosmischen Gesetz sich fügenden Sterblichen wird die Tragödie gelebt, nicht bloß dargestellt. Durch die unmittelbare leibhaftige Wirklichkeit erweist sich dieses Leben als die einzig wahre Tragödie. In den Nomoi, seinem philosophischen und politischen Vermächtnis, lässt Platon den Athener die sich anbietenden Tragödiendichter mit folgenden denkwürdigen Worten verabschieden: „Ihr besten Fremdlinge, wir sind selber Dichter einer Tragödie, die, soweit es in unseren Kräften steht, die denkbar schönste und zugleich beste ist. Jedenfalls ist die gesamte Staatsverfassung von uns verfasst worden als eine Darstellung des schönsten und besten Lebens, und dies ist, wie wir behaupten, eigentlich die wahrste Tragödie.“ (Nom. 817b1–4)

25 Ottmann, S. 96: „Der Ernst im Spiele zeigt sich im Leben der Menschen als Gottesdienst. Feste, Chöre, Tänze, die Erziehung und das ganze Leben der Stadt sind ein einziger Dienst am Gott.“ Näheres zum Thema der „wahren Tragödie“ bei Harald Seubert: Polis und Nomos. Untersuchungen zu Platons Rechtslehre, Berlin 2005, S. 646 ff.

IV. Philosophie

Platons „falsche“ Theologie: Zum Verhältnis von Ontologie und Theologie in den „Nomoi“ Von Clemens Kauffmann I. Der Zusammenhang von Theologie, Philosophie und Politik als Problem der Platondeutung Platons Theologie stand in jüngerer Zeit weniger im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Für denjenigen, der sich mit Platons politischer Philosophie beschäftigt, ist die Theologie ein unverzichtbarer Gegenstand der Auseinandersetzung. Die Gesetzgebung, die Legitimation von Herrschaft, die Stabilität einer gesunden politischen Ordnung, die moralischen Grundlagen des Zusammenlebens, die Zwecke und die Reichweite politischen Handelns, all das kommt ohne Bezugnahme auf die Theologie nicht aus. Ungeachtet dessen ist Platons Einstellung gegenüber der Theologie unklar. Der deutlichen Kritik bestimmter theologischer Positionen stehen Aussagen gegenüber, die eine eigene platonische Theologie erkennen lassen. Diese Aussagen zeigen jedoch eine innere Widersprüchlichkeit und stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, das bis heute nicht hinreichend geklärt ist. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung darum hat sich weitgehend in eine Sackgasse hinein manövriert1. Für die politische Philosophie ist die Bedeutung von Platons Theologie unter anderem deshalb von besonderer Relevanz, weil Platon in der „Politeia“ die Frage diskutiert, in welchem Ausmaß politische Ordnungsprobleme dadurch gelöst werden könnten, daß Philosophen Herrschaftsaufgaben übernehmen würden. Platons kritische Diskussion des politischen Idealismus hat manchen vermuten lassen, er habe einen elitären, auf epistemischer Überlegenheit fußenden Herrschaftsanspruch vertreten. Zugleich wurde Platon ein theokratisches Denken unterstellt. Zieht man die Opposition zwischen Theologie und Philosophie in Betracht, die an vielen Stellen in Platons Werk durchscheint, wollen die 1 Michael Bordt hat mit seiner Untersuchung von „Platons Theologie“ die älteren Fragestellungen unter dem Aspekt der Bedeutung der Rede von Gott wieder aufgenommen. Der Forschungsstand zu den wichtigsten Aspekten des Themas ist dort gut dokumentiert, vgl. hier Bordt (2006), S. 21; zum Forschungsstand auch Enders (1999), S. 131–137.

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beiden Optionen – Herrschaft der Philosophen und Herrschaft Gottes – nicht recht zusammenpassen. Ein Beispiel für die Verbindung von Philosophenherrschaft und theokratischen Vorstellungen findet sich in Eric Voegelins Platonbild. Die Philosophenherrschaft war nach Eric Voegelins Verständnis Platons konkretes politisches Ziel. Ihm sei es um ein hellenisches, theokratisches Reich aus föderierten, spirituell wohlgeordneten Gemeinschaften von Platonikern zu tun gewesen, in dessen Mittelpunkt die Akademie stehen sollte2. Nach Voegelins Auffassung sollte die Reformbewegung von Sizilien ausgehen und durch eine besondere Kombination aus Gewalt, Machtpolitik und geistiger Reform zum Ziel geführt werden3. Voegelin sprach von einem „platonischen Kreis“; von einer „herrschenden Gruppe der Platoniker“, von einer „Kette menschlicher Beziehungen“, die bis nach Kleinasien gereicht hätte und die „Eroberung Asiens“ hätte möglich erscheinen lassen4. Zu ihnen gehörten unter anderen Aristoteles und Xenokrates. Sie seien verbunden gewesen durch ihre Freundschaft, deren Band durch Platons 6. Brief als „Gründungsdokument des Bundes der drei Männer“ mit dem „Charakter einer heiligen Verfassung“ gestiftet worden sei5. Freundschaft, heißt es andernorts, sei „Platons Begriff für den Zustand existentieller Gemeinschaft. Philia ist das existentielle Band zwischen den Menschen; und es ist auch das Band zwischen ‚Himmel‘ und ‚Erde‘, Mensch und Gott.“6 Platons Werk müsse als „theologischer Symbolismus“ verstanden werden7. In weiterer geschichtlicher Perspektive, also aus der heutigen Rückschau oder einer geschichtsphilosophischen Perspektive auf den weltgeschichtlichen Prozeß und die verbliebene weltgeschichtliche Bedeutung und Bewertung der damaligen Akteure8, sei die Autorität tatsächlich von der Obrigkeit Athens auf Platon übergegangen. Platon habe „die wahre Staatskunst seiner Zeit für sich“ eingeklagt; „die maßgebliche Ordnung geht von dem Volk Athens und seinen Führern auf den einen Platon über. [. . .] Die Autoritätsübertragung bedeutet, dass die Autorität Athens, als der staatlichen Organisation des Gemeinwesens eines Volkes in der Geschichte, durch eine neue öffentliche Autorität außer Kraft gesetzt wird, die sich in der Person Platons manifestiert. Das ist eine Revolution.“9 „Und Platons Evokation eines Philosophenkönigs ist in gewisser Hinsicht lediglich Aus2 3 4 5 6 7 8 9

Voegelin Voegelin Voegelin Voegelin Voegelin Voegelin Voegelin Voegelin

(2002), (2002), (2002), (2002), (2002), (2002), (2002), (2002),

S. S. S. S. S. S. S. S.

20, 37, 40, 150, 266–269, 289, 293. 267 f., vgl. 283. 37–40. 39. 55, vgl. 265 f., 278. 40. 58, 89, 116, 124, 140, 154. 57 f., vgl. 19.

Platons „falsche“ Theologie

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druck der Suche nach einer hellenischen Figur, die den Erlöserkönigen und Pharaonen der Reiche des Orients entsprechen würde.“10 Da dies aber nicht möglich gewesen und die machiavellische Alternative eines Tyrannen nicht zielführend gewesen sei, wäre das „Problem der Erneuerung zu einem individuellen Problem geworden.“11 Der Platon unterstellte Herrschaftsanspruch verbindet philosophische mit theologischen Motiven. Was ihn zur Herrschaft befähigt, ist seine Weisheit, sein überwältigender Geist. Platon war für Voegelin der Philosoph schlechthin, beinahe so wie Aristoteles für Thomas von Aquin. Platons Bedeutung könne nicht hoch genug eingeschätzt werden. „Platons Philosophie ist daher nicht eine Philosophie, sondern die symbolische Form, in der die Dionysische Seele ihrem Aufstieg zu Gott Ausdruck verleiht.“12 Platon habe „in seinen Dialogen die Symbole der neuen Ordnung der Weisheit nicht nur für Hellas, sondern für die ganze Menschheit“ geschaffen13. Platons Werk ist das schlechthin klassische, das auch in der geistigen und politischen Lage der Gegenwart zu konsultieren sei14. In seiner Klassizität „ist Platon der Begründer der Gemeinschaft der Philosophen, die durch alle Zeiten hindurch besteht.“15 Aber die Philosophie scheint nach Voegelins Verständnis auf die Theologie ausgerichtet gewesen zu sein. Und so finden sich auch andere Bezeichnungen. Voegelin präsentiert einen vorsokratischen Platon16, einen Mystiker17 und Mythologen18, Tiefenpsychologen19 und Spiritualisten20, sogar einen „Gottessohn“21, „Religionsgründer“22 und „religiöse[n] Künstler“23, einen „ekklesiastische[n] Staatsmann“24 zudem. Überhöhungen treffen ebenso wie Verdammungen nicht immer das Wesentliche. Daß Platon den Legitimitätsanspruch einer „Philosophenherrschaft“ diskutiert und damit die Frage nach der politischen Leistungsfähigkeit der Vernunft in grundlegender Weise thematisiert hat, ist unbestritten. 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

Voegelin Voegelin Voegelin Voegelin Voegelin Voegelin Voegelin Voegelin Voegelin Voegelin Voegelin Voegelin Voegelin Voegelin Voegelin

(2002), (2002), (2002), (2002), (2002), (2002), (2002), (2002), (2002), (2002), (2002), (2002), (2002), (2002), (2002),

S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S. S.

266, vgl. 268. 268. 95, vgl. 109. 20. 109, vgl. 139. 93. 85, 124, 141. 87, 86, 124. 149. 109 f., vgl. 157, 160, 165. 120, 124, 147, 149, 150, 278 n. 2. 270, vgl. 278, 310. 311. 271. 270.

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Daß er aber ein Philosophenkönigtum in der praktischen Politik für sinnvoll gehalten und für sich selbst einen Herrschaftsanspruch reklamiert habe, dafür läßt sich trotz gebetsmühlenhafter Wiederholung dieser Behauptung aus Platons Dialogen wenig Plausibilität gewinnen25. Der sachliche Kern der politischen Reflexionen, die Platon in seinen Dialogen dargestellt hat, wird durch die Vermengung von theologischen und philosophischen Motiven zusätzlich verstellt. Es ist deshalb notwendig, die Trennlinie, die Platon zwischen Philosophie und Theologie gezogen hat, freizulegen und die Funktion der philosophischen Einstellung als Grundlegung und Ziel sichtbar zu machen. Dies ist insofern eine anspruchsvolle Aufgabe, als die politischen Fragen in dem spannungsreichen Feld zwischen Philosophie und Theologie behandelt werden und der Bezug der Theologie auf die Ontologie bei Platon in der Forschung noch keinesfalls geklärt ist26. Zentrale Aspekte der Theologie werden in Platons Hauptwerken zur politischen Philosophie erörtert. Für die Klärung des Verhältnisses zwischen Philosophie und Theologie sind Platons „Nomoi“ besonders aufschlußreich. Erst in jüngster Zeit hat die wissenschaftliche Diskussion der Theologie der „Nomoi“ gegenüber derjenigen des „Timaios“ wieder größere Aufmerksamkeit geschenkt27. Philosophie, Theologie und Politik stehen in einem konstitutiven Verhältnis zueinander. Anders als in der „Politeia“ analysiert Platon diese strukturbildende Trias in den „Nomoi“ vom Standpunkt eines praktischen Interesses aus und unter einer klaren Dominanz der theologischen Elemente. Die Validität der theologischen Aussagen bleibt jedoch immer zurückgebunden an philosophische Kriterien. Der philosophische Kern der „Nomoi“ ist die im zehnten Buch ausformulierte Ontologie der Handlung. Sie bildet die Grundlage und Voraussetzung der gesamten politisch-theologischen Argumentation. Gemessen an den philosophischen Kriterien erscheinen die Reden über Gott in den „Nomoi“ als eine „falsche“ Theologie. Meine Argumentation für diese Auffassung ist in drei Schritten angelegt. Zunächst werden verschiedene theologische Motive in Platons Schriften aufgenommen und die inhaltliche Spannung zwischen ihnen diskutiert (II.), anschließend wird die konträre Gewichtung von Philosophie und Theologie in der „Politeia“ und den „Nomoi“ erörtert (III.), um schließlich die handlungsontologische Grundlage als Bemessungskriterium an die Theologie der „Nomoi“ anzulegen (IV.). Einige Bemerkungen zur Konkretisierung der Bedeutung der „falschen“ Theologie schließen die Ausführungen ab (V.).

25 26 27

Vgl. Kauffmann (2008a); Kauffmann (2008b). Vgl. Enders (1999), S. 136. Vgl. Bordt (2006), S. 168.

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II. Theologische Motive in Platons Werk Das Wort „theologia“ hat Platon in der „Politeia“ eingeführt (Rep. II, 379 a). Dies geschieht im thematischen Zusammenhang der Frage nach der angemessenen Erziehung für die Wächter. Deren Seelen sollten durch Mythen gebildet werden (Rep. II, 377 c). Die herkömmlichen Mythen über die Götter und ihr kriegerisches Verhalten untereinander, vor allem die Erzählungen Homers, Hesiods und Herodots, werden allerdings zum Gegenstand der Kritik. Gegenüber der falschen Theologie der Dichter geht es den Gesprächspartnern in der „Politeia“ darum, Grundsätze für eine richtige Theologie zu entwickeln. Sie verstehen sich ausdrücklich als „Stadtgründer“ im Gegensatz zu Dichtern (vgl. Rep. II, 377 d, 378 e f.)28. Ihre Aufgabe sei es, die Typen bezüglich der Theologie herauszuarbeiten (Rep. II, 379 a: oÁ tŸpoi per˝ qeologûaò). Als „Typen bezüglich der Theologie“ können bestimmte Regeln, Vorschriften oder Gesetze bezeichnet werden, an denen sich Erzählungen über Götter ausrichten sollen29. Zu den Grundsätzen der Theologie gehört, daß der Gott in allen Formen der Dichtung so dargestellt werden müsse, wie er tatsächlich sei (Rep. II, 379 a). Tatsächlich sei der Gott erstens wesentlich gut und könne Ursache ausschließlich von Gutem sein (Rep. II, 379 b f.). Zu dem Typos von der Gutheit Gottes tritt der zweite Grundsatz von seiner Unveränderlichkeit. Der Gott sei kein Zauberer, der in vielerlei Gestalten erscheine, er sei vollkommen, einfach und wahr (Rep. II, 380 d, 381 b [taŸt´h m˚n dÌ Ókista ºn pollJò morðJò Łsxoi þ qeüò], 382 d f.). Die beiden theologischen Typen berühren zentrale philosophische Fragen, einmal die Ideenlehre und zum anderen die Seelen- und die Bewegungslehre, die zusammengenommen in die Philosophie der Handlung münden. Diese philosophischen Fragen sind Gegenstand von Erwägungen, die in anderen Büchern der „Politeia“, aber auch in den „Nomoi“ angestellt werden. Der Gott und die Götter sind in den „Nomoi“ beständiger Referenzpunkt. Auf die fundamentale Rolle der Götterlehre muß nicht eigens hingewiesen werden. Die Gesetze über das Heilige sind primär (Nom. VI, 771 a). Wer den Gesetzen Stabilität verleihen wolle, müsse dem gesetzlichen Herkommen ein ausreichend heiliges Ansehen geben. Dieser Kunstgriff stelle sicher, daß die ganze Seele bewältigt werde und die Menschen den Gesetzen einen 28

Vgl. Bordt (2006), S. 44 f. Bordt (2006), S. 48 ff., 52 f., unterstützt in diesem Sinne die Interpretation von Jaeger (1947), S. 13, und Nadaff (1996), S. 9 f., 17, gegenüber Goldschmidt (1970), S. 147, dem zufolge Platons Theologie keine rational-philosophische Untersuchung über Gott und die Götter darstelle, sondern selbst zur Mythologie gehöre und eine Art von Erzählung sei. 29

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mit Furcht verbundenen Gehorsam leisteten (Nom. VIII, 839 b f.). Gesetzesherrschaft ist zu einem guten Maß Herrschaft Gottes. An diesem theoretisch erwogenen Grundsatz ist die Rede an die Siedler ganz konkret ausgerichtet (Nom. IV, 715 e–718 a). Der Athener stellt fest, „daß Gott alles ist“, daß er „uns wohl am meisten als das Maß aller Dinge sein“ möchte und neben ihm die Kunst, aber auch Zufall und Gelegenheit die menschlichen Dinge lenken würden (Nom. IV, 709 b f., 716 c). Wie in der „Politeia“ wird die Theologie der „Nomoi“ im Kontext einer Stadtgründung entfaltet. Allerdings geht es hier um die konkrete Ausgründung einer Kolonie, nicht um die Bedingungen der Gründung einer wohlgeordneten Polis und ihre theologische Typologie schlechthin. Der konkrete Bezug wird deutlich in der Rede an die Siedler. Der Athener eröffnet seine Ansprache durch einen allgemeinen Hinweis auf die Allmacht des Gottes. Eine alte Rede besage, daß der Gott Anfang, Mitte und Ende von allem Seienden innehabe und auf geradem Weg zum Ziele komme, indem er sich gemäß der Natur im Kreise bewege (Nom. IV, 715 e f.). Dann aber geht es weniger um eine Theologie als um die menschliche Praxis und eine glückliche Lebensführung, die von Gerechtigkeit und Maß geregelt und Gott freundlich, wohlgesonnen und ähnlich sein müsse. Daraus werden Reden abgeleitet, in denen nun die vielen theologischen Gestalten und Phänomene zum Zuge kommen, die olympischen und politischen Götter, Dämonen und Heroen wie auch die Verehrung der Vorfahren. Das zehnte Buch der „Nomoi“ nimmt nicht mehr nur die theologischen Voraussetzungen von Gesetzgebung und politischem Leben in den Blick, sondern die materiale Gesetzgebung im Hinblick auf die Götter selbst. Als Adressaten wendet sich Platon gegen kritische Positionen, welche die Existenz der Götter leugnen oder behaupten, die Götter würden sich nicht um die Angelegenheiten der Menschen kümmern beziehungsweise, sie seien bestechlich. Hinter den kritischen Thesen stehen eine bestimmte naturphilosophische Ursachenlehre, eine Kritik der Techne und eine bestimmte Auffassung des Verhältnisses von „Nomos“ und „Physis“. Platon wendet sich gegen materialistische Positionen, die Vernunft, Gott oder Kunst als Ursachen des Werdens der Welt ausschließen wollen. Wir haben es hier mit Platons üblichen Gegnern zu tun. Doch sucht Platon in „Nomoi“ X nicht mehr die direkte ethische Auseinandersetzung, sondern er attackiert die physikalischen Prinzipien des Gegners. Der zentrale Begriff, den Platon hier einführt, ist derjenige der „Seele“. Die Seele habe ontologisch ersten Rang. Diesen Nachweis zu führen, daß die Seele gegenüber dem Körperlichen als primär anzusehen sei, „daß sie in ausgezeichneter Weise von Natur ist“ (Nom. X, 892 c), kann als erstes Beweisziel des zehnten Buches der „Nomoi“ betrachtet werden30. Wenn gilt, daß der wahrhafte Gesetzgeber die 30

Kauffmann (1993), S. 179.

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Natur der Seelen kennen muß, dann nähern wir uns hier der zentralen Frage der gesamten Erörterung. Die Seelen- und Bewegungslehre in „Nomoi“ X ist keinesfalls als philosophischer „Exkurs“ zu betrachten, sie bildet das Kernstück, die sachliche Voraussetzung und den Konvergenzpunkt der gesamten Argumentation. Sie öffnet die Perspektive auf diejenige Form des Wissens, welcher sich ein wahrhafter Gesetzgeber anzunähern hat. Dieses Wissen ist kein theologisches Wissen. Platon bewegt sich im zehnten Buch der „Nomoi“ auf unterschiedlichen Ebenen der sprachlichen Mitteilung. Die theologische Problemlage wird in einem theologischen Idiom gefaßt, zu physikalischen und psychologischen Begriffen in Beziehung gesetzt, in eine Bildsprache übertragen, die ihrerseits in die Terminologie einer präpositionalen Ontologie übersetzt und schließlich in das theologische Idiom zurückgeführt wird. Über das letzte Problem, auf welche Weise die Dynamik des unkörperlichen Prinzips Seele in physische Prozesse umgesetzt wird, läßt sich keine eindeutige Klarheit gewinnen. Wie auch immer es sich mit dieser Frage verhalte, jeder müsse die Seele für einen Gott halten (Nom. X, 899 a). Daraus wiederum wird ein universeller Polytheismus abgeleitet, der jedoch auf einer dezisionistischen Zuschreibung beruht: „Wollen wir nun über die Sterne insgesamt und über den Mond, über die Jahre, Monate und über die sämtlichen Jahreszeiten eine andere Behauptung aufstellen als eben dieselbe, daß, weil Seele oder Seelen als Ursache von diesem allen sich ergaben, und zwar gute in jeder Tugend, wir sie für Götter erklären [ðÇsomen], ob sie nun, als lebende Wesen, Körpern innewohnend oder wie immer sonst oder wodurch den ganzen Himmel ordnen? Gibt es jemanden, welcher, gibt er das zu, zu leugnen wagt, es sei alles mit Göttern angefüllt?“ (Nom. X, 899 b). Die philosophischen Überlegungen der „Nomoi“ zeigen, daß die Grundlage des gesamten politischen Modells auf die Frage nach dem Anfang von Bewegung verweist. Bewegungs- und Seelenlehre sind die Basis der Theologie. Die Theologie der „Nomoi“ steht jedoch in einem charakteristischen Spannungsverhältnis zu den Überlegungen, die Platon in der „Politeia“ angestellt hat. Dort wurde als Grundsatz bezüglich der Theologie aufgestellt, Gott sei einfach und unveränderlich und er sei nicht die Ursache von allem, sondern nur von Gutem. Hinsichtlich der Aussagen und der Logik ist zwischen den Theologien in „Politeia“ und „Nomoi“ eine Spannung festzustellen, wenn nicht gar ein Widerspruch. Angesichts der Spannungen zwischen den verschiedenen theologischen Motiven steht die philosophische Relevanz der Theologie der „Nomoi“ überhaupt zur Debatte. Offenbar lassen sich mehr Fragen an sie stellen als sie Antworten gibt. Wurde die Existenz von körperlosen, unsichtbaren Göttern als dauerhafter und unwandelbarer Gestalten wirklich bewiesen? Sind die Seelen der Himmelskörper auch zu Leidenschaften wie Furcht, Hass oder Zorn fähig? Ist eine Prämisse haltbar,

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aus der sich auch die Verantwortlichkeit der Seele für Unordnung und Schlechtigkeit der Seele herleiten läßt?31 In dieser Hinsicht hat die NomoiStelle vielfach Skepsis hervorgerufen und Fragen bezüglich Platons Anund Absichten provoziert. Die Deutungsvarianten reichen von der Feststellung bleibender Inkonsistenzen über entwicklungstheoretische Erklärungsmuster oder die Auffassung, Platons Philosophie sei ein Spiel mit Symbolen, das an logischen Widersprüchen nicht gemessen werden dürfe, bis hin zu der Erklärung, die Theologie sei konsistent und kohärent. Eine Deutungsmöglichkeit besteht darin, die Spannungen innerhalb der platonischen Theologie als Hinweis auf bleibende sachliche Inkonsistenzen zu werten. Die Logik der Theologie in „Nomoi“ X entspreche nicht derjenigen, der Platon in der „Politeia“ oder im „Timaios“ gefolgt sei. Auch würden die material-theologischen Aussagen in den genannten Dialogen deutlich voneinander abweichen. Zwar bleibe Platons Theologie in „Nomoi“ X insofern lückenhaft, als er dort eine allgemeine These exponiere, ohne sie in allen Details durchzuführen. Doch reiche diese Feststellung nicht aus, die materialen Differenzen zu überbrücken32. Gegenüber derlei Inkonsistenzbehauptungen scheint jedoch eine Interpretation überlegen zu sein, welche eventuelle Widersprüche konstruktiv integrieren könnte. Eine andere Möglichkeit besteht darin, sachliche Widersprüche als Symptome einer philosophischen Entwicklung in Platons Schaffen zu werten. Platon hätte in den „Nomoi“ demzufolge auf Grund tieferer Einsicht oder eines Wandels seiner Überzeugung die Position, die er in der „Politeia“ vorgetragen hatte, revidieren wollen. Ein solcher Wandel könnte entweder die Theologie direkt betreffen oder die metaphysischen Grundlagen der Theologie. Diese Vermutung scheidet jedoch insofern durch den Umstand aus, daß Platon auch in anderen früheren Dialogen abweichende theologische Modelle gekannt und diskutiert hat33. Eric Voegelin hat bei Platon ein ambivalentes Verhältnis zum Mythos und in dessen Konsequenz eine uneinheitliche theologische Positionsvielfalt finden wollen, die man nicht an den Kriterien blanker Logik messen dürfe. Widersprüche waren ihm Anlaß, über „den Facettenreichtum der Einstellungen“ zu spekulieren, „die Platon gegenüber dem Mythos einnimmt.“34 Voegelin meinte, Platon „verwirft den alten Mythos, weil er historisch unwahr geworden ist; aber er verteidigt ihn trotzdem gegen die aufgeklärten Materialisten, die aus der historischen Unwahrheit den Schluß ziehen, daß dem 31

Vgl. Bordt (2006), S. 226 f.; Strauss (1975), S. 150. Vgl. Solmsen (1942), S. 70, 141; Nusser (2008), S. 93 behauptet, diese „immanente Spannung ist Platon nicht aufgefallen.“ 33 Vgl. Bordt (2006), S. 216–220. 34 Voegelin, (2002), S. 231. 32

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Mythos als solchem keine Wahrheit zukommt. [. . .] Es ist eine Freiheit des Spiels mit Symbolen, die die Ernsthaftigkeit des Mythos eher steigert als schmälert, da sie eine sorgfältige Abbildung der Bewegungen des Unbewußten ermöglicht. Auf der Ebene der Symbole könnte diese Flexibilität zu Widersprüchen führen, die wiederum Fragen über Platons ‚wirkliche‘ Absichten aufwerfen könnten. [. . .] Es kann nur eine Antwort auf all diese Fragen geben: Die ‚wirkliche‘ Absicht Platons darf nicht in irgendeinem der widerstreitenden Symbole gesucht werden, sondern in der Erkenntnis, daß die komplizierte Struktur des Unbewußten in Tiefe und Zeit nicht in ein stimmiges System zusammengeführt werden kann. Bei dieser Gelegenheit sollten wir an Goethes Bekenntnis erinnern: Als Naturalist bin ich Pantheist; als Künstler, Polytheist; als Moralist bin ich Monotheist.“35 Michael Bordt hat zuletzt die Widersprüche, die sich zwischen „Nomoi“ X und der Theologie der „Politeia“ respektive der Rede an die Siedler ergeben, als nur scheinbare erweisen wollen. Er hat dem seine These von der Konsistenz der platonischen Theologie entgegengesetzt, der zufolge erstens gezeigt werden könne, „daß Gott auch in den Nomoi die Stelle eines ersten Prinzips zukommt“ und daß es zweitens „einen einheitlichen und konsistenten Gottesbegriff in den Nomoi gibt. Sowohl in der Rede an die Siedler, als auch im zehnten Buch der Nomoi ist der oberste Gott der nous“36. Bordts These beruht auf der Annahme, Platon habe in den „Nomoi“ die Seelen zu den werdenden Dingen gerechnet, die zwar unvergänglich, aber nicht ewig seien. Zudem habe er die Seelen einschließlich der „Weltseele“ in ein ontologisches Abhängigkeitsverhältnis vom Nous gestellt. Das heißt, der Nous, auf mythologischer Ebene der Demiourg, sei von der Seele unabhängig37. Bordt nimmt damit die 1936 von Reginald Hackforth vertretene These wieder auf, der zufolge Gott identisch sei mit der Vernunft, die nicht Teil der Seele sei38. Diese Auffassung hat aber zur Konsequenz, daß die Seele für sich genommen überhaupt nicht als Ursache der Bewegung des Kosmos in Betracht kommt. Nur unter Zuhilfenahme des Nous könnte eine geordnete Bewegung entstehen. Der apsychische Nous wäre letzte Ursache für seelisch vermittelte Prozesse. Auf welche Weise diese Ursache wirke und der Nous die Seele bewegen könne, das, so Bordt, „läßt Platon offen“; mehr noch: „Eine Argumentation, die zeigt, daß und in welchem Sinn der nous 35

Voegelin (2002), 231 f. Bordt (2006), S. 215; auch Enders (1999), S. 172 f., geht im Prinzip von einer Konsistenz aus, insofern er theologische Spannungen auf eine „Differenzierung zwischen verschiedenen Verwirklichungsformen des Gott-Seins“ ableitet und von einer „Stufung“ im Gottesbegriff spricht, selbst wenn sich dies „für Platon selbst [. . .] nicht belegen“ lasse. 37 Bordt (2006), S. 221 f. 38 Bordt (2006), S. 222. 36

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Ursache aller Bewegung ist, arbeitet offenbar mit philosophischen Voraussetzungen, die Platon in den Nomoi bewußt nicht zum Thema machen will.“39 Eine solche Interpretation vertreibt die Philosophie aus der Polis, um die Theologie zu retten. Sie tut dies mit Argumenten, welche an die heute gängige Philosophenschelte erinnert. Philosophie sei demnach etwas für weltfremde Fachmenschen, sie überfordere den gebildeten Durchschnittsbürger mit komplexen Voraussetzungen und irritiere das politische Alltagsdenken, das für ein reibungsloses Funktionieren einer politischen Ordnung nötig wäre. Die vermeintliche Konsistenz löst sich dadurch selbst auf. Die philosophische Argumentation, welche als Handlungsontologie explizit wird, bleibe angedeutet, nicht ausgearbeitet und insgesamt nicht mehr als ein „Exkurs“40. Eine solch reduktionistische Lesart kann Konsistenz durch Neutralisierung der Spannungen nur simulieren. Aber auch die theologische Konsistenz bleibt versagt, wenn doch einerseits gravierende Unterschiede zwischen der „Politeia“ und den „Nomoi“ hinsichtlich der materialen Bestimmung des obersten philosophischen Prinzips, mit dem Gott identifiziert werde, bestehen bleiben und andererseits die philosophische Darlegung „nicht notwendig Platons vollständige theologische Auffassungen enthält.“41 Die entscheidenden Probleme der Handlungsontologie, die Platon in „Nomoi“ X durcharbeitet, werden damit außer acht gelassen und das Problem des Verhältnisses der Theologien der „Politeia“ und der „Nomoi“ zueinander bleibt ungelöst. Die dargestellten Deutungen haben allesamt Schwächen. Indessen kann der bestehenden Spannung Relevanz und konstruktiver Wert beigemessen werden, wenn in der Spannung gerade der Sinn der jeweiligen Überlegungen von „Politeia“ und „Nomoi“ zu finden ist. Der Unterschied zwischen den beiden Dialogen ist ein Unterschied des Standpunkts, von dem aus die politischen Fragen vorwiegend behandelt werden. Auch wenn Philosophie, Politik und Theologie in einer konstitutiven Wechselbeziehung zueinander stehen, ist der in der „Politeia“ maßgebliche Standpunkt derjenige der Philosophie, in den „Nomoi“ jedoch derjenige der Theologie. Der Standpunktwechsel muß nicht im Sinne der entwicklungsgeschichtlichen Deutungshypothese ausgelegt, er kann aus der systematischen Perspektivität im Kontext konkreter Gesprächsbedingungen heraus verstanden werden. In dem Maße, in dem die Philosophie angesichts der Erfordernisse praktischer Politik zurückweicht, tritt die Theologie hervor.

39 40 41

Bordt (2006), S. 224 f. Bordt (2006), S. 219, 233, 237. Bordt (2006), S. 233, vgl. 237.

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III. Die Trennung von Philosophie und Theologie in „Politeia“ und „Nomoi“ Die enge Verbindung von Theologie und Philosophie, die Voegelin für den politischen Platon konstatierte, muß sich mit dem Umstand auseinandersetzen, daß in den politischen Hauptschriften „Politeia“ und „Nomoi“ eine gewisse Trennung der thematischen Behandlung von Philosophie und Theologie vorgenommen wird. Während die Philosophie im Fokus der politischen Reflexionen der „Politeia“ steht, tritt sie in den „Nomoi“ in den Hintergrund. Umgekehrt spielt die Theologie in den „Nomoi“, die man auch als das eigentlich politische Werk Platons bezeichnet hat, die prominentere Rolle. Die Trennung von Philosophie und Theologie ist ein Aspekt der Unterscheidung zwischen Rede und Tat, welche ihrerseits von grundlegender Bedeutung für ein Verständnis des epistemischen Status verschiedener Erörterungen ist42. Auch die beiden Dialogen gemeinsame Gründungssituation variiert in ihrer Anlage und Ausrichtung durch den Hinblick auf „logos“ respektive „ergon“. Ohne an dieser Stelle die Entwicklung der Situation im einzelnen zu wiederholen, sei darauf verwiesen, daß Platon in der „Politeia“ den politischen Idealismus kritisch reflektiert. Die These des politischen Idealismus gipfelt im Postulat der Konvergenz von Wissen und Macht. Die Auseinandersetzung mit der „Philosophenkönigsthese“ wird dominiert von Betrachtungen über den philosophischen Charakter und die philosophische Lebensform, die Erziehung künftiger Philosophen, allgemein und modern gesprochen: das Verhältnis von Philosophie und Öffentlichkeit. Das in Rede stehende Paradeigma der guten Stadt taugt allerdings nicht unbesehen als Grundlage für ein praktisch-politisches Programm. Die Zusammenführung von Wissen und Macht kommt als praktische politische Norm nicht in Frage. Philosophen sind für den Staat unbrauchbar. In den „Nomoi“ wird ein Ausweg aus dem praktisch-politischen Dilemma der Philosophie gefunden. Das gesuchte Mittel ist die Herrschaft des Gesetzes. Mittels des Gesetzes könne es gelingen, die Bürger miteinander auszusöhnen und für die Zukunft miteinander zu befreunden (Nom. I, 627 d ff.). Das Gesetz vermag jedoch nicht aus sich allein heraus zu herrschen. Es bedarf der Assistenz der Götter und der Flankierung durch die Theologie. Gesetzesherrschaft ist Gottesherrschaft und die Gesetzgebungslehre ist der systematische Ort der Theologie. Von der Herrschaft der Philosophen indessen wird in den „Nomoi“ weitgehend geschwiegen43. 42 Zur Unterscheidung von Rede und Tat bei Platon allgemein siehe Kauffmann (2008a), S. 89 ff. 43 Strauss (1975), S. 58, 75.

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In den „Nomoi“ vollziehen die Gesprächspartner eine Stadtgründung in der Rede, aber mit einer anderen Intention als in der „Politeia“. Hier geht es nicht um eine kritische Reflexion des politischen Idealismus und ein Aufzeigen der Grenzen des politisch Machbaren. Die Absicht ist vielmehr eine praktische. Im Hintergrund steht das Interesse an der Gründung einer Kolonie. Das Buch VI der „Nomoi“ richtet sich unmittelbar auf die von den Knossiern zu leistende Einrichtung der Ämter und der Gesetzgebung. Das schließt Maßnahmen für die Stabilisierung der Gesetzesordnung ebenso mit ein wie die Offenheit der Ordnung für Anpassungen auf der Grundlage der von Jahr zu Jahr wachsenden Erfahrung. Dadurch gerät die Kunst der Gesetzgebung selbst in den Blick, die den Gesetzeswächtern zu vermitteln sei (Nom. VI, 769 e). Die Philosophie tritt angesichts der politischen Pragmatik zurück, stärker formuliert: die „Nomoi“ implizieren den Rückzug der Philosophie aus der Politik. Anders als in der „Politeia“ ist in den „Nomoi“ von der edelsten Wissenschaft, auf welche die Mathematik nur vorbereitet, kaum die Rede. Kleinias und Megillos sind in der Mathematik zu unerfahren, um dahin geführt zu werden, was noch jenseits der Mathematik liegt. Nach der Behandlung der Astronomie richten die Gesprächspartner ihre Aufmerksamkeit auf die Jagd. In den „Nomoi“ ist für die Dialektik kein Platz. Im Gegenteil: Zwischen „Logos“ und „Nomos“ zeigt sich ein gewisser Gegensatz: Die Herrschaft des Gesetzes ist eine Art Herrschaft des Stärkeren, was die Herrschaft der Weisheit nicht wäre44. IV. Zur Verhältnisbestimmung von Ontologie und Theologie in den „Nomoi“ Die Dominanz der Theologie in den „Nomoi“ bedeutet nicht, daß diese auch der Sache nach primär wäre. Im Gegenteil, der Nomos ist dem Nous unterlegen. In seltener Deutlichkeit erklärt der Athener: „Denn vorzüglicher als das Wissen ist weder ein Gesetz noch eine Einrichtung noch ist es dem göttlichen Willen gemäß, daß der Geist, wenn er seiner Natur nach ein wahrhaft freier ist, von irgend etwas abhängig oder dessen Sklave sei, sondern vielmehr alles beherrsche“ (Nomoi IX [Müller], 875 c f.: ýpistÇmhò gJr ojte nümoò ojte tÜciò oždemûa kreûttwn, ožd˚ qÍmiò ýst˝n noun ožden˛ò ëpÇkoon ožd˚ doulon ÷llJ pÜntwn årxonta e ùnai, ýÜnper ÷lhqin˛ò ýleŸqerüò te Øntwò ` Ç katJ ðŸsin)45. Deshalb wäre es problematisch, die Herrschaft des Gesetzes mit der Herrschaft der Vernunft gleichzusetzen. Nomokratie und Nookratie sind nicht dasselbe46. So wie _

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44 45

Vgl. Strauss (1975), S. 47, 58, 59, 60, 87, 121, 122, 123, 130, 132, 136, 137. Vgl. Platon, Pol. 293 e ff., 301 e ff.; vgl. Solmsen (1942), S. 163 f.

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das Gesetz dem Nous und der Erziehung unterlegen ist, so abhängig bleibt die Theologie von der Philosophie. Nun ist es keinesfalls so, daß die Philosophie aus den Überlegungen der „Nomoi“ ausgeschlossen bliebe. Sie kehrt anläßlich der zweiten Art von Gesetzgebung, der Gesetzgebung der Vornehmen, zurück. Der Arzt, der als Vornehmer Freie kuriere, gebe nicht nur Verhaltensmaßregeln, die auf Erfahrung beruhten, und verabreiche nicht nur Medizin, er analysiere im quasi wissenschaftlichen Gespräch mit dem Patienten und dessen Freunden die Krankheitsgeschichte und Ursachen der Erkrankung und entwickele daraus Therapieempfehlungen (Nom. IV, 720 d). Platon nimmt zu Beginn des neunten Buches die Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher und erfahrungsgestützter Medizin wieder auf und rückt jene in die Nähe der Philosophie. Der freie Arzt betreibe seine Kunst, „indem er nahe dem Philosophieren sich mit Überlegungen abgäbe und vom Ursprung her der Krankheit beizukommen suchte, [und] von der gesamten Naturbeschaffenheit der Körper ausginge“ (Nom. IX, 857 d). Im selben Zug jedoch, in dem der Logos das Forum der Gesetzgebung betritt, wird der Handlungsdruck zurückgenommen. Der Athener preist die Gesprächssituation als eine glückliche, es bestünde ja keine unmittelbare Notwendigkeit, Gesetze zu geben, also könne man in eine Untersuchung über die gesamte Staatsverfassung eintreten und sich um Erkenntnis bemühen (Nom. IX, 858 a). Und kurz darauf stellt er fest: „Denn Gesetzgeber werden wir erst, sind es aber noch nicht, doch bald könnten wir es vielleicht geworden sein“ (Nom. IX, 859 c). Vor der Erziehung der Bürger durch das Gesetz steht die handlungsentlastete Selbsterziehung des Gesetzgebers zu seinem eigentümlichen Werk. Der wahrhafte Gesetzgeber erfüllt seine legislative Aufgabe in Kenntnis der Natur der Seelen (vgl. Rep. VI, 485 a). Die theologische Einkleidung des Gesetzgebungswerks der „Nomoi“ kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Ontologie den Ankerpunkt der gesamten Konstruktion darstellt. Selbst die Rede an die Siedler verzichtet nicht auf einen Hinweis auf die Kreisbewegung (Nom. IV, 716 a)47. Die Kosmologie des „Timaios“ operiert ebenfalls mit analogen Überlegungen (Tim. 34 a–37 c)48. Der Arzt philosophiert über die Naturbeschaffenheit der Körper, der wahre Gesetzgeber muß die gesamte Natur der Seelen kennen und Seelenforschung betreiben. Im zehnten Buch der „Nomoi“ unterzieht 46 Neschke-Hentschke (2006), S. 152, geht von einer solchen Gleichrangigkeit aus: „Plato definiert daher in seinem Dialog Nomoi die Verfassung seiner Idealpolis als die ‚Herrschaft des Vernunftgesetzes‘ (Nomo- oder Nookratie und teilt dem Menschen die Rolle zu, Diener des Gesetzes zu sein (Nomoi, IV, 715 c5–d2).“ 47 Vgl. Bordt (2006), S. 175 f., 180 f. 48 Vgl. Bordt (2006), S. 177–180.

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Platon „Physis“ und „Psyche“ einer eingehenden philosophischen Analyse, die zur Grundlage der gesamten theologischen Argumentation wird49. Der Untersuchung der Seele gibt Platon eine physikalische Gestalt, indem er die Seele als spontane Selbstbewegung des Lebendigen definiert. Die spontane Kreisbewegung wird sodann über eine präpositionale Ontologie mit der Bewegung der Vernunft identifiziert. Dadurch kann Platon sie von anderen, komplexeren Formen körperlicher Bewegungen im Raum abgrenzen. Die Bewegungen, die von der spontanen Primäraktivität der Seele abhängen, übernehmen eine Mittlerrolle, insofern sie von seelischen Tätigkeiten in Gang gesetzt werden und selber wiederum andere, komplexere Bewegungen verursachen. Der körperlichen Mechanik werden seelische Erstursachen vorangestellt, weil nur so sich ein Anfang von Bewegung und Handlung und damit von Realität im Allgemeinen rekonstruieren ließe. Damit rückt die spontane Tätigkeit der Seele in eine kosmologische Leitfunktion ein. Die Seele müsse als universale Ursache von allem angenommen werden. Sie beherrsche auf analoge Weise nicht nur die Lebewesen auf der Erde und zu Wasser, sondern auch den Himmel (Nom. X, 896 d f.). Das sei der Grund, weshalb ihr ein göttlicher Status zugesprochen werden müsse. Gott ist, weil nur durch ihn als spontane Selbstbewegung die phänomenale Bewegungsstruktur des Alls erklärt werden kann50. Das Spektrum der Bewegungen ist vielgestaltig und bewegt sich auf einer Skala zwischen Einheit und Chaos, zwischen Vernunft und Unvernunft. Platon möchte in einem weiteren Schritt darlegen, daß die Seele aus Analogie zur Vernunft zu verstehen sei. Der Umschwung des Himmels und die Bewegungen von allem in ihm Seienden habe eine der Bewegung und den Erwägungen der Vernunft ähnliche Natur. Daraus folge, daß die beste Seele für das ganze Weltall sorge und daß jene den angegebenen Weg es führe (Nom. X, 897 c). Zunächst ist festzuhalten, daß Bewegung und Vernunft zusammengedacht werden. Daraus ergibt sich sogleich die Frage, von welcher Natur die Bewegung der Vernunft ist (Nom. X, 897 d). Eine Antwort auf die Frage zu finden, sei schwierig, denn dies setze voraus, um in einem bekannten Bild zu sprechen, gleichsam geradezu in die Sonne zu schauen und zu Mittag die Nacht herbeizuführen (Nom. X, 897 d). Platon weicht hier zunächst auf eine bildliche Sprache aus, indem er an Bewegungen von gedrechselten Scheiben und Sphairen erinnert, aber er übersetzt das Bild wiederum in eine philosophische Terminologie. Wie wenig theologisch oder ethisch Platons Überlegungen in den „Nomoi“ fundiert sind, zeigt letztlich die sprachliche Fassung des zentralen Ar49 50

Vgl. Bordt (2006), S. 219 f. Kauffmann (1993), S. 182.

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guments. Die Formulierung der Prinzipien ist an präpositionale Umschreibungen gebunden. Die Strukturelemente und Prinzipien von Bewegung werden durch Präpositionen gekennzeichnet, die vor ein Relativpronomen treten und die Wirkrichtung des jeweils angesprochenen Prinzips kennzeichnen. In der entscheidenden Passage bringt Platon das Bild einer bewegten Kugel mit Hilfe präpositionaler Ausdrücke in eine logische Form. Der terminologisch schwer zu fassende Text „Nomoi“ X, 898 a–b lautet in Hieronymus Müllers Übersetzung: „Wenn wir sagen, daß doch wohl über dasselbe und in gleicher Weise und in demselben und um dasselbe herum und nach demselben hin gemäß einem Verhältnis und einer Aufeinanderfolge sich beide bewegen, die Vernunft und die an einer Stelle umgetriebene Bewegung, welche dem Umlauf einer gedrechselten Kugel gleichen: so dürfen wir in der Kunst, schöne Bilder in Worten darzustellen, nicht unerfahren erscheinen. – Du hast sehr recht. – Dürfte also dagegen nicht die niemals in gleicher Weise, noch über dasselbe, noch in demselben, noch um dasselbe herum, noch nach demselben hin, noch an einer Stelle, noch der Ordnung gemäß, noch in gleichem Verhältnis und gleicher Aufeinanderfolge erfolgende Bewegung wohl jeder Art von Unvernunft verwandt sein? – Das möchte wohl vollkommen richtig sein.“ ’Aqhna ioò· t˛ katJ tažtJ dÇpou ka˝ ¼saŸtwò ka˝ ýn t` w ažt` w ka˝ per˝ tJ ažtJ ka˝ pr˛ò tJ ažtJ ka˝ Òna lügon ka˝ tÜcin mûan åmðw kine isqai lÍgonteò, noun tÇn te ýn Ån˝ ðeromÍnhn kûnhsin, sðaûraò ýntornou ÷peikasmÍna ðora iò, ožk ån pote ðane imen ðauloi dhmiourgo˝ lüg`w kal wn ýikünwn. Kleinûaò · Žrqütata lÍgeiò. ’Aqhna ioò· ožkožn a Ÿ Ó ge mhdÍpote ¼saŸtwò mhd˚ katJ tJ ažtJ mhd˚ ýn tažt` w mhd˚ per˝ tažtJ mhd˚ pr˛ò tažtJ mhd’ ýn Ån˝ ðeromÍnh mhd’ ýn küsm`w mhd’ ýn tÜcei mhd˚ ñn tini lüg`w kûnhsiò ÷noûaò ºn ãpÜshò eŁh suggenÇò; Kleinûaò · eŁh gJr ºn ÷lhqÍstata. _

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Platon führt im theologischen Kontext ein rein ontologisches Philosophem ein, das ein Identitätskriterium für Bewegungen darstellt. Da die inhaltliche Rekonstruktion des Identitätskriteriums bereits andernorts vorgenommen wurde, reicht es hier, auf den Kern der Bewegungsontologie zu verweisen51. Die präpositionalen Ausdrücke sowie die Kategorien Logos, Kosmos und Taxis kennzeichnen formale Strukturelemente von Bewegungen überhaupt. Die höchsten Formen von Bewegung – die Bewegung der Vernunft im intelligiblen Bereich, die Kreisbewegung im sinnlichen Bereich – unterscheiden sich in ihrer formalen Struktur nicht von der sinnlosen Unruhe des Chaos und der Unvernunft. Die Verschiedenheit beruht allein auf dem Grad der Identität der Aufbauelemente. Im Ergebnis konstruiert Platon 51

Vgl. Kauffmann (1993), S. 264–337.

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auf diese Weise ein Identitätskriterium für Bewegungen, wonach zwei Bewegungen genau dann identisch sind, wenn sie auf derselben Dynamis beruhen, sich im Hinblick auf dieselbe Idee realisieren, dieselben Mittel einsetzen, dieselben Ursachen haben, dasselbe Material involvieren, sich an demselben Ort und zu derselben Zeit ereignen, wenn sie dasselbe Strukturprinzip haben, sich in derselben Differenz realisieren, wenn sie dieselbe Definition, dieselbe Ordnung und dieselbe Struktur haben. Ein Ereignis, das nicht in allen Punkten identische Merkmale aufweist, besteht aus einer komplexen Bewegungsstruktur. Nur die Kreisbewegung und die reine Tätigkeit der Vernunft sind einfache Prozesse, alle anderen Bewegungen in der Welt sind grundsätzlich komplex. Mit wachsender Komplexität entfernen sie sich zusehends von Vernunft und Vollkommenheit. Die Bewegungsontologie erweist sich in letzter Konsequenz als eine Ontologie der Handlung. Denn Platon bindet die naturwissenschaftlich nüchterne Untersuchung an innere, mentale und sittliche Handlungen zurück: Wollen, Schließen, Meinen, Erinnern, Erwägen, Beraten, Charakter, Sitte und die Sorge. Dazu kommen die spezifisch psychischen konträren Verfassungen, in denen die inneren Akte erscheinen können: Freude und Schmerz, Mut und Furcht, Liebe und Haß, aber auch Wahrheit und Falschheit. Platon entwickelt im theologischen zehnten Buch der „Nomoi“ somit tatsächlich einen handlungsontologischen Horizont. Die „inneren Handlungen“ sind „Praxis“ im wahren Sinne des Wortes. Die erstwirkenden Bewegungen bezeichnet Platon in den „Nomoi“ konsequenterweise als „die großen und ersten Erga und Praxeis“ (Nom. X, 892 b). Die theologische Typologie der „Politeia“ mit ihren Verweisen auf Ursächlichkeit und Unveränderlichkeit ist ebenso wie der Anfang der „Nomoi“-Rede an die Siedler nur von der Handlungsontologie im zehnten Buch der „Nomoi“ her verständlich. Bei Platon ist es nicht ungewöhnlich, theologische Fragen in handlungsphilosophischen Kategorien zu klären. Im „Euthyphron“ wird das Fromme bewegungs- und handlungsphilosophisch bestimmt mit der Konsequenz, daß die Richtigkeit von Handlungen so weitgehend von den Göttern unabhängig wäre, daß jene vielmehr diesen selbst vorgegeben sei (Euthphr. 10 a–e)52. Umgekehrt wird die menschliche Praxis als die mentale Aktivität des freien, sittlichen Subjekts in dem gewaltigen Bild des exemplarisch handelnden Demiourgen reflektiert, das Platon im „Timaios“ entwirft. Der Kosmos wird aus der universalen Ontologie der Handlung heraus begriffen, wobei die Unterschiede zwischen verschiedenen Seinsstufen als Analogieverhältnisse gedeutet werden. Das ändert sich auch bei Aristoteles nicht, den man fälschlicherweise als Begründer der Handlungsphilosophie bezeichnet. Die Bewegungen der Gestirne waren für Ari52

Vgl. Bordt (2006), S. 216 f.; Enders (1999), S. 143–147.

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stoteles ebenso wie das ewige Leben des unsterblichen Gottes deren „Praxis“53. Immer geht es um den Anfang einer lebendigen Wirklichkeit. Ein Anfang ist nur unter Rekurs auf ein reflektiertes und selbstbestimmtes dynamisches Zentrum verständlich. Die objektive Struktur der vernünftigen Setzung wiederholt sich in jeder partikularen sittlichen Praxis. V. Platons „falsche“ Theologie Die philosophisch begründeten Typen bezüglich der Theologie in „Politeia“ II bieten einen Maßstab für die Beurteilung der Erzählungen über die Götter in den „Nomoi“. Von Göttern in vielen Gestalten zu sprechen ist an den Kriterien der platonischen Ontologie bemessen eine „falsche“ Theologie. Dies stimmt auch mit der Ontologie in „Nomoi“ X selbst überein, der zufolge Vollkommenheit absolute Identität und folglich Einfachheit impliziert. Bestätigt wird dies von der philosophischen Passage im „Phaidros“. Nur die Vernunft habe Zugang zum höchsten Wesen, das keine gestalthaften Differenzierungen kenne und einen überhimmlischen Ort bewohne. In diesem Umkreis finde sich die wahrhafte Wissenschaft, nicht etwa die Theologie. Unvermischte Vernunft und Wissenschaft seien vielmehr Nahrung für den göttlichen Verstand, der sich somit als von der Vernunft abhängig erweist (Phdr. 247 c ff.). Vielfältigkeit ist demnach nur auf einer minderen Vollkommenheitsstufe denkbar. Dazu paßt ebenfalls die Aussage, daß der Nous über den Göttern stehe und für diese selbst wiederum göttlichen Charakter habe (Nom. X, 897 b)54. In den Darlegungen der „Nomoi“ vermischen sich ontologische und theologische Motive. Dabei verläßt die Theologie nicht den Rahmen eines Idioms, das heißt einer bloßen Redeweise, welche sachlich der ontologischen Analyse nichts hinzufügt. Insofern der sachliche Beitrag der Theologie zur Erkenntnis der Götter negativ ausfällt, kann man von einer „falschen“ Theologie auch nur in Anführungszeichen sprechen: sie entspricht nicht den Typen bezüglich der Theologie, braucht sich aber als Redeweise ohne Erkenntnisgewinn auch nicht an Wahrheitskriterien messen lassen. Eine theologische Redeweise ist dennoch zweifach legitimiert. Einmal kann der Ausdruck „Gott“ die Bezugnahme auf etwas kennzeichnen, was dem Menschen nicht unmittelbar zugänglich ist und seine Vermögen überschreitet. Zum anderen knüpft die theologische Redeweise an etwas an, was den Menschen aus der Tradition geläufig ist, von dem sie wissen, daß es für ihr Handeln relevant ist und das sich regulierend und motivierend auf ihr Tätigsein auswirkt. 53 Aristoteles, Vom Himmel 286 a 8–10, 292 a 1–22, Metaphysik 1048 b 25; Kauffmann (2001), 126–131. 54 Vgl. Enders (1996), S. 164.

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Die enge Verbindung zwischen Theologie und Gesetzgebungskunst scheint Voegelins Platondeutung auf den ersten Blick Recht zu geben. Es hat sich aber gezeigt, daß das Zurücktreten der philosophischen Argumentation hinter der theologischen Redeweise in den „Nomoi“ nicht in der Sache begründet ist. Das zehnte Buch behandelt die Theologie selbst, welche als Grundlage für die theologische Einkleidung der politischen Verhandlungen gebraucht wird, in ontologischen Termini. Das ganze Gebäude der „Nomoi“ fußt mithin auf einer präzisen, terminologisch gefaßten Handlungsontologie. Bleibt die theologische Redeweise hinsichtlich ihres Inhalts immer auf die Ontologie verwiesen und an diese zurückgebunden, braucht sie sich als solche aber nicht an Wahrheitskriterien messen zu lassen, dann kann ihre Dominanz in den „Nomoi“ nur politisch begründet sein. Insofern bleibt Eric Voegelins Überzeugung, Platon strebe ein theokratisches Reich an, dem Idiom der öffentlichen Kommunikation verpflichtet, ohne daß damit eine Existenzaussage verbunden werden könnte. Die theologische Ausdrucksweise ist in Platons Kontext ein Darstellungsmittel der politischen Philosophie als öffentlicher Vernunft. Literatur Bordt, Michael (2006): Platons Theologie. Freiburg/München: Verlag Karl Alber, 2006. (Symposion 126). Cherniss, Harold (1944): Aristotle’s Criticism of Plato and the Academy. Baltimore, 1944. Cleary, John J. (1988): The Role of Theology in Plato’s Laws. In: Lisi (Hrsg.) (1988), S. 125–140. Enders, Markus (1999): Platons „Theologie“: Der Gott, die Götter und das Gute. In: Perspektiven der Philosophie: Neues Jahrbuch. Begründet von Rudolph Berlinger. Herausgegeben von Wiebke Schrader/Georges Goedert. Band 25, (Amsterdam; Atlanta, GA) 1999, S. 131–185. Goldschmidt, Victor (1970): Theologia. In: Questions platoniciennes. Paris: Vrin, 1970, S. 141–172. Hackforth, Reginald (1936): Plato’s Theism. In: Classical Quarterly 30, 1936, S. 439–447. Jaeger, Werner (1947): Theology of the Early Greek Philosophers. Oxford, 1947. Kauffmann, Clemens (1993): Ontologie und Handlung: Untersuchungen zu Platons Handlungstheorie. Freiburg (Breisgau)/München: Karl Alber, 1993. (Alber-Reihe Praktische Philosophie; Bd. 47). – (2001): Konzepte politischen Handelns in der griechischen Philosophie. In: Harald Bluhm/Jürgen Gebhardt (Hrsg.): Konzepte politischen Handelns: Kreativität – Innovation – Praxen. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2001, S. 117– 145. (Schriftenreihe der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft; Bd. 1).

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– (2008a): „Rede“ und „Tat“ im Platon-Bild von Leo Strauss. In: Eckl, Andreas/ Kauffmann, Clemens (Hrsg.): Politischer Platonismus. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2008, S. 87–101. – (2008b): Gründung und Begründung in Platons politischer Philosophie. In: Nitschke, Peter (Hrsg.): Politeia: Staatliche Verfasstheit bei Platon. Baden-Baden: Nomos Verlag, 2008, S. 21–34. (Staatsverständnisse; Bd. 19). Lisi, Francisco L. (Hrsg.) (1988): Plato’s Laws and its Historical Significance. Selected Papers of the I. International Congress on Ancient Thought. Salamanca, 1988, Sankt Augustin 2001. Menn, Stephen (1995): Plato on God as Nous. Carbondale, 1995. Nadaff, Gerard (1996): Plato’s Theologia Revisited. In: Methexis, 9, 1996, S. 5–18. Neschke-Hentschke, A.: (2006): Macht und Vernunft – die Macht der Vernunft. In v. Ackeren, Marcel/Sommerell, O. (Hrsg.): The Political Identity of the West – Platonism in The Dialogue of Cultures. Frankfurt u. a.: Peter Lang, 2006, S. 151–167. Nusser, Karl-Heinz (2008): Platon über Gott oder Götter. In: ders.; Riedl, Matthias/ Ritter, Theresia (Hrsg.): Politikos – Vom Element des Persönlichen in der Politik. Festschrift für Tilo Schabert zum 65. Geburtstag. Berlin: Duncker & Humblot, 2008, S. 83–93. Solmsen, Friedrich (1942): Plato’s Theology. Ithaca; New York: Cornell University Press, 1942. Strauss, Leo (1975): The Argument and Action of Plato’s Laws. Chicago: The University of Chicago Press, 1975. Voegelin, Eric (2002): Ordnung und Geschichte. Herausgegeben von Peter J. Opitz und Dietmar Herz. Band 6: Platon. Herausgegeben von Dietmar Herz. Aus dem Englischen von Veronika Weinberger. München: Wilhelm Fink Verlag, 2002. (Periagoge).

Die Abwesenheit des Philosophen und die Gegenwärtigkeit des Rechts – Platons „Nomoi“ Von Barbara Zehnpfennig Theos, Gott, ist das große Wort, mit dem Platons „Nomoi“ anheben, und dies wie der immer wiederkehrende Verweis auf den Gottesbezug des Gesetzeswerks, das in den „Nomoi“ entworfen wird, hat oftmals zu der Deutung geführt, Platons Alterswerk sei ein Plädoyer für die Theokratie.1 Doch was ist mit „Gott“ gemeint, jenem gleich zu Beginn und im Singular genannten Absolutum? Zunächst einmal ist es doch zweifellos eine Nomokratie, eine Gesetzesherrschaft, die hier installiert werden soll. Wie diese als Gottesherrschaft zu verstehen sein könnte, da es sich bei dem platonischen Gesetzgeber in den „Nomoi“ doch erkennbar um einen Menschen handelt, bliebe zu untersuchen. Das erfordert allerdings einen weiteren Gang. Denn dazu muss geklärt werden, was es bedeutet, dass das Gemeinwesen hier anders als in der „Politeia“ nicht dem Philosophen, sondern dem Rechtssystem anvertraut wird, und dass dies Rechtssystem auf einen Gesetzgeber zurückgeht, der sich nicht als Philosoph zu erkennen gibt. I. Philosoph und Gesetzgeber In der „Politeia“ führt Sokrates das Gespräch, in den „Nomoi“ ist er nicht einmal – wie in anderen platonischen Spätdialogen2 – als Zuhörer präsent. Man könnte das als zunehmende Entfernung Platons von seinem Lehrer interpretieren, sofern man der in der Philosophiegeschichte wirkmächtigen, aber nichtsdestotrotz äußerst fragwürdigen Unterscheidung zwischen sokratischer und platonischer Philosophie3 folgen wollte. Doch auch eine andere 1 So, stellvertretend für viele, z. B. Knoch, Winfried, Die Strafbestimmungen in Platons Nomoi, Wiesbaden 1960, S. 35; Hentschke, Ada-Babette, Politik und Philosophie bei Plato und Aristoteles, Frankfurt a. M. 1971, S. 233; Ottmann, Henning, Geschichte des politischen Denkens, Band 1/2, Die Griechen, Stuttgart/Weimar 2001, S. 84 2 Z. B. in „Politikos“ und „Timaios“. 3 Das mit Aristoteles anhebende Missverständnis, Sokrates als bloßen Aporetiker und Platon als Erfinder der „Ideenlehre“ zu verstehen, kann an dieser Stelle nicht als solches erwiesen werden. Zum Zusammenhang zwischen sokratischer Frage und

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Interpretation ist denkbar: dass in einem Staatsentwurf, der deutlich als zweitbeste Lösung im Vergleich mit dem idealen Staat gekennzeichnet wird,4 der Philosoph keinen Ort mehr hat – weil seine Vernunft durch die Rationalität eines Regelsystems ersetzt wird, das den idealen Staat zwar als „Paradigma“5 nimmt, in seiner Nachbildung des Vorbilds aber unter dem Vorbehalt steht, die Institution an die Stelle der Person treten lassen zu müssen.6 Die Existenz des idealen Staats, also des Staats der „Politeia“7, wird explizit an den Zusammenfall von Macht und Philosophie in der Person des Philosophenkönigs gebunden.8 Es geht um die personale Verwirklichung der Vernunft; deshalb ist der ideale Staat letztlich auch nur der ‚großgeschriebene Mensch‘9, d.h. die Projektion der vernünftigen Seelenordnung auf die staatliche Ordnung, und deshalb wird die Verwirklichung des Ideals auch als so unwahrscheinlich bezeichnet,10 weil es dafür zunächst einen Menschen geben müsste, der sozusagen fleischgewordener Logos ist. Von einem solchen Menschen ist in den „Nomoi“ nicht mehr die Rede, das Wort „Philosophie“ kommt in dem ganzen großen Werk kaum einmal vor11 – ein deutlicher Hinweis Platons darauf, dass der Gesetzesstaat, auch wenn er sich am idealen Staat orientiert, letzter philosophischer Begründung ermangelt.12 Der Gesetzgeber verkündet Wissen, er ringt nicht wie platonischer Philosophie vgl. Zehnpfennig, Barbara, Platon zur Einführung, Hamburg 32006. 4 Vgl. Nomoi 739 a–e. 5 Nomoi 739e. 6 Nicht plausibel erscheint Leo Strauss’ Deutung, Sokrates habe in den „Nomoi“ deshalb keinen Platz, weil ihm sein Daimonion die politische Betätigung verboten habe und die „Nomoi“ die eigentliche Politik Platons enthielten. (The Argument and the Action of Plato’s Laws Chicago and London, 1975, S. 1). Das setzte voraus, dass die „Politeia“ politisch nicht ernst zu nehmen ist. 7 Dass mit dem idealen Staat, der in den „Nomoi“ der Maßstab bleibt, der Staat der „Politeia“ gemeint ist, vertreten z. B. auch Hentschke, a.a.O, S. 165 und Schöpsdau, Klaus, Platon Werke, Nomoi, Übersetzung und Kommentar, Göttingen 2003, S. 308 ff. 8 Politeia 473 c, d. 9 In diesem Sinne: Politeia 368e–369a. 10 Z. B. Politeia 499d, 540d, e. 11 In 857d ist von „nahezu philosophischen“ Logoi die Rede, derer sich der Gesetzgeber zur Überzeugung der Bürger bedienen müsse, und in 967b werden die Naturphilosophen erwähnt, allerdings in kritischer Absicht, da sie alles materialistisch erklärten. 12 Das bedeutet allerdings keinesfalls, dass die „Nomoi“, wie Müller meint, eine Spät- und Verfallsform der platonischen Philosophie darstellen und sich in ihnen kein einheitlicher Gedankenbau erkennen lässt. (Müller, Gerhard, Studien zu den platonischen Nomoi, München 21968, S. 97) Vielmehr müssen Zweck und Adressa-

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der Philosoph dialektisch um Erkenntnis. Ist aber das Wissen nicht die überlegene Form der Einsicht und die Erkenntnissuche sozusagen nur die Vorform? Steht der Gesetzgeber der „Nomoi“ möglicherweise über dem Philosophen der „Politeia“, weil er sein Wissen in allgemeine Regularien übersetzen kann, während der Philosophenkönig seine dialektische Kunst wohl nur am Einzelfall erweisen könnte? Um diese Fragen beantworten zu können, muss das Spezifische des Philosophen, so wie Platon es in der „Politeia“ schildert, noch einmal genau gefasst werden; erst von dorther wird erkennbar, was es bedeutet, wenn dies Spezifische seine Wirkung in einem Staat entfalten kann oder nicht. Die Kernkompetenz des Philosophen wird in der „Politeia“ unzweideutig benannt: Er muss über die Erkenntnis des Guten verfügen.13 Doch was ist damit gemeint? Das Gute ist nicht irgendein beliebiger Gegenstand, sondern es ist dasjenige, von dem alles andere abhängt. Gezeigt wird dies an den beiden grundlegenden Seinsschichten des Menschen, seiner Leiblichkeit und seiner Geistigkeit. Selbst wenn dem Menschen alle erdenkliche Lust zuteil würde – was nützte es ihm, wenn er dabei auch die schlechte Lust erführe, nämlich diejenige, die ihm schadet? Analoges gilt für den Bereich des Wissens: Auch das Wissen bleibt in sich ambivalent, d.h. potentiell schädlich, sofern es nicht im Dienst des Guten steht. Damit ist zweierlei gesagt. Erstens: Ohne das Gute ist alles nichts, d.h. es ist das schlechthin Unverzichtbare.14 Zweitens: Wenn weder Leiblichkeit noch Geistigkeit, weder Lust noch Wissen selbst schon gut sind, sondern des Guten bedürfen, um ihrer Ambivalenz entrissen werden zu können, dann muss das Gute etwas sein, das jenseits beider angesiedelt ist. Das heißt, das Gute geht nicht im Materiellen auf – eine Absage an den Sensualismus –, es ist aber auch nicht identisch mit dem Wissen, womit ebenfalls der Rationalismus in seine Schranken verwiesen wird. Die daraus oft gezogene Konsequenz, bei Platon sei das Gute etwas, das nur per „Schau“ zugänglich und damit dem Irrationalen zuzurechnen sei, findet im ten des Textes bedacht sein: Es geht um eine Staatsgründung unter realgeschichtlichen Bedingungen. Allerdings besteht aufgrund der fehlenden Letztbegründung m. E. doch ein entscheidender qualitativer Unterschied zwischen „Politeia“ und „Nomoi“ – anders, als es bspw. Hentschke, a. a. O., in ihrer Abhandlung vertritt, insofern sie in den „Nomoi“ eine Fortsetzung der sokratischen Elenktik erblickt, die sich nun aber nicht auf Meinungen, sondern auf vorfindliche Gesetzeswerke richte. 13 Politeia 504b ff. 14 Picht, Georg, Platons Dialoge „Nomoi“ und „Symposion“, Stuttgart 1990, betont – m. E. zu Recht – dass das gesamte platonische Werk von der Frage nach dem Guten zusammengehalten wird (266 f.). In der Tat ist das für Platon die zentrale Frage – und darüber hinaus ist es die zentrale philosophische Frage, insofern in jeder Denk- und Handlungsoption das Gute als Maßstab immer schon vorausgesetzt sein muss.

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Text keine Bestätigung. Dort ist ganz eindeutig von der Erkenntnis des Guten die Rede, und die Formel einer „Schau“ ist dem Gleichnis geschuldet, mit dem das Gute verbildlicht wird: Wenn im Höhlengleichnis das Gute in Gestalt der Sonne erscheint,15 ist es eine logische Konsequenz, dass deren Erfassung kaum anders als durch das Sehen zu bewerkstelligen ist. Das Bild muss rückübersetzt werden. Dann wird klar, dass an die Stelle des Sichtbaren das Denkbare rückt und dass die Überschreitung des bloß Rationalen nicht das Sub-, sondern das Supra-Rationale meint: den Überschritt vom Verstand zur Vernunft, so wie er im Liniengleichnis16 beschrieben ist. Die Tätigkeit der Vernunft besteht danach darin, nicht wie der Verstand von Prämissen her, sondern in umgekehrter Richtung auf die Verstandesprämissen hin zu denken, d.h. sie zu durchdenken, bis man auf dem Grund der vom Verstand angenommenen Voraussetzungen auf das Anhypotheton, das Voraussetzungslose, stößt – eben das Gute. Doch noch einmal: Was ist das Gute? Auch hier führt die Orientierung an den platonischen Texten wohl weiter als die Einlassung auf die vielfältigen Spekulationen in der Literatur.17 An der berühmten Stelle in seinem „Siebten Brief“, an der Platon über das Eigentliche seiner Philosophie spricht, bekundet er, dass dies nicht sagbar sei wie andere Wissensgegenstände.18 Das kann nun nicht mehr erstaunen, denn das Gute war als etwas gekennzeichnet worden, das nicht Objekt des Wissens sein kann, sondern dessen Begründung darstellt. Es gibt kein Wissen vom Guten, sondern nur die Erkenntnis des Guten, die es ermöglicht, das Wissen so zu begründen, dass es zum Guten wirkt. Das Gute ist also kein „Ding“, auch kein Gedankending, wie Aristoteles Platon missverstanden hat.19 Es handelt sich um eine Einsicht, die individuell gewonnen werden muss und insofern auch nicht übertragbar ist, so wie Erkenntnis generell nicht übertragbar ist. Mitteilbar ist jedoch, wie man zu dieser Erkenntnis gelangen kann, die erst den vernünftigen Gebrauch von Lust und Wissen ermöglicht: durch einen langen Bildungsprozess, den Platon im Bild des Aufstiegs sinnfällig werden lässt20 und an 15

Politeia 516b. Politeia 510b ff. 17 Zu den verschiedenen Deutungsrichtungen im Hinblick auf die platonische Idee des Guten vgl. den Sammelband von Barbaric´, Damir (Hrsg.), Platon über das Gute und die Gerechtigkeit, und dort vor allem die Beiträge von Barbaric´, Deretic´ und Ferber. 18 Siebter Brief 341c. 19 Aristoteles’ wiederholt vorgetragener Vorwurf, Platon habe das menschliche Gute zu einer Idee jenseits der Wirklichkeit hypostasiert bzw. mit der Idee überhaupt eine sinnlose Verdoppelung des Wirklichen vorgenommen (vgl. z. B. Nikomachische Ethik I 1095b ff., Metaphysik I, 990b ff., XIII 1078b ff.), ist Ausdruck eben jenes Verdinglichungs-Denkens, das er Platon unterstellt. 16

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dessen Beginn eine grundlegende Umorientierung steht. Sich von dem gebannten Blick auf die Höhlenwand loszureißen, wie jene Umorientierung im Höhlengleichnis versinnbildlicht wird, bedeutet, sich aus alten Denkschemata zu lösen und sich in der Einsicht, des Entscheidenden noch zu bedürfen, auf die Suche nach der Wahrheit zu machen. Das Vorbild für jenen Suchenden ist zweifellos Sokrates,21 und an seiner Fragepraxis wird erkennbar, was mit der Dialektik gemeint sein muss, mittels derer der Philosoph die Erkenntnis des Guten verwirklicht: die vorbehaltlose Untersuchung der Prämissen des Denkens, das der anderen, aber ebenso das eigene, und die Überwindung der Widersprüche, die in der Prüfung auftauchen, in der neu gewonnenen Einheit des Suchenden mit sich. Nicht umsonst steht die gesamte „Politeia“ unter der Ägide des delphischen Apoll. Dessen Aufforderung zur Selbsterkenntnis sieht Platon offenbar in der rückhaltlosen sokratischen Prüfung, die zu allererst einmal Selbstprüfung sein muss, verwirklicht. Die auf diese Weise gewonnene Sachlichkeit, also die Befreiung von den eigenen Vorurteilen, ist das Gute; der Philosoph ist der Weise, der anders als der normale Mensch nicht mehr sich selbst zum Maß aller Dinge erhebt, sondern das zu realisieren trachtet, was objektiv gut und vernünftig ist. Nimmt man den Zusammenhang in der skizzierten Form,22 so ergibt sich als Quintessenz: Der Philosoph der „Politeia“ ist deshalb zur Regentschaft ausersehen, weil er in sich umgesetzt hat, was Vorbild für das gesamte Gemeinwesen sein muss – die Ausrichtung an der Vernunft, die nach dialektischer Prüfung erkennen lässt, was im jeweils zu entscheidenden Fall das Gerechte, Gute etc. ist. Weil er die menschliche Selbstverwirklichung in der Tugend erreicht hat, ist er auch der Kompetenteste, um zu beurteilen, worin das für alle Gute besteht. Letzteres lässt sich kaum in ein starres Regelwerk bannen, sondern muss so, wie der sokratische Dialog es vorführt, in der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Meinungen immer wieder neu generiert werden. 20 Den Aufstieg thematisiert Platon bekanntlich in drei Dialogen (Symposion 210a–212a, Politeia 514a–519a, Phaidros 246a–249d) und im Siebten Brief (342a–344d). Zur Thematik des Aufstiegs vgl. Lisi, Francisco (Hrsg.), The Ascent to the Good, Sankt Augustin 2007. 21 Darauf deutet auch die Tatsache hin, dass Platon im Schicksal des Aufgestiegenen das Schicksal des Sokrates beschreibt: die Höhlenbewohner wollen denjenigen, der sie ihrerseits zum Aufstieg bewegen will, lieber umbringen, als von ihrem alten Dasein zu lassen. 22 Dass diese Deutung in Konkurrenz zu vielen anderen Deutungen steht, versteht sich von selbst. Für ihre Plausibilität spricht aber, dass sich so ein immanenter Werkzusammenhang herstellen lässt, der sokratisches und platonisches Denken nicht künstlich auseinanderreißt.

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Natürlich ist das ein Ideal und nicht ein einfach auszuführendes Schnittmuster für die Gründung eines realen Staates, zumal es dafür der Existenz jenes absoluten Ausnahmemenschen bedürfte, der im Philosophen Gestalt gewinnt. Will man dennoch nicht in die Bahnen des gewöhnlichen Politikbetriebes geraten, den Platon als Herrschaft des Parteieninteresses identifiziert,23 bleibt nur der Versuch, die lebendige Vernunft in ein Regelsystem zu transformieren – um den Preis der fehlenden Letztbegründung. Denn das dialogische Rechenschaftgeben fällt in dem Gesetz gewordenen Logos notwendig fort; das Gesetz verkündet das Ergebnis des Nachdenkens, es zeigt nicht den Weg auf, der zu ihm führte. Das ist das entscheidende Manko gegenüber der lebendigen Vernunfttätigkeit. Weitere Beschränkungen des im Gesetz fixierten Logos benennt Platon bekanntlich im „Politikos“:24 Das Gesetz ermöglicht keine Einzelfallgerechtigkeit. Denn die Unterschiedlichkeit der konkreten Fälle kann im Gesetz nicht abgebildet werden. Auch die stete Veränderung der Wirklichkeit findet in der fixierten Formel keinen Widerhall. So ist das Gesetz „nicht imstande . . ., das für alle Zuträglichste und Gerechteste genau zu umfassen und so das wirklich Beste zu befehlen.“25 Und dennoch empfiehlt Platon die Gesetzesherrschaft als Ausweg, wenn der Philosophenkönig fehlt, was den Normalfall darstellt. Aus welchem Grund ist die Gesetzesherrschaft dann vorzuziehen? Gesetze beruhen in der Regel immerhin auf langer Erfahrung, und diejenigen, die sie schufen, sind wahrscheinlich gebildeter als die meisten.26 Im Gesetz sedimentieren sich somit – idealiter – eine gewisse Sachkompetenz und Welterfahrung. Vor allem aber zeigen sich die Vorzüge des Gesetzes, wenn man die sonst drohende Alternative bedenkt: die gesetz-, und das heißt die regellose Herrschaft eines einzelnen oder einer kleineren oder größeren Gruppe, die ihr Partikularinteresse all denen diktiert, die das Pech haben, unter ihre Herrschaft geraten zu sein. Das Allgemeine, das das Gesetz verkörpert, ist der individuellen Willkür, der rückhaltlosen Durchsetzung des Eigeninteresses, allemal überlegen. Deshalb fordert Platon im „Politikos“ auch, dass sich dort, wo Gesetze der beschriebenen Art bestehen, alle diesen Gesetzen zu unterwerfen haben; das betrifft die Herrschenden nicht weniger als die Beherrschten. Betrachtet man die „Nomoi“ vor diesem Hintergrund, so zeigt sich, dass die Abwesenheit des Philosophen weitreichende strukturelle Folgen hat: Die politische Ordnung, die mit Hilfe des Gesetzeswerks errichtet wird, 23 24 25 26

Nomoi 832b, c. Politikos 294a–295a. Politikos 294a, b. [Übersetzung von Friedrich Schleiermacher] Politikos 300b.

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kann das Gute, das mit ihr realisiert werden soll, nicht als solches erweisen, wie dies ein Mensch tun könnte. Sie muss es in gewisser Weise voraussetzen; mit den entsprechenden Restriktionen, die auf der schriftlichen Fixierung des als richtig Angenommenen beruhen, und mit dem Risiko, das Richtige mangels letzter Begründung mitunter zu verfehlen.27 Doch muss jene Ordnung der „Nomoi“, die von der Abwesenheit des Philosophen ausgeht, ganz auf den Philosophen verzichten? Das lässt sich wohl nicht eindeutig feststellen. Möglicherweise hat sich der Philosoph hier in die Rolle des Gesetzgebers begeben und sich bemüht, seine Erkenntnis in Wissen umzugießen.28 Das wäre der Versuch, sich selbst mittels des dargestellten Regelwerks überflüssig zu machen. Denkbar ist aber auch, dass der „Fremde“ aus Athen, der in den „Nomoi“ als Gesetzgeber tätig wird, nicht aus philosophischer Einsicht schöpft, sondern nur auf die „richtige Meinung“ zurückgreift – auf ein eher intuitives Erfassen des Richtigen, das, wie Platon z. B. in der „Politeia“ zeigt,29 mehr ist als das Nicht-Wissen, aber schwankend bleiben muss, da ihm die letzte Grundlegung ermangelt. Aber ob der Gesetzgeber nun Philosoph ist oder nicht – die „zweitbeste“ Ordnung soll die „beste“ nachahmen, und dabei ist sie auf die Bedingungen verwiesen, die ihr durch die strikte Bindung an das Gesetz strukturell vorgegeben sind. II. Die Stellung des Rechts30 In der „Politeia“ ist der Weise das Vorbild; von den Bürgern wird primär die Akzeptanz seiner Herrschaft gefordert. Das ist ihr Anteil an der Tugend – die Besonnenheit, die darin liegt, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse freiwillig der überlegenen Einsicht unterzuordnen. In den „Nomoi“ stehen alle gleichermaßen, Bürger wie Amtsinhaber, unter der Herrschaft des Gesetzes. Dieses soll prägend auf sie einwirken, also das in ihnen hervorbringen, was als Staatsziel bestimmt wird: die Ausrichtung an der gesamten Tugend, also nicht nur, wie dies bspw. in der spartanischen Verfassung der 27

Das bedeutet nicht, dass Platon den Philosophen für unfehlbar hält. Er ist nur derjenige, der das Gute nach menschlichen Möglichkeiten – z. B. nach Maßgabe des ihm verfügbaren Faktenwissens – am besten verwirklicht, weil er mit einem begründeten Maßstab operiert. 28 Eine in der Literatur häufiger anzutreffende Deutung; manche identifizieren den namenlosen Athener in den Nomoi auch umstandslos mit Platon selbst; s. z. B. Knoch, Winfried, a. a. O., S. 4. 29 Politeia 476e–480a. 30 Wie sich das in den „Nomoi“ entwickelte Rechtsverständnis in das platonische Rechtsdenken insgesamt einfügt, analysiert Seubert, Harald, Polis und Nomos. Untersuchungen zu Platons Rechtslehre, Berlin 2005.

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Fall ist, an der Tapferkeit, sondern an dem vollständigen Tugendkanon: Tapferkeit verbunden mit „Gerechtigkeit, Besonnenheit und Einsicht“31. Bedeutet das, dass in den „Nomoi“ allen zukommen soll, was in der „Politeia“ nur vom Philosophen erwartet wird, nämlich die vier Kardinaltugenden in sich zu vereinen? Doch das kann kaum gemeint sein, denn erst die Erkenntnis, was gut ist, ermöglicht die wahre Einheit der Tugenden: Der vernünftige Mensch ist, so weit das einem Menschen möglich ist, auch der Gerechte, Tapfere und Besonnene, weil er hinter seine Einsicht nicht mehr zurückfallen kann und in jeder Lebenssituation das als richtig Erkannte umsetzen muss. Er kann nicht das weniger Gute dem Guten vorziehen, sich also als Vernünftiger unvernünftig verhalten. Unvernünftiges Handeln verweist vielmehr auf das Fehlen der Einsicht, was für den Menschen gut ist.32 Diese Einsicht, und das heißt die Letztbegründung der Tugend, kann jedoch, wie bereits festgestellt, nur individuell errungen, nicht aber gesellschaftlich vermittelt werden, auch nicht durch ein rechtliches Regelwerk. Eine politische Ordnung, die gleichwohl die Tugend des Menschen zum Staatsziel macht, muss daher auf einem restringierten Tugendverständnis aufbauen – auf dem, was in der „Politeia“ als „bürgerliche“ Tugend33 bezeichnet wird: das richtige Verhalten, das durch Erziehung vermittelt und auch rational begründet wird, nicht aber in der Erkenntnis des je einzelnen wurzelt. Es handelt sich also um eine im Anspruch verminderte Tugend,34 die nun allerdings von der gesamten Gemeinschaft erwartet wird. Damit ist der Ansatz deutlich egalitärer als in der „Politeia“, wobei es jedoch hier wie dort um die Verteilung von Anforderungen, nicht um die Verteilung von Gratifikationen geht. Was bedeutet nun die Tatsache, dass die Gesetze um der Tugend willen gegeben werden sollen, für die Stellung der Rechts? Die Gesetze werden zur Erziehungsinstanz; sie beruhen auf einer bestimmten Vorstellung vom 31 Nomoi 630a, b. Dies und die folgenden Nomoi-Zitate bis Buch VII aus der Ausgabe von Klaus Schöpsdau, a. a. O., 1994 und 2003. 32 Das ist keineswegs, wie der Vorwurf oft lautet, „sokratischer Intellektualismus“, sondern eine schlichte Anwendung der Logik. Niemand wählt freiwillig das Schlechtere, wenn er das Bessere haben kann. Freilich setzt dies ein geändertes Verständnis dessen voraus, was tatsächlich gut ist: z. B. um seiner selbst willen das Bedrohliche nicht zu fliehen, sondern ihm standzuhalten. 33 Hier in Bezug auf die Tapferkeit, vgl. Politeia 430c. Zu den verschiedenen Arten der Tugend, eben auch der bürgerlichen Tugend, vgl. Görgemanns, Herwig, Beiträge zur Interpretation von Platons Nomoi, München 1960, S. 114–129, vor allem: S. 127 f. 34 So auch Stalley, R. F., Plato’s Laws, Oxford 1983, S. 10. Allerdings hält Stalley es für möglich, dass Platon im Spätwerk generell Zweifel an der Möglichkeit der Erkenntnis entwickelt hat, vgl. S. 56 ff.

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gelingenden, d.h. glücklichen Leben; ihr Einfluss erstreckt sich nicht auf die Regelung äußeren Verhaltens, sie sollen vielmehr auch auf die Einstellung der Menschen wirken. Kurzum: das Recht ist zugleich moralische Instanz. Damit ist ein Rechtsverständnis bezeichnet, das den diametralen Gegensatz zum modernen bildet, wie man es sehr prägnant bei Kant formuliert findet: „Die Qualität des Zwecks dieser [sc.: der bürgerlichen] Gesetze . . . ist nicht Glückseligkeit, sondern Freiheit für jeden, seine Glückseligkeit selbst, worin er sie immer setzen mag, zu besorgen, nur dass er anderer ihrer gleich rechtmäßigen Freiheit nicht Abbruch tut.“ Und: „Die Relation der Handlungen, welche Zwangsgesetzen unterworfen sind, ist nicht die des Bürgers auf sich selbst oder auf Gott, sondern bloß auf andere Mitbürger, d. i. öffentliche Gesetze gehen aus auf äußere Handlungen.“35 Im kantischen Verständnis liegt der Zweck des bürgerlichen Rechts also darin, die Verwirklichung der individuellen Präferenzordnung der Bürger zu ermöglichen, mit der einen Einschränkung, dass kein Individuum seinem Nachbar-Individuum dabei ins Gehege kommen darf. Kein inhaltliches Ziel ist vorgegeben, es wird keine Wertung der Präferenzen vorgenommen; nur die formale Verpflichtung auf Reziprozität ist vorgegeben. Das öffentliche Recht hat dann die Funktion, jenen im bürgerlichen Recht rein formal bestimmten Freiheitsraum des einzelnen durch Zwangsgesetze zu sichern; das Staatliche dient demnach dem Privaten, wobei dieses sich primär über das Eigentumsrecht konstituiert. Letzteres ist allerdings kein vorstaatliches, sondern ein erst vom Staat gewährtes Recht – die eigentliche Ratio des Staates. Worin aber begründet sich die gesamte Konstruktion? Kant kennt nur ein überpositives, also quasi-naturrechtlich verankertes Recht: „Das angeborene Recht ist nur ein einziges. Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“36 Der Anker des kantischen Rechtssystems ist demnach eine anthropologische Prämisse: dass sich der Mensch durch seine Freiheit definiert, wobei in dieser Freiheit die Selbstgesetzgebung der Vernunft in Gestalt des kategorischen Imperativs schon mitgedacht sein muss. Wäre das nicht der Fall, würde Freiheit bloß im Sinne des Ausagierens der individuellen Willkür verstanden, stellte sich sofort der Hobbes’sche Krieg aller gegen alle ein, der durch Einführung der Rechtsordnung im Grunde nur zwangsweise unterdrückt würde. Damit ließe sich aber schwerlich jenes System der Volkssouveränität begrün35

Kant, Immanuel, An Jung-Stilling, Nach dem 1. März 1789, in: Kant’s Briefwechsel, Band II, 1789–1794, Berlin und Leipzig 21922, S. 10. 36 Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten, in: Werkausgabe Band VIII, hrsg. von Weischedel, Wilhelm, Frankfurt a. M. 1977, S. 345.

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den, das Kant als die dem bürgerlichen und das heißt: dem modernen Individuum angemessene politische Organisationsform vor Augen steht. Der Kontrast zum platonischen Modell ist offenkundig. Den Ausgangspunkt des kantischen Rechtsverständnis bildet der Einzelne, der im Verfolg seiner individuellen Glücksvorstellung auf kein anderes Hindernis treffen darf als die Wahrnehmung des analogen Interesses durch die übrigen Individuen. Das Recht ist das Gehege, innerhalb dessen die einzelnen frei agieren können; der Staat fungiert als Ermöglichungsgrund der Auslegung und des Auslebens von Individualität, welche ihren prägnantesten Ausdruck in der Eigentumsbildung findet. Deshalb ist der Schutz des Eigentums vorrangiges Staatsziel. Allerdings: Die reine Formalität des Rechts in diesem Konzept wird fraglich, wenn man die Rückbindung der durch sie gewährten Freiheit an den kategorischen Imperativ bedenkt.37 Im Grunde setzt Kant trotz seiner Unterscheidung von Moralität und Legalität die – zumindest rudimentäre – Vernünftigkeit im Gebrauch der Freiheit voraus, ansonsten würde der durch das Recht ausgeübte Zwang unerträglich. Löst man hingegen das Recht von einer implizit doch wieder unterstellten Sittlichkeit, so ergibt sich erstens das Problem eines völligen Auseinanderfalls von Individuum und Gemeinschaft und zweitens eine angesichts seiner negativ-beschränkenden Rolle bedenkliche Überpräsenz des Rechts, da die nunmehr unvermindert aufeinanderprallendenden Ansprüche der einzelnen nur durch forcierten Einsatz rechtlicher Mittel zum Ausgleich gebracht werden können. In Platons „Nomoi“ hat das Recht hingegen aufgrund seiner Vorbildfunktion einen herausgehobenen Rang. Ihm wird zwar auch die Aufgabe der gesellschaftlichen Aussöhnung zugeschrieben,38 doch nicht in der Weise einer Verrechnung individueller Ansprüche. Deshalb spielt auch die Eigentumsfrage in dem entworfenen Rechtssystem eine ganz untergeordnete Rolle. Das Individuelle ist nicht Zweck an sich, sondern es soll zum Allgemeinen hin gebildet werden: Die Erziehung zur Tugend mittels der Gesetze stellt das Über-Individuelle in den Mittelpunkt. Dieses soll versöhnend wirken, weil mit ihm die Wurzel allen Übels und damit auch der erbittertsten gesellschaftlichen Auseinandersetzung bekämpft wird, nämlich die „übermäßige Selbstliebe“39. Diese falsche Selbstliebe macht blind, weil der derart Liebende „meint, er müsse das Eigene stets mehr als das Wahre ehren“40. 37 Zwar ist auch dieser wieder formal bestimmt – als die schlechthin verallgemeinerbare Verhaltensregel –, aber im Anwendungsfall müssen doch wieder inhaltliche Aspekte miteinbezogen werden: Welches Verhalten soll denn idealiter verallgemeinert werden, z. B. die Vermeidung der Lüge oder der Schutz unschuldig Verfolgter, sofern dieser eine Lüge erforderlich machte? 38 Nomoi 627e ff. 39 Nomoi 731d. 40 Nomoi 732a.

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Die Orientierung an der Tugend bildet dazu das ‚Gegengift‘: Wer sich einem allgemeinen Maßstab unterstellt, relativiert das Eigene und damit auch das ihn vom anderen Trennende. Damit redet Platon nicht dem Kollektivismus das Wort. Eine Tugend wie die Tapferkeit mag kollektivistisch auszufüllen sein; der spartanische Staat wies wohl entsprechende Züge auf, wird in den „Nomoi“ für seine einseitige Ausrichtung an dieser Tugend aber auch deutlich kritisiert.41 Eine Tugend wie die Besonnenheit dagegen bedarf individueller Verwirklichung, weil sie zunächst einmal das Selbstverhältnis betrifft: die Einstellung zu den eigenen Bedürfnissen. Gerade die Betonung der Tatsache, dass sich in den Gesetzen die gesamte Tugend niederschlagen soll, verweist darauf, dass das Individuelle zum Über-Individuellen hin erhoben, nicht aber als Individuelles aufgehoben werden soll. Das Recht ist Ausdruck eines Allgemeinen, das sich gegen den Egoismus wendet, nicht gegen die Individualität.42 III. Das Spezifische des Rechts in den „Nomoi“ Könnte man Platon vorwerfen, sein Rechtsdenken basiere auf zu starken anthropologischen Grundannahmen, so zeigte sich, dass auch das moderne Recht ohne derartige Annahmen nicht auskommt. Wenn dessen Aufgabe letztlich in der Ermöglichung individueller Selbstverwirklichung gesehen wird, so wird dieser der höchste Wert zuerkannt. Worin das Selbst sich verwirklicht, ist der je einzelnen Entscheidung anheimgestellt, und damit der sich daraus sehr schnell ergebende gesellschaftliche Kampf um die knappen Ressourcen43 nicht in das Faustrecht mündet, muss der gesetzliche Rahmen die Vernunft aufweisen, die dem einzelnen fehlen mag. Das bekannte Bonmot Böckenfördes, dass die freiheitliche Grundordnung von Voraussetzungen lebt, die sie selbst nicht garantieren kann, bringt das Dilemma zum Ausdruck: Was man dem einzelnen nicht abverlangt, wird zunehmend zur Staatsaufgabe; doch wie soll sich die Vernünftigkeit des Ganzen bewahren, wenn sich der einzelne an die Entlastung gewöhnt hat? 41 Die Kritik (vgl. Nomoi 626b ff.) gilt zwar zunächst der kretischen Verfassung, der anwesende Spartaner Megillos bestätigt aber, dass auch in seinem Staat alles an der kriegerischen Tugend ausgerichtet ist (626c). 42 Dass Platon entgegen dem herrschenden Vorurteil in diesem und anderen wesentlichen Punkten durchaus Modernitäts-kompatibel ist, zeigt Gerhardt, Volker, „Die erste Lehre von der Verfassung. Der Beitrag der Nomoi zur Theorie der Politik“, in diesem Band. Mit der Individualität des Lebenskonzepts ist ebenfalls die diskursive Rechtsbegründung verbunden, von der die „Nomoi“ getragen sind. 43 Damit ist Unterschiedliches gemeint, was eben immer als Bedingung der Selbstverwirklichung betrachtet wird: Vermögen, soziale Anerkennung, beruflicher Erfolg, Amüsement etc. Die Ressource „Wahrheit“ ist nicht knapp, aber auch nicht sonderlich begehrt.

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Dem Problem eines sich selbst aufzehrenden Systems entgeht Platon, wenn er menschliche Selbstverwirklichung als die Verwirklichung menschlicher Tugend deutet und dem Recht in diesem Sinne einen Bildungsauftrag zuerkennt. Damit ist die Rechtsordnung und das auf ihr gegründete politische System nicht mehr das Fremde und Beschränkende, sondern das Eigene; die „Selbstliebe“ findet ein neues Objekt, nämlich das, was das nun als das wahre Selbst Verstandene fördert und erhält. Die Spezifik jener Rechtsauffassung, wie sie in den „Nomoi“ entwickelt wird, führt auch zu sehr spezifischen Regelungen. Die wichtigsten von ihnen seien im folgenden kurz dargestellt: 1. Die Rechtsordnung als Ergebnis wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Bisher, so der sich als Gesetzgeber betätigende Athener in den „Nomoi“, wurde die Gesetzgebung noch niemals mit der erforderlichen Sorgfalt behandelt.44 Vielmehr würden Gesetze so gegeben, wie Sklavenärzte Sklavenpatienten therapierten, nämlich allein aufgrund einer gewissen Erfahrung, aber ohne wirkliches ärztliches Wissen und ohne auf den Patienten argumentativ einzugehen. Der freie Arzt hingegen erforscht Wesen und Ursprung der Krankheit durch Beobachtung und Befragung des Patienten, von dem er auf diese Weise lernt; schon in der Diagnose verfährt er also diskursiv, erst recht aber bei der Therapie. Er verordnet nämlich nichts, bevor er den Kranken nicht von der Verordnung überzeugt hat.45 Übertragen auf die Gesetzgebung bedeutet das: Auch der Gesetzgeber müsste – und die „Nomoi“ versuchen das vorzuführen – Wesen und Ursache des Mangels erkennen, der durch die Gesetzgebung behoben werden soll. Und das ist nicht nur durch äußere Beobachtung menschlichen Verhaltens zu erreichen, sondern bedarf auch des Dialogs. Die Gesetze ihrerseits müssen dies Wissen verarbeiten, sie müssen aber ebenso sehr Überzeugungsarbeit leisten und dürfen nicht einfach tyrannisch etwas anordnen. Der Adressat der Gesetzgebung verdient, als freier Mensch wahrgenommen zu werden. Er muss dem zustimmen, was ihm zu tun angemutet wird.46 In der Begründung des Rechts wie in der Art, es umzusetzen, sollen also anders als bisher wissenschaftliche Maßstäbe Anwendung finden. Im Gegensatz zum normalen Gesetzgeber befindet man sich nicht in einer konkreten Notlage, der gesetzlich abgeholfen werden soll.47 Vielmehr widmet man 44

Nomoi 857c ff. Nomoi 720b–e. 46 Lee bestreitet allerdings, dass Platon tatsächlich an einem freien Bürger im modernen Sinn gelegen sei. Vielmehr sei es eine sozialtechnologische Rhetorik, die in den Prooimien Verwendung finde, um die Menschen zum richtigen Verhalten zu motivieren. Vgl. Lee, Baehong, Die politische Philosophie in Platons Nomoi, Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 177. 47 Nomoi 709a, b. 45

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sich der Frage der Gesetzgebung aus eigenem Antrieb und kann so in aller Muße das Beste und das unbedingt Notwendige herauszufinden versuchen.48 Dazu gehört auch die Einbeziehung fremder Gesetzestexte, also die Berücksichtigung der sedimentierten Erfahrung anderer Völker.49 Bestand hat letztlich nämlich nur eine Gesetzgebung, die auf Einsicht, nicht bloß auf purer Gewohnheit beruht.50 Ganz deutlich sind damit zwei alternative Möglichkeiten der Rechtsbegründung abgewiesen: der Pragmatismus einer nur auf die Anforderungen des Augenblicks reagierenden Rechtsschöpfung ebenso wie die Legitimation des Rechts durch göttliche Offenbarung. Das Recht soll systematischem Nachdenken entspringen, und die Werte, die in ihm verwirklicht werden sollen, müssen diskursiv begründet werden. 2. Die Rolle der Prooimien. Jene Begründung ist nicht zuletzt Aufgabe der Prooimien, der Vorreden, die jedem wichtigen Gesetz und auch dem gesamten Gesetzeskorpus vorangestellt sind. Den Philosophen muss man nicht davon überzeugen, dass das Leben gemäß der Tugend das für den Menschen beste und damit ebenfalls das glücklichste ist. Er trägt diese Überzeugung in sich, sie ist sozusagen sein Endoskelett. Dem normalen Menschen, der sich zunächst immer an einer vordergründigen Vorstellung von seinem eigenen Nutzen ausrichtet, muss diese Einsicht erst nahegebracht werden. In den Gesetzen hat er das entsprechende Exoskelett, und um die Bereitschaft zu fördern, sich diesem einzufügen, bedarf es der Überzeugungsarbeit des Gesetzgebers. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die Eindeutigkeit der Rede;51 das Gesetz bestimmt das zu Tuende allgemein und dezidiert. Insofern ist es aber bloße Anordnung. Weshalb das Angeordnete zu tun ist, ist dem Gesetz selbst nicht zu entnehmen; es zu wissen, erhöht aber die Bereitschaft, der Anordnung zu folgen, ungemein. Deshalb bedarf das Gesetz der Erklärung, die dem Adressaten des Gesetzes insofern Subjektstatus zuerkennt, als sie auf seine Einsichtsfähigkeit baut.52 Dass die Akzeptanz und das bedeutet: die Freiwilligkeit in der Übernahme der Regelungen die Grundbedingung ist, an die der Gesetzgeber in den „Nomoi“ sein Werk knüpft, betont dieser immer wieder. Schließlich will er eine Ordnung begründen, die den real existierenden Ordnungen nicht nur in puncto Gemeinwohlorientierung,53 sondern auch in puncto persönlichkeitsbildender Kraft überlegen ist. 48

Nomoi 857e, 858a. Nomoi 858c, d. 50 Nomoi 951b. 51 Nomoi 719c, d. 52 Schöpsdau vertritt in dem Kommentarteil seiner „Nomoi“-Ausgabe die Auffassung, dass die Prooimien im Grunde den philosophischen Dialog ersetzen (a. a. O., Göttingen 2003, S. 222 f.). 53 Nomoi 875a, b. 49

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Das Verfahren der Prooimien wird beispielhaft an der Ehegesetzgebung vorgeführt.54 Im Gesetz selbst werden das erwünschte Heiratsalter und die Sanktionen bei Nichtbeachtung festgelegt. Im Prooimion aber wird diese Regelung in den Gesamthorizont menschlicher Existenz eingebettet: Der Hinweis auf die Tatsache, dass Fortzeugung den physischen Weg für die menschliche Gattung darstellt, an der Unsterblichkeit teilzuhaben, entrückt die Entscheidung des einzelnen der bloß individuellen Perspektive. Endlichkeit ist ein Wesenszug des menschlichen Daseins, ebenso aber ist das Streben über die Endlichkeit hinaus Teil der conditio humana. Mit diesem Streben, dem man physisch durch Kinder, aber auch geistig durch Wissenschaft, Philosophie etc. nachkommen kann,55 fügt man sich in den Strom der Zeit ein, ohne sich ihm gänzlich anheimzugeben. Der Verzicht, an diesem allgemeinen Prozess bspw. durch die Zeugung von Kindern teilzunehmen, beraubt nicht nur das eigene Leben einer seiner wesentlichen Möglichkeiten; es macht auch das Gattungsleben ärmer. Deshalb wird solches Verhalten vom Staat auch nicht unterstützt, sondern im Gegenteil per leichter Sanktion als nicht gewollt gekennzeichnet. Es ist also kein Utilitarismus, der den Hintergrund des beschriebenen Gesetzes bildet, etwa die Sorge der Gemeinschaft für die Alterssicherung durch Nachkommenschaft. Vielmehr erfolgt selbst anlässlich einer so konkreten alltagspraktischen Frage wie der Eheschließung eine Überlegung, die aus der Befangenheit in die Konkretion des Alltags löst und den einzelnen an seinen Zusammenhang mit dem großen Ganzen erinnert. Man mag das – aus heutiger Perspektive – als unzulässig restriktiven Umgang mit privatesten Entscheidungen betrachten. Denkbar ist aber auch, darin eine ungeheuere Aufwertung des einzelnen zu sehen, der sich durch den Verweis auf seinen möglichen Beitrag zum Allgemeinen der Kontingenz eines bloß subjektiven Wollens bewusst werden kann. Die Erläuterung des Sinnes eines Gesetzes durch das Prooimion erschließt so nicht nur die Bedeutung der einzelnen Vorschrift, sondern auch den Gesamthorizont, vor dem sie steht. Dem den Ausführungen lauschenden Spartaner Megillos ist solch diskursiver Umgang mit dem Recht unvertraut. „Lakonischer“, d.h. spartanischer Art entspreche das kurze Reden.56 Damit ist der Gegensatz noch einmal klar gekennzeichnet: Sparta, jene ganz auf die kriegerische Tugend setzende Polis, begründet nicht; sie erzwingt den Gesetzesgehorsam. Das Gemeinwesen, das in den „Nomoi“ entworfen werden soll, möchte die Tugend in ihrer ganzen Bandbreite fördern. Das gelingt nur via Überzeugung. 54

Nomoi 721b–d. Das Thema führt Platon in extenso bekanntlich in der Diotima-Rede im Symposion aus. (Vgl. Symposion 207c–209e). 56 Nomoi 721e. 55

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3. Die Hierarchie der Güter. Aus dem zuvor genannten Verständnis menschlicher Selbstverwirklichung ergibt sich eine neue Rangordnung der Besitztümer: Das wertvollste Gut des Menschen ist seine Seele, das zweitwertvollste sein Körper, das am wenigsten wichtige sein dinglicher Besitz.57 Ein Staat, dessen Ratio in der Sicherung des äußeren Eigentums seiner Bürger besteht, würde nach dieser Sichtweise einer grandiosen Verkehrung erliegen: Er würde ein Mittel zum Zweck erheben. Denn das richtige Leben, so wie es in den „Nomoi“ konzipiert ist, bedarf zwar gewisser äußerer Güter, es findet in ihnen aber nicht seinen Sinn. Die Extreme der Armut und des Reichtums müssen vermieden werden, damit die Lebensumstände nicht dazu nötigen, „über dem Geldverdienen das zu vernachlässigen, um dessentwillen es das Geld gibt. Das aber ist die Seele und der Leib, die ohne Gymnastik und die sonstige Erziehung kaum je der Rede wert wären.“58 Dem, was der Mensch an und in sich hat, muss seine ganze Sorge gelten, und die Gesetze müssen die beschriebene Rangordnung abbilden, um dem Menschen die Möglichkeit zu geben, sein Leben entsprechend zu organisieren. Die Reihenfolge der Gesetze entspricht jener Güterhierarchie; das Eigentumsrecht ist weit nach hinten verbannt. 4. Die Definition des Unrechts. Eigentlich, so der namenlose Athener, müsste in einem Gemeinwesen wie dem in Gedanken entworfenen das Strafrecht überflüssig sein. Doch weil man es mit Menschen und nicht mit Halbgöttern zu tun hat, wird man auch im Staat der Tugend nicht ganz auf ein Recht verzichten können, das Prävention und die Ahndung von Rechtsverstößen zum Gegenstand hat.59 Bewegt man sich hier also noch in den Bahnen des Üblichen, so unterscheidet sich das im folgenden dargelegte Verständnis dessen, worin überhaupt Unrecht besteht, deutlich von der vorherrschenden Denkweise. Gemäß dieser müsste man nämlich bei der Bemessung des Strafmaßes von vorsätzlich und unvorsätzlich begangenem Unrecht ausgehen. Für den Gesetzgeber in den „Nomoi“ kann es aber gar kein freiwilliges Unrechttun geben, weil jedes Unrechttun unfreiwillig ist: Es beruht auf dem Irrtum darüber, was tatsächlich gut ist für den Menschen. Unrecht zu begehen, schädigt zuallererst und vor allen Dingen den Unrechttuenden selbst. Wäre er sich dessen bewusst, würde er sich nicht vorsätzlich etwas Abträgliches antun. Wenn so jedes Unrecht auf eine grundlegende Selbstverkennung zurückgeht, kann es nicht mehr als freiwillig begangen gelten. Nach welchem Kriterium sollen dann aber in der Rechtspraxis die zur Beurteilung anstehenden Fälle unterschieden werden? Die neue Bestimmung bedeutet in der 57 58 59

Nomoi 697b. Nomoi 743d, e. Nomoi 853b–d.

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Tat eine erhebliche Verschiebung der Perspektive: Was aus gerechter Gesinnung heraus geschieht, kann niemals Unrecht sein, selbst wenn daraus eine Schädigung erwachsen sollte.60 Nicht die äußere Handlung ist demnach das Entscheidende, sondern die zugrundeliegende Einstellung; auch eine Wohltat kann unrechtmäßig erwiesen sein, sofern sich der Wohltäter dazu ungerechter Mittel bediente. Was folgt daraus rechtlich? Eine Schädigung, die nicht aus ungerechter Gesinnung heraus erfolgt, ist nicht als Unrecht zu werten. Hier muss das Recht nur auf Wiedergutmachung hinwirken, also für einen Ausgleich und damit auch für eine Versöhnung zwischen Schädiger und Geschädigtem sorgen. Wenn hingegen jemand aus niederen Motiven und unter Zuhilfenahme unrechtmäßiger Mittel einen Nutzen erweist oder Schaden zufügt, muss dies strafrechtlich geahndet werden. Da der Straftäter jedoch mit seiner Tat beweist, dass er hinsichtlich seines eigenen Nutzens im Irrtum befangen ist, muss die Strafe auf Belehrung und Besserung zielen, mit welchen Mitteln auch immer das zu erreichen ist. Es geht also im Grunde um seelische Heilung. Sollte sich jedoch jemand nach Begehung einer schweren Straftat, z. B. Tempelraub oder Mord, als unheilbar erweisen, so kann das Gericht die Todesstrafe verhängen. Dabei sind die Motive der Abschreckung und der Prävention nicht die einzig relevanten. Vielmehr soll ein solcher Mensch auf diese Weise von seiner Schlechtigkeit befreit werden, da er sich doch nicht selbst zu befreien vermag. Auch im Strafrecht steht demzufolge nicht der utilitaristische Gedanke einer bloßen Sorge um den Systemerhalt durch Sanktionierung von abweichendem Verhalten im Vordergrund. Gemäß der beschriebenen Hierarchie der Güter ist es vielmehr vor allem die Sorge um die Seele des einzelnen, aus der heraus der Gesetzgeber seine strafrechtlichen Regelungen trifft. 5. Die nächtliche Versammlung als Anker des Staates.61 Eine gute Ordnung – und eine solche ist mit den „Nomoi“ natürlich angestrebt – ist in sich vernünftig angelegt; insofern ist es auch die Vernunft, durch die sie bewahrt wird. Mit der „nächtlichen Versammlung“ soll die Vernunft sozusagen institutionalisiert werden. Dieses Gremium, das im Morgengrauen tagen soll, weil man zu dieser Tageszeit den Alltagsgeschäften am weitesten entrückt ist, ist plural besetzt. Die höchsten geistlichen und politischen Ämter sind darin vertreten, außerdem verdiente ältere Menschen, entsprechend ausgewählte und von den anderen kooptierte junge Menschen sowie Experten, deren Auslandserfahrung die Perspektive über die eigene Polis hinaus erweitert. Ihre gemeinsame Aufgabe ist der ständige Dialog über das Recht, was natürlich dessen Fortbildung miteinschließt. Ganz offensichtlich soll 60 61

Nomoi 862a, b. Nomoi 951d, e und 961e–968e.

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hier ein Gremium jene lebendige Vernunft verkörpern, die das zunächst fixe gesetzliche Regelwerk immer wieder den Anforderungen des Lebens anpasst – eine Nachahmung des Philosophenkönigs, die aber wohl unvollkommen bleiben muss, weil auf verschiedene Personen verteilt ist, was der Philosoph via Letztbegründung in sich zur Synthese bringt.62 Dennoch werden auch hier hohe Anforderungen gestellt. Die „nächtliche Versammlung“ muss das Staatsziel Tugend sowie die zu seiner Verwirklichung geeigneten Mittel stets fest im Blick haben. Dazu bedarf es dialektischer Fähigkeiten, nämlich des Vermögens, das Wesen der Sache jenseits ihrer unterschiedlichen Erscheinungsweisen zu erfassen. Es gilt, die eine Tugend in ihren mannigfachen Konkretionen festzuhalten, um den Bürgern, denen sie abverlangt wird, erklären zu können, was sie ist und warum man sie zum Ziel seins Lebens machen sollte.63 Die „Gesetzeshüter“ müssen also einen deutlichen Vorsprung vor ihren Mitbürgern haben, obwohl sie ihrerseits, und das ist der egalitäre Aspekt, dem Gesetz nicht weniger unterstellt sind als sie. Ihr Vorsprung in puncto Einsicht bewährt sich aber primär an zwei Gegenständen, die wohl das bezeichnen sollen, was die Tugend begründet: das Gute und die Götter.64 Ist das der Punkt, an dem die Nomokratie in eine Theokratie umschlägt? IV. Gott und das Gute An Verweisen auf Gott und die Götter mangelt es in den „Nomoi“ wahrlich nicht. Doch welcher Stellenwert kommt jenem immer wieder betonten Transzendenzbezug in dem Gesetzeswerk zu? Erhellend ist zunächst eine Bemerkung, die anlässlich der Unterscheidung zwischen vorsätzlich und nicht vorsätzlich begangenem Unrecht fällt: Wolle man denn den Satz, niemand begehe freiwillig Unrecht, stehenlassen, „als würde er von einem Gott verkündet“?65 Oder sei man nicht rechenschaftspflichtig, dass er tatsächlich wahr ist? Das gesamte Gesetzeswerk ist argumentativ und nicht deklaratorisch angelegt; kein wichtiger Grundsatz wird behandelt, „als würde er von einem Gott verkündet“. Die Gesetze beruhen also eindeutig nicht auf Offenbarung, sondern auf menschlicher Überlegung. Allerdings: Der Glaube an Gott bzw. die Götter soll Grundlage des Staates und der Ge62 In der Darstellung Görgemanns (a. a. O., S. 218–226) wird der Unterschied nicht recht deutlich. Es ist sicherlich richtig, dass es in den „Nomoi“ wie in der „Politeia“ letztlich um dieselben philosophischen Inhalte geht. Doch die Mitglieder der nächtlichen Versammlung sind keine Philosophen, deshalb bildet für sie die im folgenden entwickelte Theologie die Leitlinie. 63 Nomoi 964b–d. 64 Nomoi 966a–d. 65 Nomoi 861b (Übersetzung von Schöpsdau, Klaus und Müller, Hieronymus).

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setze sein. Eine atheistische Gesinnung wäre dem Gemeinwesen abträglich und muss daher ebenfalls argumentativ bekämpft werden. Die Begründung wirkt sozialtechnologisch. Niemand, der an die Götter glaubt, habe jemals freiwillig eine frevelhafte Tat begangen.66 Könnte man so den Eindruck gewinnen, der Götterglaube werde hier zur Verhinderung sozial unerwünschten Verhaltens instrumentalisiert, zeigt der Zusammenhang doch, dass die in den „Nomoi“ eingeführte Theologie de facto ebenso „Seelsorge“ betreibt wie das gesamte Gesetzeskorpus. Es geht um den Seelenzustand des einzelnen, der als Teil des Gemeinwesens sicherlich zur Regelkonformität gebracht werden muss, aber nur deshalb, weil er erst im Zusammenleben und Zusammenspiel mit den anderen zu dem Seinen gelangen kann. In dem theologischen Exkurs des zehnten Buchs der „Nomoi“67 wird in einer Weise, die den Vielen zugänglich ist, ein Götterglauben begründet, der nicht nur den Rang der Götter verdeutlicht, sondern auch den des Menschen. Die Einkleidung der Gedanken korrespondiert dem Anlass, nämlich einer mit Gott und der Welt hadernden Seele gut zuzureden. Sie muss mit bildlichen Vorstellungen für eine Weltsicht gewonnen werden, die es ihr ermöglicht, einen Sinn im Ganzen und eine ihr zukommende Bestimmung zu finden. Zwei Kerngedanken werden im theologischen Exkurs entwickelt. Zum einen wird einer Weltdeutung, die alles Seiende aus einer zufällig erfolgten Selbstorganisation der Materie erklären will, entgegenhalten, dass die Ursache des Wirklichen nur eine geistige sein kann. Am Anfang von allem steht die Selbstbewegung, d.h. die Seele. Zum anderen wird aus der prinzipiellen Verstehbarkeit der Gesetzmäßigkeiten des Kosmos geschlossen, dass diese über die Welt waltende Seele eine vernünftige und gute sein müsse. Die menschliche Vernunft ist der göttlichen ähnlich, deshalb ist ihr das göttliche Wirken zugänglich. Dass dies Göttliche hier bisweilen im Plural gefasst wird, kann wohl als Referenz an den traditionellen griechischen Götterglauben betrachtet werden, zumal in den „Nomoi“ anders als in der „Politeia“ ein Staatsentwurf vorgelegt wird, der an den vorfindlichen Gegebenheiten anknüpfen will. Dennoch ist das Vorbild nicht die homerische Götterwelt, denn in dieser sind die Götter keineswegs wesensmäßig gut, sondern mit Lastern behaftet. Wie sind die beiden genannten Kerngedanken philosophisch zu bewerten? Sicherlich, darauf deuten auch einschränkende Bemerkungen im Text hin, wird hier eine Theologie entwickelt, die das Vorstellungsdenken nicht grundlegend überschreitet, auch wenn der argumentativen Begründung wei66 67

Nomoi 885b. Nomoi 885b–907d.

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ter Raum gelassen wird. Das Nicht-Sinnliche wird an das Bildliche zurückgebunden, weil dies den meisten verstehbar ist. Entscheidend ist die Wirkung des auf diese Weise vermittelten Glaubens. Wenn nicht Zufall und die ungeregelte Bewegung der Materie die Weltläufe bestimmen, sondern ein geistiges Prinzip, das, da vernünftig, auch gut sein muss, gibt es einen Zusammenhang des Ganzen und damit auch einen Sinn. Selbst wenn der einzelne seine Funktion in diesem Zusammenhang nicht erkennt – er hat eine Funktion,68 ebenso wie das auf der Welt, was ihm mangelhaft und defizitär erscheinen mag. Dass es dennoch am Willen des einzelnen liegt, welchen Platz im Weltgeschehen er letztlich einnimmt, ist damit nicht infragegestellt. Es gibt einen für jeden vorgesehenen Ort, aber es ist die Entscheidung des einzelnen, ob er ihn wahrnimmt oder nicht. Die Rede von Gott und den Göttern in dieser Theologie für die Menge hat also den Zweck, den Glauben an die Sinnhaftigkeit des Ganzen und die Bedeutung jedes einzelnen zu vermitteln. Es gibt eine Ordnung des Wirklichen, und gute Gesetze sind diejenigen, die dieser Ordnung Ausdruck verleihen. Worin aber besteht diese Ordnung, was ist eigentlich das Göttliche? Letztlich kann es nichts anderes als die Vernunft sein. Denn die Verähnlichung mit Gott, die im Prooimion zum gesamten Gesetzeswerk gefordert wird,69 bedeutet die Stärkung der Kraft im Menschen, die ihn mit Gott verbindet und auch die Führerschaft über ihn und sein Leben ausüben sollte. Das aber ist die Vernunft. „Es widerspräche . . . der göttlichen Satzung [Themis], wenn die Vernunft etwas anderem untertan und dessen Sklavin wäre, sondern sie muss über alles herrschen, sofern sie wirklich in ihrem Wesen wahrhaft und frei ist.“70 Und ob nun im Text von der „göttlichen Versammlung“ oder vom „göttlichen Mann“ die Rede ist71 – immer ist es die Einsicht in die überlegene Wirklichkeit des Geistigen und die Umsetzung dieser Einsicht im Leben des einzelnen wie der Gemeinschaft, die das Epitheton „göttlich“ rechtfertigen. Kant hatte in dem weiter oben angeführten Zitat einen Gottesbezug der Gesetze abgelehnt und nur den reziproken Bezug der Bürger zueinander als rechtsbegründendes Prinzip zugelassen. In Platons „Nomoi“ wird mit dem Gottesbezug, der tatsächlich den Rekurs auf das Allgemeine der Vernunft meint, darauf verwiesen, dass der Mensch nicht selbst schon das Maß aller Dinge ist, sondern dass er sich seinerseits an einem überlegenen Maßstab zu messen hat. Sich selbst, d.h. der ungesteuerten und ungebremsten Übermacht seiner Bedürfnisse und Neigungen überlassen, richtet er sich und das 68 69 70 71

Nomoi Nomoi Nomoi Nomoi

903b–904c. 716a–d. 875c, d 969b, 966c.

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Gemeinwesen zugrunde.72 Das, was ihm Maßstab sein kann, trägt er jedoch nicht schon in sich, sondern er muss es in Angleichung an das Ziel erst verwirklichen. Von daher erklärt sich der Bildungsauftrag der Gesetze. Sie sollen es dem Menschen erleichtern, von dem, was er ist, zu dem zu gelangen, was er sein kann und sein soll. Dazu müssen die Gesetze das Ziel in gewisser Weise bereits in sich verkörpern – indem sie soweit an der ‚göttlichen‘ Vernunft teilhaben, wie das menschlicher Gesetzgebungskunst möglich ist. Kann man das als Theokratie bezeichnen? Wenn man die Ausführungen des Atheners in den „Nomoi“ auf ihren rationalen Gehalt reduziert, scheint dieser Begriff nicht mehr angemessen. Gott und die Götter stehen für die Vernunft oder das Gute,73 das als geistiges Prinzip das wirklichkeitsbestimmende und für den Menschen heilsame ist. Wer das nicht von selbst erkennt, muss mittels Mythologie und der erzieherischen Wirkung der Gesetze auf den richtigen Weg verwiesen werden. Der Philosoph bedarf solcher Hilfsmittel nicht, er vollzieht den Bildungsgang an und durch sich selbst. Da er aber im Staat der „Nomoi“ als Vorbild nicht vor Augen steht, übernehmen, wenn auch unvollkommen, die Gesetze seinen Part. Die Abwesenheit des Philosophen begründet die Herrschaft des Rechts. Doch letztlich verfolgen beide dasselbe Ziel, auch wenn es dem Philosophen vorbehalten bleibt, zu einer Letztbegründung zu gelangen, die immer nur individuell und nicht institutionell zu erreichen ist.

72

Nomoi 715e–717a. Vgl. dazu auch den sehr erhellenden Beitrag von Eckl, Andreas, Nomoi, 884a–899d. Wovon man den Rechtsbrecher (noch heute) überzeugen muss, in diesem Band. 73

Die ‚nächtliche Versammlung‘ in Platons Nomoi Überlegungen zu ihrer Funktion Von Kurt Sier Das Verhältnis des in den Nomoi entworfenen Modellstaats zum Staatsmodell der Politeia lässt sich unter mancherlei Aspekten betrachten, aber der Punkt, auf den am Ende alles hinausläuft, ist doch die Rolle, die der Philosophie in beiden Werken zufällt. Auch das ist noch ein weites Feld, von dem ich hier nur soviel in den Blick nehmen will, wie es für die folgenden Überlegungen erforderlich ist. Wenn Aristoteles in den Politika erklärt, mit Ausnahme der für die Politeia spezifischen Frauen- und Gütergemeinschaft habe Platon seinen beiden Staatskonzeptionen den gleichen Zuschnitt gegeben,1 folgt er offenbar Platons eigener Synkrisis im fünften Buch der Nomoi. In 739 a–e lässt der Athener die erste und die zweitbeste politeûa gegenüber der ‚dritten‘ (d.h. der allfälligen praktischen Umsetzung des Nomoi-Entwurfs)2 zusammengehen und sieht den Unterschied zwischen beiden Staatsformen durch das von Aristoteles genannte Kriterium bestimmt. Mit dem Ideal eines radikalen Kommunismus, der Entindividualisierung der familiären Bindungen und der Abschaffung des Privateigentums, verbindet er die Vorstellung (739 c 5), dass das ‚sogenannte Eigene‘ (t˛ legümenon Łdion) gänzlich aus dem Leben getilgt und die ‚von Natur aus eigenen Dinge‘ (tJ fŸsei Łdia) so weit wie möglich zu ‚gemeinsamen‘ würden, wobei die Einheit der Polis sowohl in der mentalen Verfasstheit der Bürger, der Gleichheit ihrer Präferenzen und Aversionen, als auch in der staatlichen Verfassung selbst – in den nümoi, die diese Einheit bewerkstelligten – normativ verankert wäre. Dies, so der Athener, sei das maßgebende Paradeigma, dem die im Folgenden konstruierte ‚zweite Politeia‘ immerhin am nächsten komme. Indes kann man fragen, wozu es in jener idealen Polis, in der der Egoismus ausgeschaltet wäre, der Gesetze als ein1 tažtJ ÷podûdwsin ÷mðotÍraiò taƒò politeûaiò (Pol. 2, 6. 1265 a 6). Vgl. Peter Simpson, Plato’s Laws in the hands of Aristotle, in: Samuel Scolnicov/Luc Brisson (Hrsg.), Plato’s Laws: From Theory into Practice, St. Augustin 2003, S. 298–303 (mit weiterer Literatur). 2 Klaus Schöpsdau, Der Staatsentwurf der Nomoi zwischen Ideal und Wirklichkeit. Zu Plato leg. 739 a 1–e 7 und 745 e 7–746 d 2, in: Rheinisches Museum 134 (1991) S. 136–152; ders., Platon. Nomoi Buch IV–VII, Göttingen 2003, S. 308–312.

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heitsstiftenden Faktors eigentlich bedürfte.3 Ragt hier nicht die Rücksicht auf die menschliche Schwäche, ein empirisches Moment, in das Modell und ‚Paradeigma im Himmel‘ (Rep. 592 b 2) relativierend hinein? Auch was Platon den Athener über das ‚Eigene‘ sagen lässt, klingt doch anders, als was er in der Politeia Sokrates hat sagen lassen.4 Nach den Nomoi wäre im Idealstaat die Grenze zwischen den Einzelsubjekten weitgehend verwischt und das Individuell-Verschiedene in der Identifikation mit der Gemeinschaft gewissermaßen überblendet, so dass, wie es 739 c 8 heißt, aller ‚Augen und Ohren und Hände gemeinsam zu sehen, zu hören und zu handeln schienen‘. Ein so orientierter Staat würde zwar vielleicht auch als eine Art ‚groß geschriebener Mensch‘ gelten können, aber er wäre es im Sinn einer Multiplikation des guten polûthò und auf andere Weise, als die Analogie in der Politeia gemeint war. Dort beruht die organische Einheit der Gemeinwesens auf dem tJ Åautofl prÜttein, einer Differenzierung der Funktionen gemäß der je verschiedenen ‚natürlichen‘ Ausstattung der zwei oder eher drei politisch-gesellschaftlichen Klassen. Die in der Einheit des Ganzen wachgehaltene Differenz der Teile nimmt als Strukturprinzip des gerechten Staates die seelische Struktur des gerechten Individuums auf, und sie begründet die Hierarchie, die den Philosophen als den Repräsentanten des logistikün, des rationalvernünftigen Elements, die Herrschaft sichert. Dieser pluralistische Ansatz kommt in der Darstellung gewiss nur umrisshaft zur Geltung, und an der Organisation des dritten Standes, d.h. der eigentlichen Bürgerschaft, zeigt Sokrates sich wenig interessiert. Doch im Horizont des Dialogs ist eine nähere Ausführung auch nicht nötig; für die Argumentation genügt die Erörterung des dem Leser Unvertrauten und der Konsequenzen, die sich aus dem Postulat einer Herrschaft der Vernunft für die Selbstgestaltung von Polis und Individuum ergeben. Mit den Nomoi verhält es sich anders und diffiziler. Die sachte Modifikation der prÿth politeûa, die Platon den Athener in 739 vornehmen lässt, erfolgt natürlich mit Blick auf den Gesetzesstaat, der den menschlichen Egoismus als unabänderlich anerkennt, die Einheit der Bürgerschaft aber nicht preisgeben will, sondern unter dem Egalitätsaspekt zu realisieren sucht. Alle Bürger sollen am Gelingen der Polis verantwortlich mitwirken. Dem dient ihre Befreiung von der Erwerbsarbeit, die Beteiligung aller an der politischen Macht und besonders die Anwendung des Erziehungsprogramms, das die Politeia für die Gruppe der Wächter vorsah, auf den dritten Stand. Die paideûa, im früheren Dialog eine klassengebun3

Zur Einschätzung gesetzlicher Regelungen vgl. auch Rep. 425 und 427 a–c. Vgl. Verf., Die Problematisierung von ,fremd‘ und ,eigen‘ in der platonischen Philosophie, in: Ulrike Riemer/Peter Riemer (Hrsg.), Xenophobie – Philoxenie. Vom Umgang mit Fremden in der Antike, Stuttgart 2005, S. 177–188. 4

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dene Vorstufe zur Ausbildung der Philosophenherrscher, wird hier auf alle polƒtai ausgedehnt. Bestimmend dafür ist, was man als den philosophischen Angelpunkt der Nomoi bezeichnen kann: die Auffassung des nümoò als einer Ausprägung des noflò, als Trägers eines Vernunftprinzips, das die gesamte Polis durchwirkt. Da das so verstandene Gesetz, der ‚gemeinsame Beschluss der Stadt‘ (dügma pülewò koinün 644 d 3), für alle gilt, setzt es auch die Vernunftfähigkeit aller voraus. Bei Platon singulär erscheint 891 a sogar die Schriftlichkeit des nomos als besonderer Vorzug, insofern sie auch dem dusmaqÇò, dem weniger Intelligenten, eine wiederholte Betrachtung ermögliche.5 Die Empfänglichkeit für den nous wird durch den Bildungsgang geweckt, den alle Bürger durchlaufen, und die den Gesetzen vorgeschalteten Proömien appellieren an eine Vernünftigkeit, die in jedem angelegt ist. Doch der nous ist, als Vollendung der menschlichen Rationalität, zugleich das, ‚was uns an Unsterblichkeit innewohnt‘ (Õson ýn êmƒn ÷qanasûaò ñnesti 713 e 8), und für seine Aktualisierung sorgt erst der Bezug aufs Göttliche – die Religion. Qua nous ist auch der nomos etwas Göttliches und macht den von ihm beherrschten Staat (wie man die umstrittene Stelle 713 a 4 auch verstehen mag)6 zu einer ‚Theokratie‘. Der Gesetzesstaat hat sein systematisches Fundament in Theologie und Kosmologie, d.h. in der Annahme, dass die Götter sich um die Dinge der Menschen kümmern und der menschlichen Ratio ein Ziel vorgeben, insofern der nous der Gestirngötter sich in der Ordnung ihrer invarianten, astronomisch messbaren Bewegungsabläufe manifestiert. Dass der Kosmos für den Menschen ein orientierendes Paradigma darstellt, ist natürlich ein älterer Gedanke, den Platon u. a. auch in Gorgias, Phaidros, Philebos und vor allem im Timaios aufnimmt, und dass der Intellekt ‚von draußen‘ (qŸraqen) als etwas Göttliches und an der quinta essentia Teilhabendes in den Menschen gelange, sagt auch Aristoteles in einem schwierigen Passus der Schrift über die Fortpflanzung der Tiere.7 Im Falle 5 Im Rahmen der Rechtskodifizierung tritt naturgemäß auch der Aspekt der Schriftlichkeit in etwas anderes Licht als sonst bei Platon (vgl. u. a. 858 c–e, 957 c, d). Mit der erstrebten allgemeinen Verbreitung der Gesetzestexte, die sogar zur Schullektüre dienen sollen (811 c–e), gehen die Nomoi, wie Andrea W. Nightingale zeigt (Plato’s lawcode in context. Rule by written law in Athens and Magnesia, in: Classical Quarterly 49 [1999] S. 100–122), über die Publizität der schriftlichen Gesetzesfassungen in der zeitgenössischen politischen Wirklichkeit wesentlich hinaus. Vgl. auch Franco Trabattoni, Persuasione e scrittura della legge nelle Leggi platoniche, in: Rivista di Storia della Filosofia 56 (2001) S. 357–371. Schöpsdau 2003 (wie Anm. 2), S. 569–575. 6 Vgl. Schöpsdau 2003 (wie Anm. 2), S. 182. 7 G.A. 2, 3. 736 b 27; dazu auch De resp. 4. 472 a 22. Vgl. David M. Balme, Aristotle. De partibus animalium I and De generatione animalium I (with passages from II. 1–3), Oxford 21992, S. 158–160.

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der Nomoi ist aber doch zu fragen, wie der nous in den staatsbegründenden nomos konkret hineinkommt. Denn im Grundriss ist dieser Staat, platonisch gesprochen, einer der ŽrqÌ düca, der ‚richtigen Meinung‘, nicht des Wissens, verfügt er doch – auf den ersten Blick jedenfalls – über keine legislative Instanz, die die ýpistÇmh repräsentierte und mit ihrer Hilfe bei der Konzeption neuer oder einer Revision geltender Gesetze deren nous-Charakter begründen könnte.8 Die doxa andererseits ist prinzipiell fallibel, und die Frage ist, was ihre ‚Richtigkeit‘, d.h. das Vorhandensein des nous im nomos, garantieren soll. Ich meine, dass hier in der Tat ein auch literarisch wesentlicher Unterschied zur Politeia besteht.9 In der Politeia gehört die Philosophie zur Gegenstandsebene und bildet das konstruktive Prinzip des Staatsmodells. Es verläuft eine sozusagen transitive Beziehung von dem, was man als ‚platonische Philosophie‘ betrachten kann, über den dialogführenden Sokrates zum Charakter der konstruierten Polis. In den Nomoi verbleibt die Philosophie dagegen auf der Darstellungsebene und bestimmt zwar die Sicht des den Gesetzesstaat entwerfenden Atheners als einer Dialogfigur, nicht aber diesen Staat selbst. Die Unterbrechung der ‚Transitivität‘ hängt natürlich mit dem gesteigerten Anspruch auf Realisierbarkeit, d.h. damit zusammen, dass die Nomoi auf den Plan einer Polis hinauswollen, die sich, anders als das Ideal der Philosophenherrschaft, mit gewissen Abstrichen verwirklichen ließe. Indes hat Platon in diesen Plan verschiedene Elemente eingebaut, die ihn unterlaufen und das philosophische Paradigma im Bewusstsein des Lesers wach halten.10 Dazu gehört in struktureller Hinsicht u. a. das Prinzip der ‚geometrischen (proportionalen) Gleichheit‘, das im sechsten Buch (756 b–757 e) bei der Einsetzung der boulÇ, des ‚Rats‘, thematisch wird.11 Es betrifft hier zwar nur den verfahrenstechnischen Aspekt, dass eine Wahl der Kandidaten den Vorzug vor dem ‚demokratischen‘ Losverfahren verdiene, doch seine Be8 In den Nomoi gilt zwar der „Grundsatz, daß die Gesetze prinzipiell unveränderlich sein müssen“ (Schöpsdau 2003 [wie Anm. 2], 440 mit Belegen; vgl. auch 772 c 4 ~ 846 c 7 ~ 957 b 7 sowie 969 c 7–d 6), aber mit dieser übergreifenden Intention ist die Rücksicht auf die menschliche Schwäche und Fehlbarkeit durchaus vereinbar, und im einzelnen bleibt die Möglichkeit von Verbesserungen und des Fortschritts (vgl. u. a. 769 d 7, e 8 ~ 951 c 2 ~ 957 b 2 und Schöpsdau a. O. S. 364). 9 Vgl. auch Andrea W. Nightingale, Writing/reading a sacred text. A literary interpretation of Plato’s Laws, in: Classical Philology 88 (1993) S. 279–300, deren Ausführungen aber m. E. in manchem der Modifikation bedürften. 10 Jean-François Pradeau, L’ébriété démocratique. La critique platonicienne de la démocratie dans les Lois, in: Journal of Hellenic Studies 124 (2004) S. 108–124, wendet sich (wie andere) überzeugend gegen die heute wieder öfter vertretene Ansicht, in den Nomoi sei das Politeia-Modell schlicht zugunsten einer ,Mischverfassung‘ aufgegeben, doch scheint er mir bei Wege die verbleibenden wesentlichen Unterschiede etwas zu sehr zu bagatellisieren. 11 Vgl. Schöpsdau 2003 (wie Anm. 2), S. 386–391.

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deutung reicht natürlich weiter und gibt dem Egalitäts- und Homogenitätsgedanken zumindest tendenziell eine aristokratische Wendung, wie eben der ausgeklügelte Wahlmodus bei den Bouleuten andeutet. Allerdings bleibt der fundamentale Unterschied zur Politeia, dass eine durchgehende Verteilung der politischen Macht gemäß dem prÍpon, dem ‚Angemessenen‘, der Strukturidee des Nomoi-Staats an sich zuwiderliefe. Denn es fehlt in ihm ja an einem vorgegebenen axiologischen Kriterium für eine Rangfolge der Individuen und sozialen Gruppen. Die Zugehörigkeit zu einer der vier Zensusklassen zu einem solchen Kriterium zu machen hat Platon jedenfalls weitgehend und mit Fleiß vermieden.12 Inhaltlich von Interesse ist das Zitat des Politikos im Proömium zum Gesetz über Körperverletzungen (874 e 7–875 d 5). ‚Unmöglich, dass gegenüber dem niemals Einfachen das durchweg Einfache sich gut verhält‘, ÷dŸnaton eff ñxein pr˛ò tJ mhdÍpote ãpl@ t˛ diJ pant˛ò gignümenon ãplofln, sagt der Fremde aus Elea im Politikos (294 c 7) über die Gesetzgebung, und etwas Ähnliches meint auch der Athener im neunten Buch der Nomoi: Gesetze können in ihrer abstrakten Allgemeinheit der komplexen Individualität des Einzelfalls nie ganz gerecht werden. Aber im Kontext der Nomoi überrascht, dass er dabei auch die Folgerung des Eleaten (Plt. 301 d–e) übernimmt.13 Gesetze sind notwendig, weil der Egoismus und die Rücksicht aufs persönliche Wohlergehen sich aus der ‚sterblichen Natur‘ (qnhtÌ fŸsiò) nicht vertreiben lassen, aber sie sind auch epistemologisch keineswegs die ideale Lösung (875 c 6): ýpistÇmhò gJr ojte nümoò ojte tÜciò oždemûa kreûttwn, ožd˚ qÍmiò ýst˝n nofln ožden˛ò ëpÇkoon ožd˚ dofllon ÷llJ pÜntwn årxonta ełnai, ýÜnper ÷lhqin˛ò ýleuqerüò te Øntwò ´1 katJ ðŸsin. ‚Dem Wissen nämlich ist kein Gesetz und keine Ordnung überlegen, und es ist nicht recht, dass Vernunft auf irgend etwas hören und ihm dienen soll, sondern herrschen soll sie über alles, wenn sie denn wahrhafte Vernunft ist und ihrer Natur nach wirklich frei, autonom‘. Wie steht diese Opposition von noflò (bzw. ýpistÇmh) und nümoò zu dem Sachverhalt, dass der nous im Medium des nomos den Gesetzesstaat regiert? So entschieden wie nirgends sonst in dem Dialog wird hier eine fundamentale Schwäche des positiven Rechts angedeutet, doch worin diese Schwäche genau besteht, ist weniger klar. Gewiss, das Gesetz nimmt nur ‚das Überwiegende in den Blick und kann nicht alles überschauen‘ (t˛ m˚n ¼ò ýp˝ t˛ polˇ þr`@ ka˝ blÍpei, t˛ d’ ýp˝ p@n ÷dunateƒ 875 d 4). Wieso gerät es aber dadurch in einen Gegensatz zum Wissen? Soll dieses ein universales, 12

Schöpsdau 2003 (wie Anm. 2), S. 332–334. Zu der Politikos-Stelle vgl. genauer Verf., Der Staatsmann in Absenz. Überlegungen zu Platon, Politikos 291–303, und zu Solons politischer Dichtung, in: Andreas Eckl/Clemens Kauffmann (Hrsg.), Politischer Platonismus, Würzburg 2008, S. 23 ff. 13

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faktisch unerreichbares Detailwissen aller relevanten Umstände sein, die den jeweiligen Fall bestimmen? Im Politikos ist das jedenfalls nicht gemeint. Der ideale Staatsmann versteht auf die Individualität des Einzelfalls angemessen zu reagieren, nicht weil er alle Details kennte, sondern weil er um die Ideen weiß und über die dialektische Methode verfügt. Im Sachgehalt der Idee des Gerechten sind alle möglichen Rechtssituationen aufgehoben, doch um diesen intellegiblen Thesaurus aktualisierend aufzuschließen, bedarf es der Dialektik, die im Vielen die Einheit und im Einen die Vielheit einsieht und die der Rechtspraxis eine übergreifende, nicht nur inhaltliche, sondern auch formale Norm an die Hand gäbe, mit deren Hilfe sie in der Tat alle konkreten Ereignisse vergleichend differenzieren könnte. Platon sagt es nicht, aber es ist doch wohl auch an der Stelle der Nomoi anzunehmen, dass als Antithese zum Gesetz die Dialektik vorschwebt. Die entworfene ‚zweite Politeia‘ mag zwar im ganzen, als nomokratûa, definitorisch vom nous geprägt sein, aber der nous hat dabei seine operative ýnÍrgeia eingebüßt, erscheint wie in Stein gebannt und unflexibel. Das ist der Preis seiner Objektivierung im nomos, dem die Reflexion auf die eigenen Erkenntnisvoraussetzungen abgeht. Doch wenn das Gesetz nicht von der Dialektik, der ýpistÇmh geprüft und belebt wird, steht auch sein nousCharakter sowohl im allgemeinen als auch bei jeder einzelnen Anwendung zur Diskussion. Das Politikos-Zitat in den Nomoi besagt, auf diese selbst bezogen, dass der Gesetzesstaat zum Rechtsstaat nur durch die Philosophie werden kann. Wenn nicht als Regenten, so doch als Garanten des in ihm angelegten Vernunftprinzips erfordert er den Dialektiker und Philosophen. Ob und in welchem Sinn dieser Forderung der nukterin˛ò sŸllogoò, die ‚nächtliche Versammlung‘ entspricht, die der Athener kurz vor Toreschluss – am Ende des zwölften Buchs – in den konstruierten Staat einsetzt, ist die Frage, der mein Beitrag genauer nachzugehen versucht.14 Ich will vorausschicken, dass ich die Nomoi, so wie sie überliefert sind, für ein von 14 Der wichtigste Beitrag zur nächtlichen Versammlung ist nach wie vor: Glenn R. Morrow, The nocturnal council in Plato’s Laws, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 42 (1960) S. 229–246 = ders., Plato’s Cretan City, Princeton 1960 (repr. 1993), S. 500–518. Vgl. auch Leonardo Tarán, Academica: Plato, Philip of Opus, and the Pseudo-Platonic Epinomis, Philadelphia 1975, S. 19–30. 62–64 u. ö. V. Bradley Lewis, The nocturnal council and Platonic political philosophy, in: History of Political Thought 19 (1998) S. 1–20. Luc Brisson, Le collège de veille (nukterinòs sfflllogos), in: Francisco L. Lisi (Hrsg.), Plato’s Laws and its Historical Significance, St. Augustin 2000, S. 161–177, bes. 171 ff.; ders., Les agronómoi dans les Lois de Platon et leur possible lien avec le nukterinòs sfflllogos, in: Scolnicov/ Brisson 2003 (wie Anm. 1), S. 221–226, bes. S. 224 f. – Bruno Vancamp, Colline d’Arès et conseil nocturne. Un rapprochement entre les Lois de Platon et les Euménides d’Éschyle, in: Revue Belge de Philologie 71 (1993) S. 80–84, macht auf eine schlagende literarische Parallele aufmerksam.

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Platon konzipiertes, abgeschlossenes Ganzes halte und ihr Finale nicht als ein open end betrachte, das genetisch auf die Ergänzung durch die Epinomis berechnet wäre, wie vor einigen Jahrzehnten Gerhard Müller mit viel Scharfsinn nachzuweisen versucht hat. Müller legt zumal im Nachwort zur Neuauflage seines Buchs15 besonderes Gewicht auf die Schlusspartie der Nomoi, und man muss ihm dankbar sein für die Schonungslosigkeit, mit der er die in der Tat gravierenden Unklarheiten des Abschnitts aufzeigt. Aber seine Analyse rechtfertigt m. E. nicht die Preisgabe der überlieferten Einheit des Dialogs, die ja offenbar schon für Platons Schülergeneration feststand.16 Müller versäumt zu erklären, wieso die Epinomis, wenn seine These zutrifft, überhaupt als selbständiges Werk tradiert worden ist. Als Appendix17 bestätigt sie m. E. nur die Authentizität der Nomoi als eines Texts des alten Platon, und ich sehe im Folgenden von ihr ab. Die nächtliche Versammlung tritt zwar erst am Ende der Nomoi konkret in Erscheinung, aber ihre Einführung ist dialogtechnisch von langer Hand vorbereitet. Dass für ihre Mitglieder, wie es 965 b 1 heißt, eine ÷kribestÍra paideûa t½ò ñmprosqen, eine gründlichere Ausbildung als für die übrigen Bürger zu fordern ist, wird schon im siebten Buch (817 e 5–819 a 7) bei den mathematischen Disziplinen als Unterrichtsgegenstand angesprochen, mit ausdrücklichem Hinweis auf die spätere Diskussion (818 a 3).18 Allerdings ist hier nicht wie in Buch 12 (965 c) von der Dialektik die Rede, sondern von der Theologie und der Einsicht in die Gesetzmäßigkeit der Gestirnbewegungen, die an jener Stelle erst im Anschluss folgen (966 c–968 a). Vielleicht will die Form der Antizipation den Leser indirekt darauf hinweisen, dass die philosophische Dialektik sich erst in einer auf die Astronomie gestützten Theologie erfüllt. Ich werde auf diesen Punkt noch zurückkommen. – Ein anderer Vorverweis aufs Ende findet sich in Buch 10. Nach 908 a 3 soll das zweite der drei Gefängnisse, die bei Asebie-Vergehen vorgesehen sind, sich im Umkreis des nukterin˛ò sŸllogoò befinden. Der Verwahrungsort, swðronistÇrion ‚Besserungsanstalt‘ genannt, ist für atheistische Frevler bestimmt, denen vielleicht noch zu helfen ist durch die Argumente, mit denen das Gremium ihre Seele zu retten versucht (909 a 4). – Die letzte Antizipation begegnet im zwölften Buch und ist eigentlich eher ein vorgezogener Teil der Diskussion der nächtlichen Studien zu den platonischen Nomoi, München 21968, S. 191 ff. Auf die Spekulationen von Debra Nails und Holger Thesleff, Early Academic editing, in: Scolnicov/Brisson 2003 (wie Anm. 1), S. 14–29, sei hier nicht eingegangen. – Vgl. auch John M. Dillon, Philip of Opus and the theology of Plato’s Laws, in: Scolnicov/Brisson 2003 (wie Anm. 1), S. 304–311. 17 Diog. Laert. 3, 60 führt sie unter dem Titel ’Epinom˝ò í nukterin˛ò sŸllogoò í ðilüsofoò. 18 Vgl. Schöpsdau 2003 (wie Anm. 2), S. 602 f. 15 16

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Versammlung selbst (951 d 3–952 d 4). Wer von den Bürgern auf Erkundungsreise ins Ausland geht,19 soll, wie es heißt, nach seiner Rückkehr, vor die Versammlung derer treten, die ‚die Aufsicht über die Gesetze führen‘ (eùò t˛n sŸllogon . . . t˛n tán per˝ nümwn ýpopteuüntwn), und ihr Bericht erstatten. Die Zusammensetzung des sŸllogoò wird (mit gesuchter Variation) zweimal, hier in 951 d e und 961 a b, angesprochen – das deutet auf ihre Wichtigkeit. Das Komitee, das sich jeden Tag vom Morgengrauen bis Sonnenaufgang zusammenfinden soll, besteht aus den zehn ältesten Gesetzeswächtern (vgl. 752 d 2–755 b 6), dem amtierenden und den gewesenen ‚Aufsehern über die gesamte Erziehung‘ (765 d 4–766 c 1),20 Vertretern des priesterlichen Kollegiums der Euthynen zur Kontrolle der Ämterführung (945 b 3–948 b 2) und wohl verdienten anderen Beamten sowie aus den qewroû, die im Ausland wichtige Erkenntnisse gewonnen haben, vor ihrer Aufnahme aber einer eingehenden Prüfung unterzogen werden.21 Darüber hinaus soll jedes Mitglied einen jüngeren, dreißig- bis vierzigjährigen Begleiter auswählen und in die Versammlung mitbringen. Dazu gleich genauer. Wie es aussieht, ist die Existenz des nukterin˛ò sŸllogoò nicht erst ab Buch 7, sondern schon sehr viel früher in der Darstellung vorausgesetzt, nämlich seit der grundlegenden Skizzierung der inneren Struktur der Nomoi in Buch 1 (631 b 3 ff.). Fraglich ist nur, wie direkt oder indirekt der sŸllogoò hier in dieser Sinnstruktur verankert wird. Die Stelle ist m. E. entscheidend für das Verständnis der Funktion, die der nächtlichen Versammlung zukommt – sowohl textintern, bezogen auf die politische Ebene des Gesetzesstaats, als auch auf der Darstellungsebene des Dialogs –, und erfordert eine etwas genauere Behandlung. Der Bauplan einer auf die ‚ganze Tugend‘ abzielenden Gesetzgebung endet mit den Worten (632 c 4, in der Übersetzung von Klaus Schöpsdau): Der Gesetzgeber werde (zum Schluss) ‚über das alles Wächter setzen, von 19 Vgl. Philippe Bornet, Platon et les étrangers, in: Revue de Théologie et de Philosophie 132 (2000) S. 113–129. 20 Der per˝ t½ò paideûaò pÜshò ýpimelhtÇò wird aus dem Kreis der nomoðŸlakeò gewählt (766 b 4, 809 a 1). Ob für den Fall, dass der aktuelle Amtsinhaber zu den zehn ältesten Gesetzeswächtern gehört, der nächstälteste von den 27 jüngeren in die Versammlung nachrückt oder ob die zehn dann beide Funktionen repräsentieren, darüber gibt der Text keine Auskunft. 21 Zu den in der Versammlung vertretenen Gruppen und zum Verhältnis ihrer beiden Beschreibungen vgl. Morrow (wie Anm. 14) und Marcel Piérart, Platon et la cité grecque, Brüssel 1974, S. 216 ff.; Brisson 2000 (wie Anm. 14), S. 165 ff. – Anders als in der Politeia sind Frauen im Nomoi-Staat, wie Susan B. Levin beklagt (Plato on women’s nature. Reflections on the Laws, in: Ancient Philosophy 20 [2000] S. 81–97), nicht für leitende Aufgaben vorgesehen, obwohl sie die gleiche Ausbildung wie die Männer erhalten sollen (804 d 6 ff.; Schöpsdau 2003 [wie Anm. 2], S. 554–556).

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denen die einen von Einsicht (ðrünhsiò), die andern von wahrer Meinung (÷lhqÌò düca) geleitet werden, damit die Vernunft (þ noflò) dies alles zusammenbindet und als der Besonnenheit und Gerechtigkeit dienlich erweist‘. Es ist umstritten, welche Institution der Athener hier im Blick hat. Denkt er bei den ‚Wächtern‘ (ðŸlakeò) an die nomoðŸlakeò, die 37 ‚Gesetzeswächter‘, die neben administrativen Funktionen vor allem auch die Gesetzgebung zu versehen haben (770 a–771 a), oder aber an den nukterin˛ò sŸllogoò? Da diesem die zehn ältesten Gesetzeswächter angehören, geht es bei 632 c um die Frage, ob mit den di’ ÷lhqoflò düchò ùünteò, den ‚von wahrer Meinung Geleiteten‘, die 27 restlichen nomoðŸlakeò oder Mitglieder der nächtlichen Versammlung gemeint sind – in Betracht kämen deren jüngere, auf Probe zugelassene Teilnehmer. Wie Schöpsdau im Kommentar zur Stelle bemerkt,22 spricht gegen die erste Lösung – die Identifizierung der ðŸlakeò mit den nomoðŸlakeò – der Umstand, dass die Einsetzung der fraglichen Wächter am Ende der ganzen Gesetzgebung erfolgen soll, während die Gesetzeswächter gerade die erste Institution der zu gründenden Polis bilden. Auffällig ist auch das kompositorische Detail, dass in 632 c 2 als letzte Maßnahme vor Einführung der ðŸlakeò die Regelung der Bestattung erwähnt wird, in Buch 12 aber die Darlegung der Bestattungsvorschriften unmittelbar in die Einführung der nächtlichen Versammlung mündet (960 b). Die Parallele ist sichtlich gesucht und zweifellos ein starkes Indiz für eine von Platon beabsichtigte Gleichsetzung der ðŸlakeò mit dem nukterin˛ò sŸllogoò. Andererseits begegnen dieser Option, wie mir scheint, doch einige Bedenken. Als antithetisches Pendant zur ÷lhqÌò düca meint die ðrünhsiò offenbar im Sinn des älteren platonischen Wortgebrauchs ein philosophisch-wissenschaftlich fundiertes Wissen. Solches Wissen wird für die nächtliche Versammlung später in der Tat beansprucht, aber eine Opposition zur doxa als kognitivem Status eines Teils der Mitglieder ist dort jedenfalls nicht explizit gemacht, und es wäre überraschend, wenn die Ankündigung gerade das Trennende innerhalb des Gremiums betonte, während die spätere Ausführung (961 d e; 964 e–965 a) die Komplementarität der Funktionen hervorhebt, die den Jungen und den Alten jeweils zufallen. Anders als der Wehrstand der ýpûkouroi in der Politeia, für den die ‚wahre Meinung‘ genügte, gehört hier die Gruppe der Dreißig- bis Vierzigjährigen zur Versammlung der ‚Wissenden‘ dazu und ist in deren Beratungen mit einbezogen (965 a 3). Man vermisst einen plausiblen Grund, warum sie von vornherein und sozusagen ex decreto auf das Niveau der doxa herabgestuft sein sollte.23 Denkt man bei der Differenzierung in 632 c 22

Klaus Schöpsdau, Platon. Nomoi Buch I–III, Göttingen 1994, S. 188 f. Sicher kann man sich die Dinge so zurecht legen, dass die Zugehörigkeit zu den älteren Mitgliedern des sŸllogoò (auch) durch ein Wissen definiert ist, über das die ,Anwärter‘ noch nicht verfügen, und der Athener scheint gegen Ende in der 23

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dagegen nicht an den nukterin˛ò sŸllogoò, sondern an das Kollegium der Gesetzeswächter, so erhält der Gegensatz eine präzise und pointierte Bedeutung. Mit den nomoðŸlakeò verhält es sich in der Tat notwendig so, dass die einen ‚vom Wissen geleitet sind‘ – die zehn ältesten Mitglieder, die zugleich der nächtlichen Versammlung angehören –, die anderen aber ‚von wahrer Meinung‘. Die 27 Mitglieder, die dem Kollegium (noch) nicht angehören, repräsentieren die Erkenntnisweise, die dem vom nous geprägten, aber nicht auf Reflexion angelegten Nomoi-Staat im ganzen zukommt. Gäbe es nicht die genannten Gegenindizien, wäre wohl kein Zweifel, dass diese Unterscheidung auch in 632 c gemeint sein muss. Aber von dem Passus gehen widersprüchliche Signale aus, und es lässt sich fragen, ob nicht eben die Ambivalenz des Bezugs von Platon intendiert sein dürfte, also hier zu Beginn die beiden Gremien der nomoðŸlakeò und des nukterin˛ò sŸllogoò mit Absicht überblendet sind. Man kann ja in der Tat sagen, dass die Institution der Gesetzeswächter zwar als erste eingeführt wird, aber als letzte an ihr Telos und sozusagen zu sich selbst kommt, d.h. zu einer differenzierten Einheit wird, die das Bewusstseins- und Erkenntnisniveau des Gesetzesstaats zugleich repräsentiert und übersteigt – übersteigt insofern, als sie sich partiell mit der nächtlichen Versammlung deckt. Lässt man diesen Ansatz einmal gelten und rechnet damit, dass Platon dem Verständnis des Lesers nicht wenig zutraut, ergeben sich einige wichtige Folgerungen für das, was man die Tiefenstruktur des politischen Systems der Nomoi nennen könnte. G. R. Morrow (wie Anm. 14) hat hervorgehoben, dass die nächtliche Versammlung keine legislativen oder administrativen Aufgaben zu erfüllen habe, sondern ihre Funktion darin bestehe, die Bürger aufzuklären und den Sinn der Gesetze zu erforschen und zu interpretieren; ihre Ausnahmestellung widerspreche daher auch nicht, wie man gemeint hat, der Überantwortung der Macht an die den nomos vertretenden Beamten. Das trifft sicherlich zu. Nach 952 a diskutieren die Mitglieder des Ausschusses über die eigenen Gesetze und über bemerkenswerte abweichende Regelungen, von denen die Auslandsreisenden berichten, und besprechen zugleich die Grundlagen einer reflektierten Rechts- und Gesetzestheorie; sie sind über alles, was in der Stadt vorgeht, informiert und beziehen es in ihre BeratunTat anzunehmen, dass die Konstituierung der Versammlung erst dann zum Abschluss gelangt ist, wenn die Älteren bestimmt haben, welches Wissen die Jüngeren erwerben sollen (vgl. unten S. [297–299]). Das ändert jedoch nichts daran, dass eine entsprechende Differenzierung in Buch 1 mit der Sinnrichtung der späteren Beschreibung schwer vereinbar wäre. Ein Wissensgefälle, das die Homogenität des Kollegiums relativieren könnte, ist dort in der Darstellung nicht nur nirgends erwähnt, sondern erscheint mit Fleiß ausgeblendet. Vgl. im übrigen auch 964 d 5 (ýmðrünwn).

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gen ein (964 e–965 a); sie sind die moralische Instanz, die über das Wissen von Gut und Böse verfügt und die anderen über die Wirkung von ÷retÇ und kakûa aufklären kann (962 c; 964 b c; 966 b); und sie sind die wichtigsten Erzieher der Polis, die aufgrund ihrer kosmo-theologischen Erkenntnis ‚den nous in den Gestirnen‘ vom Himmel auf die Erde herabholen und ihn für die Charakterbildung der Bürger und die gesetzlichen Bestimmungen fruchtbar machen (967 e). Die Einsetzung des sŸllogoò entspringt einem konservativen, auf Bewahrung der ‚Nomokratie‘ gerichteten Interesse, wie der Athener gleich zu Anfang (960 b–d) feststellt,24 und Platons Gestaltung zielt auf den Eindruck, dass die Philosophie aus einer bereits bestehenden Gesellschaft sozusagen auftaucht und sie systemimmanent bestimmt. Zwar lässt die Bezeichnung der Ratsmitglieder als ‚Wächter‘, fŸlakeò, daran denken, dass eben dies der Ehrenname der Philosophenherrscher der Politeia war, und in die gleiche Richtung deutet 962 b die Anbindung der Zielsetzung des Staats an das ‚Erkennende in ihm‘ (t˛ gignáskon ýn ažt`á), wie auch 968 a 2 der nukterin˛ò sŸllogoò indirekt zum årxwn Õlhò pülewò, zum ‚Herrscher über die ganze Stadt‘, deklariert wird. Wenn es dann am Ende heißt, dem ‚göttlichen sŸllogoò‘, so er denn verwirklicht werde, sei die Stadt zu übergeben (paradotÍon toŸtˆw tÌn pülin 969 b 3), erinnert das vollends an die Konzeption der Politeia. Gleichwohl verhält es sich in den Nomoi anders. Die nächtliche Versammlung bleibt in den Grenzen des vorgegebenen Systems. Sie ist das, was den Staat sinngebend-orientierend auf Kurs hält, befindet sich aber nicht auf einer Art Meta-Ebene, sondern ist aus gewählten Repräsentanten der Bürgerschaft zusammengesetzt. Was garantiert aber, dass ihr Einfluss sich durchsetzt, dass die Versammlung auch ohne präzis festgelegte Befugnisse über die Polis herrscht? Platon ist hier auf eine ebenso geniale wie bedenkliche Lösung gekommen. Die Personalunion, die darin liegt, dass die Mitglieder des sŸllogoò sich aus den einflussreichsten Vertretern der wichtigsten Ämter rekrutieren, stellt in der Tat sicher, dass die philosophische Theorie konstruktiv in die politische Praxis eingreift. Denn es liegt ja auf der Hand, dass die zehn ältesten, angesehensten nomoðŸlakeò die Erkenntnisse, die ihnen die Diskussionen in der Versammlung vermittelt haben, auch in der konkreten Gesetzgebung zur Geltung zu bringen wissen und dass der Bildungsminister 24 Während sonst das ,rettende Bewahren‘ (s`ÿzein, swthrûa) der staatlichen Gemeinschaft terminologisch den Gesetzen als Leistung zugeschrieben wird (Verf., Die Rede der Diotima. Untersuchungen zum platonischen Symposion, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 267), ist es hier die nächtliche Versammlung, die die swthrûa für ,Verfassung und Gesetze‘ verbürgen soll (960 e 9, vgl. b 7, d 3). Sie schafft die Grundlage für die swthrûa-Funktion der nümoi durch Reflexion auf den ,Geist der Gesetze‘ und seine Auslegung (964 a–c). – Vgl. auch Rep. 536 b 4.

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(der ‚Aufseher über die ganze Erziehung‘) in Absprache mit seinen Vorgängern die astronomisch-kosmologische und theologische Einsicht, zu der man im Rat gelangt ist, abgedämpft im allgemeinen Ausbildungsprogramm des Gesetzesstaats zu verankern suchen wird. Die Philosophie tritt in dieses Staatsgebäude gleichsam durch die Hintertür ein, aber sie erfüllt es dann, genauer besehen, sehr viel durchgreifender als das der Politeia. Die Nomoi machen die Philosophie – indirekt und indem sie, mit dem Bild in 961 c 5 zu sprechen, den nukterin˛ò sŸllogoò wie einen ‚Anker für die ganze Stadt‘ auswerfen25 – zu einer verfassungsinhärenten Institution, und sie lösen auf diese Weise das Problem des Politikos, dass der ideale Staatsmann an der Realität scheitern muss, weil seinem überlegenen Wissen die politische Legitimation fehlt.26 Doch um welchen Preis gelingt die Lösung? Eine Teilung der Kompetenzen und Gewalten ist in den Nomoi nicht nur nicht intendiert, sondern mit Bedacht vermieden, und die ‚Kommission‘, die sich auf den ersten Blick wie eine unabhängige Normenkontrollinstanz ausnimmt, ist in Wahrheit ins bestehende System tief involviert. Es scheint mir hilfreich, den Sachverhalt am Beispiel der 37 Gesetzeswächter einmal konkret durchzuspielen. Ihre Amtszeit beträgt maximal zwanzig Jahre, darf aber das siebzigste Lebensjahr nicht überschreiten; gewählt werden kann man ab fünfzig (755 a 4–b 2). Den 10 Ältesten unter ihnen, die der nächtlichen Versammlung angehören, stehen zum einen 27 jüngere Kollegen im Gremium der nomoðŸlakeò, zum anderen die 10 jüngeren, dreißig- bis vierzigjährigen Begleiter gegenüber, die sie selbst in die philosophische Versammlung mitbringen. Letztere Gruppe bildet gleichsam den Draht, der die Philosophen, die frühmorgens nach der Erscheinung des göttlichen ‚nous in den Gestirnen‘ auf der Akropolis tagen, mit der Außenwelt der Stadt verbindet.27 Sie sind wie Sinnesorgane, deren der die Wirklichkeit verarbeitende Geist bedarf (961 d, 969 b), und erfassen mit scharfer Wahrnehmung, was die Polis bewegt (964 e). Sie sind schön und gescheit (961 b 2, 964 e 3, vgl. Rep. 535 a 11), und die ganze Stadt blickt auf sie und unterwirft ihre Befähigung einer unerbittlichen Beurteilung. Auf ihre 25 Das Bild des Ankers (vgl. Tim. 73 d 5) bringt, wie Ulrike Hoier in einer Hausarbeit zum Thema ,Dialektik und Gesetze‘ bemerkt hat, den Doppelstatus des sŸllogoò – der Stadt unmittelbar zugehörig und verbunden und doch in gewisser Weise ,draußen‘ – sinnfällig zum Ausdruck und korrespondiert darin der Verlegung der Zusammenkunft auf die Zeit der Morgendämmerung, da die Tagesgeschäfte noch ruhen und die politischen Akteure Muße haben (sxolÇ 961 b 8). 26 Vgl. Verf. 2008 (wie Anm. 13), S. 21 f. 27 Da die Älteren sich indes nicht nur der politischen Theorie widmen, sondern gleichzeitig an der praktischen Politik aktiv teilnehmen und andererseits die Jüngeren 964 e 2 ihren Platz ausdrücklich auf der Akropolis, ,oben im Kopf‘ des Staatskörpers, erhalten, ist die Trennung der Funktionen nicht überscharf zu nehmen. Den Hinweis auf diesen Punkt verdanke ich Ulrike Hoier (vgl. Anm. 25).

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öffentliche Wirkung weist der Athener bereits ganz zu Anfang, in der vorgezogenen Beschreibung des nukterin˛ò sŸllogoò 952 a b hin, und die Aussageabsicht, die er damit verfolgt, ist nicht zu verkennen: diejenigen der nÍoi, die vor der öffentlichen Meinung bestehen, sind die geborenen Nachfolger der entscheidenden Amtsträger. Nimmt man nun beispielshalber einmal an, dass nach der Hälfte der vollen Amtszeit, d.h. nach Ablauf von zehn Jahren, von den 10 älteren Gesetzeswächtern fünf verstorben sind und von den 27 jüngeren fünf nachrücken und fünf andere ableben und die entstehende Vakanz vorzugsweise durch die mittlerweile Fünfzigjährigen unter den ehemaligen nÍoi der nächtlichen Versammlung aufgefüllt wird, so wäre das Gremium der nomoðŸlakeò nach vier oder fünf Beamtengenerationen nur noch mit Philosophen besetzt. Der aufwendige im sechsten Buch (753 b–d) beschriebene Wahlmodus dürfte sich, wie Schöpsdau erklärt,28 auf die erstmalige Einsetzung des Gesamtkollegiums beziehen, während für Nachwahlen ein vereinfachtes Verfahren anzunehmen ist, bei dem die Kür der Bewerber und der Wahlausgang doch wohl weniger offen sein werden als bei der Anfangswahl. Denn wenn vom nächtlichen sŸllogoò die swthrûa, der Bestand der Polisverfassung abhängt, muss die Allgemeinheit ein genuines Interesse daran haben, dass die in ihm verkörperte Kontinuität erhalten bleibt, also jene, die früher schon der Versammlung angehörten, jetzt in die Ämter gewählt werden, die auch in Zukunft die Mitglieder dieses Rates stellen. Freilich ergeben sich von hier aus zwei Fragen an den Text, mit denen ich schließen will. Die erste Frage betrifft den änigmatischen Passus 968 a 4–e 5 am Ende der Diskussion. Der Athener fragt, ob es nicht noch ein letztes Gesetz geben solle, das die Einführung des sŸllogoò der årxonteò (‚Beamten‘/‚Regenten‘) vorsehe, wenn dieser der ganzen vorher besprochenen Bildung teilhaftig geworden sei (paideûaò þpüshò dielhlŸqamen koinwn˛n genümenon 968 b 1). Das klingt so, als solle die Versammlung zunächst einmal nur virtuell bestehen und erst dann, wenn die ersten zehn Gesetzeswächter und die übrigen Mitglieder die philosophische paideûa erlangt haben, aus der Potentialität in die Aktualität treten. Aber es ist wohl doch etwas anders gemeint. Kleinias stimmt lebhaft zu und will gleich anfangen, aber der Athener erklärt (968 c 3), ‚solche Dinge‘ gesetzlich zu regeln sei nicht möglich pr˝n ºn kosmhq´½ , ‚bevor (der sŸllogoò) geordnet/ausgestattet/eingerichtet ist‘. Wie kosmhq´½ zu fassen ist, hängt vom Folgenden ab: tüte d˚ kurûouò ın ažtoˇò deƒ gûgnesqai nomoqeteƒn, ein vielumstrittenes Kolon, das ich hier nicht genauer diskutieren kann. Zu verstehen ist m. E. nach Harold Cherniss: ‚Nicht bevor die Versammlung die erforderliche Ausstattung erhalten, d.h. eine philosophische 28

Schöpsdau 2003 (wie Anm. 2), S. 368.

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Bildung gewonnen hat, können sie (ihre Mitglieder) als Befugte in den Dingen, in denen sie (sc. zur Erfüllung ihrer Aufgabe) befugt werden müssen, Gesetze geben. Jetzt dagegen – d.h. solange sie noch nicht selbst die notwendigen Kenntnisse besitzen – würde das Aufstellen solcher Regelungen, wenn es in rechter Weise erfolgen soll, zu einer Belehrung in langem persönlichen Austausch geraten (÷ll’ çdh t˛ tJ toiaflta kataskeuÜzein didaxÌ metJ sunousûaò poll½ ò gûgnoit’ ån, eù gûgnoito Žrqáò)‘.29 Der Athener rechnet, wie mir scheint, damit, dass (1.) die Mitglieder des sŸllogoò Gesetze erlassen (das wäre dann die Aufgabe der nomoðŸlakeò), (2.) für diese Gesetze philosophische Bildung erforderlich ist und (3.) sie über diese Bildung selbständig verfügen müssen – nicht unmöglich, aber doch weniger praktikabel und empfehlenswert wäre, dass die philosophischen Grundlagen ihnen im Zuge der Gesetzgebung durch Belehrung erst vermittelt werden. Worauf die fraglichen Gesetze sich beziehen, deutet er in 968 c 9–e 5 an. Es gelte zum einen, eine Liste der nach Alter, intellektueller Begabung und Charakter geeigneten Kandidaten für die Wächterfunktion zu erstellen, und zum anderen, einen Lehrplan für ihre Ausbildung zu entwerfen, während deren Dauer und Zeitpunkt sich schriftlich nicht fixieren ließen.30 Die Gesetze zielen also auf einen Katalog der Kriterien, die für eine Mitgliedschaft in der nächtlichen Versammlung erfüllt 29 Anders übersetzt Klaus Schöpsdau (in: G. Eigler [Hrsg.], Platon. Werke in acht Bänden griechisch und deutsch, Bd. 8/2, Darmstadt 21990, S. 507): „Gesetze hierüber zu erlassen (. . .) ist nicht mehr möglich, ehe nicht diese Versammlung eingerichtet ist; dann erst lassen sich die Kenntnisse gesetzlich festlegen, über die sie verfügen müssen. Jetzt dagegen könnte die Vorbereitung einer solchen Einrichtung, wenn sie richtig geschehen soll, nur noch in Belehrung mit langem Zusammensein bestehen“. Er beruft sich dafür auf die Diskussion von G. Müller (wie Anm. 15) S. 195, der die Auffassung von Cherniss (Rez. der ersten Auflage des Müllerschen Buchs [1951], in: Gnomon 25 [1953] S. 373 f.) für „sprachwidrig“ erklärt, da es damit in 968 c 5 heißen müsse: kurûouò ın deƒ genomÍnouò ažtoˇò nomoqeteƒn. Doch ist schwer zu sehen, warum kurûouò nicht auch allein prädikativ stehen kann. Ein kleinerer Anstoß liegt allenfalls darin, dass ažtoŸò statt im Relativsatz eher davor zu erwarten wäre, aber ,sprachwidrig‘ ist dies sicher nicht. Für sehr viel anstößiger halte ich die vexierende Wortfolge, die Müllers eigene Deutung voraussetzt. Dass als Beziehungswort von ın ein taflta bei nomoqeteƒn und nicht ein toŸtwn bei kurûouò mitzuverstehen wäre, wird durch den Satzduktus keineswegs nahegelegt, und die Annahme, dass letzteres als vorgezogenes Prädikatsnomen vielmehr in den Relativsatz gehöre, scheint mir willkürlich. Vgl. auch Tarán (wie Anm. 14) S. 21 Anm. 78. 30 Dass individuelles Verstehen sich nicht dekretieren lasse und also ,nicht vorhersagbar‘ und nicht schriftlich zu fixieren sei, wann ,beim einzelnen in der Seele ein Wissen vom Lerngegenstand vorhanden ist‘ und er selbständig versteht (968 d 4–e 5), klingt vorsichtiger, vielleicht auch skeptischer als die zeitlichen Festlegungen, die in der Politeia hinsichtlich des Bildungsprogramms der Philosophenherrscher getroffen werden, stimmt aber zur Bemerkung in 818 d 4–e 7 über das Problem der Vermittlung mathematischen Wissens (nur dass dort auch die Fixierung

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sein müssen, und auf die Gegenstände, die zum Ausbildungsprogramm der aufgenommenen Kandidaten gehören sollen. Diese Kandidaten können nun aber sinnvollerweise nicht diejenigen sein, die per se und kraft ihres Amtes zur Versammlung ohnehin schon gehören, d.h. die zehn ältesten Gesetzeswächter und ihre Kollegen aus den übrigen Ressorts. Vielmehr denkt der Athener hier und in dem ganzen Abschnitt offenbar an die Frage der Auswahl und Ausbildung der jüngeren Begleiter der Vollmitglieder, die später ihre Nachfolge antreten sollen (ein Vorverweis darauf liegt in 952 a 6–7 und 966 d 1–2, auch 961 b 2–3). Wenn das richtig ist, geht es in dem Passus nicht um Modalitäten der primären Einsetzung der nächtlichen Versammlung, sondern Platons Gestaltung will sagen: der die Stadt rettende und bewahrende sŸllogoò wird seiner Funktion erst dann gerecht und hat sich erst dann wirklich konstituiert, wenn er zu einem philosophischen Wissen gefunden hat, dessen Weitergabe an die Jüngeren die Kontinuität der Polis und ihrer Verfassungsgrundlagen sichert. Das wäre in der Tat das ultimative Gesetz, gleichsam das Gesetz der Gesetze, von dem in 968 a die Rede ist. Wie bemerkt, sieht der Athener für die epistemische ‚Ausstattung‘, die den anfänglichen Mitgliedern der nächtlichen Versammlung zuteil werden muss, wenn sie das entsprechende Wissen für ihre künftigen Mitglieder verbindlich bestimmen wollen, prinzipiell zwei Möglichkeiten: entweder die didaxÇ, die Belehrung und Beratung durch einen Wissenden, oder aber – und diese Option verdient in seinen Augen offenbar entschieden den Vorzug – die selbständige philosophische Aneignung durch den sŸllogoò selbst.31 Wie eine solche zu denken wäre, ist die zweite Frage an den Text, die allerdings eher für ein Seminar als für einen Vortrag taugt.32 Ich will zum Ende wenigstens den Grundriss der Argumentation von 960 b–967 e mit einigen Strichen nachzuvollziehen versuchen. Es geht um die swthrûa, die Bewahrung der Gesetze, und der Beweisgang führt auf verschlungenen Wegen zu dem Ergebnis, dass eine solche Sicherung nur durch Reflexion auf den die Gesetze begründenden nous geder Gegenstände und ihrer Reihenfolge und Kombination in der Schwebe gehalten wird). 31 Natürlich kommt auch die persönliche Aneignung kaum ohne die Belehrung durch einen anderen aus, und das abschließende Angebot des Atheners, in Fragen der paideia weiterhin zur Verfügung zu stehen (969 a), behält in beiden Fällen seinen Sinn. Aber es ist, theoretisch und praktisch, doch ein Unterschied, ob die Instanz, die über das ,Grundgesetz‘ des Nomoi-Staats befinden soll, dies aus eigener Erkenntnis tut oder sich von der Beratung durch einen Wissenden abhängig macht. – Vgl. auch 968 d 3–4 und Verf. 1997 (wie Anm. 24), S. 148 f. 32 Immerhin verdanken auch die folgenden Bemerkungen einiges einem Seminar über die Nomoi im Sommersemester 2007.

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lingen kann. Der Athener denkt dabei nicht an die sokratische Selbstreflexion oder an so etwas wie die nühsiò noÇsewò der aristotelischen Gottheit. Er denkt einerseits an einen Rekurs auf den – wenn der Ausdruck erlaubt ist – objektiven Geist, der den unveränderlichen Bewegungen der göttlichen Gestirne inhärent ist, und andererseits an eine Besinnung auf die Leistung des menschlichen Intellekts, der hinter der empirischen Vielheit der Sinnesdaten und der begrifflichen Vielheit der Werte im Durchblick auf die ‚eine ùdÍa‘ (965 c 2) ein Òn und präzis Bestimmtes erkennt. Die Argumentation zielt, anknüpfend an den Timaios (vgl. u. a. 90 a–d), auf eine Zusammenführung der beiden nous-Aspekte und zugleich auf ihre Abstufung in dem Sinn, dass das anthropologische Moment als Funktion des kosmo-theologischen erscheint. Die Botschaft des Atheners lautet, dass der gesetzgebende menschliche nous, der sich der permanent verändernden Welt der Genesis und einer chaotischen Vielfalt der Erscheinungen gegenübersieht, zu seiner genuinen Leistung erst finden und seine Aufgabe erst erfüllen kann, wenn er die unstete Bewegtheit des Irdischen mit den invarianten Bewegungen im Kosmos abgleicht, d.h. die ratio der göttlichen Vernunft versteht und sich bei der Gestaltung der Wirklichkeit an ihr orientiert. Das wird in vier Schritten mehr oder minder deutlich ausgeführt. Der erste Teil (960 b–962 e) macht klar, dass die swthrûa der Gesetze vom nous und seiner Verbindung mit der Wahrnehmung der Außenwelt, deren Informationen er koordiniert, abhängt. Aber, so fragt der Athener, was ist das Prinzip, das das Erkenntnisinteresse des um die Gesetze besorgten nous leitet? Er muss einen politik˛ò skopüò im Blick haben, ein Ziel der Polis, das ihn die einen Erscheinungen billigen und die anderen verwerfen lässt. Ein solches Ziel hat die vorangehende Diskussion, wie Kleinias zu Beginn des zweiten Teils (963 a–965 a) erwidert, schon längst bestimmt: es ist das Gute und die ‚Tüchtigkeit‘, die ÷retÇ – sie ist das Òn, das Eine, auf das alles andere zu beziehen ist. Doch was genau ist die ÷retÇ? Für die, die über Wohl und Wehe des Staats zu befinden haben, ist ein anderes Reflexionsniveau als für die Normalbürger gefordert, denn sie müssen den anderen die Kriterien für Gut und Schlecht erklären können. Sie müssen die ‚Tugend‘ nicht nur im Sinn des Ziels als ein Òn begreifen, sondern auch die essentielle begriffliche Einheit verstehen, die den verschiedenen Erscheinungsformen des Guten (und Schlechten) zugrunde liegt. Sie bedürfen folglich, wie der dritte Teil (965 b–966 b) ausführt, der philosophischen Dialektik, die eine begründungsfähige Zusammenschau des Differenten ermöglicht. Doch die Begründung des Menschlichen hängt am Göttlichen – das Ziel des Menschen ist die þmoûwsiò qe`á, die ‚Angleichung an Gott‘, d.h. die Aktualisierung dessen, was über seine Vergänglichkeit hinausweist und den Entscheidungen seines nous Dauer verleiht. Die Dialektik muss daher, wenn sie in der Polis das für die Bürger Gute bestimmen und dauerhaft

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erhalten will, aufs Wesen des Göttlichen ausgreifen. Der vierte Teil (966 c–967 e) nimmt die Ergebnisse des zehnten Buchs auf, den Primat der Seele vor dem Körperlich-Materiellen, das vom Psychischen formal bestimmt wird, und die in der Beseeltheit des Kosmos angelegte Rationalität. Sie tritt in der Gesetzmäßigkeit der astronomischen Gegebenheiten sehr viel sinnfälliger in Erscheinung als in den wandelbaren irdischen Dingen. Wenn der menschliche Intellekt sich über das Gute und Vernünftige, das allen Anfechtungen standhält, klar werden will, ist er auf den ‚noflò in den Gestirnen‘ verwiesen.

Entwicklungshypothesen über Platon Die Entwicklung vom Politikos zu den Nomoi als Fallbeispiel Von Marcel van Ackeren I. Einleitung Vielfach wurde beklagt, dass die Nomoi lange und zu Unrecht von der Forschung vernachlässigt bzw. kritisiert wurden.1 Nicht zuletzt der vorliegende Band zeigt, dass dieses Urteil nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Platons letztes und umfangreichstes Werk ist auch wegen der darin vertretenen Thesen, die einen dezidiert empirisch-praktischen Anspruch haben,2 kontroverser diskutiert worden als viele andere Dialoge. Was die Diskussion der platonischen Positionen in den Nomoi angeht, sind vier Besonderheiten auszumachen: Erstens ist bei vielen Interpreten, die sich den politischen Aspekten und Ambitionen des Dialoges widmen, feststellbar, wie sehr Beschreibung und Bewertung der platonischen Position sich bedingen oder – leider – verwechselt werden. Zweitens führte dies zu einer einmalig zerklüfteten Forschungslandschaft: Es findet sich die Ansicht, die Nomoi seien das Werk, das „he probably himself regarded as his most important work.“3 Es finden sich ferner die Annahmen, Platon werde hier endlich realistisch (und resignativ)4 oder schaffe den Durchbruch zur Konzeption eines freien, selbstbestimmten Willens.5 Kritischer ist G. Müller, der fragt: „Wie sollen wir es begreifen, dass der Meister des Denkens ein so schwaches, verworrenes und mangelhaftes Werk geschaffen habe, in dem das helle Licht der Vernunft getrübt 1 Vgl. Taylor, S. 463. Ein Überblick über die Forschung bis etwa 1999 findet sich bei Saunders. 2 Vgl. hierzu Morrow, S. 1: „No work of Plato’s is more intimately connected with its time and with the world in which it was written than the Laws.“ 3 Taylor, S. 463. 4 Vgl. Gould, S. 130 und besonders 133 f. 5 Vgl. Baumgarten, S. 22.

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scheint?“6 Eine vermittelnde Position wird von H. Görgemanns eingenommen: Es handele sich bei den Nomoi zwar um genuin platonische Philosophie, die sich jedoch an philosophisch Ungebildete richte und einen pragmatisch-juristischen Zweck verfolge.7 Drittens ist es angesichts dieser Disparität von Deutungen überraschend, dass sich die Interpreten einig zu sein scheinen, dass die Nomoi eine neue und damit von allen vorherigen Dialogen unterschiedene Position vertreten. Abgesehen von einigen älteren streng unitarischen Interpreten wie z. B. P. Shorey vertreten die meisten Platon-Forscher keine isolierte These über die Nomoi, sondern eine Entwicklungshypothese: Platon mache in seinem letzten Werk Aussagen, die sie von denen der vorherigen Dialoge unterscheide und je nach Interpret wird dies als Verbesserung oder Verschlechterung, als progressivere oder konservativere Philosophie usw. beschrieben. Jede Interpretation der Nomoi erhält zusätzliche Bedeutung durch die Annahme einer bestimmten Entwicklung im Denken Platons. Während bei einigen Kommentatoren eine solche Entwicklungshypothese im Bereich der nicht weiter explizit gemachten Voraussetzungen der eigenen Interpretation verbleibt und allenfalls durch bestimmte wertende Formulierungen deutlich wird, argumentieren andere explizit dafür. Viertens ist diesen Entwicklungs-Hypothesen gemeinsam, dass sie den Politikos betreffen. Hat sich Platons Politische Philosophie stufenweise von der Politeia über den Politikos zu den Nomoi hin entwickelt? Oder beschreiben sowohl Politeia als auch Politikos eine konvergente Position, von denen sich erst die Nomoi absetzten?8 Doch hier herrscht große Verlegenheit, denn beim Politikos handelt es sich um einen – besonders im deutschsprachigen Raum – ganz vernachlässigten Dialog.9 Im Folgenden kann nur ein sehr begrenzter Versuch gemacht werden, einen Teil der Entwicklung der Politischen Philosophie beim späten Platon zu verstehen. Als Focus bietet sich das Verhältnis von Wissen und Praxis an. Es ist generell für Platon wichtig, für seine politischen Überlegungen ist es zentral. Denn erstens ist politische Herrschaft bei Platon durch Wissen legitimiert. Wissen macht politische Herrschaft nützlich, alle Individuen und die Ge6

Müller, S. 188. Noch weitergehend ist das Urteil von Bury, er wirft Platon Senilität vor. (vgl. Bury, S. vii) 7 Vgl. Görgemanns, S. 111 f. 8 Ich lasse hier das schwierige Problem unberücksichtigt, das sich aus dem Umstand ergibt, dass der Timaios zu Beginn eine Referenz auf das Politeia-Gespräch erhält, in der einige zentrale politisch relevante Thesen unverändert und affirmativ aufgegriffen werden. 9 Es gibt nur die leider nicht verlegte Arbeit Oesterle, Staatsphilosophie im Dialog „Politikos“; ferner: Rowe.

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meinschaft werden gleichermaßen gut organisiert und damit glücklich. Zweitens ist der genannte Zusammenhang von Wissen und Praxis auch in Form des Verhältnisses von Wissen und Tugend als Gegenstandsbereich für die Tätigkeit des Philosophenkönigs zentral. Denn seine Aufgabe ist es ja nicht nur aufgrund eines bestimmten Wissens, das er innehat, als Herrscher selber gut, d.h. tugendhaft zu sein, sondern als politischer Mensch wird er versuchen, andere Menschen und Gesellschaften entsprechend zu beeinflussen.10 Die hier leitende These lautet, dass im Politikos die genannten beiden zentralen Momente von Platon so beschrieben werden, dass nicht nur die Nomoi als Gesamtentwurf besser verstanden werden können, sondern die Verbindung und Veränderungen zu den vorherigen Dialogen Politeia und Politikos präziser fassbar werden. Wie verhält sich die durch Ideenwissen für alle Menschen und die Gesellschaft nützliche und daher legitime Herrschaft der Philosophen(-könige) zu dem Versuch der Nomoi, eine Gesetzesherrschaft zu etablieren, in denen nicht dialektisch gebildete Bürger, also Nicht-Philosophen, ohne selber über Ideenwissen zu verfügen, möglichst tugendhaft leben können? In einem ersten Schritt sind kurz die wesentlichen Aussagen der Nomoi zu beschreiben, die das Verhältnis von Tugend und Wissen als Aufgabenfeld der politischen Herrschaft zum Gegenstand haben. Zweitens ist dann die Position des Politikos ausführlicher und in zwei Schritten darzustellen, so dass drittens Folgerungen für die Entwicklung der späten Platonischen Philosophie gezogen werden können. Da die Bedeutung von Entwicklungshypothesen auf philosophiehistorischem Gebiet umstritten ist und deren methodischer Status nicht einfach zu klären ist, müssen hier noch einige wenige Hinweise genügen, um Missverständnissen vorzubeugen. Wendet man Freges Unterscheidung zwischen dem Wahr-Sein und dem Für-Wahr-Halten konsequent an, ist es nicht nur irrelevant, wann und unter welchem Umständen z. B. Kant den kategorischen Imperativ zur Grundlage der Sittenlehre erklärte,11 sondern – streng genommen – auch ob diese These von Kant oder einem unbekannten afrikanischen Philosophen aus dem vierten Jahrhundert vor Christus stammt. Damit wären alle historischen, biographischen oder psychologischen Erklärungen für philosophische Texte ausgeschlossen, weil von dem Menschen, der diese geschrieben hat, weitgehend abstrahiert wird. Für Entwicklungsthesen hingegen spricht, dass sich komplexere philosophische Thesen nicht leicht verstehen lassen und es hilfreich sein kann, sie 10 11

Vgl. Resp. 500c–5001c; dazu: van Ackeren, (2003), S. 182 f. Soweit Rapp, S. 178.

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als Antworten zu verstehen, denen Fragen vorausgehen. So könnte ein Philosoph mit neuen Thesen erstens auf die Theoreme seiner Vorgänger oder Zeitgenossen reagieren.12 Zweitens könnte er frühere eigenen Positionen oder deren Voraussetzungen überprüfen oder revidieren wollen. In jedem Falle setzen Entwicklungshypothesen des letztgenannten Typus zwei Dinge voraus, nämlich erstens die Beschreibungen von zwei zu unterschiedlichen Zeiten verfassten Positionen eines Autors und zweitens die Beobachtung, dass sich diese dem Inhalt nach signifikant unterscheiden, und zwar derart, dass es überhaupt nötig erscheint, zwischen diesen beiden Positionen eine Entwicklung zu konstatieren bzw. die Differenz durch eine Entwicklung zu erklären. Hier sind mehrere Konstellationen vorstellbar, von denen nur zwei genannt seien: Es kann sein, dass sich die spätere Position zu früheren antithetisch verhält, was eine besondere Herausforderung für die Entwicklungshypothesen ist. Oder aber es liegt der – wohl unspektakulärere – Fall vor, dass sich ein Philosoph im Laufe seiner Schaffenszeit für neue Themenfelder interessiert. Im Folgenden soll es um diese Voraussetzungen einer Entwicklungshypothese gehen, nämlich die Beschreibung von zwei vermeintlich nicht ganz konfliktfreien Positionen. Fragen der relativen Chronologie der Dialoge können hier ausgeklammert werden, denn die Nomoi hat Platon nach dem Politikos verfasst. Und da es um das Verhältnis der beiden Dialoginhalte geht und nicht darum, sie durch Platons Biographie zu erklären, kann die schwierige Erörterung der absoluten Chronologie ebenfalls unberücksichtigt bleiben. II. Tugend als Ziel der Politik in den Nomoi Was das Verhältnis von Tugend und Wissen angeht, scheinen die zentralen Zusammenhänge in den Nomoi die Ergebnisse vorheriger Dialoge auf12 Auch dieser Wert von Entwicklungshypothesen ist bestritten worden (vgl. Frede). Frede rechnet diese Entwicklungshypothesen zu den historischen Erklärungen und unterscheidet sie von den von ihm präferierten philosophischen Erklärungen. Welche Argumente er hier gelten lässt, wird nicht weiter expliziert, auch nicht ob er Fredes Unterscheidung verwendet. Generell ist seine Unterscheidung zwischen historischen und philosophischen Erklärungen genauer zu überprüfen, denn Frede scheint dabei erstens einen ahistorischen Philosophiebegriff zu verwenden. Gerade, das was als philosophisches Argument verstanden wurde, unterliegt weitreichenden historischen Entwicklungen. Zweitens scheint seine Distinktion gerade im Bereich der politischen Philosophie problematisch, denn auf diesem Feld reagieren Philosophen auf Zeitgeschehnisse, so dass die Unterscheidung von historischen und philosophischen Erklärungen des zu interpretierenden Denkers von diesem selbst unterlaufen wird.

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zugreifen bzw. auf gesetzgeberischer Ebene fortzuführen. Eine Zusammenfassung könnte wie folgt lauten:13 Schon der erste leitende Gesichtspunkt aller Gesetzgebung, der Krieg, wird schnell als ethisch-praktisches Thema entwickelt, denn jede Form des äußeren Krieges wird durch den inneren Krieg gegen sich selber, die Stasis der Seele, erklärt.14 Daher muss es Ziel jeder Gesetzgebung sein, die Entzweiung im Inneren zu verhindern und stattdessen die Tugend, die vollendete Gerechtigkeit als dem Besten für die Seele, zu erzeugen.15 Impliziert ist, dass das glückliche Leben Angelpunkt jeder Gesetzgebung ist,16 und weiter, dass dieses Ziel der Gesetzgebung, die Tugendhaftigkeit, selber wieder dem Wahrheitskriterium unterworfen ist.17 Tugend ist erkennbar, und weiter ist das Glück eine Sache des Wissens.18 Neben dem Hinweis, dass Tugend Wissen ist, wird auch das Paradox von der Unfreiwilligkeit des Unrechttuns mehrfach genannt.19 Die Güterlehre besagt, ganz wie in den Dialogen Euthydemos und Politeia, dass ohne Tugendwissen alle vermeintlichen Güter zu Übeln werden und daher nur die Tugenden gut sind.20 Das elende Leben wird als Leben der Schande bezeichnet,21 womit auf den Scham-Begriff des Gorgias angespielt wird. Die Diskussion des Gorgias wird sogar fortgesetzt, indem anschließend die Frage, ob das tugendhafte oder das hedonistische Leben in bekannter Weise entschieden wird. Das Gute, das Gerechte, das Schöne sind im glücklichen und somit auch angenehmen Leben eins und können nicht getrennt bestimmt werden.22 Aufgabe des Gesetzgebers und des Erziehers der Seelen ist es, das Schöne in den Seelen durch die Gesetzgebung nachzubilden. Gut ist eine nachbildende Kunst, wenn sie durch Wissen von dem Urbilde geleitet wird und so die Ähnlichkeit des Abbildes sicherstellen kann. Die Erkenntnis ist bei der nachbildnerischen Tätigkeit, die etwas Gutes und Nützliches schaffen will, entscheidend.23 Unwissenheit findet ihren schlimmsten Ausdruck im inneren Aufruhr in der Seele, dem Zustande, wenn die unteren Seelenteile nicht 13

Ich entnehme die Zusammenfassung der Position der Nomoi und des Politikos einer vorherigen Arbeit, in der mir die Zusammenhänge, um die es mir hier geht, noch nicht hinreichend klar waren: van Ackeren (2003), Kap. 3.4 und 3.7. 14 Vgl. Leg. 626d. 15 Vgl. Leg. 628a, 630a–b, d. 16 Vgl. Leg. 631a. 17 Vgl. Leg. 628a. 18 Vgl. Leg. 653a. 19 Vgl. Leg. 646b–c, wieder 663b, und besonders eindringlich 731c und 860d. 20 Vgl. Leg. 631a–c, 661a–662a, im gleichen Sinne auch 727e, 870a. 21 Vgl. Leg. 662a. 22 Vgl. Leg. 662b–663d. 23 Vgl. Leg. 667b–669a, 687d.

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mehr der Einsicht des höchsten Seelenteiles folgen.24 Doppelt ist die Unwissenheit, wenn sich jemand weise wähnt, der es gar nicht ist.25 Zur Herrschaft ist die Vernunft wegen des Glückes berechtigt, das aus dieser Herrschaft notwendig folgt.26 Aufgrund der Orientierung an der Wahrheit und dem Seienden wird der Mensch als wahrhaft seiender glücklich leben.27 Wissenssuche, insbesondere Kosmologie, darf kein Selbstzweck werden, sondern muss dem Glücksstreben verpflichtet bleiben.28 Die Frage nach dem Glück ist das Wichtigste.29 Eine beste Seele leitet das ganze Weltall mit Vernunft und Tugend, weswegen der Kosmos ein solcher ist, nämlich wohlgeordnet.30 Der Mensch selber ist Teil des geordneten Ganzen, und er wird selber möglichst geordnet, wenn er das Ganze, sprich die Vernunft, die das Ganze bestimmt, versucht zu erkennen und zu imitieren,31 indem er die Ordnung des Ganzen als Musterbild für die Ordnung der Seele nimmt.32 Ohne Wissen kann eine solche Nachahmung nicht gelingen,33 was für jede Techne gilt.34 Prima facie wiederholen die Nomoi die zentralen Bestimmungen der Platonischen Ethik. Von Gerhard Müller ist vermutet worden, dass die Nomoi der für die Politik zentralen These, dass Tugend Wissen sei, aber einen neuen unplatonischen Sinn geben. In den vorangehenden Dialogen war die Tugendhaftigkeit nur durch Wissen erreichbar, genauer – seit den mittleren Dialogen – durch Wissen von den Ideen. In den Nomoi aber gehe es, so Müller, bestenfalls um volkstümliche oder bürgerliche Tugenden, die durch Gewöhnung und Übung, aber nicht durch philosophisches Wissen den Seelen innewohnen35 und daher dem Bereich der a\lhqÌò do·ca zugehören. Diese Tugenden des Volkes seien nur zweitrangige Tugenden, da sie allenfalls Anteil an der wahren, durch eigenständiges philosophisches Wissen verursachten Tugend haben.36 Müllers Urteil über die Tapferkeit und Besonnenheit ist noch vernichtender: Hier, konstatiert er, werde eine ganz und gar naturhafte und nicht einmal von a\lhqÌò do·ca gelenkte vulgäre Tugend 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Leg. 689a–e, 663b, 870a. Leg. 863b. Leg. 690b, 863e. Leg. 730b–c. Leg. 819a. Leg. 888b. Leg. 896e–898d. Leg. 903b–d. Leg. 905a–c. Leg.962a. Leg. 963a–965d. Müller, S. 14 ff. z. B. Resp. 619d.

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propagiert, die im Sinne des Phaidon und der Politeia als sklavisch und verächtlich abgetan werden sollte.37 Dagegen ist einzuwenden, dass die Nomoi den Anspruch vertreten, es gehe um eine bürgerliche und daher zumindest mit Wissen in Zusammenhang stehende Tugend. Aber welches Verhältnis von Tugend und Wissen und welches zwischen Wissen und politischer Herrschaft verbirgt sich hinter den Aussagen der Nomoi, die prima facie nur wie eine Zusammenfassung der vorherigen Dialoge aussehen? Zunächst scheint eine Beobachtung Müllers richtig zu sein: Bürgliche Tugenden besitzen in den Nomoi Menschen, die kein Ideenwissen haben. Auch wer die Beurteilung G. Müllers nicht teilt, muss erklären, warum Platon sich im Gegensatz zu vorherigen Dialogen so ausführlich einer durch Gesetze vermittelten Tugend widmet, die beim Tugendhaften kein Ideenwissen voraussetzt. III. Der Politikos Der Politikos beginnt mit dem Hinweis, dass das Gespräch aus dem Sophistes fortgesetzt wird und jetzt der Staatsmann und der Philosoph zu untersuchen seien.38 Wie eigenständig ist Platons Interesse an dem Staatsmann? Oder ist er nur ein Beispiel, mit dem Platon demonstrieren will, was es heißt, mit allem dialektischer umzugehen?39 Verbirgt sich hinter dem Politiker auch der Philosoph, weil beider Wissen und Tätigkeit gleich bestimmt werden? Gemäß der eingangs erwähnten These, dass für Platons politische Philosophie zwei Aspekte von Interesse sind, ist zu fragen, ob der Politikos erstens erklärt, inwiefern Platon noch an der Vorstellung von dialektisch gebildeten, also über Ideenwissen verfügenden Philosophenkönigen festhält, und zweitens welche Rolle die Erzeugung von bürgerlichen Tugenden in deren Herrschaft spielt.

37 Vgl. Phaid. 68c, 69a–c und Resp. 430b im Verbindung mit Leg. 710a, 831e, 836c–d, 840a (vgl. Müller, S. 15, 20–21). 38 Vgl. Soph. 216c f. mit Polit. 257a–b. Zur Frage der relativen Chronologie der Spätdialoge und der Einordnung des Politikos siehe Kahn, S. 49–51. 39 Vgl. Polit. 285d. Ferber argumentiert, dass der Staatsmann wesentlich vom Philosophen unterschieden sei, da seine Untersuchung dem für Platon wichtigeren Ziel dient, die Suche nach reinem Ideenwissen einzuüben (vgl. Ferber, S. 63–75, hier: S. 63–65).

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1. Ist der Staatsmann des Politikos ein Philosoph? Ausgehend von der ersten Einordnung des Staatsmanns als Wissendem (ýpisthmwn)40 wird die Kunst des Politikers in einer Dihairese als das Hüten zweibeiniger, ungehörnter, sich unvermischt paarender und auf dem Lande lebender Herdentiere bestimmt.41 Worin besteht der Wert dieser Dihairese und warum ist sie, wie eingestanden wird, korrekturbedürftig? Der Eleat antwortet mit einem Mythos. Die Ordnung und Bewegung des Kosmos werden im Zeitalter des Kronos von Gott verursacht.42 Überlässt er den Kosmos seinem eigenen Lauf, gerät die Laufrichtung zunächst durcheinander und dann zur jetzigen Bewegungsrichtung,43 die das Zeitalter des Zeus ausmacht.44 Den zwei Zeitaltern entsprechen zwei Existenzweisen des Menschen, da die Situation des Menschen kosmisch bedingt ist. Unter Kronos hütete Gott selbst die Menschen mit allumfassender Sorge, so „dass den Menschen alles von selbst geworden“45 ist. Die Nahrung hängt an den Bäumen oder schießt ohne menschliches Zutun aus dem Boden, wegen des Klimas besteht kein Bedarf an Kleidung und Wohnung. Auch Oikos und Polis sind überflüssig, denn die Menschen leben als Herde.46 Als „Erdgeborene“ ist nicht einmal Reproduktion nötig, die Menschen werden aufgrund der anderen Zeitrichtung immer jünger, um dann zu verschwinden.47 Die Menschen entscheiden und handeln nicht, denn ohne kontingente Zukunft macht Handeln keinen Sinn, ist sogar unmöglich. Nachdem der Gott das Steuer des Kosmos loslässt, müssen Kosmos und in Folge die Menschen selbst für sich Sorge tragen. Die conditio humana verschlechtert sich und die neue Bedürftigkeit zwingt die Menschen zum Handeln. Erst sind sie kunstlos (åtexnoò), aber durch die göttlichen Gaben, die Künste, werden sie überlebensfähig.48 Zu diesen Künsten, die den Menschen überlebensfähig machen, gehört auch die politische Kunst. Der Staatsmann braucht Wissen, aber da er eine ganz andere Welt betreuen muss, wird der menschliche Staatsmann nie so sein können wie der göttliche Hirte.49 Mit dem göttlichen Goldenen Zeitalter beschreibt Platon also kein Ideal der menschlichen Politik. Die menschliche _

40

Vgl. Polit. 258b. Vgl. Polit. 258b–267c. 42 Vgl. Polit. 269c–e. 43 Vgl. Polit. 272e–273c. 44 Vgl. Polit. 269e–270a. 45 Pol. 271d. 46 Vgl. Polit. 271e–272b. 47 Vgl. Polit. 270d–e. 48 Vgl. Polit. 274c–d. 49 So aber Schröder, S. 14 ff. Die These wurde entkräftet von Manasse, S. 173; Capelle, S. 43 ff. und Herter, S. 114 f. Gegen Schröder siehe Oesterle, S. 40 f. 41

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Art der Fürsorge ist von der göttlichen Fürsorge deutlich unterschieden.50 Eine Rückkehr zu einer Welt mit umgekehrtem Zeitverlauf und Erdgeburt ist als politisches Programm ohnehin nicht glaubwürdig.51 Der Mythos korrigierte die Dihairese und begründete zugleich die Einordnung des ersten Genos, der zufolge der Staatsmann ein Wissender ist. Die Staatkunst wird nun weiter mit reinen Logoi, nicht Mythen, bestimmt. Als Exempel und Analogon dient die Weberei, der es um ein Zusammenflechten (sumplokh·) geht.52 Das Hervorbringen eines Geflechtes (sunkrûnein) ist das, was auch die Staatskunst ausmacht. Aber wozu die detaillierte und verwickelte Darstellung von Mythos und dann Webkunst, wenn die Antwort so kurz ist? Die Reflexion über das Maß der eigenen Ausführungen nimmt der Eleat zum Anlass, um über Maß und Messkunst zu reden.53 Die Messkunst geht auf „Länge und Kürze und überhaupt jedes Hervorragen oder Zurückbleiben.“54 Es sind zwei Arten der Messkunst zu unterscheiden, denn das Große und Kleine, das Mehr oder Weniger lässt sich nicht nur gegeneinander messen,55 sondern auch gegen ein Maß (pro½ò to½ me·trion),56 das normativen Charakter hat, denn durch eine solche Messung lässt sich das Gute und Schlechte in Bezug auf Reden, Handlungen und Menschen ermitteln.57 Die Beziehung der Größen untereinander ist ebenso seiend wie der Bezug einer Größe zum Maß.58 Eine einzelne Größe kann nur vor dem Hintergrund des absoluten Maßes als Mehr oder Weniger bezeichnet werden. Ansonsten kann ein einzelner Wert nur im Verhältnis zu einem anderen als größer oder kleiner bestimmt werden, aber so kann ermittelt werden, ob der Wert gut ist. Mit dem Maß (dem Guten) wird folgendes bezeichnet: „das Angemessene (to½ me·trion) und Schickliche (to½ pre·pon) und Gelegene (to½ kairo·n) und Gebührliche (to½ deün) und alles, was in der Mitte (to½ me·son) zwischen zwei äußersten Enden seinen Sitz hat.“59 Die auf ein absolutes Maß gehende Messkunst ist Grundlage einer jeden Kunst.60 Unschwer ist hierin eine Weiterentwicklung der Kosmos-Taxis50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60

Vgl. Polit. 275a,c. Ebenso schon Apelt S. 8 f. und Miller, S. 50. Polit. 281a. Vgl. Polit. 283c–d. Polit. 283c–d. Vgl. Polit. 283e, 284b–d. Vgl. Polit. 283e. Vgl. Polit. 283e. Siehe Polit. 284d; vgl. Mohr. Polit. 284e. Rückblickend für den Mythos siehe Lane, S. 276–285. Vgl. Polit. 284a–b.

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Lehre des Gorgias zu erkennen.61 Auch im Philebos wurden Mischungen behandelt:62 Kriterium für die Hierarchie von Künsten war ihre Verwendung von Messungen.63 Die Unterscheidung von absoluter und relativer Messkunst, heißt es dann im Politikos, werde von „subtilen Leuten“ nicht (an-)erkannt.64 Der These nach sind dies die „Subtilen“ des Theaitetos, die alles gegeneinander messen und damit den Relativismus von Protagoras ermöglichen.65 Aufgrund der absoluten Messkunst zeigt sich, dass „man alles Verwandte innerhalb einer Ähnlichkeit eingeschlossen und unter das Sein einer Gattung (ge·nouò tinoò ou\sûa) gefasst hat.“66 Messkunst schließt Dialektik ein,67 weswegen erst diejenigen, die die Messkunst so betreiben, wahrhaft Weise sind.68 Der Messkünstler ist auch Dihairetiker, denn er sollte „nach einer ordentlichen Teilung“ nicht ablassen, bis er bei einer Gemeinschaft „alle Verschiedenheiten in derselben gesehen hat, so viele jedenfalls auf Begriffen beruhen“.69 Die Dialektik wird als prometheisches Feuer und Gabe der Götter bezeichnet.70 Wieweit für Platon Messkunst, Dialektik und Dihairetik zusammengehören, wird am Umstand deutlich, dass im Philebos die dialektische Methode als Aufspalten einer Einheit in Vielheit eingeführt wird, was im Politikos als dihairetische Methode gilt. Dass die Dialektik als Strukturierung und Zusammenfassen von Vielheiten zu Einheiten ein wesentliches Moment der Messkunst ist, verdeutlicht auch das Beispiel der Weberei, als deren Wesen das Zusammenfassen bezeichnet wurden. Die Ausführungen über die Messkunst wurden anlässlich des zu lang geratenen Mythos als Exkurs eingeführt. Doch es ist, wie so oft bei Platon, mehr im Spiel. Es handelt sich nicht nur um eine methodische Abhandlung, denn wenn das Zusammenfassen der Weberei sowohl die Dialektik als auch die Tätigkeit des Staatsmannes versinnbildlicht, ist der Staatsmann auch Dialektiker und also Philosoph. Auch (Wissens-)Inhalte der in Frage stehenden Künste sind bestimmt, nämlich durch das absolute Maß. 61

Vgl. Gorg. 500e–500c, 503d–e, 508a–b. Vgl. Phil. 25b ff., bes. 26b. 63 Vgl. Phil. 55e ff. 64 Vgl. Polit. 285a. 65 Vgl. Theait. 154b, 156d (vgl. zum Hintergrund Prot. 337e–338b; 351b–357e dann Theait. 167d, 169a, 179b). 66 Polit. 285b (vgl. Phaidr. 249c). 67 Vgl. Gill, in: Rowe, hier: 304 f. und Oesterle, S. 54. 68 Vgl. Polit. 284e–285a. 69 Polit. 285b. 70 Vgl. Phil. 15a. 62

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Diese Zusammenhänge sind von Bedeutung, da die Bemerkung des Eleaten, die Untersuchung des Staatsmannes diene wie die der Weberei nur als Beispiel, „damit wir in allem dialektischer werden“,71 für eine Unterscheidung von Philosoph und Staatsmann herangezogen wurde.72 Abgesehen von dem grundsätzlichen Einwand, dass dieser Auffassung zufolge Philosophie bei Platon eine inhaltsfreie Methode ist, spricht einiges im Text gegen diese These. Die Staatskunst ist die „über alle diese herrschende Kunst, die Gesetze und alles andere im Staat besorgende und alles auf das richtigste zusammenwebende“73 Kunst. Hier enthüllt sich die Beziehung zwischen dem Mythos und dem Weberbeispiel. Die Menschen im Zeitalter des Zeus müssen für sich selber sorgen. Die Sorge um die Ordnung des Zusammenlebens vollzieht der Politiker durch die am Weberbeispiel verdeutlichte Tätigkeit des Zusammenführens einer Vielheit zu einer Einheit. Die verschiedenen Ausführungen oder Exkurse und die darin enthaltenen Paradigmata (göttlicher Hüter, Weber) lösen sich daher nicht ab, sondern ergänzen sich.74 Denn beim Weben und Messen geht es um Tätigkeiten, die die Praxis des Staatsmannes beschreiben. Der Staatsmann ist Messkünstler und damit Dialektiker. Nur ein Messkünstler, Dialektiker, Dihairetiker – kurz: Philosoph – kann die politische Kunst ausüben. Bei allen Merkmalen, die die Politeia und den Politikos unterscheiden, so ist doch in beiden Fällen politische Herrschaft von der Philosophie abhängig. Es gibt ferner Hinweise für eine Identität des Maßes mit der Idee des Guten, denn zunächst wird dem Staatsmann mit der Beherrschung der Messkunst Genauigkeit zugesprochen. In der Politeia war es ein Mangel an Genauigkeit, zu dessen Beseitigung die Idee des Guten in das Gespräch eingeführt wurde. Sowohl das Maß im Politikos wie die Idee des Guten sorgen für Genauigkeit bei der Anwendung. Beide Instanzen, Maß als auch die Idee des Guten, leiten die Praxis, den Gebrauch. Von der Mess- und Staatskunst des Politikers hieß es, dass sie selber nichts verrichtet, sondern die Werke der anderen Künste gebraucht, indem sie deren Entstehung anordnet und miteinander koordiniert, so dass ein Nutzen entsteht.75 Wesentliche Funktion der Idee des Guten war es, den Gebrauch von allem nützlich werden zu lassen, ohne sie kann weder privat noch in öffentlichen Belangen vernünftig 71

Polit. 285d. Vgl. Campbell, S. 22; Ferber, S. 63–65. 73 Polit. 305e. 74 Viele Kommentatoren vertreten die Ansicht, der Mythos werde durch das Weberbeispiel nicht korrigiert oder ergänzt, sondern verliere ganz seine Bedeutung für die Bestimmung des Politikers (vgl. Crosson, S. 30; Skemp, S. 52, 57; Miller, S. 7) Siehe die gute Argumentsammlung bei Weiss, S. 218 ff. 75 Vgl. Polit. 305d. 72

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gehandelt werden.76 Die Kunst des wahren Herrschers wird entweder mit der Messkunst (Politikos) oder der Kenntnis von der Idee des Guten (Politeia) identifiziert und wird als höchste Kunst überhaupt bezeichnet.77 Entscheidend ist, dass es nur ein solches (Ideen-)Wissen ist, das den Staatsmann zu einem solchen macht: Weder Freiwilligkeit der Herrschaft, Anzahl der Beherrschten noch tatsächliche Ausübung der politischen Kunst sind ein Kriterium.78 Der wahre Wissende ist selten, und die Menge wird nicht kunstgemäß herrschen.79 Im Politikos wird der Staatsmann wie in vielen anderen Dialogen der Philosoph mit dem Arzt verglichen,80 ihm geht es um das Wohl der von ihm betreuten Menschen.81 Noch einmal wird der Vergleich mit dem Hirten bemüht, da auch er seine Herde zu ihrem Wohl hütet.82 Doch die menschliche Herrschaft durch einen Philosophen hat mit der imitierten göttlichen Sorge nur so viel gemeinsam, als dass es bei beidem um Herrschaft aus einem uneingeschränkt gebietenden Prinzip geht. Dem Staatsmann gelingt es nicht, den göttlich geleiteten Zustand wieder herzustellen, er imitiert ihn, indem er mittels eines göttlichen Bandes Einheit schafft.83 Das Nachahmen (mime isqai) wird vornehmlich mit Platons Kritik an den Dichtern und Malern in der Politeia behandelt, weswegen Platon oft ein rein ablehnendes Verhältnis zur Nachahmung zugesprochen wird.84 Platon steht dem Malen als nachbildender Tätigkeit nicht rein negativ gegenüber, wie eine für die Politeia zentrale Passage zeigt, in der der Philosoph als Zeichner beschrieben wird, der aufgrund seiner Kenntnis von den Ideen und ihrer Ordnung _

76 Vgl. Resp. 505a, 517c. Dieser eindeutigen Parallele von Maß und Idee des Guten kann Ferber nicht folgen, da er der Idee des Guten jegliche praktische Relevanz abspricht (vgl. Ferber, S. 71 f.). Hierin irrt er wie die Platonforscher, denen er folgt (vgl. Kelsen, S. 371 und Popper, S. 373). Da Ferber die praktische Bedeutung der Idee des Guten nicht anerkennt, diese aber mit der Idee der Genauigkeit identifiziert, braucht er eine vermittelnde Instanz. 77 Weitere Argumente für die gleiche These finden sich bei: Campbell, S. 105; Apelt, S. 129; Krämer, S. 492; Guthrie, S. 172; Szlezàk, S. 81 f. 78 Vgl. Polit. 292c und 292e. Die Kompromisslosigkeit, mit der das Wissen als alleiniges Kriterium zugrunde gelegt wird, erinnert an die Frühdialoge (vgl. Kr. 46b, 48a). 79 Vgl. Polit. 292e–293a, 297b–c, 300e mit Kr. 44d, La. 184e, Ap. 25a–c, Prot. 322c. 80 Vgl. Polit. 293b, 294c–d, 295b–e, 296b–c, 298a–b z. B. mit Gorg. 521a, e, 464a ff. 81 Vgl. Gorg. 464a ff., 501a ff.) 82 Vgl. Polit. 296e. 83 Vgl. Polit. 310a. 84 Vgl. hierzu die Sammlung der verschiedenen Interpretationen bei Halliwell, S. 116–121.

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die Seelen und die Polis nach diesem Vorbild nachzeichnet, also formt.85 Entscheidend für die Konsequenzen der Nachahmung und ihrer Bewertung ist die Frage, ob der Nachbildende ein Wissender ist oder nicht.86 Der Staatsmann im Politikos ist also durch dialektisches, also Ideen-Wissen, in der Lage, ein Geflecht herzustellen. Gegenstand und Tätigkeit der politischen Kunst sind nun zu erörtern. 2. Wie erzeugt der Staatsmann Tugend bei Menschen, die nicht selber Philosophen sind? Während im Nachweis, dass der Staatsmann Philosoph ist, die Verbindung zu Politeia besteht, verweist der letzte Dialogteil, in dem diese Frage beantwortet wird, auf das Anliegen der Nomoi. Der Staatsmann im Politikos ist durch dialektisches, also Ideen-Wissen, fähig, ein Geflecht herzustellen. Aber um was für ein Geflecht handelt es sich und wie bringt er es zusammen? Der Eleat erläutert, dass es um das Zusammenführen von widerstrebenden Tugendteilen geht. Tapferkeit und Besonnenheit sind Teile der Tugend, aber liegen im Streit (sta·siò) miteinander.87 Tapferkeit und Besonnenheit bezeichnen je gegensätzliche Handlungsmodalitäten: Als tapfer werden die Handlungen von Körper und Geist gelobt, die schnell, kraftvoll und beweglich ausgeführt werden,88 während an besonnenen Handlungen die Ruhe, Sanftheit und Gedämpftheit bewundert wird.89 Obwohl Besonnenheit und Mut Teile der Tugend sind, gehören sie doch zu entgegengesetzten Arten.90 In dieser Form tauchen die beiden Tugenden niemals in einem Menschen vereint auf,91 was besonders deutlich wird, wo „es auf die Anordnung des 85 Vgl. Resp. 500b–c. Dort wird das Schaffen der Tugend als Mimesis eines göttlichen Vorbildes bezeichnet. Durch die Tugend findet eine größtmögliche Annäherung ans Göttliche statt (vgl. auch Resp. 500d, 592b und Theait. 176a f.). Das Schaffen der Tugend wird auch im Politikos mit Göttlichkeit in Verbindung gebracht, weil es durch das entsprechende Zusammenflechten mit einem göttliches Band geschieht (vgl. Polit. 310a). 86 Vgl. Polit. 300d–e (dazu schon Phaidr. 253a–c). 87 Vgl. Polit. 306a–b. 88 Vgl. Polit. 306e. 89 Vgl. Polit. 307a–b. Die Tugenden werden vom Fremden adverbial bestimmt (vgl. hierzu Burnyeat). 90 Vgl. Polit. 306c. Siehe hierzu Gould, S. 214 f. und Scodel, S. 162 und 166, der von einer „ontological opposition“ spricht. 91 Die später (Polit. 311a) beschriebene Möglichkeit, doch beide anzutreffen, verdankt sich eben dem vereinenden Eingreifen des Staatsmannes, ist also keine Schilderung der Ausgangslage für den Politiker (vgl. Bobonich, S. 315 f.).

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gesamten Lebens ankommt. Denn die ausgezeichnet Sanften sind auch immer darauf bedacht, ein stilles Leben zu führen“, und im Umgang mit anderen Staaten versuchen sie, „immer auf irgendeine Art Frieden zu halten.“92 Die Tapferen hingegen reizen „immer zu irgendeinem Kriege an wegen ihrer mehr, als gut ist, heftigen Begierde nach einem solchen Leben“.93 Der Grund für die Ausschließlichkeit, mit der eine Tugend die Handlungen und das Leben bestimmt, liegt in ihrer Maßlosigkeit. Die Tugenden werden als „heftig“, „unzeitig“ oder „mehr, als gut sind“94 bezeichnet, so dass die Besonnenheit eigentlich „Stumpfsinnigkeit (ežh·qeia)“ und die Tapferkeit „Brutalität (qhriw·dh tina½ ðu·sin)“ ist.95 Damit sind die „Ausgangsmaterialien“ beschrieben, aus denen der Staatsmann dann ein Geflecht erzeugt. Wird der von Platon behaupteten Einheit der Tugend widersprochen? Die Teile der Tugend schließen sich aus, weil sie entgegengesetzten Spezies angehören, so dass sie nicht in einer Person anzutreffen sind. Es handelt sich nicht um die Tugenden, die Platons eigenem Verständnis nach, etwa in der Politeia als a\ndreûa und swðrosu·nh bezeichnet werden.96 Sie haben vielmehr Ähnlichkeit mit konventionellen Tugendvorstellungen, wie sie in früheren Dialogen vorgestellt und kritisiert worden sind.97 Aus der Schilderung dieser Tugenden durch den Fremden sollte also nicht vorschnell auf eine Änderung in der platonischen Auffassung vom Wesen und Verhältnis der beiden Tugenden geschlossen werden,98 zumal die Identifizierung der Tugendbeschreibung mit Platons eigener Position darauf hinausliefe, Platon eine Rückkehr zu längst kritisierten Positionen zu unterstellen. Im anderen Falle würde die Kritik von G. Müller bereits auf den Politikos zutreffen. Platons Anliegen ist, „advice on how to make a harmonious and happy society form existing, in many aspects imperfect, resources. Probably the choice of the art of weaving as a paradigm is also determined by this telos.“99 92 Polit. 307e, Hervorheb. M. v. A. Die Ausschließlichkeit der Tugend beeinflusst nicht nur die Handlung und Lebensführung eines Menschen, sondern auch das Zusammenleben mit andern Menschen, indem es die jeweils der anderen Tugend zugeneigten Menschen verhasst macht und somit die Politik bestimmt (vgl. Polit. 307e–308a, 310a–b). 93 Polit. 308a, Hervorheb. M. v. A. 94 Polit. 307e–308a. 95 Polit. 309e. 96 Vgl. Resp.437a–445e. 97 Für die Besonnenheit, die der Fremde beschreibt, siehe Charm. 159b–160d (vgl. Miller, S. 107 und Mishima, S. 309 f. und Anm. 10.). Für den Mut siehe La. 192a, 193a (Bobonich, S. 317). 98 Einen Überblick über die verschiedenen Interpretationen gibt Guthrie, S. 191 ff. 99 Mishima, S. 311. Siehe die nochmalige Bezugnahme auf das Weben (vgl. Polit. 308d, 309a–b).

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Dieses Zusammenweben der Tugend als die Aufgabe der politischen Kunst hat mit den Mitteln der Messkunst zu geschehen, denn die Tugenden sind unterschiedliche ge·nh,100 und die Zusammenführung von solchen ge·nh zu einer Einheit wurde als Aufgabe des Messkünstlers beschrieben.101 Die Messkunst zeichnete sich durch die Bestimmung des richtigen Maßes, Dialektik und Dihairetik aus. Und genau diese Momente tauchen bei der abschließenden Beschreibung der Tätigkeit des Staatsmanns wieder auf: Entgegengesetzte und maßlose ge·nh können nur durch Anwendung eines richtigen Maßes zusammengefügt werden. Zunächst müssen – wie beim Weben – die Ausgangsmaterialien sondiert werden. Dies übernehmen die von der Staatskunst befehligten mitverursachenden Künste, indem sie durch eine vorbereitende Erziehung ein þqoò der Bürger schaffen, so dass sie überhaupt harmonisierungsfähig sind.102 Das göttliche Band erzeugt der Staatsmann durch die „wahrhaft wahre Vorstellung (do·ca) von dem Gerechten, Schönen und Guten und dessen Gegenteil, wenn sie wohl begründet der Seele einwohnt“.103 Hinter der Formulierung a\lhq h do·can meta½ bebaiw·sewò verbirgt sich kein Wissen, wie aus der Nähe zur Formulierung der dritten Wissensbestimmung im Theaitetos (a\lhqÌò do·ca meta½ lo·gou) geschlossen wurde.104 Nur der Staatsmann, der das göttliche Band in den Seelen der Bürger schafft, verfügt über Wissen und daher über die wahre Tugend.105 Nur ein Wissender kann absichtlich wahre Vorstellungen vermitteln, weswegen die Vorstellungen nicht nur wahr, sondern auch sicher wahr sind und als solche fest in der Seele der Bürger sind.106 Die bereits erwähnte Parallele zur Passage Resp. 500a ff. wird nun vollends deutlich: Dort harmonisiert der Philosoph den Streit innerhalb eines Einzelnen und zwischen den Menschen, indem er versucht, das, was er weiß, auch in die Seelen der Bürger und damit der Polis zu bilden, wobei er ebenfalls mischend und zusammensetzend vorgeht.107 Das Ergebnis dieses Bildungsprozesses wird in der Politeia als volksmäßige Tugend (demotikÌ ÷reth·) bezeichnet108 und ist klar von der Tugend des Philosophen unterschieden, die auf eigenem Ideenwissen beruht.109 _

_

100

Vgl. Polit. 306e. Vgl. Polit. 285b. 102 Vgl. Polit. 308d–e. Für gänzlich unformbare Seelen bleiben nur Verbannung und Todesstrafe (vgl. Polit. 309a; zu diesem Problemkreis siehe Saunders, S. 181–183, 226–268). 103 Polit. 309c. 104 So von Campbell, ad.loc. 105 Vgl. Polit. 293d–e, 294a–b, 296c–297b, 301d, 311d. Bezweifelt wird der Status des Staatsmanns als Wissender von Crosson, S. 39. 106 Der Bezug zum Menon (Mn. 97b ff.) ist offensichtlich. 107 Vgl. Resp. 501b mit Polit. 309d. 108 Vgl. Resp. 500d. 109 Vgl. Resp. 500c. 101

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Es geht hier im Politikos nicht um die Erziehung der Mitglieder der beiden unteren Stände und deren Vereinigung zum guten Gemeinwesen. In der Politeia sind Besonnenheit und Mut nicht die beiden Tugenden der unteren Stände. Versucht man dennoch, die Vorstellung vom Ständewesen der Passage im Politikos zu unterlegen, folgt daraus notwendig die Feststellung wesentlicher Diskrepanzen zwischen Politeia und Politikos: Platons politische Philosophie und Psychologie der Moral hätten sich grundlegend geändert.110 Wie wirkt das göttliche Band aus wahren Meinungen vereinigend und harmonisierend auf die entgegengesetzten Tugenden? Aus den gegensätzlichen Tugenden wird eine Einheit, weil sie derselben einem und wahren Vorstellung folgen.111 Durch den gemeinsamen Bezug auf die wahren Meinungen orientieren sich beide ursprünglich ausschließenden und zu entgegengesetzten Handlungen treibenden Tugenden am selbem Maß, wodurch die Harmonie, das Band entsteht. Die auf Wissen gegründete Herrschaft des Philosophen wurde aufgrund des Mythos als Substitut der von einem Gott ausgehenden Fürsorge für die Menschen im Goldenen Zeitalter dargestellt, weil die Herrschaft aus einem Prinzip vollzogen wird, das alle anderen Künste leitet. Es wird deutlich, wie diese die Einheitlichkeit der Seele durch die auf Wissen basierende Kunst des Staatsmannes verursacht wird, denn wenn Besonnenheit und Tapferkeit sich an einem Maß orientieren, können sie sich auch in einem Menschen oder einer Polis harmonisieren. Daher ist es notwendig, dass die wahren Meinungen durch das Wissen des Philosophen abgesichert sind, denn andernfalls wäre es vorstellbar, dass zwar alle Bürger dieselben Vorstellungen über das Gute haben, aber möglicherweise haben sie allesamt die gleichen falschen Vorstellungen, und folglich sind die Zusammenfügungen, die dann zwar auf einem Maß aufbauen, das aber nicht das richtige ist, keine guten und dauerhaften Mischungen.112 Daher ist das Wissen des Staatsmanns die Ursache für das Band, obschon die Tugend der Menschen selber nicht auf ihrem Wissen basiert. Es ist wichtig, die öffentliche Tugend und die dafür wesentliche wahre Meinung von dem Wissen des Staatsmanns und der Tugend eines Philosophen zu unterscheiden. Die Passage im Politikos behandelt die konkrete Tätigkeit des Politikers, für die Wissen und nicht wahre Meinung notwendig ist. Denn ohne Wissen kann kein Technit „eine bestimmte Kraft oder Gestalt hervorbringen“.113 110

Vgl. Skemp, S. 42–46 und besonders Bobonich, S. 323 ff. Siehe Polit. 310e. 112 Mischungen, die nicht durch das richtige Maß bestimmt werden, sind keine dauerhaften Mischungen (vgl. Phil. 54c, 63d). 113 Polit. 308c. Dies war Grundlage der allgemeinen Bestimmung aller Künste im Gorgias (vgl. Gorg. 503d–504a). 111

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Die Wirkweise der wahren Vorstellungen für die Handlungen der Bürger zeigt, dass sich der Kern der platonischen Wissensethik nicht verändert hat: Die beiden entgegengesetzten Tugenden wurden vor ihrer Mischung und Zusammenführung durch das göttliche Band jeweils als Neigung oder Begierde bezeichnet,114 die, weil sie zu heftig sind („sðodrote·ran tou dÍontoò ýpiqumûan“115) dazu drängen, immer Handlungen eines bestimmten modalen Typus (energisch oder bedächtig) auszuüben. Daher sind beide Tugenden nicht an einem Maß orientiert, sondern a\kairo·teron.116 Die Tugenden sind entgegengesetzt und sich ausschließend, weil sich hinter ihnen Urteile verbergen, die entgegengesetzt sind und sich ausschließen: „Immer ist es gut, schnell zu handeln“ und „Immer ist es gut, langsam zu handeln.“117 Die Stasis der beiden Tugenden wird durch einen epistemischen Konflikt verursacht, weswegen die Vereinigung des göttlichen Bandes sich im epistemischen Bereich vollzieht: Zwei kontradiktorische und falsche Urteile werden durch eine wahre Ansicht ersetzt. _

Im letzten Teil des Politikos erläutert Platon also, wie ein durch Philosophie, die sich nicht von der vorheriger Dialoge unterscheidet, legitimierter politischer Herrscher bei den Bürgern der Polis eine spezielle Form der Tugend schafft, die nicht auf ein von ihnen selbst erworbenes Ideenwissen basiert. IV. Keine Unterschiede? Die im Schlussteil des Politikos beschriebene Erzeugung der bürgerlichen Tugend durch das Knüpfen eines Bandes in den Seelen der Bürger wurde als Beschreibung der auf Dialektik, Dihairetik und Messkunst, also auf Wissen gegründeten Tätigkeit des Philosophen interpretiert. Insofern gleichen sich die Ansprüche des Politikos und damit auch der Politeia auf der einen Seite und der Nomoi aud der anderen Seite.118 Auf den ersten Blick ist daher die Einschätzung von G. Müller, die Tugenden der Nomoi seien wissensfern konzipiert, zurückzuweisen.119 114 Auch hier hält sich Platon nicht an eine feste Terminologie (vgl. Polit. 307a–308a): Der Fremde redet vom ñrwò, der ýpiqumûa oder dem, was die Menschen wollen (Ñ bou·lontai). 115 Polit. 308a. 116 Vgl. Polit. 307b, e. 117 Vgl. Polit. 306e, 307a, b, c, d. 118 Seltsamerweise (oder bezeichnenderweise?) spielt die Erzeugung der bürgerlichen Tugend durch den Philosophen im Politikos in Müllers Argumentation keine Rolle. 119 Folglich scheint eine Deutung, der zufolge die durch Wissen geleitete Erziehung zur bürgerlichen Tugend im Vordergrund der Nomoi steht, angemessener. (Dies scheint die Ausrichtung von Görgemanns Studie zu sein.)

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Dennoch hat eine Entwicklung stattgefunden. Dies betrifft zunächst ganz sicher die Rolle der Gesetze bei der Herrschaft bzw. der Erzeugung der Tugenden durch die Herrscher. Während sich Platon in der Politeia nicht sonderlich für die Gesetzgebung im idealen Gemeinwesen interessierte und dies auch nicht ausführlich begründete, präsentiert der Politikos ein Argument, das mit der Messkunst, die die politische Kunst fundiert, zusammenhängt: Der besten Regierungsform des Philosophenherrschers wird die zweitbeste Form der Gesetzesherrschaft gegenübergestellt.120 Aus diesem Umstand ist geschlossen worden, dass Platon sich bereits hier von der Idee der Philosophenkönige resigniert abgewendet habe und mit der Thematisierung der Gesetzesherrschaft sich der realistischeren Position der Nomoi annähere.121 Die bisherigen Ausführungen konnten zeigen, dass der Staatsmann mit dem Philosophen identisch sein muss, die Herrschaft des Wissenden ist daher weiterhin die beste Herrschaft. Die Nennung einer zweitbesten Regierungsform macht Platon keineswegs resignativ, realistischer oder beides.122 Dass die Herrschaft des Wissens auch für die Beherrschten vorteilhaft ist, wird wie folgt begründet: „Weil das Gesetz nicht imstande ist, das für alle Zuträglichste und Gerechteste genau zu umfassen und so das wirklich Beste zu befehlen. Denn die Unähnlichkeit der Menschen und der Handlungen, und dass niemals irgendetwas in Ruhe hält in den menschlichen Dingen, dies gestattet nicht, dass irgendeine Kunst in irgendetwas für alle und zu aller Zeit Einartiges hinstelle.“123 Demgegenüber ist der Wissende fähig, mit „aller Genauigkeit das Gebührliche anzuordnen“.124 Die Menschen und ihre Handlungen sind einem ständigen Wandel unterworfen, so dass eine starre Regel nicht das jeweilig Beste vorschreiben kann. Offensichtlich handelt es sich bei dem Besten, das durch das Wissen des Herrschers hervorgebracht werden soll, um etwas, das sich in jeweiligen Situationen ergibt. Da dieses wegen der Unterschiede 120

Vgl. Polit. 294a. Vgl. Capelle, S. 64 ff. Kahn zufolge stellt der Politikos ein Übergangsstadium der politischen Philosophie da, in dem Platon sich noch nicht für die Position der Nomoi entschieden habe und daher noch mit sich selber diskutiere, was zu widersprüchlichen Aussagen führe. Siehe Kahn, S. 52. Diese Widersprüchlichkeit wird von Kahn nicht erkannt. Kahns Auffassung erklärt sich durch seine Mythos-Interpretation: Er glaubt, der Philosophenherrscher müsse ein göttlicher Hüter sein, und mit der Zeitenwende des Mythos lässt Platon auch dieses Ideal fallen. 122 Oesterle hat dieser Interpretation bereits ausführlich und hinreichend widersprochen (vgl. Oesterle, S. 59 ff.). M. W. sind für die Resignationsthese keine neuen Argumente beigebracht worden. 123 Polit. 294a–b. 124 Polit. 295b. 121

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und des Wandels im menschlichen Bereich dazu relativ ist, ist das Wohl etwas Proportionales. Die für das Erreichen des Besten einer Sache, hier der Tugend, erforderliche Genauigkeit lässt sich eben nicht durch ein festes Gesetz erreichen, weswegen die Herrschaft der Gesetze niemals das Beste, sondern nur das Zweitbeste erreichen kann.125 Obschon Platon ab dem Politikos also ein deutlich gewachsenes Interesse für die sog. bürgerlichen Tugenden entwickelt, finden sich in den Dialogen vor den Nomoi weder Ankündigungen noch Rechtfertigung für eine Gesetzesherrschaft, sondern eher Kritisches. Die Bewertung dieses Befundes ist schwierig. Es wäre möglich, dass sich Platon in den Nomoi für Gesetze interessiert und weiterhin der Ansicht ist, dass es sich um eine politisch „zweitbeste Fahrt“ handelt. Oder aber gibt er die Vorstellung einer direkten, nicht durch ungenaue Gesetze vermittelten, Philosophenherrschaft auf und favorisiert nun das Modell der Nomoi? Wenn dies der Fall ist, wäre zu fragen, welche Argumente Platon dazu bewogen haben. Hier wiederum bieten sich verschiedene Möglichkeiten an, die alle Spekulation sind: Interessiert sich Platon für Gesetze, weil er die Philosophenherrschaft nun für unrealistisch hält? Hier wäre fraglich, ob es sich um eine Abkehr von der Position der Politeia handelt, denn bereits dort wird die Koinzidenz von Philosophie und politischer Macht als prinzipiell möglich, aber sehr unwahrscheinlich bezeichnet. Oder sieht Platon keine andere Möglichkeit, als durch Gesetze die Tugend vieler Menschen sicherzustellen, weil sie entweder nicht alle zur Dialektik fähig sind oder aber nicht alle persönlichen Umgang mit einem Lehrer wie Sokrates haben können? Ein weiterer Aspekt scheint die Nomoi vom Politikos zu unterscheiden. Im Politikos wird die zweitrangige bürgerliche Tugend durch jemanden erzeugt, der über die wahre Tugend verfügt, weil er erstrangiges Wissen, nämlich Ideenwissen hat. Im Verlauf der Nomoi finden sich Stellen, die auch hier einen solchen Zusammenhang annehmen lassen: Der Geist des Politikers muss zur Erziehung der Bürger auf ein Ziel gerichtet sein.126 Die Einheit der Tugenden könne nur gewährleistet werden, wenn der Gesetzgeber auf „eine Idee“ sehe127 und das Schöne, das Gute und die wichtigsten Dinge in einem Logos darlegen kann.128 Diese Stellen wurden als hinreichender Hinweis auf die Ideenlehre gewertet, die zwar nicht explizit genannt wird, aber doch im Hintergrund der Argumentation vermutet werden müsse.129 Doch die wichtigsten Gegenstände, die der Erzieher bestimmen 125 126 127 128 129

Siehe dazu auch Sier. Vgl. Leg. 961e–962e. Vgl. Leg. 965b–c. Vgl. Leg. 966a–b. Vgl. Görgemanns, S. 220–222.

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können muss, sind zunächst seltsam unbestimmt. Die Erkenntnisobjekte der vorherigen Dialoge tauchen kaum auf. Stattdessen rücken die „Überzeugungen über die Götter“130 in den Vordergrund, genauer „dass diese nämlich sind und im Besitze welcher Macht sie uns erscheinen“.131 Der Glaube (pûstiò) an die Götter132 wird zentral.133 Der Götterglaube „wäre wohl für uns die schönste und beste Einleitung für die gesamten Gesetze.“134 Diesen können nur wenige erreichen, wodurch sie aber berechtigt sind, die Gesetze zu beschließen, so dass die Mehrzahl der Bürger auch in Frömmigkeit leben kann. Zur Frömmigkeit heranführende Hilfswissenschaften sind die auf Gott bezogene Astronomie und die Lehre von der Bewegung der Seele.135 Die Tugendlehre der Nomoi steht also im engen Verhältnis mit der im 10. Buch entwickelten Theologie. Ob diese Konzentration auf die Frömmigkeit und das Ausbleiben einer ideenphilosophischen Begründung durch die Zielrichtung der Nomoi auf Empirisches und die bürgerlichen Tugenden zu erklären ist,136 darf bezweifelt werden. Auch wenn man die Nomoi sehr wohlwollend und nur ihrem Anspruch gemäß als Abhandlung über die Erziehung zur bürgerlichen Tugend liest, ist augenfällig, dass die Erzieher kein Ideenwissen mehr haben müssen, stattdessen nutzen sie fromm ihre intellektuellen Kapazitäten, um Überzeugungen über Gott zu sammeln. Die Frage, ob es auch ohne Ideenwissen möglich ist, die Seelen tugendhaft zu erziehen, ist vor einem größeren Hintergrund zu sehen. In den Nomoi findet sich noch die Erwähnung, dass der Erzieher die „eine Idee“ kennen muss, um die Tugend in den Seelen der Bürger zu bilden, als das spezifische philosophische Wissen wird jedoch der Glaube an die Götter genannt. Anders formuliert: Wie kann der Glaube an die Götter als Maß für die Bildung von etwas Masshaltigem dienen? Die Annahme, die Ideenlehre könne in den Nomoi unausgesprochen bleiben, weil es um die bürgerlichen Tugenden gehe, ist daher nicht leicht zu verstehen und würde eine gesonderte Entwicklungsthese erfordern. Die anderen späten Dialoge belegen, dass Platon der Ansicht war, bürgerliche Tugend kann nur aufgrund von Ideenerkenntnis bewirkt werden. 130

Leg. 966c. Leg. 966c. 132 Vgl. Leg. 966c–d. 133 So auch Hoffmann, S. 209. 134 Leg. 887b. Siehe auch den wichtigen Abschnitt Leg. 888c–d. 135 Vgl. Leg. 966d–e. 136 So die abschließende These von Görgemanns, S. 218 ff. und Picht, S. 18 f., 22, 73. Übernommen wurde diese Ansicht auch von Hoffmann, S. 209, Anm. 273. Diese Position von Görgemanns und Picht begreift Ideenphilosophie demnach als utopische Philosophie, die nicht auf diese Welt bezogen ist. Diese Ansicht wurde im Verlauf der Untersuchung bereits mehrfach widerlegt. 131

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Zwar finden sich, wie gezeigt, mehrfach Hinweise, dass jedes Unrechttun weiterhin als unfreiwillig angesehen wird, aber anderseits gilt, „dass von Natur kein Mensch befähigt ist, das zur Staatseinrichtung den Menschen Zuträgliche zu erkennen, noch, nachdem er es erkannte, den Willen und das Vermögen hat, das Beste stets zu vollbringen . . . wenn jemand auch vermöge seiner Kunst und der ausreichenden Einsicht, dass dem von Natur so sei, gelangte . . . er wohl nicht imstande sein dürfte, dieser Ansicht treu zu bleiben“.137 Ganz davon abgesehen, dass hier die Möglichkeit von Philosophenkönigen bestritten wird, ist es der menschlichen Natur nicht möglich, der erreichten Einsicht fest zu folgen. Zweierlei ist zu bemerken: Der Mensch folgt in seinem Handeln nicht mehr notwendig seinem Erkenntnisstand: Sogar aus Bequemlichkeit und Trägheit kann der Mensch ungerecht werden.138 Die intellektualistische Anthropologie und Handlungstheorie, die bis zum Timaios galt, scheint hier aufgehoben zu sein.139 Die Nomoi bleiben ein besonderes Werk. Die Entwicklung hin zu diesem Werk bedarf weiterer Erhellung. Literatur van Ackeren, M.: Das Wissen vom Guten, Bedeutung und Kontinuität des Tugendwissens in den Dialogen Platons, Amsterdam/Philadelphia 2003. van Ackeren, M. (Hg.): Platon Verstehen, Darmstadt 2004. van Ackeren, M./Müller, J. (Hg.): Antike Philosophie Verstehen, Darmstadt 2006. Apelt, O.: Platons Dialog Politikos oder Vom Staatsmann, übers. und erläut. v. O. Apelt, 2. Aufl., Leipzig 1922. Baumgarten, H.-U.: Handlungstheorie bei Platon, Stuttgart 1998. Bobonich, C.: The Virtues of the Ordinary People in Plato’s Statesman, in: Rowe, C. (Hg.): Reading the Statesman, Proceedings of the III Sympsion Platonicum, Sankt Augustin 1995, S. 313–332. Burnyeat, M.: Virtues in Action, in: Vlastos, G. (Hg.): The Philosophy of Socrates, New York 1971, S. 209–234. Bury, R. G.: Plato: The Laws, London 1926. Campbell, L:. The Sophist and Politicus of Plato, New York 1973. 137 Leg. 875a–b. Mit der menschlichen Physis, die das Böse wählen kann, argumentiert auch Leg. 947e. 138 Vgl. Leg. 902a. 139 Siehe hierzu die luziden Überlegungen von Horn, in: van Ackeren (2004), S. 168–182.

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Capelle, A.: Plato’s Dialog Politikos, Diss. Hamburg 1939. Crosson, F. J.: Plato’s Statesman: Unity and Pluralism, in: New Scholasticism Vol. 37 (1963), S. 28–43. Ferber, R.: Für eine propädeutische Lektüre des Politicus, in: Rowe, Ch. (Hg.): Reading the Statesman. Proceedings of the III. Sympsion Platonicum, Sankt Augustin 1995, S. 63–75. Frede, M.: The Study of Ancient Philosophy, in: van Ackeren, M./Müller, J. (Hg.): Antike Philosophie Verstehen, Darmstadt 2006, S. 34–53. Gill, Ch.: Rethinking Constetutionalism in Statesman 291–303, in: Rowe, Ch. (Hg.): Reading the Statesman, Proceedings of the III. Sympsion Platonicum, Sankt Augustin 1995, S. 292–305. Görgemanns, H.: Beiträge zur Interpretation von Platons Nomoi, München 1960. Gould, J.: The Development of Plato’s Ethics, Cambridge 1955. Guthrie, W. K. C.: A History of Greek Philosophy, Vol. III and IV, Cambridge 1975. Herter, H.: Gott und die Welt. Eine Studie zum Mythos des Politikos, in: Bonner Jahrbuch 7 (1958), S. 106–117. Hoffmann, M.: Die Entstehung von Ordnung. Zur Bestimmung von Sein, Erkennen und Handeln in der späteren Philosophie Platons, Stuttgart/Leipzig 1996. Horn, Ch.: „Niemand handelt freiwillig schlecht.“ Moralischer Intellektualismus in Platons Nomoi?, in: van Ackeren, M. (Hg.): Platon Verstehen, Darmstadt 2004, S. 168–182. Kahn, C. H. Jr.: The Place of the Statesman in Plato’s Later Work, in: Rowe, Ch. (Hg.): Reading the Statesman. Proceedings of the III. Sympsion Platonicum, Sankt Augustin 1995, S. 49–62. Kelsen, H.: Die Illusion der Gerechtigkeit. Eine kritische Untersuchung der Sozialphilosophie Platons, Wien 1985. Krämer, H. J.: Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie, Heidelberg 1959, S. 492. Lane, M.: A New Angle on Utopia: The Political Theory of the Statesman, in: Rowe, Ch. (Hg.): Reading the Statesman. Proceedings of the III. Sympsion Platonicum, Sankt Augustin 1995, S. 276–291. Manasse, E. M.: Platons Sophistes und Politikos, Das Problem der Wahrheit, Berlin 1937. Miller, M. H. Jr.: The Philosopher in Plato’s Statesman, The Hague 1980. Mishima, T.: Courage and Moderation in the Statesman, in: Row, Ch. (ed.): Reading the Statesman, Sankt Augustion, 1995, S. 306–312. Mohr, R. D.: Plato, Statesman 284c–d: An „Argument from the Sciences“, in: Phronesis, Vol. 22 (1977), S. 232–234.

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Morrow, G. R.: Plato’s Cretan City. A historical Interpretation of the Laws, Princeton 1960. Müller, G.: Studien zu den Platonischen Nomoi, München 1951. Oesterle, H.-J. Staatsphilosophie im Dialog „Politikos“, Diss. Gießen 1978. Picht, G.: Platons Dialoge „Nomoi“ und „Symposion“, Stuttgart 1990. Popper, K.: Der Zauber Platons (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde Bd. I), Bern 1957. Rapp, Ch.: Der Erklärungswert von Entwicklungshypothesen. Das Beispiel der Aristoteles-Interpretation, in: van Ackeren, M./Müller, J. (Hg.): Antike Philosophie Verstehen, Darmstadt 2006, S. 178–195. Rowe, Ch. (Hg): Reading the Statesman, Sankt Augustin 1992. Saunders, T. J.: Bibliography on Plato’s Laws, Sankt Augustin 2000. – Plato’s Penal Code, Oxford 1991. Schröder, M.: Zum Aufbau des Platonischen Politikos, Diss. Jena 1935. Scodel, H. R.: Diairesis und Myth in Plato’s Statesman, Göttingen 1987. Skemp, J. B.: Plato’s Statesman, London 1952. Szlezàk, T. A.: Platon lesen, Stuttgart 1993. Taylor, A. E.: Plato. The Man his Work, London 1963. Weiss, R.: Statesman as ýpisth·mwn: Caretaker, Physician, and Weaver, in: Rowe, Ch. (Hg.): Reading the Statesman, Proceedings of the III. Symposion Platonicum, Sankt Augustin 1995, S. 213–222.

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Die Bedeutung des politischen Denkens der griechischen Antike für die „Ortsbestimmung der Gegenwart“ Alexander Rüstow: Freiheit und Herrschaft. Eine Kritik der Zivilisation. Gekürzte Fassung der „Ortsbestimmung der Gegenwart“, hrsg. von Hellmut Rüstow, LIT-Verlag (Edition Walter-Eucken-Archiv), Münster 2005. Der Beitrag des Ordoliberalismus zur Totalitarismustheorie wird weithin übersehen. Ordoliberale Denker wie Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow sind bekannt für ihren Einfluss auf die Entwicklung des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft und auf die Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit. Weniger bekannt ist jedoch, dass diese Autoren ihre Vorschläge für eine fundamentale politische, wirtschaftliche und soziale Neuorientierung Deutschlands aus einer grundlegenden Auseinandersetzung mit den Ursachen der totalitären Herrschaft des Kommunismus und des Nationalsozialismus gewonnen haben. Alexander Rüstow nennt diese Auseinandersetzung eine „Ortsbestimmung der Gegenwart“.1 In Anknüpfung an die Kultursoziologie von Alfred Weber und in engem Austausch mit seinem Freund Wilhelm Röpke verfasst er eine umfassende Analyse der Entwicklungstendenzen in der Geschichte des politischen Denkens und Handelns. Seine Sozial-, Kultur- und Geistesgeschichte ist der Versuch, die menschliche Geschichte auf zwei Prinzipien zurückzuführen: das Streben nach Herrschaft und das Streben nach Freiheit und Gleichheit, wobei er den Totalitarismus des zwanzigsten Jahrhunderts als Radikalisierung des Prinzips der Herrschaft versteht. „Freiheit und Herrschaft“ ist die gekürzte Fassung der „Ortsbestimmung der Gegenwart“, wobei diese Bezeichnung angesichts des Umfangs von 550 Seiten nur bedingt zutrifft. Unter dem Titel „Freedom and domination“ wurde sie zunächst von Dankwart Rustow für das US-amerikanische Publikum erstellt.2 In den letzten Jahren hat sich Hellmut Rüstow, Sohn von Alexander Rüstow, um die Neuausgabe der Schriften seines Vaters verdient gemacht, und ihm ist es zu verdanken, dass eine deutsche Ausgabe der gekürzten Fassung im LIT-Verlag erschienen ist. Leider ist der Verlag dem Anspruch, einen Klassiker der Kulturgeschichte und der Geschichte des politischen Denkens neu herauszugeben, jedoch nicht gerecht geworden. Das Layout hat das Niveau eines mittelmäßigen Dissertationsdrucks; der Text enthält auf jeder Seite Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler (so wird z. B. aus dem „allervollsten“ Sinn des menschlichen Lebens der „allertollste“ Sinn, S. 535), an einigen Stellen wurde das Original sinnentstellend gekürzt (z. B. S. 167 und 333) und das Inhaltsverzeichnis setzt Haupt- und Zwischenüberschriften nicht voneinander ab, so dass die Struktur des Gedankenganges nicht erkennbar ist. Die Neuauflage ist somit in technischer Hinsicht missglückt – aber damit ist es umso dringender, auf 1 Alexander Rüstow: Ortsbestimmung der Gegenwart. Eine universalgeschichtliche Kulturkritik. Band 1: Ursprung der Herrschaft (1950), Band 2: Weg der Freiheit (19632), Band 3: Herrschaft oder Freiheit? (1957), Eugen Rentsch Verlag, Erlenbach-Zürich. 2 Alexander Rüstow: Freedom and Domination. A Historical Critique of Civilization. Hrsg. von Dankwart Rustow, übersetzt von Salvator Attanasio. Princeton: Princeton University Press.

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dieses Werk von Alexander Rüstow (und damit vor allem auf das Original, die „Ortsbestimmung der Gegenwart“) aufmerksam zu machen, weil es zweifellos in die Reihe der bedeutenden Totalitarismustheorien der vierziger und fünfziger Jahre gehört und die politischen Ordnungsfragen, die das Werk aufwirft, auch heute nichts von ihrer Aktualität und Brisanz verloren haben. Die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus wurde im Exil in Istanbul Rüstows zentrales Anliegen. In den zwanziger Jahren befasste er sich als Mitarbeiter im Wirtschaftsministerium und (ab 1924) als Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung beim Verein deutscher Maschinenbauanstalten (VDMA) vorwiegend mit Fragen der volkswirtschaftlichen Ordnung. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten kam es bereits im Frühjahr 1933 zu einer Hausdurchsuchung durch die Gestapo, und Rüstow, der weitere Repressalien befürchten musste, emigrierte noch im selben Jahr in die Türkei, wo er bis 1949 als Professor für Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftsgeographie an der Universität Istanbul lehrte. 1949 kehrte er nach Deutschland zurück und wurde an der Universität Heidelberg Nachfolger von Alfred Weber. Der biographische Hintergrund wird gleich im ersten Absatz der „Ortsbestimmung der Gegenwart“ bzw. von „Freiheit und Herrschaft“ deutlich: Um dieses deutsche Buch schreiben zu können, bin ich 1933 aus dem von Hitler überlagerten Deutschland emigriert, dessen Stickluft mir den Atem verschlug. Sich darüber klar zu werden, was denn eigentlich geschehen sei, an welchem weltgeschichtlichen Ort wir uns denn eigentlich befinden, schien mir die wichtigste und dringendste Aufgabe, die die katastrophale Weltlage selbst dem Historiker wie dem Soziologen stellte, und an dieser Ortsbestimmung der Gegenwart habe ich seitdem gearbeitet. (S. 133) Um der Analyse der Gegenwart und um der Gestaltung der Zukunft willen soll also der Blick in die Vergangenheit gelenkt werden, denn nur durch die Kenntnis der Geschichte ist es möglich, das Wesen des Menschen zu erfassen (vgl. S. 15–17 und 262). Rüstow verfolgt das Ringen der beiden Prinzipien Freiheit und Herrschaft bis in die Ur- und Frühgeschichte zurück, denn dort findet er in der einfachen bäuerlichen Gesellschaft einen ursprünglichen Idealzustand, in dem der Mensch in einem umfassenden Gleichgewicht lebte – in einem ausgewogenen Verhältnis der Geschlechter zueinander, in einem wirtschaftlich-sozialen Gleichgewicht und im Einklang mit der Natur: Das Bauerntum stellt menschlich den bis dahin letzten Höhepunkt in der Entwicklung der Menschheit dar. Es hat sich in den mehr als 200 Generationen seitdem wirtschaftlich und sozial so sehr bewährt, wie sich eine menschliche Einrichtung überhaupt nur bewähren kann. (. . .) Alles, was seitdem an Kulturfortschritten darüber hinaus erzielt wurde, ging bisher noch stets auf Kosten des im Bauerntum erreichten ausgewogenen Gleichgewichts und der Stabilität und Gesundheit der Vitalsituation. (S. 26) In dem Zitat klingt bereits der Kern von Rüstows Zivilisationskritik an: Kultur und Zivilisation wurden auf Kosten der ausgeglichenen Gesellschaftsstrukturen der Frühgeschichte geschaffen und sind Produkte des menschlichen Strebens nach Herr3 Sofern nicht anders angegeben, beziehen sich im folgenden alle Seitenangaben auf den Band „Freiheit und Herrschaft“.

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schaft. Doch dieses Streben gilt es zu überwinden, wenn der Mensch sich an Kultur und Zivilisation erfreuen will. Das Bauerntum war zwar wirtschaftlich und sozial allen anderen Gesellschaftsformen überlegen, aber militärisch schwach. Somit unterlagen die bäuerlich strukturierten Völker den kampftechnisch stärkeren Hirtenvölkern und wurden von ihnen versklavt. Rüstow bezeichnet die Unterwerfung als Überlagerung bzw. Überschichtung und übernimmt damit einen Begriff der Staatssoziologie, der die These impliziert, dass die Entstehung von Herrschaftsstrukturen weder (wie bei Aristoteles) auf eine organische Entwicklung größerer aus kleineren Gemeinschaften zurückzuführen ist, noch auf einen ursprünglichen Gesellschaftsvertrag, sondern als Ergebnis eines Selbstdurchsetzungsprozesses zu sehen ist, in dem der Überlegene die Herrschaft an sich reißt. Herrschaft beruht auf der Entfaltung der cupido dominandi (S. 44 f. und 532); ihr Zweck ist die Manifestation des eigenen Willens und die Selbstbejahung des Stärkeren (S. 50, 87). Doch wenn durch das menschliche Streben nach Herrschaft ein Reich von einer gewissen Größe geschaffen wird, wirken tendenziell zwei Kräfte zugunsten der Freiheit. Zum einen muss die Herrschaft stabilisiert werden, und dies ist leichter möglich, wenn man den Beherrschten gewisse Freiheiten und Partizipationsrechte einräumt. Dies führt sukzessive zur Verrechtlichung der Herrschaft und zur Milderung der Willkür. Zum anderen ist der Mensch in seiner Natur ambivalent: er strebt nicht allein nach Herrschaft, sondern auch nach Gemeinschaft, und so kommt es in der Regel früher oder später auch aus diesem Grund zu einer Mäßigung der Willkür (S. 44 und 88 ff.). In dieser Deutung der Geschichte übernimmt Rüstow sowohl Elemente der Geschichtsphilosophie von Nietzsche (vgl. den Hinweis auf Nietzsches „Genealogie der Moral“, S. 39 f. und 49) als auch von Marx (vgl. das Kapitel über Marx, S. 427–446). Auch bei Nietzsche führt das Streben nach Herrschaft zur Weiterentwicklung der Gesellschaft; die Selbstbejahung des Stärkeren entfaltet schöpferische Kräfte. Doch bei Rüstow ist es nicht die Herrschaft als solche, die Kultur und Zivilisation hervorbringt, sondern dies geschieht in der Mäßigung der Herrschaft und in dem Streben nach Absicherung einer bestehenden Herrschaft. Von Marx übernimmt Rüstow das Verständnis der Geschichte als einer Geschichte von Klassenkämpfen und Unterdrückung („eine der genialsten Erkenntnisse von Marx“, S. 450), und auch dem Ziel einer klassenlosen Gesellschaft stimmt er im Grundsatz zu. Doch die Ursachen für Herrschaft und Unterdrückung liegen für ihn nicht in der Entfremdung der Arbeit bzw. im Privateigentum, sondern in dem Herrschaftsstreben als solchem; deshalb bedarf es für die klassenlose Gesellschaft nicht der Abschaffung des Privateigentums, sondern – um der gleichzeitigen Förderung des Verantwortungsbewusstseins und der weitgehenden sozialen Gleichheit willen – der möglichst breiten Streuung des Eigentums (S. 449) und der genossenschaftlichen Strukturierung der Gesellschaft.4 Eine wirkliche Durchsetzung der Freiheit gegen die Herrschaft hat es in der Geschichte jedoch nur einmal für eine kurze Zeit gegeben: in Athen, im fünften Jahr4 S. 532; siehe auch S. 76: „Es ist die Organisationsform der Arbeit, die Betriebsform, die frei oder unfrei macht: Kleinbetrieb macht frei – Großbetrieb macht unfrei!“

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hundert v. Chr., unter der Führung von Perikles. Dort kam es durch die Isonomie zu einer beispiellosen geistigen Blüte und zur Verwirklichung der liberalen Demokratie (S. 154). Politisch wird diese Entwicklung durch Perikles verkörpert, philosophisch durch Protagoras. Diese hohe Zeit der freiheitlichen Gesellschaft währte nur drei Jahrzehnte und wurde von zwei geistigen Strömungen beendet, deren gemeinsamer Nenner wiederum der Herrschaftswille war. Zum einen radikalisierten einige Sophisten wie Kallikles das Freiheitsideal und verkehrten es zu einem hemmungslosen Machtstreben (S. 156, 166 f., 169), zu einer „Bejahung und Verherrlichung der mühsam gezähmten cupido dominandi“ (S. 532). Diese Position findet politisch ihren Ausdruck in der Entwicklung des attischen Imperialismus (der nach Rüstow aber nicht Ursache, sondern Folge des von Sparta aufgezwungenen Peloponnesischen Krieges war), literarisch wird sie von Thukydides im Melierdialog wiedergegeben. Zum anderen kam es zu einer von Sokrates und Platon zu verantwortenden negativen Wendung in der Entwicklung der Philosophie. Sokrates praktizierte eine „nihilistische Eristik“5, der es nur darum ging, andere des Nichtwissens zu überführen, um selber Recht zu behalten: Alle Anderen ihres Nichtwissens überführen, und sich selbst zum Schluß unangreifbar machen dadurch, daß man auch von sich selber von vornherein dies Nichtwissen bekennt – dieses „Ich weiß, daß ich nichts weiß“ – ist das wirklich Demut, oder nicht vielmehr der höchstmögliche Gipfel intellektuellen Hochmuts, die absolute Unangreifbarkeit des Rechtbehaltens schlechthin? Und was dabei recht behielt, was triumphierte, das war, mangels jeden positiven Inhalts, nicht die Sache, sondern ausschließlich die Person. Diese Person war erfüllt von leidenschaftlichem, ja ans Manische grenzendem Wahrheitsdrang, gewiß – aber einem Wahrheitsdrang, der sich zunächst nihilistischer Weise nur im Niederreißen, nicht im positiven Aufbau betätigte. („Ortsbestimmung der Gegenwart“, Bd. II, S. 130; in „Freiheit und Herrschaft“ nur verkürzt wiedergegeben: S. 167.) Dieser Nihilismus war aus Rüstows Sicht völlig unangemessen, denn in Wirklichkeit kann doch gar keine Rede davon sein, dass die damaligen Athener nicht gewusst hätten, was „gut“ und „gerecht“ ist, wenn sie es auch nicht nach den Anforderungen dieses penetranten Schulmeisters in logische Definitionen zu kleiden vermochten. („Freiheit und Herrschaft“, S. 167) Rüstow kommt folgerichtig zu dem Schluss, dass das Todesurteil gegen Sokrates im Grundsatz gerechtfertigt war, zumal er seine wertezersetzende Tätigkeit in einer Zeit der größten außenpolitischen Bedrohung durch den existentiellen Kampf mit Sparta praktizierte: Ist also nicht die Verurteilung des Sokrates zu Recht erfolgt (. . .)? Gewiss hatte Sokrates das Minimum seiner Staatsbürgerpflichten pünktlich und mutig erfüllt. Aber die überragenden Verdienste, die er sich erworben hatte, waren Verdienste geistesgeschichtlicher und philosophiegeschichtlicher Art, die allenfalls einen geisteswissenschaftlichen Nobelpreis verdient hätten; einen solchen zu vergeben war aber nicht Sache des athenischen Strafgerichts. Auf den bestehenden athenischen Staat und dessen Autorität hatte seine in höchst aufreizender Form betrie5

„Ortsbestimmung der Gegenwart“, Bd. II, S. 130.

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bene antidemokratisch-nihilistische Tätigkeit als radikaler Rationalist und Individualist ohne allen Zweifel nur zersetzend und auflösend gewirkt. Sein erstes und letztes wirklich großes Verdienst um den Staat von Athen war die heldenhafte Art, in der er sich dem Todesurteil unterwarf. (S. 168) Nachdem Sokrates das Positive des griechischen Strebens nach Freiheit und Demokratie zersetzt hatte, konnte Platon unter dem Einfluss orientalischer Mystik und Metaphysik (S. 158, 172) und beseelt von einem reaktionär-romantischen Geist (S. 157) eine Philosophie entwickeln, die dieses Streben ignorierte und stattdessen Herrschaft und Ungleichheit legitimierte. In seiner Platon-Kritik zählt Rüstow aus der „Politeia“ und vor allem aus den „Nomoi“ eine Reihe von Regelungen auf, die aus seiner Sicht „typisch totalitär“ (S. 170) sind: die „Hinrichtung und Ausweisung aller Unerwünschten“, die „Degradierung aller körperlichen und gewerblichen Arbeit“, die „Außenhandelskontrolle“, die Beschränkung von Auslandsreisen, „Präventivzensur und Richtlinien für Dichter“, „Denunziationsprämien aller Art“ – und schließlich: „Staatslügen als Mittel der Führung“ (alle Zitate: S. 169). Platons „Nomoi“ weisen also zentrale Gemeinsamkeiten mit dem Nationalsozialismus und dem Bolschewismus auf (S. 170). Ähnlich wie Popper in seinem Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ sieht Rüstow den Schlüssel für das Verständnis der geistigen Wurzeln totalitärer Herrschaft in der Auseinandersetzung mit der griechischen Antike, und an seiner Kritik der sokratischen und platonischen Philosophie wird sein eigenes Verständnis des demokratischen Ideals der Freiheit und Gleichheit besonders deutlich. Was er Sokrates vorhält, ist die Zersetzung „aller überlieferten und gemeinsamen Wertvorstellungen“, die in einer freien Gesellschaft die politischen Entscheidungen leiten sollen. Sein Urteil, dass die Athener – anders als es im sokratischen Dialog deutlich wird – gewusst hätten, was gut und gerecht ist, muss den Leser jedoch erstaunen: Die innenpolitischen Spannungen in Athen zur Zeit von Perikles und Sokrates waren ja gerade darauf zurückzuführen, dass es ganz unterschiedliche, widerstreitende Meinungen über das Gute und das Gerechte gab; dieser Widerstreit ist es ja erst, der die philosophische Auseinandersetzung mit den Werten erforderlich machte. Wenn es eine dominierende Haltung in Athen gab, dann war es der Wille zur Expansion. Das zeigt sich insbesondere in der von Rüstow wegen ihrer freiheitlichen Gesinnung besonders hervorgehobenen Leichenrede des Perikles, in der dieser die Freiheit für ihre wertvollste Frucht lobt: die Herrschaft Athens über Griechenland.6 Nicht umsonst hält Thukydides fest, dass es die Angst vor der wachsenden Macht Athens war, die die Spartaner zum Krieg trieb,7 und es wird in der historischen Forschung vermutet, dass die demokratischen Reformen von Ephialtes (462/461 v. Chr.) im wesentlichen dazu dienten, die außenpolitische Expansion Athens zu unterstützen, die nur möglich war, indem die „Spartafreunde“ im Areopag entmachtet wurden.8 Kurzum: Soweit es in Athen gemeinsame Werte gab, zielten sie zu einem großen Teil auf Herrschaft, und somit stellt das Lob der Pleonexie durch Kallikles und Thrasymachos nicht eine Abwendung vom athenischen Freiheitsstreben dar, sondern 6

Thukydides: „Der peloponnesische Krieg“, Buch II, 41. Ebd., Buch I, 23. 8 Werner Dahlheim: Die römisch-griechische Antike. Band 1: Griechenland. Paderborn etc.: Schöningh (UTB), 1992, S. 184. 7

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dessen radikale Zuspitzung – und diesen Zusammenhang deutet Rüstow selbst an verschiedenen Stellen an.9 Damit wird ein Grundproblem der dialektischen Beziehung von Freiheit und Herrschaft deutlich, um die es Rüstow geht: Wenn Freiheit nicht genutzt wird, um die Pleonexie in ihren verschiedenen geistigen, politischen und sozialen Ausprägungen zu erkennen, birgt sie die Gefahr der Hybris. Rüstow selbst sieht an verschiedenen Stellen das Problem, dass Freiheit zur Infragestellung der überlieferten Werte führt (z. B. S. 151), deren Hochachtung für ihn, der das Gleichgewicht der bäuerlichen Gesellschaft (S. 26) und die „checks and balances“ der mittelalterlichen Gesellschaft lobt (S. 531), von so zentraler Bedeutung ist. Die Herausforderung jeder freiheitlichen Gesellschaft besteht darin, die Relativierung der gemeinschaftskonstituierenden Werte zu vermeiden – die in Athen übrigens von Sophisten wie Protagoras durch die Rückbindung der Tugend an die Nützlichkeit betrieben wurde, und nicht von Sokrates, der in jedem Dialog die existentielle und die politische Bedeutung der jeweils behandelten Tugend hervorhebt und der den sophistischen Instrumentalisierungen der Tugenden für das Eigeninteresse die Forderung nach einem unbedingten Streben nach Tugendhaftigkeit entgegenhält (vgl. insbesondere den Dialog „Gorgias“). Eine Relativierung der gemeinschaftskonstituierenden Werte lässt sich nun entweder mittels Ostrazismus und Schierlingsbecher bekämpfen (zwei Methoden, für die Rüstow viel Verständnis zu haben scheint: S. 152, 168), doch dies führt zur Dogmatisierung der überlieferten Werte und damit zur Aufhebung der geistigen Freiheit. Oder sie wird durch die dialektische Prüfung nicht nur der überlieferten Werte, sondern auch der diese Werte relativierenden sophistischen Positionen verhindert, wie es von Sokrates in seinen Dialogen vorgeführt wird. Das, was von ihm „zersetzt“ wird, ist die Beanspruchung von Tugendhaftigkeit ohne entsprechende Verwirklichung. Die Verwirklichung erfolgt in der Suche nach Erkenntnis; und dies erfordert für die Politik deren Rückbindung an Erkenntnis statt an bloße Meinung. Auch die Demokratie hat schließlich den Anspruch, vernünftig zu sein. Doch zurück zu Rüstows Deutung der abendländischen Kultur- und Geistesgeschichte. Neben der griechischen Antike liegt der zweite Schwerpunkt seines Werkes auf der Analyse der Wurzeln des Totalitarismus im politischen Denken der Neuzeit. Die Bejahung des Willens zur Macht, die in der Antike bereits in der Person des Kallikles und im Melierdialog anzutreffen war, erfährt in der Neuzeit zwar keine gradlinige, aber eine sich steigernde Entwicklung von Machiavelli über den Jakobinismus und Bonapartismus bis hin zu Nietzsche und der politischen Umsetzung des Willens zur Macht im Bolschewismus und im Nationalsozialismus (vgl. S. 532). Die Steigerung in dieser Entwicklung erklärt Rüstow als eine Reaktion auf den Rationalismus der Aufklärung, dem er – ähnlich wie zuvor Sokrates – vorwirft, die überlieferten Werte zu zersetzen. In blindem Fortschrittsglauben übt der Rationalismus seine Kritik und setzt dem Wahrheitsbegriff der Theologie und der Metaphysik den Utilitarismus und Pragmatismus gegenüber, dem Idealismus den Materialismus. An die Stelle des Absoluten tritt die „nackte Materie“ (S. 307). Dabei wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, was wiederum „dem Idealisten das Recht [gibt], sich dem Materialisten überlegen zu fühlen“ (S. 308). Rüstow erkennt damit 9 „Athen, die Hochburg der Geistesfreiheit, durch seine eigene Maßlosigkeit zugrunde gerichtet“ (S. 169).

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ein zentrales Problem der Philosophiegeschichte, nämlich die dialektische Abhängigkeit logischer Vereinseitigungen von ihren jeweiligen gegnerischen Positionen, deren Mängel sie als Beleg für die eigene Stärke anführen. Die soziale und politische Folge des Rationalismus ist die Desintegration der europäischen Gesellschaften im 19. Jahrhundert, die sich auf sozialer Ebene in einem Individualismus äußert, der Vereinzelung und Vermassung bewirkt; die auf politischer Ebene zu einem Pluralismus führt, in dem die politischen Parteien den Staat nur noch als ihre Beute betrachten; und die sich ökonomisch niederschlägt in einem entarteten Kapitalismus, in dem die Arbeitskraft zu einer bloßen Ware degradiert wird. Diese Entwicklung führt zu „irrationalistischen Gegentendenzen“, in denen sich auf ebenso übersteigerte Weise das Gemeinschaftsbedürfnis des Menschen Bahn bricht – als Streben nach dem kommunistischen Ideal einer klassenlosen Gesellschaft, als Nationalismus, als Kriegsbegeisterung usw. Im politischen Denken des 19. Jahrhunderts widmet Rüstow Marx eine besondere Aufmerksamkeit, und die Ausführungen zu Marx sind für seine „Ortsbestimmung der Gegenwart“ von besonderem Interesse, weil er einerseits wesentlich deutlicher als viele andere Intellektuelle den gewalttätigen und herrschsüchtigen Charakter von Marx erkennt,10 sich andererseits aber fasziniert zeigt von Marx’ Vision einer klassenlosen und herrschaftsfreien Gesellschaft. Rüstow sieht darin ein Ideal „von extrem liberaler, ja geradezu anarchischer Struktur“ (S. 428). Bei aller Falschheit der ökonomischen Theorie von Marx und aller Gewalttätigkeit seiner Vorstellungen von der Revolution und der Diktatur des Proletariats ist das Ziel der klassenlosen Gesellschaft dasjenige Element der Marxschen Theorie, das nach Ansicht von Rüstow von dem großartigen Gedankengebäude des Marxismus übrig bleibt und sich als mit der Sozialen Marktwirtschaft vereinbar halten lässt. [. . .] Dieses Ideal einer vollen Verwirklichung der Menschlichkeit verdient nach wie vor rückhaltlose Bejahung. (S. 449) Dass Rüstow in der Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft ein anzustrebendes Ideal sieht, ist erstaunlich, denn zunächst wäre zu erwarten, dass er die Differenz zwischen seinem eigenen Ideal der individuellen Freiheit und Marx’ Vision eines „totalen Menschen“11 betont, der im Kommunismus so sehr in der Gemeinschaft aufgeht, dass jede Individualität und damit auch jede individuelle Freiheit verloren geht. In den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ offenbart sich die ganze Geistfeindschaft des Marxschen kommunistischen Ideals in dem Frageverbot, dem er den kommunistischen Menschen unterwirft.12 Vielleicht ist auch Rüstow der Auffassung, dass Freiheit und Gleichheit sich nur durchsetzen lassen, wenn nicht zu viel gefragt wird – dem würde sein Urteil über Sokrates entsprechen. Das Ideal der klassenlosen Gesellschaft wirkt beim Bolschewismus zumindest noch im Hintergrund: 10

Siehe insbesondere das Kapitel „Marx als Machtpolitiker“ (S. 437–440). Zitiert auf S. 429; Originalzitat: Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, hrsg. von B. Zehnpfennig, Hamburg: Meiner, S. 90. 12 Marx, a. a. O., S. 98; zu dem Frageverbot siehe Eric Voegelin: Wissenschaft, Politik und Gnosis (1959), in: ders., Der Gottesmord. Zur Genese und Gestalt der modernen politischen Gnosis, München: Fink, 1999, S. 57–90, hier: S. 69–73. 11

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Es kann wohl nicht bezweifelt werden, dass Lenin bei der Machtübernahme Marxist war und es als seine Aufgabe betrachtete, das marxistische Programm innerhalb seines Machtbereiches durchzuführen. Was sich ergab, war eine Diktatur des Proletariats ohne absehbares Ende, wodurch unvermeidlicherweise die totalitären und brutalen Bestandteile des Marxschen Systems den Vordergrund beherrschten; trotzdem blieb das Ideal der klassenlosen Gesellschaft als Endziel im Hintergrund. (S. 457) Der Nationalsozialismus hat „von der Gesamtstruktur bis in die organisatorischen Einzelheiten“ den Bolschewismus zum Vorbild genommen, wenngleich er das russische Vorbild „an Brutalität und zynischer Bedenkenlosigkeit“ nur „fast“ erreicht hat (S. 464). Von einem grundlegenden Gegensatz zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus kann schon deshalb keine Rede sein, weil ersterer in der Außenpolitik trotz der internationalistischen Rhetorik nationalistisch orientiert war (ebd.). Der zentrale Unterschied zwischen beiden Totalitarismen liegt deshalb nicht in der Herrschaftspraxis, sondern in der Ideologie: Der Bolschewismus steht zumindest pro forma für das universalistische Ideal einer menschlichen Gesellschaft, während der Nationalsozialismus nur eine „partikulare“ Ideologie vertritt (S. 534). Die nationalsozialistische Ideologie erscheint Rüstow als eine eher krude Mischung von Opferbereitschaft, Sadismus, Nationalismus, Antisemitismus, Militarismus, Gewaltverherrlichung u. a. (S. 501–531). Die Ausführungen enthalten im einzelnen eine Reihe bemerkenswerter Beobachtungen, wie zum Beispiel den Hinweis, dass viele Personen dazu verführt oder gezwungen wurden, sich an Verbrechen zu beteiligen, um „sie dadurch zu Mitschuldigen zu machen und ihnen den Rückweg in die Anständigkeit abzuschneiden“ (S. 525). Doch den systematischen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Elementen der Ideologie behandelt Rüstow nicht, weil er davon ausgeht, dass der eigentliche Einheitspunkt außerhalb der Ideologie, in der Person Hitlers und deren „psychopathischer“ Struktur liegt (S. 527). Anders als für Lenin gab es für Hitler keine übergeordneten Ziele: Es gab für ihn überhaupt nichts [. . .] Übergeordnetes, weder Nationalsozialismus noch Deutschland noch was auch immer. Hitler wollte weder die Verwirklichung des Nationalsozialismus noch die Größe Deutschlands noch überhaupt irgend etwas Objektives. Er war überhaupt kein deutscher Staatsmann, nicht einmal ein noch so schlechter. Er wollte letzten Endes überhaupt nichts für Deutschland erreichen, sondern nur und ausschließlich für sich. (S. 530) Hitler verkörpert damit den Willen zur Macht mit einer vorher nicht gekannten Radikalität, aber seine Ideologie ist wegen ihres partikularen Charakters nicht in der Lage, weltweit die Menschen zu bewegen und zu verführen. Zu einer „wirklichen Weltgefahr“ kann nur eine universalistische Ideologie werden, wie sie der Marxismus und der Bolschewismus vertreten (S. 533). Dementsprechend sieht Rüstow die wesentliche Herausforderung seiner Zeit (also der fünfziger und sechziger Jahre) darin, dem marxistischen Gesellschaftsmodell ein überzeugendes freiheitliches Modell gegenüberzustellen – das der Sozialen Marktwirtschaft. Dabei handelt es sich nicht allein um ein wirtschaftspolitisches Konzept, sondern um eine umfassende „Vitalpolitik“, die bewusst alles einbezieht, wovon das wirkliche Sichfühlen des Menschen, seine Zufriedenheit und sein Glück, abhängen, und die es sich zum Ziel setzt, die Vor-

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aussetzungen für ein lebenswertes und verteidigungswürdiges Leben zu schaffen. (S. 540) Das klingt nun zugegebenermaßen etwas vage, und tatsächlich wird Rüstows eigenes Verständnis von Freiheit und Gleichheit in diesem Werk vor allem indirekt deutlich – insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus und mit der griechischen Antike. Wenn Rüstow die nationalsozialistische Ideologie als eine Mischung vieler einzelner Elemente deutet, deren Einheitspunkt allein in Hitlers Wille zur Macht liegt, so betont er damit den Unterschied zu Marx und Lenin, hinter deren Machtstreben das universalistische Ideal der klassenlosen Gesellschaft steht. Doch auch Hitler sah sich als Vollstrecker eines höheren Gesetzes; auch sein Ziel war die Rettung der Menschheit vor ihrem Untergang (siehe „Mein Kampf“, Ende von Kapitel 2). Hinter dem scheinbar „partikularen“ Kampf der Rassen (Juden versus Arier) steht ein Kampf universeller Prinzipien: Der Materialismus und das Gleichheitsstreben wirken aus seiner Sicht kulturvernichtend, während allein der Idealismus und die Opferbereitschaft kulturschöpfend wirken.13 Ein universelles Ziel anzustreben, das Gute für die Menschheit zu wollen, schließt nicht per se aus, dass das Ziel ein tyrannisches ist. Der Unterschied zwischen dem Marxismus/Bolschewismus auf der einen und dem Nationalsozialismus auf der anderen Seite besteht also nicht darin, dass nur ersterer ein universelles Ideal für sich in Anspruch nimmt, sondern dass Rüstow dessen Ideal tatsächlich für ein solches hält. Mit seiner Zustimmung zu dem Ideal der klassenlosen Gesellschaft verkennt Rüstow jedoch – wie bereits angedeutet – den Charakter des Kommunismus: Die Gleichheit, die Marx und Lenin meinen, führt zur völligen Reduktion des Menschen auf seine Bedürfnisseite, zur Ausschaltung des Geistes durch das Frageverbot und damit zu einer ganz ähnlichen „Stickluft“ wie derjenigen, vor der er selbst 1933 geflohen ist. Dass Rüstow dies übersieht, ist wohl weniger auf Unkenntnis zurückzuführen als vielmehr auf ein grundlegendes Problem seines Verständnisses von Freiheit und Herrschaft, das bereits in seiner Auseinandersetzung mit der griechischen Antike deutlich wurde. In Athen wurde Freiheit durch die Durchsetzung der Gleichheit erreicht – also im wesentlichen durch die Anerkennung aller Meinungen als gleichermaßen berechtigt. Doch diese Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit war alles andere als ein Gegenpol zum Prinzip der Herrschaft: Die Freiheit wurde unter der mächtigen Herrschaft des Perikles umgesetzt; sie bediente sich der Herrschaftsinstrumente des Ostrazismus und der Todesstrafe gegen alle, die zu sehr aus der Menge herausragten oder die es gar wagten, den Zusammenhang von Freiheit und Gleichheit kritisch zu befragen; und schließlich zielten Freiheit und Gleichheit in Athen auf die imperialistische Herrschaft über Hellas. Rüstows Ziel erscheint vor diesem Hintergrund wie eine Quadratur des Kreises: Einerseits soll Freiheit darin bestehen, alle Meinungen als gleich zu respektieren (zumindest die, die selbst die grundsätzliche Gleichheit aller Meinungen anerkennen). Andererseits aber darf dieser Meinungspluralismus nicht zu einer Auflösung tradierter Werte führen, und er soll nicht in die Pleonexie münden. Sollen diese beiden Entwicklungen ohne Frage13 Siehe dazu „Mein Kampf“, Kapitel 11, und die Interpretation von Barbara Zehnpfennig: Hitlers Mein Kampf. Eine Interpretation. München: Fink, 2000.

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verbote verhindert werden, die eine Bedrohung der geistigen Freiheit darstellen, so bleibt nur der von Rüstow so ungeliebte sokratische Weg: die Meinungen im Dialog zu prüfen und die Politik an Erkenntnis statt an bloße Meinung zu binden. Das ist gewiss nicht herrschaftsfrei, aber angesichts der Aporien des Ideals der Herrschaftsfreiheit ist die Herrschaft der Vernunft sicherlich derjenigen der athenischen Pleonexie vorzuziehen. Wenngleich nun die Antworten von Rüstow bei näherer Betrachtung eine Reihe von Fragen aufwerfen, muss doch abschließend das Verdienst von seinem Werk betont werden. Rüstow zeigt erstens, dass Politik- und Sozialwissenschaften den Mut haben müssen, sich auf die großen Herausforderungen der Zeit einzulassen, und dazu zählt zweifellos die Herausforderung freiheitlicher Gesellschaften durch den Totalitarismus. Zweitens verdeutlicht er, dass diesen Herausforderungen nur durch eine tiefe Kenntnis der Geistesgeschichte begegnet werden kann – in einer Zeit, in der die Professuren für politische Theorie und Ideengeschichte unter einem dauernden Rechtfertigungszwang stehen, kann dies gar nicht genug betont werden. Und drittens schließlich zeigt er, dass in der Auseinandersetzung mit der Geschichte nach den geistigen Zusammenhängen gesucht werden muss, deren Verständnis eine „Ortsbestimmung der Gegenwart“ erst ermöglicht. Das sind gute Gründe, sich mit Rüstows Werk zu befassen und seine Leistung zum Vorbild zu nehmen. Hendrik Hansen

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Jenseits der Paradigmen: Zwei Studien zur Geschichte des deutschen politischen Denkens seit 1945 Michael Th. Greven, Politisches Denken in Deutschland nach 1945. Erfahrung und Umgang mit der Kontingenz in der unmittelbaren Nachkriegszeit, Verlag Barbara Budrich, Opladen 2007, 304 S., ISBN 978-3866-49-079-6 Stephan Schlak, Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik, Beck-Verlag, München 2008, 277 S., ISBN 978-3-406-569364 Die Politikwissenschaft ist ein recht junges Fach mit alter Tradition. An die antiken Wurzeln erinnerte sie nach 1949 als ihr Gründungsprogramm. Ihre bundesrepublikanische Geschichte wurde dagegen erst in den letzten Jahren verstärkt erforscht. Die Weimarer und die nationalsozialistische Vorgeschichte wurden untersucht, die bundesrepublikanischen Ansätze und „Schulen“ verschiedentlich rekonstruiert. Die „Frankfurter Schule“ füllt Bibliotheken. Die erste Generation der bundesdeutschen Gründer gilt inzwischen als monographiefähig. Hannah Arendt und Leo Strauss sind Stars personenzentrierter Deutungsschriften. Auch eine Voegelin-Forschung ist inzwischen etabliert. Theodor Eschenburg und Iring Fetscher haben Memoiren geschrieben. Wilhelm Bleek (Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001) veröffentlichte vor einigen Jahren eine reife Summe der langen Geschichte des Faches, seiner Institutionalisierung und Forschungsdynamik in der Bundesrepublik, und plädierte damit auch für eine historische Orientierung des Faches. Alfons Söllner (Fluchtpunkte. Studien zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Baden-Baden 2006) sammelte unlängst seine einfühlsamen Studien zum Erfahrungsgehalt und Innovationsschub der Remigration. Henning Ottmanns große „Geschichte des politischen Denkens“ kommt bald im 20. Jahrhundert an. Auch Michael Th. Greven gehört zur 68er Generation, die heute hinter die alten Schablonen zurückschaut. Nicht Weimar oder die Emigration sind ihm aber das Laboratorium politischen Denkens, das er nun untersucht, sondern die unmittelbare Nachkriegszeit ist es. Dort war die „Kontingenz“ einer Aufbau- und Gründungslage gegeben, an der sich das politische Denken bewähren musste. Als „Kontingenztheoretiker“ sucht Greven „die extreme Kontingenz des historischen Augenblicks“ (9) und dessen konzeptionelle Ausrichtung auf Zukunft: die „objektiven Möglichkeiten“ (Max Weber) der Umbruchzeit und ihre politische Erfahrung und Bewältigung. Dabei leugnet er die anfängliche „Fremdbestimmung durch die Besatzungsmächte“ (25) nicht. Greven geht vom treffenden Befund einer regen politischen Publizistik durch betroffene „Gelegenheitsautoren“ (31) nach 1945 aus. Er greift aus dem damaligen publizistischen Feld einige größere Titel heraus und ergänzt bekannte Autoren und übliche Verdächtige (wie Alfred Weber, Meinecke, Jaspers) um einige heute weniger bekannte Autoren. Dieser Ansatz ist sehr interessant: der Rückgang hinter die professionell etablierte Politikwissenschaft auf eine heterogene Diskursmasse am Anfang. Als stark kontextualisierende „Diskursanalyse“, die die Sprecherlagen und -perspektiven mikroanalytisch rekonstruierte, läßt sich Greven Untersuchung allerdings nicht bezeichnen. Greven rekonstruiert vor allem die Texte in ihrem konzeptionellen Gehalt. So sucht er eine politische Theorie oder Konzeption der frühen Nachkriegszeit, die er in ihrer Andersheit gegenüber den späteren politikwissenschaftlichen Tableaus der Bundesrepublik auch mit systematischem Interesse liest.

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Zunächst erörtert er die „Politik der geistigen Umkehr und Erziehung“ bei Alfred Weber, Friedrich Meinecke, Karl Jaspers, dem Psychoanalytiker Felix Schottlaender und Eugen Kogon. Er würdigt dabei Jaspers’ normativen Ansatz bei der individuellen „Schuld“ (73, 79) und steht den großen Sonderwegsnarrationen, Schottlaenders psychoanalytischer „Mythologie“ (85) und auch Eugen Kogons christlicher Reedukationskritik eher skeptisch entgegen. Danach erörtert er weniger bekannte antiborussische, teils separatistisch argumentierende Föderalismusvarianten (Hans Peters, Georg Laforet, Otto Feger). Sie zeigen die Andersartigkeit der damaligen Ausgangslage, auch die Abhängigkeit von allliierten Vorgaben, verglichen etwa mit heute gängigen Europäisierungsdiskursen besonders deutlich. Danach erörtert Greven „Dritte Wege“ zwischen oder gegen Kapitalismus und Kollektivismus: Wilhelm Röpkes ordo-liberalistische Kapitalismuskritik mit ihrem „Plädoyer für Demokratisierung und das Subsidiaritätsprinzip“ (175), Richard Löwenthals totalitarismuskritische „Vision eines demokratischen Sozialismus“ und Walter Dirks’ abendländisch-europäischen „christlichen Sozialismus“. Diesen christlichen Konzepten schließt sich Greven nicht emphatisch an. Er profiliert sie aber positiv gegen „Die Sowjetunion als Vorbild“: insbesondere gegenüber Alexander Abuschs stalinistischen „Irrweg“ geschichtspolitischer Denunziation der Sozialdemokratie. Zuletzt erörtert Greven die „Freiheit im Planstaat“ an den fragwürdigen Modellen von Ernst Niekisch und Helmut Schelsky. Dabei verteidigt er Schelskys Individualismus und „Wandlungsprozeß“ gegen die Kritik von Kurt Lenk. Im Epilog erinnert Greven insbesondere an Dolf Sternbergers frühe Schriften nach 1945, um den Abstand der ersten Nachkriegsdiskurse zur entwickelten bundesdeutschen Politikwissenschaft zu verdeutlichen. Selbst bei Sternberger findet sich damals noch keine starke Darstellung der repräsentativen Demokratie und „lebenden Verfassung“. Gründerväter wie Ernst Fraenkel oder Theodor Eschenburg traten wohl erst nach 1949 deutlich hervor. Dagegen gab es bereits entwickelte juristische Beschreibungen der Nachkriegslage, für die nur Wilhelm Grewe genannt sei. Grevens Auswahl orientiert sich an der Suche nach einer politischen Theorie der Kontingenz. Da ist sein Ertrag überwiegend negativ, schon weil er die naturrechtlich-christliche Färbung einiger Autoren nicht positiv aufnimmt. Einige seiner Autoren stammen auch aus dem Laboratorium vor 1933. So liegt der Schatten Weimars noch über dieser politischen Theorie der „Stunde Null“. Greven fragt mehr nach der konzeptionellen Zukunftsbewältigung als nach der damaligen „Erfahrung“ der Nachkriegslage. Hannah Arendt situierte den Ort des politischen Denkens „zwischen Vergangenheit und Zukunft“ in der Erörterung von Gegenwartsfragen. Die damaligen Autoren schrieben am Nullpunkt der Schere von Erfahrung und Erwartung. Die außerordentliche „Kontingenz“ der damaligen Lage verdammte ihre Diskurse geradezu zur zukunftslosen Utopik. Die Spannung zwischen Gegenwartserfahrung und Zukunftsentwurf ließe sich durch den Rückgang hinter die Texte auf die biographische Lage und Sprechersituation der Autoren noch weiter dramatisieren. Auch mag in der damaligen Diskursmasse noch die eine oder andere Perle zu finden sei, eine Stimme, die später in der Relation von „Erfahrungswandel und Methodenwechsel“ (Reinhart Koselleck) unterging. Greven gebürt aber zweifellos das hohe Verdienst, auf die Tatsache breiter politischer Diskurse vor 1949 in ihrer Andersartigkeit gegenüber der bundesdeutschen Politikwissenschaft klar und deutlich hingewiesen zu haben.

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Kontextnah, politisch-polemisch, interventionistisch agierte Wilhelm Hennis, der die bundesdeutsche Entwicklung seit ihren Anfängen kritisch begleitete. Pünktlich zum 85. Geburtstag unternahm Stephan Schlak das Wagnis einer personenzentrierten Darstellung. Ist das ein Thema? So unbestritten Hennis’ Bedeutung als Grenzgänger der „Freiburger Schule“ ist? Schlak hat das dritte Auge, eine frappierende Witterung und kaum übertreffliche literarische Begabung. Schlaks Stärken sind auch Hennis’ Stärken. Diese intellektuelle Biographie ist mit kongenialem Schwung und Sympathie über den Abstand der Generationen hinweg geschrieben. Sie heißt im Untertitel „Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik“. Es ist eine intellektuelle Biographie, keine Schlüssellochgeschichte. Liebesgeschichten, Familiengeschichten, Institutsquerelen, auch die schweren Krankengeschichten, von denen der alte U-Boot-Jäger reichlich geplagt war, kommen nicht vor. Kindheit und Jugend sind schnell abgehandelt. Hennis tritt als Autor der Bundesrepublik auf, als früher Reformer und dann als „unzeitgemäßer“ Opponent gegen die linksliberale „Umgründung“ nach 1968. Schlak setzt ihn brilliant ins Licht. Er konzentriert sich auf einige paradigmatische Szenen und verweilt ausführlich bei den Schriften. Das originelle Wort von den „Szenen“ hat konzeptionelles Gewicht. Schlak inszeniert einen topisch zugreifenden Kopf, wirft kräftige Schlaglichter und Gegenlichter. Er konstelliert Hennis nicht im politikwissenschaftlichen „Fach“, dessen positivistisch-soziologistische Entwicklung Hennis sich kritisch entgegenstemmte, sondern vor allem als Gegenspieler zu Habermas. Der Streit zwischen aristotelischer Politik und progressistisch aufgerüsteter Sozialphilosophie trägt die Dramaturgie des Stücks. Schlak deutet ihn auch als generationellen Gegensatz zwischen den 1923ern und den 1929ern, als Erfahrungsdifferenz der noch in Weimar sozialisierten Soldaten zu den Hitlerpimpfen und Flakhelfern der nazistischen Endzeit. Er rückt Hennis dabei nah an Reinhart Kosellecks begriffspolitisches Projekt heran und liest die Ideengeschichte der Bundesrepublik als politische Kontroverse um altüberlieferte und „moderne“ Semantik. An einigen Kernsätzen entlang läßt sich Schlaks Darstellung lesen und kommentieren: „Hennis ist kein Parteigänger der Bundesrepublik“ (9); er war politisch durch Weimar und den Nationalsozialismus sozialisiert und verbindet mit der Bundesrepublik kein ideologisches „Projekt“. „Hennis focht seine Debatten mit den Flakhelfern aus.“ (29) „Hennis will semantischer Aufhalter sein.“ (65) Er kämpfte gegen die Umstellung von der alteuropäischen auf die „moderne“ politische Semantik und steht damit Kosellecks begriffspolitischen Intentionen nahe. Seit den 50er Jahren betrieb Hennis deshalb Gegenaufklärung gegen Horkheimer, Adorno und dann insbesondere gegen Habermas. Als Assistent von Carlo Schmidt sah er in Frankfurt Ende der 50er Jahre schon die vergangenheits- und diskurspolitischen Strategien Horkheimers und Adornos aus der Nähe und setzte Horkheimers Verdrängung der radikalmarxistischen Frühgeschichte „Kritischer Theorie“ subversive Strategien der Erinnerung entgegen. So holte er die alte „Zeitschrift für Sozialforschung“ aus den verschlossenen Archiven und stemmte sich ersten Polemiken virtuos entgegen. Schlak reizt dies anekdotisch mit wortgewaltigem Schwung aus. Zusammenfassend schreibt er: „Gegen die Arkanpolitik der Kritischen Theorie trägt Hennis zur praktischen Aufklärung bei, indem er das Geheimnis der Frankfurter Kiste lüftet und die Dialektik hinter der Dialektik offenbart.“ (73) Ausführlich rekonstruiert Schlak Hennis’ Habilitations- und Programmschrift „Politik und praktische Philosophie“ und schlägt einen Bogen zur späteren Kritik an

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der „Projektemacherei“ der neuzeitlich-technischen Vernunft. Die philosophischen Referenzen an die aristotelische Topik liest Schlak aus der Beobachterperspektive eher als Begriffspolitik, ohne in die philosophischen Normgeltungsfragen einzutreten. Prägnant meint er: „Hennis hat dem Theorieglauben der Bundesrepublik nicht geopfert.“ (96) Das Theoriedesign der 1968er steht hier für die alte Bundesrepublik schlechthin. „1968“ ist deshalb für Schlak das Scheidedatum der alten Bundesrepublik und Schlüsseldatum von Hennis’ Werk. Schlak erinnert die geradezu traumatische Bedeutung der Studentenbewegung für die ältere bundesdeutsche Politikwissenschaft. Sie rührte am Trauma vom Scheitern der Weimarer Republik und an der nationalsozialistischen Erfahrung. Bonn schien um 1968 doch noch Weimar zu werden, wie es heute wieder mit labilen Minderheitskoalitionen droht, schien gar im jungrevolutionären Wahnsinn von 1933 erneut zu versinken. Nicht nur Hennis sah 1968 die Gespenster von Weimar wieder auferstehen. Die Gründungsarbeit einer Generation schien erneut leichtfertig verspielt. Dolf Sternberger widmete sein Hauptwerk „Drei Wurzeln der Politik“ 1978 „dem Andenken der alten Philosophischen Fakultät zu Heidelberg“. Hennis’ Weg führte von der Ideengeschichte über die institutionellen Sorgen der 60er und 70er Jahre verstärkt resignativ mit Max Weber wieder zur Ideengeschichte zurück. „Auch Hennis’ Polemik gegen die ‚Unruhe‘ ist ein Dokument der ‚deutschen Unruhe‘ “ (156), schreibt Schlak zu den universitätspolitischen Kämpfen nach 1968. Hennis kämpfte dabei um die „Grenzlinien“ zwischen Liberalismus und Demokratie (162 f.), Privatem und Öffentlichem und „verharkte sich“ (185) dabei gelegentlich, wie Schlak andeutet, in persönlichen Polemiken. Hennis machte die politische Auseinandersetzung an hervorragenden Vertretern fest und bekämpfte auch alte Weggefährten. Er nahm die politischen Fragen persönlich und warf sich existentiell in die Auseinandersetzungen. Der Rückgang auf Max Weber brachte deshalb in den 80er Jahren dann eine „wirkliche Befreiung“ von den Fronten und Grabenkämpfen nach 1968. Hennis entdeckte Weber als „politischen Erzieher“ neu und übernahm diese Rolle dann in zahlreichen wirkungsvollen Artikeln gegen das „System Kohl“. „Max Weber ist Hennis’ eigene Frage als Gestalt“ (238), schreibt Schlak am Ende zusammenfassend und bietet damit einen existentialistischen Schlüssel zu den Motiven der „hermeneutischen Leidenschaft“ und des polemischen Temperaments von Hennis’ Werk an. Schlak meint den Grenzgang zwischen Wissenschaft und Politik und bejaht das Pathos dieses Werkes, wohl auch sein topisches „Ethos“ gegen den konstruktivistischen Systembau des Gegenspielers Habermas. Schlak hütet sich aber, den Streit zwischen Antike und Moderne, alter und neuer Bundesrepublik, Hennis und Habermas theoretisch entscheiden zu wollen. Seine Darstellung ist auch nicht ohne Einwände. Heute historisieren die 1929er selbst die „lebhafte Kampfsituation“ der alten Bundesrepublik. Hans-Ulrich Wehler schilderte seine nationalsozialistische Sozialisation geradezu als Leistungsressource im Streit.1 Schlak wirft mit Hennis ein scharfes Gegenlicht zu diesem Siegestaumel und liefert in der dramatischen Zuspitzung eines Gigantenkampfes einen wesentlichen Beitrag zu den normativen Kämpfen um das Selbstverständnis der alten Bundesrepublik. Dabei folgt er ein Stück weit der biographischen Selbstbeschreibung von Hennis. Er nimmt das Leben 1 Hans-Ulrich Wehler, Eine lebhafte Kampfsituation. Ein Gespräch mit Manfred Hettling und Cornelius Torp, München 2006.

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aber in die bundesrepublikanische Geschichte zurück. Der revolutionäre Umbruch der Universitätskultur wird aus der Perspektive eines älteren Vertreters sichtbar. Im rhetorischen Schwung der Studie klingen einige tragische und tragikomische Untertöne an. Hennis wurde immer pessimistischer. Seine bitteren Sorgen und Enttäuschungen über den Weg der Bundesrepublik und ihrer Universitäten sollten vielfach zu denken geben. Schlaks Studie wurde von der überregionalen Tagespresse auch intensiv gewürdigt. Die polarisierende und positionierende Kraft von Hennis’ Werk zeigt sich noch in dieser Rezeption. Es zeigt wohl auch, wie wichtig der Politikwissenschaft politische Erzieher und Denker sind, die sich nicht nur an den benachbarten Kollegen und die nächste Besoldungsverhandlung richten, sondern die tagespolitische Auseinandersetzungen auf grundsätzliche Probleme durchleuchten und damit auch eine breitere politische Öffentlichkeit ansprechen und erreichen. Reinhard Mehring

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Friedrich der Große: Potsdamer Ausgabe, Werke, Bd. VI: Philosophische Schriften, hrsg. v. Anne Baillot/Brunhilde Wehinger, Berlin (Akademie Verlag) 2007, 524 Seiten. Friedrich der Große (1712–1786) stellte nicht nur als Herrscher eine Ausnahmeerscheinung dar, sondern ebenfalls als ein Schriftsteller, der sich keineswegs nur – wie vor ihm beispielsweise Kaiser Maximilian I., König Jakob I. von Großbritannien oder König Ludwig XIV. von Frankreich – als Gelegenheitsautor verstand, sondern der sich als „roi philosophe“ begriff, – als König und Philosoph zugleich, der konstant Anteil am geistigen und intellektuellen Leben seiner Zeit genommen hat, und dies zum einen als Rezipient, als leidenschaftlicher Leser mit überaus weit gespannten Interessen, und zum anderen als Autor, der fast ein halbes Jahrhundert lang eine Fülle von Schriften publiziert und auf diese Weise immer wieder in den geistigen Diskurs seiner Epoche und in die intellektuellen Debatten der führenden Geister seiner Zeit aktiv und sehr leidenschaftlich eingegriffen hat. Seine jahrzehntelange Freundschaft mit Voltaire ist allgemein bekannt, ebenso seine Tätigkeit als Politiker, Feldherr, aber besonders auch als innerer Reformer von Staat und Recht. Bereits diese Tatsachen haben bereits früher das allgemeine Interesse an seinen Schriften geweckt. Deren Überlieferungsgeschichte ist allerdings überaus kompliziert. Denn neben den gewissermaßen „offiziellen“ Ausgaben der Werke des Königs (der überdies gerne anonym zu bleiben pflegte) gab es eine Fülle von unautorisierten Drucken der diversen „Œuvres de Philosophe de Sans-Souci“ – manchmal auch, um den umstrittenen Monarchen vor der europäischen Öffentlichkeit in Misskredit zu bringen, etwa wegen seiner zahlreichen französischen Verse, von denen einige jedenfalls in französischen Augen einer unfreiwilligen Komik nicht entbehrt haben sollen. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts machte sich der Historiker Johann David Erdmann Preuß im Auftrag König Friedrich Wilhelms IV. daran, die schriftlichen Hinterlassenschaften des großen Königs zu sichten, zu sammeln und erstmals in einer zuverlässigen Edition im französischen Originaltext zu publizieren; diese umfangreiche, insgesamt dreißigbändige Werkausgabe1 enthält in fünf Abteilungen neben den „Œuvres historiques“, „Œuvres philosophiques“, „Œuvres poétiques“ und „Œuvres militaires“ auch in nicht weniger als zwölf Bänden eine Auswahl der immens umfangreichen „Correspondance“ des Königs. Die letztere erwies sich freilich bald als unzureichend und wurde durch eine – noch nach mehr als einhundert Jahren nicht vollständig vorliegende – vielbändige Ausgabe der „Politischen Correspondenz Friedrichs des Großen“ ergänzt2. Eine zehnbändige deutschsprachige Ausgabe der Schriften erschien noch im Kaiserreich3, und die besonders wichtigen, sehr umfangreichen politischen Testamente liegen mehrfach gedruckt vor, zuletzt in einer zuverlässigen 1 Œuvres de Fréderic le Grand, hrsg. v. J. D. E. Preuß, Bde. 1–30, Berlin 1846–1856. 2 Politische Correspondenz Friedrichs des Großen, [bearb. v. Reinhold Koser/ Albert Naudé/Kurt Treusch von Buttlar/Otto Hermann/Gustav Berthold Volz], Bde. 1–46, Berlin 1879–1939; Bd. 47, Köln 2003. 3 Die Werke Friedrichs des Großen, in deutscher Übersetzung hrsg. v. Gustav Berthold Volz, Bde. 1–10, Berlin 1912–1914.

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zweisprachigen Edition4. Kaum zu zählen sind die seit Mitte des 19. Jahrhunderts erschienenen Auswahlausgaben. Etwas übersichtlicher stellt sich die Geschichte der Deutungen der philosophischen und politischen Auffassungen des Preußenkönigs dar, die freilich stets überschattet blieb von der etwas zweifelhaften posthumen Karriere dieses Königs als einer deutschen nationalen Galionsfigur, zu der er sich, wenn überhaupt, nur sehr bedingt eignete. Nicht zufällig haben sich gerade manche der an der Universität Berlin lehrenden Philosophen mit dem Werk des Denkers von Sanssouci befasst, darunter ist zuerst Eduard Zeller zu nennen, dessen noch immer mit Gewinn zu lesende, 1886 erschienene Studie die bis heute umfangreichste Untersuchung zum Denken des Königs darstellt5. Nicht mehr aktuell ist allerdings Zellers zentrale Fragestellung, die bestrebt war, den königlichen Philosophen zuerst und vor allem in den Zusammenhang der deutschen Philosophie zwischen Leibniz und Kant einzuordnen. Sowohl stilistisch als auch in ihrem thematisch weit umfassenderen Zugriff überlegen zeigt sich Wilhelm Diltheys glänzende Studie zum Denkens des Königs, das hier bereits überzeugend in den weiteren Zusammenhang der deutschen und europäischen Aufklärung eingeordnet wird6, während Eduard Spranger in einer späteren Untersuchung erstmals umfassend den ideengeschichtlichen und politischen Gehalt der französischen Lyrik des Monarchen – der ebenfalls die Gattung des Lehrgedichts beherrschte – untersucht hat7. Nicht unerwähnt bleiben darf auch Friedrich Meineckes (ebenfalls in Berlin entstandene) berühmte Analyse des politischen Denkens dieses Königs im Rahmen seiner Untersuchungen über die Entstehung und Entwicklung der Staatsräson in der Neuzeit8. Neuere und neueste Studien zum Denken des Königs waren und sind bestrebt, ihn immer stärker im Zusammenhang nicht nur der deutschen, sondern vor allem der europäischen – eben der französischsprachigen – Aufklärung zu interpretieren9. Dieser Deutungslinie sind im 4 Richard Dietrich (Hrsg.), Die politischen Testamente der Hohenzollern (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Bd. 20), Köln/Wien 1986, hier S. 251–733. 5 Eduard Zeller, Friedrich der Große als Philosoph, Berlin 1886. 6 Wilhelm Dilthey, Friedrich der Große und die deutsche Aufklärung, in: derselbe: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Studien zur Geschichte des deutschen Geistes, 6. Aufl., Stuttgart/Göttingen 1992, S. 81–205. 7 Eduard Spranger, Der Philosoph von Sanssouci, Heidelberg 1962 (zuerst als Akademieabhandlung 1942 erschienen). 8 Friedrich Meinecke, Werke, Bd. I: Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, hrsg. v. Walther Hofer, 4. Aufl., München/Wien 1976, S. 321–400. 9 Siehe etwa Peter Baumgart, Naturrechtliche Vorstellungen in der Staatsauffassung Friedrichs des Großen, in: Humanismus und Naturrecht in Berlin-BrandenburgPreußen, hrsg. v. Hans Thieme (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 48), Berlin/New York 1979, S. 143–154; Horst Möller, Friedrich der Große und der Geist seiner Zeit, in: Analecta Fridericiana, hrsg. v. Johannes Kunisch (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 4), Berlin 1987, S. 55–74; Martin Fontius, Der Ort des „Roi philosophe“ in der Aufklärung, in: Friedrich II. und die europäische Aufklärung, hrsg. v. Martin Fontius (Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, N. F. Beiheft 4), Berlin 1999, S. 9–27; Hans-Christof Kraus, Friedrich der Große als Philosoph von Sanssouci, in: Macht-

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Großen und Ganzen auch die beiden wichtigsten neueren Biographien des Königs gefolgt, die Theodor Schieder und vor wenigen Jahren Johannes Kunisch vorgelegt haben10. Die überaus verdienstvolle neue Ausgabe der Schriften des Königs, deren erster Band nunmehr vorliegt, will sich ebenfalls in den Dienst einer vermeintlich neuen – bei näherem Hinsehen aber eben gar nicht mehr so neuen – Deutung des königlichen Philosophen stellen, denn die von den Herausgebern beabsichtigte, im Vorwort zur Gesamtausgabe programmatisch hervorgehobene „Kontextualisierung“ des Königs und seiner Ideen ist von der Forschung vielfach bereits geleistet worden; in der Tat ist für den Kenner vom „philosophischen Präzeptorenmantel des idealistischen 19. Jahrhunderts“ ebensowenig übrig geblieben wie von der „deutschnationale[n] Identifikationsfigur“ (7). Dennoch bleibt es in jedem Fall wichtig, die seit der ersten Ausgabe von 1846–56 nicht wieder aufgelegten, daher heute nur noch in größeren Bibliotheken verfügbaren französischen Originaltexte in einer zweisprachigen Ausgabe erneut zu präsentieren. Erfreulicherweise enthält die Ausgabe auch neue Übersetzungen, „um den Text sprachlich von anachronistischen rezeptionsgeschichtlichen Einbindungen zu befreien“ (ebd.), was in diesem Fall allerdings besonders notwendig erscheint. Die französischen Originaltexte wiederum sind ohne Veränderung der Textsubstanz unter Heranziehung muttersprachlicher Kompetenz in Schreibweise und Interpunktion behutsam modernisiert worden – in der, wie es im Vorwort ausdrücklich heißt, „für den Umgang mit Texten des 18. Jahrhunderts in Frankreich üblichen Weise“ (ebd.). Die neue Ausgabe ist auf insgesamt zwölf Bände angelegt. Der zuerst publizierte Band VI enthält die wichtigsten (wenngleich keineswegs alle) „Œuvres philosophiques“ des Monarchen, insgesamt sieben zentrale Texte, verfasst zwischen 1738 und 1770, in denen sich zugleich die geistige Entwicklung ihres Autors widerspiegelt. Noch ein wenig tastend und allzu sehr in gewissen frühaufklärerischen Illusionen verfangen erweist sich der jugendliche Verfasser der „Abhandlung über die Unschädlichkeit der Irrtümer des Geistes“ von 1738 (19–43), die in der Form einer philosophischen Erzählung dargeboten wird – hierin natürlich dem großen schriftstellerischen Vorbild Voltaire folgend. Als zweiter Text findet sich im Band der berühmte „Antimachiavel“ von 1740, die „Widerlegung des Fürsten von Machiavelli“ (45–259), der den bei weitem umfangreichsten Einzelbeitrag des Bandes darstellt. Im „Anti-Machiavel“ hat Friedrich – noch als Kronprinz, jedoch unmittelbar vor seiner Thronbesteigung – die vermeintlich „unmoralischen“ Grundsätze Machiavellis ganz im Stil der optimistischen Aufklärungsethik scharf zurückgewiesen und zugleich seine eigene Selbstdeutung als aufgeklärter Herrscher, d.h. als „erster Diener seines Staates“ („premier serviteur de l’état“) erstmals expliziert. Hinsichtlich ihrer Überlieferung ist diese Schrift, wie der Kenner weiß, für alle Editoren ein besonderes Problem, da Friedrichs Originalfassung nur zum Teil erhalten ist. Denn der Kronprinz hatte seinen Text an Voltaire geschickt, mit dem Auftrag, staat oder Kulturstaat? – Preußen ohne Legende, hrsg. v. Bernd Heidenreich/FrankLothar Kroll, Berlin 2002, S. 111–124. 10 Theodor Schieder, Friedrich der Große – Ein Königtum der Widersprüche, Berlin/Frankfurt a. M. 1996 (zuerst 1983); Johannes Kunisch, Friedrich der Große – Der König und seine Zeit, München 2004.

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das Manuskript vor allem stilistisch zu redigieren und anschließend zu veröffentlichen. Das tat Voltaire auch (sogar in gleich zwei, im September und Oktober 1740 in Den Haag erscheinenden Ausgaben), doch er nahm derart gravierende Eingriffe in den Text vor, dass der königliche Verfasser damit wiederum nicht einverstanden war. Friedrich tat alles, um die bereits gedruckten Exemplare wieder aus dem Handel zurückzuziehen, was ihm aber nicht vollständig gelungen ist. Jedenfalls wurde der „Anti-Machiavel“ vom damaligen Lesepublikum in der Voltaireschen Version rezipiert. Preuß hat denn auch, um dieses Faktum zu dokumentieren, in seiner Ausgabe der „Œuvres“ des Königs einfach beide Fassungen hintereinander abgedruckt11. Die Herausgeber der neuen Friedrich-Ausgabe haben sich für eine verbesserte und ergänzte Version der bereits von Preuß rekonstruierten Friedrichschen „Fassung letzter Hand“ des Textes entschieden – und diese Entscheidung ist in jedem Fall nachvollziehbar, denn in der neuen Ausgabe geht es vorrangig um eine Rekonstruktion der Gedanken und Ideen des Königs selbst und weniger um die zeitgenössische Wirkungsgeschichte seines Textes. Außerdem steht eine Neuedition der Voltaireschen Fassung im Rahmen der großen Oxforder Voltaire-Ausgabe seit mehr als einem Jahrzehnt zur Verfügung12. Ob Friedrich nun allerdings, wie der Kommentar suggeriert, die von Voltaire verantworteten Ausgaben nur wegen dessen eigenwilliger Textgestaltung zurückzog (419), oder weil er – inzwischen auf dem Königsthron – mit seinem kriegerischen Einfall in Schlesien soeben eine durchaus „machiavellistische“ Politik zu praktizieren begann, darüber ließe sich wohl diskutieren. Als höchst beachtlich darf schließlich Friedrichs Akademieschrift „Abhandlung über die Gründe, Gesetze einzuführen oder abzuschaffen“ (261–303) gelten, die er 1749 publizierte, im Friedensjahrzehnt zwischen dem zweiten Schlesischen und dem Siebenjährigen Krieg. Beachtlich deshalb, weil sich hier, bei allem aufgeklärten Optimismus, erste Risse im früher allzu idealistischen Bild von den Menschen und ihrer Geschichte offenbaren. Bemerkenswert die folgenden Reflexionen, mit denen der Monarch die Grenzen menschlicher Perfektibilität im Bereich des Politischen anschaulich umschreibt: „Das Meisterwerk menschlichen Geistes wäre im Bereich der Regierungskunst ein Korpus vollkommener Gesetze. Man müsste darin die Einheit des Plans und so genaue und aufeinander abgestimmte Regeln vorfinden, dass ein Staat, der nach diesen Gesetzen regiert würde, einem Uhrwerk gliche, in dem alle Triebfedern auf ein und dasselbe Ziel ausgerichtet sind. Man fände in ihm eine tiefe Kenntnis des menschlichen Herzens und des Geistes der Nation vor. Die Strafen wären maßvoll, und zwar so, dass sie die guten Sitten erhielten und dabei weder zu mild noch zu streng wären. Klare und genaue Anordnungen gäben niemals Anlass zu Streitfällen; sie beständen in einer erlesenen Auswahl aus all dem, was die bürgerlichen Gesetze an Bestem aufzuweisen haben, sowie in einer klugen und einfachen Anwendung dieser Gesetze auf die Bräuche der Nation. Alles wäre vorausgesehen, alles aufeinander abgestimmt, und nichts würde zu Unzuträglichkeiten führen; doch das Vollkommene gehört nicht in die Sphäre der Menschheit“ (287). Hierzu passt Friedrichs abschließendes Resümee, das in der Bemerkung gipfelt, gerade derjenige handele als ein besonders vernünftiger Mensch (und Herrscher), der 11

Œuvres de Frédéric le Grand (wie Anm. 1), Bd. 8, S. 59–162 und 163–299. Œuvres complètes de Voltaire/Complete Works of Voltaire, Bd. 19, hrsg. v. Werner Bahner, Oxford 1996. 12

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„Nachsicht mit den menschlichen Schwächen“ (303) habe, indem er allzu drakonische Strafen vermeide, dafür aber gute Taten besonders belohne. Die vier übrigen Abhandlungen des Königs, die in Band VI der neuen Ausgabe enthalten sind, widmen sich ausnahmslos spezielleren Problemen: zuerst ist zu nennen das „Vorwort zum Auszug aus dem historisch-kritischen Wörterbuch von Bayle“ (305–313), den Friedrich überaus schätzte und dessen Ideen er – in der Form einer von ihm selbst arrangierten Textanthologie – dem gebildeten Publikum näher bringen wollte, sodann der „Versuch über die Eigenliebe, als Grundsatz der Moral betrachtet“ (315–337), in dem der königliche Verfasser ein Lieblingsthema der populären Aufklärung aufgreift und auf seine Weise variiert, sodann endlich zwei spätere Texte, beide 1770 entstanden, in denen sich Friedrich überaus kritisch mit bestimmten Positionen der radikalen französischen Spätaufklärung auseinandersetzt. Es sind zwei Kampfschriften des ursprünglich aus Deutschland stammenden Paul-Henri Thiry d’Holbach, denen sich der König in seiner „Prüfung des Versuchs über die Vorurteile“ (339–379) und seiner „Kritische[n] Überprüfung des Systems der Natur“ (381–407) gewidmet hat. Mit leidenschaftlicher Anteilnahme und einer im Ausdruck kaum zu überbietender Schärfe stellt sich der Autor der Monarchiekritik entgegen, die d’Holbach verkündet. Seinen früheren Optimismus hat Friedrich dabei allerdings, wie man bereits dem Tonfall dieser letzten Schriften entnehmen kann, verloren; die Positionen der radikalen Aufklärer dürften ihn in mehr als einer Hinsicht durchaus erschreckt haben. Vehement weist er d’Holbachs Kritik an der erblichen Monarchie zurück, indem er auf die negativen Erfahrungen mit der schwachen Wahlmonarchie und der republikanischen Staatsform verweist. „Hält man sich für erleuchtet genug, die Öffentlichkeit aufklären zu können“, heißt es am Schluss, „muss man sich vor allem davor hüten, Heilmittel vorzuschlagen, die schlimmer sind als die Übel, über die geklagt wird. Und wenn man es nicht besser machen kann, sollte man sich an die alten Bräuche und insbesondere an die bestehenden Gesetze halten“ (407). Das klingt allerdings nicht mehr wie Montesquieu, auch nicht wie Voltaire und schon gar nicht mehr wie Bayle – sondern bereits wie Burke. Es scheint, als ob Friedrich der Große die beginnende Abenddämmerung des Ancien Régime und den Vorschein der genau zwei Jahrzehnte später ausbrechenden Revolution genauer wahrgenommen hat als mancher andere Zeitgenosse, zumal in Deutschland. Der von Vernunft und Redlichkeit geleitete, seinem Volk als „erster Diener“ zur Verfügung stehende, sich selbstlos für den Staat und seine Menschen einsetzende Herrscher bedeutete für ihn das Ideal einer guten, im besten Sinne „aufgeklärten“, also „erleuchteten“ politischen Ordnung, wie er in anderen Schriften seiner späten Jahre (etwa der Abhandlung „Regierungsformen und Herrscherpflichten“ von 1777) mehr als einmal dargelegt hat. Dass die Entwicklung der Zeit über ihn selbst und seine Ideen hinweggehen könnte, hat er – vielleicht – geahnt. Aber hier bewegt sich der heutige Betrachter bereits im Bereich der Spekulation. Als eher unspekulatives, dafür aber höchst verdienstvolles Unternehmen darf die neue Friedrich-Ausgabe angesehen werden, die nicht zuletzt wegen ihrer vorzüglichen äußeren Ausstattung, ihres angenehmen Druckbildes und besonders auch wegen ihres exzellenten, reichhaltig-informativen und stets kompetenten Kommentars großes Lob verdient. Es bleibt zu hoffen, dass die weiteren Bände der „Potsdamer Ausgabe“ von den fleißigen Editoren in rascher Folge der Fachwelt und der interessierten Öffentlichkeit vorgelegt werden. Hans-Christof Kraus

Platons Nomoi: Die Ansprache an die Siedler – Populärphilosophie für die breite Masse* (715e7–734e2) Von Sarah Hegenbart In seinem letzten Dialog Nomoi entwirft Platon ausführliche Gesetze für den noch zu gründenden Staat Magnesia. Aber warum brauchen wir überhaupt Gesetze? Ist es nicht ausreichend, dass ein Individuum sich an seiner Vernunft orientiert und durch seine logos-Zentriertheit nach einer Erkenntnis der reinen Ideen strebt? Widerspricht die Einführung von Gesetzen, die exemplarischen Charakter haben und damit gleichsam kasuistisch auf bestimmte Problemfälle angewandt werden können, nicht der Platonischen Forderung nach der Erkenntnis von allgemeinen und abstrakten Ideen, die sich allein durch die autonome Vernunfttätigkeit des Individuums offenbaren? Nehmen Gesetze dem Individuum durch ihren präskriptiven Charakter nicht die Verantwortung zur eigenständigen Reflexion ab? Mit solchen und ähnlichen Fragen sieht sich der Leser von Platons Spätwerk Nomoi konfrontiert. Was veranlasst Platon einen Gesetzesstaat zu beschreiben? Denn im Gegensatz zu dieser Aussage hat er in Politeia doch noch die Alleinherrschaft der Vernunft intendiert und dementsprechend konstatiert, dass er gar nicht erst versuchen würde „Gesetze zu geben“ (Pol. 425c10), da die rechten und tüchtigen Männer „sie leicht selbst finden“ (Pol. 425e1). Um diese Fragen beantworten zu können, möchte ich das Proömium zu dem in den Nomoi formulierten Gesetzeswerk analysieren. Meines Erachtens stellt diese Ansprache an die fiktiven Siedler des neuen Staates Magnesia einen Schlüssel zum Verständnis der Bedeutung der Nomoi dar. Für diese Analyse erachte ich einen Rekurs auf Platons Politeia als sinnvoll, um die Unterschiede der beiden Staatsentwürfe herauszuarbeiten. Diese Kontrastierung resultiert in der Begründung meiner These, dass in den Nomoi der Öffentlichkeit eine viel größere Bedeutung zukommt als in der Politeia. I. Kurze Inhaltsübersicht Während der Wanderung von der Stadt Knossos auf Kreta zur Grotte und zum Heiligtum des Zeus entwickelt sich zwischen dem Kreter Kleinias, dem Spartaner Megillos und dem Athener, der Platonisches Gedankengut vertritt, ein langes Gespräch über die Bedeutung der Staatsverfassungen und der Gesetze. Die Gesprächs* Dieser Text wurde als Replik auf den Beitrag von Volker Gerhardt in den Band aufgenommen.

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partner stimmen darin überein, dass der Gesetzgeber mit den Gesetzen die Ausübung der Tugend in dem Staat intendiert (vgl. Nom. 631a3–4). Nach einer Erörterung der Tugenden und einer historischen Reflexion über politische Organisationen wollen die Gesprächspartner ihre bisherigen Ausführungen an einem Beispiel prüfen. Kleinias berichtet von dem Vorhaben Kreters, eine „Kolonie zu gründen“ (Nom. 702c4). Für diesen neuen Staat, der in Nomoi IX (860e7) als „Staat der Magneten“1 bezeichnet wird, soll nun exemplarisch eine Gesetzgebung entwickelt werden. Im vierten Buch der Nomoi werden zunächst die äußeren Gegebenheiten des neuen Staates dargelegt und konstatiert, dass sich dieser Staat unter einem Tyrannen am besten verwirklichen lässt. Die Verfassung des neuen Staates wird metaphorisch durch den Kronos-Mythos dargelegt. Kronos erkannte, dass „keine einzige menschliche Natur fähig ist, in eigener Machtvollkommenheit alle menschlichen Angelegenheiten zu verwalten“ (Nom. 713c5–7), weshalb er die Staaten von „Wesen göttlicheren und besseren Ursprungs [als den Menschen], nämlich Dämonen“ (Nom. 713d1–2) beherrschen ließ. Dementsprechend muss auch in Magnesia etwas Göttliches herrschen. Dieses Göttliche ist das Gesetz. Von der Einhaltung der Gesetze hängt demgemäß das Wohlergehen eines Staates ab. Vor der Etablierung der Gesetze beginnt der Athener mit einer Ansprache an die fingierten Siedler des neuen Staates.

II. Die Ansprache an die Siedler: das Proömium zum Gesetzeswerk Die Ansprache an die Siedler wird hauptsächlich von dem namenlosen Athener formuliert. Im Gegensatz zur Gesprächsführung in den klassischen Dialogen, behandelt er seine Gesprächspartner keineswegs als Gegner, sondern äußerst rücksichtsund respektvoll. Durch seine Anonymität bietet die Figur des Atheners Platon die Möglichkeit, so frei wie in keinem anderen Dialog seine eigene Meinung zu offenbaren2. Der Athener verdeutlicht somit nicht nur „Platons positive Einschätzung des Athenischen“, sondern vor allem das „Element der Vergeistigung“ und die „platonische Philosophie“3. Im Gespräch mit Kleinias und Megillos, die seine geistige Überlegenheit respektieren, lässt er sich auf den „Standpunkt des Durchschnittsmenschen“4 herab. Kleinias und Megillos, die keine philosophischen Kenntnisse aufweisen, können somit als typische Vertreter der zukünftigen Bürger Magnesias interpretiert werden. Die Art und Weise, in der der Athener das Gespräch führt, exemplifiziert somit gleichsam das Verhalten, das der Gesetzgeber den Bürgern gegenüber einnehmen soll. Im Gegensatz zu den früheren Dialogen Platons, die die vernünftige Überzeugung der Gesprächsteilnehmer durch philosophische Argumente intendieren, 1 Diese Namensgebung rekurriert auf die alte kretische Siedlung Magnesia. Eine lange zurückliegende Auswanderung „hat diesen Landstrich seit unvordenklicher Zeit verödet“ (Nom. 704c6–7). Morrow weist darauf hin, dass Platon mit Magnesia auf einen „definite place in southern Crete“ (Morrow, 1993, S. 30) Bezug nimmt. 2 Vgl. Morrow, 1993, S. 74. 3 Görgemanns, 1960, S. 77. 4 Ibidem.

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scheint in den Nomoi für den Gesetzgeber die bloße Überredung (peitho) der Bürger zur Einhaltung der Gesetze ausreichend zu sein. 1. Deus mensura est (Nom. 715e7–718a6) Die Ansprache beginnt damit, dass der Athener einen orphischen Spruch anführt, der besagt, dass der Gott, der „Anfang und Ende und die Mitte alles dessen, was ist, in Händen hat“ (Nom. 715e7–716a) auf geradem Wege zum Ziel geht, wobei ihm stets „die Gerechtigkeit als Rächerin“ (Nom. 716a2–3) für diejenigen folgt, die hinter dem Gesetz zurückbleiben. Dementsprechend solle der Verständige „dem Gotte folgen“ (Nom. 716b8–9). Das Gesetz wird so gleichsam durch den Gott legitimiert, da dieser, der Anfang alles ist, die letzte Begründung des Gesetzes darstellt. Diese geschickte Rhetorik impliziert, dass die Siedler das Gesetz als gut hinnehmen müssen und nicht kritisch hinterfragen dürfen, da „das Göttliche ausschließlich als gut“5 anzuerkennen ist. Es ist fraglich, ob die Staatsgründer dieselbe Gesetzesachtung erzeugen könnten, wenn sie die Gesetze als von Menschen gegeben darstellen würden. Im gewissen Sinne herrscht in Magnesia somit eine Form der Theokratie, die sich auch dadurch ausdrückt, dass alle Formen der Gottesverehrung als konstitutiv für ein glückliches Leben (vgl. Nom. 716d8–e1) dargestellt werden. Der ideale Staatsbürger soll anstreben, dem Gott möglichst ähnlich zu werden, da das „Ähnliche dem Ähnlichen, wenn es Maß hält, lieb ist“ (Nom. 716c2–39). Die Legitimierung der Verfassung durch Gott kulminiert in der Aussage, dass die Gottheit „das Maß aller Dinge“ (Nom. 716c4–5) ist. Diese deus-mensura-Forderung steht im völligen Gegensatz zum homo-mensura-Satz des Sophisten Protagoras. Protagoras wandte sich mit dieser Aussage gegen eine absolute Vorstellung von Wahrheit, die nur den Göttern zugänglich ist, und setzte diesen Satz somit als Strategie ein, um „die Kompetenz zur Beurteilung von Wahrheit für den durchschnittlichen Menschen zurückzugewinnen“6. Es ist verständlich, dass die Staatsgründer von Magnesia gerade diese Kompetenz des Menschen nicht betonen wollen. So beabsichtigen sie mit ihrer Vorrede vielmehr, die Akzeptanz der breiten Masse für bereits etablierte Gesetze zu gewinnen. Mit diesem Anspruch kontrastiert das Proömium mit der Politeia, die sich die Aufgabe stellt möglichst viele Bewohner der Höhle zum Licht der Erkenntnis zu führen, das heißt einen möglichst hohen Grad der Erkenntnis bei den Bürgern zu erreichen. Diesen Anspruch scheinen die Nomoi aufgegeben zu haben. Im Gegensatz zur Politeia richtet sich das Proömium eher an einen philosophisch ungebildeten Adressatenkreis, der höchstwahrscheinlich gar nicht dazu in der Lage wäre, durch vernunftgeleitete Reflexion bestimmte Gesetze als gut zu erkennen. Dementsprechend kann und darf der Durchschnittsmensch, an den sich diese Ansprache richtet, nicht das Maß aller Dinge für ein wohlgeordnetes Staatswesen sein, da er durch seine Konstitution gar nicht dazu in der Lage ist, autonom und mit Vertrauen auf die eigene Vernunft am Staatswesen zu partizipieren oder es gar zu leiten bzw. überhaupt erst zu etablieren. 5 6

Seubert, 2005, S. 504. Rapp, 2007, S. 215.

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Die Gesetze nehmen dem Siedler somit die Verantwortung der autonomen Vernunfttätigkeit ab und leiten stattdessen sein Handeln durch bereits etablierte Gesetze. Indem diese Gesetze durch das Göttliche legitimiert werden, wird dem Bürger suggeriert, dass diese gut sind und dass er sich mit bestem Gewissen auf diese Gesetze verlassen kann. Ob mit dem Gott nun eine bestimmte Instanz gemeint ist, ist fraglich. Naheliegender erscheint es, dass das Göttliche metaphorisch für den alles durchdringenden logos steht. Dieser logos soll sich nun in den Gesetzen offenbaren, die als Grundlage für das neue Staatswesen dienen: Magnesia ist somit eine Nomokratie. 2. Der Sinn des Proömiums (Einschub Nom. 718a7–724b5) Die Vorrede wird nun durch einen kurzen Einschub unterbrochen, in dem die Gesprächspartner Reflexionen darüber anstellen, warum die Gesetzgebung überhaupt ein Gesetzesproömium erfordert. Diese Reflexion korreliert mit der Tatsache, dass die Wanderer bereits zu einem „wunderschönen Ruheplätzchen“ (Nom. 722c8–9) gelangt sind und es schon Mittag geworden ist, so dass sie den ganzen Vormittag lediglich damit verbracht haben, eine Vorrede zu den Gesetzen zu formulieren. Aus dieser Beobachtung schließt der Athener, dass es „zu allen Reden [. . .] Einleitungen und gleichsam gewisse Bewegungsübungen gibt, die eine kunstgemäße Vorbereitung darstellen, die recht nützlich für den darauf folgenden Vortrag ist“ (Nom. 722d3–6). Dennoch habe „bei den wirklichen Gesetzen dagegen, die wir ja Staatsgesetze nennen, [. . .] noch niemand jemals von einer Vorrede gesprochen“ (Nom. 722e1–3)7. Im Folgenden etabliert der Athener nun die Vorrede als Alternative zu den zwei anderen Mitteln, die bei der Gesetzgebung angewandt werden können: nämlich „Überredung und Gewalt“ (Nom. 722b6–7). Diese zwei Verfahren hat der Athener zuvor anhand zweier Beispiele veranschaulicht. a) Der Ärztevergleich – Überredung durch logon didonai (Nom. 720b9–e5) In diesem Beispiel vergleicht Platon einen Sklavenarzt, der dem zu behandelnden Sklaven keine Begründung für seine Krankheit gibt und ihn „eigenmächtig wie ein Tyrann“ (Nom. 720c6–7) behandelt, mit einem freien Arzt, der einem Kranken nicht eher etwas verordnet „bis er ihn irgendwie davon überzeugt hat“8 (Nom. 720d7). Dieses Beispiel scheint ganz in der Tradition des Platonischen logon didonai zu stehen. Im Unterschied zum „sophistischen Zauberspiel mit Worten“9 steht diese 7 Platon kann somit als der Begründer des Gesetzesproömium gelten. Görgemanns weist darauf hin, dass die Proömien, die Zaleukos und Charondas zu ihren Gesetzen geschrieben haben sollen, „nachplatonische Fälschungen“ (Görgemanns, 1993, S. 52) sind. 8 An dieser Stelle verwendet Platon sympeitho und nicht etwa logon didonai. Das heißt, dass es nicht darauf ankommt, dass der Patient wirklich durch Gründe von etwas überzeugt worden ist. Vielmehr soll er lediglich auf irgendeine Weise zur Behandlung willig gemacht werden. 9 Bubner, 2002, S. 48.

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„Examination durch Rechenschaftgeben“10, durch die im Dialog versucht wird, sich der Wahrheit zu nähern. Das Ziel des Dialogs ist dabei stets die Erkenntnis der Ideen durch die Vernunft. Meines Erachtens unterscheidet sich das an dieser Stelle angeführte Beispiel aber darin von dem üblichen sokratischen Dialog, dass in diesem Vergleich das logon didonai für einen bestimmten Zweck instrumentalisiert wird und nicht mehr allein für die vernünftige Erkenntnis angewandt wird. So beabsichtigt der Arzt nämlich lediglich, eine möglichst gute Wirkung zu erzielen. Da die Methode des Sklavenarztes „den Kranken nur noch widerspenstiger macht“ (Nom. 720e3–4), scheint sie keine attraktive Methode zur Erreichung dieses Ziels zu sein. Dementsprechend ist es sinnvoller, den Kranken durch Überredung willig zu machen. Dieses Beispiel verdeutlicht somit, wie der Gesetzgeber leichter sein Ziel erreichen kann. Durch eine Angabe von Gründen soll er die Bürger von seinen Gesetzen überzeugen. Allerdings ist damit nicht garantiert, dass die Bürger durch das Nachvollziehen dieser Gründe wirklich zu einer vernünftigen Erkenntnis gelangen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass die Bürger lediglich zu einem bestimmten Glauben bzw. einem Für-wahr-Halten dieser Gründe (pistis) oder zu einer richtigen Meinung (doxa) von den Gesetzen geführt werden. Somit vertritt der Gesetzgeber keinen Aufklärungsanspruch, sondern verfolgt lediglich das Ziel, eine möglichst große Zustimmung bei der breiten Masse für seine Gesetze zu gewinnen. Damit unterscheidet sich dessen Intention deutlich von dem Philosophenherrscher der Politeia, der nach der Erkenntnis der Ideen dazu aufgefordert ist, in die Höhle zurückzukehren, um die Höhlenbewohner, die noch ungebildet sind, aufzuklären. Das logon didonai hat in dem Proömium somit nicht die epistemologische Funktion zur höchsten Form der Erkenntnis (sophia, epistêmê) zu führen, sondern stellt lediglich eine politische Rhetorik dar, die zur Einhaltung der Gesetze überreden will. b) Die Ehegesetzgebung – Gewaltanwendung ist erlaubt Anhand der Ehegesetzgebung verdeutlicht der Athener, dass „eine Vereinigung von Überredung und Drohung im Gesetz große Vorteile hat“11. Dafür trägt er zwei Formen der Gesetzgebung vor, wovon eine doppelt so lang wie die andere ist und dementsprechend eine detailliertere Erläuterung des Gesetzes sowie eine ausführlichere Beschreibung der Sanktionen, die bei Nichteinhaltung des Gesetzes erfolgen, enthält. Sowohl Kleinias als auch Megillos stimmen zu, dass die längere Form der Gesetzgebung der einfachen Fassung vorzuziehen ist. Daraufhin konstatiert der Athener, dass die meisten Gesetzgeber sich bloß auf reine Gewalt stützen. Sinnvoller sei aber eine Mischung des Zwangs mit der Überredung. Allerdings stellt er gleich in Frage, ob die Überredung „bei einer Masse ohne Bildung“ (Nom. 722b7) überhaupt möglich sei. Als Alternative zu diesen beiden Verfahren, Überredung und Gewalt, führt der Athener nun die Einleitung der Gesetze durch eine Vorrede ein.

10 11

Ibidem. Görgemanns, 1993, S. 37.

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Sarah Hegenbart c) Das Proömium als alternative Methode der Gesetzgebung

Das Ziel der gesamten Gesetzgebung besteht darin, die Bürger „möglichst willig zur Tugend“ (Nom. 718c8–9) zu machen. Falls es weder durch Überredung noch durch Gewalt gelingt, die Bürger von den Gesetzen zu überzeugen, bietet sich als dritte Möglichkeit eine populärphilosophische Methode an. Durch eine Vorrede zu den Gesetzen soll auch bei Nichtphilosophen die Einsicht erzeugt werden, dass die Einhaltung der Gesetze sinnvoll ist. Dafür werden philosophische Erkenntnisse auf einem für die breite Masse verständlichem Niveau vermittelt. Die Vorrede erfüllt somit die Funktion, dass auch eine „rohe Seele“ (Nom. 718d3) so disponiert wird, dass sie die Gesetze anerkennt. Dementsprechend sollen durch die Vorrede die Gesetze auf einem für die breite Öffentlichkeit verständlichem Niveau legitimiert werden. Ein derartig gestaltetes Legitimierungsverfahren erlaubt der breiten Öffentlichkeit die Partizipation am Staatswesen, da in den Nomoi im Gegensatz zur Politeia ein geringeres Vernunftvermögen kein Ausschlusskriterium für die Teilnahme an der Politik ist. Mit Bezugnahme auf Hesiod bemerkt Platon äußerst realistisch, dass „die Zahl derer, die danach trachten, so gut wie nur möglich“ (Nom. 718d7–8) zu werden, nicht sehr groß ist. Um trotzdem das tugendgemäße Handeln in einem Staat zu fördern, bedarf es der Gesetze, damit auch die Ungebildeten und nicht von Natur aus Guten die Möglichkeit zu tugendhaftem Handeln haben. Die Gesetze bieten somit eine Orientierungshilfe, die tugendgemäßes Handeln auch denjenigen ermöglicht, die nicht dazu in der Lage sind durch autonome Vernunfttätigkeit zu erkennen, was Tugend überhaupt ist. Die Vorrede ähnelt dabei gleichsam einer Werbung für die Gesetze. Sie soll die Attraktivität der Gesetze erhöhen und bereitet auf die Verkündigung der Gesetze durch den Gesetzgeber vor, so dass die Gesetze „wohlwollend und infolge dieses Wohlwollens mit größerer Lernbereitschaft“ (Nom. 723a7–8) aufgenommen werden. 3. Fortsetzung der Ansprache an die Siedler (Nom. 726a1–734e2) Die Ansprache an die Siedler wird nun fortgesetzt, wobei betont wird, dass nach den Göttern „die Seele das göttlichste“ (Nom. 726a6) Eigentum des Menschen darstelle. Dementsprechend müsse der Mensch sie durch sein Handeln auch ehren. Charakteristisch für eine angemessene Ehre ist „dem Besseren zu folgen und das Schlechtere, das jedoch der Besserung fähig ist, zu eben diesem Ziel hinzuführen, so gut es möglich ist“ (Nom. 728c8–11). Die Gesetze können dabei als eine Art Orientierungshilfe fungieren, wobei deren Einhaltung zum Besseren führt. Die Öffentlichkeit, in der sich das gute Handeln vollzieht, erfüllt dabei die Funktion eines Korrektivs. Durch öffentliches Handeln wird gutes Handeln gleichsam als Vorbild für die breite Masse etabliert. Gleichzeitig werden schlechte Handlungen durch Zurechtweisungen korrigiert (vgl. Nom. 729c3–7). Somit soll die Kontinuität guter Handlungen garantiert werden. Im Folgenden werden Pflichten für die zukünftigen Bürger Magnesias formuliert (vgl. Nom. 729b1–730a11). Nach der Beschreibung wichtiger staatsbürgerlicher Charaktereigenschaften und des richtigen Verhaltens in Glück und Unglück wird die Attraktivität ethischen Handelns durch die Feststellung betont, dass „ein Leben, das mit

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Tüchtigkeit an Leib oder auch an Seele verbunden ist [. . .], den, der es besitzt, im ganzen glücklicher leben lässt als das entgegengesetzte Leben“ (Nom. 734d6–e2). Nun folgt die Überleitung zu der Gesetzgebung für den neu zu gründenden Staat Magnesia. III. Das divergierende Verständnis von Öffentlichkeit in Politeia und Nomoi „Wenn allerdings einmal durch göttliche Fügung ein Mensch mit jener natürlichen Fähigkeit geboren würde und imstande wäre, eine solche Machtstellung zu erlangen, so brauchte er keinerlei Gesetze, die über ihn herrschen müssten. Denn dem Wissen ist kein Gesetz und keine Ordnung überlegen; und es widerspräche auch der göttlichen Satzung, wenn die Vernunft etwas anderem untertan und dessen Sklavin wäre, sondern sie muss über alles herrschen, sofern sie wirklich in ihrem Wesen wahrhaft und frei ist. Nun aber findet sich ja doch nirgends eine solche Fähigkeit, es sei denn in geringem Maße; darum gilt es das Zweitbeste zu wählen, die Ordnung und das Gesetz, die zwar die häufigsten Fälle ins Auge fassen und berücksichtigen, aber natürlich nicht alles überschauen können.“ (Nom. 875c4–d6) Mit dieser realistischen Einschätzung des Menschen begründet Platon in Nomoi IX, warum Menschen Gesetze benötigen. Würden die Menschen allein ihrer Vernunft folgen und somit den Göttern, durch die die Gesetze legitimiert werden, sehr ähnlich sein, bedürften sie keiner Anleitung durch die Gesetze. Denn die Alleinherrschaft der Vernunft, wie sie in Politeia durch den Philosophenherrscher exemplifiziert wird, ist allen anderen Herrschaftsformen überlegen. In seinem Spätwerk stellt Platon, möglicherweise ernüchtert durch seine Erfahrungen in Sizilien12, fest, dass es eine solche Fähigkeit zur autonomen Vernunftherrschaft nur selten gebe. Dementsprechend muss das Zweitbeste gewählt werden: der Gesetzesstaat. Der in den Nomoi beschriebene Staat stellt somit die zweitbeste Lösung dar, wenn die Politeia nicht verwirklicht werden kann. Im Gegensatz zur Politeia wird aber im Nomoi-Staat ein viel größeres Maß an Öffentlichkeit realisiert. In der Politeia sind die Ideen eigentlich dasjenige, das offenbart werden soll. Ideenerkenntnis ist a-lêtheia, das heißt unverborgenes Sein13. Nur die Ideen haben Bestand und sind somit dasjenige, das für die breite Öffentlichkeit Relevanz haben soll. Jegliche Entität, die einen minderen ontologischen Rang als die a-lêtheia hat, soll gar nicht öffentlich werden. Sie ist verborgen und soll dies auch bleiben, weil ihr propositionaler Gehalt nicht für die Öffentlichkeit gedacht ist. Durch ihren Mangel an Wahrheit ist es sinnlos, sie zu offenbaren. Sie könnte für die Öffentlichkeit keine Funktion erfüllen. Nur die Ideen haben eine öffentliche Funktion, da sie das öffentliche Leben bestmöglich ordnen und ihre Erkenntnis zu einer Beförderung der Tugend führt. Der Idealfall besteht also darin, dass in der Öffentlichkeit die Ideen realisiert werden, was wiederum eine Erkenntnis der Ideen voraussetzt. Leider bringen nur wenige Individuen die Voraussetzung zur Erkenntnis der Ideen mit. Das heißt, lediglich die Philosophen können in der Politeia die Öffentlichkeit reprä12 13

Vgl. hierzu v. Fritz, 1968. Vgl. Heidegger, 1976.

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sentieren und versuchen die Ideen sichtbar zu machen. Die breite Masse jedoch wird nie dazu in der Lage sein aus der Höhle zum Licht der Erkenntnis zu steigen. Dementsprechend vegetiert sie im Verborgenen, am Boden der Höhle, vor sich hin. In der Politeia wird die Öffentlichkeit somit von wenigen Philosophen gebildet. Diese Tatsache möchte Platon durch den in den Nomoi entworfenen Staat ändern. Indem ich ihre epistemologische, gesellschaftliche, ontologische, pädagogische und politische Relevanz darstelle, möchte ich skizzieren, inwiefern die Gesetze eine breite Öffentlichkeit konstituieren und es somit einer größeren Anzahl von Bürgern ermöglichen an der Politik zu partizipieren. Gleichzeitig möchte ich aber auch auf die Nachteile des Gesetzesstaates gegenüber dem Vernunftstaat der Politeia hinweisen. 1. Epistemologisch Nomos (Gesetz) und noos (Vernunft) sind nicht nur sprachlich miteinander verwandt, sondern auch epistemisch miteinander verknüpft. Gesetze sind gleichsam das Abbild der Vernunft, das sich in der Welt der Erscheinungen manifestiert. Sie veranschaulichen somit die Erkenntnisse der Vernunft auf einem für die breite Masse verständlichem Niveau. Das heißt, die breite Masse muss nicht bis zur Erkenntnis der Ideen gelangen, was ihr möglicherweise durch ihre eingeschränkte vernünftige Disposition auch gar nicht möglich wäre. Stattdessen bekommt sie durch die Gesetze auf verständliche Weise mitgeteilt, was die Ideenerkenntnis für praktisches Handeln bedeutet. Dementsprechend exemplifizieren die Gesetze, wie die Vernunftherrschaft bei bestimmten Fällen vorgehen würde. Gesetze garantieren somit einen Minimalstandard an Tugend. Denn es muss nicht jedes Individuum selbst bis zur Idee des Guten gelangen um zu erkennen, was tugendgemäßes Handeln ausmacht. Statt des Aufstiegs zu den reinen Ideen kann sich die breite Masse einfach an den Gesetzen orientieren, die gleichsam eine epistemische Hilfestellung darstellen. Der Nachteil der Gesetze besteht aber darin, dass sie dem Einzelnen die Aufgabe zur autonomen Reflexion über Handlungen abnehmen und damit gleichsam einem Aufstieg bis zu den reinen Ideen entgegenwirken. Warum soll sich das Individuum noch bemühen zur eigenständigen Vernunfterkenntnis zu gelangen, wenn die Gesetze ihm doch für sein praktisches Leben eine äußerst zufriedenstellende Orientierungshilfe bieten? An dieser Stelle wird auch die Diskrepanz des Anspruchs von Politeia und Nomoi deutlich. So besteht das Ziel der Politeia in der Erkenntnis der Wahrheit. Hingegen intendieren die Nomoi lediglich die Befolgung der Gesetze durch die Bürger mit dem Ziel, dass die Tugenden in dem Staat bestmöglich verwirklich werden. 2. Gesellschaftlich Die gesellschaftliche Relevanz der Gesetze besteht darin, dass sich Menschen mit geringerer Vernunft nun nicht mehr beherrschen lassen müssen. Durch die Gesetze wird ihnen das öffentliche Recht bekannt gemacht, auf das sie sich nun jederzeit berufen können. Die gesellschaftliche Stellung der Ungebildeten wird somit ge-

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stärkt, wobei sich die Frage stellt, ob diese Stärkung wirklich von Interesse für das Allgemeinwohl ist. Der Nomoi-Staat weist somit wesentlich egalitärere Züge auf als die Politeia. Eine weitere gesellschaftliche Funktion der Gesetze besteht meines Erachtens darin, dass sie überhaupt erst öffentliches Handeln ermöglichen, da sie einen interindividuellen Zusammenhang manifestieren. Das heißt, das Individuum kann nun überhaupt erst öffentlich handeln, da sein Handeln durch Gesetze legitimiert wird. Das Individuum handelt somit nicht mehr nur in Bezug auf bestimmte ihm bekannte Individuen, sondern es kann nun auch Handlungen ausführen, die eine breitere Öffentlichkeit betreffen. Durch die Gesetze werden somit Rahmenbedingungen festgelegt, die Handlungen in Bezug auf eine Mehrzahl auch an einem selbst unbekannten Individuen ermöglichen. Gesetze ermöglichen damit die Objektivierung von Handlungen, da Gesetze gleichsam selbst die Konsequenz aus objektivierten Einzelhandlungen darstellen, die sich als gut erwiesen haben. Das heißt, Gesetze konstituieren einen Raum, in dem öffentliches Handeln – also Politik –, möglich wird. 3. Ontologisch Gegenüber den Ideen sind Gesetze ontologisch minderwertig. Dadurch, dass sie nie denselben ontologischen Status wie Ideen erlangen können, haben sie auch nur einen begrenzten Wahrheitsgehalt. Das heißt, dass Gesetze nicht ewig und unveränderlich wie die Ideen sind, sondern dass sie immer wieder modifiziert werden können und müssen. Ihr geringerer ontologischer Status ermöglicht aber, dass sie einer breiteren Masse verständlich sind. Im Gegensatz dazu stehen wiederum die Ideen, die nur von wenigen erkannt werden können. Die Öffentlichkeit muss sich stets darum bemühen, dass das durch die Gesetze Offenbarte der Wahrheit möglichst nahe kommt und somit das für das Allgemeinwohl Bestmögliche ausdrückt. Der minderwertige ontologische Status der Gesetze erfordert, dass sie kontinuierlich öffentlich reflektiert werden. Sie dürfen keineswegs so behandelt werden, als wären sie gleichberechtigt zu den ewigen und unveränderlichen Ideen. 4. Pädagogisch Das Ziel der Gesetze ist die Beförderung der Tugend in einem Staatswesen. Dazu geben sie gleichsam einen Rahmen vor, innerhalb dessen gehandelt werden soll. Gesetze erfüllen somit eine erzieherische Funktion, da sie das Individuum zum richtigen Handeln anleiten. Allerdings nehmen sie dem Individuum damit auch die Verantwortung ab, sich mit Fokus auf den eigenen logos autonom eigene Normen und Werte zu schaffen. Intendiert die Politeia noch die Selbsterkenntnis, kommt dieser Aspekt in den Nomoi meines Erachtens viel zu kurz. Anstatt dass das Individuum die richtige Lebensweise selbstständig erkennt, wird ihm das richtige Handeln durch Gesetze vorgeschrieben. Erzieherisches Lob und Tadel dient dabei zur Habitualisierung der Gesetze. Somit erfüllt die Öffentlichkeit, die gesetzesmäßiges Handeln anerkennt und gesetzeswidriges Handeln dementsprechend sanktioniert, in dem Gesetzesstaat die Funktion eines Korrektivs.

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Meines Erachtens sollte die Habitualisierung der Gesetze aber nicht der Endpunkt in der Entwicklung eines Individuums sein. Um als mündiger Bürger zu gelten, sollte vielmehr auch erforderlich sein, dass eine vernünftige Einsicht erlangt wird, die über das bloße peitho durch das Proömium hinausgeht. Gesetze sollten also lediglich solange als Orientierungshilfe benutzt werden bis das Individuum dazu in der Lage ist, eigenständig über sein Handeln und dessen Konsequenzen für das Allgemeinwohl zu reflektieren. Somit sollte der Anspruch der Politeia zur vernünftigen Erkenntnis der Ideen zu gelangen stets angestrebt werden. Die Nomoi sollten also eher eine Anleitung dazu sein, wie sich die Politeia am besten verwirklichen lässt. Sie bleiben lediglich die zweitbeste Lösung, solange die beste Lösung des Idealstaates, in dem allein die Vernunft herrscht, noch nicht verwirklicht werden konnte. 5. Politisch Die politische Konsequenz der Nomoi besteht darin, dass eine viel breitere Öffentlichkeit an der Politik partizipieren kann. Da die Gesetze auf einem für die Masse verständlichem Niveau deutlich machen, wie gehandelt werden soll, braucht nicht jeder Einzelne erst zu den Ideen aufzusteigen um die Befähigung zur Teilnahme an der Öffentlichkeit zu erhalten. Die Sokratische Frage, danach wie man leben solle, wird durch die Gesetze für die Allgemeinheit beantwortet. Gleichzeitig sichern Gesetze durch ihre Veröffentlichung ab, dass keine rein individuellen Interessen mehr verfolgt werden, sondern dass im besten Sinne für das Allgemeinwohl gehandelt wird. Die Gesetze werden öffentlich gemacht, so dass sich jeder Bürger auf die Gesetze berufen kann. Im Gegensatz zum elitären Anspruch der Politeia, die keine Veröffentlichung von Gesetzen erfordert, da ihre Philosophenherrscher rein rational agieren und damit stets im Sinne des Allgemeinwohls handeln, haben die Nomoi ein ganz anderes Interesse. Durch die Gesetze soll einer möglichst breiten Masse die Partizipation an der Politik garantiert werden.

IV. Konklusion In seinem Spätwerk Nomoi verwirklicht Platon einen Anspruch, den er im wirklichen Leben nicht realisieren konnte. Er möchte seinen theoretischen Entwurf des Idealstaates für die Praxis anwendbar machen. Am Hofe des Tyrannen Dions in Sizilien, misslang Platons Versuch seine politischen Ideen anzuwenden. Sein Ziel die Tyrannis in eine Monarchie umzuwandeln scheiterte. Möglicherweise desillusioniert durch dieses Erlebnis, formuliert Platon seine Nomoi, die den starken Aufklärungsanspruch der Politeia aufgeben. Statt einer autonomen Reflexion, die zur Erkenntnis der Ideen führen soll, werden dem Individuum nun Gesetze vorgegeben, an dem es sein Handeln orientieren kann. Platons verändertes Bild vom Menschen weist resignierte Züge auf. Nur wenige sind zur selbstständigen Vernunfttätigkeit fähig. Dementsprechend wird aus Philosophie Populärphilosophie, die für die breite Masse verständlich sein soll. Leider resultiert daraus auch die Gefahr, dass der eigentliche Sinn von Philosophie, nämlich die Erkenntnis der Ideen durch autonome Vernunfttätigkeit, in Vergessenheit gerät. So besteht das Ziel der populärphilosophischen Vorrede doch nur im peitho, das heißt im Überreden zur Einhaltung der Gesetze.

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Ob die Gesetze dabei wirklich von jedem einzelnen Individuum verstanden und durch vernünftige Reflexion bestätigt wurden, erscheint irrelevant. Philosophie sollte jedoch stets intendieren, dass jedes Individuum selber denkt und nur dem zustimmt, was der eigene logos anerkennt. Dieser Anspruch, den Platon in Politeia noch so konsequent vertreten hat, gerät in den Nomoi leicht in Vergessenheit. Führen Platons politische Ambitionen möglicherweise dazu, dass er die Bedeutung der Philosophie vernachlässigt? Wird die Philosophie in den Nomoi lediglich zum Erreichen politischer Ziele instrumentalisiert? Im Gegensatz zu dieser Interpretation der Nomoi, die Politeia und Nomoi miteinander kontrastiert, bietet sich noch eine kontextualisierte Lesart an. Dementsprechend würde die Politeia abstrakte und unveränderliche Rahmenbedingungen für politisches Handeln vorgeben, die sich durch die Nomoi dann konkretisieren und mit Bedeutung gefüllt werden. Somit würden die Nomoi den Weg vorgeben, auf dem sich die Politeia dann realisieren lässt. Da der Mensch gerade kein göttliches Wesen ist, das sich rein an seiner Vernunft orientiert, bedarf er der Gesetze um auf den richtigen Weg geführt zu werden. Die Gesetze werden dann überflüssig, wenn der Mensch dazu in der Lage ist, sich autonom an seiner Vernunft zu orientieren. Denn dadurch handelt er dann konsequent im Sinne des Allgemeinwohls, so dass die Gesetze, die die Interessen der Öffentlichkeit verteidigen, irrrelevant werden. Bis das Individuum aber diese Disposition zur selbstständigen Vernunfttätigkeit erlangt, sind Gesetze erforderlich. Durch ihre leichte Verständlichkeit erlauben sie einer breiteren Masse an den vernünftigen Erkenntnissen teilzuhaben, die sich in ihnen manifestieren. Dadurch, dass sie eine Handlungsorientierung darstellen, ermöglichen sie einer breiteren Öffentlichkeit die Partizipation an der Politik. Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, dass Politik nicht das Endziel darstellt. Über den Gesetzen stehen stets die Ideen. Diese zu erkennen vermag nur der Philosoph und nicht der Politiker. Erst wenn die Nomoi stets auf das Ideal der Politeia verweisen sind sie auch philosophisch legitim. Denn der Philosoph soll nicht durch die Welt der Erscheinungen von einem Aufstieg zu der Welt der Ideen abgelenkt werden. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass sich der Anspruch der Politeia in den Nomoi verwirklicht. Der Philosoph steigt vom Licht der Erkenntnis hinab in die Dunkelheit der Höhle und versucht seine Erkenntnis der Ideen auf einem einfach verständlichen Niveau für die Höhlenbewohner mitteilbar zu machen. Diese Mitteilung erfolgt durch die Nomoi. Den Höhlenbewohnern darf diese Mitteilung aber nicht genügen. Vielmehr soll sie dazu anregen eigenständig das zu erkennen, was der Philosoph schon gesehen hat. Die Höhlenbewohner müssen selbstständig den Aufstieg aus der Höhle vollziehen. Dieser Aufstieg gelingt nur durch die autonome Vernunfttätigkeit und nicht durch die bloße Befolgung von Gesetzen. Literatur Bubner, Rüdiger: Polis und Staat. Grundlinien der Politischen Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002. Fritz, Kurt von: Platon in Sizilien und das Problem der Philosophenherrschaft. Berlin: Walter de Gruyter, 1968.

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Görgemanns, Herwig: Beiträge zur Interpretation von Platons Nomoi. München: Beck, 1960. Heidegger, Martin: Platons Lehre von der Wahrheit. In: Wegmarken. Frankfurt am Main: Klostermann, 1976. Morrow, Glenn R.: Plato’s Cretan City. A Historical Interpretation of the Laws. Princeton: Princeton University Press, 1993. Platon: Werke in acht Bänden. Hrsg. von Gunther Eigler. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2001. Rapp, Christof: Vorsokratiker. München: Beck, 2007. Seubert, Harald: Polis und Nomos. Untersuchungen zu Platons Rechtslehre. Berlin: Duncker & Humblot, 2005.

Autorenverzeichnis Prof. Dr. Damir Barbaric´, Professor für Geschichte der Philosophie an der Universität Zagreb Prof. Dr. Okko Behrends, emeritierter Professor für Römisches und Bürgerliches Recht und Neuere Privatrechtsgeschichte am Institut für Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung, Abteilung für Römisches und Gemeines Recht „Franz Wieacker“, an der Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Alexander Demandt, emeritierter Professor für Alte Geschichte mit dem Schwerpunkt Spätantike am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin PD Dr. Andreas Eckl, Privatdozent für Philosophie am Institut für Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Prof. Dr. Dr. h. c. Volker Gerhardt, Professor für Praktische Philosophie, Rechtsund Sozialphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin PD Dr. Hendrik Hansen, Vertretungsprofessur für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Erfurt und Privatdozent an der Universität Passau Sarah Hegenbart, stud. phil., Berlin Prof. Dr. Clemens Kauffmann, Professor für Politische Wissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Hans-Christof Kraus, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Passau Prof. Dr. Francisco L. Lisi, Professor für Griechische Philologie an der Universität Carlos III von Madrid Prof. Dr. Reinhard Mehring, Professor für Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg Prof. Dr. Ada Neschke-Hentschke, emeritierte Professorin für Antike Philosophie und Geschichte der Philosophie an der Universität Lausanne Prof. Dr. Peter Nitschke, Professor für Wissenschaft von der Politik am Institut für Bildungs- und Sozialwissenschaften an der Hochschule Vechta Prof. Dr. Henning Ottmann, Professor für Politische Theorie und Philosophie am Geschwister-Scholl-Institut an der Ludwig-Maximilian-Universität München Prof. Dr. Klaus Schöpsdau, Privatdozent i. R. für Klassische Philologie der Universität des Saarlandes in Saarbrücken

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Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Kurt Sier, Professor für Klassische Philologie an der Universität Leipzig Dr. Marcel van Ackeren, Philosophisches Seminar an der Universität zu Köln Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig, Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Passau